Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie: Mit einem Ausblick auf die Aktualität der beiden Klassiker als Zeugen im hermeneutischen Verfahren zur Beglaubigung moderner Rechtsstaatlichkeit 9783495813492, 9783495488867

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Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie: Mit einem Ausblick auf die Aktualität der beiden Klassiker als Zeugen im hermeneutischen Verfahren zur Beglaubigung moderner Rechtsstaatlichkeit
 9783495813492, 9783495488867

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhalt
Einleitung – zur Erläuterung der These
Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege der philosophia practica universalis von den Anfängen bis in die Gegenwart
Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie
Schlüsse aus dem politischen Scheitern der Platonschüler
Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik
Die philosophischen Pflichten des Tages gegenüber den griechischen Städten
Die ideale Stadt des Aristoteles
Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles
Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia – quid facti
Die Legitimität der attischen Demokratie – quid iuris
Das Unglücksjahr 322
Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322)
Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319)
Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende (317)
Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des Demetrios Phalereus (307)
Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult – oder die fünfzehnte Wende (307)
Die Tyrannei des Lachares – oder die sechzehnte Wende (um 300)
Die Rückkehr des Demetrios Poliorketes – oder die siebzehnte Wende (295)
Der Siegeszug des Herrscherkultes
Die stoische Götterlehre als Antwort auf den Herrscherkult
Lactantius über die heidnische Entlastung der Götter
Die wiederhergestellte Autorität Homers
Platon und Chrysipp im Streit über Homers theologia
Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von den Affekten
Theodizee und Geschichtsphilosophie
Die quaestio finita als Prüfstein originalgetreuer Rezeption
Hegels Rückgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platon und den Tragikern
Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels
Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- und Aristotelesrezeption
Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practica universalis im Blickpunkt der Ritterschen Mitte. Günther Bien, Hermann Lübbe, Odo Marquard
Die Ökonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzte Schlussstein der philosophia practica universalis. Karl Homann
Verwendete Sigla
Literatur
Index nominum et rerum

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Armin Müller

Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie Mit einem Ausblick auf die Aktualität der beiden Klassiker als Zeugen im hermeneutischen Verfahren zur Beglaubigung moderner Rechtsstaatlichkeit

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495813492

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B

Armin Müller Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Dieses Buch stellt sich die Aufgabe, Wege und Umwege nachzuzeichnen, die die philosophia practica universalis – Ethik, Politik, Ökonomik – seit ihren Anfängen bis in unsere Tage zurückgelegt hat. Dieses Programm setzt eine Kontinuität voraus, die schon allein durch das nie obsolete Telos der praktischen Philosophie, nämlich das gelungene Leben (bene beateque vivere), hinreichend gesichert ist. Dasselbe Ziel kann gleichwohl aber auch Ursache eines diskontinuierlichen Verlaufs sein, sofern praktische Philosophie, wenn sie glaubhaft sein will, ihre Argumente stets anlassbezogen im Blick auf sich ändernde äußere Umstände vortragen muss. So verkürzten die Stoiker in Abkehr von Platon und Aristoteles die praktische Philosophie notgedrungen auf die Ethik, weil Misstrauen der jeweils Situationsmächtigen die Philosophie zur Sezession genötigt hatte. Dagegen war die unverkürzte Wiederkehr der praktischen Philosophie mitsamt ihrem methodischen Rüstzeug geradezu ein Gebot der Stunde, als in den Tagen der Französischen Revolution sowie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Herstellung der Rechtsstaatlichkeit zum essentiellen Thema wurde. Tragende Säulen der philosophischen Begleitung dieses weltgeschichtlichen Geschehens wurden Ethik und Politik und ganz besonders die Ökonomik als Ethik mit anderen Mitteln. Die praktische Philosophie ergründet die Bedeutung dessen, was ist, in hermeneutischer Selbstvergewisserung aus ihrer eigenen Geschichte. Die Referenzautoren: Sokrates, Platon, Aristoteles, Zenon, Chrysipp, Cicero, Th. Hobbes, I. Kant, G. W. F. Hegel, J. Ritter, G. Bien, H. Lübbe, O. Marquard.

Der Autor: Armin Müller, Jahrgang 1936, war nach der Promotion bei Joachim Ritter (1967) Lehrer am Gymnasium Paulinum zu Münster. Zugleich war er Lehrbeauftragter an der Universität Münster, und zwar zunächst am Philosophischen Seminar bis 1992 und seit 2001 am Institut für Klassische Philologie. Seit 1982 betreut er Aschendorffs Sammlung Lateinischer und Griechischer Klassiker als Herausgeber.

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Armin Müller

Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie Mit einem Ausblick auf die Aktualität der beiden Klassiker als Zeugen im hermeneutischen Verfahren zur Beglaubigung moderner Rechtsstaatlichkeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48886-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81349-2

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Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespräche auf dem Markt vorgelebt hatte, nahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf, als sie das menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückten und auf diese Weise zu Gründungsvätern der praktischen Philosophie wurden. Das wissenschaftstheoretische Ergebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practica universalis, deren drei Disziplinen Ethik, Politik und Ökonomik unter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfolgen. Diese Trias verkörpert ein Leitbild, das, wenn auch auf unvermeidlichen Umwegen, bis in unsere Tage wirksam geblieben ist. Ihre vitale Kontinuität verdankt dieses System der praktischen Philosophie dem Umstand, dass neben Gemeinsamkeiten seiner ältesten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand. Platon argumentierte aus »reiner Vernunft«, ohne den Phänomenen eigene Vernünftigkeit zuzugestehen. Aristoteles argumentierte hermeneutisch, indem er prüfte, welche Vernunftgründe in dem, was ist oder geschieht, schon enthalten sind. Die Auseinandersetzungen als Folge dieser Differenz konnten der Qualität des Ergebnisses nur förderlich sein. Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im methodischen Vorgehen der beiden Gründungsväter Gemeinsamkeiten in den politischen Präferenzen keineswegs aus. Beide hegten eine Aversion gegen Athens demokratisches Lager, beide sympathisierten mit Philipp von Makedonien. Beide wurden schließlich aber auch gemeinsam von den alten Stoikern für längere Zeit in den Hintergrund gedrängt, als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interesse des Burgfriedens ratsam schien, dass die Philosophie bis auf weiteres den Staat verschonte, also auf dessen – sei es kritische oder sei es ermunternde – Beeinflussung verzichtete. Implizit hielten die stoischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor, ihre einst in Akademie und Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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Vorwort

mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandelten Polis. Während nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Autonomie – Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezession aus der Polis – ebendeshalb historisch zu erklären ist, sind Platon und Aristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsätze ihrer praktischen Philosophie längst freigesprochen. Dank dieser spätestens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristoteles ganz im Sinne ihrer ursprünglichen Intentionen bis in die moderne Welt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophischer Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats inspirierend zur Seite stehen – gleichsam zur Selbstvergewisserung der einen Sattelzeit durch eine andere. Hegels Vorgehen sollte sich erneut bei gleichzeitigem Rückgriff auf Platon und Aristoteles wiederholen, als im Zuge der geistigen Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst wurde, dass eine Wiederaufnahme des zwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plädoyers für den Rechtsstaat ein Gebot der Stunde sei. Die fällige Vergegenwärtigung Hegels übernahm initiierend Joachim Ritter, und ausweitend lenkten später seine Schüler aus dem »Collegium Philosophicum« den Blick auf die unvermeidlichen, von Ethik, Politik und Ökonomik zu beantwortenden Anschlussprobleme. Im Zuge der Anknüpfung an die Tradition der praktischen Philosophie durch J. Ritter erfuhren Platon und Aristoteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Verfahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand. Wenn nun dieses Buch sich anschickt, die Grundzüge dieses modernen Prozesses samt seiner auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Vorgeschichte nachzuzeichnen, so muss es sich bei einer in mehr als zweitausend Jahren angehäuften Stofffülle zwangsläufig auf die Hervorhebung des Wesentlichen beschränken. Indes tut das damit eingestandene Überspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Abbruch, zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie beizutragen durch Rückbesinnung auf ihren systematischen Ursprung, der mit der Einsicht in die Zusammengehörigkeit von Ethik, Politik und Ökonomik zusammenfällt. Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespräche mit befreundeten Experten geschrieben. Das ist auch in diesem Fall geschehen. Für ihre Bereitschaft, sich jederzeit auf die Erörterung aufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuen, dankt der Autor herzlich den Professoren Dr. Günther Bien, Dr. Rai6 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Vorwort

ner Henke und Dr. Dr. Karl Homann. Zusätzlichen Dank schuldet der Autor Professor Henke, der freundlicherweise das Korrekturlesen des Manuskripts auf sich genommen hat.

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https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Einleitung – zur Erläuterung der These . . . . . . . . . . . . .

11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege der philosophia practica universalis von den Anfängen bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

. Schlüsse aus dem politischen Scheitern der Platonschüler . . . Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik . . . . . . . . Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

21 35 54

Die philosophischen Pflichten des Tages gegenüber den griechischen Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Die ideale Stadt des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles

84

Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia – quid facti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

Die Legitimität der attischen Demokratie – quid iuris . . . . .

107

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322) . . . 121 Das Unglücksjahr 322

Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende (317) . . .

128

Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des Demetrios Phalereus (307) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult – oder die fünfzehnte Wende (307) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

9 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Inhalt

Die Tyrannei des Lachares – oder die sechzehnte Wende (um 300) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Die Rückkehr des Demetrios Poliorketes – oder die siebzehnte Wende (295) . . . . . . . . . . . . . . .

174

. . . . . . . . . . . . . . Die stoische Götterlehre als Antwort auf den Herrscherkult . Lactantius über die heidnische Entlastung der Götter . . . . . Die wiederhergestellte Autorität Homers . . . . . . . . . . . Platon und Chrysipp im Streit über Homers theologia . . . . Der Siegeszug des Herrscherkults

187 193 208 214 227

Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von den Affekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

Theodizee und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . .

258

Die quaestio finita als Prüfstein originalitätsgerechter Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

Hegels Rückgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platon und den Tragikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282

Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels . . .

288

Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- und Aristotelesrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314

Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practica universalis im Blickpunkt der Ritterschen Mitte. Günther Bien, Hermann Lübbe, Odo Marquard . . . . . . .

328

Die Ökonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzte Schlussstein der philosophia practica universalis. Karl Homann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Verwendete Sigla

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index nominum et rerum

372

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

10 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor den Mauern, aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichgültig; im Gegenteil, die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Aufmerksamkeit durch die Schule. Vorgegeben war diese Haltung durch den gemeinsamen Ahnherren Sokrates, »den Landschaft und Bäume wenig lehrten, wohl aber die Menschen in der Stadt« 1. Bündig bestätigt das auf seine Weise Cicero: Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit. 2 Noch im Gefängnis unterstreicht Sokrates, er könne unmöglich ohne Einverständnis der Athener fliehen, wo er doch so bewusst und ausdrücklich sein ganzes Leben in ihrer Stadt verbracht habe, dass er sie außer zu Feldzügen nur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den Isthmischen Spielen verlassen habe. 3 Sokrates war überzeugt, ein gelungenes Leben habe er nur als Bürger der Stadt Athen führen können, und mit dieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristoteles nicht minder. Das Verhältnis von Schule und Stadt war länger als ein halbes Jahrhundert geprägt von einer auf Unabhängigkeit beider Seiten beruhenden Auseinandersetzung, die im Jahre 322 zu Ende ging, als wenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Niederlage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomie einbüßte. Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wendejahr betrachtet, dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnenden Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später von der Stoa geprägte Epoche abhebt, wird ihnen ebenso unvermeidlich als ganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen, 1 2 3

Platon, Phaidros 230 D. Cicero, Tusculanae disputationes 5, 10. Platon, Kriton 52 B.

11 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht die Schule selbst, sondern die politische Welt außerhalb der Schule stand. Ihre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Sätzen zur inneren Sittlichkeit der Schule; vielmehr überschritt sie diese Schranke und widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt, ohne übrigens darüber die Ordnung des für diese Normen keineswegs gleichgültigen Makrokosmos zu vernachlässigen. Ihre Politik ist institutionelle Ethik; und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staat, der die Bürger tugendhaft macht. Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschworene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen ständiges Bemühen, das gemeinsame Ziel, den sittlichen Staat, vor selbstverschuldetem Scheitern zu retten. Aristoteles war nicht Gegner Platons, sondern dessen dankbarer Erbe, der der geistigen Hinterlassenschaft seines Lehrers das Überleben zu sichern suchte. In dieser Absicht änderte er das methodische Vorgehen von Grund auf. Er schrieb den Bürgern nicht mehr vor, wie sie sein sollten, sondern registrierte hermeneutisch, wie sie sind, um zu ergründen, was in diesem Ist-Bestand an vernünftiger Vorleistung als das Wesentliche immer schon enthalten ist. Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie, dass die unsittliche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer äußeren Instanz, sondern zu ihr selbst befindet. Folgerichtig sah Aristoteles das Idealziel des Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers, der aufgrund absoluten Wissens die Lebensordnung diktiert. Vielmehr war er überzeugt, sein Amt angemessen auszuüben, wenn er darauf setzte, zu werben, zu beraten und mit Argumenten zu überzeugen, und das eben nicht als philosophischer Herrscher, sondern als Lehrer seiner Schüler, als Berater Philipps II., als Prinzenerzieher Alexanders, als Ermunterer der Bürger, im Einklang mit Sitte, Recht und Anstand ihr Glück zu suchen. Aristoteles sah bessere Chancen für die platonische Substanz, wenn er diese auf der institutionellen Basis der vita contemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht über der vita activa zu wahren suchte, um die aktiv Tätigen aus der damit immer noch bestehenden Distanz vermöge hermeneutischen Vorgehens darüber aufzuklären, dass die ethische Lebensführung gelingt, wenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt. In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaat durchaus präsent, allerdings eben nicht in Gestalt radikaler Systemkritik, sondern unter dem Oberbegriff einer »Politie«, den er in aufklärender und beratender Absicht ins Spiel bringt. Im Blick auf aktu12 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunächst als Verfassung, die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwischen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht; darüber hinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnernde zweite Version von Politie, und zwar im Blick auf die Planungen Philipps II., mit einem panhellenischen Heer die Ägäis in ein makedonisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von der Perserherrschaft zu befreien. Die erstere Politie der Bücher IV bis VI besteht in einem auf Aussöhnung der Konfliktparteien zielenden Verfassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenen Wunschvorstellung der Zeit, nämlich der inneren Eintracht (ὁμόνοια). Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung der Lebensordnung griechischer Großbürger, die sich im befreiten Jonien ansiedeln sollten. Auch diese Verfassung kam zumindest indirekt einer Wunschvorstellung der Zeit entgegen, nämlich dem Wunsch nach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Städte untereinander; denn ehemalige Feinde könnten umso leichter Frieden schließen und Freunde werden, wenn sie sich als Eroberer zum Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner verbünden. Vorrangig angesprochen sollten sich allerdings Großbürger fühlen, die mit ihrem Leben in den demokratischen Städten Griechenlands unzufrieden waren und einer auf oligarchischen Idealen gegründeten Polis den Vorzug gaben. Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehensweise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete, sollte sich schon bald abzeichnen, dass aus je verschiedenen Gründen sowohl die pragmatische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden. Aristoteles war darüber nicht entmutigt, sondern verfolgte seinen hermeneutischen Ansatz nur noch strikter, in dem, was ist, das Wesentliche zu begreifen. Das was ist, also das politisch Dominierende, war nun unbestritten die demokratische Verfassung der Athener, denen die Schule – und das durchaus auch den Tatsachen zuwider – die Vernachlässigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbübel immer wieder vorgehalten hatte. Die »Verfassung der Athener« (Ἀθηναίων πολιτεία oder kurz AP) nimmt, und sei es unausgesprochen, die einst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zurück und bedeutet dieser implizit, dass sie sich selbst um Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft bringt, wenn sie offen am Tage liegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt. Die AP ist die Anerkennung der Tatsache, dass den Athener Demokraten im vierten 13 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Gesetzesstaates gelungen ist, der im Übrigen nicht von einem künstlich gesetzten Nullpunkt ausgegangen ist, sondern hermeneutisch rekonstruierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elf Wenden entwickelt hat. Der Ton der AP liegt nicht darauf, dass kompromissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radikalität verschonen will, sondern auf der im theoretischen Zusehen gewonnenen Einsicht, dass die Stadt gerade das philosophische Uranliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzip ihres Handelns befolgt hat. Die hermeneutische Zirkelstruktur besteht also darin, dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihr Wesentliche erklärt, was sie selbst hervorgebracht hat. Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keineswegs abrupt mit dem Jahre 322, als die Athener ihre Souveränität einbüßten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sittlichkeit bestehenden politischen Theorie. Dank makedonischer Unterstützung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Phalereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politische Wirkung als die beiden Gründer zu ihren Lebzeiten. Ebendiesem Erfolg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Rückschlag zu verdanken, als der aus ihren Reihen hervorgegangene Demetrios Phalereus nach zehnjähriger Herrschaft aus der Stadt vertrieben wurde. Rigide Entmündigung der Bürger bei eigenem Narzissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbst um jeden Kredit, sondern auch die Philosophie der Akademie und des Lykeion, nach deren Vorgaben er als ihr Angehöriger in Athen regiert hatte. Die empörten Demokraten reagierten mit der Androhung der Todesstrafe und Verbannung der Philosophen; und unter Philosophen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und Aristoteliker. Mit dieser harschen Reaktion läuteten die Athener zugleich die Geburtsstunde der Stoiker ein, die gleichsam in ihrer Gründungsurkunde festschrieben, dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nicht die Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe. Die Stoiker erkannten, dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nur fortführen konnten, wenn sie der Stadt versicherten, dass sie anders als Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschließlich für ihre Schule als geschlossene secta erließen. Die erklärtermaßen der Polis zugewandte Philosophie, die Platon und Aristoteles gemeinsam vertreten hatten, war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhängnis geworden. 14 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstände beschlossen die Stoiker ihre Sezession und erklärten die Beschäftigung mit der Polis als einst zentrales Thema der Philosophie für nichtig. Darüber hinaus distanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt von Platon und Aristoteles, wenn sie etwa im Felde der theologia und der Affektlehre Theoreme vortrugen, die erst angesichts der Lage seit 307 auf die Tagesordnung gerieten. So antworteten sie auf den Herrscherkult, der implizit die unsterblichen Götter zu zweitrangigen Größen herabstufte, mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren, wessen Fürsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Überleben zu verdanken habe. Da aber die Götter bei rehabilitierender Bestätigung ihrer – den kultisch verehrten Diadochen überlegenen – Allmacht zwingend auch für alle Übel in der Welt verantwortlich waren, musste Chrysipp den Streit zwischen Homer und Platon, ob die Götter für alles oder nur für das Gute zuständig seien, erneut austragen. Es war also letztlich das äußere Phänomen des Herrscherkultes, der diesen Streit unter den Gelehrten auslöste. Ähnlich lagen die Dinge beim Problem der Affekte. Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 erzwungene Rückzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter der Bedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach außen erträglich. Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nach innen erfüllt sein, und zwar gegen ein ganzes Bündel von denkbaren Affekten, die bei Verzicht auf ihre Einhegung die mühsam nach außen behauptete Souveränität wieder untergraben hätten. Folgerichtig war die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischen Ethik – mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie. Die Stoiker konnten daher nicht das Risiko eingehen, die Behandlung der Affekte, wie Aristoteles wollte, eher beiläufig den Nachwirkungen der von der tragischen Dichtung ausgelösten Katharsis zu überlassen. Stattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein, eine spezielle Therapie für den Fall zu entwickeln, dass, wie zu befürchten, den Affekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch gelingen sollte. Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsführer Platon und Aristoteles für Jahrhunderte in den Hintergrund zu drängen vermochten, mussten sie am Ende doch erleben, dass die beiden Archegeten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissance erlebten. Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Rückzug der philosophia perennis die Kontinuität, dürften aber am Ende aus demselben Grund, dem sie ihr Entstehen verdankten, wieder von Platon 15 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein. Denn Lehrer wie Schüler verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eine Instanz der systematischen Beschäftigung gerade auch mit der Außenwelt. Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis um Platon und Aristoteles schließlich nicht mehr schaden, als es keine direkt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab, die sich durch ihre Lehren und das Handeln ihrer Schüler provoziert fühlten. Von solchen Gefühlen unberührt suchen hingegen spätere Generationen bei Platon und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldes nach Belehrung und gegebenenfalls Bestätigung eigener Theorien, und das sowohl im Grundsätzlichen als auch in Einzelfragen. Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz bestimmten Frage der Apologie, wie Sokrates, der gerechteste Bürger Athens, gegen die Asebieklage des Anytos, Meletos und Lykon zu verteidigen sei. In den Kategorien der Theorie der Rhetorik hätte diese Frage als eine quaestio finita gegolten, die im Verfolg eine Fülle von sich anschließenden quaestiones infinitae auslösen sollte, wie nämlich ein gerechter Staat möglich sei, der vom Geist seiner gerechten Bürger geprägt wäre. Mit dem daraus erwachsenen Fundus von Fragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aristoteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen, dem sie schließlich – nach zwischenzeitlicher Suspendierung – ihre Anerkennung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdanken haben. Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philosophie mit gutem Gewissen als Vergegenwärtigung ihrer eigenen Geschichte definieren. Vergegenwärtigung wiederum ist im weitesten Sinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der subtilitas applicandi; und das so bestimmte Vorgehen ist auch die Voraussetzung für die Zeugenrolle, die Platon und Aristoteles bei der philosophischen Begleitung der Preußischen Reformen durch G. W. F. Hegel und erneut bei der geistigen Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg durch Joachim Ritter und seine Schüler spielten. Dass Platon und Aristoteles für den bürgerlichen Rechtsstaat in den Zeugenstand traten, setzt den hermeneutischen Philosophiebegriff voraus, demgemäß die Philosophie auf der Präsenz ihrer eigenen Geschichte beruht. Damit ist zugleich die Frage nach den Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Philosophie gestellt, der sich, so lautet unsere These, Joachim Ritter und seine Schüler widmeten, indem sie, dem Primat der praktischen Vernunft die Ehre erweisend, die klassischen Disziplinen der philosophia 16 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Einleitung – zur Erläuterung der These

practica universalis – Ethik, Politik, Ökonomik – schrittweise aufnahmen und in ein systematisches Verhältnis zur modernen Welt setzten.

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Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege der philosophia practica universalis von den Anfängen bis in die Gegenwart

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie Vom Ende her gesehen könnte leicht der Eindruck entstehen, Platon (428/27–348/47) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gründung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt, in deren Mittelpunkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theorie stehen sollte. Dieser Eindruck täuscht indes. Wie Platon selbst im VII. Brief (324 B–326 D) seinen Werdegang darstellt, hatte er ursprünglich gar nicht die Absicht, eine Schule zu gründen, die sich philosophisch mit dem Staat befasste. Stattdessen drängte er zunächst auf eigenes politisches Handeln, als er in der Herrschaft der Dreißig Tyrannen (404/03) eine Chance sah, einen Staat zu errichten, der frei war von den Schwächen der Demokratie. Enttäuscht musste er aber bald erkennen, dass die früheren Verhältnisse in der Demokratie verglichen mit der Gegenwart unter den Dreißig Gold (sic!) waren. Folgerichtig wandte er sich von den Dreißig ab und war nach deren Sturz wiederum bereit zu politisch aktiver Tätigkeit, wurde aber erneut enttäuscht – durch das Todesurteil gegen Sokrates, den Mangel an politischen Freunden, die grassierende Geringachtung der Gesetze und die Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maß der Dinge. Erst daraufhin widmete sich Platon der theoretischen Beschäftigung mit dem wahren Staat, nicht ohne für erneute praktische Tätigkeit in der Politik bessere Zeiten abzuwarten, die dann einträten, wenn wahrhafte Philosophen die Herrschaft im Staat übernähmen und nicht die durch das Los ins Amt beförderte Inkompetenz. Seine Philosophie war also Opposition außerhalb der politischen Bühne, gedacht als ungewollte Zwischenphase, die erst endete, wenn die Städte nach philosophischen Grundsätzen verfasst wären. Die Gründung der Schule erfolgte also eher aus Verlegenheit; sie war nicht die erfolgreiche Ausführung einer ursprünglichen Absicht. Mit seinem Bericht im VII. Brief lässt Platon also durchblicken, dass er gleichsam wider Willen die Akademie als Schule gründete und deren erstes Schulhaupt wurde. Die Schule galt Platon als Surrogat einer Polis der vollendeten Sittlichkeit. Folgerichtig war das Leitthema der Schule die Lehre vom wahren Staat, der das bloße Surrogat wieder überflüssig machen sollte. Platon verschweigt auch nicht, von welchem Standpunkt aus er die Grundzüge des idealen Staates entwickelte. Während er die Schwächen der Demokratie eher in deren Strukturen suchte, ortete er die Schwächen der Oligarchie im persönlichen Versagen insbesondere der Dreißig Tyrannen. Demgemäß plä21 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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dierte er für eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie, die von individuellen und strukturellen Defiziten frei war. Diese dem Bestmöglichen verpflichtete Parteinahme erfüllte zugleich die Anforderungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie, sofern Platon alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zurückführte und nie vergaß, sie geltend zu machen, wo immer ihre Beachtung zwingend geboten war. Mag es Platon auch nicht gelungen sein, in Athen einen Wiedergänger des Sokrates als philosophischen Herrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zu erreichen, so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumindest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen, dass von nun an politische Vorgänge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einer außerhalb der politischen Bühne angesiedelten Vernunftkritik begleitet wurden. Insofern blieb Platons mutiger Schritt, eine politische Entität systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch mit einem Gegenmodell zu konfrontieren, nicht ohne künftige Folgen. Einstweilen blieb aber Platons politische Fundamentalopposition Sache der Schule, deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltliche Weiterarbeit spürbar auswirken sollte. Zur (nachsokratischen) Grundausstattung der Schule gehörte die Schriftlichkeit, die Platon in nicht geringe Verlegenheit brachte, weil er auf unmittelbare Präsenz der Vernunft setzte und nicht auf eine mittelbare, die sich auch noch durch Ablage ins Bücherregal unschädlich machen ließ. 1 Zudem zeichnete sich über das politische Kerninteresse hinaus eine durch schultypisches Weiterfragen ausgelöste Verfächerung ab, die Platon noch identitätsphilosophisch aufzufangen vermochte, die aber auf lange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinen wie Ontologie, Kosmologie, Mathematik und Erkenntnistheorie führte. Den Sophisten ging es ähnlich, wie Sokrates von Protagoras erfährt: Nur bei ihm selbst erführen die Schüler das Nötige über ihr Kerngeschäft, das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agorá zu bewähren, während sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elis verdorben würden, weil diese sie mit Unnützem wie Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Dichtung traktierten. 2 So weitete also auch die Schule Platons allmählich ihren Themenkreis immer weiter aus, Auf dieses Merkmal der Schule ist G. Bien näher eingegangen: Das Theorie-PraxisProblem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles, in: Phil. Jb. 76 (1968/69) 264–314; hier: S. 307–313. 2 Platon, Protagoras 318 D–319 A. 1

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je mehr ihre Vorläufigkeit, die mit einem politischen Erfolg der Fundamentalopposition ihr Ende finden sollte, in Vergessenheit geriet. Aristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik üben, aber die Regeln der Institution Schule, ihre Hinwendung zur Schriftlichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) verstanden sich für ihn schon von selbst. Aristoteles (384–322) hatte als Siebzehnjähriger seine makedonische Heimat verlassen, um sich im Jahre 367/66 der Akademie anzuschließen. Da war Platon schon über fünfzig Jahre alt und hatte seine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen. Da er in diesen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand, hat er vielleicht erst nach seiner Rückkehr erkannt, wer von nun an sein begabtester Schüler war. Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesung fehlte, rief Platon verzweifelt aus: »Der Geist ist nicht zugegen; stumpf ist da die Hörerschaft« – im Original ein ausgefeilter jambischer Trimeter: ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν· κωφὸν τἀκ|ροατήριον. 3 Aristoteles wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenheiten verdient haben, nicht zuletzt aber dank der Art, wie er sich bei Platons berühmter Altersvorlesung »Über das Gute« 4 bewährte. Als dieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verortete, blieben die Hörer einer nach dem anderen enttäuscht der Vorlesung fern, weil sie Ausführungen über seelische, körperliche und äußere Güter im gemeinen Verstande erwartet hatten. Auf diese Reaktion der Hörer hatte Platon nur gewartet; er wollte wissen, wer mit seinem Vorstellungshorizont über den der Menge hinausging und sich damit als genuiner Philosoph erwies. Tatsächlich harrten nur wenige Hörer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlag eines wahren Philosophen, darunter natürlich Aristoteles. Dieser erklärte allerdings später, er werde sich an das allgemein Anerkannte halten, statt aus dem Satz, dass das Eine ein Gut sei, herzuleiten, dass die Gerechtigkeit ein Gut sei. 5 Zitiert nach V. Rose, Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V. R., Leipzig 1870/1886, repr. Stuttgart 1967, S. 428. 4 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten. Die zahlreichen Paraphrasen bei anderen Autoren hat W. D. Ross, Aristotelis Fragmenta, Oxford 1935, S. 111–120, gesammelt. 5 Aristoteles, Eudemische Ethik 1218 a 15–22. Der Aristotelesschüler Aristoxenos bestätigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed. P. Marquard, Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos, Berlin 1868, S. 30) und fügte hinzu, es empfehle sich, zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukündigen; 3

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Im Übrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinen Lehrer. Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaft, den Eudemos von Kypros, von einer Reise nach Athen zurückgekehrt, gestiftet hatte, rühmt Aristoteles Platon als Mann, den schlechte Menschen nicht einmal loben dürften, und als Mann, der als Erster unter den Menschen durch eigene Lebensführung und vorgetragene Gründe demonstriert habe, dass der gute Mann ebendeshalb auch der glückliche Mann ist. Zwar taucht im überlieferten Text der Distichen weder der Name Platons noch der des Eudemos auf; Olympiodor versichert aber, Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eudemos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen. 6 Bei welchem Lehrer hätte Aristoteles auch besser lernen können, wie man wesentliche, aber oft übersehene Fragen stellt, wie man für andere überraschend auf Zusammenhänge und Widersprüche aufmerksam macht, wie man auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequenzen herausarbeitet, wie man unzureichend Bewiesenes als solches identifiziert, wie man einmal erzielte Übereinkünfte stets im Gedächtnis präsent hält, wie man seine Argumente durch Rückführung auf Gründe und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen überzeugend vorträgt. Zur gegenseitigen Wertschätzung aufgrund ihrer intellektuellen Vorzüge gesellte sich die politische Übereinstimmung beider Philosophen, die neben der Sympathie für Makedonien die entschieden ablehnende Haltung gegenüber der attischen Demokratie betraf. Für Platon fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Korrelat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusammen. Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit der Kardinaltugenden mit dem Ziel der Bändigung des sinnlichen Interesses (ἡδονή/voluptas), während in seinen Augen die demokratischen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschönigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Menge hinausliefen. Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platon als derart heillos verfahren an, dass er anknüpfende Schritt-fürSchritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog. Stattdessen setzte

und wenn man Paradoxes vortragen wolle, dies auch unmissverständlich zu sagen. So bliebe den Hörern die Enttäuschung erspart, wenn sie in Erwartung einer Belehrung über Güter wie Reichtum, Gesundheit, Glück am Ende lediglich die blasse Auskunft erhielten, das Gute sei Eines. 6 Olympiodoros, in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p. 515 C.

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Platons politische Opposition mit anderen Mitteln 7 auf eine vom Nullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis, in der die schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Gemeinwesens gewahrt blieben, aber konkrete demokratische Komponenten wie Rat und Volksversammlung, Geschworenengericht und Flotte, Panathenäen, Dionysien und Eleusinien nicht einmal dem Namen nach vorkamen. Bei dieser Konstellation gerieten Schule und Polis zwangsläufig in ein Verhältnis sich gegenseitigen Ignorierens. Die Schule führte ihre Debatten als private Institution ohne Berücksichtigung der Vorgänge auf der Agorá, und die Agorá mühte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung der demokratischen Institutionen, ohne die Einwände der Schule zur Kenntnis zu nehmen. Nun mag Platon einen offenbar unpolitischen, weil von den Realitäten abgehobenen Ausgangspunkt gewählt und damit seiner Weiterarbeit, wie später die hermeneutisch argumentierende Kritik des Aristoteles zeigen sollte, einen schlechten Dienst erwiesen haben, aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Motiv und eine daraus abgeleitete allgemeine, bis in unsere Tage zu beherzigende Grundeinsicht. Platons Schlüsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokrates, das eine Mehrheit unter fünfhundert Geschworenen fällte, obwohl sich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nicht schuldig erwiesen hatte. Möglich wurde diese Gerichtsentscheidung, weil es den Anklägern wie routinierten Demagogen gelang, mit ihren Unwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen. In der Tat hatten sie, wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie ausruft, nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε … οὐδὲν εἰρήκασιν). Der offenbar unausrottbaren Möglichkeit, dass Demagogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten für sich gewinnen können, galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit. Tatort waren nicht nur die Geschworenengerichte, sondern nicht minder die Volksversammlung, in der interessierte Redner Mehrheitsbeschlüsse (ψηφίσματα) herbeiführten, mit denen sie bestehende Gesetze unterliefen. 8 Auch für dieses Fehlverhalten gab es eine Schlüsselszene, als nämlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der aufgehetzten Menge rief, es sei eine Ungeheuerlichkeit, wenn man den Demos nicht tun lasse, was er wolle, und gleich darauf durchgesetzt 7 8

Platon, VII. Brief 325 E–326 A. Ebd. 325 D–E.

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wurde, dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurden und nicht, wie es das Gesetz verlangte, jeder einzeln. Der Einzige, der sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte, war Sokrates. 9 Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Bürger zum Tode verurteilt hatte, hat Platon nie verziehen. Da indes die ausschlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaum für ungerecht hielt, sah Platon sich verpflichtet, allen ebenso gesinnten Athenern vorzutragen, was an und für sich Gerechtigkeit wirklich ist, und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates. Da nun der Staat für die Gerechtigkeit der größere und besser sichtbare Bewährungsort ist als der Einzelne, schlug Sokrates vor, den Begriff von Gerechtigkeit zunächst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Politeia 368 E, 472 B). Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisierte sich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat. Folgerichtig setzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mit ihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhenden Idealstaat entgegen, von dessen Vorzügen er vielleicht schon die nächste Generation der Athener zu überzeugen hoffte 10; anderenfalls könne man nur noch auf einen Glücksschlag von außen (τύχη) setzen, oder dass sich dank göttlicher Fügung ein Staatenlenker mit der Philosophie befasse. 11 Die Befürchtung, der Philosoph könne in seiner eigenen Stadt wenn überhaupt, dann nur dank göttlicher Fügung politisch tätig werden (Politeia 592 A), wollte Platon allerdings für sich nicht als Entschuldigung gelten lassen; im Gegenteil, Platon versicherte, er sei eigens nach Syrakus gereist, damit man ihm nicht vorhalten könne, er sei nur im Felde der Theorie stark, ziehe sich aber zurück, wenn es an die praktische Ausführung gehe (VII. Brief 328 C). Vielmehr war für ihn der gerechte Staat Inhalt philosophischer Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung. Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Bürgern liegen, die allein durch philosophisch überprüfte Qualifikation und nicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind. Nur wer die Höhle der die Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank überlegener Vernünftigkeit die Idee des Guten geschaut hat, vermag privat wie öffentlich vernünftig zu handeln 12, eben seitdem er sich von Xenophon, Hellenika 1, 7, 12–16. Vgl. unten Anm. 38, S. 137 und Anm. 17, S. 148. Platon, Politeia 315 C–D. 11 Platon, VII. Brief 326 A. 12 Platon, Politeia 517 C. 9

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der Aussageabsicht der drei berühmten Gleichnisse hat überzeugen lassen, dass nämlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnliche Interesse der auf den Schein fixierten Menge. 13 Entsprechend heißt es in Platons 8. Brief (355 A): Für besonnene Menschen ist Gott das Gesetz, für die unvernünftigen ist es die Lust. Das Gute hat also denselben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Weltgrund, als es, weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universums angesiedelt, im Rang noch über dieses hinausragt und sich heilsam bewährt, indem es dank seinem Sprössling, dem Sonnenlicht, Orientierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben, Wachstum und Gedeihen möglich macht. 14 Die Ausrichtung am Guten als Weltgrund erhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm, fordert aber nicht nur, sondern gewährt in einem damit den Bürgern auch wahrhaft praktischen Nutzen, nämlich das Leben im sittlichen Gesetzesstaat – die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit. 15 Damit ist die Frage, zu deren Beantwortung Sokrates die drei berühmten Gleichnisse vortrug, nämlich ob Lust oder das Gerechte das wahre Gut ist, beantwortet; und die implizit gegebene Antwort, die auf der Unterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruht, besagt, dass die beschränkten intellektuellen Möglichkeiten der Menge zu dieser Einsicht nicht ausreichen, diese also füglich zu entmündigen ist, schon um den Demagogen ein leichtgläubiges Publikum zu entziehen. Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in der Schuld der Demokraten. Sie waren es, die unter Kleisthenes den attischen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hatten, der nicht mehr nach Stämmen, Sippen und örtlich bedingten Loyalitäten fragmentiert war. Unter Phylen verstand Kleisthenes nicht mehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbände, sondern horizontal strukturierter, einheitlich verwalteter Bezirke nach dem Territorialprinzip. Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆμος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanus an die Stelle der gentes. Platon musste also das Prinzip staatlicher Einheit selbst nicht mehr erfinden, wohl aber dem Inhalt nach für alle Zukunft beschließen, dass nicht nur dieser, sondern jeder Staat seinem Wesen gemäß in der Pflicht sei, sich als »Wirklichkeit der sitt13 14 15

Ebd. 505 B. Ebd. 509 A–B. Ebd. 505 A.

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lichen Idee« (Hegel) zu bewähren. Über diesen Beschluss hinaus dachte Platon noch einen Schritt weiter; denn es konnte nicht genügen, einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gründen; er musste auch erhalten werden – durch ein Kollegium integrer Gesetzeshüter, die das mühsam Erreichte unverändert zu bewahren hatten. 16 Diese Position wäre etwa im Arginusenprozess unbesetzt gewesen, hätte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltung der Gesetze bestanden. Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieser verbundene demokratische System der Rechtspflege, das das archaische Selbsthilfeprinzip ablöste, Eingang in Platons Philosophie gefunden. Die archaische Selbsthilfe bestand darin, dass die durch einen Übergriff beleidigte Sippe der Sippe des Täters die Fehde ankündigte (πρόρρησις), deren Beendigung durch Abschluss eines Sühnevertrages (αἴδεσις) erfolgte. Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegung durch Aussöhnung die stärkere Sippe in der Regel ihre Lösungsvorstellungen durchsetzte, liegt auf der Hand. Der Schritt für Schritt erfolgte Gerichtszwang, durch den der Staat erst allmählich das Monopol der Rechtspflege übernahm, hatte zum Ziel, dass anstelle zufälliger Machtverhältnisse die Systematik von Recht und Gesetz im Streit der Parteien entscheidet. 17 Diesen Sinn der nacharchaischen Rechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasst: inde datae leges, ne firmior omnia posset (Fasten 3, 279). Im Gorgias-Dialog hält nun Platon der Rhetorik vor, sie sei der methodische Versuch, gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung rückgängig zu machen. Kallikles, ein Anhänger des Rhetoriklehrers Gorgias, spricht unverhohlen aus, dass Herakles völlig im Recht war, Geryones seine Rinder, die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatte, ohne Bedenken zu stehlen, da das von Natur Gerechte darin bestehe, dass alles Eigentum der Schwächeren in Wahrheit dem Stärkeren gehöre. 18 Sokrates hält Kallikles entgegen, dass wahre Überlegenheit nicht im Mehr-haben-Wollen, sondern im Sittlich-besser-Sein bestehe, und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein Platon, Politeia 484 B; Nomoi 752 D–E, 754 D–755 C, 770 A–D, 847 A–D, 959 D– 961 C. Im Abschnitt zu »Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende« wird diese platonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen. 17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturverzeichnis genannten Aufsätze von E. Ruschenbusch verwiesen. 18 Platon, Gorgias 484 B–C. 16

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systematisches Kriterium, um die individuelle Machtperspektive in Schranken zu weisen. Dass Sokrates bei seinem Gesprächspartner mit dieser Argumentation nicht durchdringt, ist allein der Borniertheit des Kallikles zuzuschreiben. Es ist nicht zu leugnen, dass Platon ebenso wie der Oligarch Kallikles den Besseren das Wort redete, aber unter den Besseren wirklich Bessere verstand, die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen sollten. Von dieser Staatslehre gilt es also zu überzeugen, und das versuchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunächst durch sachliche Gesprächsführung oder Dialektik (διαλέγεσθαι), die mit kurzen Sätzen Rechenschaft fordert und gewährt. Sokrates mochte keine langen Reden, die geeignet sind, das Ausgangsthema nach einiger Zeit aus den Augen zu verlieren. 19 Auch mochte es Sokrates gar nicht, wenn Unterredner sich streitsüchtig (ἐρίζειν) an Worten festbissen statt am intendierten Inhalt. 20 Das richtet sich gegen Protagoras, der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb, statt sich auf die Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren. 21 Insgesamt ist die sokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur »sogenannten Kunst der Rhetorik« 22, die lediglich den Überredungserfolg zum Ziel hat und nicht etwa wohlbegründete Wahrheiten herausarbeiten will. Nun musste Platon etwa im Gespräch mit Kallikles im Gorgias oder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen, dass gerade seine Sachlichkeit bei Böswilligen auf taube Ohren stößt. Er entwickelte daher noch in der Politeia einen über Sokrates hinausgehenden Begriff von Dialektik, die nicht diskutiert, sondern dekretiert, nachdem diese durch reines, auf das Gespräch mit sich selbst konzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichen Eindrücken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 A– B). Weil somit Dialektik zuständig wird für die Vergegenwärtigung des Guten in der politischen Welt, darf auch nur der ausgewiesene Dialektiker Staatenlenker werden (534 C–D), der auf seinen Einsichten beharrt, auch wenn ihm seine Mitbürger die Zustimmung verweigern. Gegen vordergründige Rechthaberei, von wem immer sie ausgeht, verteidigt Platon das Prinzip vernünftiger Argumentation gegen die Kräfte ihrer Blockierung. 19 20 21 22

Platon, Protagoras 336 A–C; Gorgias 474 B. Platon, Politeia 454 A. Diogenes Laertios 9, 52. Platon, Gorgias 448 D.

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In dem vom Dialektiker verwalteten Staat ist Gerechtigkeit als hiesige Wirklichkeitsform des Guten die bestimmende Kardinaltugend, die gebietet, dass jeder das Seine tut. Das klingt auf den ersten Blick wie eine harmlose Lehrbuchdefinition, die niemandem weh tut. So war es aber nicht gemeint. Auf den Demos im prägnanten Sinne bezogen bedeutet die Definition, dass er das Seine dann tut, wenn er seinem Gewerbe nachgeht und auf politische Teilhabe verzichtet, weil diese außerhalb seines ihm eigenen Tätigkeitsbereiches liege. Wenn der typische Vertreter des Demos, statt das Seine zu tun, lieber für die Teilnahme an vierzig Volksversammlungen pro Jahr den Ekklesiastensold kassiert, dann handelt er seinem Trieb zur ἡδονή nachgebend und damit ungerecht. In Platons oligarchischer Sicht bestreitet der Demos in der Tat seinen Unterhalt durch Ausbeutung der Staatskasse, womit es erst ein Ende haben werde, wenn aus dem Höhlengleichnis die richtigen Konsequenzen gezogen seien. 23 Dass die Athener auch außerhalb ihrer Stadt im Ruf stünden, die Staatskasse zu plündern, ließ sich der Sokratesschüler Xenophon (Anabasis 4, 6, 16) aus dem Munde des Spartaners Cheirisophos bestätigen. Das Leben auf Unkosten des Staates war in den Augen der Oligarchen ein Ärgernis, das auch Platon geißelte, allerdings nicht unter Berufung auf gängige Parolen; vielmehr ergriff er zwar eindeutig Partei, blieb sich aber selbst treu, sofern er seine Kritik einzig und allein auf allgemeine Begriffe zurückführte. Mit all diesen Bestimmungen des sittlichen Staates antwortet letztlich die philosophische Reflexion auf den Skandal des Todesurteils gegen Sokrates. Die besondere Pointe der platonischen Auseinandersetzung mit dem Sokratesurteil fällt ins Auge, wenn man sie auf der Folie der Anklägerperspektive liest, mit der sich ja eine Mehrheit von 280 Geschworenen identifiziert hatte. Diese kamen zwar nachträglich nicht an dem Eingeständnis vorbei, dass in der Tat die Demokraten den Tod des Sokrates, auf den Platon ständig abhebe, zu verantworten hätten, konnten aber geltend machen, dass Platon nie vom Tod ihrer 1500 Mitbürger 24 rede, den die Oligarchen während der Herrschaft der Dreißig Tyrannen zu verantworten hätten, zumal zu den Dreißig in Athen Platons Onkel Kritias gehörte und zu den Platon, Politeia 521 A. Diese Zahl nennen übereinstimmend Isokrates (7, 67 und 20, 11), Aischines (2, 77 und 3, 235) sowie das Scholion zu Aischines 1, 39. Laut Diogenes Laertios (7, 5) fielen den Dreißig Tyrannen 1400 Bürger zum Opfer.

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Zehn im Piräus Platons Onkel Charmides; und beiden habe er ja auch noch je einen Dialog gewidmet. Schließlich seien jene 1500 Toten anders als Sokrates noch nicht einmal in den Genuss eines formal korrekten Gerichtsverfahrens gekommen. So sei es schließlich nicht verwunderlich, wenn die Demokraten, die sich zähneknirschend auf ein Amnestieabkommen mit den Oligarchen einlassen mussten, wenigstens an Sokrates als Ersatzopfer, von dem ja demokratiekritische Äußerungen und eine persönliche Nähe zu den oligarchischen Tätern bekannt waren, unverfänglich ihr natürliches Rachebedürfnis ausließen. Denn der Anklagepunkt der Asebie deutete an, dass es genauso gemeint war, sofern Persiflieren des Götterkultes als noble, namentlich von Alkibiades gepflegte Passion galt. Zudem hatte Aristophanes schon vor bald einem Vierteljahrhundert in den Wolken Sokrates die Oligarchenunart vorgehalten, auch er nehme es mit dem überlieferten Kult nicht allzu genau. An diesem Schwachpunkt galt es anzusetzen, um getarnte Rache zu üben. Denn beim Wort genommen bedeutete eine Asebieklage keinen Verstoß gegen das Amnestiegesetz, so dass insgesamt 280 Richter mit gutem Gewissen gegen Sokrates stimmen konnten, selbst wenn ihnen das wahre Motiv der Anklage innerlich bewusst war. Ausdrücklich wurde die latente Wahrheit schließlich vom Oligarchen Aischines ausgesprochen, als er in seiner 345 gehaltenen Rede gegen Timarchos (§ 173) den Athenern vorhielt, sie hätten Sokrates getötet, weil er in ihren Augen der Lehrer des Kritias war. Sokrates selbst erklärte in der Apologie (32 A–D) zu diesem für die Ankläger wesentlichen Punkt, er sei nicht Lehrer des Kritias gewesen und habe sich im Übrigen dessen Befehl widersetzt, mit vier anderen Bürgern eine ungerechte Verhaftung durchzuführen. Für Platon war diese Richtigstellung des Sokrates nicht mehr als ein prozessnotwendiges Detail, mit dem sich ja auch alle übrigen Vorwürfe der Ankläger erledigten. Die philosophische Pointe der Antwort auf die Anklägerperspektive spricht indes dem Sokratesurteil eine noch viel weitergehende Bedeutung zu, indem sie auf eine generelle, bis in unsere Tage immer wieder eintretende Gefahr verweist, die darin besteht, dass gewiefte Demagogen ohne Weiteres gerade im Rückgriff auf die Unwahrheit und unter Verschleierung ihrer wahren Absichten eine uninformierte Menge in ihrem Sinne zu mobilisieren vermögen. Folgerichtig propagierte Platons Politeia einen Staat, der Demagogen und Menge gleichermaßen daran hinderte, erneut politisches Unheil anzurichten. Der »Phönizische Mythos«, gleichsam die Grundsatzerklärung 31 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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der Politeia (414 C–415 C), ist der Gegenentwurf zum Zusammenspiel von einseitiger Demagogie und Menge. Wie einst der Phönizier Kadmos in Boiotien Drachenzähne säte, aus denen wehrhafte Thebaner erwuchsen, so sind auch die Bewohner Attikas im Wortsinn autochthon, sofern sie alle »direkt aus der Erde« Attikas geboren sind. Diese Genesis verpflichtet die wahren Herrscher, ihre autochthonen Mitbürger wie Brüder zu behandeln und zu schützen, und das ganz im Sinne der Konsequenz aus dem Höhlengleichnis, dass die philosophischen Herrscher der Zukunft ihr Amt ohne jedes Eigeninteresse ausüben müssen, weil eben alle Stände in der idealen Stadt ihr Glück finden sollten und nicht nur einer (520 E). Zugleich sollen sich die Angehörigen des Demos ausschließlich demjenigen Gewerbe widmen, für das ihnen der Gott bei ihrer Geburt ein Talent eingepflanzt hat. Der sittliche Staat erfordert Herrscher, die insofern das Ihre tun, als sie sich allein der Wohlfahrt des gesamten Gemeinwesens und nicht als Demagogen partikularen Zielen widmen; und ebendieser Staat erfordert Normalbürger, die insofern das Ihre tun, als sie allein ihrem Gewerbe nachgehen und nicht in der Volksversammlung Demagogen unkritisch applaudieren. Entsprechend hatte Sokrates schon in der Apologie (22 C–E) den Handwerkern versichert, dass sie von politischen Angelegenheiten nichts verstünden, sehr viel aber von ihren Gewerken. Platons konsistent ausgearbeitete Theorie vom sittlichen Staat ist jedoch schon deswegen mit der fest verankerten Demokratie seiner Zeit nicht kompatibel, weil sie dem Demos die bedingungslose politische Entmündigung zumutet. Auf den ersten Blick hat daher diese Theorie die Anmutung eines reinen Postulates ohne Machtoption und ohne Unterstützer. Nun bestand jedoch neuerdings nicht mehr der Mangel an politischen Verbündeten, den der junge Platon ja noch beklagt hatte. Im Norden Griechenlands hatte die makedonische Monarchie mittlerweile einen fulminanten Aufstieg geschafft, dem die klassischen Demokratien immer weniger entgegenzusetzen hatten. So ist es kaum verwunderlich, dass die Abneigung vieler Oligarchen gegen die Demokraten ihre Zuneigung zum makedonischen Hof einschloss. Unter diesen Umständen gewann auch Platon politische Freunde – gewiss im Einvernehmen mit Aristoteles, zumal dieser ja wohl kaum aus Pella zu einem antimakedonisch und prodemokratisch gesinnten Lehrer geschickt worden wäre. Erstmals manifest wurden Platons Sympathien für Makedonien, als er zu Perdikkas III. (r. 368– 360) als jungem König – zu einem Zeitpunkt also, da Aristoteles sich 32 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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schon der Akademie angeschlossen hatte – seinen Schüler Euphraios von Oreus als Berater und Lehrer einer monarchietauglichen Rhetorik schickte. 25 Insbesondere veranlasste Platon Euphraios, er möge bei Perdikkas erwirken, dass er seinem jüngeren Bruder, dem späteren König Philipp II. (r. 360–336), ein kleineres Territorium zur Verfügung stelle, auf dem dieser vorsorglich schon eine schlagkräftige Streitmacht aufbauen könne. 26 Platon hatte also, sollte diese Nachricht zutreffen, einigen Anteil an der reibungslos erfolgten Thronbesteigung Philipps. Folgerichtig erfreute sich Platon der Wertschätzung Philipps 27, dem er durch seinen Vorschlag zu einem guten Start in sein Herrscheramt verholfen hatte, als dieser die Nachfolge des in einer Schlacht gegen die Illyrer gefallenen Perdikkas III. antrat. In diesem Zusammenhang verdient auch Philipps Eingreifen in den Dritten Heiligen Krieg (356–346) Erwähnung. Die Phoker hatten Delphi besetzt und den Kultort ausgeplündert. Von der delphischen Amphiktyonie zu Hilfe gerufen, besiegte Philipp die Phoker 353/52, tötete 6000 ihrer Söldner und nahm 3000 gefangen. Er hätte für diese Gefangenen auch ein Lösegeld zwischen einer und fünf Minen pro Kopf 28 erzielen können. Philipp zog es aber vor, sie allesamt zur Strafe für den Tempelraub demonstrativ im Meer zu ersäufen. 29 Zu bedenken ist, dass die Athener, Demosthenes folgend, Partei für die Phoker ergriffen hatten und dass der Oligarch Aischines sich noch 22 Jahre später gutschreibt, er habe alles getan um zu verhindern, dass die Athener gemeinsame Sache mit Tempelräubern machten. 30 Ein Passus aus Platons Nomoi (853 D–854 E) liest sich nun wie eine Stellungsnahme zu Philipps Vorgehen. Platon führte nämlich in seiner dort niedergelegten Strafgesetzgebung als erstes Delikt den Tempelraub an: Zuzutrauen sei er eigentlich nur Sklaven und Söldnern, die dafür unter Geißelhieben nackt über die Landesgrenze zu treiben seien; geschähe aber das eigentlich Undenkbare, dass auch gebildete Bürger einen Tempelraub begingen, so sei die Todesstrafe das Mindeste. Dieses Gesetz läuft offenbar auf eine herbe Kritik des demokratischen Lagers der Athener hinaus und auf ein Lob des Königs Philipp. Platon, V. Brief 321 C–322 A. Athenaios 506 E–F; Athenaios schließt sein Zitat mit dem Kommentar, Gott allein weiß, ob das auch stimmt. 27 Ailian, Varia Historia 4, 19. 28 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1134 b 22; Demosthenes 19, 169. 29 Diodor 16, 35. 30 Aischines 3, 107–131. 25 26

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Platons Sympathien für Philipp werden auch in einem Schreiben unterstrichen, das als 28. Sokratikerbrief überliefert ist. Absender des Briefes ist Speusipp, Platons Neffe und Nachfolger als Schulhaupt der Akademie, der Platon gegenüber Philipp entschieden gegen Anschuldigungen Theopomps bei Hofe verteidigt: Tatsächlich habe Platon sich gelegentlich kritisch über einzelne Makedonen geäußert, das aber nur, weil es ihn besonders ärgerte, wenn ausgerechnet die von ihm so geschätzten Makedonen Fehlverhalten an den Tag legten. Der eigentliche Anlass dieses Briefes könnte indes ein anderer gewesen sein. Denn vielleicht salvierte Speusipp den damals schon verstorbenen Platon, um dessen Schüler Aristoteles zu unterstützen. Er erwähnt nämlich rückschauend in dem Brief, dass Philipp den Vorsitz in der Delphischen Amphiktyonie übernommen hatte, nachdem ihm die beiden Stimmen der besiegten Phoker zugefallen waren. Das geschah im Jahr 346. Mithin könnte es zeitlich passen, dass Speusipp Einfluss nehmen wollte auf Philipps wenige Jahre später fällige Entscheidung, wem er die Erziehung seines Sohnes Alexander anvertrauen sollte. Außer Aristoteles kam offenbar auch Isokrates (436– 338) infrage. Da gehörte es sich für die Akademie, sich für ihren Mann einzusetzen und Isokrates, obwohl sie ansonsten dessen promakedonische Überzeugungen teilte, als ungeeignet darzustellen. Speusipp übernahm diesen Freundschaftsdienst, indem er Philipps Expansionspolitik als Fortführung des Erbes seiner Ahnen überschwänglich lobte und Isokrates tadelte, weil er in seinem Sendschreiben an Philipp dessen Handlungen völlig unzureichend verteidigt habe. Wenn es nun tatsächlich so war, dass Speusipp mit seinem Brief den von ihm nicht erwähnten Aristoteles bei Hofe indirekt empfehlen wollte, dann war seine Initiative ersichtlich von Erfolg gekrönt. Im Übrigen war es aber auch mehr als geboten, dass Speusipp als von Platon selbst empfohlener Nachfolger sich für Aristoteles verwendete. Als nämlich Platon 348/47 achtzigjährig starb, sprach viel Wahrscheinlichkeit dafür, dass Aristoteles auch seine Nachfolge als Schulhaupt der Akademie anträte. Er war Platons bester Schüler und stimmte zudem in den entscheidenden innen- und außerpolitischen Fragen mit seinem Lehrer überein. Gleichwohl wurde Aristoteles nicht zum neuen Schulhaupt der Akademie gewählt. Stattdessen wurde Nachfolger Platons dessen Neffe Speusipp. Angesichts der politischen Umstände ist das nicht verwunderlich; denn als Platon starb, waren die Athener verärgert über Philipp II., weil er soeben die mit 34 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Athen verbündete Stadt Olynth eingenommen hatte. Trotz ständiger Mahnungen des Demosthenes konnten die noch so empörten Athener Olynth nicht wirksam gegen Philipp schützen, der die Stadt schließlich eroberte und zerstörte. Bei der gereizten Stimmung konnte der Makedone Aristoteles nicht in Athen bleiben, geschweige denn die Akademie als Schulhaupt leiten. Die Schule traf also keine Schuld an der Nichtberufung des Aristoteles, hatte aber moralisch die Pflicht, sich später bei günstiger Gelegenheit für ihn einzusetzen; und diese Gelegenheit trat ein, als am makedonischen Hof der Prinzenerzieher zu bestallen war. Einstweilen jedoch mussten die Beteiligten nach Platons Tod zufrieden sein, dass für Aristoteles wenigstens eine gute Zwischenlösung gefunden wurde. Er ging nämlich zusammen mit seinem älteren Mitstudenten Xenokrates aus Chalkedon (396–312) und weiteren Platonschülern nach Atarneus in Kleinasien. Dort residierte der Platonanhänger Hermias als Tyrann von Atarneus und Assos. Unter dem Schutz dieses von Platon hochgeschätzten Mannes 31 konnten Aristoteles und Xenokrates einige Jahre lang intensiv ihren philosophischen Interessen nachgehen.

Schlüsse aus dem politischen Scheitern der Platonschüler In Atarneus gewann Aristoteles den nötigen Abstand, um eine Bilanz des bisher Erreichten zu ziehen. Sein Motiv war es keineswegs, Platons politische Wegweisung zu disqualifizieren; wohl aber übte er Kritik mit dem Ziel, die Substanz zu retten. Nur so glaubte er, dem Auftrag seines Lehrers gerecht zu werden. Bei diesem Bemühen wird ihm Xenokrates wohl kaum eine Stütze gewesen sein. Wie den spärlichen Nachrichten über Xenokrates zu entnehmen ist, hat dieser das geistige Erbe Platons fundamental anders verwaltet als Aristoteles. Platon kam in der Politeia nicht umhin, seine kosmologische Bestimmung des Guten als des Weltgrundes nicht begrifflich, sondern lediglich in den drei Gleichnissen von der Sonne, der Linie und der Höhle vorzutragen. Um nun darüber hinaus den ewigen Stimmungswechseln der bestehenden Polis und deren ewigem Auf und Ab auch von einem begrifflichen Fundament aus entgegenzutreten, erklärte Platon unmittelbar nach der Darlegung der drei Gleichnisse die mathe31

Platon, VI. Brief 322 C–323 D.

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matischen Wissenschaften zur Grundlage politischen Handelns und widmete sich im Alter zunehmend einer auf Zahlenspekulationen gestützten Metaphysik 1, an die Xenokrates offenbar anknüpfte. 2 Über die Fortführung der Platons Ansätze betreffenden Debatte berichtet Aristoteles im Buch M der Metaphysik, ohne allerdings den Namen des Xenokrates zu nennen. Danach ging es um die Frage nach dem Verhältnis von Ideen und Zahlen, ob es lediglich rein mathematische (μαθηματικοί) Zahlen gäbe oder ob es auch besonders qualifizierte Zahlen gäbe, die den Ideen zugrunde lägen (εἰδητικοί). Letzteres wurde von denjenigen Mitgliedern der Akademie bezweifelt, die für alles, was in der Anschauungsform des Früher oder Später erscheint, also auch für die Zahlen keine korrespondierenden Ideen gelten ließen. 3 Aristoteles berichtet über diese innerschulische Auseinandersetzung, das aber nicht eben emphatisch. Im Übrigen hat Aristoteles zwar demonstriert, dass die Weltordnung auf einem göttlichen Kraftzentrum beruht, das – vergleichbar dem Gedachten und dem Geliebten – selbst unbewegt ein ewig alles andere Bewegendes ist 4, und damit unterstrichen, dass auch ihm Fragen nach dem Weltgrund keineswegs gleichgültig waren; aber im Rahmen der praktischen Philosophie zog er es vor, menschliches Handeln jeweils am erreichbaren Gut (τὸ πρακτὸν ἀγαθόν) zu orientieren und nicht an einer fernen, kosmologisch verorteten Idee des Guten, selbst wenn sie als eigenständige Größe tatsächlich existieren sollte. 5 Man kann sich leicht vorstellen, dass Aristoteles und Xenokrates, der mit den Zahlen offenbar mehr im Sinn hatte, ihrer philosophischen Arbeit auf höchst verschiedene Weise nachgingen. Aristoteles dürfte überzeugt gewesen sein, dass Xenokrates der Kernaufgabe, die Platon der Philosophie gestellt hatte, nämlich Vernunft in den Staaten anzusiedeln, nicht gerecht werden konnte. Entsprechend soll Aristoteles laut Diogenes Laertios (5, 3) im Kreise seiner Anhänger geäußert haben: »Es wäre schändlich zu schweigen, Xenokrates aber reden zu lassen« (αἰσχρὸν σιωπᾶν, Ξενοκράτην δ’ ἐᾶν λέγειν). Zugegebenermaßen nennen alle anderen antiken Autoren, die die kritische Äußerung des Aristoteles überliefern, nicht Xe-

1 2 3 4 5

Vgl. Anm. 4, S. 23. Diogenes Laertios 4, 10. Aristoteles, NE 1096 a 17–19. Aristoteles, Metaphysik 1272 a 19–b 8. Aristoteles, NE 1096 b 31–1097 a 23.

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nokrates als den Angegriffenen, sondern Isokrates. Nun mag zwar Isokrates ein konkurrierender Rhetoriklehrer des Aristoteles gewesen sein, aber dem stand entgegen, dass er ganz im Sinne der makedonischen Partei auf einen griechischen Angriff gegen das Perserreich setzte, und zwar spätestens seit dem Frieden des Philokrates 346, als er Philipp II. in einem Sendschreiben daran erinnerte, dass Iason von Pherai allein schon mit bloßem Räsonieren über einen Feldzug gegen die Perser viel Renommee für sich gewonnen habe. 6 Wie Aristoteles empfahl auch Isokrates König Philipp II., die Barbaren zu Heloten zu machen 7, wie Aristoteles stand er in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Alexanders späterem Statthalter Antipatros (398–319). 8 Zudem hatte schon Sokrates ihn in Platons Phaidros seinen hoffnungsvollen jungen Freund genannt, der sich durch eine philosophische Anlage auszeichne – ein Lob, das Isokrates in seinen reifen Jahren noch bestätigen sollte, als er Helena in einer ihr gewidmeten Rede als überlegene Leitfigur der Griechen rühmte und sie im Gegensatz zu Gorgias ausdrücklich nicht als eine von seinem Anwaltstalent abhängige Klientin mit zweifelhaftem Leumund verteidigte. 9 Somit spricht die Wahrscheinlichkeit, wie Diogenes es will, eher für Xenokrates als den Angegriffenen; und ebendies bestätigt auch das Regelwerk der in diesem Fall heranzuziehenden Prosodie, sofern Aristoteles mit seiner Versinvektive einen Jambus aus dem (nicht erhaltenen) »Philoktet« des Euripides variiert: Isokrates 5, 119 f. Isokrates, Brief III § 5 an Philipp. 8 In einem als Brief IV notierten Schreiben an Antipatros verwendete sich Isokrates bei diesem im Jahr 340/39 für einen jungen Mann, obwohl sich zu dieser Zeit Athen und Makedonien im Kriegszustand befanden. 9 Sein Lob auf Isokrates äußert Sokrates bei Platon, Phaidros 278 E–279 B. Der Gedankengang des Phaidros legt die Deutung nahe, dass Platon Sokrates dieses Lob schon im Blick auf die spätere Helenarede des Isokrates in den Mund gelegt hat. Lysias hatte dem jungen Phaidros vorgetragen, es sei zweckmäßiger, einem Nichtverliebten seine Gunst zu erweisen als einem Verliebten, und charakterisierte damit implizit Eros als ein besser mit Vorsicht zu genießendes, mithin wenig göttliches Wesen. Nachdem sich auch Sokrates zunächst in einer Lysias noch überbietenden Weise auf diese Argumentation eingelassen hatte, sah er sich schließlich zur Palinodie genötigt – wie einst Stesichoros, nachdem er Helena geschmäht habe (243 A–B). Als darauf Sokrates nunmehr geläutert Eros als eine eben doch göttliche Kraft gebührend gewürdigt hatte, sprach er auf Unkosten des Lysias sein bemerkenswertes Lob auf Isokrates aus. Platon erwartete offenbar von den Lesern des Dialoges, dass sie in der späteren Rehabilitation der Helena durch die Rede des Isokrates zu ihrem Ruhm eine Parallele zur Rehabilitation des Eros durch Sokrates im Phaidros erkannten. 6 7

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ὑπέρ γε μέντοι παντὸς Ἑλλήνων στρατοῦ αἰσχρὸν σιωπᾶν, βαρβάρους δ’ ἐᾶν λέγειν. 10 Der variierte Vers – αἰσχρὸν σιωπᾶν, Ξενοκράτην δ’ ἐᾶν λέγειν – erfüllt genau die Bedingungen, denen Euripides seine jambischen Trimeter unterwarf. Im Laufe der Jahre war er immer mehr bereit, ein longum in zwei brevia zu teilen, allerdings nur eines pro Vers, und zwar am ehesten das dritte und auch das nur am Wortanfang. 11 Diese Bestimmungen hätte Aristoteles in der Version des Diogenes Laertios allesamt beachtet, sofern er bei ihm das dreisilbige βαρβάρους nicht durch den viersilbigen Namen Isokrates ersetzte, der im Widerspruch zur Regel mit einem longum und einem darauffolgenden breve beginnt, sondern durch den zwar ebenfalls viersilbigen Namen Xenokrates, der aber zur Regel genau passend mit zwei brevia beginnt. Verslehre und inhaltliche Wahrscheinlichkeit bestätigen sich also gegenseitig. Konflikte zwischen Aristoteles und Xenokrates gab es, wenn ein Bericht Ailians 12 zutrifft, auch schon vor Platons Tod. Demnach soll Aristoteles den 80-jährigen Platon einmal ohne Verständnis für eine wohl altersbedingte Konzentrationsschwäche so harsch angegriffen haben, dass Platon ihn fortan ignorierte. Als der zur Zeit dieses Vorfalls verreiste Xenokrates bei seiner Rückkehr davon erfuhr, machte er Aristoteles heftigste Vorwürfe und sorgte dafür, dass er aus seinem Unterrichtsraum vertrieben wurde. Auch zuvor hatte Xenokrates schon seine unbedingte Loyalität gegenüber Platon bewiesen, als er ihn auf seiner dritten und letzten Sizilienreise 361/60 begleitete. Als Dionysios II. Platon in Syrakus die Enthauptung angedroht hatte, bot Xenokrates dem Tyrannen seinen Nacken an. 13 Beide Geschichten implizieren, dass Xenokrates Platon zumindest persönlich sehr nahestand, weitaus näher jedenfalls als Aristoteles. Gleichwohl konnten nach Platons Tod beide Männer gemeinsam nach Atarneus ausweichen, weil für beide nach der Inthronisierung Speusipps in der Akademie kein Platz mehr war. Der Differenzpunkt blieb aber bestehen,

A. Nauck, Tragicorum Graecorum Fragmenta, repr. Hildesheim 1964 (ed. B. Snell), Fragment 796: »Indes ist es jedenfalls schändlich, über das gesamte Heer der Griechen zu schweigen, die Barbaren aber reden zu lassen.« 11 Diese Bestimmungen folgen B. Snell, Griechische Metrik, Göttingen 1982, S. 20. 12 Ailian, Varia Historia 3, 19. 13 Diogenes Laertios 4, 11. 10

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dass Xenokrates das Allgemeine im Allgemeinen suchte, Aristoteles aber im Konkreten. Im Sinne dieser Maxime dürfte Aristoteles, wie aus seinen späteren Überlegungen in der Politik rückzuschließen ist, nach seinem Ausscheiden aus der Akademie die bei aller glanzvollen Stringenz der begrifflichen Grundlegung bislang nicht eben ermutigenden Auftritte der Lehre Platons auf der politischen Bühne bilanziert haben. An solchen Auftritten bestand kein Mangel. Platon hatte sich in die Athener Verhältnisse, weil er das für hoffnungslos hielt, nie eingemischt. Erst Jahrzehnte nach Platons Tod hatten seine Schüler Phokion (403–317) und später Demetrios Phalereus (345–283) unter makedonischer Rückendeckung in Athen oligarchische Akzente gesetzt. Deren Tätigkeit in Athen hatte auch Aristoteles nicht mehr erlebt. Dafür wusste er aber von mehreren Platonschülern, die laut Bericht Plutarchs zu gesetzgeberischer Tätigkeit in verschiedene Städte entsendet wurden: Aristonymos zu den Arkadern, Phormion zu den Eleiern und Menedemos zu den Pyrrhaiern. Gesetze schrieben Platons Schüler Eudoxos für die Knidier und Aristoteles selbst für die Stagiriten. Der sonst nicht bekannte Platonschüler Delios von Ephesos spornte Alexander an, er solle energisch den Krieg gegen die Barbaren führen. 14 Philostrat berichtet von einem Dias von Elis, der – wohl identisch mit Plutarchs Delios – ein Band zwischen Akademie und Philipp knüpfte, um Philipp seine Aversionen gegen die Griechen auszureden und den Griechen zu bedeuten, dass ihre Teilnahme an einem Feldzug gegen die Perser unter makedonischer Führung keine Schande sei; denn sie übernähmen zwar auswärts eine dienende Rolle, das aber, um im eigenen Haus die Freiheit zu genießen. 15 Von all diesen Missionen ist außer den Namen der Schüler und der Städte nichts Näheres bekannt. Deshalb lässt sich auch nicht sagen, wie Aristoteles diese angeführten Auftritte seiner Mitschüler auf politischer Bühne beurteilte. Es gibt aber auch andere Fälle, über die wir besser informiert sind. So dürfte Aristoteles mit Entsetzen den Platonschüler Klearchos von Herakleia beobachtet haben, den die dortigen Oligarchen aus der Verbannung zurückgerufen hatten, weil er den Parteienstreit in seiner Heimatstadt schlichten sollte. Er begann auch seine Tätigkeit auf Seiten der Oligarchen, versprach aber bald dem Volk seine Unterstüt14 15

Plutarch, Moralia 1126 C–D; vgl. Moralia 805 D. Philostrat, Leben der Sophisten 1, 3 (p. 485 f.).

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zung, wenn es ihn zum Tyrannen wählte. Darauf tötete er zur Freude des Volkes sechzig Oligarchen und zwang deren Frauen und Töchter, Sklaven zu heiraten. Nach einer siegreichen Schlacht gegen die Oligarchen richtete er wahllos Blutbäder an und nannte sich Sohn des Zeus. Zur Unterstreichung dieser Nähe hielt er – Alexander vorwegnehmend – in der Hand, so formuliert in Plutarchs Paronomasie, nicht ein Szepter (σκηπτρόν), sondern ein Blitzsymbol (σκηπτόν). 16 Damit war er schon einige Schritte weiter gegangen als der Spartaner Lysander, der nach dem Peloponnesischen Krieg als erster Grieche Opferaltäre »wie für einen Gott« erhielt. 17 Die Herrschaft des Klearchos aber fand trotz seiner an Zeus orientierten Ausstattung schließlich ein Ende, als er 353 von den Platonschülern Chion und Leonides getötet wurde. 18 Eine ähnliche Politik wie Klearchos verfolgte später der Platonschüler Chairon aus Pellene, der in seiner Heimatstadt im Auftrag Alexanders die Demokratie auflöste und sich selbst zum Tyrannen machte. Auch er vertrieb die besten Bürger aus der Stadt und überließ deren Frauen und Eigentum den Sklaven. Ermunterung habe seine Politik, so kommentiert bitter ironisch Demochares, der Neffe des Demosthenes und entschiedener Demokrat, von Platons edler Politeia und seinen gesetzlosen »Gesetzen« (Nomoi) erfahren. 19 Unrühmlich endete schließlich auch der Platonschüler Timolaos von Kyzikos 20, der sich zunächst das Vertrauen seiner Landsleute durch Geld- und Getreidespenden erwarb, schließlich aber nach gerichtlicher Verurteilung wegen eines gescheiterten Umsturzversuches sein restliches Leben in Unehren verbrachte. 21 Nicht gerade ermutigend war auch das Ende des Euphraios, dem Philipp II. ja einiges zu verdanken hatte. Im übermütigen Stolz auf seine Rolle als Königsmacher entwickelte Euphraios allmählich eine tyrannische Ader, gePlutarch, Moralia 338 B. Auf Vasenbildern trägt Zeus in der Linken ein Szepter und in der Rechten einen Blitz. Beispiele: die attische Pyxis des Malers C (um 570) im Louvre sowie in den Staatlichen Antikensammlungen München die Chalkidische Hydria (um 540), die Zeus im Kampf mit Typhon zeigt, und die rotfigurige Amphora des Nikoxenos-Malers (um 500), auf der Zeus neben Hera thront. Zu Alexander vgl. unten die Anm.12/13, S. 86 f. 17 Plutarch, Lysander 18, 3. 18 Diodor 15, 81, 1; Iustin 16, 4–5. 19 Athenaios 509 A–B; vgl. Demosthenes 17, 10. 20 Diogenes Laertios 3, 46. 21 Athenaios 509 A. 16

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rierte sich, als wäre er selbst der König, und ließ schließlich zu Syssitien nur noch Männer zu, die sich in Mathematik und Philosophie auskannten. Seinem polarisierenden Treiben setzte Philipps und Alexanders General Parmenion ein Ende, als er ihn nach Philipps Thronbesteigung tötete. 22 Unrühmliches berichtet wird auch über Herakleides Pontikos, Schüler Platons und des Aristoteles, Autor von immerhin 46 Titeln, die Diogenes Laertios in seiner Publikationsliste aufführt. Zwar befreite dieser seine Vaterstadt von einem Gewaltherrscher, indem er ihn tötete. Als in der Stadt eine Hungersnot herrschte, baten die Bürger Pythia um einen nützlichen Rat. Herakleides aber bestach die nach Delphi Entsandten, sie sollten sich die Antwort geben lassen, die Stadt würde aus der Not befreit, wenn die Bürger Herakleides eine goldene Krone verliehen und für ihn nach seinem Tod einen Heroenkult einführten. Da Herakleides vorsichtshalber auch die Pythia selbst bestochen hatte, ging der Plan zunächst auf. Als ihm aber in Herakleia tatsächlich die Krone aufgesetzt wurde, erlitt er einen Schlaganfall, die Gesandten wurden gesteinigt, und die Pythia erlag am selben Tag einem Schlangenbiss. 23 Gewiss wirkt die Geschichte konstruiert, aber sie lehrt doch, was man politisch handelnden Philosophen alles zutraute. Konnte man das Scheitern des Klearchos, Chairon, Timolaos, Euphraios und Herakleides noch auf deren erhebliche persönliche Defizite zurückführen, so verbot sich das für einen durch und durch integren Mann wie Dion von Syrakus (409–354), dem aber ebenfalls keine Erfolgsgeschichte beschieden war. Zusammen mit Platon hatte er vergebens versucht, den unfähigen Dionysios II., der 367 die Nachfolge seines Vaters Dionysios I. (430–367) angetreten hatte, mit gutem Zureden von seinem tyrannischen Gebaren abzubringen. Als es darauf Dion mit Gewalt statt mit Überredung versuchte, gelang es ihm, den Tyrannen unter dem Jubel der Bevölkerung aus Syrakus zu vertreiben. Als Dion sich nun auf die Seite der Oligarchen stellte, erregte er das Misstrauen der Demokraten unter Führung des Flottenkommandanten Herakleides und musste unter deren Druck mit seinen Söldnern nach Leontinoi ausweichen. Von dort zurückgerufen Athenaios 508 D–E unter Berufung auf Theopomp. Dieser Platonschüler Euphraios ist nicht identisch mit dem Euphraios, der als Agent Philipps von den Eritreern ermordet wurde (Demosthenes 9, 59–62). 23 Diogenes Laertios 5, 86–91. 22

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befreite er die Stadt erneut und ging nunmehr konsequent gegen die Demokraten vor, indem er die Flotte auflöste, die Volksversammlung durch 35 Gesetzeshüter ersetzte und Herakleides töten ließ. Als Dion nun ebenfalls immer tyrannischer agierte und sich insbesondere bei den Oligarchen bediente, um seine unersättlichen Söldner zu bezahlen, saß er schließlich zwischen den Stühlen und wurde von dem Athener Kallippos, der seine missliche Lage ausnutzte, ermordet. 24 Dieser Kallippos, der nur bei Cornelius Nepos Kallikrates heißt, war einmal Dions Freund und Platons Schüler. 25 Es ist nur zu verständlich, dass es Platon an der einschlägigen Stelle im VII. Brief (333 E) nicht über sich gewinnt, seinen Namen zu nennen. Nachdem Kallippos selbst noch dreizehn Jahre in Syrakus als Tyrann geherrscht hatte, zog er sich mit seinen Söldnern nach Rhegion zurück, wo sie ihn ermordeten, weil er sie nicht mehr bezahlen konnte. 26 Aristoteles hat gewiss alle an diesen Fehlschlägen beteiligten Platonschüler persönlich gekannt, erwähnt aber hat er in seinen überlieferten Schriften nur den Ehrenmann Dion und den illoyalen Mörder Kallippos: Dion habe sich todesmutig gegen den trunksüchtigen Dionysios II. erhoben, mit ganzen 3000 Söldnern den zahlenmäßig weit überlegenen Tyrannen besiegt und am Ende mit seinem Leben bezahlt. 27 Zu Recht habe Dion Dionysios II. vorgehalten, er sei wie ein persischer Herrscher von dem Wahn besessen, er müsse alles und jedes persönlich kontrollieren. 28 Die Tat des Kallippos verurteilt Aristoteles indirekt im Rahmen einer viktimologischen Kasuistik, der gemäß die Gefahr, ein Unrecht zu erleiden, unter anderem auch von dem droht, der eine frühere Freundschaft mit seinem späteren Opfer gekündigt hat und gegen dieses schließlich einen Prozess anstrengt – »wie Kallippos gegenüber Dion verfuhr«. 29 Mit diesen Bemerkungen ist also Aristoteles nicht weiter gegangen, als das äußere Verhältnis

Quellen: Platon, VII. und VIII. Brief; Cornelius Nepos, De excellentibus ducibus exterarum gentium: Dion; Plutarch, Dion. 25 Diogenes Laertios 3, 46; Athenaios 508 E. Der Platonschüler Kallippos, Mörder Dions, ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Platonschüler Kallippos von Kyzikos, der sich als Astronom einen Namen gemacht hatte. 26 Diodor 16, 31, 7; Athenaios 508 F. 27 Aristoteles, Politik 1312 a 4–6, a 33–39, b 16–17; Rhetorik an Alexander 1429 b 16– 18. 28 Aristoteles, Ökonomik 1344 b 35–36. 29 Aristoteles, Rhetorik 1373 a 18–20. 24

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zwischen zwei Personen zu charakterisieren. Im politischen Sinne grundsätzlich geworden ist er jedoch nicht. Aristoteles hätte es sich mit der bloßen Feststellung leicht machen können, dass eben für die Schule neben anderen internen Schwierigkeiten auch das Problem der Kontrolle ihrer Schüler bestehe; erliege der Schüler, in die Welt entlassen, bei entsprechenden äußeren Umständen seinen menschlichen Schwächen, dann scheitere auch die beste politische Theorie. Noch zweitausend Jahre später, als Immanuel Kant für die Philosophie ein Anhörungsrecht bei drohendem Kriegsausbruch reklamierte, sah er sich genötigt, sogleich einschränkend zu erklären, Philosophenkönige seien weder zu erwarten noch zu wünschen, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil unvermeidlich verdirbt«. 30 Solche Bedenken konnten auch Aristoteles nicht entgangen sein, aber er beschränkte sich nicht auf eine Argumentation, die die philosophisch grundsätzliche Seite außer Acht ließ; vielmehr führte er das ohne Ausnahme eingetretene Scheitern einer Politik nach Anweisungen der platonischen Philosophie darauf zurück, dass ihr dank der gewollten Abstraktheit schon im Ansatz ein aussichtsreicher Zugriff auf jene realen Verhältnisse versagt blieb, deren Besserung Platon sich zum Ziel gesetzt hatte. Damit sich bei der Konstruktion des Staates absoluter Gerechtigkeit keine Fehler einschleichen könnten, hatte Platon den geschichtlich gewordenen Staat in Klammern gesetzt und gewissermaßen vom Nullpunkt aus seine politische Theorie der wahren Verfassung im Ausgang von der unbestreitbaren, ökonomisch relevanten Naturtatsache der menschlichen Mindestbedürfnisse Essen, Kleidung und Wohnung entwickelt (Politeia 369 C–D) und folgerichtig bis zur Idee des Guten als wahrem Weltgrund gesteigert. Diese Entwicklung eines streng in Gedanken a priori entworfenen Staates musste im Platonschüler, der zu politischem Handeln im Sinne seines Lehrers aufgerufen war, die Vorstellung nähren, er könne gleichsam aus dem Nichts von vorne anfangend ein unvollkommenes Gemeinwesen ohne falsche Zugeständnisse in ein vollkommenes Gemeinwesen verwandeln. Die hierzu unerlässlichen VoI. Kant, Zum ewigen Frieden (2. Zusatz zum 2. Abschnitt). Mit seinem Satz, »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden« (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Sechster Satz) schätzt Kant den Menschen ebenso illusionslos ein wie Platon mit der Geschichte vom lydischen Hirten Gyges, der sich, getarnt durch einen ihn unsichtbar machenden Ring, bis auf den Königsthron durchmordet (Politeia 359 D–360 C).

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raussetzungen waren und sind aber nirgends erfüllt. Stattdessen fand der Schüler einen immer schon bestehenden willensstarken Staat mit bestimmten politischen Lagern vor, in dem eines das andere dominierte und am liebsten in die Verbannung geschickt hätte. 31 Der erste Schritt des Platonikers konnte daher nicht im neutralen Regress auf einen unbefleckten Nullpunkt bestehen; vielmehr musste er sich ohne Verzug entscheiden, entweder für das demokratische oder für das oligarchische Lager Partei zu ergreifen. Wenn sich aber notgedrungen der platonische Politiker mit einem der beiden Lager identifizierte, was blieb dann vom kosmischen Prinzip der Idee des Guten noch übrig als das selbstgewisse Bewusstsein der Überlegenheit des Philosophen über die an die irdischen Niederungen Gebundenen? Platon selbst hatte diese Schwierigkeit schon vorausgesehen, wenn er erklärte, dass der Philosoph seine Größe als Retter nur in einem Staat entfalten könne, der von vornherein zu ihm passe, was aber auf keine der derzeitigen Staatsformen zutreffe (Politeia 497 A–B). Für Aristoteles war nach diesen Befunden die Zeit für eine interimistische Besinnungsphase gekommen. Er durfte sich nicht zufrieden geben mit einer Erklärung des Desasters der Platonschüler unter dem Aspekt der jeweils waltenden politischen Machtverhältnisse. Er musste auch philosophisch grundsätzlich werden und herausfinden, wo auf Seiten der Theorie der Schwachpunkt lag. Nun hatte Platon ja ausdrücklich »aus reiner Vernunft« (λόγῳ) bestimmt, wie die an und für sich wahre Polis zu strukturieren ist. Diese wahre Polis wird nur für den erkennbar, der die bestehende Polis wie eine Vernunft und Einsicht blockierende Höhle verlassen hat, aber dann offenbar nicht mehr zurückfindet, weil das von außen herangetragene System die geschichtliche Polis im politisch-praktischen Sinne ebenso verfehlt, wie sie dem System schon im theoretischen Sinne von vornherein äußerlich geblieben ist. Gegen diese Konsequenz abstrakten Konstruierens verspricht allein das hermeneutische Verfahren Abhilfe: Vernunft vermutet, sich in dem, was ist, wiederzuerkennen, untermauert diese Vermutung mit guten Gründen und begreift im Erfolgsfall das, was ist, als das Wesentliche. Dank der Anwendung dieses methodischen Grundsatzes auf die Theorie des Politischen wurde im Grunde erst Aristoteles der wahre Gründer der politischen Philosophie 32, Dass dem besiegten politischen Lager Tötung und Verbannung drohten, betont Platon in der Politeia (557 A). 32 Dass erst Aristoteles Archeget der politischen Philosophie war, ist die passim be31

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während Platons Anteil darin bestand, dass er der Philosophie das Recht auf eine solche Gründung sicherte und dass er zugleich ungewollt Aristoteles warnte, wie er nicht vorgehen sollte. Das hermeneutische Vorgehen des Aristoteles entzog zweifellos der Idee des Guten den Boden und nötigte deshalb, das Problem der Norm durch Umbesetzung der Positionen zu lösen: Wenn das Maß nicht in der außermenschlichen Welt zu verorten ist, dann eben in der menschlichen, dort aber nicht bedingungslos, weil sonst an die Stelle der unwirksamen Norm der Normenverzicht getreten wäre. Aristoteles löst das Problem unter Verweis auf den anständigen Mann, der die Norm verkörpere: »Wie Kinder andere Dinge schätzen als Erwachsene, so verhält es sich auch bei den Ungebildeten und den Gebildeten … Für einen jeden ist die Tätigkeit die wünschenswerteste, die seinem habituellen Wesen (ἕξις) am meisten entspricht, und für den Anständigen (σπουδαῖος) ist das die Tätigkeit gemäß der Tugend.« 33 Aus diesem hermeneutischen Zirkelschlussverfahren folgt mit den Worten von G. Bien als Lösung des Normproblems: »Gut ist das, was dem Guten als gut erscheint … Gut ist der, dem das Gute als gut erscheint, dem das an sich Gute ein für ihn selbst Gutes ist.« 34 Wenn in Anwendung dieser Normenbestimmung auf die Polis die Hermeneutik ihre Bestimmungen nicht mehr aus der jenseitigen Idee des Guten herleitet, dann verfährt sie deswegen keineswegs wie eine passive, weil kritiklose Widerspiegelung realer Gegebenheiten. Kriterium des Aristoteles war der anständige Mann, der das Glück der Bürger und ihre Freiheit als ein von der Polis gewolltes und geschütztes Recht in den Mittelpunkt stellen dürfte. Eine in diesem Sinne normative Hermeneutik definiert die Methode, bei deren Beachtung praktische Philosophie ihre Adressaten von ihren Befunden überzeugen wird. Hermeneutik als Verfahren der praktischen Vernunft eröffnet dieser ein breites Betätigungsfeld, das sie aber nur erfolgreich bearbeiten wird, wenn sie sich der damit einhergehenden Disziplinierung unterwirft. Wie die Transzendentalphilosophie in Kants Kritik der reinen Vernunft die »spekulative« Vernunft diszipliniert, indem sie diese auf die Kontrolle der sich in den Anschaulegte These von G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie, Freiburg/ München 31985. 33 Aristoteles, NE 1076 b 23–27. 34 G. Bien, Die menschlichen Meinungen und das Gute. Die Lösung des Normproblems in der Aristotelischen Ethik, in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Band I, Freiburg 1972, S. 359.

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ungsformen Raum und Zeit präsentierenden Phänomene einschränkt und untersagt, die durch Noumena markierte Grenzlinie zu überschreiten, so verbürgt die Hermeneutik die Bindung der praktischen Vernunft an »Phänomene«, die keine reinen Objekte sind, sondern schon durch ein qualitatives Vorverständnis geprägt sind, sei es durch Reflexionen älterer Theorien oder sei es durch den Vorstellungshorizont des Mainstreams. Die doppelte Selbstdisziplinierung der Vernunft führt gerade nicht zu bloß passiv abbildender Wissenschaft; im Gegenteil, unter ebendieser Voraussetzung erweist sich die Spontaneität im theoretischen Sinne als Ursprungsbedingung der Möglichkeit der Formulierung synthetischer Sätze a priori und im praktischen Sinne als einleuchtende Bestimmung des Wesentlichen menschlicher Handlungsziele, die ohne diese Arbeit nicht clare et distincte zu Bewusstsein kämen. Aus dem hermeneutischen Vorgehen des Aristoteles folgt zwingend, dass die Position des Philosophenkönigs von vornherein theoretisch wie praktisch ausgeschlossen war. Die Schuld gibt Platon den heruntergekommenen Staaten, während er anders als Kant zumindest in der Politeia (473 C–D, 501 E) noch keinen Zweifel an der Integrität der von ihm proklamierten Philosophenkönige äußert. Diese Einschätzung in der Politeia hielt Platon, wohl durch das Versagen seiner Schüler eines Besseren belehrt, in den Nomoi nicht mehr durch. Dort befindet er, vom Grundsatz her sei das Beste zwar nach wie vor der Zusammenfall von höchster Macht und vernünftigem Geist in einer Person oder, anders ausgedrückt, die Herrschaft frei urteilender Vernunftmenschen. Da aber diese, zur unumschränkten Herrschaft gelangt, unvermeidlich von der Macht korrumpiert würden und ihre privaten Interessen über das Allgemeinwohl stellten, sei das Beste offenbar nicht zu haben; man müsse sich daher mit dem Zweitbesten begnügen, und das sei die Herrschaft der Gesetze. 35 Mit diesem eher unauffälligen Passus verabschiedet sich Platon, genötigt durch das Versagen seiner Schüler, mit demselben Argument wie dereinst Kant vom Philosophenkönig und wird ihn durch ein Kollegium von Gesetzeshütern ersetzen. Konsequenterweise tauchen denn auch in den Nomoi die Idee des Guten sowie die Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonielehre und Dialektik nicht mehr auf, die ja allesamt der Qualifikation des künftigen Ausnahmeherrschers dienen sollten, bevor er sein Staatsamt übernähme. 35

Platon, Nomoi 711 E–712 A, 874 E–875 D.

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Der Verzicht auf den Philosophenkönig bedeutete aber für Platon noch mehr; denn die Gesetzeshüter konnten den der Dialektik verpflichteten Philosophen nur ersetzen, wenn sich ihre Arbeit auf einen Gesetzeskodex stützte. Da offenbar kein bestehender Kodex Platon zufrieden stellte, nahm er konsequenterweise die Mühe auf sich, zwölf Bücher Nomoi zu schreiben. Diese Wende von der Dialektik zu den Gesetzen bereitete Platon zusätzlich zu der Mühe noch weitere Ungelegenheiten, die die Identität der dramatis personae betrafen. Namentlich genannt werden der Kreter Kleinias und der Spartaner Megillos, die mit einem lediglich als Gastfreund aus Athen vorgestellten Wortführer bei einer gemeinsamen Wanderung zur Zeushöhle im kretischen Idagebirge (625 A) einen Sitten- und Gesetzeskodex für eine in Kreta zu gründende Kolonie formulieren. Der tonangebende Athener durfte nicht Sokrates heißen; denn der pflegte Athen ja nicht zu verlassen und schon gar nicht bis ins ferne Kreta. Auch Platon selbst hätte nicht für Sokrates einspringen können; denn er hatte ja in seinem »Phönizischen Mythos« in der Politeia die Treue zur attischen Erde beschworen und Koloniegründungen eine Absage erteilt. Schließlich konnte »der Athener« in den Nomoi auch nicht den Namen eines der diskreditierten Platonschüler tragen und musste daher anonym bleiben. Die einfachste Lösung, auf die Szenerie einer Koloniegründung zu verzichten, kam für Platon deswegen nicht infrage, weil er nach der Preisgabe des Philosophenkönigs aus systematischen Gründen wenigstens am Ausgang von einem unbefleckten Nullpunkt festhalten wollte. Dieser Nullpunkt erschien aber nur plausibel, wenn er den Anfang der Neugründung einer Kolonie markierte, und zwar eben nicht für attische Siedler, sondern für Kreter. Ein unerbittliches Gedächtnis gebietet die konsequente Beachtung des früher Gesagten. Aristoteles konnte sich auch mit Platons halber Selbstkorrektur, wollte er seiner Idee eines Vernunftstaates bessere Aussichten sichern, nicht zufrieden geben. Wie gesagt bestand er darauf, dass die Philosophie das, was ist, auszusagen habe. Diese Regel verdankt sie letztlich ihrer Vorläuferin in der tragischen »Wiedererkennung« (ἀναγνώρισις), die eintritt, wenn die Verblendung (ἄτη) endlich überwunden wird und das wirklich Seiende zutage tritt. Das, was ist, pocht darauf, das Übersehene wahrzunehmen. Demgemäß ist es keineswegs unkritisch, wenn Aristoteles den Phänomenen nicht – möglicherweise am Gegenstand vorbei – legislatorisch vorgibt, wie sie zu sein hätten, sondern diese im Sinne dessen, was ist, lieber zunächst 47 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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einmal für sich selber sprechen lässt. Was die Phänomene unter dem Aspekt politischer Reformabsicht als ersten Grundsatz lehren, hat Aristoteles in der Metaphysik (1069 a 30–b 20) erläutert, allerdings aus dem Blickwinkel der Physik auf die von Natur seienden Dinge. Demnach gilt für alle Anfänge das nihil fit ex nihilo, sofern jeder Anfang in Wahrheit eine Wende (μεταβολή) von einem vorausgegangenen Zustand zu einem neuen darstellt, während die materia (ὕλη) das Bleibende ist, an der sich die Wende vollzieht. Dass dieses Modell auf menschliche Praxis übertragbar ist, erkennt Aristoteles schon damit an, dass der Begriff der Wende auch in der Tragödientheorie eine Rolle spielt; denn die Peripetie, der Umschlag von Glück in Unglück oder umgekehrt, wird von Aristoteles ausdrücklich als Wende bestimmt, die sich laut fabula (μῦθος) unter Beachtung des Wahrscheinlichen (εἰκός) oder des Notwendigen (ἀναγκαῖον) ereignet. 36 Das Bleibende in der Physik ist die materia und auf der Bühne der Protagonist. Diese Vorgaben der Physik und der Poetik nötigen bei Übertragung auf das Politische zur Beachtung des Umstandes, dass das Volk, das als das Bleibende Änderungen an sich erfahren soll, immer schon in einer bestimmten Form von staatlicher Organisation existiert hat, ohne indes auf einer neue Wenden ausschließenden Endgültigkeit dieser Form zu bestehen. 37 Wenn also unter dieser Prämisse Aristoteles im keineswegs annullierten Auftrag seines Lehrers der politischen Wirklichkeit vernünftige Wege weisen will, so darf er nicht bei der halben Selbstkritik Platons in den Nomoi stehen bleiben; vielmehr muss er, statt vom Nullpunkt auszugehen, mit einer Bestandsaufnahme aller wesentlichen Details beginnen und in Anknüpfung an seine Befunde vernünftige Lösungsvorschläge einbringen. Ganz offensichtlich hat Aristoteles in seiner Politik diese Lehre aus dem Scheitern der Platonschüler gezogen und entwickelt im Blick auf den von ihm vorgefundenen Zustand der Polis und ihrer zumindest latent verfeindeten politischen Lager Vorschläge, um erst einmal die nächstliegende Verbesserung zu erreichen, nämlich die Aussöhnung von Demokraten und Oligarchen. Wenn Aristoteles diesem Ziel die Bücher IV bis VI seiner Politik gewidmet hat, indem er im Rahmen einer – wenn auch Aristoteles, Poetik 1452 a 22–24. In der AP spielen gleich elf Wenden eine tragende Rolle, wie im Kapitel »Die Bedeutung der elf Wenden in der AP des Aristoteles – quid facti« unten noch auszuführen ist.

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weniger anspruchsvollen – Form von Politie systematisch vernünftige Vorschläge für einen Verfassungsausgleich zwischen Demokraten und Oligarchen unterbreitet, dann hat er mit seinem Eingehen auf aktuelle politische Ärgernisse nicht nur den nüchternen Wirklichkeitssinn seiner Philosophie bewiesen, sondern ganz besonders auch deren Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein. 38 Die Konzentration auf das, was ist, belehrt abstrakte Theorie über ihre Ausblendungen wie auf der Bühne die Wiedererkennung die tragischen Helden über ihre Verblendungen. Mit dieser Wende zur Aktualität hatte allerdings Aristoteles Platons Lehre von der bloß in Gedanken errichteten guten, weil schlechthin gerechten Stadt keineswegs schon aus den Augen verloren. Mehr noch – ganz ohne sein Zutun sollte sich die Möglichkeit der Gründung einer idealen Polis guter und rechtschaffener Bürger für die nahe Zukunft ganz konkret, wenn auch unter äußerst tragischen Begleitumständen abzeichnen, als nämlich den Tyrannen Hermias von Atarneus, bis 345 für drei Jahre Gastgeber des Aristoteles, ein grausames Schicksal ereilte. Er hatte vermutlich Philipp II. sein an der kleinasiatischen Westküste gelegenes Territorium für den Fall einer Invasion gegen den Perserkönig als Brückenkopf angeboten. Ein solches Angebot war, wie sich später zeigen sollte, von erheblicher militärischer Bedeutung; denn unmittelbar vor dem geplanten Einmarsch Philipps hatte Parmenion im Jahre 336 eben an der Nordwestküste Kleinasiens einen solchen Brückenkopf errichtet. 39 In realistischer Einschätzung erkannte nun der in persischen Diensten stehende Mentor von Rhodos die von Hermias ausgehende Gefahr, lud ihn im Jahre 342 zu einer Unterredung ein, nahm ihn gefangen und lieferte ihn dem Großkönig aus. 40 Die Inhaftierung des Hermias muss auch in Athen Tagesthema gewesen sein. Pointiert formulierte der entschiedene Demokrat und Makedonengegner Demosthenes (10, 32–34), er wünsche sich, da nicht nur die Perser, sondern auch die Athener durch die Philosophie bedroht seien, ein gemeinsames Vorgehen gegen den gemeinsamen Gegner; zumal der Perserkönig den Griechen derzeit äußerst wohl-

Siehe dazu unten den Abschnitt »Die Pflichten des Tages gegenüber den griechischen Städten«. 39 Arrian, Anabasis 1, 11, 6. 40 Aristoteles, Oikonomika 1351 a 33–34; Diodor 16, 52, 1–8; Strabon 13, 1, 57 (p. 610 C). 38

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gesinnt sei; daher solle man das Gerede von den »Barbaren« als den »gemeinsamen Gegnern« lieber aufgeben (10, 52) und stattdessen Gesandte in alle Himmelsrichtungen in Griechenland und auch zum Großkönig entsenden (9, 71). 41 Tatsächlich sorgten 340/39 persische Satrapen und ein athenischer Flottenverband unter Phokion gemeinsam dafür, dass Philipp die Belagerung von Byzantion und Perinth aufgeben musste. 42 Angesichts dieser Konstellation wird die Nachricht, Hermias sei im Gefängnis erhängt worden, Demosthenes zufrieden gestellt haben. Weniger erbaut wird er gewesen sein, dass Hermias mit keinem Wort etwas über seine Abreden mit Philipp preisgegeben hatte. Wenn es sich aber, wie zu vermuten ist, bei dem Geheimnis um Unterstützung einer makedonischen Landung in Kleinasien handelte, dann gab es auch Bedarf an neu zu gründenden Städten in den künftig besetzten Gebieten. Da war es an der Zeit, Städte für griechische Kolonisten nach Maßgabe aristokratischer Ideale für Areale zu planen, in denen der entwerfende Gedanke nicht gleich auf das Hindernis schon etablierter Gemeinwesen stieß. Im VII. Buch der Politik sollte Aristoteles diese Chance tatsächlich nutzen, eine wesentlich anspruchsvollere zweite Form von Politie zu entwerfen, die anders als die erstere in ihren Grundzügen an Platons Idealstaat erinnert. Natürlich kam Aristoteles bei dieser verbesserten Version von Politie ebenso wenig wie Platon ohne das Nullpunktaxiom aus und profitierte von der dementsprechenden Erleichterung der Argumentation, derer sich naturgemäß die politische Planung bei einer Koloniegründung erfreut. Indes hat sich Aristoteles auch in diesem Fall hermeneutisch an das, was ist, gehalten, sofern er anknüpfend das aufnahm, was ihm als sensus communis seiner großbürgerlichen Adressaten wohlbekannt war. Außerdem konnte Aristoteles mit Gewissheit annehmen, dass sein Entwurf einer vollkommenen Politie nicht ins Leere zielte; denn das Schicksal des Hermias erlaubte Aristoteles den sicheren Schluss, dass seine idealstaatlichen Vorstellungen dereinst unter Philipps Ägide ausgeführt würden. Eine solche Chance hatte Platon nie gehabt. Aristoteles und Xenokrates hatten Hermias drei Jahre vor seinem Tod schon verlassen und waren auf die Atarneus genau gegenDemosthenes 9, 71; 19, 31–34 und 51–52. Demosthenes 11, 5–6; Plutarch, Phokion 14–15 und Moralia 851 A; Philochoros FGH 328 F 162 = Theopomp FGH 115 F 292.

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überliegende Insel Lesbos übergesiedelt 43, wo sie in Mytilene Theophrast (371–287) begegneten. Aristoteles wohnte also zu der Zeit, als Hermias umgebracht wurde, nicht mehr bei ihm, bewies aber mit einem bewegenden Nachruf, dass er ihn keinesfalls vergessen hatte. Mit seinem eisernen Schweigen in der Gefangenschaft hatte Hermias beispielhaft ein Moment philosophischer Standfestigkeit bewährt. Aristoteles schrieb dies seinem Gönner in einem Hymnos auf die Tugend gut, um derentwillen Herakles und die Dioskuren Leiden erduldet hätten, um derentwillen Achill und Aias in den Tod gegangen seien, um derentwillen schließlich Hermias des Lichts der Sonne beraubt worden sei. Aristoteles schließt den Hymnos mit der Zuversicht, die Musen würden Hermias, dank seiner Taten viel besungen, unsterblich machen. 44 Diese Sätze sollten indes Aristoteles in seinem letzten Lebensjahr noch viel Kummer bereiten. Der Aufenthalt in Mytilene endete, als Philipp 342/41 Aristoteles an den makedonischen Hof berief und ihn mit der Erziehung seines 15-jährigen Sohnes Alexander betraute. 45 Gellius (9, 3, 4–6) übersetzt einen Brief Philipps ins Lateinische, in dem er Aristoteles die Geburt seines Sohnes Alexander anzeigt und die Erwartung ausspricht, der Philosoph möge eines Tages der Erzieher seines Sohnes werden. Plutarch (Alexander 7, 3) berichtet, Philipp habe Lehrer und Schüler als Lernort ein Nymphaion bei Mieza (dem modernen Levkadia) angewiesen. Diese immer noch imposante Anlage wurde 1990 ausgegraben und von dem griechischen Archäologen Photios Petsas (1918–2003) als die Stätte identifiziert, an der Aristoteles als Prinzenerzieher tätig war. Auf der großen politischen Bühne – also außerhalb des eine Tagesreise von Pella entfernten Nymphaion – war es in diesen Jahren mit dem Philokratesfrieden 346 zum Verzicht Athens auf Amphipolis mit der Folge gekommen, dass Isokrates Athen nicht mehr als griechische Führungsmacht favorisierte und stattdessen Philipp II. prompt in einem offenen Sendschreiben aufforderte, einen panhellenischen Feldzug gegen Kleinasien anzuführen, dem er zuvor schon in seinem Panegyrikos (§ 182) den Rang einer θεωρία, also einer in den Kultkalender aufgenommenen Festprozession zuerkannt hatte. Für Philipp II. muss schon geraume Zeit vor dem Kongress von Korinth im Jahre 337 festgestanden haben, dass er einen Feldzug ge43 44 45

Diogenes Laertios 5, 9. Diogenes Laertios 5, 7–8; Athenaios 696 B–D; V. Rose, Fragmente 674/675. Diogenes Laertios 5, 10.

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gen die Perser führen werde; denn das kann er sich nicht erst wenige Tage vor der Einberufung der griechischen Gemeinden nach Korinth überlegt haben. 46 Aristoteles war mit Sicherheit darüber unterrichtet, wie weit entsprechende Planungen schon gediehen waren und wie das Schreiben des Isokrates am makedonischen Hof aufgenommen wurde. Diese Lage provozierte geradezu den guten Rat der politischen Philosophie. Schließlich lohnte sich die Ausdehnung Makedoniens bis nach Kleinasien nur, wenn zur Sicherung der Eroberungen auch griechische Städte, Veteranenkolonien, Straßen und Häfen neuangelegt wurden. Wenn also Städtegründungen in naher Zukunft außerhalb Griechenlands zu erwarten waren, dann konnte Aristoteles damit rechnen, dass Großbürger, die von der Demokratie in den griechischen Städten enttäuscht waren, ihre Chance erkannten. Der ideale Vernunftstaat, den Aristoteles im VII. Buch der Politik entwarf, löste die erweiterten Hoffnungen der praktischen Philosophie und zugleich der von ihr ermunterten Großbürger ein. Als Philipp II. im Jahre 340 zu einem Feldzug gegen Byzantion aufbrach, ernannte er seinen gerade erst 16-jährigen Sohn Alexander zum bevollmächtigten Reichsverweser (κύριος ἐν Μακεδονίᾳ τῶν πραγμάτων καὶ τῆς σφραγῖδος). 47 Aristoteles hatte mithin seine Tätigkeit als makedonischer Prinzenerzieher soeben erst beendet, als Platons Nachfolger Speusipp im Jahre 339 in Athen starb. Aristoteles war realistisch genug, sich gar nicht erst um die nunmehr freie Position in der Akademie zu bewerben. Als die Schüler ihr neues Schulhaupt wählten, weilte er noch in Makedonien. In seiner Abwesenheit behauptete sich Xenokrates mit knapper Stimmenmehrheit. 48 Zu diesem Zeitpunkt wären die Chancen des Aristoteles noch schlechter gewesen als beim Tode Platons. Die Makedonen hatten 339 im Zuge des Vierten Heiligen Krieges zur Empörung der Athener die Stadt Elateia eingenommen und hätten von dort aus nahezu ungehindert nach Attika einmarschieren können. Angesichts dieser Gefahr brachte Demosthenes ein gegen Philipp gerichtetes Militärbündnis mit den Thebanern zustande, das von Philipp 338 bei Chaironeia besiegt wurde. Obwohl Demades (380–319) bei den Makedonen günstige Friedensbedingungen und insbesondere den Verbleib von Oropos als Teil

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Iustin 9, 5, 5; Diodor 16, 89, 1–3. Plutarch, Alexander 9, 1; vgl. Diodor 16, 77, 1. Philochoros FGH 328 F 224.

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Attikas erreicht hatte 49, ebbte die makedonenfeindliche Stimmung in Athen keineswegs ab. Diesen Umstand konnte auch die Akademie bei der Entscheidung über die Nachfolge des Speusipp nicht ignorieren. Philipps Entgegenkommen, das keineswegs selbstlos war, weil er für das geplante Unternehmen gegen den Perserkönig auf die Flotte der Athener zurückgreifen wollte, wurde von diesen nicht honoriert. Im Gegenteil, von einem gewissen Eukrates wurde 337/36 ein Dekret erwirkt, dass jedem Tyrannenmörder Straffreiheit zusicherte. 50 Dieses Dekret sollte offenbar potenzielle Kollaborateure der Makedonen vor antidemokratischen Umtrieben warnen. Vorbild war ein Dekret aus dem Jahr 410, demgemäß hostis der Athener sei und straffrei getötet werden dürfe, wer nach dem Ende der Vierhundert die Demokratie erneut zu stürzen versuchte. 51 Die Athener beließen es aber nicht bei einer Wiederholung dieser Drohung; auf Initiative des Demosthenes feierten sie sogar öffentlich mit Dankopfern die Ermordung Philipps, nachdem sie mit ihm zwei Jahre zuvor noch einen Friedensvertrag geschlossen 52 und im Gründungseid des Korinthischen Bundes geschworen hatten, nichts gegen die Königsherrschaft Philipps und gegen seine Nachkommen zu unternehmen. 53 Unter diesen Umständen konnte Aristoteles, gleich in welcher Funktion, auf keinen Fall in Athen einer Lehrtätigkeit nachgehen, zumal ihn auch der Eristiker Eubulides heftig angriff und verleumdete 54 – wohl als makedonischen Agenten. Aristoteles konnte erst nach Athen zurückkehren, als sein königlicher Schüler sich 335 nach der Zerstörung von Theben in Korinth wie schon sein Vater Philipp zum bevollmächtigten Heerführer (στρατηγὸς αὐτοκράτωρ) aller Griechen hatte wählen lassen 55 und zum Feldzug gegen die Perser aufbrach, an dem übrigens wegen der Bündnispflicht auch athenische Kontingente teilnahmen. Aristoteles hatte also in den Jahren nach Beendigung seiner Tätigkeit als Prinzenerzieher die nötige Muße, zur Vorbereitung seiner Politik Schlüsse aus den unübersehbaren Fehlschlägen der Pla-

Diodor 16, 87, 3; Plutarch, Alexander 28, 1; Pausanias 1, 34, 1. HGIÜ Band II, Nr. 258; SEG Band XII Nr. 87. 51 Andokides 1, 95–98. 52 Plutarch: Demosthenes 22, 1–2; Phokion 16, 6; Moralia 847 B; Aischines 3, 160; Diodor 17, 3, 1–2. 53 IG II/III2 236; Tod, Band II Nr. 177; HGIÜ Band II Nr. 256. 54 Diogenes Laertios 2, 109. 55 Arrian 1, 1, 2; IG II/III2 329; Tod, Band II Nr. 183; HGIÜ Band II Nr. 259. 49 50

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Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik

tonschüler zu ziehen, sich zur Orientierung seiner Argumentation in der politischen Welt umzusehen und zur Schaffung einer Erfahrungsbasis systematisch seine berühmte Sammlung von Verfassungsbeispielen aus der »bewohnten Erde« anzulegen.

Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik Aristoteles muss die Niederschrift der Politik zur Jahreswende 336/ 335 abgeschlossen haben. Er erwähnt schon die Ermordung Philipps (1311 b 1–3) im Jahre 336, spricht aber von der 335 durch Alexander zerstörten Stadt Theben, als wäre sie noch unzerstört. Eine Aussage aus dem VII. Buch (1327 b 23–33) spricht ebenfalls für den Abschluss der Politik vor Beginn des Alexanderfeldzuges. Dort heißt es, die nördlichen Völker seien tapfer, aber dumm, die östlichen dagegen klug, aber feige, während die Griechen sowohl tapfer als auch klug seien. Daraus schließt Aristoteles, das Geschlecht der Griechen könne über alle herrschen, wenn es einen (gemeinsamen) Staat erhielte (τὸ δὲ τῶν Ἑλλήνων γένος … δυνάμενον ἄρχειν πάντων μιᾶς τυγχάνον πολιτείας). Die Partizipialkonstruktion formuliert mit dem Partizip Präsens eine Bedingung und gerade nicht eine schon vollzogene Tatsache, die das Partizip Aorist τυχόν erfordert hätte. Hätte Aristoteles seinen Gedanken erst vorgetragen, als Alexander schon die Siege bei Issos (333) oder Gaugamela (331) mit einem schließlich panhellenischen Heer errungen hatte, dann musste er seinen Gedanken in der Tat anders formulieren, nämlich dass die Griechen nunmehr erwiesenermaßen alle Völker beherrschten, nachdem sie sich politisch und militärisch mit großem Erfolg zusammengeschlossen hätten. Im Übrigen lässt Aristoteles keinen Zweifel an der Intention dieser Aussage, die ja auch seine Antwort auf die Frage nach dem Status der Bürger einer idealen Stadt darstellt. Auch kommt, wie sich noch erweisen wird 1, die Begründung für die habituelle Feigheit der Barbaren, dass sie nämlich immer schon ein Sklavenleben geführt hätten, keineswegs von Ungefähr. Der obige Satz wirkt wie eine Aufforderung an die Griechen, beim anstehenden Synedrion von Korinth Alexander wie schon seinen Vater zum στρατηγὸς αὐτοκράτωρ zu wäh-

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Vgl. unten den Abschnitt »Die ideale Stadt des Aristoteles«.

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Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik

len und die Früchte ihrer Überlegenheit über die Orientalen gemeinsam zu ernten. 2 Bis zum Erscheinen seiner Politik hatte Aristoteles, wie gesagt, eine Fülle von Vorarbeiten auszuführen. Platons Vortrag nannte wohl Ziele und Kriterien, befasste sich aber nie mit institutionell vorgegebenen und damit greifbaren Ausgangspunkten einer fruchtbaren politischen Erörterung. Um solche Punkte zu orten, musste Aristoteles schon mit eigenen hermeneutischen Mitteln herausfinden, wie die innere Struktur der bestehenden Staaten beschaffen war und worin sich ihre jeweiligen Verfassungen unterschieden. Platon gab Aristoteles auch keinerlei Hinweis, auf welche schon bereitstehenden Bürger er eigentlich zurückgreifen könne; denn er gestand ausdrücklich, dass eine Schicht gebildeter Wächter, die den idealen Staat tragen sollten, noch gar nicht existiere; vielmehr beschränke er sich auf die Formulierung der Anforderungen, denen künftige Wächter genügen müssten (Politeia 416 B–C). Platon ließ also offen, wo die in der Zukunft benötigten Ressourcen zu erschließen seien. Aristoteles wollte aber wissen, wo jene Rechtschaffenen und Anständigen, die sich den Staatsgeschäften widmen werden, konkret zu finden sind und ging dieser Frage unter drei Prämissen in der Nikomachischen Ethik als Prolegomenen zur Politik nach. Gleich zu Beginn erklärt Aristoteles programmatisch, die Aufgabe der Ethik, das Ziel des Handelns angemessen zu bestimmen, gehöre in den übergeordneten Bereich der Politik (NE 1094 a 18–28). – Zum Ersten ist das Ziel des Handelns das Glück oder ein gelungenes Leben, das der Mensch als von Natur politisches Wesen nur auf dem Boden der Polis findet, während kein Leben schlechter sein kann als das eines Menschen ohne Stadt, Recht und GeAristoteles hat – nicht anders als Platon – den Sokratesschüler Xenophon nirgends erwähnt. In diesem Zusammenhang hätte er sich aber gut und gerne auf Xenophons »Anabasis« berufen können, in der dieser demonstriert hatte, wie die Griechen dank gemeinsamen Handelns ihren Gegnern militärisch jederzeit überlegen waren. Als Philipp II. das Risiko seines geplanten Angriffs auf das Perserreich einschätzte, beruhigte er sich ausdrücklich mit Xenophons »Zug der Zehntausend«, und das noch mehr als mit dem anschließenden Feldzug des Agesilaos (Polybios 3, 6, 9–10); ähnlich hielt es Alexander, als er in seiner Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issos (333) seinen Soldaten Mut machte, indem er sie an Xenophons Bericht über die Zehntausend erinnerte (Arrian, Anabasis 2, 7, 8–9). Schließlich nannte Arrian sein Werk über Alexanders Feldzüge nicht von ungefähr »Anabasis«. Dass Aristoteles das Beispiel Xenophons nicht anführt, könnte an schulinternen Animositäten liegen, vielleicht auch daran, dass der Philosoph in Xenophon bloß den Söldnerführer sah.

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Die Vorarbeiten des Aristoteles für die Politik

setz (Politik 1253 a 2–33). Mit seiner Subsumtion der Ethik unter die Politik entfernt sich Aristoteles nur geringfügig von Platon, für den beide Disziplinen letztlich zusammenfallen, sofern es für ihn in der Sache keinen Unterschied macht, ob das Gerechte als Prinzip umfassender Sittlichkeit am Einzelnen oder am Staat festzumachen sei, und sich nur deswegen für den Staat entscheidet, weil das Gerechte im größeren Maßstab leichter zu erkennen sei (Politeia 368 D–369 A). – Als zweite Prämisse notiert Aristoteles (NE 1095 a 5–11), das Ziel der praktischen Philosophie sei nicht Erkenntnis, sondern Handeln (τὸ τέλος ἐστὶν οὐ γνῶσις ἀλλὰ πρᾶξις). Damit greift Aristoteles darauf zurück, dass er sich gleich in den ersten Zeilen der NE am Modell der Künste orientiert hatte, deren Erfolge in der Polis durch Spezialisierung ihre vorbildhafte Vernünftigkeit beweisen, wenn anders sie methodisch vorgehen, sich dessen bewusst sind und in der Regel das angepeilte Ziel erreichen. Auf das Handeln übertragen bedeutet dies, dass es sich von seinem bewusst gewählten Ziel nicht durch Affekte und Leidenschaften abbringen lässt, sondern dieses nach dem Vorbild der Künste wissend und ernsthaft verfolgt. Die Anknüpfung an das Vorbild der Künste verbietet ein bloßes Reflektieren ohne Vollzug. Anders als Platon hätte also Aristoteles nicht das Recht des Malers für sich in Anspruch genommen, einen vollkommenen Menschen zu malen, ohne zum Nachweis verpflichtet zu sein, wie ein solcher Mensch auch tatsächlich zustande kommen könne (Politeia 472 D). – Als Drittes will Aristoteles nicht vom Bekannten schlechthin ausgehen, sondern von dem für uns Bekannten, das als bloße Tatsache häufig auch ohne Begründung schon akzeptabel und verständlich sei (NE 1095 b 3–7). Aristoteles hofft, dass der Welterfahrene in einer Handlungssituation Umstände unschwer wiedererkennt, die ihm schon einmal begegnet sind, und daraus seine Schlüsse für die Gegenwart zieht. Das Vernehmen dessen, was ist, gehorcht dem hermeneutischen Verfahren, den Adressaten gegenüber Sachverhalte als das anzusprechen, was sie selbst bewusst oder unbewusst formiert haben. Unter diesen drei Prämissen trägt Aristoteles mit der NE eine Phänomenologie des bürgerlichen Lebens in der Hoffnung vor, auf diese Weise der Politik ihr Tätigkeitsfeld vorzuzeichnen. Die Ausgangsfrage nach dem Glück als Ziel bürgerlichen Handelns führt nun Aristo56 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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teles zu seiner Unterscheidung der drei Lebensformen, weil diese über das bestimmende Ziel eines glücklichen Daseins der Bürger in der Polis verschiedener Auffassung seien. Aristoteles bezieht diesen Umstand ausdrücklich in seine Überlegungen ein und denkt nicht daran, sogleich ohne Umschweif nach dem Glück an und für sich zu fragen. Glück, dessen sich der Glückliche nicht bewusst ist, ist kein Glück. Also gilt es zuvörderst zu differenzieren, wann aus der subjektiven Perspektive der drei verschiedenen Lebensformen die Bedingungen vollendeten Glücks erfüllt sind. Diese Unterschiede benennt Aristoteles mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. Die Menge (οἱ πολλοί) frönt dem apolaustischen Genussleben (ἡδονή) kaum anders als die Tiere; die politisch Tätigen streben nach Ansehen und wollen um ihrer Tugend willen geehrt werden, während die dritte Lebensform, die theoretische der Philosophen, zum Ziel hat, in Muße nach Wissen zu streben (NE 1095 b 14–1096 a 5). Diese Trichotomie erinnert an Platons Einteilung der Stadt in zunächst zwei Stände der Gewerbetreibenden und der Wächter, um später aus den Wächtern den dritten Stand der Elitewächter (παντελεῖς φύλακες) oder der Philosophen hervorgehen zu lassen. 3 Der Unterschied besteht darin, dass bei Aristoteles die Philosophen nicht mehr als Herrscher bzw. im Sinne der Nomoi als deren Statthalter in einem Kollegium von Gesetzeshütern 4 vorgesehen sind. Die Arbeit der Philosophie war für Aristoteles theoretischer Natur. Schon allein die ernüchternden Erfahrungen der Platonschüler mussten Aristoteles davon überzeugen, es sei besser, sich mit der Rolle des politischen Beraters zufrieden zu geben und auch seine Schüler nicht in die Hitze des politischen Kampfes zu drängen. Das mühselige Geschäft der Durchsetzung vernünftiger Regeln übernähmen besser die Sanktionen harter Gesetze: Die Menge höre nicht auf Argumente, sondern beuge sich allein der Furcht vor Strafe, die denn auch da ansetzen müsse, wo sie den Drang der Menge nach Lust am härtesten träfe (1180 a 1–14). Die Frage, welcher existierenden Gruppe von Bürgern nunmehr die Staatsführung anzuvertrauen ist, beantwortet sich dann geradezu von selbst: Es sind die im Sinne der mittleren Lebensform politisch Tätigen. Aus ihrem Kreis gilt es hinreichend viele rechtschaffene und Platon, Politeia 414 B. Die Unterteilung in zwei Stände notiert auch Aristoteles für Platons Staat, nämlich den der Landwirte und den der Wächter, wobei aus dem zweiten der dritte der Regierenden hervorgehe (Politik 1264 b 31–39). 4 Vgl. Anm. 16, S. 28. 3

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anständige Bürger zu rekrutieren, die in einer gediegenen Polis den Ton angeben. Aristoteles legt größten Wert darauf, nicht lediglich die Bedingungen zu formulieren, die Platons Wächter als staatstragende Schicht zu erfüllen hätten. Stattdessen will er gleichsam in einer soziologischen Bestandsaufnahme auf das schon vorhandene Tugendpotenzial der Polis zurückgreifen. Daher verzichtet er auch auf eine Kanonisierung der vier Kardinaltugenden, sondern zählt auf, was er in der Polis an tugendhaftem Verhalten unter Wahrung einer vernünftigen Mitte durch Vermeidung inakzeptabler Extreme beobachten kann. Diese Aufzählung erfasst in gebotener Ausführlichkeit vierzehn »ethische« und fünf »dianoetische« Tugenden. Dass es Bürger, die diese Tugenden befolgen, tatsächlich gibt, nimmt Aristoteles als gegeben; nur hat er auf eine Einschätzung verzichtet, in welcher Zahlenstärke etwa die im Sinne seiner Tugendlehre Anständigen anzutreffen wären. Trotz dieser Zurückhaltung bewegte sich Aristoteles mit seiner Demonstration des vorhandenen Potenzials zweifellos, soweit es die beteiligten Personen betraf, schon auf gesichertem Boden, als er nach Abschluss der NE das Manuskript der Politik in Angriff nahm. Allerdings durfte die Politik sich nicht auf die Frage nach dem vorhandenen Kreis staatstragender Bürger beschränken, sondern musste ebenso der Frage nach dem Bestand von Sitten und Institutionen nachgehen, die den Rahmen für das Handeln dieser Bürger bildeten. Moribus antiquis res stat Romana virisque. 5 Dass Aristoteles in der Tat über den Bürgern die Institutionen nicht vergessen hatte, gibt er am Schluss der NE zu erkennen, als er seine schon abgeschlossene Sammlung aller ihm zugänglichen Staatsverfassungen erwähnte – offenbar mit dem Versprechen, dass die Politik jederzeit auf deren geballte Weisheit zurückgreifen werde. Diese Sammlung muss Aristoteles angelegt haben, während er Alexander unterrichtete oder sich in den Jahren danach noch in Makedonien aufhielt. Makedonische Beamte im auswärtigen Dienst (πρόξενοι) könnten ihn mit den einschlägigen Auskünften versorgt haben. Nach Diogenes Laertios (5, 27) waren es insgesamt 158 Verfassungen, die entweder demokratisch, oligarchisch, aristokratisch oder tyrannisch gewesen seien. Aristoteles selbst erwähnt die Sammlung, wie gesagt, am Ende der NE sowie in der Rhetorik (1360 a 18– 37), wo er sie in eine Reihe mit Geschichtswerken und Reiseberichten stellt. Alle drei Gattungen dienten dem Politiker bei seinem Kern5

Ennius bei Cicero, De re publica 5, 1.

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geschäft der Gesetzgebung (νομοθεσία) als Erfahrungsgrundlage. Schließlich müsse jeder Gesetzgeber unbedingt wissen, wie viele Arten von Verfassungen es gebe, um zu beurteilen, welche Heilmittel einer Polis in der Krise zuträglich sind, wenn sie von innen heraus ihre Verfassung – sei es durch Vernachlässigung oder durch Übertreibung – aushöhlt. Mit anderen Worten, der vernünftig handelnde Politiker sollte die Politik des Aristoteles gelesen haben. Der Nutzen der Sammlung stellt sich jedoch keineswegs gleichsam mechanisch ein. Vorsorglich erklärt Aristoteles, der Anwender einer solchen Sammlung müsse mit derartigen Erfahrungsdaten etwas anfangen und ihre Bedeutung einschätzen können (NE 1095 a 2–5), wenn er nämlich durch lebenslanges bewusstes Verarbeiten solcher Erfahrungen sein Urteilsvermögen hinreichend verfeinert habe (1181 b 6–12). Erst unter dieser Voraussetzung sei die Sammlung (καὶ νόμων καὶ πολιτειῶν συναγωγαί: 1181 b 7/17) von Nutzen. Wie der Arzt aus seiner Kenntnis einer Mannigfalt von Symptomen heraus im Blick auf die bestimmte Konstitution des Patienten eine Therapie verordnet (1181 b 4–6), so muss der Politiker in Kenntnis möglichst vieler Verfassungen unterscheidend durchschauen, was die einzelnen Staaten erhält und verdirbt oder warum sie teils in einem guten, teils in einem schlechten Zustand sind (1181 b 18–20). Aristoteles ermutigt also gewissermaßen vor Beginn der Arbeit an der Politik sich selbst, habe er doch mit der Identifizierung geeigneter Bürger in der NE und mit der Sammlung der 158 Verfassungen empirische Größen gesichert, auf die sich bauen lasse. So lauten denn auch die drei letzten Worte der NE: Wir wollen jetzt (über die Politik) reden, nachdem wir den Anfangsteil (über die Ethik) abgeschlossen haben: λέγωμεν οὖν ἀρξάμενοι. Mit denselben Worten beendet Aristoteles in seiner Schrift über die Himmelerscheinungen (Περὶ τῶν μετεώρων) das einleitende Kapitel, nachdem er dort alle schon erörterten affinen Themen zur Erinnerung noch einmal aufgezählt hatte, um nunmehr zu seinem zentralen Thema überzugehen. 6 Die Politik ist also wohlvorbereitet auf ihr natürliches Thema: das Wechselspiel von Bürgern und Institutionen. Der in sich anständige Bürger der Ethik erfährt nunmehr seine vollständige Bestimmung in der Politik als Bürger im Sinne der Verfassung. Wie dieses Verhältnis im Einzelnen unter den verschiedenen äußeren Voraussetzungen aussieht, ist keine abstrakt zu erörternde Frage; sie muss viel6

Aristoteles, Über die Himmelserscheinungen 339 a 9–10.

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mehr jedes Mal mithilfe der Fundgrube der Sammlung Vorgegebenes zur vergleichenden Bestimmung heranziehen. Sehr häufig tauchen deshalb in der Politik Beispiele aus Athen, Sparta und Kreta auf, bisweilen auch aus Städten wie Mantineia oder Theben. Insbesondere scheint sich die so bedeutsame Unterscheidung von fünf Arten der Demokratie (1291 b 37–1292 a 7) und vier der Oligarchie (1292 a 39–b 10) auf die von Aristoteles durchgeführte Sammlung zu stützen. Mit seiner entschiedenen Berufung auf registrierte Erfahrung hat indes Aristoteles, wie gesagt, keineswegs eine Abkehr von Platons Forderung vollzogen, den idealen Vernunftstaat zu gründen. Im VII. Buch der Politik wird er Platons Auftrag auf seine Weise einlösen, nachdem er im II. Buch schon Platons Programm durch eine wohlbegründete Absage an dessen für den Wächterstand vorgesehene Weiber-, Kinder- und Gütergemeinschaft entlastet hatte. 7 Diese Institution hätte die Grenzen zwischen Staat und Privatsphäre aufgehoben, und das mit unerträglichen Folgen. Nutzen hätte die Einrichtung nur, wenn man sie wegen ihrer Konfliktträchtigkeit dem untersten Stand statt den Wächtern aufnötigte (1262 a 40–b 3). Als Platons Motiv, diese merkwürdige Institution zu verlangen, nennt Aristoteles lediglich dessen Überzeugung, der Staat müsse unbedingt Einer sein (1261 a 15). Mit eben dieser formalen Begründung verteidigt Platon noch in den Nomoi (739 D) seine Institution als das streng genommen Beste, weil die Gesetze – für Aristoteles inakzeptabel – den Staat zu möglichst Einem machen müssten (νόμοι μίαν ὅτι μάλιστα πόλιν ἀπεργάζονται). Platon dürfte aber, wie er im Gorgias am Auftreten des Kallikles demonstriert, mehr im Sinn gehabt haben, dass nämlich die Oligarchen in ihrem Interessedenken seinen herausgehobenen Wächterstand als Einladung zur Wiederherstellung alter Machtverhältnisse missverstehen könnten. Auch sollten sie nicht hoffen, das von Kleisthenes durch seine neue Phylenordnung überwundene Sippensystem könne wiederaufleben. Offenbar träumte mancher Athener von Aristoteles bestätigt in der Politik (1265 a 4–5) ausdrücklich, dass Platon in den Nomoi von der Forderung der Weiber- und Gütergemeinschaft abgerückt ist, obwohl er diese Einrichtung nach wie vor für das Beste hielt. Er bekannte sich nur widerwillig zum Zweitbesten (Nomoi 739 C–E), wohl weil er die oligarchietypische Neigung zu Korruption und Selbstbereicherung fürchtete. Zu weiteren Einwendungen des Aristoteles siehe G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg/München 31985, S. 117–119, 174–175.

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einem Leben als Tyrann. Als schließlich im Schlussmythos der Politeia (619 B) die erneut ins Leben Eintretenden aufgefordert werden, sie sollten sich selbstverantwortlich ihr eigenes Schicksalslos auswählen, stürzt sich gleich der Erste auf ein Los, das ihm den Thron eines Tyrannen sichert. Grundlos kann Platons Misstrauen nicht gewesen sein, und es ehrt ihn, dass er nicht auszuschließenden oligarchischen Wunschvorstellungen durch seine Weiber- und Gütergemeinschaft institutionell zuvorkommen wollte. Gleichwohl ist Aristoteles unbedingt zuzustimmen, wenn er das Bestehende gegen Platons radikale Alternativlösung verteidigte, indem er an der Trennung des Hauses als des Ortes privater Ökonomik und der Agorá als des Ortes öffentlicher Entscheidung über allgemeine Angelegenheiten festhielt. Von diesem bestimmten Differenzpunkt abgesehen besteht aber im Grundsätzlichen Einvernehmen; denn Platons Nomoi, die sich mit Erziehung zu Tugend und Anstand, kultischen Pflichten, Anlage der Stadt und Bevölkerungszahl, Eigentumsbegrenzung, gemeinsamen Mahlzeiten, Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Strafrecht und Bestattungsbräuchen befassen, also die Theorie einer umfassenden Lebensordnung darstellen, präludieren geradezu der aristotelischen praktischen Philosophie als institutioneller Ethik. An dieser Nähe im Grundsätzlichen ändert auch der Umstand nichts, dass für Aristoteles in der Regel keine Veranlassung besteht, einen Staat vom Nullpunkt aus zu gründen. Nur ausnahmsweise wird sich eine Gelegenheit bieten, zuerst die Verfassung zu konzipieren und danach erst die passenden Bürger nach Maßgabe jeweils erforderlicher Funktionen zu rekrutieren. Eine Politik, die auf den unwahrscheinlichen Ausnahmefall setzt, wird kaum jemandem nützen. Wenn also Aristoteles den Griechen einen veritablen Dienst erweisen wollte, dann musste er zunächst einmal den Entwurf einer idealen Verfassung aus dem reinen Gedanken zurückstellen. Für diese dilatorische Haltung bot die Erfahrung gute Gründe. Denn solche Theorien pflegten bald zu scheitern und endeten, so Aristoteles mokant, in der Regel mit einem Loblied auf die spartanische Verfassung (1288 b 36– 41; vgl. 1265 b 31–34). So löblich auch das Ideale sei, der wahre Staatsmann müsse zunächst das eben unter bestimmten Umständen Mögliche ins Auge fassen (1288 b 37–38). Umlernen sei auch im Übrigen keineswegs leichter als abstraktes Konstruieren; außerdem könne man seine Adressaten eher überzeugen, wenn man von Bestehendem, das ihnen vertraut sei, ausgehe (1289 a 1–2) und daran anknüpfende Verbesserungsvorschläge entwickele, die sich wiederum 61 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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aus dem Arsenal der Sammlung von 158 verschiedenen Verfassungen bedienen konnten (1288 a 6–15). Platon bleibt also höchstens bedingt präsent, wenn Aristoteles sich nunmehr anschickt, durch eine Theorie des Staates »die Philosophie über die menschlichen Angelegenheiten, so gut es geht, zu vollenden« (NE 1181 b 14–15).

Die philosophischen Pflichten des Tages gegenüber den griechischen Städten Aristoteles schließt den grundlegenden Teil seiner Politik am Ende des III. Buches mit der Ankündigung, er werde im Folgenden versuchen, über den besten Staat zu reden (περὶ τῆς πολιτείας ἤδη πειρατέον λέγειν τῆς ἀρίστης). Wie auch immer diese Ankündigung zu verstehen ist und wo immer sie ausgeführt wird, bislang hatte Aristoteles den Begriff des Bürgers ganz generell bestimmt und keineswegs eingeengt auf die Perspektive des »besten Staates«. Demnach ist der Staat die Gemeinschaft der Freien (Politik 1279 a 21), deren Zahl so groß sein muss, dass sie die »Selbstgenügsamkeit« (αὐτάρκεια) der Polis garantieren (1275 b 18–21). Der freie Bürger hat Sitz und Stimme in Rat, Volksversammlung und Gerichten; er ist bereit, im Wechsel Ämter zu übernehmen und ebenso amtliche Anordnungen zu Zeiten zu befolgen, da er selbst kein Amt innehat (ἄρχων τε καὶ ἀρχόμενος); aus eigener Kraft verfügt er über die nötige Muße, um sich auch durch Übernahme eines der vielen möglichen Ämter um die Staatsangelegenheiten zu kümmern (1275 a 22–1275 b 21). Die Bürger dieses Staates sind Subjekt ethischen Handelns und Subjekt politischen Handelns in einem, sofern sich ihre Tugend in der Wahrnehmung allgemeiner Interessen bewährt. Die Polis bietet also den Bürgern durch ihre Institutionen ständig Gelegenheitsursachen, den Doppelaspekt ihres Handelns zu bestätigen. Die Vollendung der Ethik durch die Politik erfolgt also nicht additiv, sondern im Modus der Gleichzeitigkeit. Der Staat solcher Bürger ist eine vollkommene Gemeinschaft, die als sich selbst genügende Größe um des Überlebens (ζῆν/vivere) willen entstanden ist und um des Gutlebens (εὖ ζῆν/bene beateque vivere) willen besteht (1252 b 27–30). Tugend, Glück und Freiheit des Bürgers hängen also in der Politik nicht anders als in der NE davon ab, dass er in einer sittlich verfassten Stadt lebt und die von ihr garantierten Rechte genießt. 62 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Aristoteles dekretiert offenbar nicht aufgrund selbstursprünglicher philosophischer Einsicht, wie eine auf Sitte und Gesetz gegründete Polis auszusehen hat; vielmehr lässt er sich von dem leiten, was in der geschichtlichen Polis an institutioneller Vernünftigkeit sichtbar ist und bringt dies begrifflich zu Bewusstsein. Seine praktische Philosophie ist Hermeneutik der bestehenden Polis. Wie sich noch zeigen wird, sind das Ergründen des Vernünftigen in dem, was ist, und das Wechselverhältnis von Freiheit und Recht auf dem Fundament einer vorgegebenen Sittlichkeit Hegels Motiv, bei seiner Grundlegung der praktischen Philosophie an Aristoteles anzuknüpfen. Naturgemäß erfolgte Hegels Anknüpfung nicht ohne Vorbehalt, der sich auf den Umstand bezog, dass der freie Bürger, dessen Karriere in dieser Eigenschaft mit der Eintragung in die Bürgerliste beginnt (1275 a 15), begrifflich eine Relationsgröße darstellt, die ohne die Alternativmöglichkeit des Sklavenstatus keine Pointe hätte. Der freie Bürger wird das, was er ist, aufgrund der Rechtsordnung seiner Polis und umgekehrt ebenso der Sklave. Der Freie verbringt im Gegensatz zum Sklaven sein Leben »um seiner selbst willen« 1, ist als Privatmann rechts- und eigentumsfähig sowie durch öffentliche Rechte und Pflichten definiert. Der Sklave hingegen ist ebenfalls rechtlich definiert, aber eben dadurch, dass er keine Rechte hat. Diese Relation ist in der Definition des römischen Corpus iuris civilis festgeschrieben: summa … divisio de iure personarum haec est, quod omnes homines aut liberi sunt aut servi; … servitus autem est constitutio iuris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subicitur. 2 Der Sklave verdankt also seinen Status einer Rechtsbestimmung, die eingestandenermaßen »gegen die Natur« besteht. Damit folgt die römische Rechtslehre der Argumentation Senecas, der im 47. Brief verlangt, den Sklaven als Mitmenschen zu behandeln, da sein Status lediglich aufgrund rechtlicher Fixierung bestehe, während er dessen unerachtet seiner Natur nach innerlich frei sei (liber animo: § 17). Seneca griff damit auf die Antithese »nach dem Gesetz – nach der Natur« (νόμῳ – φύσει) zurück, die schon im klassischen Griechenland bei Auseinandersetzungen aller Art zum Zuge kam. 3 Aristoteles

Aristoteles, Politik 1254 b 20–22 und Metaphysik 982 b 26. Institutiones Iustiniani Augusti, liber I, titulus III. 3 Einschlägig hierzu F. Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel 1945/Darmstadt repr. 1965. 1 2

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selbst zitiert Alkidamas von Elis, einen Schüler des Gorgias, der im Sinne eines »von Natur gemeinsamen Gerechten« (φύσει κοινὸν δίκαιον) in seiner Rede für die Messenier erklärt habe, Gott habe alle Menschen als Freie auf die Erde entlassen und die Natur habe niemanden zum Sklaven gemacht. 4 Aristoteles konnte indes Zweifel an der Legitimität des Sklavenstatus nicht dulden, da ihm bewusst war, dass sein für ein besetztes Kleinasien noch zu entwerfender Idealstaat ohne Sklaven niemals existieren könnte. Also musste er Recht und Natur miteinander aussöhnen, indem er einen allgemeinen Naturbegriff zu einem speziellen verkürzte und den jeweiligen Rechtsstatus als angemessenen institutionellen Ausdruck einer je verschiedenen natürlichen Disposition erklärte: Sklave von Natur sei, wer der Möglichkeit nach einem anderen gehören könne (ὁ δυνάμενος ἄλλου εἶναι: 1254 b 21). Erst wenn er über die bloße Möglichkeit hinaus auch Sklave von Rechts wegen ist, besteht sein Status auch de facto und ohne jede Einschränkung. Demnach ist die Sklaverei legitim, wenn sie jemanden trifft, der schon seiner angeborenen Veranlagung nach Sklave ist, also ausschließlich den Nichtgriechen, während der Sklavenstatus eines Griechen von vornherein illegitim ist, weil er eben dessen Naturanlage widerspräche. Auf diese grundlegende Rechtfertigung des Rechtsstatus eines Sklaven durch Zurückführung auf seine ihn für den Bürgerstatus disqualifizierende Natur konnte Aristoteles nicht verzichten. Er verlangt aber von der rechtsgültigen Versklavung ein insofern sachgerechtes Vorgehen, als diese die durch die Natur schon vorgegebenen Trennlinien zu beachten hat. Aristoteles musste mit der naheliegenden Nachfrage rechnen, wer denn in seinem noch zu skizzierenden Idealstaat die Arbeit verrichten solle und ob, falls die Arbeit, wie zu erwarten, Sklaven aufgebürdet würde, etwa auch Griechen diesen Status ertragen müssten. Die aristotelische Theorie der Sklaverei sollte offenbar Misstrauen unter den Griechen zerstreuen. Damit zurück zur Ankündigung des Aristoteles am Ende von Buch III, er werde sich nunmehr der Frage des besten Staates zuwenden. Diese Absicht wird mit dem Eröffnungssatz bestätigt: Wer im Begriff sei, eine angemessene Untersuchung über den besten Staat Aristoteles, Rhetorik 1373 b 6–18. G. Baiter und H. Sauppe, Oratores Attici, Turici 1850, Band II, S. 154 f., erinnern in ihrer Ausgabe daran, dass dieses Alkidamaszitat beinahe aus dem Aristotelestext getilgt worden wäre, wenn es nicht ein aufmerksamer Scholiast gerettet hätte.

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vorzutragen (περὶ δὲ τῆς πολιτείας ἀρίστης τὸν μέλλοντα ποιήσασθαι τὴν προσήκουσαν ζήτησιν), der müsse zunächst bestimmen, welche Lebensform am meisten wünschenswert ist. Nur eröffnet dieser Satz nicht Buch IV, sondern erst Buch VII, wo Aristoteles, wie versprochen, seine angemessene Untersuchung über die ideale Stadt auch tatsächlich durchführt. Wie es scheint, wurden die Bücher IV bis VI, die den aktuellen Streit von Demokratie und Oligarchie in den Mittelpunkt stellen, zunächst als eigene Vorlesung vorgetragen und erst später zwischen die Bücher III und VII eingeschoben. Allerdings verweist Aristoteles auf beide Themenkreise auch schon in Buch III. Denn in Buch III erläutert Aristoteles das Raster der guten Verfassungen von Königtum, Aristokratie und Politie im Kontrast zu ihren »Parekbasen« Tyrannis, Oligarchie und Demokratie (1279 a 32– b 10); und ebenfalls noch in Buch III formuliert er auch die für die ideale Politie grundlegende Bestimmung, dass in ihr die Tugend des guten Mannes und die Tugend des guten Bürgers jeweils in einer Person zusammenfallen (1288 a 38–b 2). Wahrscheinlich handelt es sich mit diesen Vorwegnahmen um spätere Ergänzungen, mit denen Aristoteles dem redaktionellen Bedürfnis nach einem in sich möglichst konsistenten Text nachkommt. Diese Erklärung jedoch muss Vermutung bleiben; mit größerer Gewissheit lässt sich aber sagen, worin das philosophisch Wesentliche an der thematischen Abgrenzung der Bücher IV bis VI von Buch VII besteht. Mit der Gliederung seiner Politik befolgt nämlich Aristoteles die Skeptikermethode, sich zunächst des sicher Erreichbaren zu vergewissern und erst danach die Möglichkeiten zu erwägen, die das schon Abgesicherte noch erheblich überbieten könnten. Vorbild für diese Vorgehensweise ist Sokrates, der am Ende der Apologie den Richtern, die ihn freigesprochen hatten, versicherte, der Tod müsse ihn nicht schrecken, weil dieser im Mindestfall den Vorteil hätte, einem tiefen, albtraumfreien Schlaf zu gleichen; was indes keineswegs ausschließe, dass er auch noch Besseres bedeuten könne, nämlich die Wanderung der Seele »an einen anderen Ort«, wo er dann vielleicht mit Männern wie Minos, Orpheus oder Homer Gespräche führen könne. Formal nicht anders als Sokrates verfährt Aristoteles, wenn er zunächst in den Büchern IV bis VI erörtert, was nur wenig jenseits des Bestehenden, mithin durchaus in Reichweite liegt, um sich erst danach in Buch VII dem zuzuwenden, was idealerweise, aber eben nur unter ganz besonderen Umständen im fernen Kleinasien durchführbar erscheint. Hätte Aristoteles die Thematik der Bücher 65 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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IV bis VI übersprungen und sogleich die Strukturen des Idealstaates entworfen, dann hätte er sich neben dem methodischen Einwand, die Abfolge seiner Gedankenführung sei unangemessen, auch noch den Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den aktuellen Nöten vor seiner Haustür zugezogen. Aristoteles richtet sein Hauptaugenmerk in den Büchern IV bis VI seiner Absicht gemäß auf die beherrschende Thematik seiner Zeit, nämlich die Rivalität von Demokratie und Oligarchie. Aristoteles wählt diesen Schwerpunkt, nicht ohne beide Verfassungsformen, wie gesagt, in ein Raster einzuordnen, in dem er drei wünschenswerten Verfassungen jeweils eine Verfallsform (παρέκβασις) gegenüberstellt. Die beste Verfassung ist das alte Königtum aus fast noch mythischer Zeit, in dem Einer gut für Alle sorgt; deren Verfallsform ist die Tyrannis, in der Einer an nichts anderes denkt als an seinen Machterhalt. Die zweitbeste Verfassung ist die Aristokratie, in der Wenige gut für Alle sorgen; sie kommt selten vor, weil nur Wenige tugendhaftes Format mit guter Abstammung verbinden. Ihr schlechtes Gegenstück ist die Oligarchie, in der Wenige nur für sich selbst sorgen. Die drittbeste Verfassung ist die ohne geschichtliches Vorbild aus der Philosophie des Aristoteles entwickelte πολιτεία bzw. Politie 5, in der alle Bürger gut für Alle sorgen. Diese Politie wird sich auf zweifach verschiedene Weise präsentieren. Sie nährt zum einen die Hoffnung auf Aussöhnung von Demokratie und Oligarchie in Griechenland und zum anderen wegen ihrer Nähe zur Aristokratie die Hoffnung auf den idealen Vernunftstaat in Kleinasien. Das Gegenstück der Politie schließlich ist die Demokratie, in der die Vielen die Interessen Vieler verfolgen, aber eben nicht die Interessen Aller (1279 a 25–b 10). Dieser Verfassung will Aristoteles zunächst die größte Aufmerksamkeit schenken, weil sie neben der Oligarchie am häufigsten vorkomme. Die drei Verfallsformen des Aristoteles gelten bei Platon als Verfassungen, die keine Verfassungen sind – eben Demokratie, Oligarchie und Tyrannis, sofern sie darin übereinstimmen, dass sie den jeweils politisch Mächtigen die Unterdrückung der politisch OhnPolitie hat sich als modernes Äquivalent des aristotelischen Begriffs πολιτεία im prägnanten Sinne eingebürgert. Aristoteles sah offenbar kein Bedürfnis, seinen Begriff von πολιτεία gegen den berühmten Buchtitel seines Lehrers abzuheben. Die moderne Auslegungsliteratur hat aber sehr wohl ein solches Bedürfnis. In Frage kamen die französische Übertragung von πολιτεία als politie und die englische als polity. In der deutschen Literatur hat sich die französische Fassung durchgesetzt.

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mächtigen gestatten. 6 Nicht anders als Platon hatte Aristoteles den Verfallsformen eine derartige Einseitigkeit bescheinigt, gleich ob es sich um die Demokratie als das geringere Übel oder um die Tyrannis als das größte Übel handelte (1289 b 2–5). Immerhin stellt Aristoteles die Demokraten, die sich durch Armut, niedere Herkunft und geringe Bildung auszeichnen, noch über die meist gebildeten und reichen Oligarchen (1317 b 39–41), während Platon im achten Buch der Politeia noch die Oligarchie über die Demokratie gestellt hatte. Da Aristoteles viele Einwände Platons gegen die Demokratie teilte, muss er für seine Neueinstufung gewichtige Gründe gehabt haben. Auf jeden Fall gilt der Demokratie und der Oligarchie sein Hauptaugenmerk, weil er erklärtermaßen an die aktuellen Probleme der bestehenden Verhältnisse anknüpfen will; und Demokratien und Oligarchien gebe es eben häufiger als die übrigen Verfassungen, weil die Armen und die Reichen besonders zahlreich seien (1301 b 39–1302 a 2). In der Überzahl seien jedesmal die Demokraten, weil die Städte meist durch den Zuzug der Ärmeren ohne besondere Qualitätsansprüche ihre Einwohnerzahl vermehrten (1286 b 20–22, 1296 b 24–31). Begnügte sich nun die politische Philosophie mit einer Beschreibung des Ist-Zustandes, so wäre sie überflüssig; drängte sie aber mit schlechthin unerfüllbaren Bedingungen ohne Rücksicht auf das, was ist, auf einen Staat nach Wunsch (κατ’ εὐχήν: 1295 a 29), dann wäre sie vergeblich. Will sie also der Polis anwendungsfähige Vorschläge unterbreiten, dann muss sie, ohne die Oligarchie zu vernachlässigen, die Demokratie angesichts der Zahlen stärker in den Vordergrund stellen und deren Potenzial besser, als es derzeit geschieht, ausschöpfen. Kriterium ist die Politie, die gewissermaßen als platonisches Erbe den theoretischen Vorbehalt gegenüber den existierenden Verfassungen darstellt und ihnen vorhält, sie genügten nicht einmal durchaus einlösbaren Anforderungen, geschweige denn philosophischen Idealvorstellungen. Auf die Behebung dieser Mängel ist der doppelte Politiebegriff zugeschnitten, und zwar der eine, der moderate Vorschläge zur Lösung aktueller Konflikte unterbreitet, und der andere, der ganz im Sinne Platons Aussichten auf wahres Gutleben im idealen, aber erst noch gründenden Vernunftstaat eröffnet. Seiner Maxime getreu widmet Aristoteles der allenthalben dominierenden Demokratie die größte Aufmerksamkeit, wiewohl es viel an ihr auszusetzen gebe. Sie sorgt sich nur um die Interessen 6

Platon, Nomoi 832 C–D.

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der Armen (1279 b 8–10); sie lässt sich nicht von den Gesetzen leiten, sondern setzt in der Volksversammlung durch Mehrheitsentscheid ihren Willen nach Lust und Laune durch (1298 b 14–15), weil sie sich von Demagogen entsprechend mitreißen lässt (1292 a 4–b 41). Durch die Loswahl steht jedem jedes Amt offen; und durch Besoldung der Richter und der Volksversammlungsteilnehmer erkauft sich die Menge die nötige Muße, um lückenlos ihr Mitspracherecht auszuüben. Die Zahl der Votierenden gibt den Ausschlag, nicht ihre Qualifikation. Dementsprechend ist Nivellierung sogar erwünscht. Fremde, unehelich Geborene oder Kinder von Nichtathenern werden als Bürger akzeptiert; bewährte Hierarchien werden durch eine neue Phylenordnung zerstört. Frauen, Kinder, Sklaven – alle leben wie sie wollen; denn die Menge schätzt ihre Willkürlizenz mehr als die Kardinaltugend der Besonnenheit (1319 b 6–32). Schon Platon hatte sich geärgert, dass in der Demokratie gekaufte Sklaven ebenso frei seien wie ihre Käufer. 7 Gemeint ist offenkundig jedesmal die attische Demokratie, die seit der Entmachtung des Areopags durch Ephialtes im Jahre 462/61 diese Züge angenommen und bis jetzt beibehalten habe (1274 a 5– 11). Unter dem Einfluss der Demagogen hätten die Athener es sich angewöhnt, ihre Beschlüsse in der Volksversammlung über die Gesetze zu stellen. 8 An dieser Unsitte hätten die Demagogen das größte Interesse, da sie nur unter dieser Voraussetzung ihre Macht ausüben könnten (1292 a 4–11). Mit der Demokratie ist also wenig Staat zu machen, wenngleich der schlechteste der vier möglichen Typen der Oligarchie sich ebenfalls dadurch auszeichnet, dass die Herrschenden ihre Beschlüsse ohne Rücksicht auf die Gesetze fassen (1292 b 5–7). Hoffnung macht indes für die Demokratie, dass Aristoteles diese Staatsform nicht pauschal verurteilt, sondern ihrer fünf verschiedene Typen unterscheidet, was allerdings gerade nicht zu einer Rehabilitierung Athens führt. Während Aristoteles den Bürgern der vier besseren Typen gutschreibt, dass sie sich an die Gesetze halten (1291 b 30–1292 a 4) und sich mit dem Besuch der entscheidenden Volksversammlungen begnügen 9, leisten sich die Athener die extreme bzw. schlechteste Demokratie (Typ V), in der nicht Gesetze, sondern durch Demagogen aus dem Augenblick heraus herbeigeführte Mehrheits7 8 9

Platon, Politeia 563 C. Aristoteles, Politik 1292 a 23–25. 32–37, 1293 a 30–34, 1298 b 14–15. Ebd. 1292 b 25–29, 1318 b 6–7, 1319 a 4–19.

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beschlüsse (ψηφίσματα) den Ausschlag geben 10, wo die Teilnehmer der Volksversammlung in einer den Staat ruinierenden Weise besoldet werden 11 und wo wegen stets drohender Unwirksamkeit der Gesetze streng genommen gar keine Verfassung existiert (1292 a 32). Mit dieser Kritik wiederholt Aristoteles bis ins Detail, was man in der Schule Platons von der attischen Demokratie zu halten pflegte. Anders als Platon konfrontiert Aristoteles die Athener aber nicht mit dem »Staat im Himmel«, sondern misst ihre Stadt nach seinem Raster von fünf graduell verschiedenen Typen von Demokratie. Angesichts dieser auf der Erde präsentierten Modelle kann sich die Stadt nicht herausreden, es werde ihr Unmögliches, ja sogar die Preisgabe ihrer Prinzipien zugemutet. Ausdrücklich unter Wahrung ihrer mitgebrachten Freiheitsprinzipien kann jede Form von Demokratie sich auf eine höhere Stufe steigern, und das gilt von Typ V an bis hinauf zu Typ II. Selbst Typ I kann sich noch steigern, zwar nicht mehr wie die vier anderen innerhalb des demokratischen Systems, wohl aber durch seine Chance auf Vermittlung zu Formen oberhalb der Demokratie. Denn die bei Typ I überwiegende Landbevölkerung wird mit Sicherheit ruhig bleiben, wenn sie unter korrekter Führung, durch keine Willkürakte gestört, ihrer Arbeit nachgehen kann, während sich auf der anderen Seite der Geburtsadel der Eupatriden ebenso ungestört seinen politischen Aufgaben widmet (1308 b 33–1309 a 9). Es besteht also mindestens ein Typ von Demokratie, der bei wohldosiert reduzierter Partizipation der Menge diese immer noch hinreichend in das Staatsleben einbindet und letztlich sogar besser auf die Politie der Aussöhnung vorbereitet ist als die Oligarchen. Einer Aussöhnung der rivalisierenden Verfassungen musste Aristoteles beinahe noch mehr Aufmerksamkeit widmen als ihrer jeweils systeminternen Korrektur. Blutige Auseinandersetzungen der politischen Lager, die für die Unterlegenen meist mit der Verbannung endeten, waren an der Tagesordnung. Bei dem somit fälligen Versuch, eine Annäherung beider Seiten herbeizuführen, sollte sich zeigen, dass die Demokratie sogar typübergreifend über mehr Trümpfe verfügte als die Oligarchie. Sie biete, weil verankert im Willen der Mehrheit (1302 a 8–9), mehr Stabilität, während eine oligarchische Herrschaft in der Regel kurzlebig sei (1315 b 11–12). Auch sei die Menge weniger leicht zu korrumpieren als ein Einzelner oder eine Clique; 10 11

Ebd. 1292 a 23–28, 1317 b 3–10. Ebd. 1292 b 41–1293 a 10, 1299 b 38–1300 a 4, 1317 b 31–35.

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und der Gefahr einer charakterlichen Depravierung sei ein Einzelner ebenfalls mehr ausgesetzt als die Menge (1286 a 28–35). Mag die Menge auch, auf den Einzelnen bezogen, über eine geringere Urteilskraft verfügen, so sei sie doch als kollektive Größe betrachtet durch Zusammenlegen der Fähigkeiten jedes Einzelnen sehr wohl zu ausgewogenen Urteilen fähig (1281 a 40–b 38). Die Prädikate Unbestechlichkeit und kollektive Urteilskraft verbunden mit dem Subjekt Demokratie sind – nach den Regeln der aristotelischen Topik betrachtet – keineswegs lediglich zufällige (συμβεβηκός/accidens), sondern notwendig eigentümliche (ἴδιον/proprium) Prädikate eben der Demokratie. Die demokratietypische Abstimmung legitimiert sich durch den Anspruch, dass jede Mehrheitsentscheidung von einer gegen Bestechung immunen kollektiven Urteilskraft getragen ist. Mit dieser Honorierung bestimmter Eigenschaften der Menge durch den wohl ältesten Schriftbeleg für Schwarmintelligenz hat Aristoteles zugleich dem für die Demokratie charakteristischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung das Wort geredet. Aristoteles hat mithin Platon zum Trotz nicht nur gleichsam als Realpolitiker die Demokratie über die Oligarchie gestellt, sondern ihr mit triftigen Gründen auch eine Fülle von politisch bedeutsamen Vorzügen nachgewiesen. Angesichts dieser Vorzüge ist dem Demos nicht nur aus taktischen Überlegungen heraus Partizipationsfähigkeit zuzugestehen. Er hat offenbar einige Eigenschaften einzubringen, die ihn keineswegs als bloßen Juniorpartner erscheinen lassen, wenn er zugleich mit den Oligarchen durch eine Synthese der Antinomien beider Lager in eine konfliktentschärfende Politie integriert wird. Diesen Aussöhnungsgedanken unterfüttert Aristoteles mit drei durchführbaren Vorschlägen (1294 a 30–b 16): 1) Die Oligarchie bestraft Reiche, die nicht zu den Gerichten kommen. Die Demokratie besoldet arme Geschworene und bestraft fernbleibende Reiche nicht. Die Politie bestraft die Reichen und belohnt die Armen. 2) Die Oligarchie lässt nur Bürger mit hohem Zensus zur Volksversammlung zu, die Demokratie aber jeden Bürger, auch solche ohne Zensus. Die Politie setzt einen mittleren Zensus an. 3) Die Oligarchie besetzt Ämter durch Wahl und mit Zensus, die Demokratie aber durch Los und ohne Zensus. Die Politie entscheidet sich für die Wahl ohne Zensus. Nach diesen Vorschlägen zur Aussöhnung von Oligarchie und Demokratie bringt Aristoteles als weiteren Faktor der Stabilisierung unter 70 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Berufung auf Solon den Mittelstand (οἱ μέσοι) ins Spiel (1295 a 35– 1296 a 38). Aristoteles muss zwar einräumen, dass dieser Stand selten zahlreich vertreten ist, aber gleichwohl eine realistische Möglichkeit des vermittelnden Ausgleichs darstellt, da die »Mittleren« weder übermäßig reich noch übermäßig arm sind, mithin sich durch einen für jedermann erreichbaren Status auszeichnen. Zudem fällt es ihnen leichter, sich von der Vernunft leiten zu lassen, was den Reichen durch Dünkel und Hochmut, den Armen durch Ressentiment und Unterwürfigkeit häufig misslingt. Je mehr »Mittlere« es in der Demokratie gäbe, umso stabiler wäre sie. Da sie aber meist in der Minorität sind, schaffen sie es im Ernstfall selten, radikale Demokraten oder radikale Oligarchen in Schach zu halten. Mit seiner Form von Politie, die aus einer konfliktentschärfenden Aussöhnung von Demokratie und Oligarchie hervorgegangen ist, hat Aristoteles einen bedeutsamen Schritt zur inneren Befriedung in der Polis getan. Die von Aristoteles beschriebene Kompromisspolitie könnte zum Istzustand werden, sobald seine Adressaten, die entschiedenen Demokraten und die entschiedenen Oligarchen, ihre Grabenkämpfe einstellten. Nicht Aristoteles, sondern die allzu Dezidierten bewegten sich abseits der zu ihrer Zeit möglichen Vernünftigkeit. Aristoteles musste sich nicht vorhalten lassen, er sei mit seinen Sanierungsvorschlägen an den Realitäten vorbeigegangen. Im Gegenteil – seine Arbeit war ernsthaft; seine Vorschläge waren plausibel und hätten sich, wären sie befolgt worden, als gebrauchsfähig und heilsam erwiesen. Gleichwohl ist von keiner Polis bekannt, dass sie die Vorschläge des Aristoteles zur Versöhnung auf ihrem Boden aufgegriffen hätte. Diese Harthörigkeit indes hat Aristoteles nicht zu verantworten. Rückblickend erweist sich, dass Aristoteles an seinem methodischen Grundsatz festgehalten hat, das, was ist, eben als das Wesentliche empirisch und damit hermeneutisch zu ergründen und als Inhalt der praktischen Philosophie vorzutragen. Dieser Vortrag erfolgte jedoch keineswegs standpunktfrei. Tatsächlich argumentierte Aristoteles in der NE und in den drei ersten Büchern der Politik vom Standpunkt des wohlwollenden Beobachters, der das, was ist, als das Wesentliche erkannte und auf seine Bedeutung hin abschätzte. Diesen Standpunkt hatte Aristoteles in den Büchern IV bis VI der Politik aufgegeben und stattdessen die ehrenvolle Rolle des Schlichters (διαλλακτής) angenommen, die einst Solon spielte (AP 5, 2), als er die Schuldenabschüttelung (σεισάχθεια) erwirkte und für alle Zu71 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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kunft Darlehen gegen leibliche Sicherheit (δανείζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν) untersagte (AP 6, 1). Mit derselben Ernsthaftigkeit und Unparteilichkeit wie einst Solon ist Aristoteles der Pflicht des Tages gerecht geworden, indem er um der politischen Stabiltät willen seine an das Bestehende anknüpfenden Aussöhnungsvorschläge in aller Detailliertheit vortrug. Mit gutem Gewissen konnte er daher im Folgenden vom Standpunkt seiner Neigung aus in Buch VII der Politik jene Variante von Politie verfechten, deren Telos die in der NE eingehend bestimmte Tugend und das Gutleben der Anständigen sind. Diese letztere Form der Politie, die jene Politie, die sich pragmatisch die Aussöhnung von Demokratie und Oligarchie zum Ziel gesetzt hatte, qualitativ noch erheblich zu steigern weiß, grenzt so nahe an die Aristokratie, dass sie faktisch mit dieser gleichzusetzen ist (1295 a 31–34); denn es handelt sich um die »beste Verfassung«, die dadurch definiert ist, dass auf ihrem Boden ein guter Bürger notwendig auch ein guter Mann ist, weil sie nur die Anständigen und Rechtschaffenen als Vollbürger zulässt. Ein Konflikt der beiden Formen von Politie ist nicht möglich; denn der Boden der aristokratischen Politie ist nicht das von demokratischen Städten beherrschte Griechenland, sondern das noch zu erobernde Kleinasien. Unter diesen Prämissen erfolgt mit der aristokratischen Politie, der Gegenwart eines modifizierten Platon im Aristoteles, endlich die Ausführung dessen, was am Ende von Buch III angekündigt, aber zunächst einmal mit guten Gründen aufgeschoben wurde.

Die ideale Stadt des Aristoteles Adressat des Entwurfs einer qualitativ noch gesteigerten Politie als idealer Verfassung war, wenn auch unausgesprochen, König Philipp – in der Erwartung, er werde einen Feldzug nach Kleinasien unternehmen und dort von Griechen dominierte Städte gründen. Trotz vorgesehener Schirmherrschaft des makedonischen Königs sollte die von Aristoteles vorgestellte ideale Stadt keine monarchische Verfassung haben, sondern die republikanische einer Patrizierstadt. Für die Polisbürger war die Monarchie eine Verfassung der Vergangenheit. In sein Raster möglicher Verfassungen hatte Aristoteles zwar der systematischen Vollständigkeit halber auch das Königtum aufgenommen und sogar, wie später Scipio in Ciceros De re publica, an die erste 72 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Stelle gesetzt. Allerdings erscheint es Aristoteles sinnlos, einer Verfassungsform noch ernsthaft das Wort zu reden, die überholt ist und sich auch nur in kleineren Städten bewährt habe. In der von Aristoteles durchgeführten Sammlung bestehender Verfassungen taucht ja auch, wie Diogenes Laertios (5, 27) berichtet, kein Beispiel einer Monarchie mehr auf. Modell steht Aristoteles auch für die aristokratisch gesteigerte Politie in Kleinasien die bewährte griechische Polis. Schon um glaubhaft zu bleiben und ernst genommen zu werden, musste er das Gute am Bewährten festmachen und durfte nicht durch abstrakt bleibende Zukunftsentwürfe Misstrauen in seine Arbeit hervorrufen. Das Ideale ist das Beste, soweit es sich aus allem bisher Bekannten ablesen lässt. In diesem Sinne ist für Aristoteles die wahrhaft beste Verfassung die selten genug erreichte Aristokratie, die allein einer idealen Polis gleiche (1295 a 25–34). Ihr Kennzeichen ist, wie Aristoteles zuvor schon zweimal ausgeführt hat, der Umstand, dass in ihr der gute Bürger und der gute Mann ein und derselbe ist. 1 Es ist die wesenhafte Tugend jedes guten Bürgers, zu herrschen und sich beherrschen zu lassen, und diese Tugend ist im Idealstaat, der auf der Agorá nur Anständiges von Anständigen verlangt, automatisch auch die Tugend des guten Mannes. Mit der herkömmlichen Form von aktiver und passiver Teilhabe im Wechsel erfüllt im Idealstaat der gute Bürger notwendig auch die von den Eupatriden besonders geschätzten Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und Besonnenheit (1277 b 13–32). Der ideale Staat, den Aristoteles König Philipp empfiehlt, ist eine Aristokratie, deren Bürger höchsten Ansprüchen genügen müssen. Diese Bestimmungen geben neben König Philipp noch einen weiteren Adressaten des siebten Buches der Politik zu erkennen, nämlich jene Großbürger aus ganz Griechenland, die ähnlich wie Platon mit der demokratischen Polis unzufrieden sind und nach anderen Möglichkeiten suchen. Wenn sie nun tatsächlich das einhergehende Risiko auf sich nehmen und erwarten sollen, in Kleinasien durch die Neugründungen diese Möglichkeiten zu finden, dann müssen sie mit einer seriösen, an den Phänomenen nachprüfbaren Argumentation überzeugt werden. Aristoteles beginnt mit der Versicherung, dass die Patrizier in seiner idealen Polis unter sich sind. Da zwar grundsätzlich alle der Tugend des guten Bürgers genügen müssen, nämlich den Gesetzen 1

Ebd. 1288 a 32–b 2, 1293 b 5–7.

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und den Anordnungen der Behörden zu gehorchen, unmöglich aber auch alle zugleich der Tugend des guten Mannes genügen können (1276 b 31–1277 a 5), lässt die Aristokratie dank ihrer Definition als idealer Staat nur den guten Mann als Bürger zu, der sich durch Rechtschaffenheit, Integrität und respektgebietende politische Tätigkeit 2 auszeichnet. Eigenschaften der Großbürger, die sich für das Gutleben im besten Staat qualifizieren, sind Wohlstand, Muße, gute Herkunft, Format, Anstand, Auftreten, Unabhängigkeit. 3 Dagegen besteht die Menge aus Landarbeitern, Handwerkern, Händlern, Matrosen, Fischern und Tagelöhnern (1291 b 18–30). Schon weil die Menge zu tugendhaftem Handeln auf der Agorá gar nicht über die nötige Muße und Freiheit gebietet (1319 a 26–32), gehört sie ebenso wenig zur Bürgerschaft wie Sklaven, Metöken (Bürger zweiter Klasse) und Fremde. 4 Als Menge gilt, bezogen auf das System der Solonischen Schätzungsklassen 5, die unterste Klasse, nämlich die Theten – der offizielle Name für jene Freien, die wegen ihrer Armut wie Sklaven für ihr Geld schuften (δουλεύειν) müssen. 6 Da sie nichts zu ihrer militärischen Ausrüstung beitragen können, dienen sie als Ruderer bei der Flotte. 7 Die soziale Zuordnung des Aristoteles entspricht also den ökonomischen Gegebenheiten. Dass Aristoteles eine mindestens formal noch bürgerliche Unterschicht, eben die Theten, in die Nähe von Sklaven rückt, spiegelt sich in der Tat in den Einkommensverhältnissen wider. Wenn Invaliden vom Staat täglich zwei Obolen, also 1/3 Drachme erhalten 8, so darf man diesen Betrag als das Existenzminimum einer kleinen Familie ansehen. Dazu passt, dass ein Prytane für einen Sitzungstag zu seiner Verpflegung einen Obolos erhält. 9 Wenn ferner für den Teilnehmer an einer Volksversammlung von früh bis spät ein Sold von einer Drachme vorgesehen war 10, so dürfte dieser Betrag genau der zu erwartenden Tageseinnahme eines Handwerkers entsprechen, für deDiese vier Begriffe sind als interpretierende Übersetzung von ἀρετή aufgrund ihrer Aspekte gedacht. 3 Ebd. 1296 b 18, 1328 b 33–1329 a 39. 4 Ebd. 1278 a 6–13, 1326 a 18–21. 5 Aristoteles, AP 7, 4. 6 Pollux 3, 82. 7 Thukydides 6, 43. 8 Aristoteles, AP 49, 4. Laut Scholion zu Aischines 1, 103 sind es sogar drei Obolen. 9 Aristoteles, AP 62, 2. 10 Ebd. 62, 2. 2

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ren Verlust er zu entschädigen war. Mit seinen Einnahmen, von denen er seine Familie ernähren musste, lag der Handwerker also nicht weit über den Mindestkosten, die logischerweise auch täglich für einen Sklaven aufzuwenden waren. Angesichts einer Reserverarmee von Sklaven als billiger Arbeitskräfte konnte sich der Handwerker offenbar nur durch Verzicht auf größere Gewinne behaupten. Auch aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der politischen Ständeordnung, wie sie Aristoteles dargestellt hat, genau auch die ökonomische entsprach. Die soziale Kluft spiegelt sich auch in der Stadtanlage wider, die für Tempel, Behörden und Gymnasien einen oberen Markt vorsieht, zu dem nur die Eupatriden Zutritt haben, während für Kauf und Verkauf ein unterer Markt anzulegen ist (1331 a 19–b 13). Diese Forderung musste einen Athener Leser der Politik an die vordemokratische Trennung von Oberstadt (Akropolis) und Unterstadt (ἄστυ) erinnern, die unter Kleisthenes aufgehoben wurde. Wo einst Wachen zum Schutz der Herrscherfamilie standen, errichteten die Athener die für alle durchlässigen Propyläen zur Akropolis und markierten die einstige Trennlinie mit einer Bronzequadriga zur Erinnerung an ihren im Jahre 506 über Boioter und Chalkideer errungenen Sieg – den ersten Sieg unter demokratischen Auspizien. 11 Mit dem Detail zweier getrennter Märkte gibt Aristoteles erneut zu erkennen, dass die Politik ihren Idealstaat nicht im demokratisch geprägten Griechenland anzusiedeln gedachte. Der räumlichen Trennung entspricht die funktionale. Für die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse – Essen, Kleidung, Wohnung – sind die Nichtbürger, eben Sklaven, Fremde und Metöken zuständig (1325 b 35–1326 a 5). Ähnlich verfuhr schon Platon, als er die Funktionen, die in der Politeia noch der unterste Stand der Gewerbetreibenden erfüllte, später in den Nomoi den Sklaven, Fremden und Metöken zuwies. 12 Im Sinne dieser Zusammenlegung der Funktionen von Gewerbetreibenden und Sklaven rückt Aristoteles die Handwerker nicht nur implizit in die Nähe von Sklaven, Fremden und Metöken; er spricht auch ganz offen aus, dass die Handwerker zumindest bedingt wie Sklaven einzustufen seien (1260 a 39–b 2). Die SelbstänHerodot 5, 77–78; Diodor 10, 24, 3; Pausanias 1, 28, 2. Zu diesem Sachverhalt siehe K. Schöpsdau: Die soziale und rechtliche Stellung der Fremden in Platons Nomoi, in: U. und P. Riemer (Hrsg.): Xenophobie – Philoxenie. Vom Umgang mit Fremden in der Antike, Stuttgart (2005) 115–129.

11 12

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digkeit dieser Gruppen sei schon deswegen eingeschränkt, weil sie anders als die Bürger kein Grundeigentum erwerben dürften (1329 a 17–26). Aus diesen Gruppen rekrutieren sich auch die Ruderer für die Kriegsflotte, die anders als ihre Offiziere keine Bürger seien; und Ruderer gäbe es ja da genug, wo viele Periöken und Landarbeiter ansässig seien (1327 a 40–b 13). Aristoteles weiß durchaus, dass die politische Entmündigung so vieler Einwohner eine heikle Angelegenheit ist. Er empfiehlt, dafür Sorge zu tragen, dass den aus der Bürgerschaft Ausgeschlossenen ihr Status in der Regel gar nicht erst bewusst wird (1278 a 38–40). Wenn sie zum Kriegsdienst herangezogen werden, soll man ihnen pünktlich den zugesagten Sold zahlen – als Anreiz zum Diensteifer. Im Übrigen sei zu erwarten, dass sie auch ohne Zugang zu Ämtern ruhig blieben, wenn sie kein Unrecht erführen und keine materiellen Einbußen erlitten (1297 b 6–12). Die Sklaven, die auf einem Landgut arbeiten müssten, sollten aus verschiedenen Ländern stammen, damit sie sich nicht unbemerkt vom Gutsherrn im eigenen Idiom über eine gemeinsame Meuterei verständigen könnten; wenn die Sklaven eigene Kinder hätten, dann sei das sogar erwünscht, verhinderten diese doch gleichsam als Geiseln in der Hand des Herrn eine Flucht; das beste Mittel zur Sicherung der Kooperation des Sklaven sei es aber, ihnen die Freilassung nach einiger Zeit in Aussicht zu stellen. 13 Tatsächlich notiert Diogenes Laertios für Aristoteles (5, 14), Theophrast (5, 55), Straton (5, 63) und Lykon (5, 73), sie hätten in ihrem Testament die Freilassung der meisten ihrer Sklaven verfügt. Offenbar entwickelt Aristoteles mit seinem Idealstaat Grundzüge einer Adelsrepublik, die die politische Entscheidungskompetenz nur wenigen zugesteht und vielen die weniger attraktive Arbeit überlässt. Da nun Aristoteles seinen schon angeführten Leitsatz, Handeln und nicht Erkenntnis sei der Zweck seines Vortrages 14, wohl kaum vergessen haben dürfte, kann er als Bühne der Verwirklichung seines Verfassungsentwurfs unmöglich Griechenland vorgesehen haben, wo in den meisten Städten das demokratische Lager dominierte. Die wiederum dürften zwar die Erledigung unwillkommener Arbeit durch Sklaven kaum als anstößig empfunden haben; schließlich arbeiteten Aristoteles, Politik 1330 a 25–33 und Ökonomik 1344 b 15–22. Vgl. Xenophon, Oikonomikos 5, 19 und Platon, Nomoi 777 B–778 A mit durchaus ähnlichen Ratschlägen. 14 NE 1095 a 5–6. 13

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allein im demokratischen Attika mehr als 150 000 Sklaven. 15 Aber Aristoteles konnte unmöglich darauf setzen, dass selbstbewusste griechische Bürger ihre eigene politische Entmündigung hinnähmen und dass sich die Theten als unterer Stand sogar noch in die Nähe von Sklaven rücken ließen. Umgekehrt konnte er aber erwarten, dass griechische Großbürger, die politisch dachten wie er, seinen Vorschlag durchaus bereitwillig aufgriffen, außerhalb Griechenlands unter dem Schutz Philipps einen Staat nach ihrer Fasson zu errichten, auf den sie innerhalb Griechenlands niemals hoffen konnten. Das bloßer Erkennnis vorzuziehende Handeln konnte demgemäß nur in Kleinasien erfolgen, also in jenem Territorium, auf das die Makedonen zur Zeit der Endfassung der Politik schon begehrliche Blicke geworfen hatten. Gemessen an den Vorstellungen seines Sohnes Alexander hegte Philipp II., auf dessen Operationsziele Aristoteles offenkundig seine Überlegungen zugeschnitten hatte, mit Sicherheit bescheidenere Absichten. Philipp hatte nach und nach mit jeweils begrenzter Zielsetzung schon die europäischen Nachbarländer in das makedonische Kernland eingegliedert und schickte sich darauf an, den westlichen Küstenstreifen Kleinasiens zu erobern, um die Ägäis in ein makedonisches Meer zu verwandeln. Nur zu dieser Zielsetzung passt die Rechtfertigung des Feldzuges, man wolle die jonischen Griechen vom persischen Joch befreien (Diodor 17, 24, 1). Dass ein noch weiter reichender Feldzug von Philipp nicht geplant war, lässt auch sein getreuer alter Offizier Parmenion durchblicken, als er 333 nach der Schlacht bei Issos in Kilikien Alexander vergebens riet, er könne doch den Feldzug nach dem nunmehr erreichten Geländegewinn beDiese von Hypereides (Fragmente B 18, 3) genannte Zahl scheint realistisch, obwohl andere Quellen weitaus höhere Zahlen angeben. Die Volkszählung unter Demetrios von Phaleron im Jahre 309 ergab nach Ktesikles (bei Athenaios 272 C = FGH 245 F 1) 21 000 Bürger, 10 000 Metöken und 400 000 Sklaven. Die 21 000 Bürger, die diese Zählung ermittelte, werden bestätigt durch die Entscheidung des Antipatros im Jahre 322, 9000 Bürger in Athen zu belassen, 12 000 aber ins Exil zu schicken (Diodor 18, 8, 4–5). Es fragt sich nur, ob deshalb auch die für die Sklaven angegebene Zahl stimmt. Zwar wird diese Zahl möglicherweise durch Aristoteles unterstützt, aus dessen »Verfassung der Aigineten« Athenaios in derselben Passage (272 D) die Angabe zitiert, auf der Insel Aigina lebten 470 000 Sklaven – eine Zahl, die auch der Scholiast zu Pindar, Olympien 8, 30 d, übernommen hat. Bedenkt man jedoch, dass die Insel Aigina in unseren Tagen nur 13 500 Einwohner hat, dann bleibt unerfindlich, wo denn in der Antike so viele Sklaven auf der Insel eine Bleibe hatten. Bei den hohen Zahlangaben dürfte wohl ein Schreib- oder Übertragungsfehler vorliegen. Die Angabe des Hypereides hat die größere Wahrscheinlichkeit für sich.

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enden. 16 Parmenions Vorstellungshorizont wird genau der Philipps bei seinen Planungen gewesen sein und entsprechend der des Aristoteles bei seinen Ratschlägen zur Errichtung idealer Städte. Nur Philipps militärische Absichten gestatteten Aristoteles, sich wieder an Platons politische Ideale zu erinnern. Denn dieser Plan räumte auch der in Gedanken entworfenen Stadt eine Chance ein, und zwar in der Gestalt griechischer Kolonien im eroberten Kleinasien, wo sich zudem noch das für die Adelsrepublik unerlässliche Sklavenpotential fand. Wie hoch schließlich die Ansprüche des Aristoteles waren, lehrt ein Vergleich mit Isokrates, der gleichfalls Überlegungen angestellt hatte, wie mit den eroberten Gebieten zu verfahren sei, und befand, man solle in den eroberten Gebieten statt griechischer Großbürger lieber Söldner und Landstreicher zur Entlastung Griechenlands ansiedeln. 17 Anders als Aristoteles hatte Platon übrigens nie die Absicht, seine vom Nullpunkt aus fehlerfrei durchkonstruierte Stadt über die Aussendung von Kolonisten zu verwirklichen. Das verbot schon der »Phönizische Mythos«, gleichsam die politische Grundsatzerklärung der Politeia, dergemäß, wie oben schon erwähnt, über alle Stände hinweg unbedingte Solidarität unter den autochthonen Bürgern Attikas wie unter Brüdern herrschen sollte, die doch allesamt innerhalb der Grenzen Attikas aus der Mutter Erde geboren seien (Politeia 414 C–E). Phönizisch war der Mythos, weil der Phönizier Kadmos aus von ihm gesäten Drachenzähnen tapfere Thebaner hatte wachsen lassen. Platon hätte auch an Athens Urkönig Erechtheus erinnern können, der aus dem von Ares in den Boden ergossenen Samen erwuchs. So oder so, Platons Staat war an den Boden Attikas gebunden. Allein auf diesem Boden waren daher die inneren Probleme der Stadt zu lösen, und zwar durch Sparsamkeit statt Luxus, aber nicht durch eine Aussiedlung von Teilen der Bürgerschaft. In der Apologie (37 C– D) lehnt Sokrates beim Strafantrag gegen sich selbst (ἀντιτίμησις) das Exil als indiskutabel ab und bestätigt das im Kriton (53 A–54 B). Dieser Grundsatz galt auch für alle übrigen Bürger: Platon verurteilte die Entsendung einer Bürgerschicht in eine Kolonie als Euphemismus für rigorose Ausweisung (ἀπαλλαγή) einer als infektiöse Krankheit der Stadt empfundenen Gruppe (Nomoi 736 A). Gleichwohl formuDiodor 17, 54, 4; Arrian 2, 25, 2–3; Curtius Rufus 4, 11, 1–22; Plutarch, Alexander 29, 4. 17 Isokrates 4, 168; 5, 96; 5, 120 f.; 8, 24. 16

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lierte Platon, vertreten durch den anonymen Athener, später in den Nomoi den Gesetzeskodex für eine geplante Kolonie, die einen willkommenen Anlass bot, noch einmal eine Stadt von Anfang an in Gedanken zu gründen (τῷ λόγῳ συστησώμεθα πόλιν, οἷον ἐξ ἀρχῆς κατοικίζοντες: 702 D–E). Aber diese Kolonie war eben nicht für Bürger Attikas vorgesehen, sondern für Kreter, in deren Auftrag ein Zehnmännerkollegium aus Knossos zunächst eine Verfassung entwerfen sollte, bevor geeignete Siedler aus allen kretischen Gemeinden anzuwerben wären. Dessen ungeachtet durfte Aristoteles Platons Nomoi getrost als unausgesprochenes Eingeständnis werten, dass das Modell für den Entwurf einer idealen Stadt allein die Gründung einer Kolonie sein könne. Für den Athener Bürger Platon war folglich die Treue zur attischen Erde bindend. Aristoteles teilte verständlicherweise diese Gefühle nicht und beschrieb frei von solchen Bedenken seine ideale Patrizierstadt in Erwartung der Gründung griechischer Kolonien in Kleinasien. Ins Detail konnte er in der Politik vor dem Aufbruch des griechischen Heeres natürlich noch nicht gehen, aber er sollte das später nachholen. In seinem Schriftenverzeichnis taucht ein (nicht erhaltenes) Buch auf mit dem Titel »Alexander oder über Kolonisten«. 18 Mit welchen Vorstellungen Aristoteles dieses Thema aufgenommen haben dürfte, lehrt Strabon (10, 1, 8/ C 447), der ihn mit dem Satz zitiert, die unter der Herrschaft von Rittern stehende Stadt Chalkis auf Euboia hätte einst Kolonisten entsendet, und zwar unter der Führung wohlhabender, auf aristokratische Weise auftretender Bürger. Es ist anzunehmen, dass Aristoteles bei dieser Reminiszenz auch die eigene Gegenwart vor Augen hatte, als er seine politischen Überlegungen angesichts des anstehenden Feldzugs der Makedonen vortrug. Im Übrigen operierte Aristoteles bei der Entwicklung seiner Version eines Idealstaates methodisch nicht anders als bei der Erörterung der aktuellen Probleme von Demokratie und Oligarchie. Die Quelle seiner Überlegungen war erneut nicht selbstursprüngliche, sondern hermeneutisch argumentierende Philosophie. Aristoteles knüpfte an reale Gegebenheiten samt immer schon bestehenden sittlichen und politischen Überzeugungen an, die allesamt unabhängig vom philosophischen Räsonnement existierten. In seinen Ausführungen schenkte Aristoteles neben der Führungsschicht seine Aufmerksamkeit auch der Lage und Ausstattung 18

Diogenes Laertios 5, 22.

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der Stadt. Zu einer bedeutenden Stadt gehörten zwingend ein Hafen und eine Flotte. Sie müsse zum Land und zum Meer hin gleich günstig liegen, damit sie im Krieg von überall her leicht erreichbar sei und damit im Frieden Ein- und Ausfuhr unbehindert ablaufen könnten. Falls die Stadt ein wenig landeinwärts liege, könne man mit langen Mauern (wie in Athen oder Megara) eine Verbindung zum Hafen herstellen und zugleich unerwünschte Elemente leichter fernhalten (1327 a 4–b 3). Insbesondere müsse die Stadt unter Verzicht auf ein großflächiges Territorium dem Kriterium der Überschaubarkeit genügen (1326 a 17–b 25); denn um größere Territorien zusammenzuhalten, bedürfe es einer geradezu göttlichen Macht (1326 a 31–34). Aristoteles spricht mithin, als hätte er das Schicksal des makedonischen Großreiches vorausgesehen, das eintrat, als die »göttliche Macht« im Alter von 33 Jahren verstarb. Aristoteles hielt sich an das Bewährte und nahm die gute alte Polis samt angeschlossenem Hafen als Modell, um die Gründung griechischer Kolonien in Kleinasien vorzubereiten. Er blieb also selbst bei der Planung einer Polis, die künftig auf erst noch zu eroberndem Territorium entstehen sollte, bei seiner Maxime, sich an das zu halten, was in dem, was ist, als Vernünftiges erkennbar wird. Indes ist eine hermeneutisch operierende Theorie keineswegs zu politisch neutraler Standpunktlosigkeit verpflichtet. Wie schon Platons Politeia ein Manifest gegen Athens direkte Demokratie war, so ergriff Aristoteles Partei für die Großbürger oder Eupatriden, die künftig in Kleinasien nach griechischem Selbstverständnis die Herrschaft ausüben sollten. Nun bot sich das westliche Kleinasien als Territorium zur Gründung griechischer Adelsrepubliken insbesondere auch insofern an, als es eine unerlässliche Bedingung erfüllte, auf die Platon nur in Andeutungen eingegangen ist, während Aristoteles die Dinge unumwunden aussprach. Denn er unterschlug redlicherweise nicht, dass die Großbürger, deren Handeln durch konstruktive Muße und unbesoldeten Einsatz für das Gemeinwesen bestimmt sein sollte, ohne Sklaven gar nicht überleben könnten. Um in dieser Frage von vornherein jedes Missverständnis unter den Griechen auszuschließen, unterschied Aristoteles, wie schon ausgeführt, zwischen naturgemäßer und naturwidriger Sklaverei. Die letztere Möglichkeit sei erfüllt, wenn ein seiner Natur nach freier Grieche versklavt werde, während für den seiner Natur nach Unfreien der Sklavenstatus völlig angemessen sei, weil dann natürliche Voraussetzungen und rechtliche Konsequenzen widerspruchsfrei harmonierten (1255 b 4–9). Geborene Sklaven seien 80 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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aber alle Barbaren, die immer schon den Despotismus ertrügen, weil ihnen jedweder Machtwille abgehe (1285 a 20–22). Daher laufe barbarisch und sklavisch auf dasselbe hinaus, während die Griechen von Natur zur Herrschaft über die Orientalen disponiert seien (1252 b 7– 9). Diese These des Aristoteles entsprach durchaus griechischem Denken. Die 150 000 Sklaven, die, wie gesagt, in Attika lebten, waren in der Regel eben keine Griechen. Schon Platon hatte die Versklavung von Griechen ausdrücklich untersagt. 19 Dass die Sklavenrolle nur für Nichtgriechen angemessen erschien, aber per definitionem nicht für Griechen, erwies sich nicht zuletzt, als zwanzig Jahre, bevor Aristoteles an seiner Politik arbeitete, unter dem nahezu ungeteilten Beifall aller Städte der Thebaner Epaminondas die Messenier, also einen griechischen Stamm, vom Helotenjoch befreite, das ihnen die Spartaner jahrhundertelang auferlegt hatten. 20 Über dieses Einvernehmen hinaus, die Sklavenrolle nur Nichtgriechen zuzumuten, gab es noch ein generelles Beruhigungsargument. Überall da, wo zwischenmenschliche Beziehungen (κοινωνίαι) auf einer Rechtsform fußen, so hat Aristoteles beobachtet, besteht auch ein Freundschaftsverhältnis – zwischen Metöken und Bürgern, zwischen Sklaven und Herren, zwischen Bürgern und Bürgern, zwischen Sohn und Vater, zwischen Ehefrau und Mann. 21 Der Rechtsstatus des Sklaven bildete offenbar nur den formalen Hintergrund, der im alltäglichen Umgang gar nicht bewusst wurde, wenn er als bestimmte Form eines Freundschaftsverhältnisses galt. Diese Bestimmung des Aristoteles zum Verhältnis von Rechtsverhältnis und Freundschaft könnte auch erklären, weshalb sich die einzelnen Häuser ohne schlechtes Gewissen der Sklavenarbeit bedienten. Wie zielgerichtet Aristoteles seine Überlegungen im Blick auf den bevorstehenden Feldzug Philipps gegen Kleinasien anstellte, erweist sich auch daran, dass er die Sklaverei als Folge kriegerischer Unterwerfung darstellt. Dazu bediente er sich einer geschickten Zwar-aber-Figur: Es müsse zweifellos widersinnig (ἄτοπον μέν) erscheinen, wenn vom Staatsmann erwartet werde, sich zum Herrn über das Territorium des Nachbarn zu machen, wo er doch dann Dinge tun müsse, die ohne Unrecht nicht möglich seien. Andererseits Platon, Politeia 469 C. Belege bei Deinarchos, Demosthenes 73; Diodor 15, 66, 1; Dion Chrysostomos 12, 28; Pausanias 9, 15, 6; Isokrates, Archidamos 28. 21 Aristoteles, Große Ethik 1211 a 6–12. 19 20

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erscheine es aber gleichfalls widersinnig (ἄτοπον δέ), wenn es nicht den natürlichen Unterschied von Herren und Sklaven gäbe. Wenn aber die Dinge so lägen, dann gäbe es gewiss kein Recht, über Alle wie über Sklaven zu herrschen, wohl aber das Recht der Herrschaft über die aufgrund ihres Naturells für die Sklavenrolle Disponierten (1324 b 22–41). Demgemäß sei ein Krieg prinzipiell gerecht, wenn er sich gegen Feinde richte, die aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung zum Dienen bestimmt seien, sich aber nicht freiwillig in diese Rolle fügten (1256 b 25–26). Auch Platon hatte unterstrichen, dass die Griechen, wenn sie sich untereinander nicht versklaven dürften, eher geneigt seien, sich gegen die Barbaren zu wenden (Politeia 469 C). Ein solcher Krieg wiederum kann für Aristoteles per definitionem nur außerhalb Griechenlands stattfinden, weil sich Sklaven und umwohnende Barbaren, denen insbesondere die Landarbeit zu überlassen ist (1329 a 25–26), erklärtermaßen nicht in Griechenland finden, wohl aber in Kleinasien. Damit erscheint Philipps geplanter Feldzug gleichsam als logisch zwingendes Naturgebot, und das mit der Nebenwirkung, dass ein als Zweckbündnis darstellbarer Feldzug gegen einen gemeinsamen Gegner auch noch der politischen Wunschvorstellung vom gemeinsamen Frieden der Griechen untereinander (κοινὴ εἰρήνη) dienlich ist. Diese Bestimmungen zu Krieg und Sklaverei waren angesichts des griechischen Verständnisses von Tugend, Überlegenheit, Wohlgeratenheit und Gutsein der Anständigen (καλοικἀγαθοί) keineswegs anstößig. Für Aristoteles bestand weder außerhalb noch innerhalb der Schule ein besonderes Risiko, als er mit seiner Planung einer idealen Polis in Kleinasien zugleich auch die Substanz der politischen Theorie seines Lehrers Platon retten wollte. Unter Philipps Auspizien zeichneten sich kaum noch ernsthaft erwartet die äußeren Voraussetzungen ab für das »Zusammenfallen von politischer Macht und Philosophie«, also für Platons Formel für das Philosophenkönigtum in der Politeia (473 D). Aristoteles ergriff nun die Chance, dem Erbe seines Lehrers zu neuer Virulenz zu verhelfen, bürdete allerdings Platons Auftrag nicht ein und demselben Mann, sondern zwei Männern auf – Aristoteles, dem Berater, und Philipp, dem Ausführenden. In der Tat konnte sich Aristoteles leicht ausmalen, dass die etwa zwanzig schon vorhandenen griechischen Städte im westlichen Küstenstreifen von Kleinasien nicht ausreichten, um als festungsartige Stützpunkte die eroberten Gebiete zu sichern. Die Lücken mussten durch Neugründungen von Städten, die ja unter Alexander auch tat82 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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sächlich in über siebzig Fällen 22 erfolgen sollten, geschlossen werden. Da konnte der Philosoph dem König, der ja schon das nach ihm benannte Philippoi gegründet hatte, ein Gutachten vorlegen, wie mutatis mutandis in den besetzten Gebieten künftig zu verfahren sei. Das Ziel dieses Gutachtens war tatsächlich nicht Erkenntnis als Selbstzweck, sondern Handeln. In diesem Sinne war ein philosophischer Entwurf, wie nach erfolgreichem Feldzug die Lage politisch zu konsolidieren sei, gleichsam eine Dienstleistung, die dem verantwortlich Handelnden Orientierung bot und eine vernünftige Zielsetzung definierte. Als Nebeneffekt war zu erwarten, dass die Gründung wohlstrukturierter Städte in Kleinasien ihren Eindruck auf die Oberschicht im griechischen Mutterland nicht verfehlen würde. Zur Ausführung der unerlässlichen Vorarbeit des Aristoteles hätte Philipp wohl kaum die nötige Muße gehabt. Seit der König die Herrschaft angetreten hatte, verging kein Jahr ohne Beschäftigung mit Heeresorganisation, Feldzügen, Annektionen, Interventionen und bündnispolitischen Initiativen. Außerdem musste sich Philipp immerhin um sieben Ehefrauen kümmern. 23 Da verhalf ihm Aristoteles mit den ihm eigenen Mitteln zu Orientierung und Wegweisung, die er selbst nicht auch noch hätte zustande bringen können. Nur wurde Philipp im Jahre 336 noch vor dem Aufbruch des Heeres ermordet. Den schon lange vorbereiteten Feldzug konnte mit leichter Verspätung erst sein Sohn Alexander anführen. Der Feldzug kam also wie geplant zustande, aber Aristoteles musste erleben, dass der Sohn bei weitem andere Ziele verfolgte als jene, die sich der Vater in seinen Planungen gesetzt hatte. Aristoteles musste daher hinnehmen, dass nicht nur seine für Griechenland vorgesehene pragmatische Politie der Normalbürger an deren Desinteresse scheiterte, sondern auch seine für Kleinasien vorgesehene ideale Politie der Großbürger am Widerstand des neuen Königs. Aus berufenem Munde wurde Aristoteles gleichwohl bescheinigt, dass er sich angemessen verhalten hatte. Der Philosoph und Redner Themistios (ca. 317–388) rühmte sich in einer AD 368 vor Kaiser Valens gehaltenen Rede, er habe ihn mit guten Argumenten beraten und dieser habe auf ihn gehört. Mit dieser bewussten Beschränkung auf Beratung habe er gehandelt wie Aristoteles, aber gerade nicht wie Platon, der mit seinem Philosophenkönigtum alles auf 22 23

Plutarch, Moralia 328 E. Athenaios 557 C–D; Plutarch, Moralia 141 B–C.

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eine Karte gesetzt habe. Dabei habe Platon gedacht wie ein Ringer, der sich beim Publikum lächerlich mache, weil er sich zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele zwar sämtliche Kunstgriffe aus Büchern angelesen, sie aber nie im Staub geübt habe. Aristoteles hingegen habe Platons Theorem durch leichte Modifikation gerettet, indem er das Philosophieren eines Königs für unnötig, ja für hinderlich erklärte, dessen Hinhören auf den Philosophen aber im höchsten Maße für sachdienlich. Themistios schließt mit der Versicherung, Platons Wunsch sei unerfüllbar; wir sollten zufrieden sein, wenn ein Herrscher, der selbst nicht Philosoph ist, dessen Rat aber willfährig beherzige. 24 Mit diesen Worten rehabilitierte Themistios Aristoteles, den, wie sich bald herausstellen sollte, unglücklichen Berater des jungen Königs.

Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles Die Pläne des Aristoteles scheiterten an einem Umstand, den er nicht vorhersehen konnte, eben an der Ermordung König Philipps. Unumstritten war, dass der König von einem gewissen Pausanias, einem seiner Leibwächter, ermordet wurde, weil er dessen Klage über Attalos und seine Freunde, die ihn sexuell missbraucht hätten, nicht ernst nahm. Schließlich brauchte Philipp Attalos als tüchtigen Offizier, der zudem der Onkel seiner neuen Frau Kleopatra war. 1 Umstritten war indes, ob Pausanias nur aus persönlichen Motiven gehandelt hatte oder ob nicht die Gattin Olympias ihn zum Mord an Philipp ermunterte und Alexander davon wusste. Angeblich hatte Olympias sogar für Pausanias Pferde zur Flucht bereitgestellt. Alexander und seine Mutter Olympias gerieten in Verdacht, weil beiden tatsächlich Philipps Tod nicht ganz ungelegen sein konnte. 2 Gewiss hatte die Molosserin Olympias Philipps Hang zur Polygamie von vornherein akzepThemistios, Oratio 8, 107 C–108 B. W. D. Ross nimmt diese Passage p. 62 in seine Fragmenta Selecta des Aristoteles auf, V. Rose aber nicht in seine Fragmentsammlung. 1 Iustin 9, 6, 4–8; Diodor 16, 93, 8. Arrian (3, 6, 5) nennt Philipps letzte Ehefrau Eurydike, weil er vielleicht annahm, ihr Name Kleopatra beruhe auf einer Namenswechselung mit Kleopatra, der Tochter Philipps. 2 Iustin 9, 7, 8–10; Plutarch, Alexander 19, 4. 24

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tiert; denn sie war erst Philipps fünfte Ehefrau 3 und wusste also, worauf sie sich einließ. Ihre bisher herausragende Stellung rührte daher, dass sie die Mutter des designierten Thronfolgers war. Diese Vorzugsstellung war aber bedroht, als Philipp Kleopatra heiratete – die einzige Makedonin unter seinen Frauen. Zu allem Überfluss stellte Attalos noch während der Hochzeitsfeier die Möglichkeit eines nunmehr rein makedonischen Thronerben in Aussicht. Daraufhin kam es zu einem erbitterten Familienstreit, der damit endete, dass Alexander zusammen mit Olympias nach Epirus flüchtete. 4 Schließlich gefährdete die von Attalos angesprochene Konstellation Mutter und Sohn gleichermaßen. Der Mordverdacht gegen Alexander und Olympias kam unter all diesen Umständen nicht von Ungefähr. Jedoch trat Aristoteles allen denkbaren Gerüchten und Mutmaßungen entschieden entgegen und stellte kurz und bündig fest, Pausanias habe Philipp ermordet, weil er es geschehen ließ, dass Attalos und seine Freunde ihn missbrauchten. 5 Mit diesem salvierenden Machtwort, das alle Unterstellungen nicht einmal der Erwähnung für wert befand, bewies Aristoteles seine ganze Loyalität zu Alexander. Nachdem Alexander zusammen mit seiner Mutter Olympias aus Epirus zurückgekehrt war und sich mit seinem Vater wieder ausgesöhnt hatte, war er eo ipso auch als Thronerbe anerkannt. Damit hatte Alexander sein Ziel erreicht, aber ebenso Philipp, der unmöglich nach Asien aufbrechen konnte, ohne die Frage seiner Nachfolge geklärt zu haben. Als nun Alexander nach dem Attentat auf seinen Vater den makedonischen Thron bestieg, durfte der loyale Aristoteles durchaus damit rechnen, Alexander werde, wie von seinem Vater erwartet, den Entwurf einer idealen Politie bei der Gründung neuer Städte auf dem Boden Kleinasiens beachten. Tatsächlich sollte Alexander, wie gesagt, in den eroberten Gebieten über siebzig neue Städte gründen, allerdings nicht zu den Bedingungen des enttäuschten Aristoteles. Denn eine Versklavung der eroberten Gebiete, von der die griechische Oberschicht profitieren sollte, kam für Alexander mindestens aus realpolitischen Überlegungen nicht infrage. Zu dieser Differenz im Grundsätzlichen kamen zwei Ereignisse hinzu, die das Verhältnis der beiden Männer auch ohnehin schon zerrüttet hätten – zum einen Alexanders Ansinnen, die griechischen Städte sollten be3 4 5

Athenaios 557 C–D. Iustin 9, 7, 6–7; Arrian 3, 6, 5; Plutarch, Alexander 9, 4. Aristoteles, Politik 1311 b 1–3.

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schließen, er sei ein Gott 6, und zum anderen die grausame Tötung des Kallisthenes, des Neffen des Aristoteles. Enttäuscht musste der Philosoph erkennen, was es für seinen Vortrag bedeutet, wenn er am Veto einer überlegenen Macht scheitert. Alexander handelte aus seiner Sicht noch nicht einmal ohne einleuchtende Motive, als er von den griechischen Städten verlangte, sie sollten ihn von nun an wie einen Gott verehren. Sein Vater Philipp hatte nach seiner Wahl zum Oberkommandierenden im Jahre 336 ein Festbanquett für Repräsentanten aus ganz Griechenland ausgerichtet und sich aus diesem Anlass in eine Bilderprozession der Zwölfgötter als dreizehnten Gott eingereiht. 7 Ermuntert hatte dazu schon Isokrates in seinem Sendschreiben an Philipp (113–114) mit dem Lob, er könne zwar nicht alle Heldentaten des Herakles wiederholen, das schafften noch nicht einmal die Götter, aber er könne ihm doch in Geist und Charakter sehr nahe kommen. Der Hinweis des Isokrates auf Herakles erfolgte nicht von Ungefähr. Das makedonische Königshaus führte sich seit jeher auf Herakles, den Sohn des Zeus, zurück; und diese Genealogie galt füglich für Philipp und Alexander gleichermaßen. 8 Zudem muss das Gerede bei Alexander seine Wirkung hinterlassen haben, Philipp habe bald nach seiner Heirat mit Olympias deren Bett gemieden, weil er fürchtete, ihr wahrer Partner sei ein höheres Wesen; denn es wurde, während sie schlief, eine Schlange neben ihr gesehen. 9 Passend zu Alexanders schon vorgeburtlichem Nimbus fühlte sich sogar die Göttin Artemis bemüßigt, bei seiner Geburt Hebammendienste zu leisten, und bemerkte darüber nicht, dass zur selben Zeit ihr Tempel in Ephesos niederbrannte. 10 Bei so viel Vorgaben identifizierte sich Alexander gar nicht erst mit Herakles, sondern gleich mit Zeus, vorzugsweise mit Zeus als Blitzeschleuderer (Ζεὺς ἀστραπαῖος/Juppiter fulminator). Von Apelles ließ er sich daher nicht mit einer Keule malen, sondern wie schon Klearchos 11 mit einem Blitz. 12 Als einmal ein Blitz in seiner Nähe einschlug, wurde er gefragt, ob er als Sohn des Zeus nicht ebenPlutarch, Moralia 219 E; Ailian, Varia Historia 2, 19. Diodor 16, 92, 5 und 16, 95, 1. 8 Plutarch, Alexander 2, 1 und Moralia 334 D. 9 Plutarch, Alexander 2, 4; Iustin 11, 11, 3; vgl. Gellius 6, 1, 1–4. 10 Plutarch, Alexander 3, 3. 11 Vgl. oben S. 39 f. 12 Plutarch, Alexander 4, 2 und Moralia 335 F/360 D; Plinius, Naturalis historia 35, 92. 6 7

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falls einen Blitzschlag auslösen könne, und versicherte zur Beruhigung, er wolle doch seine Freunde nicht in Angst und Schrecken versetzen. 13 Endgültig bestätigt wurde die Selbsteinstufung Alexanders, als er sich in der Oase Siwa dem Heiligtum des Zeus Ammon näherte und vom Sprecher (προφήτης) des Gottes als unbesiegbarer Sohn des Zeus begrüßt wurde. Als er sich einige Augenblicke später erkundigte, ob alle Mörder seines Vaters bestraft seien, bedeutete ihm der Sprecher, er solle sich korrekterweise nach den Mördern Philipps erkundigen; denn sein wirklicher Vater sei kein Sterblicher, der getötet werden könne. 14 Unter all diesen Umständen musste es Alexander schon nahezu logisch zwingend erscheinen, von den griechischen Städten wie ein Gott behandelt zu werden, zumal er König nur der Makedonen war und sich daher die Loyalität der Griechen eben auf diese Weise zu sichern gedachte. Mit dem Erfolg konnte Alexander zufrieden sein. In Babylon bekränzten ihn Delegationen aus ganz Griechenland, die wie eine heilige Festgesandtschaft (θεωροί) zur Verehrung eines Gottes an ihn herantraten und ihn mit einer goldenen Krone auszeichneten. 15 Alexander hatte es geschafft, die Welt mit seiner Erhabenheit zu beeindrucken. 16 Bei aller Umsicht, mit der Alexander sich zu einem göttergleichen Wesen stilisierte, konnte ihm nicht entgangen sein, dass es mit dem Ansehen seiner Familie nicht zum Besten stand. Es spielte keine Rolle, ob die vielen abträglichen Geschichten, die sich um seine Familie rankten, zutrafen oder nicht. Sie schadeten so oder so; er musste deshalb ein wirksames Zeichen setzen und tat dies in Olympia, dem höchsten Kultort der Griechen, der das Bewusstsein ihrer Gemeinsamkeit in ausgezeichneter Weise verkörperte. Dort errichtete er in der Nordwestecke der Altis einen Monopteros, unter dessen schützendes Dach er neben seiner eigenen Statue die Statuen seiner Großeltern, Amyntas III. und Eurydike, und seiner Eltern, Philipp II. und Olympias, stellen ließ. Diese fünf Statuen bestanden aus Goldelfenbein, also aus demselben Material, mit dem Phidias die berühmte Zeusstatue für den nur wenige Schritte entfernten Zeustempel gePlutarch, Alexander 28, 2. Arrian, Anabasis 3, 3, 1–4 und 4, 9, 9; Iustin 11, 11, 2–9; Diodor 17, 51, 1–4; Curtius Rufus, Historiae 4, 7, 25; Plutarch, Alexander 27, 3–4. 15 Arrian 7, 23, 2. Später sollten, wenn sie ein Anliegen hatten, auch an Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes nicht gewöhnliche Bürger, sondern nur heilige Festgesandte herantreten (Plutarch, Demetrios 11, 1). 16 Arrian 7, 29, 3. 13 14

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schaffen hatte. 17 Geradezu kontrafaktisch vermittelte nun der Monopteros das Bild einer intakten Herrscherfamilie. Das war bitter nötig. Nach dem (natürlichen) Tod des Amyntas III. soll Eurydike gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn Ptolemaios, zu dem sie zuvor schon ein ehebrecherisches Verhältnis unterhielt, den legitimen Nachfolger Alexander II. ermordet haben, um dem Usurpator Ptolemaios auf den Thron zu verhelfen. 18 Ihn ermordete 365 der soeben volljährig gewordene Perdikkas III., um seinen älteren Bruder zu rächen und um selbst den Thron zu besteigen. Sein jüngerer Bruder Philipp II. stand im Ruf eines Trunkenboldes und Weiberhelden, der dank dieser Neigung seine Familie zerrüttet habe. 19 Von Olympias hieß es, sie habe nach Philipps Tod dessen letzte Ehefrau Kleopatra samt ihrem kleinen Sohn in einen Bronzekessel gezerrt, unter dem sie ein Feuer anzündete, um beide auf diese Weise qualvoll zu töten. 20 Schließlich standen ja, wie gesagt, Olympias und Alexander – und das dürfte am schwersten gewogen haben – in Verdacht, von der Ermordung Philipps mindestens zuvor gewusst zu haben. 21 Wenn Alexander an seinem Ruf und an der Glaubhaftigkeit seiner kultischen Verehrung in Griechenland interessiert war, dann war der Monopteros in Olympia ein politisches Gebot der Stunde. Dass Alexander seinen Status der Göttlichkeit nicht nur in den fernen Städten Griechenlands sichern wollte, sondern nicht minder auch bei den ihm nach Asien gefolgten makedonischen Soldaten, zeigte sich an der Wahl der Form des Kultes für den neuen Gott. An Tempel und Heiligtümer war nicht gedacht. Bei festlichen Gelagen trat aber Alexander wahlweise als Zeus Ammon, als Hermes oder im Artemiskostüm auf 22; und im Alltag bot sich als Lösung die schon etablierte Proskynese an – in ihrer allgemeinen Bedeutung Ausdruck der Ehrerbietung gegenüber einem höheren Wesen. Für die Griechen verstand sich von selbst, dass dieses Wesen nur ein Gott sein durfte. Ihr seid freie Männer, so ruft Xenophon seinen Söldnern zu, ihr verehrt (προσκυνεῖτε) keinen Menschen, sondern nur die Götter. 23 Für die Perser und Meder aber war das zu verehrende höhere Wesen un17 18 19 20 21 22 23

Pausanias 5, 20, 9–10. Iustin 7, 4, 7 bis 7, 5, 5. Aischines (2, 26–27) salviert Eurydike. Theopomp bei Polybios 8, 9, 1–4. Pausanias 8, 7, 7. Vgl. Anm. 2–4, S. 85 f. Athenaios 537 E. Xenophon, Anabasis 3, 2, 13; vgl. Aischylos, Perser 497–499.

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bestritten der Großkönig, den sich Alexander offenbar zum Vorbild genommen hat. Eingeführt wurde die Proskynese als fester Brauch (νόμος) von Kyros d. Ä. 24, und an diesem Brauch sollten alle seine Nachfolger festhalten. Wenn nun Alexander auf diese Vorgabe dankbar zurückgriff, so hatte das für ihn neben der Lösung des unmittelbaren Problems weiterhin noch einen doppelten Vorteil. Zum einen konnte er an eine traditionelle Form anknüpfen, ohne die ein Kult kein Kult ist; und zum anderen verpflichtete diese Form der Ehrerbietung zwar weniger die Städte im fernen Griechenland, wohl aber die Angehörigen der makedonischen Truppenverbände, die nunmehr ebenso wie die Barbaren die Proskynese zu beachten hatten und mit diesem gemeinsamen Ritual ein Alexander so erwünschtes Zeichen für die Einheit beider Völkergruppen setzen sollten. Proskynese wird gerne mit Kniefall übersetzt. Diese Übersetzung passt aber weder zur Wirklichkeitsform der Proskynese in Anwesenheit des Königs noch zu der in seiner Abwesenheit. Die letztere Form der Proskynese ist die Übertragung einer eingeführten Form der Verehrung des Guten Daimon (genius), unter dem konkret Zeus der Retter oder Hygieia verstanden wird, auf ein Moment des Herrscherkultes. Im griechischen Symposion, einer ursprünglich sakralen Begehung, wird nach dem Essen ungemischter Wein in geringer Menge serviert, der mit seiner Kraft an die Kraft des Gottes erinnern soll. So erweisen die Teilnehmer dem Gott die Ehre (προσκυνήσαντες) und räumen gleich danach den Tisch ab, um dem Gott zu versichern, sie planten keinen Trinkexzess. 25 Bei der orientalischen Variante dieser Form von Proskynese stoßen die Teilnehmer des Gastmahls allerdings nicht auf den Daimon des Zeus an, sondern auf den Daimon des (abwesenden) Königs. 26 Besonders Beflissene decken auch bei ihrer alltäglichen Mahlzeit eigens einen weiteren Tisch für den Daimon des Königs. 27 Nun erklärt aber diese eher harmlose Form der Verehrung des abwesenden Gottes oder des abwesenden Herrschers noch nicht die Empörung der Makedonen über Alexanders Ansinnen; denn über einen Kniefall vor dem anwesenden Herrscher ließe sich zur Not ja noch reden. Eine Erklärung liefert vielmehr die konkrete Form der Proskynese in Anwesenheit des Königs, wenn sich 24 25 26 27

Xenophon, Kyrupädie 8, 3, 14; vgl. ebd. 5, 3, 18. Athenaios (692 F–694 F) unter Berufung auf Theophrast. Plutarch, Artaxerxes 15, 5. Athenaios 252 B–C.

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der verehrende Untertan vor ihm mit ganzer Länge auf die Erde zu werfen hatte. Laut Curtius Rufus befahl Alexander seinen Soldaten, sich nach persischer Sitte zu seiner Begrüßung vor ihm auf den Boden zu werfen (iussit more Persarum Macedonas venerabundos ipsum salutare prosternentes humi corpora). 28 Athenaios (153 A) berichtet von einem unglücklichen Untertanen, der dem Partherkönig die Ehre der Proskynese erwies, indem er sich kopfüber vor ihm auf die Erde warf. Auch Herodot bestätigt, dass sich der Ehrerbietende vor dem Großkönig auf die Erde werfen muss (προσπίπτειν); und diese Zumutung hätten spartanische Gesandte beim Großkönig selbst für den Fall zurückgewiesen, dass sie, um den Vorgang ein wenig zu bemänteln, von Lanzenträgern mit dem Kopf auf die Erde gestoßen würden. 29 Isokrates rügt, auf diese Weise werde den Untertanen Kleinmut eingeflößt, wenn sie sich bei der Proskynese niederwerfen (προκαλινδούμενοι) und einem Sterblichen wie einem Daimon huldigen. 30 Von einem bloßem Kniefall kann bei dieser Form der Selbsterniedrigung wohl kaum die Rede sein. Für die Griechen stellte die unter den Persern schon eingebürgerte Form der Proskynese naturgemäß eine besondere Zumutung dar. Als der verbannte Themistokles mit Xerxes Kontakt aufnahm, bedeutete ihm Artabanes, er müsse aber bei der Begrüßung des Großkönigs der bekannten persischen Sitte genügen, was Themistokles wohl ober übel auf sich nahm. 31 Als der Thebaner Ismenias zur Proskynese vor dem Großkönig aufgefordert wurde, warf er vor ihm einen Ring auf die Erde, bückte sich, um den Ring wieder aufzuheben, und erweckte so den Anschein einer Proskynese. 32 Als der Athener Admiral Konon ein Gespräch mit dem Großkönig wünschte, riet ihm der Perser Tithraustes, er solle lieber einen Brief schreiben, da ein Gespräch mit dem König ohne Proskynese gar nicht erst zustande komme. Konon nahm den Rat an und schrieb einen Brief. 33 All diese zerstreuten Nachrichten geben neben der allgemeinen Bedeutung von Proskynese auch die prägnante zu erkennen, die Aristoteles im Auge hatte, als er diese als barbarische Sitte apostrophierte und mit

28 29 30 31 32 33

Curtius Rufus, Historiae 8, 5, 6. Herodot 1, 134, 1 und 7, 136, 1. Isokrates 4, 151. Plutarch, Themistokles 27, 3–28, 1. Plutarch, Artaxerxes 22, 4. Cornelius Nepos, De excellentibus ducibus exterarum gentium: Konon 3, 4.

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der ἔκστασις, dem Sich-Entfernen vom Großkönig unter Vermeidung des Blickkontaktes, in Verbindung brachte. 34 Kallisthenes von Olynth, der Neffe des Aristoteles, brachte zum Ausdruck, was die meisten Makedonen über das neue Ritual dachten. Dieser Kallisthenes diente neben Anaximenes von Lampsakos 35 im makedonischen Heer als Tagebuch führender Historiker zur Dokumentation der Taten und Ereignisse. Wie auch mehrere Dichter und Philosophen begleiteten beide Historiker Alexander unter dem Sammelnamen von Sophisten. 36 Mit einigen dieser Sophisten und hochrangigen Persern hatte Alexander sein Vorhaben, die Proskynese einzuführen, besprochen, die doch auch in griechischen Augen nicht anstößig sein könne, da er ja nicht der Sohn Philipps sei, sondern des Zeus Ammon. 37 Eingeführt werden solle das Ritual bei einem Trinkgelage. 38 Der Sophist Anaxarchos aus Abdera pflichtete bei, Alexander verdiene göttliche Ehren mehr als Dionysos und Herakles, zumal diese keine Makedonen seien. Denn seine Soldaten sollten lieber ihrem eigenen König göttliche Ehren erweisen, die ihm nach seinen Tod ohnehin sicher seien; warum dann aber nicht auch schon zu seinen Lebzeiten, wenn er noch etwas davon habe. 39 Einige Makedonen stimmten zu, aber die meisten schwiegen betreten. Für sie also erhob Kallisthenes seine Stimme: Alexander verdiene jede erdenkliche Ehre, die Menschen überhaupt zukommen könne; aber Tempel und Heiligtümer seien für die Göttern reserviert. Der wichtigste Unterschied aber betreffe die Proskynese. 40 Der Wangenkuss bei der Begrüßung sei unter Menschen üblich, aber das Göttliche schwebe so hoch über den Menschen, dass es jedweder Berührung entzogen sei und gerade deshalb exklusiv durch die Proskynese geehrt werde. 41 Außerdem Aristoteles, Rhetorik 1361 a 36. Die Teilnahme des Anaximenes am Alexanderfeldzug wird bisweilen angezweifelt. Die mit einer Theogonie beginnende Universalgeschichte des Anaximenes endet zwar laut Diodor (15, 89, 2–3) schon mit der Schlacht bei Mantineia (362), aber laut Pausanias (6, 19, 2) erst mit den Taten Alexanders. Harpokration bestätigt s. v. ἀνικάκης und s. v. Ἀλκίμαχος, dass Anaximenes mindestens zwei Bücher »Über Alexander« verfasst hat; und laut Suda s. v. Anaximenes war er einer der Lehrer Alexanders und folgte ihm auf seinen Feldzügen. 36 Arrian, Anabasis 4, 9, 9; 4, 10, 1–2; Plutarch, Alexander 53, 1. 37 Arrian, Anabasis 4, 9, 9. 38 Ebd. 4, 10, 5. 39 Ebd. 4, 10, 6–7. 40 Ebd. 4, 11, 1–2. 41 Ebd. 4, 11, 3. 34 35

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laufe doch die maßlose Ehrung Sterblicher auf eine Herabstufung der Götter hinaus. Nicht einmal Herakles sei schon vor seinem Tod in den Olymp aufgenommen worden. 42 Außerdem solle sich Alexander vor Augen führen, dass er bald nach Griechenland, in das Land der freiesten Menschen, zurückkehren werde: Wolle er dann etwa bei den Makedonen die Proskynese aufrechterhalten, die übrigen Griechen aber verschonen? 43 Wenn schließlich Kyros d. Ä. die Proskynese eingeführt habe, so solle Alexander bedenken, wie viele Rückschläge dieser und mehr noch seine Nachfahren erlitten hätten. 44 Alexander war verärgert, aber den Makedonen sprach Kallisthenes aus dem Herzen. Immerhin zögerte Alexander einen Augenblick, bis er dann bei dem fraglichen Gelage doch erstmals das Ritual durchführen ließ. Er gab einem seiner Freunde den Becher, der daraus trank, die Proskynese vollzog und darauf den Wangenkuss von Alexander zu empfing. So spielte jeder Anwesende mit, wie er sollte, bis die Reihe an Kallisthenes als Letzten kam. Er trank aus dem Becher und ging auf Alexander zu; da aber intervenierte ein gewisser Demetrios Pheidon und forderte Alexander auf, ihm den Wangenkuss zu verweigern; denn Kallisthenes habe, als der König abgelenkt war, die Proskynese unterlassen. 45 Die Haltung des Kallisthenes bei der makedonischen Premiere der Proskynese sollte für ihn noch ein trauriges Nachspiel haben. Als der Knappe Hermolaos, ein Freund des Kallisthenes, wegen einer Nichtigkeit von Alexander ausgepeitscht wurde, zettelten die Knappen eine Verschwörung an, die von einer syrischen Seherin aufgedeckt und Alexander gemeldet wurde. 46 Er ließ darauf die Knappen steinigen, während er den Sophisten Kallisthenes, wie er Antipatros in einem Brief mitteilte, zusammen mit denen bestrafen werde, die ihn zu ihm geschickt hätten. In Gegenwart des Aristoteles werde er Kallisthenes in Makedonien vor Gericht stellen 47, obwohl gerade Aristoteles seinen Neffen vor undiplomatischem Insistieren gegenüber Alexander gewarnt hatte. 48 Bevor es aber zu einem Prozess kommen konnte, ist Kallisthenes an den Folgen seiner grausamen Miss42 43 44 45 46 47 48

Ebd. 4, 11, 4/7. Ebd. 4, 11, 7–8. Ebd. 4, 11, 9 Ebd. 4, 12, 1–4; Plutarch, Alexander 64, 3–4. Arrian, Anabasis 4, 13–14. Plutarch, Alexander 55, 4. Valerius Maximus 7, 2: exempla externa 11a.

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handlungen gestorben. 49 Mit dem Tod des Kallisthenes im Jahre 328/ 27 wurde der Bruch zwischen Aristoteles und Alexander unheilbar. Die Nachricht vom Schicksal des Kallisthenes löste im Lykeion Trauer und Entsetzen aus. Theophrast war zutiefst bestürzt und verlieh seinen Gefühlen in der (nicht erhaltenen) Schrift »Kallisthenes oder über die Trauer« Ausdruck. 50 Cicero kannte die Schrift noch und berichtet, Theophrast habe den Tod des Kallisthenes wütend beklagt; er sei einem Mann zum Opfer gefallen, der nicht imstande sei, von seinem unglaublichen Glück den angemessenen Gebrauch zu machen. 51 Mit diesem Vorwurf hob Theophrast auf einen in der Antike wesentlichen Topos ab, ob nämlich große Männer wie in diesem Fall Alexander ihr Glück auch verdient hätten oder nicht. Noch Plutarch sollte sich mit dieser Frage befassen, vertrat aber anders als Theophrast die These, Alexander habe sein Glück sehr wohl verdient. 52 Aristoteles war, wie sich denken lässt, über die Zumutung der Vergöttlichung Alexanders samt einhergehender Proskynese nicht minder empört als über das Schicksal des Kallisthenes. Die zornige Reaktion des Aristoteles auf das Ansinnen Alexanders ist bei Plutarch (Moralia 472 E) überliefert: In einem Brief an Antipatros, den ihm befreundeten Reichsverweser Alexanders in Makedonien, der später als einziger Diadoche den Herrscherkult nach Alexanders Vorbild ablehnte, weil das ein Frevel sei 53, beschwerte Aristoteles sich bitter, es dürften nicht nur Könige stolz auf sich sein, wenn sie viele Untertanen beherrschten, sondern auch Gebildete, wenn sie über die Götter die richtigen Auffassungen hegten. Was Aristoteles damit sagen will, liegt auf der Hand: Er versteht das Göttliche als eine unbewegt bewegende Größe 54, die – in der Weltenmitte ohne extreme Ausschläge in ewiger Muße angesiedelt – auf keinen Fall einem ziellosen, mußefeindlichen Dauerkrieg zum Vorbild dienen kann. Wäre Alexander wirklich Sohn des obersten Gottes, dann handelte er im Widerspruch zu seinem angeblich angeborenen Wesen. Denn Alexander führte im Osten nach dem Tod des Dareios III. ohne plausibles Ziel weiterhin endlos Krieg, während für Aristoteles im Einklang mit seinem Begriff vom wahrhaft Göttlichen der Krieg seinem Wesen nach lediglich Mit49 50 51 52 53 54

Plutarch, Alexander 55, 5. Schriftenverzeichnis bei Diogenes Laertios 5, 44. Cicero, Tusculanae disputationes 3, 21. Plutarch, Moralia 340 A–B. Suda s. v. Antipatros. Aristoteles, Metaphysik 1012 b 31, 1074 a 37.

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tel zum Zweck ist (Politik 1325 a 5–7), um nämlich hernach in Muße und Frieden leben zu können. 55 Darüber hinaus musste sich Aristoteles auch ganz persönlich als Philosoph in seinem Selbstverständnis zurückgesetzt fühlen. Es erschien ihm durchaus menschenmöglich, unsterblich zu werden (ἀθανατίζειν), aber ausschließlich dann, wenn bestimmte Menschen oder – genauer – die Philosophen in Muße die Vernunft (νοῦς) als das Göttliche in sich wirken lassen (NE 1177 b 30–34). Die theoretische Tätigkeit ist von allen menschlichen Tätigkeiten den Göttern am meisten verwandt (NE 1178 b 21–23). Daher sind die Philosophen den Göttern, sollten sie sich überhaupt um menschliche Angelegenheiten kümmern, auch am liebsten, weil sie ihrer Wesensart am nächsten kommen (NE 1179 a 22–32). Aristoteles musste sich daher im Innersten getroffen fühlen, wenn der Schüler eine Götternähe für sich beanspruchte, die in Wahrheit eher seinen Lehrer charakterisierte. Neben dem Anspruch auf Herrscherkult und dem Schicksal des Kallisthenes traf Aristoteles obendrein noch die unerwartete Abkehr seines einstigen Schülers von der Theorie der qualitativen Differenz zwischen Griechen und Barbaren. Wie Plutarch berichtet, distanzierte sich Alexander von dieser Theorie ausdrücklich in trotziger Abkehr von seinem Lehrer. 56 Die Idee des Stoikers Zenon, dass alle ohne Unterschied als Gleiche Angehörige einer umfassenden Weltbürgerschaft sein sollten, habe Alexander schon vorweggenommen und mit Leben erfüllt. So habe Alexander tatsächlich lieber nach Tugend und Schlechtigkeit als nach Grieche und Barbar unterschieden. Entsprechend habe er den Rat des Aristoteles zurückgewiesen, Griechen als Anführender (ἡγεμών) wie Freunde, Barbaren aber gleichsam als sklavenhaltender Hausherr (δεσπότης) wie Tiere und Pflanzen zu behandeln. 57 Zur Ehre des Aristoteles sei angemerkt, dass der Vergleich der Barbaren mit Tieren und Pflanzen nur sekundär überliefert ist und sich nirgends in einem von Aristoteles autorisierten Text findet. Wie immer der Rat des Aristoteles formuliert war, er musste, wie Aristoteles, Politik 1333 a 35; NE 1177 b 4–12. Plutarch 329 B–D. 57 Strabon 1, 4, 9 (66–67 C), der eine gleichlautende Äußerung bezüglich des Aristoteles überliefert, schreibt diese allerdings nicht Zenon gut, sondern dessen Schüler Eratosthenes. W. D. Ross ordnet in seinen Fragmenta Selecta des Aristoteles (S. 62 f.) die Zitate aus Plutarch und Strabon der Schrift »Alexander oder über die Kolonie« zu, während V. Rose sie als Fragment 658 unter seinen Briefen an Alexander führt. 55 56

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Plutarch weiter ausführt, dem Schüler schon deswegen undurchführbar erscheinen, weil er sich bei Befolgung des Rates nur kaum zu bändigende Proteste, Obstruktionen und Aufstände eingehandelt hätte. Zur Unterstreichung seiner stattdessen auf Aussöhnung bedachten Politik, die ja ebenso schon bei der Einführung der Proskynese für alle eine Rolle spielte, opferte Alexander bei einem Gelage zusammen mit Makedonen und Persern und betete dafür, dass beide Völker in politischer Eintracht unter einer gemeinsamen Herrschaft leben sollten. 58 Die größte Inszenierung unter diesem Leitgedanken war die fünftägige Massenhochzeit 324 in Susa. Einen zuverlässigen Augenzeugenbericht verdanken wir Chares von Mytilene, dessen einschlägige Passage zu dem Ereignis bei Athenaios zitiert ist. 59 Als εἰσαγγελεύς, der im Vorraum bestimmte, wer zu einer Audienz zum König zugelassen wurde, wusste Chares alles aus erster Hand. Demnach ließ Alexander in einem quadratischen Festzelt von fast 200 Metern Seitenlänge für 92 seiner Getreuen Brautgemächer einteilen, wo sie mit einer Braut aus persischem Adel Hochzeit feierten. Leider fehlt in dem Chareszitat ein Hinweis, inwieweit Alexander selbst mit gutem Beispiel voranging. Nach anderen Quellen begnügte er sich mal mit einer Frau, mal mit zweien, deren Namen zudem verschieden angegeben werden. Wahrscheinlich waren die Auserwählten Stateira, die Tochter des Dareios III., und Parysatis, die Tochter des Artaxerxes III. Ochos. Bei dieser Gelegenheit erhielten auch etwa 10 000 Makedonen, die zuvor schon Perserinnen geheiratet hatten, Aussteuergeschenke vom König, der obendrein auch noch ihre Schulden übernahm. 60 Von den Ehen der 92 höheren Chargen hat allerdings nur die des Seleukos mit Apame gehalten, die zur Stammmutter der Seleukiden wurde. 61 In einer Ansprache an seine persischen Soldaten machte Alexander deutlich, dass für ihn diese große Hochzeit dieselbe Bedeutung habe wie deren gleichberechtigte Eingliederung in das makedonische Heer: Auf allen Ebenen solle Gleichheit herrschen zwischen den Einwohnern Europas und Asiens. 62 Der Herrscherkult und die Forcierung der Gleichheit von GrieArrian, Anabasis 7, 11, 8–9; Curtius Rufus, Historiae 10, 3, 10–14. Athenaios 538 B–539 A = FGH 125 F 4. 60 Arrian, Anabasis 7, 4, 4–8; Plutarch, Alexander 70, 2 und Moralia 329 D–E; Diodor 17, 107, 6; Iustin 12, 10, 9–10. 61 Arrian, Anabasis 7, 4, 6. 62 Curtius Rufus 10, 3, 11–12. 58 59

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chen und Barbaren waren für Aristoteles gleichermaßen inakzeptabel. So sehr waren am Ende der Philosoph und der König verfeindet, dass man Aristoteles sogar zutraute, er habe seine Hand im Spiel gehabt, als Alexander 323 plötzlich offenbar an einer Alkoholvergiftung starb. 63 Für diese Todesursache spricht die größte Wahrscheinlichkeit, zumal Alexanders chronische Trunksucht bei mehreren Autoren bestätigt ist. 64 Kallisthenes lehnte es ab, in Alexanders Trinkrunden mit ungeschmischtem Wein mitzuhalten, da er sonst unweigerlich des Asklepios bedürfe. 65 Gleichwohl glaubten einige Autoren an ein anderes Gift als Alkohol und konkretisierten auch ihre Vermutung. Laut Diodor (17, 118, 1) war der Reichsverweser Antipatros der Mann, der seinen Sohn Kassandros, Alexanders Mundschenk, veranlasste, dem König den tödlichen Trank zu verabreichen, weil er empört war über die Ermordung des Parmenion und des Philotas. Iustin (12, 14, 1–9) und Arrian (7, 27, 1) hingegen berichten von der Version, es sei niemand anders als Aristoteles gewesen, der aus Furcht vor Alexanders Zorn wegen der Kallisthenesaffäre für Antipatros das Gift bereitgestellt habe, das Kassandros, einst Schüler des Aristoteles 66, Alexander verabreichen sollte. Laut Plutarch (Alexander 77, 1–2) geht diese Version auf König Antigonos zurück; aufgebracht habe sie aber Olympias, und zwar nicht etwa gleich beim Tod ihres Sohnes Alexander, sondern nachträglich erst fünf Jahre später, also vier Jahre nach dem Tod des Aristoteles, als sie eine Rechtfertigung benötigte für die Ermordung des Kassandrosbruders Iollas, der dann eigentlich der Mann gewesen sein musste, der das tödliche Gift in ein Getränk für Alexander einflößte. 67 Immerhin muss der 322 nach dem Lamischen Krieg von Antipatros hingerichete Hypereides schon mit dieser Möglichkeit gerechnet haben; denn er stellte die Forderung, Iollas für seine mutige Tat zu ehren. 68 Der Alkohol, aber nicht das Komplott, das Olympias in einer abenteuerlichen Konstruktion als Ursache erkannt haben wollte, führte zum Tode Alexanders. Zwar konnte Plutarch Aristoteles gegen ihre Anschuldigungen überzeugend salvieren, aber einige VoraussetPlutarch, Alexander 75, 3–4. Arrian 4, 8, 2; Curtius Rufus 8, 1, 20–21; Plutarch, Alexander 50, 4–5 und Moralia 337 F, 339 F. 65 Plutarch, Moralia 454 D und 623 D–624 E; Athenaios 434 D. 66 Plutarch, Alexander 74, 3. 67 Arrian 7, 27, 2; Curtius Rufus 10, 10, 12–20. 68 Plutarch, Moralia 849 F. 63 64

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zungen der Version der Olympias stimmten sehr wohl. Sie ging mit Recht davon aus, dass Aristoteles und Antipatros Freunde waren und dass die Familie des Antipatros ihr Feind war, was sich bewahrheitete, als im Jahre 316 Kassandros, nachdem er sie in Pydna belagert hatte, für ihre Ermordung sorgte. 69 Schließlich konnte Olympias auch damit rechnen, dass schon weithin bekannt war, wie sehr das Verhältnis des Philosophen und des Eroberers zerrüttet war. Sonst hätte sie nicht erwarten können, dass ihr überhaupt jemand ihre Geschichte abgenommen hätte, in der sie Aristoteles der Beihilfe zum Giftmord bezichtigte. Die Zerstrittenheit der beiden Männer – das musste zumindest den besser Informierten bewusst sein – hatte dafür gesorgt, dass Aristoteles das Ziel seiner Arbeit nicht erreicht hatte. Es musste ihn empören, dass der Entwurf einer letztlich von Platon inspirierten Politie schon verworfen war, bevor er überhaupt erste Konturen annehmen konnte. Zu dieser Absage genügte schon die Weigerung Alexanders, den Völkern Asiens den Status eines Sklavenreservoirs aufzuzwingen, aus dem sich griechische Granden bedienen könnten. Ein Übriges tat die mit dem Herrscherkult verbundene Proskynese, die griechischen Großbürgern einfach nicht zuzumuten war. Zu den sachlichen Differenzen kam der vom König zu verantwortende Tod des Kallisthenes hinzu. Aristoteles hätte also Gründe gehabt, das Gift zu beschaffen, aber er hat es nicht getan. Schon mit seiner Weigerung, griechischen Siedlern die für sie geforderten Sklaven zuzugestehen, hatte Alexander also den gesamten Entwurf einer aristokratischen idealen Politie zu Fall gebracht. An der Anerkennung dieser Tatsache kam Aristoteles auf keinen Fall vorbei. Ungewiss ist, ob er vielleicht sogar innerlich anerkannte, dass Alexanders Ablehnungsargument, man könne nicht ganze Völkerscharen versklaven, nicht nur realpolitisch opportun, sondern im Kern auch höchst legitim, weitsichtig und sittlich geboten war. So oder so, Aristoteles musste sich darüber hinaus fragen, ob neben der verweigerten Versklavung nicht auch Schwächen in der Theoriebildung das Scheitern seines idealstaatlichen Programms erklärten und nicht lediglich der Umstand, dass die Frage, wer die Arbeit macht, ohne den systematischen Einsatz von Sklaven unbeantwortet geblieben wäre. Aristoteles musste mit weitergehenden Überlegungen bei der Ursachenforschung alle denkbaren Umstände einbeziehen und Diodor 19, 51, 5; Iustin 14, 6, 11; laut Pausanias 9, 7, 2 hat Kassandros Olympias steinigen lassen.

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insbesondere überprüfen, ob nicht schon vom Grundsatz her in seinem Idealstaat trotz aller Modifikation immer noch zu viel platonischer Vorstellungshorizont Pate gestanden hatte. Da hätte der wohlfeile Hinweis, Platon habe Politik als die Kunst des Unmöglichen gelehrt, allein wohl kaum weitergeholfen. Aristoteles hätte vielmehr in seinem hermeneutischen Vorgehen noch konsequenter sein müssen und im Blick auf erfahrbare Tatsachen der Frage nachgehen, wie eine Verfassung in der geschichtlichen Welt wirklich entsteht, ob ihr Werden im Ausgang von der menschlichen Bedürfnisnatur durch reines Denken rekonstruiert 70 und das normative Ergebnis hernach im Wege einer Proklamation an das Volk herangetragen wird oder ob nicht das Volk selbst in einem mehr oder weniger organischen Geschichtsprozess so lange an der Entwicklung seiner Verfassung direkt wie indirekt mitwirkt, bis es endlich überzeugt ist, seine ihm eigenen Perspektiven in dieser Verfassung wiederzuerkennen. Zudem musste er sich fragen, wie Sittlichkeit einen Staat mit Anspruch auf institutionalisierte Ethik durchdringen kann, wenn sie in der Zeitphase vor dem angenommenen Nullpunkt per definitionem nicht bestanden hatte. Überraschenderweise wird sich Aristoteles in dieser Frage, zu deren Austragung die neue Sachlage den früheren Platonschüler nunmehr nötigte, ausgerechnet von den Athenern belehren lassen, deren Demokratie er, auch darin Platon folgend, noch vor gut einem Jahrzehnt unter fünf Möglichkeiten als deren schlimmste eingestuft hatte. Immerhin hat Aristoteles mit seinem Einlenken die Maxime, das, was ist, als das Wesentliche auszusagen, gerade nicht preisgegeben, sondern dieser lediglich durch Änderung des Ausgangsstandpunktes zu neuer Tragfähigkeit verholfen. An den Kriterien im Sinne der wesentlichen Merkmale der Polis, die er in einem ersten großen Schritt in den Büchern I bis III der Politik systematisch erfasst hatte, hielt er fest. Auf die Aussöhnungsvorschläge, die er als Schlichter entwickelt hatte, griff er nicht zurück, da sie von der demokratisch verwalteten Polis nicht angenommen waren, und der Standpunkt eines Planers aristokratischer Idealstädte in Kleinasien hatte sich ohnehin erledigt. Vielmehr drängte es sich geradezu auf, das Verdikt der Schule über die attische Demokratie einer Revision zu unterziehen, die über die Nullpunkttheorie hinaus auch die pauschale Disqualifikation der Menge in hermeneutischer Argumentation zu überprüfen 70

Diesen Ausgangspunkt hatte ja Platon (Politeia 369 A–C) gewählt.

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hätte. In Details war das auch schon in der Politik geschehen. Zum systematischen Leitgedanken erhob Aristoteles schließlich die Vermutung, ob nicht die Menge reif sei für eine Ehrenrettung, erst in der Athenaion Politeia (AP), die er nach 329/28 niedergeschrieben hat. Dieser terminus post quem ergibt sich daraus, dass er in der AP (54, 7) das unter dem Archontat des Kephisophon eingeführte Hephaistosfest erwähnt; und Kephisophon war laut Athener Archontenliste im Jahre 329/28 eponymer Archont – ein Jahr also vor dem Tod des Kallisthenes. Schon das Erscheinungsdatum 329/28 gibt zu erkennen, dass die AP nicht in die alte Sammlung der 158 Verfassungen zur Vorbereitung der Politik in praktischer Absicht gehört. Warum hätte auch Aristoteles Daten über eine Stadt sammeln sollen, die ihm ohnehin wohlbekannt war, weil er dort schon seit Jahren lebte? Zudem gehen den 29 Kapiteln, die die attische Verfassung des vierten Jahrhunderts darstellen, 40 Kapitel voraus, die die Geschichte Athens von Ion, dem Sohn Apollons, bis zu den Dreißig Tyrannen rekapitulieren und wohl kaum zur Bewältigung aktueller Krisen hätten beitragen können. Dass ein solcher Beitrag wenigstens teilweise beabsichtigt war, ließe sich auch dann nicht durchfechten, wenn man die ersten 40 Kapitel als »historisch« und die letzten 29 als »systematisch« verrechnete. Alle elf von Aristoteles unterschiedenen Entwicklungsstufen der attischen Verfassung setzen gleichermaßen mit einer Wende (μεταβολή) ein. Dieser noch näher zu erläuternde Begriff, der den Anfang der ersten zehn Verfassungsstufen ebenso wie den der letzten markiert, gibt zu erkennen, dass sich die systematische Intention der AP nicht auf die Verfassung des vierten Jahrhunderts beschränkt, sondern mehr im Sinn hat, nämlich gleichsam in einer Palinodie zu demonstrieren, dass eine Verfassung nicht irgendwann einmal aus dem Gedanken einer Schule hervorgeht, sondern darin vom Willen der Menge getragen auf einen langen geschichtlichen Werdegang zurückblickt, der zu seiner gegenwärtigen Gestalt konstitutiv dazugehört. Auf diese Demonstration aber, die eine in der Politik noch unterbliebene Klärung nachholen sollte, kam es Aristoteles in der AP als einer Monographie sui generis offenbar an. Wenn sich nun Aristoteles in der AP tatsächlich dieser Grundsatzfrage widmet, wie eine Verfassung wirklich zustande kommt, und dieses allgemeine Thema am konkreten Modell der attischen Demokratie erörtert, dann stellt er auf jeden Fall die Frage quid facti; und da er gerade bei einer derartigen Tatbestandsaufnahme Platons Be99 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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schluss nicht ignorieren durfte, die faktische Demokratie seit Kleisthenes sei der Tiefpunkt der Geschichte Athens, kam er nicht umhin, sich gleich nach der Frage quid facti auch mit der Frage quid iuris zu befassen. Dass sich also Aristoteles nicht mit einer unvollständigen Palinodie begnügen konnte, musste indes nicht notwendig auf eine erneuerte Gefährdung des Ansehens der attischen Demokratie hinauslaufen. Denn sollte sie sich auch noch das Gütesiegel eines höchst legitimen, weil Recht und Gesetz achtenden Gemeinwesens verdienen und damit das Misstrauen der alten Akademie gegen die Menge entkräften, dann könnte bis auf weiteres die Suche nach dem idealen Vernunftstaat suspendiert werden, weil dessen Grundforderungen ohnehin schon erfüllt wären. Von einer solchen Erwartung hätte sich mit Sicherheit jene frühere Sammlung von Verfassungen, hätte sie unnötigerweise auch die attische Demokratie erfasst, wohl kaum leiten lassen.

Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia – quid facti Unglücklicherweise sind das Prooemium und die ersten Kapitel der AP nicht erhalten. Somit fehlt eine von Aristoteles autorisierte Absichtserklärung, wie man sie ja in einem Prooemium erwarten darf. Auch können wir nur vermuten, wie Aristoteles das Axiom nihil fit ex nihilo auf seine Darstellung der Anfänge Athens angewendet hat. Offenbar nahm er vor dem Einsetzen der Geschichte des attischen Staates keinen Naturzustand à la Hobbes an, sondern die mythische Tatsache der Zeugung Ions durch Apollon, den die Athener mit der Epiklese Patroos als ihren Stammvater mit einem Tempel auf der Agora verehrten. Apollon war auch für die Schule ein besonders verehrungswürdiger Gott. Schließlich ließ sich Chairephon in Delphi bestätigen, dass niemand weiser sei als Sokrates 1; und Sokrates selbst beschwörte als Apollonverehrer am Tag seiner Hinrichtung die Gelassenheit der dem Gott heiligen Schwäne, die in Kenntnis der Vorzüge ihres Lebens hernach heiter in den Tod gehen. 2 Mochte vor einem anzunehmenden Nullpunkt tatsächlich noch kein Staat bestan1 2

Platon, Apologie 21 A. Platon, Phaidon 84 E–85 B.

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den haben, so nötigte dieses Fehlen keineswegs zur Annahme eines reinen Naturzustandes; davor schützte Apollon, der Gott, der in besonderem Maße das Prinzip der Sittlichkeit verkörperte. Diese leicht hypothetische Rekonstruktion gilt es nun mit dem klar ersichtlichen Leitbegriff zu verquicken, der der Disposition der Darstellung der athenischen Verfassungsgeschichte zugrunde liegt. Das sind die elf Wenden (μεταβολαί), die in einem jahrhundertelangen Prozess aus Sicht des am Ende siegreichen Demos meist Schritte nach vorne, bisweilen aber auch Rückschritte darstellten. Der Staat kommt nicht per Dekret zustande, sondern in einem organischen Geschichtsprozess, der von Anbeginn auf einer von Apollon garantierten sittlichen Grundlage ruht. Diese These verifiziert Aristoteles am Fallbeispiel der Geschichte der Stadt Athen, deren Verfassung sich in einem langen Prozess mit Knotenpunkten, eben jenen elf Wenden herausgebildet hat. Gleich für die erste Wende unter Ion betont Aristoteles, dass die Einigung auf ein erstes Verfassungsinstitut nicht vor der Ansiedlung der Bürger erfolgt, sondern danach. Denn die Einführung einer ersten verfassungsähnlichen Regelung war die Tat Ions und derer, die sich zusammen mit ihm schon angesiedelt hatten (συνοικησάντων ist punktuell und infolgedessen vorzeitig: AP 41, 2). Diese beiden Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass die elf Wenden insgesamt einen philosophischen Leitgedanken repräsentieren, von dem sich die AP bei ihrer Darstellung der attischen Verfassungsgeschichte durchgängig hat bestimmen lassen. Diesen philosophischen Deutungsansatz zu substanziieren, ist umso mehr ein Gebot der Gerechtigkeit, als die Auslegungsliteratur die AP bisweilen recht ungnädig behandelt hat. So wurden Zweifel erhoben, ob Aristoteles überhaupt der Autor der Monographie sei. Genährt wurden diese Zweifel unter Verweis auf den Stil des Werkes, seinen Mangel an inhaltlicher und formaler Nähe zur Politik sowie das Fehlen von philosophischer Reflexion in einer rein deskriptiv gehaltenen Schrift. 3 Nun hat V. Rose in seiner Fragmentsammlung insgesamt 90 APZitate aus antiken Autoren zusammengetragen 4, aber keinem einzigen dieser Autoren ist es eingefallen, an der Urheberschaft des Aristoteles zu zweifeln. Mithin dürften sie sich auch nicht am Stil des Diese Zufassung der Einwände folgt J. Düring, Aristoteles, in: RE, SupplementBand XI, Sp. 311. 4 V. Rose, wie Anm. 3, S. 23, Frgg. 381–471. 3

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Werkes gestört haben. Dabei ist zu bedenken, dass den antiken Philologen zum Vergleich weitaus mehr aristotelische Textproben zur Verfügung standen als den modernen. Dass ferner die Politik und die AP nicht immer deckungsgleich sind, ist schon allein dadurch bedingt, dass die Politik die attische Demokratie in ein für sie wenig schmeichelhaftes Raster von Verfassungen einordnet und sie darauf auch noch durch die Planung für einen Idealstaat überbietet, während die AP sie ohne solche Relativierung als Verfassung eigenen Rechts erörtert. Um schließlich auf das vierte Bedenken einzugehen, es mangele der AP an philosophischer Reflexion, gilt es weiter auszuholen, und das insbesondere unter Berücksichtigung der tragenden Bedeutung der elf Wenden, die in der Disposition der AP offenkundig eine so wesentliche Rolle spielen. Die Wende (μεταβολή), eine Erscheinungsform von Bewegung, gehört als Terminus ursprünglich in die Physik, die an sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen feststellt, ob diese hinsichtlich Gestalt, Qualität, Menge oder Ort einen Wandel erfahren. 5 Als Moment der Bewegung von Natur seiender Dinge ist die μεταβολή eine notwendige, aber keineswegs ambivalente oder gar gefährliche Größe. So harmlos bleibt der Begriff aber nicht, wenn er auf die Sphäre menschlichen Handelns übertragen wird. Denn in übertragener Bedeutung ist μεταβολή ebenfalls eine ausschlaggebende, aber auch im höchsten Maße doppeldeutige und riskante Größe. Das zeigt schon die Verwendung des Begriffs bei Platon. Wenn Unqualifizierte die Kompetenzen Qualifizierter an sich reißen, dann markiert eine solche μεταβολή den Untergang des Staates. 6 Gelingt es hingegen einem ehemals in der Höhle Gefangenen, sich aus deren bornierten Perspektiven zu befreien und endlich das Gute als wahren Weltgrund zu erkennen, dann markiert diese μεταβολή das höchste Glück für den Staat. 7 Nicht anders sieht es auf der Theaterbühne aus. Den Höhepunkt der tragischen Handlung, die Peripetie, definiert Aristoteles als Umschlag (μεταβολή) vom Glück ins Unglück oder – allerdings weitaus seltener – vom Unglück ins Glück. 8 Wie auf der Bühne, so ist auch im wirklichen Leben die μεταβολή eher eine Größe, von der wenig Gutes zu erwarten ist. Nicht umsonst behandelt Aristoteles im 5. Buch 5 6 7 8

Aristoteles, Metaphysik 1069 b 3–20. Platon, Politeia 434 B. Ebd. 516 C. Aristoteles, Poetik 1451 a 13–15, 1452 a 22–23.

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der Politik das Thema Stabilität der Verfassungen als Thema der Umsturzverhütung; und Umsturz ist nichts anderes als eine mit hohen Risiken verbundene Form von μεταβολή. Nun weiß wiederum die Bühne mit dem auf die Peripetie folgenden Leid auch ein Gutes zu verbinden. Aischylos (Agamemnon 176– 183) versichert, auf das Unglück des Leidens (πάθος) folge die heilende Kraft des Lernens (μάθος). Das bedeutet aber nicht, dass einmaliges Lernen, das einmalig durch eine leidvolle Wende ausgelöst wird, schon für alle Zukunft eine heilsame Wirkung hervorruft. Vielmehr bedarf es zu solchem Erfolg einer Vielzahl von Wenden, wie Aristoteles wiederum gerade an der Tragödie demonstriert, die sich in einer langen Geschichte Schritt für Schritt entwickelt habe und erst zur Vollendung gelangt sei, nachdem sie eben viele Wenden erlebt habe (πολλὰς μεταβολὰς μεταβαλοῦσα). 9 Im Einzelfall kann die Wende nach wie vor einen schweren politischen Rückschlag bedeuten, aber eine ganze Reihe von Wenden kann als treibende Kraft eines Lern- oder Geschichtsprozesses durchaus auch zu einer nach langem Auf und Ab im Wettstreit der Perspektiven eintretenden Stabilisierung führen. Tatsächlich hat auch die attische Demokratie, wie Aristoteles ihr nachweist, die Gestalt, die sie im 4. Jahrhundert auszeichnet, so und nicht anders auf einem Weg gewonnen, dem willkürlich erscheinende Umwege keineswegs fremd gewesen sind. Den unbehaglichen Gedanken, dann könne ja auch ein blindes Schicksal als treibende Kraft hinter dem Geschehen stecken, lässt Aristoteles jedoch gar nicht erst aufkommen. In seiner Darstellung wird jede Wende von einem seiner begrenzten Ziele vollauf bewussten Bürger mit großem Namen repräsentiert, der seine Autorität naturgemäß nur auf bestimmte Zeit ausübt. Es waren also menschliche Vorkämpfer, die den Geschichtsprozess vorangetrieben haben, aber diese noch so bedeutenden Männer vermochten angesichts ihrer Endlichkeit kein sich kontinuierlich durchhaltendes Substrat des gesamten Prozesses darzustellen. Dieses Substrat konnte nur der die Entelechie verkörpernde Demos oder eben die Menge gewesen sein – ein Zusammenhang, den die Bestimmungen der Metaphysik zum Begriff der Wende als einer Form der Bewegung keineswegs dementieren. Die Wende, für Aristoteles wie gesagt ein Spezialfall von Bewegung, ist ebenso wie jede andere Bewegung auf eine Ursache der Be9

Ebd. 1449 a 13–15.

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wegung zurückzuführen. Die Bedeutung des Leitmotivs der Wenden offenbart sich also im Rückgriff auf die Lehre von den Ursachen (ἀρχαί/causae), die ein Phänomen konstituieren und auf deren Begreifen die Erkenntnis des Phänomens beruht. Diese Ursachen sind neben der causa efficiens (Bewegungsursache/ἀρχὴ τῆς κινήσεως) die causa formalis (Wesen/οὐσία), die causa finalis (Zweck/τὸ οὗ ἕνεκα) und die causa materialis (Stoff/ὕλη). 10 Wesentlich für die Übertragbarkeit des Begriffs der Wende ist der Umstand, dass auch Menschen als eine oder mehrere »Ursachen« fungieren können. Denn Aristoteles führt mit beinahe ausgemachter Selbstverständlichkeit als Beispiel den Künstler an, der bei der Verwandlung (μεταβάλλειν) von Bronze in einen Bronzehohlguss die Ursache der Bewegung ist. 11 Er kennt das Wesen, also Aussehen, Gestalt und Attribute des zu darzustellenden Gottes oder Heroen im Blick auf den kultischen Zweck seines Werkes. Die Materie hingegen, in diesem Fall die Bronze, ist von ihr selbst her nichts als unausgeführte Möglichkeit (δύναμις), und was aus ihr wird, ist allein Sache der drei übrigen Ursachen, die gewissermaßen gemeinsam die Form bildend auf der anderen Seite stehen. Formal auch auf andere Fälle übertragbar, lehrt dieses Beispiel, dass alle vier Ursachen zusammenwirken und dass folglich die Erklärung eines Phänomens aus bloß einer Ursache unvollständig ist. Inhaltlich hingegen handelt es sich bei der Anwendung auf das Phänomen politischer Wendebewegungen um eine Übertragung der Übertragung. Denn für die bildende Kunst ist die Bronze als stoffliche Ursache eine rein passive Größe, während die Wende als Metapher in der politischen Geschichte die aktive Beteiligung des Demos als causa materialis voraussetzt. Das Volk hat den Prozess der elf Wenden mindestens aufmerksam begleitet und nach der letzten Wende ein unmissverständliches Ja ausgesprochen. Aristoteles hat die Bewohner der Polis tatsächlich einmal expressis verbis deren materia (ὕλη) genannt. 12 Würde nun auch für diesen Fall materia verstanden, als handele es sich um formbares Material wie Bronze, dann wäre die Bevölkerung als eine rein passive oder – politisch gesprochen – entmündigte Größe klassifiziert. Nun ist aber schlechterdings seinem Wesen nach kein Volk vorstellbar, das wie 10 11 12

Aristoteles, Metaphysik 983 a 24–32. Ebd. 984 a 21–27. Aristoteles, Politik 1326 a 4.

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eine passive Verfügungsmasse weder direkt noch indirekt ursächlich auf die Formierung seiner Lebensbedingungen einwirkt oder im Konfliktfall, wann immer es sich qua materia in der Form nicht angemessen wiederfindet, auf das Drängen nach der fälligen Wende verzichtet. Im Gegenteil – das Volk, das Substrat bzw. die causa materialis der politischen Wenden, erweist sich eben nicht als bloß passive Größe, sondern geradezu als umfassend treibende Kraft, sobald darüber hinaus auch die anderen causae mit in Betracht gezogen werden. Denn das Volk verkörpert die für Freiheit und Gleichheit bürgende Verfassung als causa formalis, es genießt als causa finalis das Gutleben in Tugend und Glück, und als causa efficiens besetzt es die Ämter und trifft im Rat, in der Volksversammlung und den Geschworenengerichten Entscheidungen. Das Volk ist also nicht nur als aktive materia präsent, es hat auch an den drei anderen Ursachen einen zweifellos nicht unerheblichen Anteil. In Anwendung der Lehre von den vier Ursachen bzw. konstitutiven Faktoren erweist das Motiv der Wenden das Volk im Gegensatz zur Bronze zwar gleichermaßen als formierte, aber andererseits eben auch als von Anbeginn mitformierende materia, die politisch am Ende den Ausschlag gibt. Mag sich auch jede neue Phase nach einer Wende auf die Namen großer Männer berufen, die die Absichten des Volkes schrittweise vollstrecken oder zwischenzeitlich auch durchkreuzen, so sind doch diese Männer bei all ihrer Bedeutung auf begrenzte Zeit teils bessere, teils schlechtere Geschäftsführer im Auftrag des Volkes. Bei allem persönlichen Erfolg mussten sie erleben, wie der Spätere die Verfassung des Früheren wieder umstürzte. Solon musste erfahren, dass die von ihm verfochtene Reform entgegen seiner ursprünglichen Absicht später als Beginn der Demokratie verstanden wurde, obwohl er dem Volk nur das unbedingt Nötige zugestehen wollte (Politik 1274 a 11–21). Das Volk blieb, und die Vorreiter, auf die kein Geschichtsprozess verzichten kann, traten ab, zollten ihrer Endlichkeit Tribut und gaben damit die nüchtern bürgerliche Antwort auf das Ansinnen des im gesamten 4. Jahrhundert sich am Horizont schon abzeichnenden Herrscherkultes. Das wahre Substrat des Prozesses der Wenden war und ist der sich geschichtlich durchhaltende Wille des Volkes, sodass eine politische Theorie, die diesem Befund unter Hinweis auf die Schwächen der Menge keine Beachtung schenkt, zwingend ihren Gegenstand verfehlt. Aristoteles hatte die dominierende Rolle des Volkes durchgängig vor Augen und erwies ihr am Ende auf subtile Weise die Reverenz. Alle Wenden ver105 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia – quid facti

band er mit bedeutenden Namen von Impulsgebern, nur für die letzte der elf Wenden, den Katalysator der Verfassungswirklichkeit des 4. Jahrhunderts, vermerkte er keinen solchen Namen. Als ausführende Größe erscheint allein das souveräne Volk oder der Demos (AP 41, 2). Auf den zu erwartenden Einwand der Platoniker, dass nunmehr also doch die unqualifizierte Menge entscheidend Einfluss nehmen darf, hatte Aristoteles schon in der Politik (1253 a 1–18) geantwortet. Dort bestimmte er den Menschen als politisches Lebewesen (ζῷον πολιτικόν) und in einem damit als ζῷον λόγον ἔχον; denn die Menschen, so heißt es erläuternd, könnten sich untereinander über Gut, Nützlich, Schön und deren Gegenteil verständigen. Angesichts dieser Verquickung der beiden Naturbestimmungen des Menschen ist die lateinische Übersetzung von ζῷον λόγον ἔχον mit animal rationale irreführend. Denn bei Aristoteles liegt der Ton nicht darauf, dass der Mensch generell als vernunftbegabtes Wesen definiert ist, sondern dass er ganz spezifisch als politisches Wesen zu vernünftigem Reden und zur Verständigung mit anderen über politische Grundsätze imstande ist. Die Doppelbestimmung besagt aber noch mehr, sofern die dem Menschen zuerkannte Qualität, wie Aristoteles ausdrücklich erklärt, von Natur (φύσει) besteht, also nicht an einen bestimmten Stand gebunden ist. Aristoteles hat die Grundlagentheorie der AP, die auf eine Reihe vom Volk als materia getragener Wenden setzt, fundiert durch eine politisch relevante Bestimmung der Natur der Menschen. Es muss aber nicht bei der Betonung dieser überall gültigen Allgemeinheit bleiben. Die AP darf getrost unterstellen, dass die Naturanlage zu vernünftigem Reden gerade in Athen immer schon ihren bestimmten Ort der Entfaltung hatte, sofern die für die Stadt charakteristische Redefreiheit (παῤῥησία) solchem Reden, sei es streitig oder zustimmend, seit alters die Bühne bereitet hat. Allen modernen Zweiflern zum Trotz stützt sich Aristoteles also bei seiner Beschreibung der attischen Demokratie samt dem sie tragenden Demos durchaus auf die Grundlage einer philosophischen Unterfütterung, die am Begriff der μεταβολαί festzumachen ist. Dieser Leitbegriff der AP bescheinigt dem Volk aus dem Rückblick einen auch durch Widerstände und Rückschläge nie entmutigten kollektiven Willen zur Transformation, und das mit dem Ziel, sich selbst am Ende eines organischen Prozesses als materia in der umgreifenden Form einer bejahungsfähigen Verfassung wiederzufinden. Mit seiner diesbezüglichen Dokumentation korrigiert Aristoteles Platons politi106 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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sche Grundlagentheorie zunächst insofern, als diese die im Volk insgesamt und damit speziell auch in der vielgeschmähten Menge steckende Entelechie nie zur Kenntnis genommen hat. Zugleich korrigiert er damit das Nullpunktaxiom; denn die Dynamik der Entelechie des vom Volk getragenen organischen Prozesses, nicht ein in der Stunde null von außen eindringender Gedanke konstituiert den Staat. Vollendet wäre indes die Rehabilitation des Demos erst, wenn sich die Tatsache der in seinem Sinne gelungenen Wenden durch den endgültig legitimierenden Nachweis ergänzen ließe, dass entgegen verbreiteter philosophischer Misstrauensbekundung der Demos sehr wohl in der Lage war, Mängel in der Rechtspflege zu beseitigen und die Entwicklung der Verfassung abzuschließen, deren Sittlichkeit auf der unbedingten Achtung von Recht und Gesetz beruht. Sollte diese Demonstration überzeugend ausfallen, dann hätte die AP des Aristoteles die Politik des Aristoteles in wesentlichen Punkten revidiert – mehr noch, sie hätte die zwei bislang getrennt geführten Debatten der Schule und der Agorá zu einer Debatte zusammengeführt, sofern zum einen die Wahrheit der Agorá, die Beteiligung und das Einvernehmen des Staatsvolkes, und zum anderen die Wahrheit der Schule, der verschärfte Legitimitätsanspruch, keinen Widerspruch mehr bildeten.

Die Legitimität der attischen Demokratie – quid iuris Begrifflich war der für die Rechtsstaatlichkeit so wesentliche Unterschied zwischen Gesetz (νόμος) und Beschluss (ψήφισμα) unstrittig. Das Gesetz beruht auf einer politischen Entscheidung (δόγμα), die auf unbegrenzte Zeit gültig ist und Allgemeines zum Gegenstand hat, während der Beschluss eine Entscheidung ist, die für begrenzte Zeit gilt und Besonderes betrifft. 1 Beschlüsse fallen vor Gericht in Anwendung einschlägiger Gesetze und in der Volksversammlung je nach Einschätzung der Interessenlage. Letztere Beschlüsse betreffen laut AP (54, 3) Bündnisse, auswärtige Angelegenheiten, Bürgerrechtsverleihungen und, so könnte man hinzufügen, Kriegserklärungen und Ehrendekrete. (Unter Platons Namen überlieferte) Definitiones 415 B; Aristoteles, Politik 1292 a 32–37; Athenaios 508 A.

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Wenn nun Aristoteles entgegen früherer Einlassungen der Politik in der AP (26, 2) erklären kann, es sei in der Zeit der nach dem Tod des Perikles einflussreichen Demagogen geschehen, dass die Gesetze »nicht mehr so wie früher« beachtet wurden 2, dann gilt das offenbar nicht mehr für die Zeit nach den Demagogen, und zwar deshalb nicht, weil der Demos spätestens seit der elften Wende im Jahre 403 längst Maßnahmen ergriffen hatte, die die Position von Recht und Gesetz entscheidend stärkten. Mit seinem Hinweis auf die Demagogen plädiert also Aristoteles implizit auf Verjährung, sagt das aber nicht ausdrücklich. Unabhängig von Aristoteles hatten sich aber die Athener den Revisionsbescheid, dass Willkürpraxis offenbar doch keine feste Dauergröße ihrer Demokratie ist, sondern mit den Demagogen begann und endete, schon seit geraumer Zeit verdient, weil sie mangelnde Eindeutigkeit der Gesetze selbst als Makel empfanden und im Gegenzug den Gesetzen zu neuer Autorität verhalfen, indem sie den auf Drakon und Solon zurückgehenden attischen Gesetzeskodex von Widersprüchen, Unklarheiten und Überholtem befreiten. Ihr Leitgedanke war die Bestimmung des Gesetzes als einer Macht, über der keine andere Macht stehen durfte: Per Gesetz wurde es Rat und Volksversammlung untersagt, hernach noch mit einem Beschluss ein Gesetz außer Kraft zu setzen (ψήφισμα δὲ μηδὲν μήτε βουλῆς μήτε δήμου νόμου κυριώτερον εἶναι). 3 Dieses Gesetz wurde im 4. Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit – als das institutionelle Mittel gegen die Aufwiegelung der Menge durch rhetorisch gewandte Demagogen. Zur Etablierung dieses Mittels konnte es allerdings erst kommen, nachdem die Athener ihre sorgfältige Gesetzesreform auch noch in Einklang mit dem Amnestieabkommen des Jahres 403 gebracht hatten. Denn die Amnestie beruhte ja auf dem Beschluss, dass nicht mehr Mord sein durfte, was laut Gesetz sehr wohl ein Mord gewesen wäre. Unabhängig von der Aussage des Aristoteles über den Machtverlust der Demagogen ist wohldokumentiert, dass die Initiative zur Überarbeitung der Gesetze im Jahre 411 von den schnell wieder gestürzten Vierhundert Oligarchen ausging (Thukydides 8, 97, 2). Am bekanntesten ist die Inschrift 4 aus dem Jahr 409/08, in der die überÄhnlich argumentiert auch die Politik 1292 a 4–38, aber noch ohne ausdrücklich rehabilitierende Absicht. 3 Andokides 1, 87–89; Demosthenes 23, 87. 218; 24, 30. 4 IG I2 Nr. 115; Tod, Band I Nr. 87; SEG Band III Nr. 19; HGIÜ Band I Nr. 145. 2

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arbeitete Fassung des Gesetzes Drakons über Tötungsdelikte zugänglich wird. Da die Überarbeitung der Gesetze insgesamt am Ende des Peloponnesischen Krieges noch nicht abgeschlossen war, wurde sie auch den Dreißig Tyrannen als Verpflichtung auferlegt (Xenophon, Hellenika 2, 3, 2), aber von diesen nur halbherzig verfolgt. Ernsthaft bemühten sich erst wieder die Demokraten gleich nach dem Sturz der Dreißig, wie Andokides in einer Verteidigungsrede 5 in eigener Sache ausgeführt hat. Danach bestimmten die Athener ein Komitee von 500 Revisionsbeauftragten (νομοθέται), also von 50 Bürgern aus jeder Phyle, die über die endgültige Fassung der Gesetze befanden. Die Formulierungsvorschläge entwickelte ein sachkundiges Kollegium von zwanzig Bürgern 6, die die bestehenden Gesetze revidierten und, wenn nötig, sinngemäß ergänzten. Ihren Ergebnissen musste neben den fünfhundert Beauftragten auch der Rat zustimmen. Die Volksversammlung definierte als Auftraggeber der Reformmaßnahme offenbar nur die Rahmenbedingungen und legte fest, bis wann wie viele Gesetze revidiert sein mussten; sie war aber nicht für die Ratifikation zuständig. 7 Der geschärfte Sinn für Rechtssystematik wurde indes durch das Amnestieabkommen zwischen Demokraten und Oligarchen zu einem einschneidenden Zugeständnis genötigt, sofern die Morde, die in den acht Monaten unter den Dreißig begangen wurden, plötzlich kein Mord mehr sein durften. Angesichts der politischen Unvermeidlichkeit der Aussöhnung reflektierte man die juristischen Skrupel am liebsten gar nicht oder allenfalls indirekt, wenn es darum ging, sie als denkbaren Störfaktor auszuschalten. Das Hauptaugenmerk galt der politischen Absegnung der Aussöhnung durch Amnestie. Nach Xenophon (Hellenika 2, 6, 43), der seinen Bericht über die Schreckensherrschaft der Dreißig Tyrannen mit der Beschwörung des Racheverzichts abschließt, endete ein letztes Aufbäumen der nach Eleusis ausgewichenen Oligarchen im Jahre 401 mit einem Fehlschlag, als die mit vollem Aufgebot angerückten Demokraten ihre Rädelsführer töteten und die Mitläufer zur Aussöhnung überredeten. Darauf beschworen beide Seiten den Racheverzicht mit der Formel μὴ μνησικακεῖν, also der Entschlossenheit, sich nicht mehr an vergangene »Übeltaten zu erinnern«. Im abschließenden Satz beschei5 6 7

Andokides 1, 81–83. Dieses Detail überliefert das Scholion zu Aischines 1, 39. Demosthenes 24, 23/25.

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nigt Xenophon den Athenern, sie hätten tatsächlich fortan einträchtig in ihrer Stadt gelebt und das Volk sei bei den Eiden geblieben. Auch Lysias (25, 28) konzentriert sich in seiner Darstellung des bemerkenswerten Vorgangs auf den politischen Aspekt: Gerade die verdienten und prominenten Demokraten hätten immer wieder dazu aufgefordert, bei dem beeideten Abkommen (ὅρκοι … συνθῆκαι) zu bleiben, weil sie in ihm einen Schutz der Demokratie sahen. Denn es garantiere den unter den Dreißig in der Stadt Verbliebenen Schutz vor Rache und den aus dem Piräus zurückgekehrten Demokraten Schutz vor Umsturz ihrer Verfassung, da die Oligarchen die neue demokratische Verfassung wegen des Amnestiegebots als Garantie ihrer Sicherheit ansehen mussten. Für Isokrates (18, 23–24) ist es so sehr unbedingte Bürgerpflicht, sich an das Amnestieabkommen zu halten, dass er die rechtliche Problematik gar nicht erst in den Blick nimmt. Dagegen kommt bei dem schon erwähnten Andokides, der in seiner Rede erreichen will, dass das Amnestieabkommen auch auf ihn angewendet werde, immerhin indirekt zum Ausdruck, dass das politisch noch so unabdingbare Abkommen keineswegs auf die Verdrängung juristischer Skrupel angewiesen war. Obwohl Mord, Totschlag und Raub vom Grundsatz her nach wie vor strafbedroht waren, war mit dem Amnestieabkommen politisch und rechtsverbindlich entschieden, dass niemand wegen der »Ereignisse« in der Zeit der Dreißig bestraft werden durfte (1, 81–82). Entsprechend war in die überarbeitete Fassung des Gesetzeskodex ein Passus über die zeitliche Begrenzung seiner Gültigkeit nach hinten einzufügen (1, 88–89) und entsprechend waren die verschiedenen Amtseide formuliert, die die Bürger je nach öffentlicher Funktion zu leisten hatten (1, 97–98). Danach leistete jeder Athener den Eid, er wolle das geschehene Unrecht allen Tätern vergessen, und das sogar den Dreißig, wenn sie über ihre Handlungen Rechenschaft abgelegt hätten. Die Ratsmitglieder schworen, sie nähmen keine die Amnestie ignorierende Klage entgegen – gemäß dem Gesetz des Archinos, jeder unter Missachtung der Eide Angeklagte dürfe auf Nichtzulassung der Klage plädieren (παραγράφεσθαι: Isokrates 18, 2), offenbar weil eine im Sammelverfahren gleichsam letztinstanzlich schon entschiedene Sache nicht erneut gegen Involvierte verhandelt werden darf. Demgemäß legte auch jeder Geschworene den Richtereid ab, er werde kein Ressentiment hegen und sich auch nicht zu Rachegedanken verleiten lassen, sondern gemäß den bestehenden Gesetzen seine Stimme ab110 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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geben. Zu dieser Gesetzestreue verpflichtete die politische Vernunft, das aber im Einklang mit dem Rechtsgrundsatz ne bis in idem. Nach dem Zitat der drei Eidesformeln merkt der Oligarch Andokides (1, 91) noch kommentierend an, im Blick auf das Amnestieabkommen scheine er doch den Athenern richtig zu argumentieren, wenn er ihnen und ihren Gesetzen ausdrücklich freudig die Zustimmung erteile. Damit impliziert er, dass das Amnestieabkommen deswegen seine stabilisierende Wirkung habe und insofern auch im Interesse der Demokraten liege, weil ja die Oligarchen deren Verfassung dank Amnestieabkommen, wie gesagt, als Grundlage ihrer Sicherheit betrachteten und deshalb nicht so dumm wären, diese jemals infrage zu stellen. 8 Indirekt war damit auch die Sicherheit der Oligarchen garantiert, und das im Einklang mit der juristischen Zutat, dass im Amnestieabkommen implizit schon einmal über ihre Schuld entschieden war und darüber nicht in einem erneuten Verfahren noch einmal zu befinden sei. Regelbestimmend war zweifellos politische Weisheit, die sich aber auch auf eine prinzipiell gültige juristische Regel berufen konnte. Damit zurück zu Aristoteles, der bei seiner Darstellung ebenfalls zu verstehen gibt, dass es sich bei der Amnestie zunächst um ein politisch notwendiges, von Demokraten und Oligarchen im gemeinsamen Interesse geschlossenes Abkommen handelte (AP 38, 3; 39, 1/6). Implizit gibt Aristoteles auch zu verstehen, dass die politische Entscheidung durch eine juristische Zutat angereichert ist, als er (AP 40, 2–3) auf eine Intervention des schon erwähnten Archinos eingeht, der auf Seiten der Demokraten unter Thrasybulos gekämpft hatte. 9 Dieser Archinos habe angemessen gehandelt, als er einen Bürger, der sich mit der Amnestie nicht abfinden wollte, vor den Rat zerrte und verlangte, ihn ohne Gerichtsverfahren zu töten. So könnten, ruft Archinos aus, die Ratsmitglieder beweisen, dass sie die Demokratie retten und bei den Eiden bleiben wollten. Käme er ungeschoren davon, so werde er auch andere ermuntern, aber mit seiner Hinrichtung könne man ein heilsames Exempel statuieren. Der Mann wurde tatsächlich ohne Verfahren in generalpräventiver Absicht hingerichtet; aber dazu konnte sich der Rat ohne juristische Skrupel ja wohl nur desweDiese Einschätzung des Andokides präludiert der These von D. Haßkamp, Oligarchische Willkür – demokratische Ordnung. Zur athenischen Verfassung im 4. Jh. v. Chr., Darmstadt 2005. 9 Demosthenes 24, 135. 8

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gen verstehen, weil in dieser Sache schon einmal verbindlich entschieden war. Danach habe, so führt Aristoteles weiter aus, auch niemand mehr gegen das Amnestieabkommen aufbegehrt; stattdessen, so beendet er sein Lob auf die Amnestie, hätten die Athener privat wie öffentlich eine im höchsten Maße anständige und politisch vernünftige (κάλλιστα/πολιτικώτατα) Haltung gegenüber vergangenem Unheil eingenommen und damit ein erstes Beispiel für das Ideal der Eintracht (ὁμόνοια) geliefert. Bedenkt man, dass ὁμόνοια neben der Forderung nach allgemeinem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) ein politisches Regulativ des vierten Jahrhunderts war, so fällt das letztere Lob ganz besonders ins Gewicht, zumal sich ja Aristoteles selbst mit seinen Vorschlägen zur Aussöhnung zwischen Demokraten und Oligarchen in der Politik gleichermaßen zu diesem Ideal bekannt hatte. Natürlich hätte Aristoteles den Athener Demokraten nicht nur implizit, sondern auch expressis verbis ihre Verdienste um die Gesetzesrevision gutschreiben können. Zwar erwähnt er in der AP (9, 2) den Anlass, die Unklarheiten der Solonischen Gesetze, ferner die entsprechende Reforminitiative der Vierhundert (29, 3) und die Verpflichtung der Dreißig zur Weiterführung dieser Arbeit (35, 2), aber er verliert nicht ein Wort über den großen Anteil der Demokraten in der Zeit nach 403, die es ja wegen der rechtlichen Problematik der Amnestie viel schwerer hatten als ihre Vorgänger. Aristoteles lässt also in seiner Darstellung ungesagt, dass die Demokraten, angeblich eingefleischte Gesetzesverächter, in Wahrheit die allergrößte Mühe darauf verwendet hatten, ihre Gesetze in eine funktionsfähige Form zu bringen und ihnen den Primat über wie immer ausfallende Einzelbeschlüsse zu sichern. Aristoteles sprach vielleicht dergleichen nicht aus, weil er dann ja mit der Gegenfrage rechnen musste, warum den Schulen eine solche Ehrenerklärung nicht schon vor Jahrzehnten über die Lippen gekommen sei. Wahrscheinlich saß das Trauma, das das Todesurteil gegen Sokrates in der Schule hinterlassen hatte, immer noch tief. Vielleicht wollte Aristoteles auch nur Loyalität gegenüber Platon wahren. Immerhin ließ er den Preis für seine Loyalität und für den Verzicht auf würdelose Selbstkritik nicht die Demokraten zahlen. Vielmehr bestätigt er ihnen ja, wenn auch unausgesprochen, dass sie durch ihre Sanierung des athenischen Gesetzeskodex der philosophischen Forderung nachgekommen seien, Demagogen das Handwerk zu legen, die Beschlüsse einer orientierungslosen Menge herbeiführten, um ihren Interessen im Wege stehende Gesetze zu unterlaufen. 112 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Unter einem methodischen Aspekt lobte aber Aristoteles sogar ausdrücklich das Vorgehen der Gesetzesreformer, deren Leitlinie Lysias in seiner Anklagerede gegen den »Gesetzesschreiber« (ἀναγραφεύς) Nikomachos herausarbeitete: Dieser Mann habe sich zu einem zweiten Solon erhoben, indem er teils Gesetze einfügte, teils Gesetze tilgte (30, 2); so habe er sich zum Herren des Verfahrens gemacht (30, 4) und sei vom Sekretär zum Gesetzgeber aufgestiegen (30, 27). Die Anklage des Lysias unterstreicht, dass es bei der Revision nicht um Schöpfung neuer Gesetze ging, sondern um Wahrung der Substanz in widerspruchsfreier und vor Missdeutung gefeiter Form. Diese Maxime unterstützte Aristoteles mit seiner Antwort auf die allgemeine Frage, was zu geschehen habe, wenn ein Gesetz neuzufassen sei, weil in seiner vorliegenden Fassung ein anstehender Fall noch nicht berücksichtigt sei: Dann gelte es, das Gesetz so umzuformulieren, wie es der ursprüngliche Gesetzgeber auch getan hätte, wenn ihm der Fall schon vorgelegen hätte. 10 Schließlich lebe die Autorität eines Gesetzes von der langen Dauer seiner Gültigkeit. 11 Aristoteles rechtfertigt also den Verfahrensgrundsatz der Reformer, mehr noch aber erkennt er implizit die Folgen ihrer Tätigkeit an, dass nämlich die attische Demokratie aus dieser Reform als makelloser Gesetzesstaat hervorgegangen ist. Bei der Beschreibung der Verfassung nach 403 enthalten 21 von 28 Kapiteln der AP einen ausdrücklichen Hinweis auf die jeweilige Gesetzesgrundlage, und zwar durch Formeln wie κατὰ τοὺς νόμους, ἐκ τῶν νόμων, ὁ νόμος κελεύει oder ersatzweise δεῖ/ἔξεστιν. Nur in den Kapiteln 50, 52, 61, 64, 65, 66, 68 erscheint keine dieser Formeln. Das bedeutet aber keine Einschränkung; denn diese Kapitel befassen sich mit Institutionellem, das mindestens gewohnheitsrechtlich beachtet wird wie Amtspflichten, Zuständigkeiten, Prozessordnung und Regelung des Geldverkehrs. Nicht ein einziges Mal muss Aristoteles rügen, Gesetze und Üblichkeiten würden säumig oder überhaupt nicht respektiert. Wenn das Fundament politisch wie gesetzgeberisch so überzeugend und in sich stimmig gelegt ist, dann muss sich das auch an den Baugliedern erweisen. Das demonstriert eine Fülle von Aristoteles angeführter Details. Er beginnt sogleich mit dem Lob auf den Demos, der nach dem Sturz der Dreißig zu Recht (δικαίως) der Souverän

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NE 1137 b 22–24. Politik 1269 a 19–24.

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geworden sei, weil er die Rückkehr aus eigener Kraft geschafft habe (AP 41, 1). Dank Zugewinn an Handlungsspielraum (ἐξουσία) verwalte nunmehr der Demos mit seinen Beschlüssen in Volksversammlung und Gerichten den Staat und habe auch noch die Entscheidungsbefugnis des Rates an sich gezogen; auch das verhalte sich richtig (ὀρθῶς), weil man, wie es ja auch schon in der Politik (1281 a 40–b 21) stand, Wenige durch Protektion oder Geldzuwendung leichter bestechen kann als Viele (AP 41, 2). Auch verübelt Aristoteles den Athenern nicht mehr den Ekklesiastensold: Man habe ihn zunächst gar nicht einführen wollen, aber den Prytanen sei nichts anderes übrig geblieben, weil ohne diesen Anreiz kaum jemand an den Versammlungen teilnahm und sein Votum abgab (AP 41, 3). Die Stimmen wurden aber benötigt. Z. B. mussten einer Sonderentscheidung, die sich wie etwa der 417 letztmals gegen Hyperbolos praktizierte, aber nie förmlich abrogierte Ostrakismos nur auf bestimmte Bürger bezog, mindestens 6000 in der Volksversammlung Anwesende zustimmen. 12 Der Demos wurde also gebraucht, war aber offenbar weitaus weniger machtversessen als einst in der Akademie angenommen. Aristoteles würdigt auch die demokratietypische Rechenschaftsablegung, zu der jeder aus seinem Amt Ausscheidende verpflichtet war, sowie die präzise Begrenzung der Kompetenzen zur Vermeidung von Überschneidung, Amtsanmaßung und Willkür. Insbesondere betont Aristoteles, dass jeder Archont über seine profanen Pflichten hinaus auch für die Ausrichtung bestimmter Kultfeste zuständig sei (AP 55–60). In der attischen Verfassung fand also eigens auch der Umstand seinen Niederschlag, dass die Polis gewiss eine politische Gemeinschaft im profanen Sinne ist, aber eben zugleich auch eine Kultgemeinschaft. Mit dieser Demonstration gelebter Sittlichkeit entkräftet die attische Verfassung Platons Vorwurf, der Demos habe statt Gott den von seinen hedonistischen Neigungen bestimmten Menschen zum Maß aller Dinge erhoben. 13 Mit einer Eloge auf die Athener Prozessordnung beendet Aristoteles die AP (63–69). Nachdem es während des Peloponnesischen Krieges dem späteren Sokratesankläger Anytos als Beschuldigtem gelungen war, die Mehrheit eines Geschworenengerichts durch wohlorganisierte Verteilung von Geldmitteln auf seine Seite zu bringen

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Demosthenes 24, 59; Philochoros FGH 328 F 30; Plutarch, Aristides 7, 4–5. Platon, Theaitet 152 A und Nomoi 716 C.

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(AP 27, 5), entwickelten die Athener eine Prozessordnung, mit der sie ihre Gerichtshöfe zuverlässig gegen Bestechungsversuche immunisierten. Erst am Morgen des Gerichtstages ermittelten die Athener durch Losentscheid zunächst, wer überhaupt für die anhängigen Verfahren des Tages zugelassen war. Danach entschied erneut das Los, wer aus dem Kreis der Zugelassenen welchem Prozess als Geschworener zugeordnet werde und welcher Archont in welchem Verfahren den Vorsitz übernähme. Damit sich kein Geschworener vor einer Entscheidung für oder gegen den Beklagten drückte, wurde ihm der Richtersold erst ausgezahlt, nachdem er sein Votum abgegeben hatte. Offenbar bewunderte Aristoteles die Entschlossenheit des Staates, mithilfe eines ausgeklügelten Verfahrens seine Nichthintergehbarkeit zu garantieren. Wenn nun aber, soweit das verfassungspolitisch möglich ist, der Demos durch Etablierung eines glaubhaften Gesetzesstaates auch ohne den Einsatz philosophischer Herrscher ein »Ende der Übel« herbeigeführt hat, dann fragt sich schließlich, welche Aufgaben danach dem von der platonischen Dehnstufe zur Normalstufe hinabgestiegenen Philosophen noch verbleiben. Zum Glück hatte sich an dessen generellem Besitzstand nichts geändert. Er konnte nach wie vor die Lehrtradition seiner Schule fortführen, die Bedeutung politischer und geschichtlicher Prozesse ergründen, seinen Schülern Weltorientierung vermitteln, im eigenen Haus oder bei Hof Erzieher von Prinzen oder Bürgersöhnen werden; und er konnte schließlich dank seiner persönlichen Integrität als vertrauenswürdiger Gesandter in auswärtigen Angelegenheiten seiner Stadt gute Dienste erweisen. Letzteres geschah ja keineswegs zum ersten Mal mit jener berühmten, politisch sogar auch noch erfolgreichen Philosophengesandtschaft des Jahres 155 in Rom. Über all diese Tätigkeiten hinaus, die ja für die Philosophen im Grunde nichts Neues waren, verzeichneten sie eher noch einen Zugewinn an Einflussmöglichkeiten, die sie einer methodischen Umorientierung, wie sie die AP vollzog, zu verdanken hatten. Aristoteles hatte nämlich von Grund auf den Standpunkt der Schule geändert, sofern sie nunmehr endgültig nicht mehr asymmetrisch von außen die Polis belehrte, sondern hermeneutisch deren Strukturen von innen her wie ein aufmerksam hinhörender Mitbürger entschlüsselte und begrifflich erfasste. Wer sich auf diese Weise durch die Materie durchgearbeitet hat, der spricht am Ende als Sachkundiger, dem keine Äußerungen an den Realitäten vorbei unterlaufen. Ein Philosoph dieses Schlages wird nicht in die Konstruktion von 115 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Parallelwelten ausweichen. Dank seiner für ihn typischen Arbeit 14 verweist Aristoteles die Philosophie in einer an Francis Bacons parendo vincere erinnernden Weise auf Mittel und Wege, wie sie sich durch Sachgerechtigkeit Überzeugungskraft verschaffen und damit ein Mehr an potentia sichern könnte, die zwar nicht aus Fürstenhoheit, wohl aber aus Deutungshoheit bestünde. Die Anerkennung solcher Deutungshoheit könnte dem Philosophen eine Beratungskompetenz und Autorität bescheren, die gute Aussicht hätte, auch außerhalb der Schule Gehör zu finden. Beratung muss aber nicht nur kritisches Einfordern bedeuten, sondern kann ebenso gut begründete Zustimmung zum Bestehenden mit der Warnung vor der Gefahr verbinden, auf falsche Einflüsterungen hin schon erreichte Vernünftigkeit mit allen daraus resultierenden schlimmen Folgen wieder preiszugeben. Dass die einleitenden Kapitel der AP nicht erhalten sind, musste kein Hindernis sein, dem Gehalt der nachfolgend erhaltenen Kapitel Punkt für Punkt nachzugehen und ihre Leitgedanken herauszuarbeiten. Indes sind erst, nachdem das geschehen ist, Vermutungen erlaubt, wer denn die Adressaten der AP des Aristoteles gewesen sein könnten. Nach allem, was Aristoteles zu betonen für wesentlich befand, dürften die Adressaten die Schüler der Akademie und des Lykeion gewesen sein, die stillschweigend einsehen sollten, dass ihre Kritik an Athen das wirklich in der Stadt Geleistete einfach nicht zur Kenntnis genommen hat. Dank redlicher Hermeneutik konstatiert Aristoteles mindestens implizit, dass das philosophische Ziel institutioneller Gerechtigkeit keineswegs gegen den Willen des Demos durchgesetzt wurde; vielmehr hat ausgerechnet der Demos diese Zielsetzung in einem mühsamen Prozess gerade auch aus eigener Überzeugung und Initiative vollstreckt. Wenn wirklich die kritische Diagnose der Philosophie dem Volk zu Recht Organversagen bescheinigt hatte, dann hätte sie auch getrost dessen gelungene Selbstheilung ausdrücklich würdigen können. Mit einem berühmten dictum hat Immanuel Kant der Philosophie des Aristoteles die Arbeit als ihr charakteristisches Merkmal gutgeschrieben. In einem Beitrag für die Berlinische Monatsschrift (1796) »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie« geißelt er die vornehm-prätentiöse Diktion von Möchtegern-Genies, die sich über die Arbeit erhaben dünken, und hält ihnen lakonisch den Satz vor: »Die Philosophie des Aristoteles ist dagegen Arbeit.« Einzuräumen ist allerdings, dass Kant die Arbeit des Aristoteles an seiner Zergliederung »aller Erkenntnis a priori in ihre Elemente« festmacht und nicht an der mühevollen politischen Feldforschung, der sich Aristoteles unterzogen hat.

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Das Unglücksjahr 322

Für Aristoteles selbst kam indes seine wohlbegründete Annäherung an die Stadt zu spät. Seine Botschaft war allem Anschein nach über den kleinen Kreis der Schüler hinaus nicht schnell genug weiter in die Öffentlichkeit vorgedrungen. Sonst hätten die Athener Aristoteles in seinem letzten Lebensjahr nicht mehr mit einer Anklage wegen Asebie in Bedrängnis gebracht, weil er auf Hermias von Atarneus, den Verbündeten Philipps II., einen angeblich unzulässigen Hymnos gedichtet hatte. Schließlich hatte Aristoteles mit der AP die implizit auch schon in der Politik vertretene Überzeugung bekräftigt, dass nicht ein großflächiges Königreich, sondern die von engen Mauern umgebene Stadt jener autonome Ort ist, an dem sich das Ideal des gelungenen Lebens eines an Gesetzgebung und Gerichtsentscheidung teilhabenden Bürgers erfüllt. Trotz alledem – Aristoteles galt den Athenern nach wie vor als der Mann der Makedonen, und so verfuhren sie auch mit ihm.

Das Unglücksjahr 322 Als Alexander 323 überraschend starb, sahen die Athener sogleich ihre Chance, etwas Besseres zu erreichen als den Scheinfrieden mit den Makedonen, der ihre politische Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte. Ein Jahr zuvor noch hatte Alexander in Olympia durch Nikanor, den Schwiegersohn des Aristoteles, die Rückführung aller Verbannten in ihre Städte proklamieren lassen und Antipatros angewiesen, auf Widersetzlichkeit der Städte mit Zwangsmaßnahmen zu reagieren. 1 Die Proklamation Alexanders lief auf eine Missachtung der Souveränität der griechischen Städte hinaus, über die sie empört waren. Denn in der Regel betraf das Edikt demokratische Staaten, die nur widerwillig ihre makedonenfreundlichen Oligarchen wieder bei sich aufnahmen. Kaum war daher die Nachricht vom Tod des Königs sicher bestätigt, da bereiteten sich die Athener auch schon diplomatisch und militärisch auf jene Auseinandersetzung mit Antipatros vor, die als Lamischer Krieg (323/22) in die Geschichte eingegangen ist. Im Winter gelang den Athenern zwar der Anfangserfolg, Antipatros in Lamia einzuschließen, weil das Gros der makedonischen Truppen noch im Osten stand; im August 322 aber unterlagen die 1

Diodor 17, 109, 1 und 18, 8, 2–5.

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Athener bei Krannon in Thessalien entscheidend; und einen Monat später rückte eine von Antipatros eingesetzte makedonische Garnison unter dem Kommando des Menyllos in die Athener Vorstadt Munychia ein. Bevor die Athener diesen Ausgang hinnehmen mussten, hatte Aristoteles noch schwere Tage zu überstehen. Es ging ihm nicht anders als dem Makedonenfreund Demades. Im Gegensatz zu Demosthenes, der den Kult Alexanders ablehnte 2, hatte Demades in der Volksversammlung den Antrag gestellt, Alexander wunschgemäß als Gott anzuerkennen, und zwar mit dem realpolitischen Argument, sie sollten zusehen, dass sie nicht, während sie den Himmel achteten, die Erde verlören. 3 Wegen dieser Haltung wurde er nun nach dem Tod des Gottes wegen Asebie angeklagt und zu einer Geldstrafe von hundert Talenten verurteilt. 4 Ebenso wurde auch Aristoteles wegen seines schon erwähnten Hymnos auf Hermias mit dem Vorwurf der Asebie konfrontiert, weil ja ein Paian nur dem Gott Apollon zustünde. Dagegen machte Aristoteles geltend, sein Hymnos weise gerade keinen für den Paian charakteristischen Refrain auf, der als schlichter Trimeter (ἰὴ παιάν, ἰὴ παιάν, ἰὴ παιάν) »dazugesungen« wurde (ἐπίφθεγμα ἐπιφθεγγόμενον). 5 Wie zur Bestätigung spricht auch Diogenes Laertios in seinem Zitat ausdrücklich von einem Hymnos, nicht von einem Paian. 6 Zudem insistierte Aristoteles inhaltlich in einer vorsorglich aufgesetzten Verteidigungsrede, er hätte Hermias, wenn er ihn wie einen unsterblichen Gott hätte verherrlichen wollen, ja wohl nicht wie einen toten Menschen begraben. 7 Das Tragische an dieser Anklage war, dass Kläger und Angeklagter in der Sache auf derselben Seite standen. Selbstbewusste demoPolybios 12, 12 b. Laut Hypereides (31, 10: coll. 31) hatte Demosthenes dem Volk zugestanden, es könne ja Alexander durchaus ein Sohn des Zeus oder Poseidon sein, wenn er das unbedingt wünsche. Diesen ironischen Kommentar wendete Deinarchos (1, 94) boshaft gegen Demosthenes, der einst verboten habe, andere als die überlieferten Götter anzuerkennen, dann aber verlangt habe, das Volk solle göttliche Ehrungen für Alexander nicht in Frage stellen. 3 Valerius Maximus 7, 2: exempla externa 13. 4 Athenaios 251 B; Ailian, Varia Historia 2, 19 und 5, 12; vgl. Plutarch, Phokion 26, 2. 5 Athenaios 696 E–F. Zum Trimeterrefrain vgl. Athenaios 701 E und Aristophanes, Thesmophoriazusen 311. 6 Diogenes Laertios 5, 7–8. 7 Athenaios 697 A–B. Von dieser Verteidigungsrede ist auch bei Diogenes Laertios (5, 9) die Rede. Athenaios will aber nicht ausschließen, dass die Rede von einem späteren Autor ersonnen wurde. 2

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kratische Bürger konnten oberhalb ihrer staatlichen Organe keinen Mitbürger im Rang eines Gottes akzeptieren, und in Übereinstimmung mit dieser Haltung hatte sich Aristoteles nicht zuletzt wegen des von Alexander geforderten Herrscherkultes von ihm distanziert. Gleichwohl war in den Augen der Athener, die von der Kritik des Aristoteles an der Zumutung Alexanders offenbar nichts wussten, der makedonische Philosoph ein geborener Verteidiger des Herrscherkultes, wie es ja auch seine Huldigung an Hermias beweise. Aristoteles ließ es daher trotz vorbereiteter Verteidigungsrede nicht auf einen Prozess ankommen, sondern begab sich schon vor dem Termin auf die Insel Euboia, eine makedonische Hochburg, wo er ein von seiner Mutter geerbtes Haus besaß. Zuvor hatte er den Athenern noch zugerufen, er werde ihnen nicht gestatten, sich ein zweites Mal an der Philosophie zu vergreifen. 8 Nachdem er schon lange an einer Magenkrankheit gelitten hatte 9, starb er laut Gellius (17, 21, 35) wenige Tage vor Demosthenes, der seinem Leben am 14. Oktober 322 auf der Insel Poros ein Ende setzte. 10 In der Endphase des Lamischen Krieges wird also Aristoteles physisch kaum noch imstande gewesen sein, sich wie auch immer zu Wort zu melden. Das tat an seiner Statt der offenkundig eher unpolitische Xenokrates, sein alter Freund und Rivale, als er in seiner Eigenschaft als Schulhaupt der Akademie und in Anerkennung seiner persönlichen Integrität 11 der Friedensgesandtschaft der Athener angehörte. Antipatros trug den Gesandten vor, er sei zum Frieden bereit, wenn die Athener nach Auflösung der Demokratie zur Verfassung Solons zurückkehrten und wenn als Konsequenz nur die 9000 Bürger, deren geschätztes und damit besteuerbares Vermögen (Zensus) oberhalb von 2000 Drachmen lag, in der Stadt blieben (weil sie einen erneuten Krieg hätten finanzieren müssen), und die 12 000 Bürger unterhalb dieses Zensus die Stadt in Richtung Thrakien verließen (weil sie an einem erneuten Krieg durch ihre Besoldung verdient hätten); ferner sollten die Athener Demosthenes und Hypereides ausliefern sowie die Kosten für den Krieg und für die makedonische Besatzung unter Menyllos in Munychia übernehmen. 12 Die Athener Gesandten ak-

Fragment Nr. 667, ed. V. Rose. Gellius 13, 5, 1; Censorius, De die natali 14, 16. 10 Plutarch, Demosthenes 30, 4. 11 Plutarch, Phokion 27, 1. 12 Diodor 18, 18, 3–6; Plutarch, Phokion 27, 3. 8 9

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zeptierten diese Bedingungen, Xenokrates aber verweigerte als Einziger seine Zustimmung. 13 Als Antipatros gleichwohl dem Metöken Xenokrates anbot, ihn auf die Bürgerliste der nunmehr wieder stärker oligarchisch verfassten Stadt zu setzen, bewährte dieser erneut seine einzigartige Unbestechlichkeit, über die sich Philipp II. einst schon geärgert hatte, weil er sich als einziges Miglied einer am makedonischen Hof erschienenen Gesandtschaft nicht bestechen ließ. 14 Seinem Ethos getreu antwortete Xenokrates dem Sieger Antipatros, er habe sich der Friedensgesandtschaft nicht angeschlossen, um von der neuen Verfassung zu profitieren, sondern um die alte Verfassung zu verteidigen. 15 Nachdem sich somit Aristoteles mit dem geschriebenen Wort im Namen des Lykeion schon mit der attischen Demokratie versöhnt hatte, ergriff nur wenig später Xenokrates, zeitlebens treuer Platonschüler, die Gelegenheit, eine entsprechende Erklärung mit dem gesprochenen Wort im Namen der Akademie abzugeben. Bei diesem versöhnlichen Abschluss hätte es auch in den Jahren danach bleiben können; aber derselbe Friedensvertrag, der Xenokrates zu seinem Bekenntnis zur demokratischen Verfassung der Athener provozierte, implizierte auch zwingend den Verlust ihrer Souveränität. Die Qualität des Ansprechpartners der politischen Philosophie hatte sich mithin von Grund auf geändert, denn er hatte ein wesentliches Moment, eben seine Souveränität, verloren. Das konnte nicht ohne Konsequenzen für den Stellenwert der politischen Philosophie von Akademie und Lykeion bleiben, deren Aussagen ja auf einen per definitionem souveränen Staat zugeschnitten waren. Wenn nun dieser souveräne Staat durch den Gang der Ereignisse neuerdings als Größe der Vergangenheit erschien, dann konnte bei der Interdependenz von Schule und Stadt dieser Bruch nicht ohne Folgen bleiben für die Fortführung der von Platon und Aristoteles vertretenen Philosophie der politischen Einflussnahme. Ein formales Moment hatte indes Bestand. Es blieb nicht bei den elf Wenden der AP des Aristoteles. Es sollten in rascher Abfolge noch weitere folgen.

Die Verbannten kehrten 319 dank einer die griechischen Städte betreffenden politischen Initiative des Polyperchon nach Athen zurück (Diodor 18, 56, 4). 13 Plutarch, Phokion 27, 4. 14 Diogenes Laertios 4, 9. Xenokrates hatte es auch abgelehnt, die 50 Talente, die ihm Alexander später schenken sollte, anzunehmen (Plutarch, Moralia 331 E und 333 B). 15 Plutarch, Phokion 29, 4.

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Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322)

Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322) Weder Platon noch Aristoteles hätte sich einen Staat der eingeschränkten Souveränität vorstellen können. Oberhalb des indigenen Herrschers bestand für Platon als einzige Instanz die Idee des Guten, der sich der in philosophischer Dialektik gebildete Herrscher bei der Verwaltung des Staates verpflichtet fühlte. 1 Ebenso wenig kannte Aristoteles bei seiner Skizzierung des Eupatridenstaates im eroberten Asien eine übergeordnete Macht, die seinen Bürgern die Bedingungen diktiert hätte; und in der AP waren nicht Makedonen, sondern Athener sowohl die causa efficiens wie auch die causa materialis einer jeden Wende. Und doch war es der Aristotelesfreund Antipatros, der dem Volk gar nicht erst die Wahl zwischen dem demokratischen Lager (Demosthenes, Hypereides, Lykurg) und dem oligarchischen Lager (Eubulos, Aischines, Demades, Phokion) zugestand und aufgrund seiner Friedensbedingungen auch seinen beiden Athener Statthaltern 2, dem Platonschüler Phokion (402–319) und Demades (380–319), von vornherein nur eine bedingte Autonomie einräumte. Die politische Philosophie musste erfahren, dass sie nicht nur mit dem Widerstand der eigenen Mitbürger zu rechnen hatte, sondern auch mit dem Widerstand einer fremden Macht, die je nach Opportunität auf die Seite der Philosophie oder aber auch auf die Seite der Menge treten konnte. Eine Einschränkung ihrer Souveranität hatten die Athener schon 324 akzeptieren müssen, als Alexander Nikanor in Olympia das Dekret verlesen ließ, demgemäß alle Verbannten wieder in ihre Städte zu repatriieren seien. Im Zuge dieser Maßnahme mussten die Athener viele Kolonisten wieder in ihre Stadt aufnehmen. Entsprechend verärgert sahen sie denn auch gleich beim Tod Alexanders ihre Chance, die verlorene Souveränität zurückzugewinnen, und eröffneten deshalb als Konsequenz den Lamischen Krieg. 3 Konsequent handelte allerdings später auch Antipatros, als er nach der Niederlage der Athener die Auslieferung der demokratischen Anführer verlangte sowie die Verbannung der potenziell kriegslustigen ärmeren Bürger. Zu der verlangten Auslieferung konnte es allerdings nicht mehr Platon, Politeia 540 A. Plutarch, Phokion 30, 2. 3 Diodor 17, 109, 1 und 18, 8, 1–7; Nepos, Timotheos 1, 1; Isokrates 15, 111; vgl. Strabon 14, 1, 18 (p. 638 C). 1 2

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Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322)

kommen, da beim Herannahen des Antipatros Demosthenes, Hypereides, Aristonikos von Marathon und Himeraios von Phaleron, der Bruder des Oligarchen Demetrios Phalereus, aus Athen flüchteten und auf Antrag des Demades vom Volk in absentia zum Tode verurteilt wurden. Während Demosthenes im Poseidontempel auf der Insel Kalauria (Poros) Selbstmord beging 4, wurden seine drei ebenfalls flüchtigen politischen Freunde im Heiligtum des Aiakos auf der Insel Aigina gestellt und von Antipatros hingerichtet. 5 Das Odium einer Mitverantwortung sowohl für die Hinrichtung der demokratischen Anführer als auch für die Vertreibung der Ärmeren lastete unvermeidlich auf Demades und Phokion, die ja den Friedensbedingungen des Antipatros zugestimmt hatten, mit der von ihm erzwungenen Oligarchie einverstanden waren und ihm ihre Statthalterschaft verdankten. Schwerer von beiden hatte es Demades, weil ihm anhing, er habe Antipatros, der den Athenern am liebsten die Freiheit lassen wollte, um schnell in Asien die Dinge in seinem Sinne zu regeln, davon abgeraten und stattdessen die Besetzung von Munychia empfohlen, um auf die Weise die Athener wirksamer in Schach zu halten. 6 Wenn das zutraf, wollte Demades vielleicht zwei Jahre später Wiedergutmachung üben, als er in einem konspirativen Brief den Diadochen Antigonos Monophthalmos (381–301) aufforderte, er solle in Makedonien die Macht übernehmen und die griechischen Städte befreien. Diesen Brief fing Kassandros (ca. 355–297), der Sohn des Antipatros, ab und sorgte für die Hinrichtung des Absenders, da er zu dieser Zeit Antigonos als seinen Rivalen ansah. 7 Phokions Handeln war insofern vorgezeichnet, als er sich genötigt sah, illusionslos Realpolitik zu treiben, Athen also unter makedonischen Rahmenbedingungen zu verwalten, sich zugleich aber als Platonschüler der Wahrung seines philosophischen Ethos verpflichtet fühlte. Indes war Realpolitik im Grunde für ihn nichts NeuPlutarch, Demosthenes 28–30. Plutarch, Demosthenes 28, 2–4; Phokion 29, 1; Moralia 849 A–B. 6 Pausanias 7, 10, 4–5. 7 Plutarch, Phokion 30, 5–6. In seiner Vita des Demosthenes (31, 3–4) sagt Plutarch, Demades habe den konspirativen Kontakt mit Perdikkas, den Alexander kurz vor seinem Tod mit einer symbolischen Geste zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, herzustellen versucht. Diese letztere Version ist weniger wahrscheinlich, da Perdikkas 320 in Ägypten gebunden war und dort von seinen Offizieren ermordet wurde (Diodor 18, 40, 1–4). 4 5

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Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322)

es. Nach der Schlacht bei Chaironeia suchte er den Ausgleich mit Philipp 8 und nach der Zerstörung Thebens den Ausgleich mit Alexander. 9 Auch riet er Alexander, wenn er unbedingt Krieg haben wolle, dann solle er ihn nicht gegen Griechen, sondern gegen Barbaren führen. 10 Dieselbe Empfehlung hatte auch sein Lehrer Platon ausgegeben. 11 Zur Realpolitik disponierte Phokion insbesondere sein nüchterner, durch nichts zu täuschender Blick für die herrschenden Machtverhältnisse. Als die Athener Alexander dem Großen die Entsendung von angeforderten Trieren verweigern wollten, rief er ihnen zu: Seid entweder überlegen oder seid Freunde der Überlegenen. 12 Von der Eröffnung des Lamischen Krieges riet er ab, da es mit der Moral der Athener auf allen Ebenen schlecht bestellt sei. 13 Als Leosthenes zu Anfang des Lamischen Krieges Erfolge zu verzeichnen hatte, verglich er diese mit einem Sieg im Stadionlauf; im Krieg komme es aber darauf an, den Langstreckenlauf zu gewinnen. 14 Dank des Ansehens, das Phokion bei den Makedonen genoss, gelang es ihm, die Friedensbedingungen nachträglich zu lindern. Er erwirkte einen Aufschub der Kriegskostenzahlung und erreichte, dass weniger Bürger ausgewiesen wurden 15 und dass die doch noch Auszuweisenden nicht mehr nach Thrakien geschickt wurden, sondern zur Peloponnes. 16 Im Übrigen konnten die Athener die Verbannung einer größeren Zahl ihrer ärmeren Mitbürger durchaus hinnehmen, denn diese waren durch Sklaven ersetzbar. In den Nomoi (846 E– 847 A) zitiert Platon einen Handwerker mit der Aussage, er könne aus seiner Arbeit allein nur wenig Gewinn erzielen, weitaus mehr aber, wenn er jeden seiner Sklaven das von ihnen jeweils erlernte Handwerk ausüben ließe. Bewunderswert bleibt, wie Phokion unter den Bedingungen begrenzter Souveränität, für die er nicht verantwortlich war, das einem Platonschüler angemessene Ethos bewies. Er lief meist barfuß durch

Plutarch, Phokion 16, 4. Ebd. 17, 1–3. 10 Ebd. 17, 4. 11 Platon, Politeia 470 C. 12 Plutarch, Phokion 21, 1. 13 Ebd. 23, 2. 14 Plutarch, Moralia 803 A–B. 15 Plutarch, Phokion 30, 4. 16 Ebd. 29, 3. 8 9

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Antipatros und Phokion – oder die zwölfte Wende (322)

die Stadt 17, übte die von Platon so geschätzte Brachylogie 18, indem er vor jeder Rede überlegte, welche Wörter er auslassen könne 19, und schaffte es, mit einem Minimum an Wörtern ein Maximum an Gehalt zu präsentieren. 20 Phokion war absolut unbestechlich; selbst von Alexander ihm zugedachte 100 Talente nahm er nicht an. 21 Auch von Menyllos, dem Kommandanten in Munychia, ließ er sich nicht bestechen. 22 Als gutem Platoniker war ihm die Meinung der Menge stets suspekt; als sie ihm bei einer Äußerung einmal applaudierte, fragte er seine Freunde irritiert, was er denn, ohne es zu wollen, bloß falsch gemacht habe. 23 Auch genügte er Platons mit der Weiber- und Gütergemeinschaft ausgesprochener Forderung, das Interesse des Staates über das der Familie zu stellen. Als sein Schwiegersohn Charikles angeklagt war, er habe sich von Harpalos, dem geflüchteten Schatzmeister Alexanders, bestechen lassen, verweigerte er ihm jegliche Unterstützung, da er ihn für nichts anderes als für gerechte Ziele zu seinem Schwiegersohn gemacht habe. 24 Phokion war der erste Platonschüler, dem es gelang, wenn auch nur als Statthalter einer fremden Macht, in Athen eine politisch leitende Stellung einzunehmen. Anders als die Platonschüler Klearchos, Chairon und Timolaos legte er ein untadeliges Verhalten an den Tag und entsprach darin, soweit es bei ihm selbst lag, ganz offenbar den Vorschriften seines Lehrers. Das galt indes nicht für den vorgegebenen äußeren Rahmen. Zwar hegten Platon und Aristoteles unverhohlen Sympathien für die Makedonen und erfuhren auch ihrerseits deren Sympathiebekundungen, hätten aber niemals darauf gesetzt, eine Herrschaft der Philosophie in Athen nur dank der äußeren Stütze eines makedonischen Protektorats zu etablieren. Noch weniger hatten sie die schlimmere Möglichkeit ins Auge gefasst, dass der Protektor, sobald es ihm opportun erschien, die Seiten wechselte und den Demokraten zum Sieg über die Oligarchen verhalf. Ebendies geschah jedoch nach dem Tod des Antipatros und sollte sich später beim Sturz

17 18 19 20 21 22 23 24

Plutarch, Phokion 4, 2. Platon, Protagoras 334 D und Gorgias 449 B–C/465 E. Plutarch, Phokion 5, 3 und Moralia 187 F. Plutarch, Moralia 803 E. Plutarch, Phokion 18, 1–3; Moralia 188 C; Ailian, Varia Historia 11, 9. Plutarch, Phokion 30, 1 und Moralia 188 F. Plutarch, Phokion 8, 2–3 und Moralia 188 A–B. Plutarch, Moralia 808 A; vgl. Plutarch, Phokion 21, 4–22, 3.

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Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319)

des Demetrios Phalereus wiederholen. Der Verlust der Souveränität der Stadt schloss den Verlust der Souveränität der Schule ein.

Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319) Antipatros hatte in seinem Testament Polyperchon, den Alexander der Große 324 aus Altersgründen in die Heimat geschickt hatte, 1 zum Militärgouverneur für Europa (στρατηγὸς Εὐρώπης) ernannt und seinen eigenen Sohn Kassandros zum nachgeordneten Chiliarchen. 2 Kassandros akzeptierte seine Unterordnung nicht und handelte auf eigene Faust. Um einer drohenden Isolierung zu entgehen, schmiedete er ein Bündnis mit den Diadochen Antigonos Monophthalmos und Ptolemaios I. Soter. 3 Insbesondere lag Kassandros daran, Athen als sein vom Vater gleichsam ererbtes Kronjuwel für sich zu sichern. Da er bei solcher Zielsetzung zu Menyllos, dem Kommandeur der makedonischen Besatzungseinheit in Munychia, weniger Vertrauen hatte, ersetzte er ihn durch den schon erwähnten Nikanor, den Schwiegersohn des Aristoteles. 4 Dieser besetzte zur Stärkung seiner Position neben Munychia auch noch den Piräus. 5 Indes blieb auch Polyperchon nicht untätig. Um den Einfluss des Kassandros zu schmälern, verabschiedete er zusammen mit seinen Verbündeten eine Proklamation des Inhalts, dass alle griechischen Städte frei und die von Antipatros eingerichteten Oligarchien zu stürzen seien. 6 Im Einzelnen wurde festgesetzt, dass alle Verbannten zurückkehrten und ihnen ihr Eigentum samt Bürgerrechten restituiert werde. 7 Die Athener sollten ihr gesamtes Territorium einschließlich der Insel Samos behalten; nur Oropos solle selbständig werden. 8 Als Kassandros sich an der Unterstützung dieser Ziele nicht beteiligte, geriet Nikanor, der sich loyal für ihn einsetzte, in nicht geringe 1 2 3 4 5 6 7 8

Iustin 12, 12, 8. Diodor 18, 48, 4–5. Ebd. 18, 55, 2. Plutarch, Phokion 31, 1. Diodor 18, 64, 4. Ebd. 18, 55, 2–4. Ebd. 18, 56, 1–4. Ebd. 18, 56, 7.

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Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319)

Schwierigkeiten. Denn die über die Verweigerungshaltung verärgerten Athener Demokraten setzten nunmehr ihre Hoffnungen auf Alexander, den Sohn des Polyperchon, der nahe dem Piräus ein Heerlager aufgeschlagen hatte. Die in Bedrängnis geratenen oligarchischen Anführer suchten daraufhin ausgerechnet bei Alexander Schutz, während die Demokraten zugleich eine Gesandtschaft zu Polyperchon schickten und erreichten, dass Phokion und die ihn zu Alexander begleitenden Oligarchen gefesselt nach Athen zurückgeschickt wurden, und zwar mit der Maßgabe, die Volksversammlung solle sie entweder zum Tode verurteilen oder die Vorwürfe gegen sie fallen lassen. 9 Polyperchon kalkulierte, er werde die Athener leicht für sich gewinnen, wenn er die Verbannten von 322 zurückholte, um das demokratische Lager zu stärken, und erwartete, dass die Demokraten nunmehr die Oligarchen aus der Stadt vertrieben. 10 Das Opfer dieser Machtverschiebung wurde Phokion. In aufgeheizter Atmosphäre machten die Ekklesiasten ihm den Prozess wegen Auflösung der Demokratie und schrien ihn bei seiner Verteidigungsrede nieder, sodass nur die nahe bei ihm Stehenden seine Argumente hören konnten. Besonders laut schrien die aus der Verbannung Zurückgekehrten, die sich von Phokion, der ja zur Friedensdelegation bei Antipatros gehört hatte, im Stich gelassen fühlten. 11 Die Verteidigungsargumente des Phokion, die die Menge nicht hören wollte, lagen auf der Hand: Er hatte entschieden von der Eröffnung des Lamischen Krieges abgeraten und sich bei Antipatros erfolgreich um Milderung der Friedensbedingungen bemüht. 12 Die Athener verurteilten Phokion und vier weitere Oligarchen zum Tode; ebenfalls fällten sie das Todesurteil in absentia über Charikles und Demetrios Phalereus. 13 Auslöser der Prozesse war letztlich die Weigerung des Phokion, Nikanor zu verhaften, als dieser im Vertrauen auf das von Phokion zugesicherte freie Geleit vor eine Bürgerversammlung im Piräus trat, um den Standpunkt des Kassandros, seines Dienstherren, zu vertreten. Als die Menge auf seine Ausführungen immer wütender reagierte, stahl Nikanor sich davon, was

Ebd. 18, 66, 1–4; Plutarch, Phokion 34, 2–3. Plutarch, Phokion 32, 1–2. 11 Diodor 18, 65, 4–6; Plutarch, Phokion 27, 3–5 und 34, 1–3. 12 Plutarch, Phokion 29, 1–3; Diodor 18, 66, 4–6. 13 Plutarch, Phokion 35, 2. 9

10

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Kassandros und Polyperchon – oder die dreizehnte Wende (319)

Phokion bewusst nicht verhinderte, um Wort zu halten. Auf die Vorwürfe der Menge antwortete Phokion, es hätten in seinen Augen keinerlei Übergriffe des Nikanor gedroht und wenn doch, dann wolle er mit Sokrates 14 lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun. 15 Nach der Hinrichtung des Phokion fuhr Kassandros, von Antigonos mit 35 Kriegsschiffen und 4000 Fußsoldaten versorgt, in den von Nikanor immer noch besetzten Piräus ein, der danach nur noch in Munychia das Kommando führte. Polyperchon marschierte darauf mit weit überlegenen Kräften aus der Phokis in Attika ein, musste aber wegen Nachschubschwierigkeiten auf eine Belagerung des Kassandros verzichten. Stattdessen wandte er sich gegen Megalopolis, weil die Einwohner anders als die übrigen Peloponnesier an der von Antipatros dort etablierten Oligarchie festhielten. 16 Als Polyperchon Megalopolis vergebens belagerte 17, verloren die meisten griechischen Städte das Vertrauen in seine Stärke und wechselten wieder in das Lager des Kassandros. So hielten es auch die Athener. Als in der Volksversammlung ein angesehener Redner einen entsprechenden Vorschlag wagte, wurde dieser zur Überraschung aller am Ende einmütig angenommen. In den Verhandlungen mit Kassandros erreichten die Athener, dass die Verfügung über Stadt, Territorium und Flotte in ihrer Hand blieben. Zugleich akzeptierten sie die Wiedereinführung der Oligarchie, allerdings unter der einschränkenden Maßgabe, dass nicht mehr der Nachweis eines Vermögens von zweitausend, sondern von nur noch tausend Drachmen für das volle Bürgerrecht und damit für die Teilnahme an öffentlichen Beschlüssen ausreichte. 18 Kassandros wollte, wenn er dem Demos entgegenkam, offenbar der wiederhergestellten Oligarchie mehr Akzeptanz und damit bessere Chancen einräumen als sein Vater. Daher verlangte er, wie gesagt, nur den halben Zensus und verbannte nicht die Bürger, die über ein geringeres Vermögen verfügten. Gleichwohl blieb es dabei, dass durch den Verlust der Souveränität Athens die von Platon und Aristoteles vorgefundene Lagertrennung zwischen den Oligarchen mitsamt ihren Philosophen einerseits und der Menge mitsamt ihren DePlaton, Gorgias 469 C. Plutarch, Phokion 32, 3; vgl. Curtius Rufus, De excellentibus ducibus exterarum gentium: Phokion 3, 4. 16 Diodor 18, 68; 18, 69, 3–4. 17 Ebd. 18, 70–18, 72, 1. 18 Diodor 18, 74, 1–3; Plutarch, Moralia 272 C–D. 14 15

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Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende (317)

magogen andererseits nicht mehr Grundbestand, sondern nur noch verliehene Funktion jeweils überlegener Mächte war. Die Binnenstruktur, die sich jahrhundertelang von selbst verstand, war aufgebrochen. Neuerdings gaben äußere Machtfaktoren den Ausschlag. Nicht die Seite setzte sich durch, die aus eigener argumentativer Kraft die Oberhand gewann, sondern diejenige, der es gelang, einen makedonischen Protektor für sich zu gewinnen. Das war nach der Rückkehr des Kassandros die Konstellation, an der der Oligarch und Theophrastschüler Demetrios Phalereus, als neuer Statthalter in vergleichbarer Ausgangslage wie Phokion, seine Politik ausrichten musste.

Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende (317) Um dem Schicksal des Phokion zu entgehen, hatte sich Demetrios Phalereus (350–280) gerade noch rechtzeitig in das Lager des Kassandros geflüchtet. Er hatte die Gefahr durchaus richtig eingeschätzt; denn die Athener verurteilten ihn ja, wie gesagt, in absentia zum Tode. Als er mit Kassandros nach Athen zurückkehrte, sorgte er laut einer Ehreninschrift des Demos Axione 1 für den Frieden und ließ in beiden Richtungen den Zugang zwischen der unbesetzten Stadt und dem besetzten Hafenbezirk wieder öffnen. Diese Vorleistung stärkte offenbar sein Ansehen beim Volk, das ihn soeben noch zum Tode verurteilt hatte. Man vereinbarte, so heißt es bei Diodor (18, 74, 3), »einen Athener als Epimeleten (Statthalter, Prokurator) einzusetzen, der Kassandros genehm sei; und es wurde Demetrios Phalereus gewählt«. In der Inschrift aus Axione heißt es dazu ausdrücklich noch genauer, er sei vom Volk gewählt worden. Damit sind aber noch nicht alle Fragen geklärt. Dass Demetrios als Epimelet 2 eingesetzt wurde, geschah ersichtlich aus der Perspektive des Kassandros. Aber verdiente er diese Position auch aus der Perspektive der Athener? Unglücklicherweise verhilft die Inschrift in diesem Punkt nicht zu letzter Gewissheit; denn ausgerechnet an der Stelle, wo sie hilfreich sein könnte, sind neun Buchstaben nicht mehr lesbar: καὶ … … … αἱρεθεὶς ὑπὸ τοῦ δήμου τοῦ ’Αθηναίων νόμους 1 2

IG II/III2 1201; Sylloge3 Nr. 318; HGIÜ Band II, Nr. 274. So Diodor 20, 45, 2.

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Demetrios Phalereus – oder die vierzehnte Wende (317)

ἔθηκεν καλοὺς καὶ συμφέροντας τεῖ πόλει. In die Lücke passt Epimeletes (ἐπιμελητής) mit zehn Buchstaben nicht, wohl aber Gesetzgeber (νομοθέτης) mit neun Buchstaben; und diese Ergänzung ist zudem nahe gelegt durch das anschließende Lob in der Inschrift, er habe der Stadt gute und nützliche Gesetze gegeben. Je nach Perspektive war also Demetrios Statthalter oder Gesetzgeber. Mittelbar war er natürlich auch für die Athener Statthalter, aber unmittelbar war er ihr Gesetzgeber 3, und zwar ihr dritter. 4 Als die beiden Vorgänger des Demetrios könnte der Gewährsmann Synkellos Theseus und Solon oder Solon und Kleisthenes gerechnet haben. Philosophisch war Demetrios auf das Amt des Gesetzgebers gut vorbereitet. Platon hatte zwölf Bücher Nomoi geschrieben und sein Lehrer Theophrast 24 Bücher »Über die Gesetze« sowie drei »Über den Gesetzgeber«. 5 Der von den Demokraten reformierte Gesetzeskodex schien den neuen Machthabern offenbar noch erhebliche Mängel aufzuweisen. Damit nämlich Demetrios seine Gesetze in der gebotenen systematischen Strenge nach Maßgabe der theoretischen Vorleistungen der Schule formulieren konnte, war sein neues Amt mit der Sondervollmacht verbunden, Gesetze ohne Zustimmung der Volksversammlung zu erlassen. Diese Vollmacht kam Demetrios äußerst gelegen, denn er hegte dank seiner Erfahrungen beim Sturz des Phokion offenbar eine kaum überwindliche Aversion gegen die Einberufung von Volksversammlungen. Durch Inschriften aus der Zeit seiner zehnjährigen Herrschaft sind lediglich drei Volksversammlungen dokumentiert 6, während nach demokratischer Regel in jedem Jahr vierzig ordentliche Versammlungen hätten stattfinden müssen. Wäre da nicht der makedonische Protektor gewesen, der noch über Demetrios stand, dann hätte seine Position genau der Wunschvorstellung Platons vom souveränen Philosophenkönig entsprochen. Zumal Demetrios auch schon im Lykeion als philosophischer Lehrer gewirkt und, wie gesagt, eine beachtliche Publikationsliste von 46 Titeln aufzuweisen hatte. 7 Demetrios war als Philosoph durch seine Schriften Plutarch, Aristides 27, 3. So der byzantinische Geschichtsschreiber Synkellos in seinen Ekloga Chronographica 521. 5 Diogenes Laertios 5, 44–45. 6 Dow, St. und Travis, A. H.: Demetrios of Phaleron and his Lawgiving, in: Hesperia 12 (1943) 144–165 (hier: S. 155, Anmerkung) verweisen in dieser Frage auf die Inschriften IG II/III2 450 (anno 314/3), 451 (anno 313/2) und 453 (anno 310/9). 7 Diogenes Laertios 5, 80–81. 3 4

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ausgewiesen und als König, sofern er laut Plutarch den Staat dem Namen nach wie eine Oligarchie, in Wahrheit aber wie eine Monarchie geleitet habe. 8 Demetrios übernahm sein Amt unter ähnlichen Voraussetzungen wie Phokion. Beide stammten aus derselben Schule und hegten dieselben philosophischen Grundüberzeugungen. Beide übernahmen ihre Ämter mit tätiger Unterstützung eines makedonischen Protektors, der ihnen vertraute, weil sie auf Ausgleich und Wahrung des Friedens mit Makedonien bedacht waren. 9 Beide waren überdies entschiedene Oligarchen. Phokion machte nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen die Menge; und Demetrios definierte aus dieser Grundhaltung heraus demokratische Politiker als seine Gegner. Über Perikles urteilte er, er habe bei Weitem zu viel Geld in den Bau der Propyläen gesteckt 10; und Demosthenes sei für Bestechung jederzeit offen gewesen, aber unter Waffen unzuverlässig. 11 Die alles entscheidende Gemeinsamkeit lag indes darin, dass Phokion und Demetrios von vornherein ein und demselben Risiko ausgesetzt waren. Solange das makedonische Protektorat sie stützte, waren sie sicher; sobald aber der eine Protektor den anderen stürzte und der Menge zu neuem Übergewicht verhalf, mussten sie um ihr Leben fürchten. Für Phokion war das Problem der Menge zunächst weniger brennend, weil ja die demokratische Anhängerschaft im Exil war. Erst als Polyperchon die Menge zurückführte und gegen Phokion in Stellung brachte, wurde jene Gefahr erkennbar, die Demetrios Phalereus für seine eigene Herrschaft vom ersten Augenblick an bewusst sein musste. Dieser Gefahr konnte er nur vorbeugen, wenn er die Polis durch die Art seiner Gesetze für sich gewann und Versuchen, das Volk gegen ihn aufzuwiegeln, den Boden entzog. Dieser Weg der politischen Selbstbehauptung entsprach sogar in einem gewissen Sinne dem Grundgesetz der Schule Platons, dass der Philosophenkönig im Sinne aller Polisbürger insgesamt handelt und dass die Machtergreifung der nur ihre Interessen verfolgenden Menge als die größte anzunehmende Katastrophe anzusehen ist. Die erste Maßnahme, die Demetrios anordnete, war eine Volkszählung (ἐξετασμός). Auf die alte Zahl des Jahres 322 konnte er sich Plutarch, Demetrios (Poliorketes) 10, 2. Diodor 18, 74, 3. 10 Cicero, De officiis 2, 60. 11 Plutarch, Demetrios (Poliorketes) 14, 2. 8 9

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nicht mehr verlassen. Demetrios musste wissen, mit wie viel Steuereinnahmen er rechnen konnte und wie viele Bürger im Einzelfall politisch partizipationsberechtigt waren, sofern ihr Vermögen über tausend Drachmen betrug. Die Zählung des Demetrios ergab 21 000 Bürger und 10 000 Metöken, so dass trotz Verbannungen und Neuzuwanderungen die alte Bürgerzahl des Jahres 322 wieder erreicht war. 12 Demetrios musste mehr als Phokion darauf achten, dass sich die nunmehr wieder vollzählige Menge nicht gegen sein Regiment empörte. Die geringe Zahl von drei Volksversammlungen, von denen schon die Rede war, werden zur Kalmierung wenig beigetragen haben. Mehr aber gewiss die Befolgung des Rates des Aristoteles, auch einer politisch entmündigten Menge möglichst keinen Anlass zum Aufruhr zu bieten. Demetrios sorgte nämlich dafür, dass auf dem Markt jederzeit ausreichend Nahrungsmittel zu bezahlbaren Preisen zu kaufen waren. 13 Als weitere Maßnahme in diesem Sinne könnte das Gesetz des Demetrios zur Unantastbarkeit der Grenzsteine verstanden werden, indem er den Namen desjenigen registrieren ließ, bei dem die einschlägigen Urkunden deponiert waren. 14 Damit beachtete er Platons Forderung, die Grenzsteine müssten als Unverrückbares auch unverrückbar bleiben 15, und zugleich das Interesse der Schwächeren, denen ein Mehr an Rechtssicherheit gelegener kam als den Stärkeren. Theophrast verfuhr bei der Abfassung seines Testaments genau nach der neuen Vorschrift des Demetrios, indem er darin ausdrücklich erwähnte, bei wem weitere Exemplare hinterlegt seien und wer das bezeugen könne. 16 Mit Sympathien des Volkes konnte Demetrios auch rechnen, als zu seiner Regierungszeit der Architekt Philon die nach diesem benannte Halle an die Südwestseite des Telesterion in Eleusis anbaute. Perikles hatte nach den Zerstörun-

Von dieser Zählung berichtet Ktesikles (FGH 245 F 1) bei Athenaios 272 C, demgemäß die Maßnahme in der 117. Olympiade durchgeführt wurde. Das würde zum Jahr 309/08 passen, in dem Demetrios eponymer Archont war (Diodor 20, 27, 1). Die politische und die fiskalische Logik spricht aber dafür, dass Demetrios die Zählung gleich bei seinem Amtsantritt durchführen ließ. Allerdings ist schwer zu rekonstruieren, wie viel Zeit der Vorgang in Anspruch genommen hätte. 13 Polybios 12, 13, 9–10. 14 Eine ausführliche Erörterung dieser Maßnahme bietet W. S. Ferguson, The Laws of Demetrius of Phalerum and their Guardians, in: Klio 11 (1911) 265–276. 15 Platon, Nomoi 842 E–843 B. 16 Diogenes Laertios 5, 57. 12

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gen der Perser das Telesterion ohne Säulenkranz wiederaufbauen lassen, um mehr Raum für die Weihung der Mysten im Inneren des Gebäudes zu gewinnen. Philon aber verschaffte, wie Vitruv kommentiert, durch seine Halle den draußen auf die Weihung Wartenden mehr Raum und erhöhte die respektheischende Wirkung (auctoritas) des Telesterion. 17 Demetrios musste neben seinem Bemühen um auskömmliche innere Verhältnisse auch auf das Einvernehmen mit seinem makedonischen Protektor achten. Kassandros selbst war in Athen nicht zugegen, wohl aber an seiner statt zunächst Nikanor, der den Piräus besetzt hielt, und später dessen Nachfolger Dionysios, den Kassandros mit dem Kommando betraute, nachdem er Nikanor wegen Illoyalität hatte hinrichten lassen. 18 Athens Souveränität war im besten Fall bedingt. Das erwies sich, als Kassandros an Demetrios Phalereus und ebenso auch an Dionysios ein Schreiben richtete, in dem er die Entsendung von zwanzig attischen Schiffen anordnete. 19 Der Hafen stand also völlig unter makedonischer Kontrolle und die Flotte, Athens einstiger Stolz, mindestens zur Hälfte. Während dieser Vorgang vielleicht gerade noch hinzunehmen war, geriet Demetrios im dritten Diadochenkrieg (315–311) in größte Verlegenheit. In diesem Krieg standen Antigonos und Polyperchon im Bündnis gegen Ptolemaios, Lysimachos und Kassandros. Bei ihrem Friedensschluss teilten die Diadochen das Reich untereinander auf, und zwar erhielt Antigonos Asia minor, Ptolemaios Ägypten, Lysimachos Thrakien und Kassandros Europa, während Polyperchon leer ausging. Kassandros erhielt seinen Anteil mit der Maßgabe, die Herrschaft über Griechenland als Vormund bis zur Volljährigkeit Alexanders IV., des Sohnes Alexanders des Großen und der Roxane, auszuüben. Diese Bestimmung lief geradezu auf ein Todesurteil für Roxane und ihren Sohn hinaus. Kassandros ließ auch seine Agenten im Sinne dieser Art von Logik handeln. Nach ihrer Aufteilung der Territorien entschieden die Frieden schließenden Parteien in einem letzten Punkt, die griechischen Städte sollten wieder autonom sein 20 – ein Beschluss, den Antigonos, wie er in einem Brief den Einwoh-

17 18 19 20

Vitruv, Buch VII, Vorrede § 17; vgl. Plutarch, Perikles 13, 4. Diodor 18, 75, 1. Ders. 19, 68, 3. Diodor 19, 105, 1–3.

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nern von Skepsis versicherte 21, sehr ernst nahm, während Kassandros sich nicht darum scherte. Dass die Athener aber genau die Unterstützung ihres Strebens nach Autonomie von Kassandros erwarteten, bewiesen sie auf eine für Demetrios höchst bedrohliche Weise zwei Jahre zuvor, als die Kämpfe noch tobten. Kaum hatte Antigonos Kassandros aus Euboia und Oropos vertrieben, da erkannten ungenannte Athener Bürger ihre Chance. An Demetrios vorbei nahmen sie Kontakt mit Antigonos auf. Als sich daraufhin ein Offizier des Antigonos namens Ptolemaios Attika näherte, nötigte das Volk Demetrios, mit diesem in Verhandlung zu treten, und zwar, wie Diodor berichtet 22, mit dem Ziel, ein Bündnis mit Antigonos auszuhandeln. Zum Glück für Demetrios wurde nichts daraus; denn Antigonos und Ptolemaios waren sogleich wieder anderweitig beschäftigt. Deshalb hat auch Diodor den Vorgang nicht weiter verfolgt. Demetrios wurde gleichwohl demonstriert, dass er außenpolitisch nicht nur auf den einen Diadochen Kassandros Rücksicht nehmen musste, sondern auch noch leicht zwischen die Fronten aller Diadochen geraten konnte. Glücklicherweise passierte das Demetrios aber nur in diesem Fall. Generell hingegen war Demetrios bei all seinen gesetzgeberischen Maßnahmen eingeengt zwischen den Interessen des Kassandros, der dem Volk die Souveränität verweigerte, und denen des Volkes, das eben die Souveränität von Kassandros erwartete. Damit dieser latente Konflikt nicht zum Ausbruch käme, musste Demetrios alles tun, um auslösende Anlässe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Seine Politik musste darauf ausgerichtet sein, dass weder die Reichen noch die Armen Grund zu Widersetzlichkeiten fänden. Er sorgte, wie gesagt, einerseits dafür, dass die Ernährung der Bevölkerung insgesamt gesichert war 23, und schützte zum anderen die Wohlhabenden vor wirtschaftlichem Ruin, der ihnen jederzeit drohte, wenn sie sich etwa genötigt sahen zur Übernahme von Leiturgien, jenen höchst kostspieligen Dienstleistungen einzelner Bürger für die Allgemeinheit. Neben der folgerichtigen Aufhebung der Leiturgien des Choregen, des Trierarchen und des Gymnasiarchen erzwang Demetrios in gleicher Absicht auch das Ende des Gräberluxus. Die Finanzierung der alljährlichen Aufführungen im Dionysos21 22 23

HGIÜ Band II, Nr. 276; OGIS 5 und 6. Diodor 19, 78, 2–4. Polybios 12, 13, 9–10 – wie Anm. 13, S. 131.

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theater war Sache des Choregen, des »Chorführers« oder – modern gesprochen – des Produzenten. Die von Perikles eingeführte Theaterkasse diente lediglich dazu, den ihrer kultischen Pflicht nachkommenden Theaterbesuchern den mehrtägigen Verdienstausfall zu ersetzen. Wie kostspielig Choregien sein konnten, demonstriert ein der Unterschlagung staatlicher Mittel angeklagter Athener, der dem Gericht zu seiner Entlastung vorrechnet, er habe für Chöre zu verschiedenen Kultfesten 231 Minen, also fast vier Talente aufgewendet und sieben Jahre lang sechs Talente für die Unterhaltung von Trieren. 24 Zwar sagt der Angeklagte nicht, für wie viele Trieren er mit dieser Summe aufgekommen ist, aber die Zahlen sprechen auch so für sich. Für den Sieger des Wettbewerbs der Chöre mag sich die Investition durch Prestigegewinn ausgezahlt haben; auch konnte er mit einem Choregendenkmal ewig an seinen Erfolg erinnern: Noch heute ist das Choregenmonument des Lysikrates aus dem Jahr 335/4 in der Athener Plaka zu bewundern. In der Tat lohnte sich aber das viele Geld, mit dem der Chorege den Chor bei Laune hielt, einzig und allein für den Sieger im Tragödienwettbewerb. Ihm allein waren zur Verherrlichung seines Sieges Monumente oder Dreifüße gestattet. Plutarch (Moralia 349 B) zitiert bezüglich des Aufstellens solcher Denkmäler den mokanten Kommentar eines Atheners, demzufolge es sich dabei in Wahrheit gar nicht um Weihgaben handele, sondern um eine letzte zusätzliche Spende, die zu den vorausgegangenen ruinösen Ausgaben noch hinzukäme; der öffentlich ausgestellte Dreifuß sei nichts als der Kenotaph für ein dahingeschiedenes Vermögen. Der von Plutarch mit diesem Kommentar zitierte Athener war Demetrios Phalereus. Demetrios schaffte folgerichtig die Leiturgie des Chorführers ab. In den erhaltenen Inschriften der Jahre 308 bis 175, die die Tragödienwettbewerbe protokollieren, heißt es nunmehr »die Gemeinde war Chorführer« (ὁ δῆμος ἐχορήγει) 25, in deren Auftrag also ein Beamter die Funktion des alten Chorführers übernahm. Es darf als gesichert angenommen werden, dass auch die Leiturgien des Gymnasiarchen und des Trierarchen in Aufgaben vom Volk gewählter Beamten umgewandelt wurden; denn auch diese beiden Leiturgien tauchen seit Demetrios in den Inschriften nicht mehr auf. In Theophrasts »Charakteren« (26, 6) stöhnt ein Oligarch: Wann ist es endlich so weit, 24 25

Lysias 21, 1–10. IG II/III2 3073–3088.

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dass Leiturgien und ganz besonders die Trierarchie uns nicht mehr den finanziellen Ruin bescheren? Aus ähnlicher Sorge ist das von Demetrios dekretierte Ende des Gräberluxus zu verstehen. So sehr sich der heutige Athenbesucher am Anblick der prächtigen Grabdenkmäler im Kerameikos erfreuen mag, so wenig ist zu übersehen, dass sie das Ergebnis eines durchaus ruinösen Wettbewerbs waren. Statt großer Grabnaisken gestattete Demetrios künftig nur noch eine kleine, bis zu drei Ellen hohe Säule (columella), einen Grabtisch (mensa) oder eine Wasserschale (labellum). 26 Die Säule ist die auf das Wesentliche reduzierte Grabstele; sie nennt den Namen des Toten, seines Vaters und seiner Gemeinde. Ausnahmen duldete Demetrios nicht. Im Kerameikos fand sich auch eine Grabsäule mit der korrekt knappen Inschrift: Charita, Tochter des Straton aus Itea, Gattin des Demetrios Phalereus. 27 Die Aufhebung des Gräberluxus durch Demetrios erfolgte ganz und gar im Sinne der Philosophie. Theophrast verbat sich in seinem Testament jeglichen Aufwand für sein Grab. 28 Für Sokrates war seine Bestattung das Unwesentliche, da sie nur seinen Körper betreffe. 29 Platon warnte, man solle sich nicht überflüssigerweise von Generation zu Generation beim Aufwand für die Gräber überbieten. 30 Überflüssig deswegen, weil es weitaus angemessener sei, den Toten zu seinen Lebzeiten vor Fehlverhalten zu bewahren, damit er im Elysium ein seliges Leben führen könne. 31 Es reiche völlig aus, wenn ein Pentakosiomedimne bis zu fünf Minen aufwende und ein armer Thete, der seine Familie am Tag von einer bis zwei Drachmen ernährte, bis zu einer Mine oder hundert Drachmen. 32 Im Übrigen fällt auf, dass Platon noch bedeutend mehr Zugeständnisse machte als Demetrios; denn er ließ einen Grabhügel zu, der in 25 Tagewerken aufzuwerfen sei, sowie einen Stein mit vier Verszeilen zu Ehren des Toten. 33 Das ist ersichtlich mehr als die spärlichen Angaben auf einer kleinen Grabsäule, die Demetrios lediglich erlaubte. Auf diese Weise schützte Demetrios die Wohlhabenden vor der 26 27 28 29 30 31 32 33

Cicero, De legibus 2, 66. IG II/III2 6011. Diogenes Laertios 5, 53. Platon, Phaidon 115 E. Platon, Nomoi 717 D. Ebd. 959 B–C. Ebd. 959 D. Zur Kaufkraft einer Drachme vgl. die Anm. 8–10, S. 74. Cicero, De legibus 2, 68.

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Gefahr, durch übertriebene Aufwendungen, sei es aus Eitelkeit oder sei es aus politischem Ehrgeiz, ihr Vermögen einzubüßen. Die Wohlhabenden brauchten neuerdings gegenüber ihren Toten kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, wenn ihre Grabstätte wesentlich bescheidener ausfiel. Indirekt betrafen die Maßnahmen des Demetrios auch die Ärmeren, für die zwar Leiturgien und Gräberluxus ohnehin nie in Frage gekommen wären, die es aber vielleicht nicht ungern sahen, wenn die Reichen dank verlorener Möglichkeit der Selbstdarstellung nunmehr weniger weit über ihnen stünden. Umgekehrt möchte Demetrios es begrüßt haben, wenn die Reichen aus demselben Grunde weniger nahe zu ihm aufrücken könnten. Wie dem auch sei, die von Demetrios ergriffenen Maßnahmen wurden auch nach seinem politischen Ende in Athen nicht zurückgenommen. Es versteht sich von selbst, dass jede gesetzgebende Instanz erwartet, dass ihre Gesetze auch vollzogen werden. In dieser Absicht unterstellte sich Demetrios ein Kollegium von Gesetzeshütern, dessen altes Vorbild zweifellos der Areopag war. Bis der Demokrat Ephialtes im Jahre 462 dem als adelslastig empfundenen Areopag 34 seine Kompetenzen beschnitt, hatte er unter anderem die Funktion, die Einhaltung der Gesetze durch die Behörden zu überwachen. 35 Eine derartige Instanz, die gleich in welcher Form in jeder Verfassung institutionell zwingend geboten ist, entsprach aber auch ganz und gar philosophischen Grundsätzen. Zu philosophischer Systematik gehört unabweisbar die Einheit von Ernsthaftigkeit und Gedächtnis. Wenn einmal, so muss Kriton sich belehren lassen, ernsthaft (σπουδῇ) erörtert und für schlechthin verbindlich befunden wurde, dass weder ein Unrecht noch ein Gegenunrecht erlaubt ist, dann darf das auch in einer prekären Lage nicht vergessen werden. 36 Eine philosophische Erörterung, die eben noch – z. B. in der Politeia 370 B – darauf bestand, jeder dürfe nur einem einzigen Gewerk nachgehen, darf das nur wenig später – z. B. in der Politeia 374 A – nicht schon wieder vergessen haben und das gewohnte, jahrgangsweise zum Kriegsdienst eingezogene Reservistenheer ins Auge fassen. Das im zeitlichen Nacheinander Erörterte wird durch das Gedächtnis in die Stufe der Gleichzeitigkeit erhoben, ohne die eine in sich konsistente Argumentationskette nicht möglich wäre. Grundsätze, die sich selbst nicht 34 35 36

Aristoteles, Politik 1323 a 8. Aristoteles, AP 4, 4 und 8, 4; Plutarch, Solon 19, 1–2; vgl. Pollux 8, 94. Platon, Kriton 49 A–B.

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ernst nehmen, weil sie keine Vorkehrungen treffen für ihre Präsenz im Gedächtnis, wären bloße Spielerei (παιδιά). In der Übertragung bedeutet dies, dass die Gesetzeshüter gleichsam das gewissenhafte Gedächtnis der Gesetze sind. Sokrates, dem Alkibiades ein ausgezeichnetes Gedächtnis bescheinigt 37, bewährte sich im Arginusenprozess als einziger Gesetzeshüter in Athen, als er sich einer nicht erlaubten en-bloc-Verurteilung der Angeklagten verweigerte. 38 In der Politeia werden die Gesetzeshüter als »vollendete Wächter« (παντελεῖς φύλακες) 39 und damit als potenzielle Philosophen noch eher beiläufig erwähnt. In den Nomoi hingegen bilden sie das staatstragende Kollegium. Sie müssen fünfzig Jahre alt sein (752 D) und einen einwandfreien Lebenswandel nachweisen (755 A–B). Sie überwachen wie einst die Areopagiten die Behörden (754 D–755 C), verhelfen den Talentierten zu ihrer Entfaltung (770 A–D), sorgen dafür, dass jeder Bürger nur eine Kunst ausübt (847 A–B), immunisieren die eigene Stadt beim Warenaustausch mit anderen Städten gegen unerwünschte Neuerungen (847 D), gestatten beim Begräbnis nur so viel Lob auf den Toten, wie er auch verdient hat (959 E). Diese Gesetzeshüter bilden den »Anker des gesamten Staates« und überwachen als »frühmorgendliche Versammlung« die öffentliche Sittlichkeit (961 A–C). Sie halten sich damit genau an die Dienstzeit des alten Areopag, der ebenfalls nur zu früher Morgenstunde tagte. Als »göttliche Versammlung« – so ihre Bestimmung im Schlusssatz der Nomoi – nehmen die Gesetzeshüter ihren Dienst wahr und kontrollieren den Vollzug der Gesetze. Die Gesetzeshüter ersetzen in den Nomoi stellvertretend den Philosophenkönig, da Platon ja durch schlimme Erfahrungen enttäuscht selbst diesen für korrumpierbar hielt. 40 Begrifflich war auch Aristoteles auf die Gesetzeshüter eingegangen, das allerdings naturgemäß mehr im deskriptiven als im präskriptiven Sinne: Die Gesetzeshüter seien aristokratisch, der Ausschuss zur Vorbereitung von Versammlungen (πρόβουλοι) oligarchisch und der Rat demokratisch. 41 Die oligarchische Institution der Versammlungsvorbereiter bestand in Athen nach der Sizilischen Kata-

37 38 39 40 41

Platon, Protagoras 336 D. Vgl. Anm. 9, S. 26. Platon, Politeia 414 B. Vgl. Anm. 35, S. 46. Aristoteles, Politik 1299 b 37–38, 1323 a 6–9.

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strophe aus zehn Mitgliedern 42. Diese hatten eine dem demokratischen Rat vergleichbare prophylaktische Funktion; es ging darum, nur Beschlussvorlagen auf die Tagesordnung zu setzen, deren Gesetzeskompatibilität überprüft war. 43 Entsprechend tauchen die Vorbereiter in der AP, die sich auf die Demokratie konzentriert, nur als längst vergangene Notmaßnahme auf und die Gesetzeshüter überhaupt nicht. Inwiefern nun die Gesetzeshüter eine aristokratische Einrichtung seien, begründet Aristoteles unter Hinweis auf ihre enge Verbindung mit den Frauenaufsehern. Beide Kollegien, die also weder demokratisch noch oligarchisch sind, nennt er in einem Atemzug. 44 Demokratisch seien die Frauenaufseher nicht, weil die Ärmeren in Ermangelung von Sklaven auch ihre Frauen und Kinder zur Mitarbeit heranziehen müssten, und das naturgemäß auch außer Hauses; und oligarchisch seien sie nicht, weil die Frauen der Oligarchen Wert darauf legten, ihr Luxusleben für jedermann sichtbar außer Hauses zu genießen. 45 Dann kam es also für die aristokratische Version der Gesetzeshüter darauf an, die Frauen im Hause zu halten und ihnen den Ausgang nur bedingt zu gestatten. Damit bestätigt Aristoteles mit seinen Beobachtungen, was sich auch schon in Platons Nomoi abzeichnete: Der nach Verzicht auf Philosophenkönige und Weiberund Gütergemeinschaft immer noch zweitbeste Staat, dessen Regelwerk die Philosophie im Blick auf die Aristokratie entwirft, übt sich gerade nicht in liberaler Selbstbeschränkung; im Gegenteil – er bestimmt allumfassend die sittliche Lebensordnung der gesamten Stadt, in der dann folgerichtig auch der gute Mann und der gute Bürger identisch sind. Auch angesichts der Bestallung des Kollegiums der Gesetzeshüter ist Demetrios nicht anders verfahren als seine philosophischen Vorbilder. Gleichwohl gilt es, nach der näheren Berichterstattung über einzelne Maßnahmen zu prüfen, ob die Regeln, die Demetrios den Athenern aufnötigte, sich insgesamt wirklich mit dem Beifall nur weniger Aristokraten begnügen mussten. Was Demetrios über die Frauen im Einzelnen verfügte, ist angesichts der Quellenlage nur indirekt aus Vorgaben der Schule und Parallelen in anderen Städten zu erschließen. Demetrios dürfte sich 42 43 44 45

Aristoteles, AP 29, 2; vgl. Thukydides 8, 1, 3. Aristoteles, AP 1323 a 6–9. Aristoteles, Politik 1322 b 39. Ebd. 1300 a 4–8, 1323 a 3–6.

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zweifellos den Ansichten seines Lehrers Theophrast angeschlossen haben, der empfiehlt, die Frauen sollten sich im Haus bewegen und nicht in der Politik 46, sie sollten das Schreiben nur so weit lernen, wie es der Haushaltsführung dienlich sei 47, und sie sollten bedenken, dass schillernde Schönheit nicht immer wünschenswerte Folgen zeitige. 48 Unter Berufung auf Theophrast heißt es bei Athenaios, die Frauen dürften laut Gesetz in Massilia und in Milet nur Wasser und keinen Wein trinken. 49 In Syrakus und Lokroi waren die Gesetze noch spezifischer: Eine Frau durfte nicht mit mehr als einer Sklavin ausgehen, es sei denn, sie war betrunken; ferner durfte eine Frau keine auffällige Kleidung tragen, es sei denn, sie prostituierte sich als Hetäre; nach Sonnenuntergang durfte eine Frau nicht ausgehen, es sei denn, sie plante einen Ehebruch; grundsätzlich durften die Frauen ihr Haus nur mit Genehmigung der Frauenaufseher und in Begleitung einer Bediensteten verlassen. Die Gesetze für Lokroi hatte übrigens der Pythagorasschüler Zaleukos erlassen. 50 Auf der Griechischen Agora in Athen stand gleich neben der Statue des Demosthenes eine Platane, auf der durch Anschlag die Namen der Frauen veröffentlicht wurden, die wegen eines Verstoßes gegen die Regeln der Frauenaufseher bestraft wurden. 51 Es fällt auf, dass die weibliche Bewegungsfreiheit nicht nur im Athen des Demetrios, sondern allenthalben in Griechenland eingeschränkt war, und sie ging auch nicht, wie Aristoteles glauben machte, ausschließlich auf aristokratische Impulse zurück. Schon vor 323 untersagte der demokratische Politiker Lykurg den Frauen, mit einem Gespann zu den Eleusinischen Mysterien zu fahren, damit sie die ärmeren Frauen nicht ostentativ auf ihre weniger glückliche Lage aufmerksam machten. Gegen dieses Gesetz verstieß als Erste ausgerechnet die Ehefrau des Lykurg, der die von ihm selbst vorgesehene Strafe von 6000 Drachmen mit dem Kommentar bezahlte, er sei lieber ein Gebender als ein Nehmender. 52 Neben den anderen Beispielen zeigt auch dieses, dass Demetrios mit den anzunehmenden Bestimmungen seiner Frauenpolitik durchaus weithin auf Zustimmung 46 47 48 49 50 51 52

Theophrast bei Stobaios, Oikonomikos 85, 7. Theophrast bei Stobaios, Excerpta partis secundae II 13, 31. Theophrast bei Stobaios, Ehevorschriften 74, 42. Athenaios 429 A–B; vgl. Ailian, Varia Historia 2, 38. Athenaios 521 B–C; Diodor 12, 21, 1. Pollux 8, 112; Hesych s. v. platanos. Plutarch, Moralia 842 A–B; Ailian, Varia Historia 13, 24.

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rechnen konnte, dass aber andererseits der Vollzug zumindest vor seiner Zeit nicht allzu streng gehandhabt wurde. Bemerkenswert ist, dass Demetrios mit seiner Bestallung der Frauenaufseher Platons Vorschläge zur Rolle der Frauen unter den Wächtern gerade nicht befolgt hat. Platon hatte mit der Sicherung der Stadt nach Innen und Außen den Wächterstand beauftragt. 53 Diese Wächter waren ausschließlich Wächter, die nur »das Ihre taten«, die daher militärisch besser ausgebildet und wirksamer waren als Reservisten. Insbesondere waren sie ausschließlich Bürger und keine Söldner, was keineswegs selbstverständlich war. An einer Operation der Athener gegen Philipp II. im Jahre 351 waren unter den 2200 Soldaten lediglich 550 Bürger. 54 Zudem sorgten im Inneren 1000 skythische Bogenschützen für die öffentliche Ordnung. 55 Platon überließ all diese Funktionen allein den Wächtern als kostengünstiger Elite aus den eigenen Reihen, die zudem ohne Flotte auskam, die man nur für Unnötiges wie Expansion und Schutz von Luxusimportgütern benötigt hätte. Es ging Platon also um einen Staat, der sich von überflüssigen Funktionen entlastete, um von den kostspieligen Diensten auswärtiger Kräfte unabhängig zu werden. Stattdessen griff Platon im Sinne zu wahrender Autarkie auf eigene Ressourcen zurück, eben auf den Stand der Wächter, zu denen angesichts drohender Personalknappheit auch deren Frauen gehörten. Sie sollten dieselbe Erziehung genießen wie die Männer, gemeinsam mit ihnen in den Krieg ziehen und ihre Kinder mitnehmen, damit diese schon früh erfahren, was Krieg bedeutet. 56 Bei dieser Haltung ist Platon bis in sein Spätwerk geblieben: Die weiblichen Wächter nehmen auch dort gemeinsam mit den Männern ihre Mahlzeiten ein 57 und erfahren ebenso wie diese eine militärische Ausbildung. 58 Diese Rolle, die Platon für die Frauen vorsieht, hätte sich Demetrios auf keinen Fall zum Vorbild nehmen können. Für Platon verstand sich der souveräne Staat von selbst; oberhalb seines Staates gab es nur noch den göttlichen Kosmos. Angesichts dieser Konstellation handelte er nur folgerichtig, wenn er die Souveränität Platon, Politeia 415 E. Demosthenes 4, 19–24. 55 Scholion zu Aristophanes, Acharner 54; Suda s. v. τοξόται (Bogenschützen); Pollux 8, 132. 56 Platon, Politeia 466 E. 57 Platon, Nomoi 780 A–781 D. 58 Ebd. 832 E–834 D. 53 54

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seines Staates durch den Einsatz der Frauen noch besser absicherte. Dergleichen konnte Demetrios, selbst wenn er gewollt hätte, nicht in Betracht ziehen. Seine makedonischen Gönner, die zwischen ihm und dem Kosmos standen, hätten ihm einen solchen Schritt als unerwünschten Versuch der Stärkung athenischer Souveränität ohne Zweifel verübelt und rigoros unterbunden. Die Frauenaufseher als Unterabteilung der Gesetzeshüter des Demetrios widmeten sich keineswegs ausschließlich der Sittlichkeit der Frauen; sie überwachten auch, ob in Privathäusern bei Hochzeiten oder kultischen Begehungen die am Notwendigen orientierten Regeln eingehalten wurden, dass nämlich nicht mehr als dreißig Gäste zugegen wären – für Spötter und Komödiendichter wie Menander ein höchst willkommenes Thema: Als ein Aufseher einem Gast erklärte, er sei einer zu viel, ließ Menander den Gast antworten: »Zähl noch einmal und fang bei mir an.« Oder Menander empfahl ironisch, man solle doch nicht auf die Denunziantendienste derer verzichten, die die Gastmähler mit Speis und Trank versorgten. 59 Platon erlaubte übrigens bei Hochzeiten beiden Partnern je fünf Verwandte und fünf Freunde einzuladen. 60 Demetrios war also in diesem Punkt noch ein wenig großzügiger als Platon, konnte aber öffentliche Kritik auf der Bühne nicht verhindern. Unglücklicherweise hat Plutarch keine Vita des Demetrios Phalereus geschrieben. Einzelheiten seiner politischen Tätigkeit müssen deshalb aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen werden. Seine politische Leistung wird bei zahlreichen antiken Autoren gut beurteilt. Diodor bescheinigt ihm, er habe bürgerfreundlich und auf Frieden bedacht regiert. Strabon stellt fest, Athen sei nach Meinung vieler Beobachter nie so gut regiert worden wie unter Demetrios. Ailian betont, er habe Athen ausgezeichnet verwaltet, bis ihn die übliche Missgunst zu Fall gebracht hätte. Cicero stellt Demetrios in eine Reihe mit Platon und sich selbst, wenn er ihm nachrühmt, er habe auf dem politischen Forum und gleichermaßen in der Schule der Philosophen Herausragendes geleistet. 61 Umso mehr bleibt dann zu erklären, warum das Volk der Athener am Ende der Herrschaft des Demetrios ganz anders urteilte als Menander bei Athenaios 245 A–C. Platon, Nomoi 775 A. 61 Diodor 18, 74, 3; Strabon 9, 1, 20 (p. 398 C); Ailian, Varia Historia 3, 17; Cicero, De re publica 2, 2 – De legibus 3, 14 – De officiis 1, 3 – Oratio pro Rabirio 23 – Brutus 37. 59 60

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seine zitierten Lobredner. Der Sturz des Demetrios kam 307 unter äußerlich ähnlichen Umständen zustande wie der Sturz des Phokion. Kassandros konnte weder helfen, als sich Polyperchon mit dem Volk gegen Phokion verbündete, noch konnte er helfen, als sich Antigonos und sein Sohn Demetrios Poliorketes mit dem Volk gegen Demetrios Phalereus verbündeten. Mächtige Makedonen, die sich Platon noch als Sympathisanten seiner politischen Pläne vorgestellt hatte, vermochten ebenso seine Pläne zu Fall zu bringen, wenn es ihnen opportun erschien. In diesem Fall kamen Antigonos Monophthalmos und der Sohn Demetrios Poliorketes auf den von Kassandros ignorierten Beschluss der Diadochen im Frieden von 311 zurück, den griechischen Städten die Autonomie zu gewähren. Antigonos entsendete also seinen Sohn Demetrios mit starken Kräften und beauftragte ihn, als erste Stadt Athen zu befreien. 62 Einem Freund, der ihm riet, die Athener lieber unter der Knute zu halten, widersprach Antigonos, er könne nur Ruhm gewinnen, wenn er diese Stadt befreite; der Ruhm Athens werde dann auch auf seinen eigenen Ruhm abstrahlen. 63 Als in dieser Erwartung die Flotte des Sohnes sich dem Piräus näherte, zog sich Dionysios, der Komandant des Kassandros, aus dem Piräus nach Munychia zurück, während Demetrios Phalereus vergebens versuchte, sich in der Stadt zu halten. Unterdessen begrüßten die athenischen Soldaten im Piräus Demetrios Poliorketes jubelnd als Wohltäter und Retter, nachdem er ihnen die Freiheit und die Wiederherstellung der demokratischen Verfassung versprochen hatte. 64 Nach diesem Vorgang im Piräus blieb Demetrios Phalereus nichts anderes übrig, als sein Herrscheramt aufzugeben und den Kontakt zu Demetrios Poliorketes zu suchen, vor dem er sich weniger fürchtete als vor seinem eigenen Volk. Dieser sicherte ihm aus Respekt vor seinem Ansehen Schutz und freies Geleit nach Theben zu, wo er für einige Zeit eine Bleibe fand 65, bis er sich nach dem Tod des Kassandros 298/97 in Griechenland nicht mehr sicher fühlte und nach Ägypten auswich. Dort blieb er, so gut es ging, bei seinem Metier und diente Ptolemaios I. Soter, dem alten Verbündeten des Kassandros, als Ratgeber in Gesetzesangelegenheiten. 66 Im Gewahrsam

62 63 64 65 66

Diodor 20, 45, 1. Plutarch, Demetrios 8, 2 und Moralia 182 E–F. Plutarch, Demetrios 8, 4–5. Diodor 20, 45–46, 1; Plutarch, Demetrios 8, 2–9, 2. Diogenes Laertios 5, 78.

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starb er schließlich an einem Schlangenbiss. 67 Dort saß er ein, nachdem er seinem Beschützer Ptolemaios geraten hatte, er solle als Nachfolger einen Sohn vorsehen, den ihm seine Gattin Eurydike geboren hatte. Der König machte aber einen Sohn, den ihm seine andere Gattin Berenike geboren hatte, als Ptolemaios II. Philadelphos zu seinem Nachfolger. Als dieser den Thron bestieg, ließ er Demetrios die Folgen seines Ratschlags zu spüren. 68 Es dürften insbesondere die Athener Demokraten gewesen sein, die Demetrios Phalereus unter so unverhohlenem Jubel davongejagt haben. Die Oligarchen werden sich am Eindringen der Frauenaufseher in ihre Privatsphäre gestört, dafür aber die Aufhebung der Leiturgien als Entlastung verbucht haben. Auf die angesichts des neuen Bündnisses von Demokraten und makedonischem Militär geschwächten Oligarchen kam es allerdings weniger an. Den Ausschlag gaben die Demokraten. Zwar konnten sie weder an der Beendigung des Gräberluxus noch an der Beschränkung der Gästezahl beim Festbankett Anstoß nehmen. Beides war für sie ohnehin außer Reichweite. Auch die Frauenaufsicht war für sie kein Ärgernis; denn den Luxus, ohne Mitarbeit der Frauen außer Hauses auszukommen, konnten sie sich, wie gesagt, ohnehin nicht leisten. Schwerer wog hingegen für die Demokraten die Vernachlässigung der Volksversammlung, auf der Demetrios für seine Maßnahmen hätte werben können, wie einst Platon in den Nomoi verfuhr, als er jedem neuen Gesetzeskomplex ein Prooimion vorausschickte, in dem er die Siedler von der Zweckmäßigkeit seiner Gesetze überzeugte. 69 Vielleicht hätte eine ordentliche Volksversammlung der Funktion jener Prooimia ebenso genügt. Von entscheidender Bedeutung – und das betraf Oligarchen und Demokraten gleichermaßen – muss aber das persönliche Fehlverhalten des Demetrios gewesen sein, das ihn von Phokion ersichtlich unterschied. Das Hauptärgernis waren die 360 Goldstatuen, die für ihn in weniger als 300 Tagen gegossen wurden. 70 In ihrer Wut auf den nunmehr schutzlosen Verschwender rissen die Athener die Statuen Ebd.; Strabon 9, 1, 20 (p. 398 C). Diogenes Laertios 5, 78–79; Ailian, Varia hitoria 3,17. 69 Platon, Nomoi 722 E–723 B, 734 E, 854 A, 870 D, 932 A. 70 Diogenes Laertios 5, 75. Diese Zahl bestätigt Plinius, Naturalis historia 34, 27. Von 300 Statuen sprechen Cornelius Nepos (De excellentibus ducibus exterarum gentium: Miltiades 6, 5) und Plutarch (Moralia 820 F). Mehr als 300 Statuen zählt Strabon 9, 1, 20 (p. 398 C), und bei Dion Chrysostomos (37, 41) sind es sogar 1500. 67 68

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aus dem Sockel, zerstörten sie teils, teils warfen sie sie ins Meer; aus dem Material der Statuen des Demades hatten sie wenige Jahre zuvor sogar schon ihr neues Nachtgeschirr hergestellt. Nur eine einzige Statue des Demetrios blieb laut Diogenes Laertios auf der Akropolis noch erhalten. 71 Als Demetrios von dieser damnatio memoriae erfuhr, beruhigte er sich, seine Verdienste als Ursache der Statuen könnten die Athener auch auf diese Weise keineswegs zunichte machen. 72 Es lag indes nicht nur an den Statuen. Laut Duris von Samos, einem Schüler des Theophrast, verfügte Demetrios im Jahr über 1200 Talente. Von dieser Summe verwendete er wenig für Staatsverwaltung und Verteidigung, sondern das meiste für private Lustbarkeiten. Treffen mit Frauen und Knaben pflegte er angelegentlich; drei Häuser erwarb er eigens als Liebesnester. Im Leben der anderen gab es keinen Bereich, den er vor gesetzlicher Regelung verschont hätte, sein eigenes Leben aber war völlig frei von Gesetzesvorschriften. Mit kosmetischen Mitteln brachte er sein Äußeres noch besser zur Wirkung und färbte seine Haare blond. Im Bewusstsein seiner strahlenden Erscheinung feierte er sich als sonnengleichen Herrscher. 73 Naturgemäß suchte er auch die Nähe der führenden Kurtisanen, so einer gewissen Lampito 74 und der Aristagora aus Korinth, die er so aufwändig verehrte, dass er wegen Verschwendung vor den Areopag zitiert wurde. Dort führte er zu seiner Verteidigung an, er finanziere seinen Lebenswandel allein aus eigenen Mitteln und schade daher niemandem. 75 Dieses Argument vermochte Demetrios während seiner Amtszeit noch zu retten. Bei seinem Sturz aber fällte das Volk ein ganz anderes Urteil über sein Luxusleben, das von letztlich narzisstischen Zügen zeugte; es verbannte ihn wie einen Fluchbeladenen. Demetrios hatte Platons Institution der Gesetzeswächter dankbar aufgegriffen. Sie sollten sein ausführendes Organ sein, während er selbst den Part des souveränen Philosophenkönigs übernahm, ohne indes zu bedenken, dass Platon die Wächter in seinem Spätwerk nicht etwa als Unter-

Diogenes Laertios 5, 77. Dass alle Statuen zerstört wurden, sagen Plutarch (Moralia 820 F) und Dion Chrysostomos 37, 41. 72 Diogenes Laertios 5, 82. 73 Duris (FGH 76 F 10) bei Athenaios 542 B–543 A; vgl. Ailian, Varia historia 9, 9. 74 Athenaios 593 F. 75 Ebd. 167 E–F. 71

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gebene des Philosophenkönigs, sondern an dessen statt eingesetzt hatte. 76 Insgesamt hatte das bittere Ende des Demetrios schlimme Folgen auch für die Philosophie in ihrer von Platon, Aristoteles und Theophrast geprägten Form, zu der sich Demetrios ja stets bekannt hatte. Für die drei großen Autoritäten galt das »mitgehangen – mitgefangen«, obwohl Platon nicht müde geworden war, das Lustprinzip als Quelle allen Übels zu verurteilen, und obwohl Aristoteles das apolaustische Leben, dem sich Demetrios offenbar verschrieben hatte, als viehisch abtat. 77 Während der flüchtige Demetrios in Theben sicher war vor der Rache des Volkes, richtete es stellvertretend den Bannstrahl gegen Akademie und Peripatos, also gegen die als Verursacherin erkannte klassische Philosophie, die sich seinem Zugriff nicht durch Flucht entziehen konnte. Die Philosophen und jene Machthaber, die soeben einem Umsturz zum Opfer gefallen waren, gehörten in den Augen des Volkes zusammen wie Ursache und Wirkung. Auf einen Verbleib in Athen konnten sie ebenso wenig rechnen wie Demetrios und seine Gesetzeshüter; im Gegenteil – mit dem Ende des Demetrios Phalereus begann eine jahrhundertelange Phase, in der Platon und Aristoteles die Rolle der philosophischen Meinungsführer anderen, insbesondere den Stoikern überlassen mussten. Diese Verdrängung lag nicht nur an der unmittelbaren Zurückweisung seitens der jeweils politisch Situationsmächtigen, an die ja die politische Philosophie schon seit ihrer Inaugurierung gewöhnt war. Es lag ganz besonders am Misstrauen der Stadt insgesamt, die eine in politische Angelegenheiten eingreifende Philosophie nicht mehr duldete. Auf das Versprechen aber, philosophische Sittengesetze ausschließlich zum Gebrauch in der eigenen Schule zu erlassen, hätten sich Platon und Aristoteles, die Archegeten der politischen Philosophie, niemals eingelassen.

76 77

Siehe oben Anm. 35, S. 46. Aristoteles, NE 1095 b 20.

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Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des Demetrios Phalereus (307) Sophokles von Sunion nutzte gleich im Jahr 307 die neuen Machtverhältnisse und erwirkte ein Dekret (ψήφισμα), das jedem Philosophen, der ohne Zustimmung der Volksversammlung eine Schule gründete, die Todesstrafe androhte. Da Theophrast eine Genehmigung zur Schulgründung weder eingeholt hatte noch im Jahre 307 erhalten hätte, musste er ins Exil ausweichen, um der sonst drohenden Todesstrafe zu entgehen. 1 Neben weiteren namentlich nicht bekannten Philosophen und Oligarchen gehörte auch ein gewisser Deinarchos zu den Verbannten. Er war Schüler des Theophrast und Demetrios Phalereus. Als ein aus Korinth eingewanderter Metöke verdiente er in den Jahren unter Demetrios Phalereus sein Geld, indem er wie einst Lysias Gerichtsreden für andere schrieb. Im Jahre 307 warfen ihm seine Ankläger Kooperation mit Kassandros bei der Besetzung von Munychia und Beihilfe zur Auflösung der Demokratie vor. Deinarchos fand Zuflucht in Chalkis auf Euboia und konnte wie auch die anderen verbannten Oligarchen erst im Jahre 292 nach Athen zurückkehren, nachdem sich Theophrast bei König Demetrios Poliorketes für diese Männer verwendet hatte. 2 Ein größeres Gleichgewicht der Kräfte im Inneren lag ja durchaus auch im Interesse des Königs. Athenaios, einer unserer Gewährsmänner für diesen Vorgang, schickt seinem Bericht Verse des Komödiendichters Alexis aus Thurioi voraus, die als Kommentar zur Initiative des Sophokles gelten können: »Das ist die Akademie, das ist Xenokrates. Mögen die Götter Demetrios und den Gesetzgebern viele Wohltaten erweisen, weil sie die sogenannten Dialektiklehrer der Jugend aus Attika zur Hölle geschickt haben.« Wenn man diese Bühnenverse beim Wort nehmen darf, dann war es nicht nur Sophokles, der die neue Lage in seinem Sinne genutzt hat, sondern auch Demetrios Poliorketes war mindestens indirekt an der Philosophenvertreibung beteiligt. In einem Atemzug nennt Alexis neben Poliorketes auch diesem ergebene Ge-

Diogenes Laertios 5, 38; Pollux 9, 42; Athenaios 610 E–F. Dionysios von Halikarnass, Leben des Deinarchos; Philochoros FGH 328 F 66; Plutarch, Moralia 850 B–E. Dieser Deinarchos ist nichtidentisch mit dem ebenfalls aus Korinth stammenden Deinarchos, der als Anhänger des Antipatros und Freund Phokions auf Befehl Polyperchons hingerichtet wurde (Plutarch, Phokion 33, 5).

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setzgeber, die offenbar eingesetzt waren, um die Gesetze des Demetrios Phalereus zu revidieren. Ebendies versprach Demetrios Poliorketes auch laut Plutarch (Demetrios 8, 5). Vertreibung der Philosophen und Revision der Gesetze des Demetrios Phalereus, wohl um den reformierten Gesetzeskodex der Demokraten wiederzubeleben, waren Komponenten eines und desselben Vorganges. Indes hatten Theophrast und die übrigen Philosophen mehr Glück als die zusammen mit ihnen vertriebenen Oligarchen. Schon ein Jahr nach ihrer Verbannung durften sie wieder nach Athen zurückkehren. Das hatten sie dem Aristotelesschüler Philon 3 zu verdanken, der das Dekret des Sophokles mit einer Paranomonklage gegen diesen beantwortete. Diese Klageform ist ein schweres Geschütz, etabliert zum Schutz der Demokratie, in der die Gesetze den Ausschlag geben und nicht die Launen von Tyrannen oder Oligarchen. 4 Daher ist es geradezu Bürgerpflicht, gegen die Missachtung von Gesetzen gerichtlich vorzugehen. 5 Die Oligarchen hatten 411 die Paranomonklage außer Kraft gesetzt (AP 29, 4), was eo ipso auf eine Zerstörung der Demokratie hinauslief. 6 Natürlich wurde die Paranomonklage nach dem Sturz der Dreißig wieder eingeführt. 7 Allerdings diente diese Klageform nicht nur dem Schutz vor Oligarchen, sondern auch der Demokraten vor sich selbst. Wann immer ein Bürger einen Antrag einbrachte, der mit den Gesetzen nicht vereinbar war, wurde er nach dem Grundsatz abgewiesen, dass ein Beschluss (ψήφισμα) der Volksversammlung nicht das entgegenstehende Gesetz brechen durfte. 8 Die Funktion der Paranomonklage war also die Normenkontrolle; sie beruhte aber unausgesprochen auch auf Gewaltenteilung zwischen Volksversammlung und Heliastengerichten, die für Paranomonklage zuständig waren. Verteidigt wurde Sophokles von Demochares (355/350–271/70), der als Neffe des Demosthenes und durch sein politisches Handeln unter den Demokraten hoch angesehen war. Er hatte 322 gegen die Auslieferung der demokratischen Politiker an Antipatros protestiert und sollte später im Jahr 271 eine goldene Statue für Demosthenes Der Aristotelesschüler Philon ist nicht identisch mit dem oben erwähnten Architekten Philon (vgl. Anm. 17, S. 132). 4 Aischines 3, 5–6; vgl. ebd. 3, 190. 5 Deinarchos 1, 101. 6 Demosthenes 24, 154. 7 Aischnines 3, 191. 8 Demosthenes 24, 30 und 218; Andokides 1, 87. 3

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auf der Agora sowie die Speisung der Nachkommen des Demosthenes im Prytaneion beantragen. 9 Dieser Demochares, der schon Platons Politeia und Nomoi zu Handbüchern der Tyrannei erklärt hatte 10, beschuldigte nunmehr in seiner Verteidigungsrede für Sophokles Philons Lehrer Aristoteles auf das Übelste: Er habe in einem konspirativen Brief an einen Makedonen Athen geschmäht, der zum Glück abgefangen worden sei. Außerdem habe er nach der Einnahme Olynths den Beutesammlern Philipps Namen von Bürgern genannt, bei denen viel zu holen sei. 11 Zwar tut Eusebios, unser Gewährsmann, diese Beschuldigungen als bösartige Verleumdung ab, aber sie zeigen doch, mit wie viel Erbitterung gegen die Philosophen seitens der Demokraten vorgegangen wurde. Gleichwohl erzielte Philon seinen Erfolg im Prozess gegen Sophokles ausgerechnet mit einer eigens zum Schutz der Demokratie etablierten Paranomonklage; und Sophokles musste erleben, dass das von ihm erwirkte Dekret annulliert und er zu einer Strafe von fünf Talenten verurteilt wurde. 12 Das entsprach dem Üblichen; in der Regel betrug die Strafsumme im Falle einer Verurteilung in einem Paranomonverfahren fünf 13 oder zehn 14 Talente. Offen bleibt indes noch, welches Gesetz denn Sophokles laut der Gegenklage Philons missachtet haben könnte. Eine kleine Sammlung überlieferter Präzedenzfälle lehrt, dass dieser Klageform kaum Grenzen gesetzt sind. Im Jahre 415 wurde ein Ratsmitglied wegen Paranomon verklagt, weil er Namen von Teilnehmern an einer Mysterienpersiflage nannte – unter Berufung auf das Zeugnis eines Sklaven, der zur Zeit des Frevels nachweislich geschlafen hatte. 15 Im Jahre 406 verhielt sich der Rat gesetzwidrig (παρανόμως) 16, als er nach der Arginusenschlacht sechs Offiziere en bloc und nicht, wie es das Gesetz forderte, einzeln verurteilte. Dem widersetzte sich Sokrates, der an diesem Tag Epistates war, indem er die wider das Gesetz vorgeschlagene Abstimmung nicht zuließ. 17 Geahndet wurde der RechtsPlutarch, Moralia 847 C–E (= FGH 75 T 1) und 851 D; vgl. Plutarch, Demosthenes 30, 5. 10 Vgl. oben Anm. 19, S. 40. 11 Athenaios 508 F und 610 F; Eusebios, Praeparatio evangelica XV 2, 6. 12 Diogenes Laertios 5, 38. 13 Demosthenes 18, 55; Deinarchos 2, 12. 14 Demosthenes 21, 182 und 58, 31/43. 15 Andokides 1, 17. 16 Platon, Apologie 32 B. 17 Xenophon, Memorabilien 1, 1, 18 und 4, 4, 2. Vgl. oben Anm. 9, S. 26. 9

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verstoß später vom Volk, das sich für fehlgeleitet erklärte. 18 Eine Paranomonklage war ferner fällig, wenn ein goldener Kranz für einen Bürger nicht auf der Pnyx, sondern im Theater beantragt und verliehen wurde 19, oder wenn die Geschädigten von der Sippe des Täters bis zur Zahlung der Strafsumme mehr als drei Geiseln nahmen 20, oder wenn dem scheidenden Rat die übliche Auszeichnung zuerkannt wurde, obwohl er keine Schiffe hatte bauen lassen. 21 Offensichtlich konnte Philon sich auf keinen der hier angeführten Präzedenzfälle berufen. Passen könnte jedoch das Beispiel einer Paranomonklage, das Aristoteles in der AP (45, 4) anführt: Wenn ein Antrag an die Volksversammlung weder vom Rat geprüft noch von den Prytanen auf die Tagesordnung gesetzt ist, dann darf wegen eines solchen Rechtsfehlers ein Dekret auch nachträglich noch erfolgreich angefochten werden, selbst wenn es zunächst bei der Abstimmung eine Mehrheit gefunden hatte. Genau dieser Fehler könnte Sophokles ein Jahr zuvor im Eifer des Gefechts durchaus unterlaufen sein. Dank welchen Rechtsfehlers Philon auch immer den Prozess gewonnen hat, im Ergebnis durften Theophrast und seine Schüler nach Athen zurückkehren. Damit war indes für die Schule noch nicht viel gewonnen. Demetrios Phalereus hatte mit seiner Selbstherrlichkeit demonstriert, was Gesetzgebung aus dem Geist der Philosophie auch bedeuten kann: Anders als es die Demokraten nach dem Sturz der Dreißig hielten, gab Demetrios Gesetze ohne Beteiligung der Bürger und lehnte es ab, sich selbst seinen eigenen Gesetzen zu unterwerfen. Platons allüberragendes Ziel, unter dem Einfluss der Philosophie einen Staat zu konstituieren, dessen Sittlichkeit sich auf das Beispiel seines gerechtesten Bürgers gründete, war gründlich desavouiert. Das Bündnis von Philosophie und Oligarchie hatte sich in den Augen der Bürger als Bedrohung ihrer Freiheit erwiesen. Mindestens für die nähere Zukunft musste die verdrängte Philosophie ihren Bezugsrahmen ändern, um ihr Weiterbestehen zu sichern. Wie dies geschehen könnte, deutete sich umrisshaft schon bei einem Gespräch an, das Demetrios Phalereus in Theben über die Zeit nach seiner Statthalterschaft führen sollte. Gesprächspartner des Demetrios war der Kyniker Krates von 18 19 20 21

Xeonophon, Hellenika 1, 7, 15. Aischines 3, 34. Demosthenes 24, 218. Ebd. 22, 8.

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Theben, dessen ganzes Streben zumindest in seiner wilden Zeit darin bestand, seinen Lehrer Diogenes von Sinope im konsequenten Bruch mit allen Konventionen noch zu übertreffen. Begattung und Verrichtung der Notdurft verlegte er auf den Markt 22; Kannibalismus 23, Inzest 24 und öffentliche Masturbation 25 schienen ihm keineswegs indiskutabel. Als er indes mit Demetrios zusammentraf, war er schon um die sechzig Jahre alt und vielleicht ein wenig abgerückt von seinen früheren Grillen. So oder so, Demetrios erwartete nichts Gutes von Krates. Er hat ihm aus Athen einmal Brot und Wein als Geschenk zukommen lassen, das aber nicht zur Freude des Beschenkten, des notorischen Wassertrinkers, der nur bedauerte, dass Brunnen neben dem Wasser nicht auch noch das Brot hergäben. 26 Wider Erwarten wurde Demetrios von Krates aber freundlich begrüßt und in ein Gespräch über das Exil verwickelt: Er solle darin kein Ärgernis sehen, sondern willkommene Entlastung, wenn er doch nunmehr von Unbill und Strapazen der politischen Tätigkeit befreit sei. Darauf antwortete Demetrios, er könne es nur bedauern, dass ihn seine Ämter und Tätigkeiten bislang daran gehindert hätten, einen Mann wie Krates schon früher kennen zu lernen. 27 Gleich ob nun diese Geschichte wahr oder nur gut erfunden ist – sie bildet die Lage des Demetrios zutreffend ab, erfährt er doch in ihr am eigenen Leib den tragischen Zusammenfall von Peripetie und Anagnorisis. Nachdem er sich selbst und die Philosophie als Gesetzgeber für die ganze Stadt in den Abgrund gestürzt hatte, vermittelte ihm Krates die Erkenntnis, dass die Philosophie sich selbst auch dann genügen könne, wenn sie auf die Gesetzgebung für die Stadt verzichtete und stattdessen ausschließlich sich selbst und bereitwilligen Scholaren die Gesetze gäbe. Krates riet also der Philosophie, sie solle ihre ungewollte Verbannung in eine gewollte Sezession verwandeln. Anagnorisis ist in der Tragödie diejenige Erkenntnis, die dem Helden, hätte ihn seine Verblendung nicht gehindert, auch schon vor dem Sturz möglich gewesen wäre. Das gilt auch für das von KraDiogenes Laertios 6, 69; Sextus Empiricus, Grundriss der Pyrrhonischen Skepsis 1, 153 und 3, 200; Augustinus, De civitate Dei 14, 20. 23 Diogenes Laertios 6,73 und 7, 121; Sextus, Grundriss … 3, 207. 24 SVF I 256; Sextus, Grundriss … 3, 205 sowie Adversus mathematicos 11, 190–194; Dion Chrysostomos 10, 29. 25 Diogenes Laertios 6, 69; Sextus, Grundriss … 3, 206; Plutarch, Moralia 1044 D. 26 Diogenes Laertios 6, 90; Athenaios 422 C–D. 27 Plutarch, Moralia 69 C–D. 22

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tes angebotene Trostargument, auf das dieser keineswegs das Urheberrecht hatte. Er schöpfte vielmehr aus dem Arsenal einer philosophischen Seitenlinie von Sokrates über Antisthenes (455–360) und den Kyniker Diogenes von Sinope (ca. 400–325) bis eben zu dessen Schüler, nämlich Krates selbst, der in der Zeit von 328 bis 325 in der Blüte (ἀκμή) eines etwa vierzigjährigen Mannes stand. 28 Dieser Krates war, als er Demetrios in Theben traf, noch der Lehrer des Zenon von Kition (ca. 333–262?), des Gründers der Stoa. Diesen Männern war die von ihnen auf Sokrates zurückgeführte Überzeugung gemeinsam, dass sie das wahre Leben nur in einer philosophischen Gemeinschaft außerhalb der Stadt finden; sie müssten sich allein auf das in ihrer Hand Liegende beschränken, sich durch Bedürfnislosigkeit von allen Verlockungen der städtischen Gesellschaft unabhängig machen und ihre so gewonnene Autonomie und Individualität mit einer philosophieinternen Gesetzgebung ausfüllen, die sich nicht aus dem Regelwerk der geschichtlich gewordenen Polis herleitet, sondern aus der Natur. Demetrios muss also bei der Begegnung mit Krates erkannt haben, dass es neben der Philosophie, die der Stadt die Gesetze gibt, auch noch jene verschlankte Form geben kann, die sich begnügt, ausschließlich ihren entschiedenen Anhängern die Gesetze zu geben und im Übrigen die Stadtbürger vor den Gesetzen eines rigorosen Tugendstaates zu verschonen. Diese Wende eröffnete der Philosophie zumindest vorläufig einen Weg, sich über das Krisenjahr 307 hinaus zu behaupten, indem sie ihren bisherigen Außenseitern wie Krates eine Meinungsführerschaft zugestand. Die kynischen Vorläufer dieser neuen Gestalt von Philosophie waren indes mehr auf Provokation als auf ausgefeilte Theoriebildung bedacht. Die systematische Ausbildung einer Theorie unter den im Jahre 307 eingetretenen Bedingungen blieb den Epikureern und den Stoikern überlassen. Gleich im Jahre 306 gründete denn auch Epikur mit Freunden ganz im Sinne der Wende der Philosophie eine neue Schule und verlegte sie in seinen privaten Garten (κῆπος), der übrigens ganz in der Nähe der Akademie 29, also weit außerhalb der Stadt lag. Epikurs grundlegender Imperativ lautete: Lebe im Verborgenen (λάθε βιώσας), also nicht in der Öffentlichkeit der Stadt. Nur im »Garten« ist ein gelungenes Leben möglich, dessen kurzgefasstes

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Diogenes Laertios 6, 87. Cicero, De finibus bonorum et malorum 5, 3.

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Grundgesetz vierzig Hauptlehrsätze bilden. 30 Telos dieses Lebens ist die Lust, die auf der Abwesenheit von Schmerz und Unlust beruht. Der die Lust einschlägig bestimmende Kernbegriff, die a-taraxia (firmitas animi), gewöhnlich mit Gemütsruhe übersetzt, bedeutet, nimmt man das alpha privativum ernst, wörtlich das Nichtvorhandensein von luststörender Verwirrung. Die Dominanz der Lust bedeutet indes keineswegs Verdrängung von Tugend und Vernunft. Im Gegenteil – die Besonnenheit, seit Platon eine der vier Kardinaltugenden, wacht darüber, die Begierden auf das Notwendige zu beschränken und damit einen stabilen und nicht nur flüchtigen Lebensgenuss zu sichern. Wie Platon die vier Kardinaltugenden im Blick auf die Bildung eines tugendhaften Staates bestimmt, so sichern ebendieselben Tugenden bei Epikur den individuellen Lebensgenuss. 31 Im Zuge seiner Vorschriften für das Leben im privaten Freundeskreis hat Epikur zuletzt auch den Staat nicht vergessen, der für Gerechtigkeit sorgt durch Schutz des »Gartens« vor Übergriffen von außen. Konsequenterweise war ein in umgekehrter Richtung denkbares dogmatisches Einwirken auf den Staat seitens der im Garten ansässigen Schule mit keinem Wort vorgesehen. Als Zenon von Kition im Jahre 301 die Schule der alten Stoiker gründete, verschonte er ebenso wie Epikur die Stadt vor der Verpflichtung zur Einhaltung philosophischer Normen. Schon äußerlich kam die politische Zurückhaltung zum Ausdruck: Während Theophrast noch etwa 2000 Schüler philosophisch unterwiesen hatte 32, wandelte Zenon mit höchstens zwei oder drei Gesprächspartnern 33 disputierend im Schatten der »Bunten Säulenhalle« (στοὰ ποικίλη), jener von Pausanias (1, 15) enthusiastisch beschriebenen Ruhmeshalle der Athener am Nordrand der Griechischen Agora. In späteren Jahren muss jedoch Zenon vor einem etwas größeren Auditorium gelehrt haben. 34 Mit dem Verzicht auf ein eigenes und zudem weit außerhalb der Stadt gelegenes Schulgebäude demonstrierte Zenon, dass er wohl kaum Subversives im Schilde führen könne, wenn er öffentlich in einer höchst frequentierten Halle seine philosophischen Gespräche führte. Die bisweilen vorgetragene Erklärung, Zenon habe

30 31 32 33 34

Diogenes Laertios 10, 139–154. Ebd. 10, 132. Ebd. 5, 37. Ebd. 7, 14. Ebd. 7, 21 f.

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diese Ortswahl getroffen, weil er als Metöke in Athen nicht Haus und Grund erwerben durfte, überzeugt nicht. Wie die Metöken Xenokrates, Aristoteles und Theophrast beweisen, ließ sich diese Einschränkung umgehen. Für den bewussten Verzicht der Stoiker auf politische Einflussnahme spricht auch ihre Vernachlässigung der Rhetorik. Zenon hat sich überhaupt nicht um die Rhetorik gekümmert, während Kleanthes und Chrysipp immerhin eine Rhetorik verfassten, das aber so trocken, dass, wie Cicero spöttisch anmerkt, nur diese beiden Schriften lesen müsse, wer für immer verstummen wolle. 35 Der stoische Rückzug aus der Stadt der Normalbürger lief indes keineswegs auf ein Schuldeingeständnis der Philosophie hinaus. Mit einem elitären Selbstbewusstsein, das Platon in nichts nachstand, brachten die Stoiker zum Ausdruck, dass nicht die Philosophie zu viel verlangt habe, sondern dass die Stadt ihrer Bringschuld zu wenig nachkomme. Während die Stoiker sich selbst als weise und ernsthaft (σοφός/σπουδαῖος) etikettierten, charakterisierten sie die Menge – und das sind alle außer den wenigen Weisen – nicht gerade schmeichelhaft mit Beiwörtern wie töricht, ungebildet, unvernünftig und schlecht (φαῦλος, ἀπαίδευτος, ἄφρων, κακός). Während der Weise stets untadelig und gemäß den Kardinaltugenden handelt, gilt für den Törichten genau das Gegenteil. 36 Der unbedarfte Tor ist wahnsinnig 37 und lebt in Unkenntnis über alles Wissenswerte. 38 Der Ungebildete unterscheidet sich vom Tier lediglich durch seine äußere Gestalt. 39 Der Unvernünftige, weil in einem damit wahnsinnig 40, weiß nicht, was man tun soll und was nicht. 41 Der Schlechte führt, wie schon der Name sagt, alles schlecht aus 42 und verzichtet nicht auf die Pflege auch nur eines einzigen Lasters. 43 Immerhin konnten die derart Geschmähten, wenn sie überhaupt davon erfuhren, den Stoikern abnehmen, dass sie nicht im Mindesten daran dachten, sich den Strapazen eines Besserungsversuches an notorisch Schwachen im Geiste ausCicero, De finibus bonorum et malorum 4, 7; ebd. 4,10 vermisst Cicero bei den Stoikern auch eine Topik. 36 SVF III 567. 37 Ebd. III 663. 38 Ebd. III 657. 39 Ebd. I 517. 40 Ebd. III 664. 41 Ebd. III 268. 42 Ebd. III 560. 43 Ebd. III 659. 35

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zusetzen. Sollte nämlich wirklich der Törichte gelegentlich etwas richtig erkennen, und das komme durchaus vor, dann aber nicht aufgrund wissenschaftlichen Vorgehens 44 und mithin auch nicht dank stoischer Unterstützung. Mit diesen Unterscheidungen war eine Sezession der alten Stoiker aus der bestehenden Polis gedanklich schon vollzogen. Ihr neuer Staat war nicht die geschichtlich gewordene Polis, deren Merkmale vielmehr umzuinterpretieren waren im Blick auf den die Vorgaben der Natur vollstreckenden Weltstaat mit Zeus als Oberhaupt. Dieser Staat fußte auf zwei Fundamenten, auf der bindenden Vorherbestimmung des Schicksals (εἱμαρμένη/fatum), das übrigens die Freiheit menschlicher Zustimmungen und Willensäußerungen keineswegs ausschloss, und auf der göttlichen Fürsorge für die Menschen (πρόνοια/providentia), die die Bemühungen kultisch verehrter Herrscher um ihre Untertanen als das weniger Wesentliche erscheinen ließ. Die Aufnahme der Bürger in diesen Staat vollzog sich konsequenterweise anders als die Eintragung des 18-jährigen Epheben in die von den Gemeinden geführten Bürgerlisten. Die Stoiker sahen stattdessen eine aneignende Anfreundung im Hinblick auf das eigene Naturell (οἰκείωσις/conciliatio) als einen Prozess vor, der sich von der Natur leiten lässt. Der Prozess beginnt mit dem natürlichen, auf physische Selbsterhaltung bedachten Streben, dessen Natürlichkeit in sich die Entelechie einer qualitativen Steigerung zur geistigen Reifung birgt. Ziel dieses Prozesses, so betont besonders Diogenes Laertios (7, 86– 87), ist das Leben gemäß der Tugend, also ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur. 45 Dass das Natürliche das Vollendete darstellt, das aus einem Entwicklungsprozess hervorgegangen ist, versteht sich für die Griechen von selbst. Aristoteles hat dieses Verständnis seiner AP vom ersten bis zum letzten Kapitel zugrunde gelegt. Durch die natürliche Entwicklung aus dem animalischen Ausgangszustand bis zur vollendeten geistigen Reifung hat entsprechend auch der stoische Novize seine Einbürgerung erreicht, indem er sich die natürlichen Regeln seines neuen Staates zu eigen machte. Das an der Natur orientierte Regelwerk der Stoiker führte auch zu einer Umdeutung im Bereich der Güterlehre. Sie unterschieden die Kardinaltugenden als seelische Güter von den traditionell in der Ebd. II 132. Ebd. III 178–196; Cicero, De finibus bonorum et malorum 3, 20. 62–66; Seneca, Epistula 121; Diogenes Laertios 7, 85–88.

44 45

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Stadt geschätzten Gütern – nämlich von den körperlichen Gütern wie Gesundheit und Schönheit sowie von den äußeren Gütern wie Reichtum und sozialem Rang. Die letzteren Gütergruppen stuften sie als gleichgültige Größen (ἀδιάφορα/indifferentia) ein, während die seelischen Güter, deren Erreichung »bei uns« (ἐφ’ ἡμῖν) liegt, sittlich den Ausschlag geben. Diese Unterscheidung nach seelischen, körperlichen und äußeren Gütern nennt Aristoteles altbekannt und er trägt keine Bedenken, das Glück auch von äußeren Gütern abhängig zu machen. 46 Für die Stoiker hingegen ist die Güterlehre keineswegs eine alltägliche Angelegenheit. Denn das auf dieser Grundlage fußende Regelwerk folgt nicht den Gesetzen der Stadt, sondern denen der Natur als des göttlichen Kosmos. Wer nach diesen Gesetzen lebt, ist folglich kein Stadtbürger, sondern ein Weltbürger oder »Kosmopolit«. Der »Weltstaat« des stoischen Weisen ist naturgemäß kein irdisches Weltreich unter der Herrschaft eines Wiedergängers Alexanders des Großen, sondern ein kosmischer Staat unter der Herrschaft des Zeus. Da in diesem Staat über die Tugend hinaus weitere Güter von sittlicher Relevanz nicht bestehen, ist der Tugendhafte, der ja in Übereinstimmung mit der Natur lebt, in einem damit auch glücklich. Aufgrund der von ihnen radikal umgedeuteten Güterlehre unterscheiden sich die Stoiker von allen anderen Bewohnern dieser Erde. Gleichwohl waren die Stoiker bei aller strengen Systematik doch zu einigen Zugeständnissen bereit. Während die Kyniker die unbedingte Bedürfnislosigkeit predigten und innerhalb der Sphäre des Gleichgültigen keine Unterschiede zuließen, gaben die Stoiker der Gesundheit und dem Reichtum den Vorzug vor Krankheit und Armut; zudem gestanden sie dem Weisen durchaus Reichtum zu, sofern er nur imstande wäre, sich gelassen und ungerührt von diesem Reichtum zu trennen, falls die Umstände ihn dazu nötigten. 47 Die Stoiker insistierten also nach wie vor auf der Wahrung ihrer Unabhängigkeit, nicht aber auf Einschränkungen, die diesem Ziel nicht dienten. Trotz dieser Differenz ist beiden Schulen gleichermaßen das Verdienst nicht abzusprechen, den Sinn fürs Überflüssige geschärft zu haben. Die stoische Grundlegung der Ethik nach der Sezession aus der geschichtlich gewordenen Stadt erforderte schließlich eine Theorie der gesicherten Erkenntnis als Hermeneutik aus eigener Kraft, da 46 47

Aristoteles, NE 1098 b 12–20, 1099 a 31–b 6. SVF III 127–139. Seneca, De beata vita XVI–XXVIII.

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man sich auf institutionelle Regeln angemessenen sittlichen Verhaltens nach Maßgabe des Üblichen nicht mehr verlassen konnte. Der »objektive Geist« als jener Fundus von Einsichten, die die Stadt im Laufe der Jahrhunderte in einem Lernprozess von Ablehnung und Bejahung erworben hatte, war ja in den Augen der rigorosen Stoiker das Werk von Toren. Aristoteles hatte im ersten Kapitel seiner Topik erklärt, im Gegensatz zu apodiktischen Sätzen schlössen dialektische Sätze auf Wahrscheinliches aus dem, was Allen, den Meisten oder den Weisen richtig erscheine. Nachdem sich nun die Stoiker von Allen und den Meisten, eben den vereinigten Toren in der Polis losgesagt hatten, waren sie allein auf sich selbst als Erkenntnisquelle angewiesen. Umso dringlicher mussten sie daher im Rahmen ihrer Logik ein Wahrheits- bzw. Entscheidungskriterium entwickeln, bei dessen Anwendung sie sich nicht auf das Übliche, sondern ausschließlich auf ihr eigenes Erkenntnis- und Urteilsvermögen verließen. Zum entscheidenden Kriterium avanciert unter diesen Voraussetzungen die begrifflich identifizierbare und einleuchtende Vorstellung (φαντασία καταληπτική/visum comprehensum). Diese kommt, gleich ob sie durch eine sinnliche Wahrnehmung oder einen gedanklichen Einfall hervorgerufen ist 48, zustande, wenn sie sich der Seele wie ein Stempel einprägt, indem sie von etwas Seiendem ausgehend diesem gemäß in der Seele gleichsam einen Abdruck hinterlässt, der von der Art ist, dass er von etwas Nichtseiendem niemals ausgehen könnte. 49 Obgleich die phantasia das erscheinende Phänomen passiv erfährt, muss sie die Eindrücke selbständig urteilend verwerfen, wenn sie verschwommen oder unklar umrissen sind. 50 Denn »akataleptische« Eindrücke darf die phantasia nicht gelten lassen, weil dies nur der Überstürzung und Täuschung Vorschub leistet. 51 Die Funktion des Wahrheitskriteriums endet mit dem Testat der sinnlichen Rezeption (perceptio), dass eine sich einprägende Erscheinung kataleptisch, also klar identifizierbar sei. Als verlässliche Basis treibt nun die perceptio die Seele zur Zustimmung (συγκατάθεσις/ assensio) 52, in der Weise freilich, dass sie keinen Zwang auf diese ausübt. Da demgemäß kein unmittelbar zwingendes Band zwischen

48 49 50 51 52

SVF II 61. Ebd. I 59, II 52–53, III 115–117. Ebd. II 53–56, 65. Ebd. III 177. Ebd. II 67.

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Wahrheit als Faktizität gewährleistender Wahrnehmung und der Zustimmung durch den Verstand besteht, liegt die Zustimmung bei uns in unserem freien Willen. 53 Damit aber beginnt die noch so unerwünschte Möglichkeit eines Irrtums, der nicht mehr vom Wahrheitskriterium ausgeschlossen wird, weil dieses beim Akt der Zustimmung nicht mehr greift. Dass der Zustimmende nicht auf Unziemliches hereinfällt (ἀπροπτωσία), obliegt nunmehr allein seinem freien Urteilsvermögen, nämlich zu wissen, wann man zustimmen muss und wann man nicht zustimmen darf. 54 Im Übrigen schließt für die Stoiker das Fatum die Freiheit des zustimmenden Urteils keineswegs aus: Das Prinzip omnia fato fieri wirke als die das Ganze umfassende Ursache (αἴτιον συνεκτικόν/causa perfecta et principalis), gestatte aber innerhalb dieses Rahmens im Einzelfall noch die zusätzlich auslösende Ursache (αἴτιον προσκαταρκτικόν/causa proxima et adiuvans) eben durch das vom Zustimmenden selbst zu verantwortende Urteil. 55 Die Zustimmung hat eine, wie es bei Kant hieße, spekulative und eine praktische Funktion. Wenn es um die reine Bestimmung von Sachverhalten geht, muss die Zustimmung dafür bürgen, dass das visum selbst, wenn es noch so klar umrissen ist, auch vor der Logik bestehen kann. Sextus Empiricus erläutert das Problem an der fabula der Euripidestragödie »Alkestis«. Um ihrem Ehemann, dem König Admetos, einen frühen Tod zu ersparen, hatte sie sich geopfert und wurde von Thanatos in die Unterwelt entführt. Als aber Herakles Alkestis im letzten Augenblick noch rettete und sie dem König darauf lebend wiederbegegnete, konnte dieser nicht glauben, dass das, was er zweifellos sah, auch logischerweise stimmen könne. 56 Interessanter als die spekulative Bedeutung der Zustimmung war aber für die Stoiker naturgemäß die praktische Bedeutung der einen Handlungsimpuls auslösenden Zustimmung. Die kataleptische phantasia bildet das Fundament der Handlung 57, das Handlungsgebäude selbst wird aber durch die Zustimmung auf diesem Fundament erst noch errichtet. Seneca beschreibt den Vorgang so simpel wie einleuchtend: Ich Ebd. I 62, II 974. Ebd. III 130. 55 Cicero, De fato 41–44. 56 Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 7, 254–256. Von Arnim betrachtet das Beispiel als Erklärungsversuch des Sextus und hat es nicht unter die Originalfragmente der alten Stoiker aufgenommen. 57 SVF III 63. 53 54

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sehe einen Wald, assoziiere das Bild eines Spazierganges und entscheide mich für einen Waldspaziergang. 58 Senecas Beispiel lehrt, dass die Zustimmung beurteilt, welche Bedeutung dem Gesichteten zuzuerkennen ist, und darauf als Impulsgeber (ὁρμή/impetus) 59 eine entsprechende Handlung auslöst. 60 Wenn der Schritt von der einleuchtenden Vorstellung zur Zustimmung in einem harmlosen Waldspaziergang endet, ist weit und breit mit einem unziemlichen Motiv nicht zu rechnen. Gegenüber dubiosen Vorstellungen kann die Zustimmung nur dann am sittlich erwünschten Ziel festhalten, wenn sie sich in ihrem Urteil als immun gegen falsche äußere Einflüsse erweist, und das insbesondere gegen Affekte wie Lust, Unlust, Begierde, Betrübnis und Furcht. 61 Die Stoiker waren nüchtern genug einzusehen, dass ihre Autonomie nicht nur von außen, sondern in weitaus größerem Maße auch von innen gefährdet ist. Während nämlich die Stoiker bei ihrem Bemühen um Selbstbehauptung überzeugt waren, dass sie sich gegen Einflüsse von außen schon vermöge ihrer Güterlehre mit einiger Aussicht auf Erfolg abschirmen könnten, sahen sie die entschieden gefährlichere Bedrohung ihrer Autonomie für den Fall, dass sie von innen dem Charme verschiedenster Affekte erlägen. Die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) wurde daher das zentrale Thema der stoischen Ethik; diesem Ideal galt ihre ganze Konzentration sowohl in der Lehre wie auch bei der Bewährung im täglichen Leben. So sehr wurde schließlich auch in der Welt außerhalb der Schule die Affektlosigkeit als Markenzeichen aller Philosophen insgesamt angesehen, dass die Bewährung dieses Ethos auch von nichtstoischen Philosophen erwartet wurde. Als einmal wohl der gleichnamige Enkel des hedonistischen Kyrenaikers Aristipp (um 435–366) 62, so wollen es die Anekdoten wissen, auf einer Seefahrt bei schwerem Sturm deutliche Angstreaktionen zeigte, ein mitreisender Normalbürger aber nicht und dieser ihm seine Schwäche hernach vorhielt, antwortete

Seneca, Epistula 113, 18 = SVF III 169. SVF II 116. 60 Ebd. III 171. 61 Ebd. I 205–215. Das Thema der Affekte wird unten im Abschnitt »Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von den Affekten« noch ausführlicher behandelt. 62 Der Schulgründer Aristipp lebte um 435 bis 360. Diese Daten legen nahe, dass sich die Anekdote wohl eher auf den gleichnamigen Enkel des Aristipp bezieht. 58 59

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Aristipp, der Verlust des Lebens eines Banausen sei ja auch leichter zu verschmerzen. 63 Dieselbe Anekdote erzählt Gellius 64 von einem angesehenen Stoiker, dessen Namen er aber nicht nennt. Als dieser Stoiker von einem Normalbürger ebenfalls auf die von ihm gezeigte Furcht beim Sturm angesprochen wurde, verteidigte er sich zunächst mit demselben Argument wie Aristipp. Als darauf Gellius, der selbst die Szene beobachtet hatte, an ihn herantrat, glaubte sich der Stoiker denn doch ein wenig theoretischer verteidigen zu sollen: Eine plötzlich auftretende Gefahr oder ein Knall vermöge auch einen Weisen zu erschüttern und ihn am angemessenen Gebrauch seines Verstandes vorübergehend zu hindern. Das passiere aber nur für kurze Zeit; gleich darauf werde er den inakzeptablen Eindruck wieder verdrängen und seine Furcht meistern. Gellius macht also mit seiner Version der Anekdote deutlich, dass sich ein Stoiker im Gegensatz zum Nichtstoiker besonders nachdrücklich verteidigen muss, wenn er gegen das Prinzip der Affektlosigkeit verstößt, weil diese Forderung seinen Kern betrifft und nicht einen eher zufälligen Begleitumstand. Die Stoiker haben eingedenk des Dramas der Philosophie im Jahre 307 unter erheblichem theoretischem Aufwand ein in sich geschlossenes Gemeinwesen mit eigenen Gesetzen gegründet. Während die Akademiker und Peripatetiker, die ihren Namen einem Peripatos heißenden Peristyl für Lehrvorträge im Gymnasion Lykeion verdankten, weit außerhalb der Stadt angesiedelt waren, aber einst von dort aus auf die Stadt einwirkten, hielten sich die Stoiker mitten in der Stadt auf, ohne indes auch nur im Mindesten politischen Einfluss zu nehmen. Die Gründe ihrer Zurückhaltung waren für die Stadt, wie gesagt, wenig schmeichelhaft, aber die Stadt war gleichwohl mit dem Ergebnis, nämlich der von den Stoikern vollzogenen Trennung, ganz und gar einverstanden. Ihr Einverständnis bekundete die Volksversammlung, indem sie für den Schulgründer Zenon in Anerkennung seiner Tugendhaftigkeit einen goldenen Kranz beschloss und ihm ein Begräbnis im Kerameikos auf Staatskosten versprach: Dieser Beschluss solle als Inschrift auf zwei steinernen Stelen festgehalten werden; und aufzustellen seien die beiden Stelen in der Akademie und im Lykeion. 65 Die Stadt ließ also keinen Zweifel offen, in welcher Form Diogenes Laertios 2, 71; Ailian, Varia Historia 9, 20. Gellius 19, 1: Augustinus (De civitate Dei 9, 4) referiert diese Gelliuspassage ohne Modifikationen. 65 Diogenes Laertios 7, 10–12. 63 64

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sie sich die Philosophie wünschte, und teilte dies den weniger Erwünschten inschriftlich mit. Bemerkenswert ist, dass Zenon auch in bestem Einvernehmen mit König Antigonos Gonatas (319–240) stand. Der Freund der Philosophen verstand seine Herrschaft als ehrenvollen Dienst (ἔνδοξος δουλεία) 66 an den Gesetzen und bekannte sich damit zur Grundforderung aller Philosophen. Bei jedem Besuch in Athen hörte Antigonos Gonatas mit größtem Interesse Zenons Vorlesungen und lud ihn auch an seinen Hof ein. Die Sympathie des Königs verwundert nicht; denn die Stoiker konnten auch ihrerseits gemäß ihrer Lehre von der Unbedarftheit der Menge wenig Gefallen an der Demokratie finden. Im Gegenteil, frei seien, so befanden sie, nur die Weisen und die Könige, während keiner der vielen Toren ein Amt ausüben dürfe. 67 In einem von Diogenes Laertios (7, 7–9) wörtlich zitierten Einladungsbrief betonte Antigonos, in Athen leite Zenon nur wenige Schüler zur Tugend an; in Makedonien habe er den König als Schüler und damit auch dessen Untertanen, die ja erwartungsgemäß dem Vorbild ihres Herrschers folgen würden. Antigonos dachte also an die Wirkung seines Vorbildes, aber nicht im Entferntesten an irgendeine Form von Tugendterror. Das dürfte Zenon gefallen haben, aber wegen seines vorgerückten Alters von achtzig Jahren musste er die Einladung ablehnen. Ob nun der 261 gestorbene Zenon tatsächlich bereits achtzig Jahre alt war, als er seinen von Diogenes Laertios zitierten Antwortbrief schrieb, muss angesichts seines überlieferten Geburtsjahres 333 bezweifelt werden. Allerdings ist das weniger erheblich. Bedeutsam ist vielmehr der Umstand, dass Zenon kurz vor seinem Tod, also 262 geantwortet haben muss, und das wäre in dem Jahr gewesen, in dem Antigonos im Chremonideischen Krieg (267– 261) Athen eroberte 68 und offenbar sogleich Kontakt zu seinem Lehrer aufnahm. Zenon, der sowohl von der demokratischen Volksversammlung als auch vom König der Makedonen geehrt wurde, vermochte offenbar unter Wahrung persönlicher Integrität eine neutrale Position ohne parteiische Einseitigkeit einzunehmen, zumal ja logischerweise das politische Tagesgeschäft für ihn ebenfalls zu den gleichgültigen Größen gehörte.

66 67 68

Ebd. 7, 122; Ailian, Varia Historia 2, 20. Diogenes Laertios 7, 122. Pausanias 3, 6, 4–6.

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Leicht war es nicht, diese stoische Maxime konsequent durchzuhalten. Das erwies sich, als der entschiedene Demokrat Demochares, der bei Hofe wenig gelitten war, Zenon wegen seines Einflusses auf Antigonos bat, er möge sich beim König in einer bestimmten Angelegenheit für ihn verwenden. Zenon ging auf das Ansinnen des Demochares nicht ein 69, wohl weil er fürchtete, er werde sich durch seine guten Dienste als Vermittler nur unerwünschte Verwicklungen einhandeln. Dieses Risiko überließ er seinen Schülern Philonides von Theben und Persaios von Kition, die von nun an am Hofe des Antigonos lebten. 70 Persaios wurde Lehrer des Antigonossohnes Halkyoneus. Während er mit dieser Aufgabe beschäftigt war, stellte ihn Antigonos pfiffig auf die Probe, indem er ihm die Falschmeldung übermitteln ließ, eingedrungene Feinde hätten ihm Haus und Hof zerstört; als Persaios darauf mit bestürzter Miene reagierte, hielt ihm Antigonos schmunzelnd vor, Reichtum gehöre ja offenbar doch nicht zu den völlig gleichgültigen Größen. 71 Im Verfolg erwies sich am Schicksal des Persaios, wie schwer es auch sonst war, die äußere Welt als eine den Stoiker nicht weiter berührende Größe auszuklammern und damit eine politische Festlegung zu vermeiden. Denn wenn die Stoiker die Welt außerhalb ihrer Schule für eine Welt von Toren hielten, dann konnten sie, wie gesagt, unmöglich Sympathien für das demokratische Lager empfinden. Zu dieser Konsequenz bekannte sich Persaios, als Menedemos aus Eretria, ein Schüler des Phaidon von Elis, das Einverständnis des Antigonos erwirkte, Eretria eine demokratische Verfassung zu geben. Als Persaios dies durch seine Intervention zu verhindern wusste, beschimpfte ihn Menedemos, er sei ein großer Philosoph, aber der Schlechteste unter allen derzeit und künftig Lebenden. 72 Der also geschmähte Persaios diente schließlich Antigonos als Kommandant von Akrokorinth, bis Arat 243 die Makedonen aus Korinth vertrieb 73 und Persaios entweder die Flucht ergriff oder – nach anderer Quelle – ums Leben kam. 74 Ähnlich wie Epikur hatten die Stoiker auf das Desaster des Demetrios Phalereus mit Sezession durch strikte Nichteinmischung in 69 70 71 72 73 74

Diogenes Laertios 7, 14. Ebd. 7, 9. Ebd. 7, 36. Ebd. 2, 144. Plutarch, Arat 24, 1. SVF I 442–445.

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Angelegenheiten außerhalb ihrer Schule reagiert. Damit sahen sich die Stoiker durch Umstände, die sie nicht zu verantworten hatten, zumindest in der Theorie zu einem Axiom genötigt, das sie von Platon und Aristoteles fundamental trennte. Während für die Akademie und den Peripatos galt, dass sich auf ihrem Boden ein gelungenes Leben eher von selbst versteht und dass daher ihre ganze Aufmerksamkeit auf das gelungene Leben auf dem Boden der Polis zu konzentrieren sei, ließen die Stoiker die Polis Polis sein und widmeten sich allein der Frage des gelungenen Lebens in der Schule wie in einem abgeschotteten Orden. Allerdings gelang, wie schon angedeutet, die Abkehr von Platon und Aristoteles nur mit Einschränkung. Denn die Stoiker lebten trotz aller Reserve de facto nach wie vor auf dem Territorium der Stadt und kamen mit den Einwohnern ständig in Kontakt. Die Abschottung bestand folglich nur in Gestalt eines inneren Vorbehalts. Da aber ein untadeliges Ethos weniger gefährdet ist, wenn man sich überall heraushält, zeichneten sich die Stoiker alsbald durch eine Integrität aus, die ins Auge stach. Das führte schon nach wenigen Jahren zwangsläufig dazu, dass sie an Ansehen gerade außerhalb der Schule gewannen und mindestens als Aushängeschild für die politisch Mächtigen interessant wurden. Zenon wusste sich Versuchen der Vereinnahmung noch geschickt zu entziehen, aber seinen Schülern gelang das nicht immer. Sie meldeten sich im Leben außerhalb der Schule bisweilen durchaus zu Wort, allerdings noch nicht zu Themen, die eine intellektuelle Kritik sehr wohl verdient hätten. So schwiegen sie zunächst zu der während ihrer Gründungsjahre erfolgten Etablierung des Herrscherkultes nach dem Sturz des Demetrios Phalereus in Athen. Die Akademiker und Peripatetiker, denen aufgrund ihres Herkommens gewiss kritische Kommentare über diesen Prozess auf der Zunge lagen, hatten dank Demetrios Phalereus zumindest vorerst ihre Autorität eingebüßt und konnten auch nicht auf Resonanz wenigstens bei oligarchischen Großbürgern setzen, die ja ebenso wie die Philosophen in Misskredit geraten waren. Ungestört durch qualifizierten Einspruch ließ daher Demetrios Poliorketes den Demos der Athener gewähren, als sie zu seinen und seines Vaters Ehren voller Begeisterung die Einführung des Herrscherkultes verlangten, weil Vater und Sohn die Stadt von der Tyrannei des Phalereers gerettet hätten. Erst Chrysipp (281/77–208/04), das dritte Schulhaupt der Stoa, sollte zumindest indirekt das Schweigen der Schule zum Thema Herrscherkult brechen und in seiner Lehre von der providentia (πρόνοια) darauf verweisen, dass die wahre Fürsorge 162 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult

für die Menschen nicht Sache der sterblichen Könige, sondern nach wie vor Sache der unsterblichen Götter sei.

Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult – oder die fünfzehnte Wende (307) Die Einführung des Herrscherkultes vollzog sich in Athen im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Kassandros und Ptolemaios I. Soter auf der einen Seite und Antigonos Monophthalmos und seinem Sohn Demetrios Poliorketes auf der anderen. Die beiden Ersteren setzten auf die Oligarchie, die Letzeren ebenso konsequent auf die Demokratie und erhoben die Befreiung der griechischen Städte zu ihrem Markenzeichen. In dieser Politik wurden sie bestärkt, als Demetrios der von Ptolemaios belagerten Stadt Halikarnass als Retter zu Hilfe kam. Der Ruhm, den diese edle Tat einbrachte, bewog Antigonos zu einer entsprechenden Operation auch in Griechenland. Er ließ seinen Sohn zur Befreiung Athens ausrücken, weil er hoffte, der Glanz des Leuchtturms Athen werde auch ihn in ein günstiges Licht rücken. Als Demetrios mit seinem Geschwader überraschend im Piräus auftauchte, versprach er den athenischen Soldaten Freiheit und Demokratie, die ihn darauf als Retter und Wohltäter willkommen hießen. 1 Die Athener erhielten die Demokratie zurück und dankten es ihren Rettern überschwänglich. Als erste unter allen Griechen redeten sie Antigonos und Demetrios als Könige an, ein Titel, den beide bislang gemieden hatten, weil sie keine direkten Nachfahren Alexanders waren. Dazu noch erhielten sie den Titel »Rettende Gottheiten« mit Altar und eigenem Priester, dessen Name nunmehr den des Archon eponymos auf offiziellen Dokumenten ersetzte. Die zehn Phylen wurden um die neuen Phylen Antigonis und Demetrias ergänzt, die beide aus je zwölf Demen bestanden. Diese Demen wurden aus ihren alten Phylen herausgelöst, und zwar unter Beachtung des Trittyenprinzips, das zwischen den in der Stadt, Mesogaia und Küste gelegenen Demen ein wirtschaftliches und demographisches Gleichgewicht gewährleisten sollte. 2 Ferner wurden für die beiden Retter 1 2

Plutarch, Demetrios 7, 3–9, 1. Siehe auch HGIÜ Band II, Nr. 281. Näheres zu dieser Maßnahme findet sich bei J. E. Kirchner: Die Zusammensetzung

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goldene Kränze im Wert von zweihundert Talenten beschlossen und ihre Quadrigastatuen neben den Statuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton aufgestellt. Es gebührten den beiden Königen von nun an dieselben Gastrechte wie Demeter und Dionysos – zwei Gottheiten, die nicht anordneten, sondern wie die vergöttlichten Herrscher Wohltaten erwiesen durch die Sicherung von Brot und Wein. Gesandte zu den Rettern sollten Theoren heißen, also den Titel der Kultgesandten für die Olympischen und Pythischen Spiele führen. Schließlich wurden Demetrien als jährliche Spiele mit Festprozession und Opfern beschlossen sowie das Einweben der Porträts der Retter in den Peplos der Athena für die Panathenäen des Jahres 302. Mit einem Sturm, durch den der Peplos zerrissen wurde, zeigten die indignierten Götter an, was sie von dieser Maßnahme hielten. 3 Das hätte man aber auch schon von Herodots Schilderung des Kronrats der Perser wissen können – Xerxes versprach den Persern: Ihr werdet nach einem Sieg über Griechenland den Himmel des Zeus zum Nachbarn erhalten. Warnend hält sein Onkel Artabanos seiner Hybris entgegen, der Neid der Götter treffe nie die für sie uninteressanten kleinen Leute, sondern stutze mit Vorrang die Überheblichkeit der Großen; denn hochmütigen Stolz gestatte der Gott niemandem außer sich selbst. 4 Der wirklich fromme Heide kann dieses Bewusstsein von der Allmacht des Göttlichen unmöglich völlig verdrängt haben. Gleichwohl wusste man die schon ergangenen Ehrungen des Demetrios noch zu steigern und ihn sogar in die Nähe des obersten Gottes zu rücken. Die Stelle, an der er aus seinem Wagen »herabsteigend« erstmals attischen Boden betrat, wurde zu einem geweihten Kultbezirk für Demetrios, den Herabsteiger (Καταιβάτης), erklärt. Einen solchen Altar, der Zeus als den wie ein Blitz Niederfahrenden preist, hatte der Gott in Olympia in der Nähe des Aschealtars. 5 Die damit verbundene Anmutung eines an Zeus gemahnenden Altars konnte Demetrios nur recht sein, zumal er im Zweifel auch unschuldig erklären konnte, gemeint sei ganz allgemein der deus ex machina

der Phylen Antigonis und Demetrias, in: RhM 47 (1892) 550–557 und 59 (1904) 294– 301. 3 Diodor 20, 46, 1–3; Plutarch, Demetrios 10, 4 und 12, 2; SEG Bd. I, Nr. 362; IG XI 4, 1036 und XII 9, 207. 4 Herodot VII 8 b /10 e. 5 Pausanias 5, 14, 10.

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(μηχανή) 6 im Theater, der als unerwarteter Retter auftritt und den verwickelten Handlungsknoten auflöst. Die meisten dieser von der Volksversammlung genehmigten Anträge hatte ein gewisser Stratokles eingebracht. Allerdings war Stratokles kein neuer Epimelet oder Statthalter; denn Athen war ja nunmehr frei und und nicht mehr makedonisches Protektorat. Durch seine Anträge gewann aber Stratokles eine starke Position, weil ihm daraufhin die Sympathien des dankbaren Demetrios sicher waren. Der um 350 geborene Stratokles gehörte 324 zu den zehn gewählten Bürgern, die die Harpalosaffäre untersuchen und die Anklage gegen die Politiker übernehmen sollten, die sich vom Schatzmeister Alexanders hatten bestechen lassen. 7 Damals war Hypereides sein Mitstreiter, der sich wiederum in seiner Grabrede auf die im Lamischen Krieg Gefallenen beklagte, nach ihrer Niederlage seien die Athener weiterhin gezwungen, Menschen statt Göttern zu opfern und zugunsten bestimmter Menschen die Tempel, Altäre und Kultstatuen der Götter zu vernachlässigen. 8 In jenen Jahren hatte sich Demades für den politisch schwer zu umgehenden Antrag, Alexander als Gott anzuerkennen, noch eine Asebieklage eingehandelt. Nun aber konnte Stratokles aus seinen viel weiter gehenden Anträgen nur politischen Nutzen ziehen. Um den Athenern und Demetrios Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei indes angemerkt, dass andere ihnen schon mit schlechtem Beispiel vorangegangen waren. Von Philipp und Alexander war in diesem Zusammenhang schon die Rede. Von deren »Erben«, den Diadochen, verzichteten ausschließlich Antipatros 9 und Antigonos Gonatas (r. 283–239), der Sohn des Demetrios und Freund Zenons, auf göttliche Ehren; alle anderen ließen sich den Herrscherkult nur zu bereitwillig gefallen. Um diesem Bedürfnis zu genügen, hatten schon im Jahre 311, also noch vor den Athenern, die Einwohner von Skepsis den Herrscherkult für Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes eingeführt: Zum Dank für seine vielen Wohltaten beschlossen sie für Antigonos Kultbezirk, Altar und Statue, ferner ein jährliches Festspiel und einen goldenen Kranz im Wert von hundert

6 7 8 9

Aristoteles, Poetik 1454 b 1. Deinarchos, Gegen Demosthenes 20. Hypereides Col. 8, § 22. Vgl. Anm. 53, S. 93.

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Goldstateren sowie für Demetrios einen goldenen Kranz im Wert von fünfzig Goldstateren. 10 All das geschah nicht ohne philosophische Untermauerung. Euhemeros von Messene, Freund des Kassandros 11, lehrte, nur Sonne, Mond und Planeten seien ewige Götter; hingegen hätten sich Götter wie Zeus, Dionysos und Herakles als ursprünglich sterbliche Beschützer und Retter ihrer Mitmenschen hervorgetan, seien dafür mit Altären geehrt und schließlich zu Göttern erhoben worden. 12 Damit vertritt Euhemeros zwar noch nicht die spätere theologia tripertita der Stoiker, wohl aber schon eine theologia bipertita, die eine natürliche und eine mythisch-politische Seite der theologia unterscheidet. Einem Kult indes konnte die erstere Seite überhaupt nicht als Grundlage dienen und die letztere nur bedingt; denn die Kosmologie der göttlichen Himmelskörper eignet sich allenfalls für theoretische Debatten in den Schulen, und die mythisch-politische Unterstützung der These, was Zeus recht sei, müsse nunmehr Antigonos und Demetrios billig sein, verkennt, dass die Autorität eines Kultes auf seinem hohen Alter beruht. Entsprechend wirft Plutarch (Moralia 360 D) Euhemeros vor, er verbreite Atheismus über die Erde, wenn er den Respekt vor den olympischen Götter zerstöre, indem er deren Namen auf Namen angeblich uralter Könige und Heerführer zurückführe. Demetrios fand dank vorbehaltloser Ehrerbietung, die sich an den Schwächen der theoretischen Untermauerung des Euhemeros nicht störte, sehr schnell Gefallen an seinem Leben unter den ihm so gewogenen Athenern. Entsprechend selbstbewusst war sein öffentliches Auftreten. Er kleidete sich aufwändiger und prächtiger als selbst Alexander der Große; während der Demetrien ließ er im Theater ein Gemälde aufstellen, das ihn auf der bewohnten Erde reitend darstellte; Zecher durften Demetrios beim Trinkspruch als einzig existierenden König anrufen, während König Ptolemaios mit dem Titel eines Admirals, König Lysimachos mit dem eines Schatzmeisters und König Seleukos mit dem eines Elefantenhüters vorlieb zu nehmen hätten. 13 Dass die vielen Schmeicheleien Demetrios charkterlich nicht bekamen, hat Plutarch festgehalten (Demetrios 31, 2). Dass er 10 11 12 13

OGIS Nr. 6. Diodor 6, 1, 4. Diodor 6, 1–2: vgl. 5, 41–46; Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 9, 49–51. Plutarch, Demetrios 25, 4; Athenaios 261 B, 535 F–536 A.

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zunächst nicht noch tiefer sank, verdankte er seinem Vater, dem er wenn auch widerwillig gehorchte, als er für ihn einen neuen militärischen Auftrag hatte. Antigonos war von Antipatros als Strategos oder Militärgouverneur von Asia minor eingesetzt worden, wollte sich aber offensichtlich von dieser Basis aus die Herrschaft über das ganze Reich sichern. Da Kassandros (Makedonien), Lysimachos (Thrakien), Ptolemaios (Ägypten) und Seleukos (Babylon) in dieser unverhohlenen Absicht eine Bedrohung sahen, schlossen sie eine Allianz. 14 Diese Allianz erschien wiederum Antigonos geschwächt, als Seleukos noch im Jahre 307 zu einem Feldzug nach Indien aufbrach. Diese Schwächung galt es zu nutzen, um Ägypten von Rhodos und Zypern aus anzugreifen. Der militärische Auftrag an Demetrios lautete also zunächst, die beiden Inseln als Operationsbasis zu besetzen. Bekanntlich endete im Jahre 304 die Belagerung von Rhodos für Demetrios mit einem Fehlschlag, als er sich nach vergeblicher Mühe auf einen Vergleich einlassen musste. 15 Ebenso bekannt ist der Koloss von Rhodos, den die triumphierenden Rhodier als Siegesdenkmal im Hafen aufstellten. Für Pausanias (1, 6, 6) war der Misserfolg in Rhodos der Grund, dass ein Feldzug gegen Ägypten gar nicht mehr in Angriff genommen wurde. Daran änderte weder der Seesieg des Demetrios vor der zyprischen Hafenstadt Salamis etwas noch die Tatsache, dass der Kommandeur von Salamis, Menelaos, Demetrios Fußsoldaten und Flotte überstellen musste. 16 Dieser Sieg, an dem auch dreißig athenische Vierruderer beteiligt waren 17, hatte allerdings eine bedeutende politische Folge, weil er für Antigonos Anlass war, von sich aus den Königstitel anzunehmen und dies auch seinem Sohn zu gestatten, woraufhin Ptolemaios I. Soter, Seleukos, Lysimachos und Kassandros dasselbe taten. 18 Der Sieg über das zyprische Salamis half Antigonos und Demetrios insbesondere deswegen nicht weiter, weil Kassandros das Vakuum in Griechenland nutzte, um seinerseits Boden gut zu machen. Als er auch Athen im nunmehr ausgebrochenen Vierjährigen Krieg (306–303) belagerte, riefen die Athener Demetrios zu Hilfe. Demetrios folgte ihrer Bitte mit 130 Schiffen, vertrieb Kassandros aus AtDiodor 20, 76, 6–7; 20, 106, 3–5; 21, 1, 2; Polybios 5, 67, 7. Diodor 20, 81–88 und 91–100; Plutarch, Demetrios 21–22. 16 Diodor 20, 47–52; Plutarch, Demetrios 16, 4. 17 Diodor 20, 50, 3. Das Bauholz für hundert Schiffe hatte Demetrios den Athenern gleich bei seinem Einzug in die Stadt geliefert (20, 46, 4). 18 Diodor 20, 53, 1–4. 14 15

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tika, verfolgte ihn bis zu den Thermopylen und erreichte, dass 6000 Makedonen von Kassandros zu ihm überliefen. 19 Im Sinne ihres politischen Programms befreiten Antigonos und Demetrios noch weitere griechische Städte 20, und zum Dank mussten sich die Athener weitere Ehrungen einfallen lassen. Sie quartierten Demetrios im Opisthodom des Parthenon ein 21, eine Ehrung, die ihm insofern einleuchtete, als er sich, weil Retter der Stadt, als jüngeren Bruder der Athena sah. In deren Tempel amüsierte er sich mit Prostituierten 22, mit denen er, wie Clemens Alexandrinus spottet 23, vorlieb nehmen musste, weil die Gold- und Elfenbeinstatue der Athena seinen diesbezüglichen Wünschen wohl nicht zu entsprechen vermochte. Demetrios wusste sich auch noch durch weitere Skandale allmählich die Sympathien der Athener zu verscherzen. Er verlangte von den Athenern, ihn in einer einzigen kultischen Begehung zugleich in alle Stufen der Eleusinischen Mysterien einzuweihen, obwohl die höchste Weihe erst ein Jahr nach der voraufgegangenen erfolgen durfte. Dem Begehren des Demetrios wurde auf Antrag wiederum des Stratokles stattgegeben, der auf diese Weise, wie der Komödiendichter Philippides von Kephale höhnte, ein ganzes Jahr auf einen Monat verkürzte. 24 Demetrios verlangte auch eines Tages von den Athenern, ihm 250 Talente zur Verfügung zu stellen, nur um diesen Betrag an Prostituierte zu übergeben, die sich davon Seife kaufen sollten. 25 Am schwersten gewogen haben dürfte die Affäre um den Lustknaben des Demetrios, der als Belohnung verlangte, Demetrios solle in einem Brief an die Volksversammlung die Forderung stellen, sie möge den Strafbefehl von fünfzig Talenten gegen seinen Vater zurücknehmen. Für dieses Mal ging die Volksversammlung noch widerstrebend auf das Ansinnen ein, beschloss aber für die Zukunft, das Anhören von Briefen des sich einmischenden Demetrios sei ihr fortan nicht mehr zuzumuten. Als Demetrios darauf erzürnt reagierte, nahm die Volksversammlung ihren Beschluss zurück und ging gegen die Antragsteller vor, die sie teils hinrichten ließ, teils in die Verbannung schickte. Unter den Verbannten war Demochares, der 19 20 21 22 23 24 25

Plutarch, Demetrios 23,1 und 25. Plutarch, Demetrios 23, 2; Diodor 20, 100, 5–6 und 20, 103. Plutarch, Demetrios 13, 1–3; Vergleich des Demetrios und Antonius 4, 2. Ebd. 14, 1. Clemens Alexandrinus, Protreptikos 4, 48. Plutarch, Demetrios 26, 2–3; Diodor 20, 110, 1. Plutarch, Demetrios 27, 1.

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schon erwähnte Neffe des Demosthenes. Zusätzlich beschloss die Versammlung, den Athenern solle jede Anordnung des Demetrios als fromm gegenüber den Göttern und gerecht gegenüber den Menschen gelten. Das ging zurück auf einen Zusatzantrag des Stratokles, den darauf ein Bürger für wahnsinnig erklärte. Dem aber antwortete Demochares, Stratokles wäre wahnsinnig, wenn er nicht wahnsinnig wäre. 26 Die Verbannung des Demochares im Jahre 303, den Plutarch als einziges Opfer der Affäre namentlich anführt, muss besonders empörend gewesen sein. Als Laches, der Sohn des Demochares, im Jahre 271/70 Ehrungen für seinen Vater verlangte, führte er aus, dieser habe sich als Politiker bewährt und insbesonders im Vierjährigen Krieg (306–303) als Strategos 27 die Abwehr Athens gegen Kassandros erfolgreich organisiert. Zum Dank für diese Leistung hätten ihn die Zerstörer der Demokratie in die Verbannung geschickt, aus der er erst im Jahre 288/87 zurückgekehrt sei. 28 An dieser Darstellung fällt auf, dass als Zerstörer der Demokratie diejenigen figurieren, die sich selbst gerade als Erhalter der Demokratie, weil Anhänger des Demetrios verstanden. Dieselbe Einschätzung der Möchtegerndemokraten klingt auch bei dem schon erwähnten Philippides an, der Stratokles mit den Komödienversen angriff: »Dank seines Handelns hat Rauhreif die Weinreben geschädigt, dank seiner Reliongsfrevel (Asebie) zerriss das Gewand (der Athena), weil er Menschen die nur Göttern zustehenden Ehrungen gewährte. Er ist es, der mit solchen Taten die Demokratie zersetzt, nicht der Komödiendichter.« 29 Dieser Philippides war als Gegner des Stratokles ebenso bekannt wie als Freund des Königs Lysimachos, von dem er noch manch eine Begünstigung für Athen erreichten sollte. 30 Mit Recht sah Philippides ebenso wie Demochares in König Demetrios und seinen Anhängern nicht mehr die Retter der Demokratie, sondern deren Bedrohung. Dass immer mehr Bürger als nur diese beiden Männer so dachten, sollte Demetrios schon wenig später zu spüren bekommen. Im Jahre 302 gelang Demetrios zwar noch ein bemerkenswerter Erfolg mit der Erneuerung des einst von Philipp II. ins Leben gerufe-

26 27 28 29 30

Ebd. 24, 3–5. Polybios 12, 13, 5. Plutarch, Moralia 851 E. Plutarch, Demetrios 12, 3–5. Vgl. Anm. 24, S. 168.

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nen panhellenischen Bundes – und das wie einst in Korinth und unter Teilnahme aller griechischen Gemeinden außer Sparta, Messene und Thessalien. Wie vor geraumer Zeit Philipp und Alexander, so ließ sich auch Demetrios zum Hegemon der Griechen wählen. 31 Es handelte sich wie schon bei dem von Philipp II. und Alexander dem Großen organisierten Hellenenbund um einen Begünstigungsvertrag, der vorsah, dass beide Seiten dieselben als Freunde und Feinde betrachteten, dass Gemeinden, die ihrer Bündnispflicht nicht auf den Mann genau nachkamen, Konventionalstrafe zahlen mussten und dass die Bündner die Herrschaft des Antigonos, des Demetrios und ihrer Nachkommen niemals stürzen durften. Diese bündnispolitische Maßnahme diente der Vorbereitung eines begrenzten Feldzuges gegen Kassandros, der indes nicht begrenzt blieb, sondern zum vierten Diadochenkrieg (302–301) führte, weil es Kassandros gelang, die Diadochen Lysimachos, Seleukos und Ptolemaios auf seine Seite zu ziehen. Es erwies sich, dass diese Koalition dem Hellenenbund weit überlegen war, als sie Antigonos und Demetrios in der Entscheidungsschlacht bei Ipsos in Phrygien völlig besiegte. 32 Antigonos fiel in dieser Schlacht, während Demetrios mit 5000 Fußsoldaten und 4000 Reitern die Flucht nach Ephesos gelang. Zu seinem Glück war er nach der Schlacht keiner Verfolgung mehr ausgesetzt, weil Seleukos und Ptolemaios wegen ihrer Ansprüche auf Koilesyrien zerstritten waren und daher nicht mehr koordiniert handelten. 33 Tatsächlich kam Demetrios angesichts dieser Konstellation der Kräfte glimpflich davon. Trotz seiner Niederlage behielt er die Seestädte in Ionien, Kilikien und Phönizien sowie das zyprische Salamis 34, ferner in Griechenland die Städte Megara und Korinth. Demetrios verließ Ephesos nach kurzem Aufenthalt, weil er fürchtete, seine Soldaten könnten den Artemistempel plündern, und segelte ab in Richtung Griechenland mit Kurs auf Athen. Unterwegs teilte ihm im Bereich der Kykladen eine athenische Delegation mit, die Volksversammlung habe beschlossen, keinen der Könige in ihre Mauern zu lassen. Das Autonomiebewusstsein der Athener, das Demetrios durch seine eigensinnige Politik wieder wachgerufen hatte, erwies sich in einer Entschlossenheit, mit der er nicht gerechnet hatte. Zugleich be31 32 33 34

Plutarch, Demetrios 25, 3; IG IV2 1, 68; HGIÜ Band II, Nr. 282. Diodor 21, 1, 4 b; Iustin 15, 4, 22; Plutarch, Demetrios 28–29. Diodor 21, 1, 5; Polybios 5, 67, 3–11; Iustin 15, 4, 23–24. Diodor 21, 1, 4 b.

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ruhigten die Athener Demetrios Poliorketes, sie hätten seine Frau Deidameia aus Athen schon mit gebührender Eskorte nach Megara begleitet. Enttäuscht war Demetrios trotzdem; denn er hatte besonders auf Athen als Zufluchtsort gesetzt und musste, eben noch Gegenstand kultischer Verehrung, nunmehr zufrieden sein, dass die Athener ihm neben seiner Frau wenigstens auch noch sein Geld und die Schiffe, die er in ihrer Obhut gelassen hatte, zurückgaben. 35 Wider Erwarten sollte sich Demetrios Poliorketes politisch allmählich wieder erholen, weil er noch über eine starke Flotte verfügte und weil es ihm gelang, seine Beziehungen zu Ptolemaios und seinem Schwiegersohn Seleukos zu verbessern. 36 Sieben Jahre nach dem Einreiseverbot sollte ihm sogar eine zweiter Einzug nach Athen gelingen, aber zunächst hatte er seine doppelte Niederlage – gegen die verbündeten Diadochen und gegen die Athener – zu verarbeiten, ein Rückschlag, der ganz bemerkenswerte Parallelen zum Sturz des Demetrios Phalereus aufwies. Eine veränderte Konstellation der Machtverhältnisse und erhebliche persönliche Defizite führten zum Niedergang des kultisch soeben noch devot verehrten Königs. Derweil mochte sich Demetrios Phalereus im Exil damit trösten, dass auch ein Nichtphilosoph wie Demetrios Poliorketes nach äußerer Machteinbuße endgültig verloren ist, wenn er sich durch persönliches Fehlverhalten überall da, wo es zählte, die Sympathien verscherzte.

Die Tyrannei des Lachares – oder die sechzehnte Wende (um 300) Ein zusammenhängender Bericht über die Tyrannenherrschaft des Lachares findet sich nur bei Pausanias (1, 25, 7–26, 3), den wiederum verstreute Nachrichten ergänzen. Laut Pausanias nutzte Kassandros die Niederlage des Demetrios Poliorketes um die Athener zu bestrafen, weil sie 307 von ihm abgefallen waren. Er rückte in Attika ein, musste sich aber wieder zurückziehen, weil es dem Athener Strategen Olympiodor gelang, die Aitoler auf seine Seite zu ziehen. Statt sein Ziel mit militärischen Mitteln zu erreichen, versuchte er darauf Kassandros mit dem bewährten politischen Schachzug, einen Einhei35 36

Plutarch, Demetrios 30–31, 1. Plutarch, Demetrios 32, 1–3; Iustin 15, 4, 24.

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mischen als Statthalter einzusetzen. Deshalb nahm er zu Lachares Verbindung auf, der zu dieser Zeit die Volkspartei anführte, und verleitete ihn dazu, in Athen eine Tyrannei zu errichten. Das muss ihm nach etwa zwei Jahren auch gelungen sein. Diese neue Machtposition nutzte Lachares, um goldene Schilde von der Akropolis zu stehlen und die Athenastatue ihrer abnehmbaren Goldbarren zu berauben. 1 Als nun der erneut wiedererstarkte Demetrios Poliorketes im Jahre 295 Einzug in Athen hielt, ergriff Lachares die Flucht. 2 Von den Einwohnern von Koroneia wurde er ermordet, weil sie ihn für einen reichen Mann hielten, bei dem viel Beute zu holen sei. Polyain (3, 7, 1) ergänzt, Lachares habe als Sklave verkleidet auf der Flucht persische Goldmünzen gestreut, um seine Verfolger abzulenken. Warum Kassandros auf diesen Mann setzte und keinen Versuch machte, mithilfe des Demetrios Phalereus, der ja noch in Theben im Exil lebte, sowie durch Rückholung der immer noch verbannten Oligarchen seinen Einfluss auf Athen wiederzugewinnen, erfahren wir weder von Pausanias noch sonst aus einschlägigen Streunotizen. Wahrscheinlich wollte sich Kassandros auf sein Königreich Makedonien konzentrieren 3 und konnte demgemäß kein Interesse haben, in Athen eine Regierung gegen den Willen des Volkes durchzusetzen. Eine sich selbst tragende Stabilität, die er nicht durch eigene Intervention ständig stützen musste, schien ihm eher gesichert, wenn die stärkste Kraft, eben das Volk unter seinem Anführer Lachares, die politische Macht innehätte. Wenn Plutarch ohne nähere Erläuterungen berichtet, Lachares sei die Übernahme der Macht nur wegen eines Aufruhrs in der Stadt gelungen 4, so könnte der Streit darum gegangen sein, ob man sich Kassandros oder Demetrios Poliorketes oder keinem der Diadochen anschließen solle. Lachares dürfte für Kassandros plädiert haben und war schon deswegen sein Verbündeter. Pausanias erwähnt auch nicht, dass Demetrios Poliorketes schon im Jahre 297 einen ersten Versuch unternahm, Athen zurückzuerobern. Seine Flotte zerschellte aber bei einem Sturm an der Küste Attikas, und es dauerte, bis eine neue Flotte für Demetrios gebaut war, der unterdessen auf der Peloponnes militärisch operierte. 5 Die

1 2 3 4 5

Dasselbe sagt Pausanias auch 1, 29, 16 und ebenso Plutarch, Moralia 379 D. Pausanias, Demetrios 34, 4. Dieser Verzicht ist zu entnehmen aus Syll.3 Nr. 362. Plutarch, Demetrios 33, 1. Ebd. 33, 1–2.

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neue Flotte, mit der Demetrios 295 Attika erneut angriff, war so stark, dass der von den Athenern zu Hilfe gerufene Ptolemaios sich bald wieder zurückzog. 6 Die nunmehr auf sich selbst gestellten Athener gaben aber nicht nach; denn sie erkannten in Demetrios nicht mehr wie einst ihren Wohltäter und Retter; sei es, weil Demetrios durch sein unangemessenes Auftreten in den Jahren vor 301 ihre Sympathien eingebüßt hatte oder sei es, weil die Athener seine Rache fürchteten, nachdem sie ihn nach seiner Niederlage bei Ipsos ausgesperrt hatten. Auf jeden Fall dachten die Athener nicht daran, ihn freiwillig in ihre Stadt einzulassen, und hatten darauf eine furchtbare Hungerblockade zu ertragen. 50 Kilo Salz kosteten 40 Drachmen und 10 Kilo Weizen 300 Drachmen. 7 Ein Vater und ein Sohn prügelten sich, weil beide dieselbe tote Maus essen wollten; und Epikur musste unter seinen Freunden einzeln abgezählte Bohnen verteilen. 8 Als Lachares noch vor seiner Flucht Freunde zum Gastmahl eingeladen hatte, aber seine Gäste nicht bewirten konnte, musste einer der Gäste die Situation retten, indem er wenigstens noch einige Kapern zum Essen beschaffte. 9 Schließlich fiel die Entscheidung, als es Demetrios gelang, die im Piräus stationierten Athener Soldaten zu überreden, ihm Waffen zur Ausrüstung von tausend Mann zu überlassen, da er doch als Feind des Lachares und mithin als ihr Verbündeter käme. 10 In ihrer verzweifelten Lage fasste die Volksversammlung aus der Not heraus endlich den Beschluss, für Demetrios die Stadttore zu öffnen, nachdem sie eben noch jeden mit der Todesstrafe bedroht hatte, der für Frieden und Aussöhnung mit Demetrios plädiere. 11 Demetrios zog also nach Athen ein und versammelte die Bürger im Dionysostheater, die sich dort voller Furcht einfanden. Schließlich hatten sie Demetrios vor sechs Jahren ausgesperrt und sich soeben noch heftig gegen seine Rückkehr gewehrt. Zu ihrem Glück bangte umgekehrt auch Demetrios um ihre Sympathien und nahm ihnen daher gleich mit seinen ersten Worten die Furcht, indem er versöhnliche Töne anschlug und alle wichtigen Ämter mit Bürgern besetzte, die dem Volk genehm waren. Auf Antrag eines gewissen Dromokleides erhielt Demetrios Ebd. 33, 4. Ebd. 33, 3. 8 Ebd. 34, 2. 9 Athenaios 405 F. 10 Polyain 4, 7, 5. 11 Plutarch, Demetrios 34, 1. 6 7

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den Piräus und Munychia und besetzte außerdem noch unaufgefordert den Musenhügel. 12 Mit diesem Ausgang konnten beide Seiten zufrieden sein. Die Athener waren von ihrem Tyrannen Lachares, dem Schützling des Kassandros, befreit und Demetrios hatte in der prestigeträchtigen Stadt Athen zum zweiten Mal Fuß gefasst.

Die Rückkehr des Demetrios Poliorketes – oder die siebzehnte Wende (295) Demetrios Poliorketes wusste, dass er bei seiner Rückkehr nach Athen im Jahre 295 nicht mit derselben Begeisterung empfangen würde wie bei seinem ersten Einzug in die Stadt. Das wird deutlich aus einer Ehreninschrift für den schon erwähnten politisch einflussreichen Komödiendichter Philippides aus dem Jahr 283, dem Todesjahr des Demetrios. Die Athener ehrten Philippides mit einem goldenen Kranz und der Speisung im Prytaneion; und diese Ehrung galt auch für seine jeweils ältesten Nachfahren. In der Begründung heißt es, Philippides habe mit Lysimachos, dem Feind des Demetrios, im Interesse Athens kooperiert. Auf seine Bitte hin habe Lysimachos im Jahre 299 den Athenern 10 000 Scheffel Weizen geschenkt. Nach der Schlacht bei Ipsos habe Philippides die athenischen Gefallenen auf seine Kosten bestatten lassen und die Unterstützung des Lysimachos bei der Freilassung der in Kleinasien von Antigonos und Demetrios gefangen gehaltenen Athener erwirkt. 1 Wenn nun Philippides erwartet hatte, Lysimachos werde ihm seine Wünsche erfüllen, so musste er schon glaubhaft versichern können, Demetrios habe die Athener wider ihren Willen zur Heeresfolge gezwungen. In der Tat konnte Philippides mangelndes Einvernehmen zwischen Demetrios und den Athenern schon durch die bloße Bitte demonstrieren, den offenbar deportierten athenischen Bürgern die Heimreise zu ermöglichen. Es ist anzunehmen, dass Demetrios ihnen misstraut hatte und sie deshalb lieber bei seinem Vater Antigonos in Kleinasien interniert sah. Als Geiseln hätten sie dann für das Wohlverhalten ihrer Familie daheim in Athen gebürgt. Demetrios konnte also nicht entgangen sein, dass er sich schon 12 1

Ebd. 34, 3–5. IG II/III2 657; Sylloge3 374; HGIÜ Band II, Nr. 308.

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einige Mühe geben musste, um das verlorene Vertrauen der Athener wiederzugewinnen. Daher suchte er sogleich mit einem ebenso einfachen wie situationsgerechten Mittel die nach der Belagerung ausgehungerten Athener für sich einzunehmen, indem er Lysimachos noch überbot und ihnen sogar 100 000 Scheffel Weizen spendete. 2 Auf Anraten des wieder zu Ehren gelangten Theophrast gestattete er im Jahre 292 den 307 vertriebenen Oligarchen die Rückkehr in ihre Stadt. 3 Sie mochten in seinen Augen ein Gegengewicht zu den ihm mittlerweile wohl eher suspekten Demokraten bilden. Schließlich wurde Demetrios 294 nach einer Reihe von Morden innerhalb der königlichen Familien in Ermangelung eines Besseren als Nachfolger des Kassandros zum König von Makedonien gekrönt. 4 Aus dem einstigen Titularkönig wurde nun ein König ohne Einschränkung. Demetrios hätte zufrieden sein können, eröffnete aber unnötigerweise den fünften Diadochenkrieg (288–286) mit dem Ziel, seine Macht nach dem Vorbild seines Vaters auch auf Kleinasien auszudehnen. Dadurch provozierte er den erneuten Zusammenschluss der schon bei Ipsos erfolgreichen Koalitionäre, nur dass nunmehr Pyrrhos von Epirus anstelle des verstorbenen Kassandros der vierte Bündnispartner war. Die Verbündeten einigten sich darauf, dass Pyrrhos von Westen und Lysimachos von Osten her nach Makedonien vordringen sollten. 5 Demetrios reagierte, indem er seinem Sohn Antigonos Gonatas Griechenland überließ und sich darauf zunächst gegen Lysimachos wendete. Als seine Soldaten erfuhren, Pyrrhos habe Veria erobert, wandten sie sich von Demetrios ab und liefen in großer Zahl zu Lysimachos über. 6 Darauf unternahm Demetrios einen Angriff gegen Pyrrhos, der ebenso wie der voraufgegangene endete: Seine Soldaten verweigerten ihm den Gehorsam und liefen zu Pyrrhos über, da sie keinen Krieg führen wollten, bloß um für Demetrios weiterhin ein Luxusleben zu finanzieren. 7 Als darauf Lysimachos und Pyrrhos Makedonien unter sich aufteilten, war der Krieg im Grunde entschieden. Noch vor dem Ende dieses Krieges fielen die Athener zum zweiten Mal von Demetrios ab, wählten wieder ihre Archonten und entPlutarch, Demetrios 34, 4. Plutarch, Moralia 850 B–E; Dionysios von Halikarnass, Deinarchos 3/9 = Philochoros FGH 328 F 66. 4 Plutarch, Demetrios 37, 2 und Pyrrhos 7, 1; Iustin 16, 1, 8–9. 5 Plutarch, Demetrios 44, 1–2. 6 Ebd. 44, 1–3. 7 Plutarch, Demetrios 44, 4–7 und Pyrrhos 11, 3–4. 2 3

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zogen dem Priester der »Wohltäter und Retter« die Rolle des Archon Eponymos. Erbost belagerte Demetrios, der in einem letzten Aufbäumen in Theben und Korinth wieder Fuß gefasst hatte, erneut Athen, ließ sich aber von einer Delegation zur Aufgabe seines Vorhabens bewegen. Sprecher dieser Delegation war (der mit dem gleichnamigen Kyniker nichtidentische) Krates, Schulhaupt der Akademie, der im Sinne der Tradition seiner Schule ausgeführt haben könnte, die Feinde der Griechen stünden nicht in Griechenland, sondern in Asien. Denn laut Plutarchs Bericht brach Demetrios die Belagerung ab und zog sogleich mit dem Ziel nach Kleinasien, Lysimachos Karien und Lydien zu entreißen, und das in der Überzeugung, der Philosoph rate ihm Zweckmäßiges. 8 Der Philosoph könnte Demetrios aber auch den pragmatischen Ratschlag erteilt haben, er solle nach dem Verlust seiner Krone an Pyrrhos 9 in seiner aussichtslosen Lage lieber aufgeben und sich um ein Asyl bemühen, das er tatsächlich in Kleinasien fand, nämlich bei seinem Schwiegersohn Seleukos, in dessen Gewahrsam in Apameia er 283 verstarb. 10 Vor ihrer endgültigen Befreiung dank Unterstützung durch Pyrrhos, der ihnen riet, nicht noch einmal Königen ihre Stadttore zu öffnen 11, erlebten die Athener einen herben Rückschlag im Piräus. Demetrios, der unterdessen in Lydien kämpfte, hatte im Piräus eine Besatzung unter unter dem Kommando eines gewissen Herakleides hinterlassen. 12 Unter ihm diente ein Söldnerführer, der Karer Hierokles, den die Athener überredeten, er solle nachts die Tore öffnen und attische Soldaten einlassen, um Herakleides zu töten. Hierokles blieb aber loyal, meldete Herakleides den Attentatsplan, der darauf auch die Tore öffnen ließ, wo 2000 seiner Hopliten schon warteten und 420 eindringende Athener töteten. 13 Wahrscheinlich konnte der von seinem Vater in Griechenland zurückgelassene Antigonos Gonatas diesen Schlag nicht ausnutzen, weil Pyrrhos sich schon Athen annäherte. So oder so, den Athenern gelang die Befreiung; und sie dankten im Verfolg den Männern mit Ehreninschriften, die sich um die Befreiung verdient gemacht hatten. Das waren insbesondere der StratePlutarch, Demetrios 46, 1–2. Iustin 16, 2, 1–6. 10 Plutarch, Demetrios 48–52. 11 Plutarch, Pyrrhos 12, 4. 12 Polyain 5, 17, 1. Bezeugt ist der Karer Hierokles auch bei Diogenes Laertios 4, 127 und 4, 39. 13 Polyain 5, 17, 1; Pausanias 1, 29, 10. 8 9

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ge Olympiodor, der den Musenhügel stürmte 14, ferner Kallias von Sphettos, der die Söldner des verbündeten Ptolemaios II. Philadelphos (r. 283–246) anführte 15, Strombichos, der als Söldnerführer im Auftrag des Demetrios Poliorketes zum Demos der Athener überlief und am Sturm auf den Musenhügel beteiligt war 16, und schließlich Zenon (nichtidentisch mit dem gleichnamigen Stoiker), der als Flottenkommandant des Ptolemaios II. die Versorgung der Bevölkerung gesichert hatte. 17 Für die Aufrechterhaltung der diplomatischen Kontakte zu Lysimachos wurde neben Artemidoros von Perinth 18 ganz besonders der Komödiendichter Philippides geehrt, der Lysimachos mit Erfolg um eine Getreidespende für Athen ersucht hatte. 19 Demochares von Leukonoe, der Neffe des Demosthenes, wurde für die erst später erfolgte Befreiung von Eleusis geehrt. 20 Mit diesen Namen dokumentierten die Athener, dass sie selbstverständlich Verbündete hatten, aber auch ganz erheblich aus eigener Kraft zu ihrer Befreiung beigetragen hatten. Mit einem Wermutstropfen mussten sich die Athener allerdings abfinden. Antigonos Gonatas, der Sohn des Demetrios, hielt den Piräus immer noch besetzt. Anderenfalls hätte Philippides laut seiner schon angeführten Ehreninschrift an Lysimachos nicht auch noch eine ganz aktuelle Bitte richten müssen, nämlich um Geldmittel und Getreide, damit Athen frei bliebe und endlich den Piräus und die attischen Grenzfesten zurückerhielte. 21 Der Rückeroberung des Piräus gelang Olympidor erst im Jahre 280. Schlimmer als diese äußere Nachwirkung wog zweifellos der Umstand, dass während des zweiten Aufenthalts des Demetrios in Athen der Herrscherkult erneut belebt wurde. Die Hauptquellen zu dieser Entwicklung sind Demochares und der Theophrastschüler Duris, die beide bei Athenaios unter dem Oberthema Schmeichelei ausführlich zitiert werden. Längst hatte sich der Herrscherkult zum Herrscherfamilienkult im weitesten Sinne ausgedehnt. Phila, die Hauptfrau des Demetrios, wurde als Phila Aphrodite verehrt 22 und 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Pausanias 1, 25, 2; 1, 26, 3; vgl. 10, 34, 3. IG II/III2 682; HGIÜ Band II, Nr. 334. IG II/III2 666 und 667; HGIÜ Band II, Nr. 324. IG II/III2 650. IG II/III2 662 und 663. IG II/III2 657. Plutarch, Moralia 851 D–F. IG II/III2 657, Zeilen 35–36. Athenaios 254 A.

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erhielt einen Tempel 23; selbst Leaina und Lamia, Nebenfrauen des Demetrios, wurden als Aphrodite Leaina und Aphrodite Lamia verehrt, während sich drei Trabanten des Demetrios mit Altären begnügen mussten. 24 Demetrios selbst musste natürlich ebenfalls noch eine Steigerung seiner kultischen Verehrung erfahren. Als er von einem Feldzug auf den Inseln Leukas und Korfu nach Athen zurückkehrte, wurde er mit einem im Geschichtswerk des verärgerten Demochares zitierten feierlichen Paian empfangen, der ihm gutschrieb, er sei allein der wahre Gott, während die anderen schliefen, auf Reisen wären oder überhaupt nicht existierten; er sei ein Nachkomme des Poseidon und der Aphrodite, mit der sich niemand in Schönheit und Menschenfreundlichkeit messen könne. 25 Die mit diesem Lob zum Ausdruck gebrachte Herabstufung der unsterblichen Götter zugunsten der sterblichen sollte noch zum wiederkehrenden Leitmotiv des Herrscherkultes werden und forderte geradezu eine philosophische Antwort heraus – eben die Lehre von der überlegenen providentia der wahren Götter. Die Götter gingen also beschädigt aus dem Siegeszug des Herrscherkultes hervor und nicht minder auch das Volk, das den Herrscherkult pflegte und übersteigerte. Für das Volk brachte Plutarch Verständnis auf, als er erwog, was auch der nach seiner Niederlage bei Ipsos von den Athenern abgewiesene Demetrios wohl hätte bedenken können: Ein vernünftiger Mann hätte sich gefragt, ob er aufgrund seiner Taten eine solche Ehrung wirklich verdient hätte, und dann entschieden, ob er die Vergöttlichung als ehrlich gemeinte Auszeichnung annehmen oder lieber zurückweisen solle, weil sie ja doch nur durch Nötigung zustande gekommen sei; das Volk hasse nämlich Herrscher, die widerwillig dargebrachte Ehrungen auch noch in prahlerischem Triumphgebaren annähmen. 26 Was Plutarch mit der ihm eigenen politischen Weisheit ausspricht, hatte durchaus noch seine Implikationen. Denn die widerwillig angenommene Verpflichtung zur Pflege eines unangemessenen Kultes musste zum innenpolitischen Konflikt zwischen denen führen, die sich dem Druck beugten, und denen, die dem Druck widerstanden. Ein solcher Konflikt könnte als Motiv hinter einem weiteren Paian der Athener auf 23 24 25 26

Ebd. 255 C. Athenaios 253 A = Demochares FGH 75 F 1. Athenaios 253 B–D = Demochares FGH 75 F 2. Plutarch, Demetrios 30, 5.

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Demetrios stecken, den Athenaios als Zitat aus dem Werk des Historikers Duris überliefert hat. 27 Denn dieser Paian, der, wie Athenaios kommentierend ausdrücklich unterstreicht, öffentlich und ebenso auch in privaten Häusern gesungen wurde, hat durchaus den Charakter einer Selbstbeschwörung, mit der die Befürworter des Kultes sich gegenseitig versichern, ihr göttlicher Herrscher sei Athens einzig noch verbliebener Trumpf. Anlass war die Besetzung und Plünderung Delphis durch die Aitoler sowie auch deren über Delphi hinausreichende Beutezüge, von denen sich die Athener unmittelbar bedroht fühlten. Der Paian ist ein an keinen festen Versrhythmus gebundenes Kultlied, das sich traditionell an Enyalios bzw. Ares teils bittend vor der Schlacht und teils dankend nach dem Sieg wendet oder an Apollon und Asklepios mit der Bitte um Abwendung von Pest und Hungersnot. Der Refrain – ἰὴ παιάν – tritt, anders als Aristoteles zu seiner Verteidigung behauptet hatte, keineswegs in jedem Paian auf. Der von Duris überlieferte Paian der Athener auf Demetrios, der den bei Demochares zitierten Paian noch überbietet, hat Distichoncharakter. Abwechselnd folgt auf einen jambischen Trimeter anstelle des Refrains ein Ithyphallikos, der wiederum aus einem mit der zweiten anceps-Silbe beginnenden katalektischen jambischen Trimeter besteht. Das Distichon des in Rede stehenden Paian ist also vom Jambus geprägt, der den in der frühen, auf den Lacherfolg ausgehenden Tragödie vorherrschenden Trochaeus ersetzte, seitdem die Tragödie ernste Inhalte auf die Bühne brachte und ein Versmaß benötigte, das der Alltagssprache angenähert war. 28 Der auf der letzten Silbe gehobene Trimeter gehörte dem Vorsänger, der auf der ersten Silbe gehobene Ithyphallikos den Antwortenden, die den Satz des Trimeters vollendeten. Wie bedeutsam für die Verfechter des Herrscherkultes der von Duris zitierte Paian war, geht auch daraus hervor, dass sie eigens einen Wettbewerb ausschrieben, den Hermokles von Kyzikos gewann. 29 Johann Gustav Droysen hat, wie im Folgenden dankbar übernommen, den Paian versmaßgerecht ins Deutsche übertragen:

27 28 29

Athenaios 253 D–F = Duris FGH 76 F 13. Aristoteles, Poetik 1449 a 19–28. Athenaios 697 A.

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Die größten aller Götter und die liebsten sind Nahe dieser Stadt nun: Es bringet dort Demetra und Demetrios Uns zugleich das Glück her. Und sie erscheint, damit sie uns die heiligen Weih’n der Kora mache; Doch er ist heiter, wie dem Gott es ziemt, und schön Und lachend mit erschienen. Wie feierlich ist’s zu sehen, Freunde rings umher, Und in der Mitt’ er selber, Die Freunde gleich den Sternen um ihn her geschart, In der Mitten er, die Sonne. O Sohn des hehren Gottes Du, Poseidons Sohn Und der Aphrodite! Die andern Götter sind entweder weit entfernt Oder sie sind ohn’ Ohren; Vielleicht sind sie auch gar nicht oder beachten uns nicht; Dich aber sehn wir nahe, Nicht steinern, hölzern, nein leibhaftig und gewiss. Und so flehn zu Dir wir: Zuerst, o mache Frieden, Du, Geliebtester, Des ja bist der Herr Du! Und jene Sphinx, die Theben nicht, nein sämtliches Hellas hält in Schrecken, Die aitolische, die auf ihren Felsen sitzend gleich Wie die alte lauert, Und unsre Leiber raubt und ins Verderben stürzt; Nicht mich wehren kann ich; Aitolisch ist es, so zu rauben, was sich naht, Aber nun auch Fernstes; Die strafe Du zumeist! wenn aber nicht, so find’ Einen Oidipus endlich, Der diese Sphinx entweder von dem Felsen stürzt Oder macht zum Sperling. 30

J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus, Band 2: Geschichte der Diadochen, S. 336 f., repr. Darmstadt 1998.

30

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Demeter und Demetrios erscheinen also zugleich in der Stadt, und zwar anlässlich der Kleinen Mysterien für Kore. Ohnehin gebührt ja Demetrios, Demeter und Dionysos bei ihrer Ankunft in der Stadt dasselbe Protokoll der Begrüßungsformeln (ξενισμοί). 31 Umringt ist der Sonnengleiche von Freunden, denen jede Distanz ihm gegenüber fremd ist. Die übrigen Götter existieren vielleicht gar nicht; jedenfalls hören sie nicht auf uns. Er aber ist aus Fleisch und Blut, nicht aus Holz und Stein. Er soll uns helfen, weil wir uns selbst nicht helfen können. Er soll daher mit seinen Gegnern Frieden schließen und Krieg nur führen gegen die Aitoler, die das für sie ferne Delphi besetzt halten und plündern, aber als Land- und Seeräuber auch das Fernste nicht schonen. Wenn er es selbst nicht richten kann, dann soll er einen Mann ausschicken, der die Aitoler von den delphischen Phaidriadenfelsen stürzt wie einst Ödipus vor Theben die Sphinx von ihrem Hochsitz. Die Botschaft an die Mitbürger, die dem Herrscherkult mit Bedenken begegnen, ist eindeutig: Wir selbst sind zu schwach, die Aitoler aus Delphi zu vertreiben und uns gegen ihre Raubzüge zu wehren. Demetrios ist unsere einzige Hoffnung. Kultische Bedenken sind unangebracht. Wenn Demeter und Demetrios in Eintracht und Harmonie gleichzeitig unsere Stadt besuchen, dann hat die Göttin die (gesetzwidrige) Zusammenlegung der Weihen längst verziehen. Was der Paian nicht ausspricht, weil es sich von selbst versteht – der Herr in Delphi ist Apollon, als Vater des Ion göttlicher Stammvater der Athener, der ja auch auf der Griechischen Agora als Apollon Patroos mit einem Tempel verehrt wird. Das besetzte Delphi dient nicht nur aitolischen Plünderern als Stützpunkt, sondern ein Angriff auf Delphi ist im kultischen Sinne auch ein Angriff auf Athen. Der sterbliche Gott Demetrios soll also Athen zuliebe dem unsterblichen Gott Apollon aus seiner Bedrängnis helfen. Dieser für Apollon nicht eben schmeichelhafte Aspekt möchte ein zweiter Grund sein, den Namen Apollons im Paian nicht zu erwähnen. Im Übrigen konnte Demetrios, auf den die Paiansänger als einzigen Retter setzten, den Wunsch seiner Verehrer nur bedingt erfüllen. Er begnügte sich damit, die Pythischen Spiele des Jahres 290 aus Delphi nach Athen zu verlegen. 32 Trotz dieser Zurückhaltung des Demetrios und trotz seines nicht eben ruhmreichen Endes im Exil wurde sein Kult von den Athenern 31 32

Plutarch, Demetrios 12, 1. Ebd. 40, 4.

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weitergepflegt. Aus der Zeit nach 236 stammt die Inschrift: Aristophanes opferte Demeter und Kore und den übrigen Göttern, wie es herkömmlicher Übung entspricht, für das Volk der Athener, den König Demetrios, seine Gattin, die Königin (Phthia), und deren Nachkommen. 33 Dabei blieb es, solange die Antigoniden direkt oder indirekt bestimmten, was in Athen zu geschehen hatte. Antigonos Gonatas, der Sohn des Demetrios, der wohl erst seit seinem Sieg über die Kelten bei Lysimacheia 34 im Jahre 277 unumstritten König von Makedonien war, hatte schon in mehreren Städten Griechenlands wie Tyrannen agierende Statthalter eingesetzt 35, als er auch in Athen diese bewährte Politik verfolgte. Sein Statthalter wurde ausgerechnet Demetrios Phalereus, gleichnamiger Enkel des berühmten, im Jahre 307 gestürzten Demetrios Phalereus. Anlass bot dem König, dass der Enkel wie einst sein Großvater wegen verschwenderischen und lasziven Lebenswandels vor den Areopag zitiert wurde und sich wie jener mit dem Argument verteidigte, er bezahle alles aus eigener Tasche; im Übrigen sei er anders als namentlich angeführte Areopagiten weder Ehebrecher noch ein bestochener Richter. In Würdigung solchen Freimuts ernannte Antigonos ihn zum Gesetzgeber (νομοθέτης) in Athen 36, stattete ihn also mit einem Titel aus, den auch sein Großvater neben anderen schon unter der Ägide des Kassandros geführt hatte. Diese Taktik des Antigonos nach bewährtem Muster provozierte den immer noch nicht erstickten Geist der Autonomie unter den griechischen Städten. Die Initiative ging aus vom Spartanerkönig Areus, der schon Verbündete gewonnen hatte, als Chremonides die Athener aufforderte, sich diesem Bündnis anzuschließen, und ausdrücklich die Statthalterpolitik des Antigonos als Unrecht rügte, sofern sie auf einen Umsturz der demokratischen Verfassung abziele; insbesondere hatte Chremonides Antigonos im Auge, als er von denjenigen sprach, die einen Vertrag mit den griechischen Städten gebrochen hätten (τοὺς παρεσπονδηκότας τὰς πόλεις). 37 Die Griechen ließen die Syll.3 485. Iustin 25, 1–2. 35 Polybios 2, 41, 10. 36 Athenaios 167 F. 37 IG II/III2 686/87; Syll.3 434/435; HGIÜ Band II, Nr. 323. W. W. Tarn, The New Dating of the Chremonidean War, in: JHS 54 (1934) 26–39, rekonstruiert aus den spärlich erhaltenen Quellen den Befund, dass Antigonos einen Vertrag über die Freigabe des Piräus gebrochen habe. 33 34

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Aitoler gegen Antigonos vorpreschen, weil sie selbst noch unter seiner Herrschaft standen 38; sie unterlagen schließlich im »Chremonideischen Krieg« (267–261), als ihr Verbündeter Ptolemaios II. Philadelphos seine Flotte zurückzog, Areus wegen ausbleibenden Nachschubs aufgab und Antigonos die Stadt Athen im Jahre 262 eroberte. 39 Die Athener mussten, wie schon beinahe gewohnt, die Besetzung des Musenhügels akzeptieren, die Antigonos aber nach einigen Jahren wieder aufgab. Das muss sich aber bis 229 wieder geändert haben. Als in diesem Jahr der Sohn des Antigonos, König Demetrios II (r. 239–229), starb, befand es der militärisch erfolgreiche Griechenbefreier Arat von Sikyon für schändlich, dass der Piräus, Munychia, Salamis und Sunion immer noch in makedonischer Hand waren. Zugleich wartete der Kommandant Diogenes nicht ab, wer neuer König würde – der Sohn des Demetrios II., der spätere König Philipp V., war noch unmündig – und ließ sich mit Arat auf den Handel ein, gegen 150 Talente die besetzten Stadtgebiete freizugeben. Von dieser Summe übernahm Arat immerhin ein Sechstel; den Rest zahlten die Athener selbst. Außenpolitisch setzten sie auf Ptolemaios III. Euergetes (r. 246–222) und später auch auf Attalos I. von Pergamon (r. 241– 197), der als Verbündeter Roms im Zweiten Punischen Krieg (218– 201) im Jahre 210 Aigina besetzt hatte, waren aber offenbar immer noch, klüger geworden, bemüht, die Makedonen nicht unnötig zu verärgern. Sonst wäre der Demetrioskult nicht erst im Zuge des Zweiten Makedonischen Krieges (200–196) abgeschafft worden. Erst der Urenkel des Demetrios Poliorketes, König Philipp V., sorgte indirekt dafür, dass der Kult seines Ahnherren in Athen ein Ende fand. Er hatte sich im Zweiten Punischen Krieg im Jahre 215 Hannibal als Verbündeten angedient und 205 mit den Römern einen Sonderfrieden geschlossen. Als er sich von diesem Ersten Makedonischen Krieg erholt hatte, wütete er erneut in Griechenland und löste dadurch den Zweiten Makedonischen Krieg (200–196) aus. Der Anlass war das Gesuch der Akarnanen an Philipp, er möge sie bei ihrer Rache an den Athenern unterstützen, die in Eleusis zwei junge Akarnanen getötet hatten, weil sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, als Ungeweihte den nur Geweihten zugänglichen heiligen Bezirk betreten hatten. Philipp ließ sich nicht lange bitten, verwüstete alle sakralen und profanen Gebäude außerhalb der Mauern und kehrte beu38 39

Iustin 24, 1, 1–8. Pausanias 1, 7, 3 und 3, 6, 4–6; Polyain 4, 6, 20; Iustin 26, 2, 7–8.

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tebeladen zurück. Er hatte weder die Akademie noch das Lykeion und auch nicht die Gräber des vor den Mauern gelegenen Kerameikos verschont. 40 Als Philipp sich nach Makedonien in den Norden zurückgezogen hatte, wurde in Athen eine Gesandtschaft der Pergamener und Rhodier begeistert willkommen geheißen. 41 Philipp wurde schließlich von den Römern im Bündnis mit Pergamenern, Rhodiern und Athenern besiegt und musste hinnehmen, dass der römische Konsul Quinctius Flamininus anlässlich der Isthmischen Spiele den Zweiten Makedonischen Krieg damit beendete, dass er die Freiheit aller griechischen Gemeinden von der Herrschaft der Makedonen verkündete. 42 Spätestens seit dem Tod Alexanders des Großen bedeutete Autonomie für die Griechen die (ihnen verweigerte) Unabhängigkeit von makedonischer Herrschaft. Daher ist es nur zu verständlich, dass die Griechen über die Proklamation des Flamininus jubelten und darüber ihre Begeisterung für die Wettbewerbe beinahe vergaßen. Und doch enthielt der Vorgang einen zunächst unbemerkten Wermutstropfen; denn die griechischen Gemeinden hatten sich nicht aus eigener Kraft befreit. Diesen Gesichtspunkt arbeitet Livius in seinem Bericht 43 über die damnatio memoriae heraus, die die Athener über den Kult der Antigoniden verhängten, sobald ihnen die Unterstützung durch Römer und Pergamener sicher schien. Demnach beschloss die Volksversammlung, alle Bilder Philipps V. und alle ihn betreffenden Inschriften zu beseitigen, und das sollte auch für alle seine männlichen und weiblichen Vorfahren gelten. Sämtliche Feste und kultischen Ehrungen für ihn und seine Vorfahren seien abzuschaffen und die Standorte seiner Denkmäler als verflucht zu betrachten. Demgemäß durften diese Areale nur genutzt werden, wenn sonst keine andere Möglichkeit bestand, ein Bauvorhaben auszuführen. Die Priester sollten, wann immer sie für die Athener und ihre Verbündeten beteten, dies mit einer Verfluchung Philipps, seiner Truppen und aller Makedonen verbinden. Jeder künftig gegen Philipp gerichtete Antrag solle von allen Bürgern getragen werden. Jeder Bürger, der versuche, die Verfluchung Philipps abzuschwächen, dürfe straflos getötet werden. Alle einst gegen die (Tyrannenfamilie der) Peisistratiden gefassten Be40 41 42 43

Diodor 28, 7; Livius 31, 14, 6–10; 31, 24, 7–18; 31, 30, 5–10. Livius 31, 14, 11–15, 5. Polybios 18, 44–46; Livius 33, 32; Plutarch, Flamininus 10, 3–5. Livius 31, 44, 4–8.

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schlüsse sollten auch für Philipp gelten. Der Kommentar, mit dem Livius seinen Bericht abschloss, lautete: »Die Athener führten ihren Krieg gegen Philipp immerhin mit Wort und Schrift, worin ihre einzige Stärke lag.« 44 Dass die Athener erst 197 den Kult des Antigonos und Demetrios abschafften, gibt zu erkennen, dass sie auch in Zeiten, in denen sie nicht direkt der Herrschaft der Antigoniden unterlagen, bemüht waren, sich deren Sympathien nicht zu verscherzen. Ebenso beweist aber der Umstand, dass sie den Kult unverzüglich abschafften, sobald es opportun war, dass sie an dieser Übung nur zähneknirschend festgehalten hatten. Wie ferner die Auseinandersetzungen der Athener mit den Antigoniden zeigen, war im dritten vorchristlichen Jahrhundert in der Regel die Autonomie der Stadt ein Thema demokratischer Politiker. Für die kosmopolitischen Philosophen hatte die Autonomiefrage an Bedeutung verloren. Solange ihre Aufmerksamkeit der Sittlichkeit der ganzen Stadt galt, gehörte die Souveränität ihrer Adressaten zu den unausgesprochenen Voraussetzungen; sonst hätte der Gedanke ja nur unter heteronom bedingtem Vorbehalt Eingang in das politische Geschehen gefunden. Galt aber die philosophische Aufmerksamkeit ausschließlich der Sittlichkeit der Schule und der Widerspruchsfreiheit ihrer Theorie, dann genügte völlig deren interne Souveränität für den Vollzug. Demgemäß war die Frage der Souveränität, um die die Athener Bürger ein Jahrhundert lang – meist vergeblich – gerungen hatten, weder für die Stoiker noch für die Epikureer von vitalem Interesse. Das galt auch für die Akademiker. Arkesilaos (315–240), Schulhaupt und Begründer der Skeptischen Akademie, hielt sich am liebsten eben in der Akademie vor den Toren Athens auf und beteiligte sich nicht an der Staatsverwaltung (πολι-

Livius spricht nicht von der Abschaffung der Phylen Antigonis und Demetrias. Die Athener hatten für Ptolemaios III. Euergetes (r. 246–222) noch eine dreizehnte Phyle eingerichtet und eine weitere für Attalos von Pergamon (Livius 31, 15, 6; Pausanias 1, 5, 5). In der kurzen Zeit, als nach 200 die beiden Antigonidenphylen aufgelöst waren und die neue Phyle für Attalos noch nicht eingerichtet war, hatten die Athener also elf Phylen. Aus dieser Zeit muss das auf der Griechischen Agora gefundene Kleroterion (Richterlosmaschine) stammen, das ebenda im Museum ausgestellt ist. Aristoteles (AP 66) hat das Kleroterion bis ins Detail beschrieben. Es enthält für jede Phyle eine Kolumne mit Schlitzen, in die der Phylenangehörige seine Namenstafel (πινάκιον) steckt, wenn er für den Tag als Geschworener ausgelost werden will. (Vgl. oben S. [66]). Das auf der Agora gefundene Kleroterion hat elf Kolumnen und muss also aus der Zeit gleich nach 200 stammen.

44

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τισμός). 45 Die Demokraten aber, die sich der Staatsverwaltung widmeten, bekamen ständig zu spüren, was es bedeutete, ihre Ziele nicht nur innenpolitisch zu verfolgen, sondern auch gegenüber einer überlegenen äußeren Macht zu behaupten. So wurde insbesondere den Demokraten mit der Beendigung der makedonischen Hegemonie ein lange gehegter Wunsch erfüllt, ohne dass sie darüber wunschlos glücklich sein konnten, weil die Befreiung eben nur mit fremder Hilfe der Römer erfolgt war. Es zeichnete sich ab, dass langfristig die Souveränität der griechischen Städte Einschränkungen unterliegen werde, die indes erträglich waren, solange sie von einem wohlwollenden, aber militärisch dominanten Hegemon im fernen Italien ausgingen. Die Philosophie, die sich in der Frage der politischen Autonomie der Stadt neutral verhalten hatte, war indes in einer anderen nicht minder politischen Frage gehalten, sich ohne Ausweichen zu Wort zu melden. Demetrios Poliorketes hatte ja einst den Athenern nicht nur ihre Souveränität beschnitten, sondern er stand auch im Mittelpunkt des Antigonidenkultes. Dieser spezielle Kult war zwar für Athen wieder abgeschafft, aber damit war der Herrscherkult überhaupt in der hellenistischen Welt keineswegs schon aufgelöst. Im Gegenteil – er blühte in den Reichen der Diadochen und ihrer Nachfolger auf und sicherte sich später sein Weiterbestehen im römischen Kaiserkult. Damit bestand ein Problem, an dem die Philosophen nicht in derselben Weise vorbeigehen konnten wie an der Souveränitätsfrage. Der »Frevel« des Herrscherkultes hätte sich zwar als eine Fehlleistung politischer Toren erklären lassen, die sich außerhalb der Sphäre der Weisen ereignete, oder man hätte sich zur Stellungnahme genötigt notfalls damit beruhigen können, dass der Herrscherkult der inneren Stabilität der Gemeinwesen diene. Aber konnten die Stoiker gleichsam als systematische Theologen auch über den Umstand hinwegsehen, dass der Herrscherkult unweigerlich dazu führte, dass die unsterblichen Götter zu zweitrangigen Wesen herabgestuft wurden? Für zwei Seiten der theologia tripertita, nämlich für die mythologische und die politische, konnte die stoische Philosophie eine Mitverantwortung ablehnen; denn diese Seiten bildeten die Domäne der Toren. Jedoch konnte sie sich nicht mehr heraushalten, soweit ihre eigene Domäne der theologia naturalis betroffen war. In dieser Sphäre hielt die Philosophie das Monopol und war verpflichtet, ihrerseits auszusagen, was im Unterschied zu den Vorstellungen der mythi45

Diogenes Laertios 4, 39.

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schen und politischen theologia das Göttliche an und für sich wirklich ist. Daher gab es für die Philosophie, wollte sie ihre Kompetenz ernst nehmen, kein Ausweichen vor dem Thema des Herrscherkultes. Ein Blick auf einige Details des Siegeszuges, den der Herrscherkult nach hellenistischem Vorbild auch in der römischen Welt noch erleben sollte, wird plausibel machen, warum die Stoiker in der Tat nicht umhin konnten, um das Ansehen der unsterblichen Götter besorgt zu sein.

Der Siegeszug des Herrscherkultes Alexander und den Diadochen war es gelungen, dem Herrscherkult den Status einer unausweichlichen Nötigung ihrer Untertanen zu verschaffen. Das galt nicht nur für die hellenistischen Königreiche. Die Epidemie machte auch vor dem Römischen Reich keineswegs Halt; sie breitete sich dort zwar zunächst nur zögernd aus, dann aber unter immer größerem Applaus. Die Argumente, die römische Autoren zur Rechtfertigung des Herrscherkultes auf Unkosten der unsterblichen Götter vortrugen, glichen denen der Griechen fast bis in den Wortlaut. Ovid stellt Augustus unverhohlen über die olympischen Götter, sei er doch stets sichtbar und zuverlässig präsent. 1 Entsprechend legt er Niobe in den Mund, sie sei eine sichtbare Gottheit und gehöre nicht zu jenen, von denen man lediglich höre. 2 Valerius Maximus stellt fest, die Römer hätten die übrigen Götter aus der Tradition übernommen, Augustus aber hätten sie sich selbst als Gott gegeben und könnten ihn täglich mit eigenen Augen sehen. 3 Noch weiter gingen die Koer, die in einer Inschrift in Olympia Augustus rühmten, er habe mit seinen Wohltaten für die Menschheit die olympischen Götter bei weitem übertroffen. 4 Angesichts dieser Einschätzung mussten sich das Julisch-Claudische und das Flavische Kaiserhaus auch nicht scheuen, in der Altis von Olympia die Göttermutter Meter aus ihrem Tempel zu verdrängen und diesen an ihrer statt dem Kult der eigenen Herrscherfamilie zu widmen. 1 2 3 4

Ovid, Tristien 2, 54 und Ex Ponto 1, 1, 63. Ovid, Metamorphosen 6, 170. Valerius Maximus, Vorrede zu »Facta et dicta memorabilia«. I. v. O. 53.

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Der menschliche Herrscher lässt die Götter in der Rangordnung hinter sich und übernimmt auch ihre Aufgabe der Fürsorge für das Menschengeschlecht. Diesem Selbstverständnis der Herrscher musste Epikurs Lehre äußerst willkommen sein, dass den Göttern die Beschäftigung mit den meist degoutanten menschlichen Angelegenheiten nicht zuzumuten sei; angemessen sei für sie vielmehr ein seliges Leben in »Zwischenwelten« (μετακόσμια/intermundia) jenseits der Welt der Menschen. 5 Dank dieser These ließ sich die Entthronung der Götter sogar noch als fälliger Schritt besonderer Gunsterweisung schönreden. Der Übergang des Herrscherkultes aus der hellenistischen Welt in die römische ist bei Quinctius Flamininus festzumachen. Er hatte, wie gesagt, Perseus, den letzten Makedonenkönig, besiegt und bei den Isthmischen Spielen die Freiheit der griechischen Gemeinden verkündet. 6 Ihn ehrten die Einwohner von Chalkis zusammen mit der Göttin Roma mit Weihinschriften und einem Kult, den ein Priester noch zu Plutarchs Zeiten ausübte. Der Schlussvers des vom Priester vorgetragenen Kultliedes lautete: Heil dir Paian, Heil dir Retter Titus (ἰήιε Παιάν, ὦ Τίτε σῶτερ). 7 Flamininus trat also offenbar ungewollt in die Fußstapfen des gleichfalls mit einem Paian geehrten Demetrios Poliorketes. Cicero wäre es, als er römischer Statthalter in Kilikien war, beinahe nicht anders ergangen. Nur mit genauer Not vermochte er sich gegen das Ansinnen seiner Vergöttlichung zur Wehr zu setzen. 8 Augustus wurde zum Gegenstand kultischer Verehrung ebenfalls unter starker griechischer Beteiligung. Bekannt ist der Monopteros auf der Athener Akropolis ausgerechnet zwischen der Ostseite des Parthenon und der Südseite des Erechtheion. Laut Inschrift 9 hat das Volk der Athener den Monopteros unter dem Archonten Areus im Jahre 27 der Göttin Roma und Caesar Augustus geweiht. Das entsprach der von Augustus getroffenen Regelung, seine kultische Verehrung nur in den Provinzen und auch da nur zugleich mit der Göttin Roma zu gestatten. 10 Augustus folgte also dem Beispiel des FlaminiCicero, De finibus bonorum et malorum 2, 75 und De natura deorum 1, 18; Plutarch, Moralia 731 D und 734 C; Diogenes Laertios 10, 89 6 Vgl. Anm. 42, S. 184. 7 Plutarch, Titus Flamininus 16, 3–4. 8 Cicero, Ad Atticum 5, 21, 7 und Ad Quintum fratrem 1, 1, 26. 9 IG II/III2 3173. 10 Sueton, Augustus 52; Tacitus, Annalen 4, 37; Cassius Dio 51, 20, 7. 5

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nus, untersagte aber den römischen Prokonsuln, sich weiterhin in dieser Form verehren zu lassen. 11 Im Übrigen hatte Augustus schon vor der Errichtung des Monopteros auf der Akropolis den Städten Ephesos und Nikaia gestattet, Roma und Caesar einen Tempelbezirk zu weihen. Diesen beiden Gottheiten sollten auch die dort ansässigen Römer kultische Ehren erweisen; ihn selbst (wohl ebenfalls zusammen mit Roma) durften nur Nichtrömer verehren, und das galt außerdem für Pergamon und Nikomedia. Diese Nichtrömer habe Augustus, so endet der Bericht, ausdrücklich als Hellenen apostrophiert. 12 Für den Fall, dass die Griechen die neuen Formen des Kaiserkultes verübelten, sollten sie bedenken, woher diese Idee stammte. Augustus überließ aber seine kultische Sonderstellung nicht nur den Griechen. Er selbst trug Sorge für die Vergöttlichung Caesars 13 – damit er das d. f. (divi filius) hinter seinen Namen und auf Münzen setzen konnte; denn die Nachfolger handelten keineswegs selbstlos bei ihrer Initiative zur Vergöttlichung ihres Vorgängers, sondern sahen darin ein probates Mittel der Legitimierung ihrer eigenen Herrschaft. 14 Prinzipiell waren die Kaiser zu ihren Lebzeiten sterbliche Gottheiten (divi), nach ihrem Ableben sollten sie, wenn sie nicht der damnatio memoriae verfielen, unsterbliche Götter werden. Für Ovid stand fest, Mars sei schon ein Gott, Augustus werde einer sein. 15 Auf einen unübersehbaren Schwachpunkt ging Velleius Paterculus (1, 124, 3) ein, dass nämlich der vergöttlichte Kaiser ja als sterblicher Mensch geboren wurde, und erklärte zum Tod des Augustus, er kehre mit seiner Bestattung in den Himmel zurück, wobei sein Körper menschliche Ehrungen erfahre, sein göttlicher Geist aber himmlische. Im Blick auf dieses Motiv der Rückkehr weigerten sich die Römer, um den verstorbenen Marc Aurel zu trauern, sei er ihnen doch von den Göttern nur auf Zeit ausgeliehen und kehre nunmehr in das Reich der Götter zurück. 16 Mithin ist der Kaiser schon von vornherein als Gott und nicht als Mensch auf die Welt gekommen. Gleich mit welchen Argumenten der Herrscherkult begründet wurde, er war im Reich als eine feste Größe etabliert, vor der es kein Ausweichen gab. Gerade deswegen stürzte der Kult kritische Intellek11 12 13 14 15 16

Cassius Dio 56, 25, 6. Dio Cassius 51, 20, 6–7. Appian 2, 148. Plinius d. J., Panegyricus 11, 1. Ovid, Ars amatoria 1, 203–204. SHA zu Marcus Aurelius 18, 2.

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tuelle in einen Konflikt zwischen politischer Loyalität und aufgeklärtem Verstand. Stellvertretend für viele andere seien Varro (116–27), Horaz (65–8 vor Christus), Pausanias und Lukian – die beiden Letzteren lebten im zweiten nachchristlichen Jahrhundert – angeführt. Augustinus zitiert Varro, »einen der gelehrtesten Römer«, mit dem psychologischen Argument, es stimme zwar nicht, dass die Herrscher Göttersöhne seien, aber die Vorstellung sei äußerst nützlich; denn Herrscher, die auf ihre göttliche Abstammung vertrauten, handelten mit mehr Elan und führten ihre Unternehmungen in der Regel auch glücklich zu Ende. 17 Für Horaz ist Varros letztes Wort, dass man den Spagat zwischen Wahrheit und Opportunität wohl oder übel aushalten müsse, keine Beruhigung, wohl weil er fürchtet, dergleichen innere Ökonomie sei leichter zu empfehlen als ein Leben lang durchzuhalten. Deshalb lotet der skeptische Epikureer, ehemaliger Republikaner und nunmehr Freund des Augustus, gleich in einem seiner ersten Lieder (carmen 1, 2, 29–52) aus, inwieweit der Herrscherkult im Vorstellungshorizont seiner Zeit vielleicht doch ein wenig mehr als bloß politische Zweckmäßigkeit für sich geltend machen könne. Horaz konnte davon ausgehen, dass die Epiphanie eines Gottes und die Inspiration der Seher und Dichter für antikes Bewusstsein akzeptierte Größen sind, als er Jupiter abwägen ließ, welchen Gott er aussenden solle, um Augustus unter himmlischem Beistand zur Herbeiführung einer Schicksalswende zu verhelfen – weg vom Unheil der Bürgerkriege und hin zu einem militärischen Erfolg über die Parther. Mit dieser Mission beauftragt Jupiter nicht Apollon, den Beschützer des Augustus bei Aktium, nicht Venus, die Stammmutter der Julier, nicht Mars, dem Augustus für den Sieg bei Philippi den Tempel des Mars Ultor gelobt hatte. Stattdessen beauftragt Jupiter Merkur, einen Gott ohne militärische Meriten, wenn man davon absieht, dass er Horaz in der Schlacht bei Philippi in dichten Nebel hüllte und ihm dadurch das Leben rettete. 18 Jupiters Wahl fiel auf Merkur, weil der ja ohnehin schon als Bindeglied zwischen Göttern und Menschen auf der Erde wandele. Damit war eine Epiphanie in greifbarer Nähe, und das galt als die Voraussetzung einer gelungenen Inspiration. Die Pythia in Delphi ist nur zu einer Orakelauskunft fähig, wenn die Anwesenheit Apollons gesichert ist, dessen nonverbale Inspiration sie im

17 18

Augustinus, De civitate Dei 3, 4. Horaz, Carmen 2, 7, 13–14.

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Rahmen der ihr eigenen sprachlichen Möglichkeiten in eine verbale Antwort an die Ratsuchenden übersetzt. 19 Die göttliche Epiphanie im Verbund mit der Inspiration verschafft dem Begünstigten Überlegenheit über seine Mitmenschen, aber in einem damit auch Abhängigkeit vom erscheinenden Gott. Deshalb betete Horaz zu Merkur, er solle möglichst lange bei den Römern bleiben und erst möglichst spät wieder in den Himmel zurückkehren, schließt damit aber ein, dass die Überlegenheit des Augustus begrenzt und bedingt ist. Die Bemühung um Plausibilität führte unvermeidlich zu Abstrichen an der Göttlichkeit des Kaisers. Vergleichbaren Schranken unterwirft sich auch ein späteres Loblied des Horaz auf Augustus (carmen 3, 5, 1–4): Wie im Himmel der Donnergott Jupiter herrsche, so werde auf Erden dereinst Augustus für göttlich gehalten (divus habebitur) – sobald er Britannier und Parther dem Reich angegliedert hätte. Dieses Lob spricht also beim Wort genommen aus, was man glauben wird, nicht aber das, wovon Horaz persönlich überzeugt ist; und sogar das Selbstverständliche, dass Augustus der Erste unter den Menschen ist wie Jupiter unter den Göttern, muss der Kaiser erst noch durch Kriegstaten bestätigen, deren Gelingen keineswegs gesichert ist. Der Versuch des Horaz, dem Kaiserkult verstehend Plausibilität abzugewinnen und sich mit seiner Zumutung für die Vernunft auszusöhnen, blieb auf halbem Wege stecken. Andere Römer sind dagegen nach dem Zeugnis des Tacitus ihren Weg durchaus zu Ende gegangen und erwiesen anlässlich der Bestattung des Augustus dem Kaiserkult ihre uneingeschränkte Reverenz. Sie wollten wie Zeugen vor Gericht gesehen haben, wie ein Adler aus dem brennenden Scheiterhaufen aufstieg, der die Seele des Verewigten in den Himmel hinauftrug. 20 Sogar ein gewesener Prätor bezeugte, er habe das Bild des Eingeäscherten in den Himmel aufsteigen sehen. 21 Pausanias (8, 2, 5), der fromme Heide, hält dafür, dass in seinem korrupten Zeitalter niemand mehr die Metamorphose in ein göttliches Wesen verdiene; solche Bekundungen liefen doch nur auf blinde Schmeicheleien gegenüber Despoten hinaus, die nach ihrem Übergang in eine andere Welt den Zorn der Götter schon noch am eigenen Leibe spüren würden. Was Pausanias aus verletzter Frömmigkeit aus19 20 21

Plutarch, Moralia 397 B–C. Cassius Dio 56, 42, 3. Sueton, Augustus 100.

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spricht, bestätigt der Satiriker Lukian auf seine Weise im 14. »Totengespräch« zwischen Philipp und Alexander. Der Vater liest dem Sohn die Leviten: Erschienst du nicht lächerlich, wenn du, zum Gott erklärt, blutend und ächzend aus der Schlacht getragen wurdest? erschienen Ammon und seine Priester dann nicht als Betrüger, wenn sie dich als Gott begrüßten? vergiss deine Dünkel und lerne, dich selbst zu erkennen, dass du nichts Besseres bist als eine Leiche! Dass für die Christen grundsätzlich galt, was einige einsichtige Heiden als persönliche Meinung vertraten, bedarf keiner Betonung. Als römischer Statthalter versicherte Plinius d. J. in einem Brief (95, 5) an Trajan, ein wahrer Christ sei um keinen Preis zu bewegen, das Kaiserbild mit Weihrauch und Weinspende anzubeten. Daher ist es umso merkwürdiger, dass sich im Neuen Testament nur eine einzige Passage findet, die sich mit dem Kaiserkult auseinandersetzt, und zwar in der Apostelgeschichte (12, 19–23). Demnach erlitt als Erster Herodes Agrippa (10 vor bis 44 nach Christus), Enkel des Herodes des Großen und römischer Klientelkönig von Palästina, für den Frevel des von ihm geforderten Herrscherkultes eine Strafe am eigenen Leib. Als er bei einer Ansprache an sein Volk ausrief, seine Stimme sei die eines Gottes, nicht die eines Menschen, da schlug ihn, weil er nicht Gott die Ehre gegeben hatte, der Engel des Herrn, und er starb von Würmern zerfressen. Erst die christlichen Kaiser späterer Jahrhunderte beherzigten die Lehre aus der Apostelgeschichte und ersetzten den Herrscherkult konsequenterweise durch die Huldigung ihrer Untertanen (in nomen principis iurare). All diese Details zum Weiterleben des hellenistischen Herrscherkultes im Kaiserkult des Römischen Reiches beweisen die ungeheuere Ansteckungsgefahr, die von dem griechischen Vorbild ausging. Begleitet wurde der Prozess von den Stimmen derer, die auf seine Nützlichkeit abhoben, aber auch derer, die sich mit dem Kult unter Verzicht auf allzu viel begriffliche Schärfe intellektuell auszusöhnen suchten, und schließlich derer, die zu keinem Kompromiss bereit den Kult rundweg als indiskutabel verwarfen. Was bei der Aufzählung der Vielzahl kritischer Stimmen indes noch fehlt, ist eine zunftgerechte Antwort der Philosophie, zu der sie dank ihrer Zuständigkeit für die natürliche Theologie verpflichtet war. Diese Antwort war im vollen Bewusstsein der Tatsache zu geben, dass der Kult als Institution zunächst in der hellenistischen Welt und später im Römischen Reich so fest verwurzelt war, dass nüchtern betrachtet sein Bestand in absehbarer Zeit nicht zu erschüttern war. Das durfte aber kein Grund 192 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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sein, das noch so Unvermeidliche ohne kritische Revision mindestens innerhalb der Schule hinzunehmen. Die Stoiker sahen sich zur Zulassung dieser Revision verpflichtet – indes ohne den Ehrgeiz, die Welt vor Verblendung zu retten, wohl aber in der frommen Absicht, die unsterblichen Götter nach bestem Wissen wieder in ihr Recht zu setzen.

Die stoische Götterlehre als Antwort auf den Herrscherkult Die alten Stoiker argumentierten in allen den Kult und die Götterlehre betreffenden Fragen im Rahmen der Funktionsaufteilung der theologia tripertita, die zwischen einer natürlichen (φυσικὸν εἷδος) Gattung der Philosophen, einer mythischen (μυθικὸν εἶδος) der Dichter und einer institutionellen (νομικὸν εἶδος) der staatlichen Amtsträger unterschied. 1 Diese Bestimmung in einem Chrysipp zugeschriebenen Fragment aus den placita (I 6) des Doxographen Aëtios (um 100 nach Christus) kennt sehr wohl eine Reihe von Menschen, die um ihrer Verdienste willen nach ihrem Tod zu Göttern wurden; nur findet sich darunter kein einziger zeitgenössischer Herrscher, sondern genannt werden Herakles, die Dioskuren und Dionysos. Ebenfalls erscheint in der von Philodem zusammengestellten stoischen Götterliste kein einziger Herrscher aus geschichtlicher Zeit. 2 Der Vorbehalt der Stoiker spiegelt sich sogar in den Kommentaren staatsloyaler cives Romani wider. Augustinus berichtet, der pontifex maximus Mucius Scaevola, der von den Anhängern des Marius 82 ermordete Konsul des Jahres 95, habe sich für die zugrunde liegende stoische Lehre von den drei theologischen Gattungen interessiert; die mythische Gattung habe er wegen der den Göttern angedichteten Frevel nicht ernst genommen, die philosophische sei für den Kult wegen ihrer Abstraktheit untauglich und die politisch-institutionelle müsse pflichtgemäß den Menschen durch Bilder und Statuen vortäuschen, die Götter seien anthropomorph. Ebenso dachte M. Terentius Varro (116–27) 3, auf den sich Augustinus später zur näheren begriff1 2 3

SVF II 1009. Ebd. II 1076 (= Philodem, De pietate 11). Augstinus, De civitate Dei 4, 27.

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lichen Bestimmung der theologia tripertita bezieht. 4 Dieser habe – nicht anders als von Aëtios vermerkt – drei Gattungen von theologia unterschieden, nämlich das genus mythicum sive fabulosum, das genus civile und das genus naturale. Die mythische theologia habe Varro als blasphemisch den Göttern gegenüber zurückgewiesen; bezüglich des genus civile habe er aber nur angemerkt, es handele sich um die theologia, die den Bürgern in den Städten bekannt und deren Pflege von Amts wegen Sache der zuständigen Priester sei. Das Eingehen auf die natürliche Theologie lief für den civis Romanus auf eine möglichst zurückhaltende intellektuelle Reserve hinaus. Denn weiter ausholend erläutert Augustinus 5, auch nach Überzeugung der heidnischen Gelehrten tauge angesichts unübersehbarer Affinität beider Seiten das genus mythicum so wenig wie das genus civile; aus Risikoscheu hätten sie aber nur das genus mythicum kritisiert und das genus civile geschont. So seien sie in der Hoffnung verfahren, dass die Wahrheit der theologia naturalis bei denjenigen Eingang fände, die in der Lage wären, im genus civile die Schwächen des genus mythicum wiederzuerkennen. Für Augustinus machte also der aufgeklärte civis Romanus die Wahrheit der theologia naturalis nur indirekt geltend, sofern er sich, ohne dies allzu deutlich auszusprechen, gleichsam im Vorbeigehen nicht nur vom genus mythicum, sondern auch vom genus civile distanzieren wollte. Diese Vorsicht mussten die schulintern denkenden Stoiker nicht walten lassen. In ihrem Selbstverständnis lebten sie als Kosmopoliten nach den Gesetzen der Weltvernunft und sagten diesen gemäß im Sinne der theologia naturalis aus, was das Göttliche an und für sich wirklich ist. Anders als die Bürger der hiesigen Staaten vermochten sie das genus civile als ihnen von vornherein wesensfremd zu ignorieren, gleich ob nun unsterbliche oder sterbliche Götter Gegenstand der öffentlichen Verehrung waren. Insbesondere fehlte es den Stoikern nicht am nötigen Selbstbewusstsein, ohne das eine so entschiedene Distanzierung von einem fest eingebürgerten Kultverständnis nicht durchzuhalten ist. Ihre natürliche theologia orientiert sich an der allem überlegenen Natur, die sie als die nach Maßgabe göttlicher Vernunft verwaltete Welt verstehen. Im Sinne dieses Weltbegriffs zählen für sie allein die Gesetze der Natur und nicht die Gesetze der Stadt. Während nur vollendete Toren 4 5

Ebd. 6, 5. Ebd. 6, 8.

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nach den Gesetzen der Stadt ihr Leben verbringen, zeichnen sich die Stoiker durch das Alleinstellungsmerkmal weltbürgerlicher Weisheit aus. Dank dieser Weisheit verfügen die Stoiker als Einzige über unverkürztes Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen. 6 Deshalb ist allein der Weise zum Priesteramt berechtigt, weil er im Gegensatz zum Toren allein weiß, wie die Götter ihrem Wesen gemäß zu verehren sind. 7 Nur die ernsthaft Weisen sind gottesfürchtig, weil Frömmigkeit Kenntnis der Regeln des wahren Götterkultes ist. 8 Dagegen kann der unbesonnene Tor nicht fromm sein, ja er ist ein Feind der Götter. 9 Solche Sätze dürften wohl kaum dem städtischen Kult der unsterblichen Götter beistehen, geschweige denn dem der sterblichen Herrscher. Indes überschneiden sich zum Glück für alle Beteiligten die natürliche und die politische theologia in ihrer jeweiligen Präsenzform nicht. Die von den Stoikern inaugurierte natürliche theologia bringt zwangläufig keinen auf Sitte und Herkommen angewiesenen Kult hervor und tritt damit auch nicht in ein Konkurrenzverhältnis zum etablierten politischen Kult. Die theologia naturalis beschränkt sich auf die theoretische Ausbildung angemessener Vorstellungen vom Göttlichen innerhalb des Kreises der Scholaren. Damit distanzierten sich die Stoiker intern von der Pflege des politischen Kultes zu Ehren unsterblicher wie sterblicher Götter, verzichteten aber auf missionarische Schritte in der Welt der Toren. Naturgemäß gehörte zu den angemessenen Vorstellungen insbesondere die Reserve gegenüber dem grassierenden Herrscherkult, der den irdischen Königen mehr Kredit als den Göttern einräumte, wann immer es auf Schutz vor dem Übel konkret drohender Gefahren ankam. Dieser Bewusstseinslage konnte die theologia naturalis zur Verteidigung der wirklichen Götter nur den Boden entziehen, wenn sie die umfassende Fürsorglichkeit für die menschlichen Angelegenheiten (πρόνοια/providentia) als Wesensmerkmal allein den unsterblichen Göttern zuschrieb, den irdischen Herrschern aber allenfalls eine eingeschränkte. Demgemäß verkörpert für die Stoiker Zeus die Natur als einen Makrokosmos, in dem nichts vergebens hervorgebracht wird. 10 Zeus ist für sie Retter und Quelle von Recht,

SVF II 35/36 und 1017. Ebd. III 604, 607. 8 Ebd. III 608. 9 Ebd. III 660 und 661. 10 Ebd. II 1140. 6 7

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Frieden und Sittlichkeit. 11 Nicht die geringste Bewegung erfolgt gegen den Willen des Zeus. 12 Zeus hält das Monopol auf Personifikation der Weltvernunft, und das ohne jede Unterbrechung, da er als einziger Gott nicht dem periodisch wiederkehrenden Weltenbrand (ἐκπύρωσις) 13 bei gleichzeitig erfolgender Wiederentstehung der Welt (παλιγγενεσία) 14 zum Opfer fällt. 15 Die qualitative Differenz zwischen Zeus und den irdischen Herrschern bestünde also auch ohne providentia allein schon aufgrund der überlegenen Macht des obersten Gottes. Die Kritik der Stoiker am Herrscherkult führte in der systematischen Konsequenz dazu, dass die Lehre von der providentia das Kernstück ihrer Physik bildet. Diese Position machte die Stoiker für Cicero, den entschiedenen Republikaner, interessant, der sich die Freiheit nahm, philosophische Argumente herauszugreifen, je nachdem sie eine Antwort auf ihn gerade bewegende Fragen enthielten. Durch providentia der Götter, so Cicero in De natura deorum, ist die Welt mit all ihren Teilen von Anfang an geschaffen und wird in alle Zukunft durch sie verwaltet. Die Götter sorgen für das gesamte Universum, kümmern sich aber nicht minder auch um die Sorgen des Einzelnen. Ohne die nahrungspendende Erde, ohne Wechsel der Witterung und der Jahreszeiten müssten die Menschen verhungern 16, und ohne die Tiere fehlte den Menschen eine wesentliche Nahrungsquelle. 17 Die Menschen einschließlich kultisch verehrter Herrscher sind nicht imstande, die fundamentalen Voraussetzungen ihrer Daseinsfristung aus eigener Kraft zu gewährleisten. Aratans Soloi, der an den Hof des Antigonos Gonatas entsandte Freund Zenons, bringt dies im Proömium seiner Phainomena (1–18), einem Hymnos auf Zeus, zum Ausdruck: Zeus ist überall, in Straßen, Märkten, Häfen präsent und weist durch die jeweilige Konstellation der Himmelskörper hin auf die Zeitpunkte, wann die zur Ernährung der Menschen unerlässlichen ländlichen Arbeiten erfolgversprechend einsetzen sollen. Zum Schluss begrüßt Arat zugleich mit Zeus das erste Geschlecht Ebd. II 937 (= Plutarch, Moralia 1049 A). Ebd. II 645 (= Plutarch, Moralia 1076 F). 13 Ebd. II 596 und 626. 14 Ebd. II 593 und 613. 15 Ebd. I 536; II 1049 und 1064. 16 Cicero, De natura deorum 1, 4 und 2, 75. Beide Passagen sind nicht unter die SVF aufgenommen. 17 Cicero, ebd. 2, 37 und 2, 160 = SVF 1153–1154. 11 12

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der Menschen (προτέρη γενεή) – nach Hesiod (Erga 109–126) jene Generation, die nach ihrem Ende in der Gestalt von guten Dämonen weiterlebte, die den Menschen Schutz und Wohlstand gewähren. Die stoische Ehrenrettung der unsterblichen Götter argumentiert also mit deren Fürsorgeleistung, die keinen einzigen Weltbestand ausspart. Da diese Leistung ersichtlich aus menschlicher Kraft niemals zu erbringen wäre, erweisen sich die selbsternannten irdischen Götter als bloße Pseudogötter. Indes ließen sich die Stoiker vom Triumph dieser theoretischen Klarstellung nicht blenden; sie waren redlich genug, sich zu fragen, wie denn die vielen Übel in der Welt mit der göttlichen, allen irdischen Herrschern überlegenen Allmacht und Fürsorge zu vereinbaren seien. Die Lehre von der providentia war angesichts dieses skeptischen Einwandes nur aufrechtzuerhalten, wenn sie durch die Lehre von der Theodizee ergänzt wurde. Auf dieses nicht ungefährliche Terrain hat sich vor Chrysipp (281/77–208/ 04), dem dritten Schulhaupt der Stoiker, niemand begeben. Zweifel an der Gerechtigkeit der Götter spielten bei Platon und Xenophon noch keine Rolle. Beide verknüpften mit dem Thema providentia keine Verteidigung der Götter, sondern allein dankbares Lob, zumal ja Platon die Götter ausschließlich als Ursache des Guten begriff und Böses allein auf die Menschen zurückführte. 18 Im Timaios (47 A–E, 89 D–90 D) rühmte Platon, wie umsichtig der Demiurg Organe und Glieder des menschlichen Körpers geschaffen und ihn mit Hilfe der Augen dafür disponiert habe, sich in seinem Denken und Handeln am harmonischen Kosmos als Weltgrund zu orientieren. In den Nomoi (885 B) erklärt er die Leugnung der Fürsorge der Götter für eine Gestalt des Atheismus, der undankbar ignoriere, wie göttliche Fürsorglichkeit auf das große Ganze ebenso geachtet habe wie auf kleine Details (901 C–903 A). Ein wenig populärer drückt Xenophon dasselbe in den Memorabilien aus. Der Demiurg (sic!) habe seine providentia bewiesen, als er den Menschen in jeder Hinsicht zweckmäßig geschaffen (1, 4, 6–7) und die Welt ebenso zweckmäßig für den Menschen ausgestattet habe, nämlich mit Licht und Dunkel, Gestirnen als Zeitmaß, den Elementen Feuer und Wasser, der nahrungspendenden Erde, der Tierwelt, schließlich mit unserem Verstand, der Sprache und der Mantik; und für alle diese Gaben schuldeten wir den Göttern als Dank den Kult nach den Regeln des Staates (4, 3). Offenbar hatten es Platon und Xenophon leichter als die Stoi18

Platon, Politeia 379 A–C und Nomoi 900 E.

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ker. Sie kannten noch nicht jene kultisch verehrten Herrscher, die als sichtbare Gottheiten den im fernen Himmel thronenden Göttern deren Ohnacht bescheinigten und dazu nötigten, beim entschiedenen Gegenplädoyer zugunsten der Allmacht der Götter sich auch noch der Frage nach ihrer Verantwortlichkeit für die Übel in der Welt zu stellen. Dieser Nötigung aufgrund des nachklassischen Kultverständnisses konnten sich die Stoiker nicht mehr entziehen; sie stellten sich ihr mit nicht unerheblichem Aufwand. Die Stoiker hätten also die Rehabilitation der Götter gegen den Anspruch kultisch verehrter Herrscher erst vollendet, wenn sie die Lehre von der diesen überlegenen göttlichen providentia mit einer zustimmungsfähigen Theodizee verquickten, die die anzunehmende Anklage gegen uneingeschränkt schuldfähige Götter wegen der Übel in der Welt entkräftete. Gellius (7, 1–2) referiert zusammenfassend Chrysipps Antworten auf diese Frage im Rückgriff auf dessen Werk »De providentia«, das mindestens vier Bücher umfasste. 19 Demnach könne es das Gute nicht geben, wenn nicht auch das Übel als sein Gegenteil existiere; ebenso gäbe es keine Tugenden, die ja als solche nur auf der Folie der Untugenden unterscheidbar seien. Wenn Krankheiten gegen die providentia sprächen, dann seien diese als ungewollte Folgen göttlichen Schaffens anzusehen; so sei der menschliche Kopf nur wegen seiner unerlässlich feinen und hochsensiblen Organe besonders krankheitsanfällig. 20 In diesem Fall wie auch in vielen anderen sei es eben nicht leicht, das Gut zu erkennen, das in einem vermeintlichen Übel stecke. 21 Dabei hätten selbst Wanzen ihr Gutes, weckten sie uns durch ihr Zwicken doch so früh, dass wir von unserer Zeit noch sinnvollen Gebrauch machen könnten. 22 Schließlich könne ein Übel auch die Bestrafung eines Frevlers bedeuten, und das auch zur Warnung der Unbescholtenen. 23 Die Annahme eines Übels beruht also auf mangelnder Einsicht in dessen heilsame Wirkung. Daher rät Seneca, man solle bei Schicksalsschlägen keine Klagelieder anstimmen, sondern sich mit der Überlegung beruhigen, die Götter wüssten es eben besser. 24 In seinem Zeushymnos hatte Kleanthes, Zenons Schüler und Nachfolger, noch unterstrichen, dass die Götter 19 20 21 22 23 24

Ebd. II 1000 (= Gellius 7, 2). Ebd. II 1169–1170 (= Gellius 7, 1). Ebd. II 1072. Ebd. II 1163. Ebd. II 1175. Seneca, Epistula ad Lucilium 98, 4–5.

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es auch tatsächlich besser wüssten: Wann immer Übeltäter Frevel begingen, wisse der den gesamten Kosmos lenkende Zeus Ungerades gerade zu machen, Ungeordnetes zu ordnen und Gutes mit Übeln versöhnend auszugleichen. 25 Die Verteidigung der unsterblichen Götter gegen die illegitimen Ansprüche des von den Herrschern gelebten Gottmenschentums erinnerte diese daran, dass sie nur eine begrenzte Verantwortung für ein bestimmtes Territorium trügen, während die wahren Götter von Anfang an bis in alle Zukunft das gesamte Universum verwalteten. Wenn diese Argumentation so nachdrücklich auf die Allmacht der unsterblichen Götter pocht, dann stempelt sie diese zwingend auch zu Urhebern aller in der Welt geschehenden Übel. Damit nun angesichts dieser Konsequenz die Ehrenrettung der unsterblichen Götter nicht auf ihre erneute Diffamierung hinauslief, blieb nur der Ausweg der Theodizee, die von ihnen nicht verhinderten Übel als verkapptes Gut zu deuten; und wann immer sich eine solche Deutung nicht anbot, konnten die Stoiker immer noch auf die Grenzen menschlicher Einsicht verweisen, die den wahren Nutzen eines vermeintlichen Übels eben zurzeit noch nicht erkannt hätte. 26 Dank ihrer providentia-Lehre im Rahmen der natürlichen theologia hatten die Stoiker die Götter wieder in ihr altes Recht eingesetzt und in einem damit die menschlichen Machthaber wieder auf irdisches Maß zurückgestutzt. Dies betraf alle Monarchen, die auf ihrer kultischen Verehrung bestanden. Aus diesem Grund musste in republikanischen Staatswesen die stoische Lehre hochwillkommen sein. Denn deren Bürgerbegriff duldete nicht den Übermenschen, den sie einst sogar durch ein eigens zu diesem Zweck eingesetztes Scherbengericht für zehn Jahre verbannt hatten. Für Aristoteles war der Mensch ein an die Polis gebundenes Wesen, während der außerhalb der Polis Lebende (ἄπολις) entweder verkommen sei oder der Gattung Mensch qualitativ überlegen. 27 Letzterer könnte sich ja, wie Platon am Beispiel des Gyges mit dem Zauberring dargelegt hat, über sämtliche Gesetze hinwegsetzen und wie ein göttergleiches Wesen durch die Stadt stolzieren. 28 Selbst wenn es nicht so weit kommt, darf ein republikanischer Politiker die Hilfe eines mit ihm in derselben 25 26 27 28

SVF I 537. Ebd. II 1172. Aristoteles, Politik 1253 a 1–4. Platon, Politeia 360 C.

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Stadt lebenden Übermenschen nicht akzeptieren, sehr wohl aber eine fürsorgliche Unterstützung jener unsterblichen Götter, die ihm unendlich überlegen sind und deshalb ohnehin niemals als seine Rivalen gelten können. Als der Konsul Cicero in der Volksversammlung berichtete, wie er wenige Stunden zuvor die in Rom verbliebenen Häupter der Catilinarischen Verschwörung im Senat überführt habe, legte er großen Wert darauf, dass seiner Tatkraft die göttliche providentia zur Seite gestanden habe. Aufgrund nahe liegender Mutmaßung (coniectura) sei zu schließen, dass zur Niederwerfung eines so ungeheueren Komplotts menschliche Fähigkeiten allein nicht ausgereicht hätten; anwesend eingreifend hätten die Götter den Römern Hilfe gebracht (praesentes … auxilium nobis tulerunt), so dass wir sie fast mit eigenen Augen sehen könnten (ut eos paene oculis videre possimus). So sei die lange verzögerte Wiedererrichtung der zerstörten Jupiterstatue in neuer Ausrichtung hin zum Comitium wohl kaum bloß zufällig zur selben Zeit erfolgt wie die Überführung der Catilinarier im Senat. Auch wären diese ohne Eingreifen der Götter niemals so töricht gewesen, die Gesandten der ihnen unbekannten Allobroger mit eigener Unterschrift ihrer Zuverlässigkeit zu vergewissern, um dann zu erleben, dass die Gallier, statt das Angebot zu ihrem Vorteil zu nutzen, auf Umwegen Cicero informierten, die Unterschriften als Beweise vorlegten und Rom retteten. 29 Die providentia-Lehre der Stoiker ist also im republikanischen Rom mit Beifall aufgenommen worden. Für Cicero ist das Vertrauen auf die göttliche Fürsorge ein wesentliches Element der Staatsräson. Deshalb lag ihm so sehr daran, im konkreten Fall auf das Eingreifen der Götter gegen Catilinas Spießgesellen hinzuweisen und ganz generell die providentia-Lehre auch theoretisch zu untermauern. Das geschieht in seinem Dialog De natura deorum, dessen beherrschendes Thema die Verteidigung der stoischen providentia-Lehre gegen die Epikureer ist. Was in diesem Zusammenhang Natur bedeutet, hat später Seneca einleuchtend erklärt: Die Götter hätten als Grund des sie charakterisierenden bene facere allein ihre Natur; daher dürfe man nicht sagen, dass die Götter nicht schaden wollten; vielmehr müsse es heißen, die Götter könnten gar nicht schaden. 30 Wenn also Cicero ganz im Sinne Senecas die natura der Götter an ihrer pro29 30

Cicero, Dritte Rede gegen Catilina 18–22. Seneca, Epistula 95, 47 = SVF II 1117.

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Die stoische Götterlehre als Antwort auf den Herrscherkult

videntia festmacht, dann ist diese nicht eine Eigenschaft unter anderen; vielmehr handelt es sich um ihre zentrale Wesensbestimmung, gegen die sie, selbst wenn sie es wollten, nicht verstoßen könnten. Die theoretische Lehre vom Wesen der fürsorglichen Götter konvergiert mit der praktischen Überzeugung von der Notwendigkeit, auf die providentia der Götter zu bauen. Das praktische Bewusstsein des römischen Senators und die theoretische Lehre der Stoiker haben in Epikur ihren gemeinsamen Gegner, der den in fernen Intermundien lebenden Göttern jedwede Bereitschaft zur providentia abspricht. Folgerichtig widmet Cicero das erste Buch seines Dialoges der Zurückweisung der epikureischen Lehre, um die These von der providentia als Wesensbestimmung der Götter abzusichern. Bei dieser Debatte gehen Ciceros Interessen ein wenig weiter als die der Stoiker. Diese wollen als Intellektuelle eine angemessene Vorstellung vom Göttlichen entwickeln und sich damit intern gegen die mit dem Herrscherkult verbundenen Irrtümer immunisieren. Cicero sind diese Bemühungen hochwillkommen, aber ihm genügt nicht der Vortrag eines in sich tragfähigen Schuldogmas, sondern er wünscht sich aus dem praktischen Interesse des Senators zugleich eine begriffliche Fundierung der inneren Systematik der konstitutiven Momente der römischen Lebensordnung – de religione, pietate, sanctitate, caerimoniis, fide, iureiurando, de templis, delubris, sacrificiisque solemnibus, de ipsis auspiciis (1, 14). Cicero will überzeugende Argumente hören, die die für ihn selbstverständliche Einheit von Kultfrömmigkeit und Ethik bestätigen. Dem entzieht Epikur mit seiner Leugnung der providentia philosophisch den Boden, da niemand Göttern opfern wird, die sich nicht um ihn kümmern. Als ob er Cicero noch postum unterstützen müsse, zitiert Quintilian Stimmen, die die Bedenken, einen Meineid zu leisten, schwinden sähen, da es ja auch Philosophen gäbe, die leugneten, dass sich die Götter – in diesem Fall als Eidzeugen – um menschliche Angelegenheiten kümmerten. 31 Im engeren politischen Sinne steht schließlich dem unbedingten Vertrauen, dass Jupiter seine schützende Hand über Rom hält, neben Epikur auch der Herrscherkult entgegen, der mit den Göttern um den Stellenwert rivalisieren möchte, die wahre Fürsorge für die Menschen zu verkörpern. Dieses für ihn eher in Griechenland beheimatete Problem beschäftigt Cicero zwar auch, weitaus mehr aber noch die Gleichgültigkeit verantwortlicher Römer, die selbst 31

Quintilian, Institutio oratoria 5, 6, 3.

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dann keine Auspizien durchführen, wenn es um Krieg, um Frieden und um den Erhalt des Reiches geht (2, 9). Mit Hilfe der Stoiker entkräftet Cicero Epikur, um den gegenüber ihren kultischen und damit zugleich politischen Pflichten Gleichgültigen die philosophische Berufungsinstanz zu entziehen. Cicero greift also auf eine Lehre der Stoiker zurück, die diese ursprünglich zur schulinternen Selbstverständigung ausgebildet hatten, nicht um die Welt außerhalb ihrer Schule zu korrigieren. Gleichwohl hofft er, die stoische Lehre in das Gemeinwesen zurückzuholen und dort ihrer Wahrheit Geltung zu verschaffen. Dabei ist die Frage müßig, welchen bestimmten Stoiker Cicero als Quelle heranzieht. Gewiss bat Cicero Atticus mit Schreiben vom 9. Juni 45, also genau zur Abfassungszeit des Dialoges um die Übersendung der Schrift des Panaitios περὶ προνοίας (de providentia). 32 Aber das muss nicht heißen, dass er sich allein auf Panaitios gestützt hat. Tatsächlich erwähnt er Zenon elfmal, Kleanthes siebenmal, Chrysipp neunmal, Poseidonios dreimal, aber Panaitios nur einmal. Im Übrigen lässt Q. Lucilius Balbus, der die stoische Position im Dialog vertritt, mehrfach durchblicken, dass er nicht einen bestimmten Stoiker in den Mittelpunkt stellt, sondern ganz generell die Lehre seiner Schule 33 als Lehre »seiner Freunde« 34 vorträgt; und der Pontifex C. Aurelius Cotta, der auf seinen Vortrag aus der Perspektive des Akademikers antwortet, wendet sich dementsprechend mit seinen Einwänden gegen einzelne Positionen »eurer Schule«. 35 Die Götterlehre dieser Schule, die sonst nur in Fragmenten überliefert ist, hat also Cicero, wiewohl er sich als Senator von weiter gehenden Intentionen leiten lässt als die Schulmänner, mit seinem Dialog in systematischer Zusammenfassung der Nachwelt überliefert. Gleich zu Beginn des Dialoges lässt Cicero keinen Zweifel an seinem praktischen Interesse, wenn er fragt, was pietas, was sanctitas, was religio noch sein könne, wenn es zuträfe, dass die Götter sich nicht um menschliche Angelegenheiten kümmerten. Würden diese drei Momente beseitigt, so folgte eine üble Verwirrung der Lebensordnung (perturbatio vitae sequitur et magna confusio: 1, 3). Weiter unten wird Cicero seine Begriffe erläutern: Kultische Verehrung (pie32 33 34 35

Cicero, Epistula ad Atticum 13, 8. Cicero, De natura deorum 2, 75; 3, 19; 3, 94. Ebd. 2, 3. Ebd. 3, 35; 3, 39.

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tas) wird dem geschuldet, von dem wir Wohltaten empfangen; denn pietas ist Gerechtigkeit gegenüber den Göttern; ein Rechtsverhältnis mit den Göttern wäre aber ohne das Band eines gemeinsamen Interesses zwischen Göttern und Menschen gegenstandslos. Frömmigkeit (sanctitas) ist die Kenntnis, wie die Götter zu verehren sind, und religio, so dürfen wir ergänzen, ist die gewissenhafte Beachtung kultischer Bräuche aufgrund dieser Kenntnis (1, 116). Diese Definitionen sind Ausdruck alltäglicher Praxis. Opfer, Auspizien und Konsultation der sibyllinischen Bücher sind Vollzug der religio als politischer Praxis, der bewusst ist, wie die Grundlagen unseres Staates (fundamenta … nostrae civitatis) beschaffen sind. 36 Cicero will Gewissheit, dass Handeln im menschlichen Mikrokosmos gedeckt ist durch den Willen des göttlichen Makrokosmos. Ein Staat, der – eine antike Selbstverständlichkeit – eine politische und in einem damit eine kultische Gemeinschaft ist, kann auf eine solche Gewissheit nicht verzichten. Dass übrigens aus seinem Modell ein totalitärer Gottesstaat werden könnte, muss Cicero nicht fürchten; denn davor schützt der unangefochtene Polytheismus, gleichsam eine Form von Gewaltenteilung zur Neutralisierung eines religiös begründeten Absolutismus. Mit seiner begrifflichen Grundsatzerklärung bestätigt Cicero erneut, von welchem Standpunkt aus er sich für die stoische providentia-Lehre interessiert und warum er das gesamte erste Buch von De natura deorum darauf verwendet, die epikureische Ansiedlung der angeblich am Menschen nicht interessierten Götter in Intermundien zurückzuweisen. Der Pontifex C. Aurelius Cotta fragt als Vertreter der Skeptischen Akademie C. Velleius nach seiner Darlegung der epikureischen Lehre, woher denn seine Freunde wissen wollten, dass es außer unserer Welt noch unendlich viele andere gebe, obwohl sie eingestandenermaßen nur unsere sehen könnten, aber doch darauf bestünden, dass jede Erkenntnis von einem Sinneseindruck ausgelöst werde (1, 96); und selig könnten diese Götter in ihren Intermundien auch nicht sein, wenn sie wegen der unberechenbaren Einwirkung der Atome ständig um ihr Leben fürchten müssten (1, 114). Nachdem Cotta der epikureischen Götterlehre in noch weiteren Punkten widersprochen hat, geht der Stoiker Q. Lucilius Balbus, wenn auch weniger ausführlich, auf den Herrscherkult ein und spricht geschichtlichen Personen das Recht auf göttliche Ehren ab, so sehr dies vielleicht auch durch ihre Verdienste um ihre Untertanen 36

Ebd. 2, 9–10; 3, 5.

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gerechtfertigt wäre. Balbus wirbt gewissermaßen Euhemeros seine Wahrheit ab, indem er ihm unumwunden zugesteht, dass einst auf diese Weise Herakles, Castor und Pollux, Äskulap, Dionysos und Romulus tatsächlich zu Göttern wurden (2, 62). Für die eigene geschichtliche Zeit schließt Cotta aber mit einem einzigen Satz die Möglichkeit aus, dass als Menschen geborene Sterbliche auch jetzt noch zu unsterblichen Göttern avancieren könnten (3, 41). Da Euhemeros mit seiner Lehre dieser Möglichkeit offenbar das Wort reden will, tadelt Cotta ihn mitsamt dem Dichter Ennius, der ihn ins Lateinische übersetzt hatte, und fragt, ob mit dieser Lehre die religio gefestigt oder ob sie nicht vielmehr von Grund auf zerstört werde (1, 119). Im Übrigen verbietet der Stoiker auch, dass man sich die Götter in Menschengestalt vorstellt. 37 Im zweiten Buch trägt nun Balbus die stoische Götterlehre systematisch in vier Gliederungspunkten vor: deos esse (4–44), quales sint (45–72), mundum ab his administrari (73–119), consulere eos rebus humanis (120–167). 38 Diese Gliederung könnte suggerieren, die providentia wäre nur das halbe Thema. Tatsächlich wird aber die Fürsorglichkeit der Götter keineswegs nur in den beiden letzten Teilen zum Leitthema; sie ist auch schon in den beiden ersten Teilen nicht minder bestimmend. Nur wenn die Fürsorglichkeit durch und durch das die Götter allein auszeichnende Wesensmerkmal ist, sind sie gegen die Anmaßungen des Herrscherkultes rehabilitiert. Denn vom Gott bleibt nichts, wenn wir ihm die providentia absprechen. 39 Dass die Götter existieren, ist ex consensu gentium gesichert (2, 5), erweist sich aber schon durch einen Blick auf die Himmelskörper, deren Ordnung und Harmonie wohl kaum auf (epikureisch-atomistischem) Zufall beruhen dürften (2, 4–6. 15). Auch können eingetretene Orakel nur von den Göttern stammen (2, 7–12). Besonderes Gewicht legen die Stoiker auf die Bedeutung der die Welt durchdringenden Wärme für unser Leben; auch für diese können nur die Götter gesorgt haben (2, 24–28). Schließlich darf die Welt selbst, sofern sie durch göttliche Kraft zusammengehalten wird, als Gott verstanden werden und Gott als Welt (2, 20). Natürlich kann man diesen Satz, der die stoische Lehre bekräftigt, dass Gott die gesamte Weltmaterie

37 38 39

SVF II 1021. Cicero, De natura deorum 2, 3 und 3, 6. SVF II 1118.

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durchdringt 40, als pantheistisch verbuchen; indes dürfte der Ton wohl eher darauf liegen, dass sich die Götter der Stoiker nicht in Epikurs Intermundien geflüchtet haben, sondern in dieser Welt mit ihrer ordnenden Vernunft präsent sind. Cicero wendet sich also mit Hegel ausgedrückt gegen den »Atheismus der sittlichen Welt«. Die Grundeigenschaft der Götter ist die Durchdringung der Welt mit ihrer Vernunft (mens mundi), die nichts dem Zufall überlässt (2, 56), als Einheit von prudentia und providentia zweckdienlich für den Fortbestand der Welt sorgt und darauf achtet, dass es ihr an nichts fehlt und dass diese Ordnung nicht ohne Schmuck (ornatus) bleibt – in der Rhetorik das Mittel, den wesentlichen Ausdruck im Satz hervorzuheben, und das dürfte in diesem Fall die Schönheit des Kosmos leisten (2, 58). Was generell als wesentliche Eigenschaft des Göttlichen anzusehen ist, zeichnet auch, wie an den Namen abzulesen ist, die einzelnen Götter aus. Als Beispiel diene Iuppiter, dessen Flexionsformen Iovis, Iovi, Iovem darauf verweisen, das sein Name etymologisch auf iuvare (helfen) zurückgeht (2, 64). Die beiden ersten Gliederungspunkte haben schon vorbereitend herausgearbeitet, was im Mittelpunkt des dritten Abschnitts steht, dass nämlich die Götter für die vernünftige und fürsorgliche Weltverwaltung einstehen, in der, das wird erneut betont, nichts zufällig geschieht (2, 97. 115). Diese die Welt im Ganzen betreffende Ordnung, so der vierte Gliederungspunkt, bewährt sich nun ganz spezifisch als teleologisches Prinzip im Blick auf das Überleben von Pflanzen, Tieren und Menschen. Größtes Gewicht legt Balbus in diesem Zusammenhang auf die geistige Ausstattung der Menschen, dank derer sie sich als spectatores superarum rerum atque caelestium bei der Betrachtung des Himmels die richtige Vorstellung von den Göttern machen können (2, 140. 153). Dieser Hinweis dürfte gegen Epikur gerichtet sein, kann sich aber auch auf die Anhänger der kultischen Verehrung dieser oder jener Gottmenschen beziehen. Schließlich verweist Balbus mit besonderem Nachdruck darauf, dass die Menschen dank ihrer geistigen Begabung durch providentia der Götter die Rhetorik als Grundlage politischer Gemeinwesen entwickelt haben sowie die Künste als Mittel der Daseinsfristung, indem sie sich die Erde nutzbar machen (2, 148–152). Als Balbus geendet hatte, trug, das ist der Inhalt des dritten Buches, der Pontifex Cotta eine Fülle denkbarer Einwände vor, von de40

Ebd. I 102; II 1037–1040.

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nen zwei hervorgehoben seien. Die Ausstattung des Menschen mit geistigen Gaben sei ein Fehler der providentia. Gewiss seien gute Taten Folge von vernünftiger Überlegung, aber das gelte auch für alle schlechten Taten. Erschwerend komme hinzu, dass es nur wenige anständige Menschen gebe. Wenn die providentia wirklich »vorausschauen« könne, hätte sie wissen müssen, was sie mit der Vernunftausstattung des Menschen angerichtet hat (3, 69–78). Ebenfalls spreche gegen die Glaubhaftigkeit der providentia-Lehre, dass so viele rechtschaffene Römer ein grausames Schicksal erlitten hätten und dass Schurken wie der Tempelräuber Dionysios sogar straffrei davongekommen seien (3, 81–93). Cotta trug seine Einwände in der Erwartung vor, er werde von Balbus leicht widerlegt. Dazu kam es aber nicht, weil der Tag zur Neige ging. Obwohl es bei seinen skeptischen Fragen, wie Cotta betont, um Haus, Tempel und Stadtmauern gehe, scheint ihn das Ausbleiben einer Antwort des Balbus nicht gestört zu haben. Auch Cicero sah eine Replik des Balbus als entbehrlich an und verkündete – ohne Absicherung durch eine Widerlegung der Bedenken Cottas – gleichsam vom Richterstuhl des Akademikers im Schlusssatz, ihm scheine nicht die Position des Epikureers Velleius, sondern die des Stoikers Balbus die wahrscheinlichere zu sein. Verwunderlich ist dieser Beschluss nicht. Cotta hatte gleich zu Beginn seiner Ausführungen erklärt, er brauche keine philosophischen Vernunftgründe zur Ausübung seines Priesteramtes, weil er der kultischen Überlieferung der Vorfahren auch ohne philosophische Begründung Vertrauen schenke (3, 6). Der Ton liegt sicher nicht darauf, dass Cotta Vernunftargumente zum folgenlosen und eigentlich entbehrlichen Luxusgut erklären will. Vielmehr scheinen ihm solche Debatten samt kritischen Zusätzen in die Schule als eine erklärtermaßen eigene Welt zu gehören, die ja ihrem Anspruch nach für die bürgerliche Welt der Toren gar nicht zuständig ist. Der Weltmann erklärt dem Schulmann, inwieweit er seine Belehrungen gerne aufnehme, aber auch, von wo an er für seine Zwecke auch ohne philosophische Beratung auskomme. Cottas Verdrängung der Frage, wie die vielen Übel der Welt mit der providentia-Lehre zu vereinbaren sind, könnte natürlich auf der Überzeugung beruhen, dass dieser Widerspruch unvermeidlich und daher eben auszuhalten sei. Cotta könnte aber auch bedacht haben, dass die Autorität einer für das Gemeinwesen fundamentalen Lehre geschmälert wird, wenn sich mit ihr allzu viele offene Fragen verbinden. Das wäre Denken aus der Perspektive des Pragmatikers. Indes 206 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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hat Seneca deutlich gemacht, dass ein Abschneiden des Weiterfragens aus Gründen der Opportunität nicht das letzte Wort sein dürfe. In seiner Lucilius gewidmeten Schrift De providentia nimmt er genau die unbeantwortet gebliebene Frage der Cicerofreunde auf, warum guten Männern häufig Unglück zustoße, obwohl es doch eine göttliche Vorsehung gebe. Seneca erklärt gleich im ersten Kapitel, er werde die Frage als Anwalt der Götter beantworten (causam deorum agam), und zwar mit dem Ziel, den Adressaten Lucilius mit den Göttern zu versöhnen (in gratiam te reducam cum diis). In mehreren Varianten wiederholt Seneca das eine Argument, dass die Götter gerade die Menschen leiden lassen, an denen ihnen am meisten gelegen ist. Er zitiert den zeitgenössischen Kyniker Demetrius mit dem Satz, nichts komme ihm unglücklicher vor als ein Mensch, dem nie etwas Widerwärtiges begegnet ist. Während Gott wirklich Böses wie etwa ein Verbrechen von den guten Menschen fernhält (6, 1), weiß der fürsorgliche Gott jedoch, dass es ohne Unglück keine Bewährung der Tugend gibt (4, 6). Ohne tatkräftige Überwindung von Widerständen gibt es keine menschliche Größe. Seneca hat als geborener Stoiker gesehen, dass die Lehre von der göttlichen providentia nur in Verbindung mit Argumenten aus dem Arsenal der Theodizee aufrechtzuerhalten ist. Sein Plädoyer aus der Perspektive des theoretischen Bewusstseins mochte in den Augen seiner die disciplina militaris nach wie vor schätzenden Zeitgenossen noch genügen, um die vom Pragmatiker Cotta hinterlassene Argumentationslücke überzeugend zu schließen. Seine Argumente zugunsten einer Versöhnung mit den Übeln dieser Welt verloren aber angesichts der Brutalität der Christenverfolgung unvermeidlich an Überzeugungskraft. Obwohl man mit dem Einzug ins Paradies nach dem Tode hätte antworten können, sahen sich die frühen Christen genötigt, das Thema erneut aufzunehmen und erweiternd göttliches Walten auf eine Seneca noch nicht zugängliche Weise darzustellen. Zur Demonstration seien stellvertretend die Reflexionen des christlichen Apologeten Lactantius über das Böse in der Welt herangezogen, dessen in diesem Zusammenhang rückblickende Anmerkungen zu Platon und den Stoikern deren Differenzen zwar kenntnisreich herausarbeiten, im Übrigen aber das Ziel verfolgen, den Heiden zu bedeuten, dass ihre theologia, gleich von welchen ihrer Autoritäten sie vorgetragen wurde, eine wesentliche Frage gar nicht erst gestellt hat.

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Lactantius über die heidnische Entlastung der Götter

Lactantius über die heidnische Entlastung der Götter Lucius Caecilius Firmianus Lactantius (ca. 250–325) verfasst seine Divinae institutiones (göttliche Unterweisung), um gebildeten und doch umherirrenden Heiden den Weg zur Erlangung der Unsterblichkeit (viam consequendae immortalitatis) zu zeigen (1, 1, 6). Lactantius knüpft an den von der Philosophie geprägten Vorstellungshorizont des Heiden an, wenn er sich mit ihm einig ist, dass weder in der Philosophie Opfer dargebracht werden noch bei den Opfern philosophiert wird; falsch aber sei religio ohne sapientia und ebenso sapientia ohne religio; wo aber beides verbunden sei, dort bestehe notwendig die Wahrheit, so dass die Wahrheit entweder eine wahre Religion oder eine religiöse Weisheit sei (aut sapiens religio aut religiosa sapientia). 1 Das Versprechen der Institutiones, durch »religiöse Weisheit« den Weg zur Unsterblichkeit zu finden, wird eingelöst durch Befreiung von Unwissenheit als Einsicht in die Wahrheit der Offenbarung. Bei der Annäherung an dieses große Ziel durfte jedoch Lactantius weder im Blick auf seine heidnischen Adressaten noch auch im Blick auf schon bekehrte Gläubige die bestimmte Tatsache der Christenverfolgung ausklammern oder gar die damit verbundenen Übel als in Wahrheit verkappte Güter verharmlosen. Denn frühere Christenverfolgungen und ganz besonders die von 303 bis 313 trafen nicht zufällig einzelne Gläubige, sondern hinterließen durch systematische Organisation, vor der niemand sicher war, eine Blutspur im ganzen Reich. Die Frage, warum Gott die Verfolgung ausgerechnet seiner Gemeinden, also gewissermaßen seines eigenen Volkes zuließ, war mit stoischen Formeln nicht mehr befriedigend zu beantworten. Das war den Gläubigen nicht zuzumuten und hätte insbesondere die schon ein wenig schwankenden Heiden nicht überzeugt, die ja im Vertrauen auf Gott, den Allmächtigen, ihr Heil suchen sollten. Lactantius musste also Haupt und Ursache dieser Übel (caput horum et causa malorum: 2, 8, 2) in einer Weise erklären, die denkbare Vorwürfe gegen Gott entkräftete. Im Verfolg argumentiert Lactantius zunächst noch mit durchaus stoischen Argumenten: Gott habe am Anfang Gut und Böse geschaffen, weil das unvermeidbar sei; denn ohne diesen Gegensatz gäbe es keine Tugend, weil sie dann nicht von Übeln provoziert würde. Das Gute könne in unserem Leben nicht 1

Lactantius, Epitomé zu den Divinae institutiones 36, 4–5.

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ohne das Übel existieren, so dass trotz ihrer Gegensätzlichkeit beide Größen aufgehoben würden, wenn nur eine von beiden aufgehoben werde. Die Salvierung der Götter durch die Bestimmung des Guten als eines Relationsbegriffes mochte den Stoikern noch genügen; Lactantius hingegen kann sich mit dem Argument nur anfreunden, wenn er zugleich denkbare falsche Verwicklungen Gottes in Abrede stellt. Demnach brachte Gott schon vor der Schöpfung einen ihm ähnlichen Geist (spiritus) hervor, den er mit seinen ihm eigenen Tugenden ausstattete, und darauf brachte er durch den einen, den er gezeugt hat, noch einen anderen Geist von verderbter Natur (per ipsum quem genuit alterum corruptibilis naturae) hervor, in dem die Anlage göttlichen Ursprungs nicht überdauerte. Aus Neid auf den älteren spiritus, dem er auf dem Felde des Guten nicht gewachsen war, verlegte er sich auf das Feld des Bösen, bewies sein Talent zur Verschlagenheit und nahm den Namen Diabolos an. Gewiss ist unter dem Diabolos der Teufel zu verstehen, Lactantius übersetzt das Wort aber prägnant im Sinne seiner griechischen Grundbedeutung mit Verleumder – criminator …, quod crimina, in quae ipse inlicit, ad deum deferat. Gott erfährt also von den Untaten des Teufels erst durch diesen selbst vermöge seiner besonderen Eigenschaft als Denunziant, wenn er Gott anzeigt, wie er seine Pläne erneut durchkreuzt habe, und das wohl im selbstgefälligen Gefühl des Triumphes. Da bleibt gewiss ein Unbehagen; gleichwohl ehrt es Lactantius, dass er es sich nicht leicht machte, indem er zur Lösung des Problems etwa auf die manichäische Unterscheidung zwischen einem für alle Übel verantwortlichen Schöpfergott und einem Erlösergott zurückgriff. Lactantius war nicht bereit, die Einheit Gottes preiszugeben. Gott hat also laut Theodizee des Lactantius zwei Nachfahren, deren einen er liebt, weil er in Ausübung der providentia (sic!) das Gute verwaltet, während er den anderen verflucht. Das als Gegenbegriff zum Guten gleichsam aus Systemzwang widerwillig akzeptierte Böse wird ausgelagert, nachdem Gottvater einen guten Sohn und einen bösen Enkel hervorgebracht hatte. Das stoische Argument, das Gute könne ohne das Böse nicht bestehen, wird aufrechterhalten, aber die providentia korrespondiert nur noch dem Guten, während das Böse, unzweideutig als Böses bestimmt, Sache des Teufels wird, der zwar durch den guten Sohn gezeugt wurde, seitdem aber völlig unabhängig sein Unwesen treibt. Nachdem die Theodizee des Lactantius mit diesen Bestimmungen zunächst Grundlegendes herausgearbeitet hatte, vermochte sie endlich im beruhigenden Gefühl der da209 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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raus gewonnenen Sicherheit im Blick auf die grausamen Christenverfolgungen konkret zu werden. In seiner Schrift De mortibus persecutorum (Über die Todesarten der Christenverfolger) lehrt Lactantius, dass das Gute mitunter Zeit braucht, aber die Zeit auch wirksam nutzt. Denn Gott, der in den Institutiones wie der Vater eines missratenen Nachfahren erscheint, tritt nunmehr als Richter auf, der ein Verbrechen zwar nicht von vornherein verhindern kann, es wohl aber, wenn auch spät, mit harten Urteilen bestraft (1, 6). Gott hat wahre Kaiser (principes) auf den Thron gebracht, die die Tyrannen gestürzt haben (1, 3), nachdem diese das Werk des Teufels zusammen mit den Folterknechten als seinen Spießgesellen vollbracht hatten (vgl. 16, 5. 10). Die schlimmsten Schurken waren die Kaiser Maximianus (r. 285–310) und Maximinus Daia (r. 305–313). Maximianus starb zur Strafe für seine Frevel an einem unheilbaren Geschwür, das von seinen Genitalien ausging (33, 1–11); noch auf dem Sterbebett verfasste er den Entwurf zu einem Toleranzedikt, erfuhr aber trotzdem nicht mehr die Gnade Gottes (34, 1–5). Maximianus, ein Mann von der barbarischen Roheit eines wilden Tieres, wie es römischem Blut fremd ist, ließ sich nach seinem Sieg über die Perser als Sohn des Mars und damit als zweiten Romulus feiern (9, 2–9). Ihn veranlasste seine Mutter, die Christen zu verfolgen, die sich von den heidnischen Riten fernhielten (11, 1–2); auch sie verhielt sich wie der Diabolos als Verleumderin. Entscheidend für das Ende der Christenverfolgung war die Niederlage des Maximinus Daia gegen Licinius (r. 308–324) bei Adrianopel (313). Vor der Schlacht mahnte der Engel des Herrn Licinius, er solle mit seinem gesamten Heer zum höchsten Gott (summus deus) beten; dann werde er siegen (46, 3–11). So geschah es; der unterlegene Daia nahm Gift und flehte auf dem Sterbebett um Gnade (fatebatur Christum subinde deprecans et implorans: 49, 6–7). Er empfing aber keine Gnade für seine Verbrechen und starb elend (35, 3–4). Wie auf der tragischen Bühne endete die Verblendung beider Kaiser mit dem Sturz (περιπέτεια) bei einhergehender Einsicht (ἀναγνώρισις) in ihr Fehlverhalten. Das Ende der letzten Christenverfolgung wurde durch das Toleranzedikt der Kaiser Konstantin und Licinius 313 in Mailand besiegelt (48, 1–13). Mit diesem Ausgang beendet Lactantius seine Schilderung der »Todesarten der Verfolger«. Wie er in seinem Schlusskapitel unterstreicht, habe er das getan, damit spätere Historiker sich an die Wahrheit halten und weder die Sünden (peccata) jener gegen Gott 210 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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verschweigen noch Gottes Gericht (iudicium) gegen jene. Im letzten Satz bittet er den Bischof Donatus, dem er das Buch gewidmet hat, er möge, nachdem er neunmal gefoltert wurde und neunmal widerstand (16, 5), nun zu Gott beten, dass er alle hinterhältigen Angriffe des Diabolos gegen sein Volk abwehre und über den ewigen Frieden der aufblühenden Kirche wache. Die unausgesprochene Pointe ist die, dass wohl die Helfer des Diabolos bestraft werden, nicht aber auch er selbst, weil er die gleichsam systemnotwendige Gegenkraft ist, deren Untergang auch den Untergang des Guten bedeutet hätte. Prinzipiell stimmt also Lactantius den Stoikern darin zu, dass sich nicht kultversessene irdische Herrscher, sondern die unsterblichen Götter die Sorge um die menschlichen Dinge angelegen sein lassen. Der noch so einfallsreich entschuldigten Zuständigkeit der Götter auch für das Böse widerspricht indes Lactantius entschieden, indem er zwischen Gott und dem Bösen den Teufel als halb gewollte, halb ungewollte Kraft ansiedelt. Ein Alibi wie der Teufel ist den heidnischen Philosophen eben nicht eingefallen. Auch Platons theologia kann Lactantius nicht überzeugen. Bevor die Stoiker den Herrscherkult und Lactantius die Christenverfolgung erleben mussten, hatte Platon dekretiert, Gott sei Verursacher nur des Guten, nicht aber der Übel (Politeia 379 B–C). Das Gute ist für ihn eine Größe sui generis, die nicht vom Gegenpol des Bösen lebt; sie ist vielmehr eine für sich seiende, absolute Größe als Grund und Maß dieser Welt, nicht aber als durch das Böse relativierter Teil dieser Welt; das so bestimmte Gute überragt alles in der Welt Seiende an Erhabenheit und Kraft (οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἄλλ’ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος: Politeia 509 B). Wie nun die stoische Theodizee nicht anlasslos vorgetragen wurde, sofern sie angesichts der Provokation des Herrscherkultes die göttliche Omnipotenz behaupten und in der Konsequenz den unvermeidlichen Einwand ihrer Schuld auch an den Übeln dieser Welt entkräften musste, so hatte auch Platon, wie unten noch näher auszuführen ist, mehr im Auge, als lediglich einen metaphysischen Lehrsatz über das Gute und die Götter aufzustellen. Platons ambitioniertes politisches Programm konnte mit Bürgern nichts anfangen, die in mythengläubiger Bequemlichkeit alle Schuld an den Übeln auf die Götter schoben und ihnen typisch menschliche Schwächen wie Stehlen, Ehebrechen und Betrügen (Xenophanes 21 B 11) anlasteten, um sich den Anforderungen eines makellosen Vorbildes gar nicht erst auszusetzen; vielmehr sollten Platons Bürger im Guten den gött211 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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lichen Weltgrund erkennen und in der Orientierung an diesem Maß in eigener Verantwortung ihr Leben der Einhegung selbstverschuldeter Übel widmen. Platon hat dieses sein Räsonnement vorgetragen, weil er nicht bequeme und ausweichende, sondern gute und rechtschaffene Bürger für die Gründung einer guten Polis benötigte. Indes hat Lactantius Platons Zielsetzung bei seiner Bestimmung von Gut und Übel ebenso wenig gewürdigt wie das Recht der Stoiker zur Kritik am Herrscherkult unter Berufung auf die wahre providentia und auf deren Absicherung durch ihre Theodizee. Ohne auf Platons politische Motive einzugehen, macht die Epitome (§§ 63/64) zu den Divinae institutiones gegen Platon geltend, er habe zwar gesagt, dass Gott die Welt erschuf, aber nicht, warum. Darauf angesprochen hätte er wohl gesagt, weil Gott gut sei und gegenüber niemandem neidisch, habe er (die Welt als Ort für) das Gute geschaffen (quia bonus est, inquit, et invidens nulli, fecit quae bona sunt). Auf die Gegenfrage, woher denn die vielen dem Guten oft überlegenen Übel stammten, dürfte er geantwortet haben, die hätten eben in der Materie gesteckt. Das hieße aber, dass die Übel langlebiger (aeterniora) wären als das Gute; schließlich hätten Dinge, die einen Anfang hatten, auch einmal ein Ende, es bliebe aber bestehen, was immer gewesen sei. Da aber die Übel nicht mächtiger sein können als das Gute, können sie auch nicht langlebiger sein. Daraus folgt, dass entweder das Gute und das Böse immer schon bestanden haben und Gott beides nicht hervorgebracht hat oder dass beides aus derselben Quelle stammt. Es ist aber angemessener, dass Gott alles als gar nichts geschaffen hat. Also ist nach Platon derselbe Gott gut, weil er das Gute geschaffen hat, und böse, weil das Böse. Platons These, Gott habe die Welt geschaffen, weil er ausschließlich gut ist, kann also nicht stimmen; alles nämlich hat Gott umfasst, sowohl das Gute als auch das Böse. Lactantius sucht nach dieser Kritik der platonischen Argumentation einen neuen Ausgangspunkt, und zwar in der Frage nach dem Zweck der Erschaffung der Erde. Schließlich werde jedes Werk um eines Zweckes willen vollbracht. Zwar hätten die Stoiker auf die Frage nach dem Zweck der Welt richtig geantwortet, die Welt sei um der Menschen willen erschaffen, aber wozu die Menschen erschaffen worden seien, gäben die Stoiker ebenso wenig an wie Platon. Diese Lücke füllt Lactantius mit dem Bekenntnis, die Welt sei von Gott geschaffen, damit die Menschen geboren würden; geboren würden aber die Menschen, damit sie Gott als Vater erkennen, in dem Weis212 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Lactantius über die heidnische Entlastung der Götter

heit steckt, und damit sie ihn erkennen, um ihn zu verehren, worin Gerechtigkeit steckt; sie verehren ihn, um den Lohn der Unsterblichkeit zu empfangen, und sie empfangen die Unsterblichkeit, um Gott in Ewigkeit zu dienen. Lactantius hält also der heidnischen providentia-Lehre vor, sie eröffne keinerlei eschatologische Hoffungen. Tatsächlich bezieht sich die Lehre der Stoiker ausschließlich auf die hiesige Daseinsfristung; mehr müssen sie aber auch gar nicht ausloben, da sie überzeugt sind, dass die Seele angesichts ihrer somatischen Beschaffenheit den Tod als ihre Trennung vom Leib entweder gar nicht überlebt oder, was vornehmlich für die Seelen der Philosophen gelte, nur für kurze Zeit. 2 Selbst wenn die Stoiker von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt gewesen wären, hätten sie ihre Lehre von der Theodizee nicht anders vorgetragen; denn anders als Lactantius postuliert, bezieht sich diese in der antiken und ebenso in der modernen Philosophie 3 auf die irdische Zeit vor einer möglichen Erlösung. Die von Lactantius geübte Platonkritik und sein gleich darauf folgendes christliches Glaubenbekenntnis lassen sich im Rückgriff auf die zuvor in den Institutiones vorgetragene Lehre von der Genesis des Teufels durchaus in Einklang bringen. Bedingung der Unsterblichkeit ist die Erlösung von der Sündhaftigkeit als dem Werk des Teufels. Daher kann eine Lehre, die das Göttliche ausschließlich mit dem Guten als einer an und für sich seienden Größe identifiziert, die Erlösung der Menschheit, so wie sie ist, nicht mit ihren Denkmustern erfassen. Platons theologia wurde indes nicht nur vom Apologeten Lactantius wegen des Freispruchs der Götter vom Verursachen des Bösen zurückgewiesen. In formaler Übereinstimmung wendete auch Chrysipp die Befunde seiner Theodizee gegen Platon, als er Homer postum theologisch gegen Platon rehabilitierte, nachdem dieser jenen im Namen nur das Gute bewirkender Götter zugleich mit den Tragödiendichtern wegen habitueller Diskreditierung eben der Götter aus seiner Stadt vertrieben hatte. Ein näheres Eingehen auf diesen Konflikt um Homer zwischen Platon und Chrysipp setzt allerdings voraus, dass der Dichter in unseren Augen wieder ebenso respektabel erscheint wie bei den Griechen der klassischen Zeit und nicht mit einer in mancher Hinsicht gestutzten Autorität vorlieb nehmen muss. Zum Glück lassen sich im Lichte neuester ForschungsergebnisSVF I 146, II 774, II 809. 810. 811; Cicero, Tusculanae disputationes 1, 78. Zu der im XVIII. Jahrhundert erneuerten Theodizeedebatte vgl. unten das Kapitel »Theodizee und Geschichtsphilosophie«.

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se die lange gehegten Bedenken entschlossener Zweifler, deren Nachwirkung einer vertrauensvollen Annäherung an Homer immer noch im Wege stehen dürfte, mit durchaus verifizierbaren Belegen zerstreuen. Der folgende Exkurs soll daher ein Plädoyer sein für Homer als eine einzige, nicht teilbare Person, die der Nachwelt sowohl ein klassisches Epos mit einem roten Faden als auch in einem damit ein zuverlässiges Geschichtsdokument hinterlassen hat. Wäre Homer den Griechen bloß als virtuoser Phantast bekannt gewesen, dann hätte sich weder Platon kritisch an ihm gerieben noch Chrysipp auf seiner Rehabilitierung bestanden.

Die wiederhergestellte Autorität Homers Seinen Rang als herausragender Dichter hat Homer bis in unsere Tage unangefochten behauptet. Was indes Homer als verlässlichen Historiker angeht, so haben namhafte moderne Gelehrte, die auf lückenloser Verifizierbarkeit bestehen, Homers Autorität ein wenig respektlos angezweifelt. Seitdem die sog. Analytiker, F. A. Wolfs »Prolegomena ad Homerum« (1784) folgend, nicht nur einen Homer kennen, sondern gleich mehrere, die füglich keine einheitliche Aussageabsicht verfolgen und im Übrigen einen Gegenstand behandeln, der lediglich ihrer Phantasie entsprungen sein könne, weil das menschliche Gedächtnis ohne Hilfe der Schrift niemals über mehrere Jahrhunderte hinweg einen zumal komplexen Stoff wie den Kampf um Troia festzuhalten vermöge, seitdem also meldet sich die Homerische Frage zu Wort: Wenn überhaupt ein Dichter unter dem Namen Homer existiere, dann gleich mehrere, die die Realität des Troianischen Krieges lediglich vorgetäuscht und dabei Brüche und Widersprüche nicht vermieden hätten. Diese Prämissen der Homerischen Frage, die an der Identität der Person ebenso wie an deren Fähigkeit zweifeln, dem Epos einen Leitgedanken zugrunde zu legen und diesen konsistent durchzuführen, erinnern bei juristischer Qualifizierung ein wenig an den Tatbestand des Rufmordes. Antike Autoritäten hätten vor solcher Desavouierung Homers warnen können. Aristoteles zweifelt in seiner Poetik mit keinem Wort an der Existenz des einen Homer, den er als göttlichen Dichter verehrt, wenn er ihm neben anderen Vorzügen insbesondere gutschreibt, dass er wenn auch unausgesprochen die berühmten drei Ein214 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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heiten des Raumes, der Zeit und der Handlung (πρᾶξις) richtungweisend angewendet habe. Statt den Krieg vom ersten bis zum letzten Jahr chronologisch zu erzählen, habe Homer für Ilias und Odyssee jeweils ein bestimmtes Leitthema vorgesehen – den Zorn des Achill und die Rückkehr des Odysseus. 1 Durch die damit verbundene Konzentration gelang es Homer tatsächlich, den zehnjährigen Kampf um Troia ganz im Sinne der »Einheit der Zeit« auf 51 Tage zu komprimieren und die zehnjährige Rückkehr des Odysseus auf 41 Tage. Weitere Ehrenerklärungen erfolgten in der Antike aus berufenem Munde. Der Autor der unter dem Namen des Longinus überlieferten literaturkritischen Monographie »Über das Erhabene« (11– 15) aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert beendet die Debatte, ob die Ilias oder die Odyssee früheren Datums sei, mit dem Argument, jüngere Männer bevorzugten eher dramatische Ereignisse, während ältere lieber Geschichten erzählten: So erklärt er die Odyssee zum Epilogos der Ilias, wie es ja auch der natürlichen Handlungsabfolge entspricht. Seneca, der Zeitgenosse Ps.-Longins, pflichtet ihm bezeichnenderweise in der Abhandlung De brevitate vitae (13, 1–2) bei, führe doch die Frage, ob die Ilias oder die Odyssee das ältere Epos sei und ob beide Werke einem oder zwei Dichtern zuzuschreiben seien, zu einer (angesichts der Kürze unseres Lebens unangemessenen) Zeitverschwendung durch Beschäftigung mit Überflüssigem. Ein solcher Vortrag wirke auf das Publikum nicht gelehrter (doctior), sondern lästiger (molestior). Für alle drei angeführten Autoritäten steht auch ohne nähere Begründung fest, dass es nur den einen Homer gegeben hat. Natürlich darf moderne Wissenschaft noch so bewährten Autoritäten nicht ungeprüft Glauben schenken; aber der kritische Verstand muss, wenn er das Wahrheitstestat ausstellt, auch jederzeit damit rechnen, dass für das jeweilige Thema relevante Forschungsergebnisse erst später zur Verfügung stehen, als da wären die Befunde der jüngsten Ausgrabungen von Troia durch M. Korfmann sowie die M. Ventris im Jahre 1952 gelungene Entzifferung der Linear-B Tafeln. Gewiss liefern diese Tafeln keinen Abriss der griechischen Frühgeschichte, weil sie ausschließlich der Organisation des Alltags unter wirtschaftlichen, kultischen und militärischen Aspekten dienen. Von der Eroberung Troias ist daher in den Aufstellungen der Tafeln nirgends die Rede, aber sie bestätigen die meisten homerischen Götter1

Aristoteles, Poetik 1451 a 22–30, 1459 a 30–b 7.

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namen. Denn die Tafeln halten fest, welchen Göttern Opfer dargebracht wurden – Zeus, Hera, Poseidon, Hermes, Athena, Artemis und Hephaist sowie Apollon Paian und Ares als Enyalios; der bloße Name des Dionysos ohne jeden Zusammenhang taucht gleichfalls auf. 2 Ein weitaus spezifischeres Zeugnis, von dem noch zu reden ist, liefern in Pylos und Theben gefundene Linear-B Tafeln, deren Kenntnis manch einen einst gehegten Zweifel an Homer von vornherein ausgeräumt hätte; und das gilt aber in noch größerem Maße für die Funde ringsum die Burg von Troia. Denn zu der von H. Schliemann wiederentdeckten Burg, deren Größe etwa einem Fußballfeld entspricht, fehlte zunächst noch die bei Homer passim bezeugte, eben von der Akropolis (ἄκρη πόλις) unterschiedene Unterstadt (ἄστυ μέγα) 3, die M. Korfmann erst 1996 mit Raum für 10 000 Einwohner bei einer Fläche von 270 000 m2 durch Freilegung des von Homer ebenfalls ständig zusammen mit der Mauer erwähnten Befestigungsgrabens wiedererkannte. Zum nunmehr identifizierten Ort gesellte sich die Bestimmung der Zeit. Denn wenige Jahre später stieß M. Korfmann bei Grabungen in Höhe der Troiaschicht VIIa auf für die Zeit um 1200 zu datierende Spuren eines verlorenen Krieges, auf den »unbestattete oder nur notdürftig bestattete Tote innerhalb der Katastrophenschicht hinweisen und Haufen von nicht mehr zum Einsatz gekommenen Schleudergeschossen der Verteidiger, an denen die Sieger kein Interesse mehr hatten.« 4 Dieser Befund besagt umso mehr, als vergleichbare Spuren einer kriegerischen Auseinandersetzung auf Höhe der Schicht Troia VI fehlen. Im Übrigen entsprechen der mit den bekannten modernen Methoden errechneten Zeitbestimmung von 1200 in bemerkenswerter Weise die Zeitangaben antiker Historiker für die Zerstörung Troias: Marmor Parium 1209, Thukydides 1196, Timaios 1193, Eratosthenes 1184 und Apollodor von Athen ebenfalls 1184. 5 Diese Aufstellung folgt J. Chadwick (The Decipherment of Linear B, Cambridge 1958, 124–126) und St. Hiller/O. Panagl (Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit. Zur Erforschung der Linear-B Tafeln, Darmstadt 1986, 293–314). 3 Belege in der Ilias für πόλις ἄκρη (arx): 6, 88. 257. 297–7, 345–10, 52; für ἄστυ als Unterstadt der arx: 6, 256. 297. 317. 380–392. 505–7, 296; für ἄστυ μέγα: 2, 332–6, 392. 4 M. Korfmann: Wilusa/(W)Ilios ca. 1200 v. Chr. – Ilion ca. 700 v. Chr., in: Troia. Traum und Wirklichkeit, Tübingen, Braunschweig, Bonn 2001, S. 71. 5 Marmor Parium § 38. Clemens Alexandrinus, Teppiche, Buch I, §§ 114–139; für Eratosthenes siehe I § 138, 1–3 (FGH 241 F 1). Censorinus (De die natali 21,3) u. a. für Eratosthenes und Timaios. Dionysios von Halikarnass (Antiquitates Romanae 1, 2

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Offen bleibt danach immer noch die Frage, ob Homer seinen Stoff nahezu 400 Jahre nach dem Ereignis ohne schriftliche Fixierung noch originalgetreu präsent hatte. Tatsächlich lebte Homer 400 Jahre früher als Herodot (2, 53, 2), der wiederum 431 beim Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 53 Jahre alt war – so Gellius (15, 23) unter Berufung auf Pamphila von Epidauros, eine zuverlässige Chronographin zur Zeit Neros. Demnach wäre Homer im Jahre 884 geboren. 6 Nun ist ja denkbar, dass seit dem Jahr 1184 bis zu Homers Lebzeiten die Überlieferung im Medium der oral poetry den Stoff ständig modifiziert hat, weil die fehlende schriftliche Dokumentation dem nicht kontrollierend im Wege stand. Es ist aber ebenso gut denkbar, dass der Stoff nur unerhebliche Änderungen erfahren hat, und zwar dann, wenn die Textüberlieferung von einem bestimmten Volk, das durchgehend dieselbe Sprache sprach, getragen wurde, wenn dieses Volk die Wahrung des Textes einer dafür zuständigen Gilde als Lebensaufgabe übertrug und wenn die Angehörigen dieser Gilde über die Gedächtniskraft verfügten, den gewiss umfangreichen Text Wort für Wort auswendig zu beherrschen und vollständig an ihre Nachfolger weiterzureichen. Tatsächlich sind diese drei Bedingungen allesamt erfüllt. Das Volk waren die Ionier, die etwa ein Jahrhundert nach der Rückkehr der griechischen Helden aus Troia – von den Achaiern wohl unter dem Druck der Dorischen Einwanderung aus der nördlichen Peloponnes vertrieben – über Attika als Kolonisten nach Kleinasien auswanderten 7 und Ephesos gründeten 8, wo der Ionier Homer den von seinen Ahnen aus Griechenland mitgebrachten Stoff kennen 63 und 1, 74, 2) hält sich an Eratosthenes. Diodor (1, 5. 1) orientiert sich in seiner Chronologie an dem mit Eratosthenes übereinstimmenden Apollodor (vgl. auch FGH 244 T 6 und F 61 f.). Das Datum des Thukydides errechnet sich indirekt: Die dorischen Melier erklären 5, 112, sie seien nunmehr, d. h. im Jahre 416 seit 700 Jahren auf der Insel Melos ansässig; da die Rückkehr der Herakliden, die Chiffre für die Dorische Wanderung, laut Thukydides (1, 12, 3) achtzig Jahre nach der Eroberung Troias erfolgte, ergibt sich für ihn 416 + 700 + 80 = 1196. 6 Clemens Alexandrinus, Teppiche Buch I, § 117, 1 stellt die Angaben griechischer Gelehrter zu Homers Geburt zusammen. Philochoros (864) und Sosibios (866) stimmen in etwa mit Herodot überein. Die früheste Jahreszahl errechnet der Grammatiker Krates (1100), die späteste Theopomp (684). Herodots Zahl liegt also etwa in der Mitte der überlieferten Rekonstruktionsversuche. 7 Herodot 1, 143–148, insbesondere 1, 147, 2; Strabon 8, 1, 2 (p. 333 C). 8 Strabon 14, 1, 3–4 (p. 632 C); Kreophylos von Ephesos (FGH 417 F 1) bei Athenaios 361 C–E.

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lernte. Seine Sprache ist denn auch gut passend Ionisch mit Beimengungen des Aiolischen, des Dialektes der Achaier. Die mit der Homerpflege beauftragte Gilde, und damit zur zweiten Bedingung, bestand aus Rhapsoden oder aus deren auf Chios ansässiger Sondergruppe der Homeriden. 9 Ihr Archeget Demodokos tritt gleich in den Jahren nach dem Troianischen Krieg im achten Gesang der Odyssee bei den Phaiaken auf und erinnert Odysseus (ebd. 488–499) an seine eigenen Erlebnisse, »die er besungen habe, als sei er selbst dabeigewesen«. Buchstabentreue konnte auch insofern geboten sein, als die Gesänge in feierlichem Rahmen bei Hof oder anlässlich kultischer Begehungen vorgetragen wurde. Nachweislich ist auch die dritte Bedingung erfüllt. Die Nachfolger des Demodokos beherrschten noch im fünften Jahrhundert, als die Schriftlichkeit das Gedächtnis längst zur größerer Bequemlichkeit hätte verleiten können, wie einst den gesamten Text beider Homerischen Epen. In Xenophons Symposion (3, 5–6) erklärt ein gewisser Nikeratos, sein Vater habe ihn gezwungen, die gesamte Ilias und Odyssee auswendig zu lernen, und er könne beide Epen auch als Erwachsener noch vollständig aus dem Kopf zitieren. Interessant ist die Reaktion der anderen Gäste, unter denen niemand zweifelt, Nikeratos könne sein Angebot auf der Stelle wahrmachen. Allerdings bewundern ihn die Gäste keineswegs; stattdessen hält ihm Antisthenes vor, es sei ihm doch sicher nicht entgangen, dass zu der Gedächtnisleistung, derer er sich rühme, auch sämtliche Rhapsoden imstande seien; und es sei ihm doch sicher auch nicht entgangen, dass es kaum naivere Menschen gäbe als eben jene Rhapsoden. 10 Nun könnte man der soeben vorgetragenen Argumentation immer noch entgegenhalten, sie sei mehr oder weniger transzendentalphilosophischen Charakters, sofern sie zwar die Bedingung der Möglichkeit sichere, nicht aber auch den direkten Zugriff auf das intendierte Phänomen des Troianischen Krieges. Dieser nicht von der Hand zu weisende Einwand lässt sich mittlerweile jedoch nicht nur dank der schon angeführten jüngsten Ausgrabungsbefunde in Troia, sondern auch dank der ebenfalls schon kurz erwähnten Funde von Linear-B Tafeln in Pylos und Theben entkräften. Zahlreiche Gelehrte haben auf den Umstand hingewiesen, dass nirgends in Griechenland durch archäologische Ausgrabungen Beutestücke aus Troia zutage geMaterial zu den Rhapsoden findet sich in den Scholien zur Pindars Nemeischer Ode 2, 1. 10 Diese Einschätzung wiederholt Xenophon in den Memorabilien IV 2, 10. 9

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fördert wurden. Das trifft zu, mittlerweile allerdings mit einer Ausnahme. Im Archiv des Nestorpalastes fanden sich unter den verschiedensten, Wirtschaft und Verteidigungsmaßnahmen betreffenden Verzeichnissen auch Übersichten über versklavte Frauen und Kinder. Ihre Herkunftsorte – Knidos, Milet, Halikarnass, Lemnos, Chios, Asia und die Dardanellen 11 – waren seinerzeit noch nicht von Griechen bevölkert. Schätzungen haben ergeben, dass auf diesen pylischen Listen ungefähr 750 Frauen, 450 Mädchen und 350 Knaben erfasst waren 12, aber kein einziger Mann. Dazu passt, dass Thersites Agamemnon die vielen Frauen vorrechnet, die ihm die Griechen aus eroberten Städten überließen, und dass Odysseus, ohne sich dafür zu entschuldigen, den Phaiaken berichtet, er hätte gleich nach der Abfahrt aus Troia die nahe gelegene Stadt Ismaros erobert, die Männer getötet und sich die Frauen mit seinen Gefährten geteilt. 13 Ebendies musste der Besiegte befürchten und um jeden Preis verhindern. Hektor schmähte daher Diomedes als Versager, der weder die Mauern Troias überwinden noch die Troerinnen auf seinen Schiffen nach Griechenland entführen werde (Ilias 8, 161–166). In seinen Troerinnen hat Euripides auf der Bühne dargestellt, dass Hektor sich verschätzt hatte und auch die Frauen der königlichen Familie ins Land der Sieger deportiert wurden. Es liegt also nahe, dass die Frauen der pylischen Verzeichnisse Beutefrauen waren, die Nestor ausschließlich aus der näheren oder weiteren Umgebung von Troia mitgebracht hatte. Wie um das zu bestätigen, erzählt Homer, es hätte sich unter Nestors Dienerinnen eine gewisse Hekamede aus Tenedos befunden, die ihm Achill nach Eroberung der Insel überlassen hatte. 14 Diese Hekamede düfte zu den »schöngegürteten Frauen« gehört haben, die Nestor vor dem Auslaufen aus Troia neben beweglichem Hab und Gut in seine Schiffe verladen ließ. 15 Offenbar dokumentieren die Personenlisten auf den pylischen Linear-B Tafeln, dass die Griechen Beute mindestens in Siehe dazu PY Aa 60: e-wi-ri-pi-ja entspricht Euripos (Meerenge) und dürfte sich auf die Dardanellen beziehen. 12 V. Parker, Die Aktivitäten der Mykenäer in der Ostägäis im Lichte der Linear-B Tafeln, in: Floreant Studia Mycenaea, Wien 1999, Band 2, S. 495–502. St. Hiller/ O. Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Darmstadt 1976, S. 105–110. J. T. Hooker, ΕΙΣΑΓΩΓΗ ΣΤΗ ΓΡΑΜΜΙΚΗ Β, Athen 1994, S. 173– 179. 13 Ilias 2, 226–228 und Odyssee 9, 39–42; vgl. 17, 431–434. 14 Ilias 11, 624–627. 15 Odyssee 3, 153 f. 11

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Menschengestalt aus Troia in die Heimat mitgenommen haben, zumal die Verzeichnisse auch zeitlich passend entstanden sind. Denn die kurzlebigen Tafeln stammen aus der Endphase der mykenischen Paläste, die kurz nach der Eroberung Troias einsetzte. Homers Schiffskatalog im zweiten Gesang der Ilias, und damit zu den in Theben gefundenen Tafeln, beweist nun endgültig, dass sein Epos nicht der Phantasie des Dichters entsprungen ist, sondern auf mykenischen Quellen der Zeit um 1200 beruht. Im ersten Gesang der Ilias hatte Homer die Entwicklung des Konflikts zwischen Agamemnon und Achill sowohl auf der Ebene der Menschen als auch auf der Ebene der Götter dargestellt. Es folgen im zweiten Gesang noch einige Verwicklungen um Agamemnon, bis sich Homer zur Schilderung erster Kampfhandlungen anschickt. Dazu gehört aber zuvor eine Übersicht über das militärische Kräfteverhältnis, die Homer mit dem Schiffskatalog der Griechen (Ilias 2, 484–760) und dem darauf folgenden Troerkatalog (Ilias 2, 816–877) liefert. Als Quelle nennt Homer für beide Kataloge die Musen, um deren Beistand er bittet, »weil wir nur Kunde hören, aber (aus uns selbst) nichts wissen« (Ilias 2, 486). Homer übernimmt nach eigener Auskunft eine überlieferte Übersicht, für die die Musen als Töchter der Mnemosyne (»Gedächtnis«) bürgen. Dabei stört es Homer keineswegs, dass er vor der geplanten Schilderung von Landkämpfen ausgerechnet auf einen Schiffskatalog zurückgreift; er musste sich eben auf seine Quellen in der Form stützen, in der sie ihm vorlagen. Hätte er den Katalog selbst ersonnen, dann hätte er zur Einleitung der Darstellung einer Landoperation mit Sicherheit keinen Schiffskatalog vorgelegt. Aber auch dieser erfüllte seine Funktion und lieferte ihm die Namen von 29 Kontingenten aus 178 Herkunftsorten, die insgesamt 1186 Schiffe mit etwa 100 000 Mann Besatzung gestellt hatten. Natürlich wurde die Historizität des Kataloges angezweifelt, obwohl immer schon bekannt war, dass etwa ein Viertel der im Katalog erscheinenden Namen in klassischer Zeit schon nicht mehr lokalisierbar waren, wahrscheinlich weil diese Städte im Zuge der innergriechischen Unruhen nach der Rückkehr der Helden aus Troia zerstört wurden 16, also zu Homers Zeit schon nicht mehr besiedelt Thukydides (1, 12) setzt diese Unruhen zeitlich noch vor die Dorische Wanderung. Er nennt keinen Auslöser der Empörung. Es könnte sein, dass die Schwächung der Paläste durch den langen Krieg zur Abschüttelung der von ihnen gepflegten »politischen Ökonomie« genutzt wurde, die darin bestand, dass sie das gesamte Wirtschafts-

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waren. 17 Dieser Umstand spiegelt sich noch in Aristarchs Vorwurf wider, Homer habe im Schiffskatalog »über die Orte fälschlich Nichtexistierendes vorgebracht«. 18 Aristarchs Zweifel an Homers Katalog sind also verständlich, solange die Namen verschwundener Orte auch auf andere Weise nicht mehr zu verifizieren waren. Derartige Zweifel verbieten sich indes spätestens seit den Jahren 1993 bis 1995, als 250 in Theben bei Straßenarbeiten gefundene Linear-B Tafeln unbestreitbar den Tatsachenbeweis erbrachten, dass sich der Schiffskatalog auf eine mykenische Vorlage stützt. Dieses Zeugnis zählt umso mehr, als der Katalog unter den nach 1200 teils für immer, teils für Jahrhunderte von der Landkarte verschwundenen Orten auch Eleon, Hyle, Peteon und Eutresis (Ilias 2, 500/502) aufführt, die durch die Tafeln als in mykenischer Zeit existent bestätigt werden wie e-re-o-ni für Eleon oder e-u-te-re-u für Eutresis 19, eine erst um 600 vor Christus wiederbesiedelte Stadt, deren mykenische Reste eine amerikanische Ausgrabung in den 1920er Jahren wieder zutage gefördert hat. 20 Nun gab es auch schon vor diesen neuesten Funden zahlreiche Gelehrte, die mit guten Gründen Homer vertrauten und seinen Schiffskatalog auf eine mykenische Quelle zurückführten. 21 In der Tat hätte man auch, als die Absicherung durch die Tafeln aus Theben noch nicht bestand, einige Hypothesen von vornherein nicht vortra-

leben mit Hilfe der Linear-B Tafeln steuerten. Vielleicht haben die Aufständischen die Tafeln bewusst nicht mehr benutzt, weil sie in ihnen das administrative Mittel sahen, ihre frühere Abhängigkeit aufrechtzuerhalten. Ob bei diesen Revolten auch die sog. Seevölker eine Rolle spielten, ist ungewiss, zumal sich in diesem Forschungsbereich die Experten in fast allen Punkten uneinig sind. Fest steht lediglich, dass Troia nicht von den Seevölkern zerstört wurde und dass diese selbst von den Ägyptern zweimal besiegt wurden, nämlich in den Jahren 1207 und 1177. Vgl. hierzu E. H. Cline, Der erste Untergang der Zivilisation, Darmstadt 2015, S. 33, 181, 196. 17 So lautet der Befund von V. Burr, D. L. Page und R. Hampe. Zu den Titeln vgl. das Literaturverzeichnis unter diesen Namen. 18 Strabon 1, 2, 24 (p. 30 C). 19 V. Aravantinos: Mycenaean Texts and Contexts at Thebes. The Discovery of New Linear-B Archives on the Kadmeia, in: Floreant Studia Mycenaea, Wien 1999, Band 1, hier: S. 54–58. Siehe auch J. Latacz, Troia und Homer, S. 291–294. Eine ausführliche Erörterung zu den abgeführten Orten bietet E. Visser, Homers Katalog der Schiffe, Stuttgart/Leipzig 1997. 20 Einen kurzen Bericht gibt G. Karo, Mykenische Kultur (sp. 584–615), in: RE Supplementband VI (1935) Sp. 609. Vgl. auch Strabon 9, 2, 28 (p. 411 C). 21 Vgl. das Literaturverzeichnis zu den Namen T. W. Allen, V. Burr (A. Heubeck), D. Page und R. Hampe.

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gen dürfen, die sich insbesondere auf die Frage konzentrierten, wie denn Homer nur an seine Liste gelangt sein könnte. So soll Homer mit dem Katalog die Machtverhältnisse seiner eigenen Zeit abgebildet haben; oder er soll, wenn er doch historisch korrekt sein wollte, sich der Mühe unterzogen haben, von Ort zu Ort zu wandern, obwohl er dann doch zuvor schon hätte wissen müssen, welche Orte in der Hoffnung aufzusuchen seien, dort ließen sich von den Einwohnern nach fast 400 Jahren noch präzise Auskünfte erhalten. Im Übrigen hätte er es sich vielleicht auch bequemer gemacht und eine Periegese (Reiseführer) benutzt, eine Literaturgattung allerdings, die erst in hellenistischer Zeit auf den Büchermarkt gelangte. Schließlich wurde angenommen, ein späterer Interpolator habe die im Katalog aufgeführten Namen aus dem Text der Ilias entnommen und zusammengestellt, und das, obwohl im Katalog viele Namen auftauchen, die sonst in der Ilias nirgends wieder erwähnt werden. Statt solchen desperaten Hypothesen nachzugehen, hätte man sich auch völlig unabhängig von den angeführten jüngeren Forschungsergebnissen, die auf Ausgrabung und Funden von Linear-B Tafeln fußen, ganz leicht ein Bild davon machen können, wie einst der Katalog zustande gekommen sein konnte; denn in seiner Tragödie »Iphigenie in Aulis« (164–302) gibt Euripides zu erkennen, wie das möglich war. Denn er lässt den Chor der alten Bürger von Aulis deklamieren, welche zur Ausfahrt bereitgestellten Schiffskontingente diese vor Augen hatten. Ebenso muss der zeitgenössische Urheber des von Homer wiedergegebenen Kataloges zu seinen Namen und Zahlen gelangt sein. Ähnlich wie die oka-Tafeln von Pylos, die die Bereitschaft der Küstenwache koordinierten, könnte Homers Gewährsmann seine Zählung auf Linear-B Tafeln notiert haben – als commentarius (Gedächtnisstütze) für spätere literarische Verarbeitung in Hexametern und damit als Vorleistung, auf die Homer dankbar zurückgegriffen hat. Auf die anzunehmenden originalen Linear-B Tafeln hätte sich Homer allerdings nicht stützen können. Diese Silbenschrift kam mit dem Ende der Paläste außer Gebrauch. Deshalb kannte sie selbst Homer nicht mehr. Als sich in der Ilias (7, 161–312) neun griechische Helden meldeten, um zum Zweikampf gegen Hektor anzutreten, musste Nestor mit Hilfe von neun Scherben, die jeder der Helden mit einem Symbol bekritzelt hatte, eine Auslosung vornehmen. Nachdem er eine Scherbe aus der Urne herausgenommen hatte, zeigte er sie reihum vor, bis endlich Aias rief: »Wahrlich, das Los ist meines«. Nur Aias konnte also die Scherbe identifizieren. Die 222 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Linear-B Schrift als intersubjektives Verständigungsmittel war Homer nicht mehr bekannt. Als Medium der die Flottenstärke der Griechen betreffenden Überlieferung blieb nur das Gedächtnis der Sänger vor Homer, der sich ja auch auf die »Kunde« stützt, die auf seine Vorgänger zurückgeht; und das Gedächtnis der Rhapsoden ist ja durch Nikeratos bei Xenophon schon als hinreichend leistungsfähig erwiesen. Nachdem nunmehr nachzuvollziehen ist, wie der ursprüngliche Autor seinen Katalog in Aulis hat anfertigen können, empfiehlt sich ein Blick auf den Umstand, dass Homer gleich an den Katalog griechischer Schiffseinheiten den Katalog über die gegnerischen Kontingente der Troer, Dardaner und Lykier anschließt. Da liegt die Vermutung nahe, dass Homer sich für beide Kataloge auf ein und denselben Mann verlässt. Und wenn dem so ist, dann darf man auch vermuten, dass dieser Mann von Aulis aus mit der Flotte nach Troia übergesetzt ist, weil er offenbar mit der offiziellen Aufgabe betraut war, für das griechische Heer das Kriegstagebuch zu führen. Diese keineswegs allzu gewagte Vermutung führt letzten Endes zu der Schlussfolgerung, dass nicht nur Ilias und Odyssee, sondern auch die kyprischen Epen letztlich auf eine zeitgenössische Quelle, eben das stichwortartige Kriegstagebuch des Unbekannten zurückgehen dürften. Der Troianische Krieg wäre demnach keineswegs das Phantasieprodukt eines begnadeten Dichters, sondern quellenregistrierte und gedächtnisstark in Hexametern tradierte Geschichte. Zuverlässig ist der Schiffskatalog übrigens auch in dem, was er nicht sagt. Es tauchen keine Ionier auf, die ja damals in Kleinasien auch noch gar nicht ansässig waren; und nirgends erscheinen nachmykenische Namen wie Dorer, Megarer, Akarnanen oder Messenier. Im Katalog folgt auf das mykenische Sparta sogleich Pylos, ohne dass von Messenien die Rede wäre (Ilias 2, 591–602). Zuverlässig erscheint auch der auf die Troer bezogene Katalogteil. Er unterscheidet Troer, Dardaner und Lykier. Die Letzteren könnten stellvertretend als Vasallen für die schon entscheidend geschwächten Hethiter den Troianern zu Hilfe geeilt sein. Auch unterscheidet der Katalog historisch korrekt zwischen der kretischen Mutterstadt Milet und ihrer kleinasiatischen Koloniegründung Milet. Die Mutterstadt Milet (Ilias 2, 647) kämpfte unter Idomeneus auf Seiten der Griechen, die Kolonie Milet, die »die Karer, ein Volk barbarischer Mundart, … besaßen« (Ilias 2, 867 f.), auf Seiten der Troer, weil die Milesier die Herrschaft der Hethiter noch nicht abgeschüttelt hatten. 223 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Die wiederhergestellte Autorität Homers

Weitere Einwände, die gegen den Katalog erhoben wurden, lassen sich leicht entkräften. Angemerkt wurde, dass im Katalog selbst der Name Aulis nicht erwähnt wird. Aber nur wenige Verse zuvor, nämlich Ilias 2, 303 f., erinnert sich Agamemnon neun Jahre später an die Tage vor der Ausfahrt: »Gestern war’s, wie mir deucht, da sich unsere Schiffe in Aulis sammelten, um den Troern und Priamos Böses zu bringen.« Diesen Ausruf Agamemnons hätte Homer zur Absicherung gar nicht einflechten müssen, weil Aulis als Sammelplatz für ihn und seine Zuhörer ebenso selbstverständlich war wie für Hesiod (Erga 651–653). Angemerkt wurde von Strabon, dass das Hafenbecken in Aulis für die 1186 Schiffe viel zu klein war. 22 Dieser Hinweis, der auch von modernen Beobachtern geltend gemacht wurde, trifft zu; aber laut Katalog sind die Schiffe auch gar nicht im Hafen vor Anker gegangen, sondern waren in der Bucht von Aulis auf ihnen zugewiesenen Strandabschnitten nebeneinander an Land gezogen. So lagen die Schiffe der Phoker neben denen der Boioter (Ilias 2, 525 f.), und Aias von Salamis reihte sich mit seinen zwölf Schiffen neben die der Athener ein (Ilias 2, 557 f.). Angemerkt wurde ferner, dass so viele Schiffskontingente einen unnötigen Umweg zum zentralen Sammelpunkt Aulis in Boiotien auf sich nahmen. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Griechen nicht riskieren konnten, bei ihrer Ankunft einzeln von den Troern in Empfang genommen zu werden. Außerdem mussten sie, weil sie – wie auch sonst in der Antike üblich – die offene See mieden, an der Küste entlang fahren, also auch an der Küste der mit den Troern verbündeten Thraker. Da empfahl es sich also aus mindestens zwei Gründen, die Anfahrt nach Troia und die Landung in Troia nicht einzeln, sondern in einem gemeinsamen Flottenverband durchzuführen. Hiernach lautet das Fazit, dass ausgerechnet die Passage der Ilias, die so vielen Bedenken ausgesetzt war, ganz besonders Homers Tatsachentreue erweist. Zugleich mit diesem Befund ist aber noch etwas anderes geschehen, wenn man bedenkt, dass J. Latacz in seinem Buch »Troia und Homer« sein glanzvolles Plädoyer für die Wahrscheinlichkeit der homerischen Darstellung zunächst aus der kleinasiatischen Perspektive absichern muss, wohl weil er fürchtete, er könne nur durch außergriechische Belege alle Zweifel an der innergriechen Überlieferung zerstreuen. Daher verifizierte J. Latacz ausführlich die Namen Troia und Ilios, hob die Bedeutung des luwischen Siegels her22

Strabon 9, 2, 8 (p. 403 C).

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vor, erörterte das Verhältnis Troias zu den Hethitern an Hand des Staatsvertrages zwischen Muwatalli II. und seinem Vasallen Alexandu von Wilusa 23, und brachte schließlich den sog. Tawagalawa-Brief des Hethiterkönigs Hattusili III. an den König von Achijawa ins Spiel, in dem sich der König der Hethiter über offenbar von Mykene gedeckte Aktivitäten des Aufrührers Pijamaradu an der kleinasiatischen Westküste beschwert. 24 Dass all diese mühsamen Umwege nunmehr nicht mehr nötig sind, hat J. Latacz selbst durch seinen Rückgriff auf die Linear-B Tafeln von Theben zu Bewusstsein gebracht. Der Satz, die Tafeln trügen nichts bei zur Verifizierung des Troianischen Krieges, gilt nicht mehr; im Gegenteil, die Tafeln haben Homer auch als »Historiker« vollständig rehabilitiert. Damit genügen authentisch griechische Beweise, um das Kerngeschehen um Troia als Tatsache abzusichern. Neben dem entscheidenden Beitrag zur äußeren Beweissicherung gebührt den Tafeln von Theben also auch das damit einhergehende Verdienst, dass sie die Erörterung der Frage nach der Authentizität Homers endgültig regräzisiert und vorderasiatische Umwege entbehrlich gemacht haben. Diese Überlegungen zu Homer sollten demonstrieren, dass er für die Griechen eine in keiner Weise anfechtbare Autorität darstellte. Für Herodot (2, 53) und Platon (Politeia 606 E) war er ohne Einschränkung Lehrer und Erzieher der Griechen. Von Homer kannten sie ihre eigene Geschichte und übrigens in einem damit auch ihre Götterwelt, weil diese bei ihrer Geschichte stets eine tragende und lenkende Rolle spielte. Zudem war Homer politisch nach wie vor aktuell, als er ausgesprochen oder unausgesprochen allen denjenigen als Zeuge diente, die den gemeinsamen Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der Griechen untereinander beschworen und hilfsweise die »Barbaren« als gemeinsamen Gegner in Anspruch nahmen. Diese Überzeugung teilte auch Platon und beklagte zugleich, dass Griechen in den bedeutenden Heiligtümern immer noch den Göttern mit Weihegaben für Siege dankten, die sie über andere griechische Gemeinden errungen hatten. 25 Homer war eine unumstrittene Autorität von klassischem Rang; und als solchen nahmen ihn Platon und Chrysipp ernst, als sie auf seine Götterlehre eingingen, ohne sich von den Aspekten der »kriti23 24 25

J. Latacz, Troia und Homer, Leipzig 22004, S. 131–149. Ders., ebd. S. 153–155. Platon, Politeia 469 E/470 A.

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schen Geschichtsschreibung« stören zu lassen, die sich auch zu ihrer Zeit schon zu Wort meldete. Zweifel an Homers historischer Zuverlässigkeit wurden seit Ephoros, dem Historiker des vierten Jahrhunderts, zumindest indirekt geäußert, sofern er seine Universalgeschichte erst mit der Rückkehr der Herakliden, also nach dem Fall Troias beginnen lässt. 26 Ephoros war kein Einzelfall; denn das von ihm geprägte Methodenbewusstsein beherrschte die hellenistische Geschichtsschreibung, wie wiederum bei Varro (116–27) überliefert ist, der eine ungewisse Epoche (ἄδηλον intervallum temporis) bis zur ersten Sintflut unter Ogyges unterscheidet, auf die die mythische bis zum Einsetzen der Olympischen Siegerliste (776) und danach die historische (ἱστορικόν) folgten. Die Epoche vor 776 habe viel Sagenhaftes (fabulosa) hinterlassen, während die Ereignisse der Epoche danach von wahrer Geschichtsschreibung (verae historiae) dargestellt würden. 27 Nun kannten die hellenistischen Historiker, soweit es Homer betrifft, weder die Ausgrabungsergebnisse vor Troia aus unserer Zeit noch die Linear-B Tafeln aus mykenischer Zeit. Aber Platon und Chrysipp hätten sich selbst dann nicht vom methodischen Vorgehen der Historiker beeindrucken lassen, wenn ihnen dieser Schwachpunkt bekannt gewesen wäre. Für sie war in erster Linie interessant, welche richtungweisende Bedeutung Homer für das kollektive Bewusstsein der Griechen hatte, das sie nicht hätten haben können, wenn sie an seiner Tatsachentreue gezweifelt hätten. Im Übrigen interessierten sich Platon und Chrysipp auch weniger für den gleich auf den ersten Blick ins Auge fallenden Gesichtspunkt, dass Homers Schurken – Paris, Polyphem und die Freier – allesamt gegen das Gastrecht, das älteste Institut des Völkerrechts, verstießen und dafür unter Zustimmung der Götter bestraft wurden. Auch interessierte sie nicht, dass trotz des hohen Blutzolls beide Epen versöhnlich enden – die Ilias mit der Übergabe der Leiche Hektors an Priamos und die Odyssee mit Athenas Friedensaufruf. Beide gewiss wesentlichen Details sicherten Homer noch nicht die Rolle des zentralen Bezugspunktes beim Streit um die wahre Götterlehre, den beide Philosophen Jahrhunderte später ausgetragen sollten; dazu waren beide Details zu wenig anstößig. Dramatischeres steckte dagegen im harmlos erscheinenden Halbvers des Iliasproömiums, welcher lautet: »Die Absicht des Zeus aber wurde erfüllt« (Διὸς δ’ ἐτελείετο βου26 27

Diodor 4, 1, 3. Varro bei Censorinus, De die natali 21, 1.

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λή). Es war das Provokationspotenzial dieses kommentierenden Einschubsatzes, das Homer die kritische Aufmerksamkeit der Philosophen noch lange nach seiner Zeit sichern sollte. In diesem Sinne erwiesen auch Platon und Chrysipp der Autorität Homers die Ehre, der Erstere, indem er ihn scharf zurückwies, der Letztere, indem er ihn rehabilitierte.

Platon und Chrysipp im Streit über Homers theologia »Die Absicht des Zeus aber wurde erfüllt« ist eine Parenthese, die zum Verständnis des im Proömium angekündigten Leitthemas der Ilias, des Konflikts zwischen Agamemnon und Achill, auf den ersten Blick entbehrlich wäre. Aber gleich in den folgenden Versen erweist sich die Parenthese aus dem fünften Vers des Proömiums als Fingerzeig. Denn Homer wird seine Geschichte als Handlungsablauf unter ständiger Wechselwirkung zwischen Göttern und Menschen erzählen. Wie sich aber die Absicht des Zeus tatsächlich im Geschehen vor Troia auswirkte, ist aus der Parenthese nicht abzulesen. Ihr Wortlaut trägt zum Verständnis lediglich insofern bei, als die Form ἐτελείετο Imperfekt ist. Streng genommen muss es also bei Beachtung des iterativen Aspekts heißen: Die Absicht des Zeus erfüllte sich erneut oder zu wiederholtem Male. Dies bedacht, geben im Rahmen der Kyprischen Epen gesammelte Fragmente nähere Auskunft. 1 Dort heißt es, die unter Übervölkerung leidende Mutter Erde habe Zeus, ihren Enkel, aufgefordert, er solle sie von dieser Last erleichtern. Darauf habe Zeus zunächst den Thebanischen Krieg ausgelöst, der viele Menschen das Leben kostete. Als er dann im Verfolg Blitzschläge und Überschwemmungen ins Auge fasste, sei das verworfen worden. Stattdessen habe er durch die Hochzeit der Thetis und des Peleus und durch die Zeugung der Helena die Voraussetzungen geschaffen, dass der Krieg der Griechen und Barbaren ausbrach, der zur erwünschten Erleichterung der Erde führte, weil in diesem Krieg viele Menschen ihr Leben verloren. Zur Untermauerung wird im Fragment aus dem Kypriendichter Stasimos ein Passus zitiert, der mit den Versen endet:

Die Sammlung der einschlägigen Fragmente findet sich bei Th. W. Allen, Homeri Opera, Tomus V, Oxford 1955, S. 117 f.

1

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Die Helden in Troia wurden getötet; die Absicht des Zeus erfüllte sich (erneut). Dieses Motiv findet sich keineswegs singulär in den Kyprien. Es kehrt mehrfach bei Euripides wieder. In der »Iphigenie in Aulis« (1290–1335) erscheinen als Schuldige am Troianischen Krieg Athena, Aphrodite, Hera, die Frau des Zeus, und Hermes, der Sohn des Zeus. Der Letztere hatte Paris dazu vermocht, als Schiedsrichter über die Schönheit der drei Göttinnnen zu entscheiden. In den »Troerinnen« (924–965) wird auch Zeus nicht geschont: er habe den Krieg als Sklave der Aphrodite verschuldet. In der »Elektra« (1282 f.) heißt es, Zeus habe das Bild der Helena nach Ilion geschickt, damit mörderischer Streit unter den Sterblichen ausbräche. Helena selbst verteidigt sich in der gleichnamigen Tragödie (36–41), Zeus habe sie als Mittel benutzt, um dem Wunsch der Mutter Erde nachzukommen. Im Scholion zu »Orest« (1639–1642), wo Zeus demselben Vorwurf ausgesetzt wird, heißt es, er sei tatsächlich der Forderung der Mutter Erde nachgekommen, sie von der Last die Übervölkerung zu befreien. Alle diese Verbeugungen des Euripides vor Homer bestätigen im Übrigen, dass Platon zu Recht Homer und die Tragöden in eine Reihe gestellt hat. Ihn empörte, dass die Autoren des »tragischen Zeitalters der Griechen« in den Göttern die Verursacher fast aller, mindestens aber der meisten Übel in dieser Welt sahen und damit die Menschen von aller Schuld freisprachen. Noch Hyginus, der Mythograph des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, wird in seiner 92. Fabula versichern, Zeus habe den Troianischen Krieg gezielt ausgelöst, indem er alle Götter zur Hochzeit der Thetis und des Peleus einlud, Eris aber als Einzige nicht. Homer selbst hat indes mit keinem Wort ausdrücklich erläutert, wie er die inkriminierte Parenthese in seinem Proömium verstanden wissen wollte. Er muss vorausgesetzt haben, dass sich für seine Hörer der Sinn des Halbverses von selbst verstand, zumal der Inhalt seiner Epen beweist, dass er selbst den Satz auch nicht anders verstanden haben kann. Denn dieser allgemeine Satz erfährt seine konkrete Ausführung mit den Leitthemen »Zorn des Achill« für die Ilias und »Heimkehr des Odysseus« für die Odyssee. Das leuchtet bezüglich der Ilias ohne weiteres ein, aber auch für die Odyssee. Statt mit der Heimkehr des Odysseus hätte ja Homer den Epilogos zur Ilias auch mit der ohne Verluste geglückten Heimkehr des Nestor bestreiten können. Er wählte aber die Heimkehr des Odysseus, die ebenso blutig verlief wie der Kampf vor Troia, die Handlung der Ilias. Odysseus gelangte 228 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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als Einziger nach Ithaka, nachdem alle seine Gefährten auf der Heimfahrt ums Leben gekommen waren. Auch fielen alle Phaiaken, die Odysseus nach Ithaka begleitet hatten, der Rache des Poseidon für seinen von Odysseus geblendeten Sohn Polyphem zum Opfer. Schließlich wurden sämtliche Freier der Penelope von Odysseus mit seinem Bogen getötet. Wenn es nun tatsächlich die immer schon gehegte Absicht des Zeus war, die Erde von einer zu großen Zahl menschlicher Bewohner zu befreien, konnte ihm die Bitte der Thetis im ersten Gesang der Ilias, er solle ihrem von Agamemnon beleidigten Sohn Achill Genugtuung auf Unkosten der Griechen verschaffen, nur mit Einschränkung willkommen sein. Denn er wollte ja beide Seiten dezimieren. Deshalb schwieg er auch, als Thetis ihre Bitte zum ersten Mal vortrug, und ließ sie ein zweites Mal auf sich einreden. In der Zwischenzeit dürfte er sich mit der Überlegung beruhigt haben, wenn auf der einen Seite die Krieger fielen, dann zwingend auch auf der anderen. Genau so sollte es kommen. Zufrieden konnte Zeus im Rückblick feststellen, dass bei den Kämpfen sowohl Achaier als auch Troer in großer Zahl gefallen waren (Ilias 12, 13–14). Überraschend war das nicht; denn Agamemnon hatte schon vor seinem Auszug nach Troia durch das Orakel in Delphi erfahren, beide Seiten sollten unter der Absicht des Zeus zu leiden haben (Odyssee 8, 79–82). Diese Warnung hatte Agamemnon offenbar vergessen, als er den Erfolg des Feldzuges gefährdete, indem er von Achill die Auslieferung der von diesem erbeuteten Briseis verlangte. In einer umständlich langen Rede weiß er sich schließlich ob seines Fehlverhaltens zu salvieren, sofern er nur durch Zeus verblendet Achill seine Beute entrissen habe (Ilias 19, 76– 114). In einer kurz und knapp gehaltenen Rede antwortet Achill, auch bei ihm wäre es ohne die Verblendung durch Zeus, der unter den Achaiern viele Gefallene hätte sehen wollen, wegen der Briseis nicht zu seiner Trotzreaktion gekommen, und schließt situationsgerecht mit der Aufforderung: »und jetzt lasst uns essen« (Ilias 19, 270–275). Auf der Seite der Gegner ist Hektor ebenso illusionslos, weiß er doch, dass, wie tapfer er auch immer kämpft, die planende Absicht (νόος) des Zeus jedes Mal mächtiger ist (Ilias 17, 176). Homer versetzt sich sogar in die Gemütslage des Zeus, der sich angesichts der Klagen der Menschen wegen des ihnen von den Göttern zugefügten Unheils in die Defensive gedrängt sieht und antwortet, viel Unglück erführen die Menschen doch über das festgelegte Schicksal hinaus (ὑπὲρ μόρον) selbstverschuldet, wie doch die Morde 229 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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im Haus des heimgekehrten Agamemnon zeigten, zumal er eigens Aigisth durch Hermes habe warnen lassen (Odyssee 1, 28–43). In der Tat liegt in der Odyssee häufiger der Ton auf menschlicher Eigenschuld, aber auch diese selbstverschuldeten Verstrickungen waren ja nur eine Folge der Ereignisse in der Ilias. Zudem dürfte in den Augen Homers neben dem, was das Schicksal zugelassen hatte, nämlich neben den vielen Toten während des Kampfes um Troia, der spätere Tod des Agamemnon vielleicht doch weniger Gewicht gehabt haben. So bleibt es für Homer dabei, dass die Götter ihrerseits fast Alles verschulden, das Wenigste aber die Menschen. Nahezu omnipotente Götter bedeuten, wie Agamemnon und Achill einander soeben bestätigten, einen nicht unwillkommenen Freispruch für die Menschen. Über diese Götterlehre, die von Homer und erneut vom Tragiker Aischylos 2 vertreten wurde, war Platon empört, weil sie der Mentalität der Menge oder »der Vielen« (οἱ πολλοί) genau entsprach, die weder Vernunft noch Selbstverantwortung kennen (Politeia 379 C). Ein sittlicher Staat kann nicht mit Bürgern zustande kommen, die durch Abwälzen der Schuld auf die Götter sich selbst einen Dauerfreispruch sichern, und das wiederum noch weniger, wenn auch die den Staat tragende Schicht der Wächter ebenfalls in diesem Geist erzogen wird. Nicht Zweifel wie die des Historikers Ephoros interessieren Platon, sondern seine Sorge vor Korrumpierung der Sitten durch Homers theologia, die offenbar noch einen ungebrochenen Einfluss ausübt. Vorkehrungen gegen die Gefährdung der Sitten durch eine Autorität wie die Homers trifft Platon, wenn er sich in der Politeia ausführlich mit Epos und den Tragödie auseinandersetzt, und zwar als politischer Philosoph in einer Polis, die eine Bürgergemeinde und zugleich eine Kultgemeinde ist. Die Epen und Tragödien sind nicht Literatur im Bücherregal, sondern stehen im Mittelpunkt der offiziellen Kultfeste der Stadt. Der Rhapsode Ion rezitiert Homer bei den Asklepien in Epidauros oder bei den Panathenäen in Athen. 3 Die Aufführung der Tragödien, die dem Epos in verwandelter Form zu einer Renaissance verholfen haben, erfolgt ja im Rahmen des Dionysoskultes, der an Bedeutung den Eleusinischen Mysterien nicht nachsteht. Nun verwundert es auf den ersten Blick, dass Platon im vierten Jahrhundert neben dem dauerpräsenten Homer auch noch Tragödien 2 3

Platon, Politeia 380 A. Platon, Ion 530 A–B.

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des 525 geborenen Aischylos als Gefahr sieht, die zwar in anderen Städten wiederaufgeführt wurden, aber in Athen immer nur für eine einzige Aufführung vorgesehen waren. Das hatte sich allerdings spätestens im Jahre 387/6 geändert, als Theodotos eponymer Archont war. In einer Choregenliste aus diesem Jahr heißt es, »die Tragöden hätten ein altes Drama wiederaufgeführt«. 4 In den Augen Platons hatte sich also die klassische Tragödie nicht durch einmalige Aufführung gleichsam von selbst erledigt, sondern durfte im Gegenteil immer wieder von neuem ihren Einfluss ausüben. Umso mehr sah er sich in seiner Verärgerung verpflichtet, den Kult, wenn in ihm als konstitutivem Moment des Gemeinwesens sittenwidrige Inhalte virulent bleiben, um der Sittlichkeit des Gemeinwesens willen einer philosophischen Aufsicht zu unterwerfen. Seine verbindliche Richtlinie (τύπος) gebietet den Dichtern, Gott als Ursache nur des Guten darzustellen (Politeia 379 A–B). 5 Unheil wie das der Niobe, der Atriden oder des Troianischen Krieges seien entweder nicht das Werk des Gottes, oder, wenn doch, erfolgten sie als Strafe zum Nutzen der Bestraften (ebd. 380 A–B). Die These, der Gott stehe nur für das Gute ein, während die Menschen wenig Gutes, dafür aber viel Übel anrichteten, hat Platon aus einer Naturtheorie über die Entstehung des Staates abgeleitet. Der Staat entstehe um der Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse – Nahrung, Kleidung, Behausung – willen, nähme also zunächst eine höchst frugale Gestalt an. Diese finde aber keinen Gefallen unter den Menschen, die den aufgeblähten Luxusstaat zur Befriedigung möglichst vieler nichtnotwendiger Bedürfnisse vorzögen (Politeia 372 A– 373 D). Platon ist diese Entwicklung unter didaktischem Aspekt nicht einmal unwillkommen; denn die Betrachtung der üppigen Stadt gebe anders als die frugale Stadt den Unterschied zwischen Gerecht und Ungerecht deutlicher zu erkennen und diene damit dem zentralen Erkenntnisziel der Politeia (ebd. 372 E). Denn die Ungerechtigkeit der »sündige Strukturen« auslebenden Luxusstädte besteht darin, dass sie sich zur Befriedigung ihres Strebens nach ἡδονή (voluptas/ libido) gegenseitig das Territorium zu beschneiden suchen und in dieser Absicht Kriege riskieren, aus denen den Städten privat wie öffentlich die größten Übel erwachsen (ebd. 373 E–374 A). Ursache des Publiziert ist die Inschrift bei A. Wilhelm: Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen, Wien 1906, S. 23. Später aufgenommen als IG II/III2 2318, Z. 203. 5 Vgl. Anm. 18, S. 197. 4

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Krieges ist also für Platon nicht die Absicht des Zeus, die Erde vor Übervölkerung zu schützen, sondern es sind die von den Menschen zu verantwortenden »sündigen Strukturen«. Platon belässt es nicht bei dieser Analyse, sondern zieht Konsequenzen. Die Luxusstadt benötigt unvermeidlich ein stehendes Heer (ebd. 373 D–374 A), dessen Personal die Wächter stellen (ebd. 374 E–376 E), aus denen wiederum die Philosophen als vollendete Wächter (παντελεῖς φύλακες: ebd. 414 B) hervorgehen. Beide Stände sind also notwendig, solange die Luxusstadt besteht. Der höhere beider Stände, der Stand des Philosophen, hat mindestens die Aufgabe, diese Stadt zur Redlichkeit zu nötigen, indem sie erkennt, wo das Gute wirklich angesiedelt ist und wer wirklich für die Übel dieser Welt verantwortlich ist. Verweigert sie sich dieser Einsicht und gestattet nicht die geistige Bildung des staatstragenden Standes der Wächter im Sinne einer philosophisch gereinigten Dichtung und lässt im Einklang damit die Philosophen nicht Könige werden, dann ist auch kein Ende der Übel zu erwarten (ebd. 473 D–E). Das hiesige Korrelat des Guten als des kosmischen Weltgrundes ist nach philosophischer Überzeugung das Gerechte und auf keinen Fall, wie die Menge glaubt, die Lust, da es ja jederzeit schlechte Lüste geben kann – mit der Folge, dass dann Gut und Böse nicht unterscheidbar wären (ebd. 505 A–C). Wenn nun der Wächter in der Polis das Gerechte als das wahrhaft Gute schützen soll, muss ihm die Einsicht in das Wesen des Guten vermittelt werden (ebd. 505 D–506 B). Wenn er demgemäß für das Gerechte in der Polis eintritt, ist er sich bewusst, im Einklang mit den nur Gutes verursachenden Göttern zu handeln, und wird zugleich seinen Mitbürgern, die ja für wenig Gutes, aber viele Übel verantwortlich sind, mit dem gehörigen Misstrauen begegnen. Wenn nun Homer im Odeion und Aischylos im Theater diese Dienstvorschrift der Wächter konterkarieren, trifft sie nicht von ungefähr Platons Zorn. Platon hat mit seiner Kritik an Homer und den Tragöden deutlich gemacht, dass die leichtsinnige Luxusstadt, die durch eine zweckdienliche theologia lästige Einsichten in das wahrhaft Gute verdrängt, nicht mehr dem zu seiner Zeit erreichten Niveau von Weisheit und Wissenschaft entspricht. Unbedingt festgehalten hat aber Platon an der herkömmlichen Einheit der Polis als bürgerlicher und zugleich kultischer Gemeinde. Politisches Handeln und der Blick auf das Gute als den göttlichen Weltgrund konvergieren. Der Wächter, der in diesem Sinne den Vorgaben des Philosophen folgt, kann sich darauf ver232 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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lassen, dass er zugleich seinen politischen und seinen kultischen Pflichten genügt. Denn es ist der Gott, der das Gute verkörpert und niemals willentlich ein Übel wie den Krieg über die Menschen hereinbrechen lässt. Die Menschen selbst, die die aufgeblähte Stadt wollen, sind die Ursache eines Übels, wie es der Krieg darstellt, und sie selbst können durch Frugalität die Heimsuchung durch dieses Übel verhindern. Das Tragische an Platons theologia ist dies, dass mit seinem Gott, der menschliche Übel nicht auslöst, aber eben auch nicht verhindert, später die mit dem Herrscherkult verehrten Könige geradezu überschneidungsfrei koexistieren konnten. Diese dienen sich ihren Untertanen als Kümmerer und Fürsorger an und könnten allenfalls von Göttern in den Schatten gestellt werden, die sie in der Fürsorge für die menschlichen Angelegenheiten ersichtlich überträfen. An dieses Risiko, das besteht, wenn den Göttern eine solche Zuwendung nicht bescheinigt wird, hatte Platon noch nicht gedacht, da der Herrscherkult zu seinen Lebzeiten noch nicht gepflegt wurde. Ohne Arg begnügt sich Platon mit der allgemeinen Feststellung, dass durch die providentia des Gottes die Welt ein beseeltes und vernunftbegabtes Lebewesen sei (Timaios 30 B–C), und in den Nomoi (885 B), dass schon Atheismus vorliege, wenn man zwar die Existenz der Götter nicht leugne, aber ihnen die providentia abspräche. Der Atheist leugnet also die im Timaios anerkannte Vorleistung des die Welt nach idealem Vorbild herstellenden Gottes, die dieser längst erbracht hat. Danach müssen sich die Menschen ihrerseits sehr wohl am Gott als Maßstab des Guten orientieren, während von diesem, wenn man vom Sonderfall des sokratischen daimonion absieht, keine weitere Zuwendung zu den Menschen mehr zu erwarten ist. Ähnlich wie für Platon ist auch für Aristoteles der Gott ein Wesen, das das absolute Richtmaß verkörpert. Wenn die Götter sich überhaupt um die Menschen kümmern, dann dürften ihnen die Philosophen am liebsten sein, weil sie das Göttliche in sich, eben die Vernunft am intensivsten pflegen. 6 Die christliche Vorstellung von der Liebe Gottes ohne sozialen Vorbehalt ist noch außer Sichtweite. Aber selbst die begünstigten Philosophen genießen ihre Bevorzugung nur mit der Einschränkung, dass sie sich von sich aus an den Göttern orientieren, aber nicht in umgekehrter Richtung irgendwelche Wohltaten von ihnen erwarten. Entsprechend bewegt jenes selbst unbe6

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1179 a 22–32.

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wegt Bewegende permanent die bewegten Dinge 7 nicht wie ein Liebendes, sondern ausdrücklich wie ein Geliebtes. 8 Diese Selbstbezogenheit des Gottes bestätigt auch seine zweite Bestimmung als »Denken des Denkens« (νόησις νοήσεως), weil Inhalt seines Denkens nur das Höchste, also nur er selbst sein darf. 9 Dieser Gott lebt allerdings nicht in epikureischen Intermundien, sondern liegt dieser bestimmten Welt als Richtmaß zugrunde. Denn mit seiner Ausgewogenheit ohne falsche Ausschläge dient er in der Ethik der vernünftigen Mitte (μεσότης) zwischen falschen Extremen zum Vorbild und in der Politik dem von Aristoteles so geschätzten Mittelstand (οἱ μέσοι) sowie der Absage an aggressive Dauerkrieger. Gegen die Dynamik des Herrscherkultes hätte das Gottesverständnis der beiden Klassiker nichts ausrichten können. Die Herrscher hatten mehr zu bieten als bloßen Richtmaßcharakter, der wenig greifbaren Nutzen brachte. Deshalb mussten zurückhaltende Götter, die sich sogar von sich aus ins Abseits stellten, den hellenistischen Herrschern geradezu willkommen sein. Aus der Stadt verdrängte Götter gleichsam mit unterschriebener Abdankungsurkunde hatten ihren bislang unangefochtenen Status der Allmacht eingebüßt. In dieser Krise der Götter sah Chrysipp ein Problem, dem er sich entschlossen stellte. Er bestand darauf, dass die Götter nach wie vor die allen irdischen Herrschern überlegene Macht verkörperten, wenn anders die wahre und allumfassende providentia nachweislich von den Göttern ausgehe und nicht von den hiesigen Herrschern. Zugleich erkannte aber Chrysipp, dass das Testat göttlicher Allmacht nicht haltbar ist, wenn sie sich, wie Platon will, auf die Verkörperung lediglich des Guten beschränkt. Zur Allmacht der Götter gehört auch, wie gesagt, ihre Verantwortung für all das, was zumindest aus menschlicher Perspektive ein Übel ist. Chrysipp musste sich mit dem Gedanken anfreunden, Homer gegen Platon Recht zu geben. Die zunächst unproblematische providentia-Lehre bedurfte der Ergänzung durch eine Theodizee, die sich den aus der Kritik am Herrscherkult erwachsenden Schwierigkeiten stellte. Platons Freispruch der Götter war also nur vor Einsetzen des Herrscherkultes möglich. Die bestimmte hellenistische Institution des Herrscherkultes widerlegte die uneingeschränkte Gültigkeit seiner theologia. 7 8 9

Aristoteles, Metaphysik 1012 b 30 f. Ebd. 1072 b 3–4. Ebd. 1074 b 33–34.

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Die Stoiker verwiesen auf Homer keineswegs, um sich sogleich schon auf der höheren Schwierigkeitsstufe Unterstützung zu sichern. Sie sahen in Homer durchaus auch einen Anreger, soweit es die harmlose Seite ihrer providentia-Lehre betraf: Denn bei Homer redeten die Götter untereinander über menschliche Angelegenheiten und begleiteten sie auf Erden, indem sie zu ihnen hinabstiegen. Zeus hätte Mitleid mit den Troern (Ilias 20, 20 f.) oder mit dem von Achill um die Stadt gejagten Hektor gehabt (Ilias 168 f.) – so notiert der unter Plutarchs Namen überlieferte Autor einer Schrift De Homero. 10 Bei Cicero führt der Stoiker Balbus an, bestimmte Götter stellten sich bei Zweikämpfen den Helden Odysseus, Diomedes und Achill zur Seite. 11 Aber bei dem Streit zwischen Platon und Chrysipp ging es ja nicht um harmlose Götterfürsorge für einzelne Sterbliche. Die providentia-Lehre musste sich gegen den schwerwiegenden Einwand behaupten, dass die allzuständigen Götter, die über den kultisch verehrten Herrschern standen, konsequenterweise auch für alle Übel der Welt in die Verantwortung zu nehmen waren. Die providentia-Lehre war nur zu halten, wenn sie ihre Ergänzung um die Theodizee unbeschädigt überstand. Das war schon schwer genug, obwohl aus der Verlegenheit, dass die Allmacht der Götter möglicherweise nur zu retten war auf Kosten ihrer moralischen Belastung, der heidnische Polytheist Chrysipp leichter zu entkommen vermochte als später der christliche Monotheist Lactantius. Chrysipp musste sich nur an die stoische Unterscheidung von Weisen und Toren erinnern und diese Unterscheidung auf die Götter übertragen, so zwar allerdings, dass anders als bei den Menschen unter den Göttern eine Vielzahl eine akzeptable Rolle spielte, aber nur wenige eine inakzeptable. Gemäß dieser Vorgabe konnte Chrysipp im Rahmen seiner theologia naturalis Zeus – nach wie vor Retter und Vater von Recht, Sittlichkeit und Frieden 12 – als inkarnierte Weltvernunft feiern und neben ihm viele andere wie Hera, Hermes und Demeter zu nützlichen Gottheiten erklären, zu schädlichen dagegen lediglich die Erinnyen, die Rachegöttinnen (Ποιναί) und den Kriegsgott Ares, die als widerwärtig und gewalttätig zu verabscheuen seien. 13 Bedenkt man, dass Ares der [Plutarchi] De Homero, ed. J. F. Kindstrand, Leipzig 1990, Teil 2 § 115. Kommentiert ist die Schrift von M. Hillgruber, Die pseudoplutarchische Schrift De Homero, Beiträge zur Altertumskunde 57/58, Stuttgart/Leipzig 1994. 11 Cicero, De natura deorum 2, 166. 12 SVF II 1177. 13 SVF II 1009. 10

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Sohn des Zeus und der Hera ist, so präludiert immerhin Chrysipp mit der Klassifikation des Ares den weitaus komplizierteren theologischen Überlegungen, aufgrund derer Lactantius dem Allmächtigen seine Allmacht bestätigt, ohne ihn – dem Teufel sei Dank – zugleich für alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Es lag offenbar in der Konsequenz der philosophischen Antwort der Stoa auf den Herrscherkult, dass Chrysipp Homer gegen Platon rehabilitierte. Dass in Chrysipps Version Ares und nicht Zeus das Übel des Krieges auslöst, ist eine interpretatorische Freiheit, die zwar Homers Wortlaut verfehlte, aber nicht an seinen Grundsätzen rüttelte. Chrysipp selbst hätte seine leichte Modifikation auch nicht als Widersetzlichkeit gegen Homer empfunden; denn laut Bericht des Philodemos versuchte er ebenso wie Kleanthes alles, was er bei Musaios, Homer, Hesiod, Euripides und anderen Dichtern vorfand, mit den eigenen Lehren in Einklang zu bringen. 14 Bei diesem Bemühen spricht es für die Redlichkeit Chrysipps, dass er in seiner Argumentation gerade das heikle Kriegsthema nicht übergeht. Unglücklicherweise erfahren wir Chrysipps diesbezügliche Ausführungen aus Plutarchs Schrift De Stoicorum repugnantiis (περὶ Στωικῶν ἐναντιωμάτων), in der es der Autor als Platonfreund in akademischer Manier genießt, den Stoikern Widersprüche gegen ihre eigenen Prinzipien nachzuweisen: Wie Staaten sich gegen Übervölkerung durch Koloniegründungen oder Eroberungskriege wehrten, so löse Chrysipp zufolge auch Gott Zerstörungen (unter den Menschen) aus; er führe Euripides und andere als Zeugen dafür an, dass die Götter den Troianischen Krieg angezettelt hätten, um der Übervölkerung der Erde entgegenzuwirken. Diesen Bericht beschließt Plutarch mit der Kritik, Chrysipp verbinde zwar die Götter mit schmückenden Epitheta, beschreibe aber ihre Taten als barbarisch; insbesondere habe er gegen die angeblich fürsorglichen Götter nicht den Einwand vorgetragen, sie hätten doch die Kriegsursachen auch von vornherein ausschließen können; stattdessen lasse er die Götter als Mittäter bei Gesetzwidrigkeiten erscheinen. Wie also Platon die Disqualifikation der Götter durch Homer anprangert, so Plutarch die durch Chrysipp (Moralia 1049 B–E). Plutarch ist auch Gewährsmann dafür, dass sich die Stoiker sogar häufig ausdrücklich auf den homerischen Halbvers »die Absicht des Zeus aber wurde erfüllt« bezögen. Sogleich bemerkt er dazu kom14

SVF I 539.

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mentierend, dass Gott dann Komplize des Schändlichen werde, wenn auch nur der geringste Fehltritt im Einklang mit seinem Willen erfolge. Chrysipp gewähre dem Laster Zutritt, und das nicht im Sinne einer (ungewollten) Notwendigkeit, sondern im Einklang mit Gottes Vernunftabsicht und der bestmöglichen Natur (Moralia 1059 B–C); hätte Chrysipp da nicht besser sagen sollen, es sei Ausdruck der Schwäche des obersten Gottes, wenn viele Übel gegen seinen Willen einträten, als zu sagen, es gäbe keine Heimtücke und Übeltat, für die Zeus nicht verantwortlich ist (Moralia 1076 F)? 15 So weit Plutarch.– In Ermangelung entsprechender Überlieferung können wir nicht wissen, wie Chrysipp selbst seinen einschlägigen Text formuliert hat; immerhin fällt aber auf, dass Plutarch die Nachricht des Aëtios unberücksichtigt lässt, Chrysipp habe nicht Zeus, sondern Ares für die Kriege verantwortlich gemacht. 16 Und Plutarch würdigt auch nicht Chrysipps Redlichkeit bei der Verfolgung seines Leitgedankens, die Allmacht der unsterblichen Götter, wenn sie auch nur bedingt rühmlich erscheint, gegen die Anmaßung menschlicher Möchtegerngötter zu verteidigen. Plutarch argumentierte auf der Ebene theoretischer Logik ohne Rücksicht auf das sittliche Interesse an der providentiaLehre der Stoiker. Dagegen hat der Akademiker und Senator Cicero, für den die providentia-Lehre der Stoiker von staatstragendem Charakter war, deren heikle Konsequenzen, die der Akademiker und Delphipriester Plutarch herausarbeitete, kurzerhand ausgeklammert. Von Ciceros sechs Paradoxa Stoicorum schneidet keines das brisante Thema an. Und die Einwände, die der Akademiker Aurelius Cotta in Ciceros De natura deorum kaum abweichend von Plutarch vorträgt, werden gar nicht erst entkräftet, da die Unterredner, beruhigt durch die Selbstsicherheit des praktischen Bewusstseins, fest darauf vertrauen, die Einwände seien ohnehin leicht zu widerlegen. Platon hatte einen begrifflich konsistenten Vernunftstaat entworfen, der, wie er mit guten Gründen annehmen konnte, dem intellektuellen Niveau seiner Zeit entsprach. Da der Kult integraler Bestandteil dieses Staates war, sah sich Platon genötigt, die Götter bei gleichzeitiger Distanzierung von Homers theologia auf dasselbe Niveau wie die übrigen staatlichen Institutionen zu heben, auf dem die Götter in ihrer Richtmaßfunktion weniger anfechtbar walten konnten. Dass diese Entlastung angesichts des Siegeszuges des Herrscher15 16

Die Plutarchzitate finden sich auch unter SVF II 937. Vgl. Anm. 13, S. 235.

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kultes ausgerechnet zu einer Schwächung der Götter führte, konnte Platon nicht vorausahnen. Die Stoiker, die keinen Grund sahen, die unsterblichen Götter gegen Homers Darstellungen in Schutz zu nehmen, sondern diese ausschließlich gegen die Anmaßungen des Herrscherkultes verteidigten, konnten nicht umhin, Homer, den Platon schon glaubte unschädlich gemacht zu haben, erneut auf den Thron zu heben, weil er den Göttern jene auch die Übel einschließende Omnipotenz zugestand, ohne die der Vorrang des Götterkultes über den Herrscherkult nicht haltbar wäre. Akademie und Peripatos hatten schon durch das Versagen des Demetrios Phalereus samt Folgen für Stadt und Schule einen Rückschlag erlebt, der den Stoikern auf dem Felde der praktischen Vernunft die philosophische Meinungsführerschaft bescherte. Nun führte das akademisch-peripatetische Setzen auf den Gott des Richtmaßes, den der Herrscherkult mühelos unterlaufen konnte, zu einer Korrektur auch im Felde der spekulativen Vernunft. In beiden Fällen war nicht schulinternes Weiterfragen, sondern ein außerschulisches Ereignis Auslöser der Zurückweisung der einen Theorie durch eine andere. Das erstere außerschulische Ereignis, auf das ja die Stoiker mit ihrer Sezession aus der politischen Öffentlichkeit antworteten und das diese zugleich nötigte, umso entschiedener in der »bei ihnen liegenden Sphäre« Herr der Dinge zu bleiben, führte schließlich auf Umwegen noch zu einer weiteren Differenz der Schulen, die den Stellenwert der Lehre von der tragischen Katharsis betraf. Während nämlich durch das einfache Mittel der Sezession die Autonomie des Weisen gegenüber dem Druck äußerer Mächte zureichend gesichert erschien, wurde den Stoikern nach und nach bewusst, dass verführerische Affekte, die ebendiese Autonomie von innen her bedrohen, ein bei weitem größeres Risiko darstellen und dass dementsprechend auch deren Kontrolle bei weitem schwieriger ist. Unter diesen Umständen erscheint mit gutem Grund die Frage nach der Bändigung der Affekte sogar als Hauptthema der stoischen Ethik. Anders als die tragische Dichtung wird diese Ethik sich niemals damit begnügen, den Affekten alljährlich beim Dionysoskult dank kathartischer Wirkung als Ventil zu dienen und zu hoffen, dass deren bald darauf eintretende Neutralisierung für ein ganzes Jahr hält. Für die stoische Ethik, in deren Augen das Setzen auf kathartische Affektabfindung als purer Leichtsinn erscheint, wird vielmehr die Frage, wie den Affekten zu begegnen ist, zwingend zum zentralen Dauerthema in therapeutischer Absicht. Auch die Lehre der Stoiker von den Affekten ist also 238 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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ein erweitertes Eingehen auf Probleme, die sie letztlich der ihnen aufgenötigten Sezession verdanken. Mag die Philosophie noch so sehr eine Sache der Schulen geworden sein, ihr gattungsspezifisches Weiterfragen läuft hinaus auf ein Ringen um Antworten, deren Auslöser jeweils außerhalb der Schule zu suchen sind.

Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von den Affekten Auf die oft gestellte Frage, ob es besser sei, Affekte in Maßen zu dulden oder gänzlich zu verdrängen, antwortete Seneca, die Peripatetiker suchten sie zu mäßigen, während die Stoiker den Bannstrahl gegen sie richteten. 1 Dieselbe Differenz der Schulen bestätigt Cicero: Die Peripatetiker glaubten, dass die Menschen den Affekten (perturbationes animi) unvermeidlich ausgesetzt seien und dass es daher genügen müsse, ihnen Grenzen zu setzen, die sie nicht überschreiten dürften; dagegen seien die Stoiker überzeugt, auch ein in Grenzen geduldeter Affekt bleibe noch ein gefährlicher Infektionsherd. 2 In der Tat betrachteten die Stoiker den Affekt als Krankheit der Seele, sofern dieser die seelische Gesundheit in der Gestalt sich selbst behauptender Autonomie des Weisen gefährde, und sind daher nicht bereit, sich der unbekümmerten Haltung der Peripatetiker anzuschließen. Um nun das Besondere der stoischen Lehre von den Affekten herauszuarbeiten, sei gleichsam auf Anraten Ciceros und Senecas zuvor als Folie die von den Stoikern abweichende Argumentation der Peripatetiker umrissen. Wendet man sich in dieser Absicht an Aristoteles, so fällt auf, dass er die Affekte in seiner Schrift »Über die Seele« wohl rein deskriptiv kurz streift, aber nirgends eine von diesen ausgehende Gefährdung des seelischen Gleichgewichts erkennt. In der Ethik erwähnt Aristoteles ähnlich gelassen die Affekte als Störfaktor, dem mit energischem und zielbewusstem Handeln zu begegnen ist. 3 Er sieht in den Affekten keineswegs ein brisantes Thema; sie interessie-

1 2 3

Seneca, Epistulae 116, 1. = SVF III 443; vgl. auch III 444. Cicero, Tusculanae disputationes 4, 38–42. Aristoteles, NE 1095 a 4.

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ren ihn aber mit dem Ziel begrifflicher Differenzierung auf der Suche nach der besonderen Gattung, der die Tugend zuzuordnen ist, nämlich dem Habitus (ἕξις); denn es sind die Affekte, die zu einer vom Habitus grundverschiedenen Gattung gehören. In diesem Zusammenhang gibt Aristoteles zwei Bestimmungen der Affekte, dass sie nämlich im Gegensatz zur Tugend nicht auf Selbstbestimmung (προαίρεσις) beruhen, dass sie aber, darin mit den Tugenden übereinstimmend, die rechte Mitte treffen müssen, sofern wir uns im Zorn nicht richtig verhalten, wenn er zu stark oder zu schwach ist. 4 Der ersteren Bestimmung konnten die Stoiker zustimmen, die letztere bestätigt das Urteil Ciceros und Senecas. Als eigenständiges, streitiges oder gar gefährliches Thema hat Aristoteles die Affekte ganz offenbar weder in der Lehre von der Seele noch in der Ethik angesehen. Diese nicht sonderlich engagierte Haltung gegenüber den Affekten gab Aristoteles allerdings in einem Fall auf, als er auf deren Rolle bei der Manifestation der tragischen Katharsis auf der Bühne einging. Zu diesem Thema Farbe zu bekennen, hatte ihn sein Lehrer genötigt; Aristoteles musste sich mit dem Verbotsurteil auseinandersetzen, das Platon im X. Buch der Politeia gegen die tragische Dichtung wegen skrupelloser Anbiederung an die affektiven Bedürfnisse der Menge verhängt hatte. Das Besondere der stoischen Affektlehre erschließt sich füglich nicht ohne Bezugname auf Aristoteles und dessen Position wiederum nicht ohne Bezugnahme auf Platon. Damit sind die weiteren Schritte der Darstellung vorgezeichnet. Die tragische Katharsis als ungehemmte Hingabe an die Affekte Furcht und Mitleid bei abschließend erleichternder Abfindung derartiger Affekte kommt in dieser begrifflichen Präzisierung bei Platon noch nicht vor. Das Phänomen Katharsis indes, das Platon als bekannt voraussetzt, hatte er sehr wohl schon im Auge, und zwar als Moment der Bedrohung der öffentlichen Sittlichkeit. Auf Zustimmung zu diesem Urteil konnte Platon unter seinen Zeitgenossen kaum rechnen, wohl aber auf Übereinstimmung, soweit es die wertfreie Darstellung des äußeren Erscheinungsbildes der kathartischen Ekstase betraf. Der Redner Gorgias schreibt der Rede die Fähigkeit zu, Furcht zu beenden, Trauer aufzulösen, Freude zu bereiten und Mitleid zu verstärken. Ebenso dringe die Dichtung in die Gemüter der Zuhörer ein und löse angesichts fremden Unheils angstgeprägte Schauder (φρίκη

4

Aristoteles, NE 1105 b 19–1106 a 13.

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περίφοβος), tränenreiches Mitleid (ἔλεος πολύδακρυς) und sehnsüchtiges Trauerverlangen (πόθος φιλοπενθής) aus. 5 In seinem nach dem Rhapsoden Ion genannten Dialog gibt Platon zu erkennen, dass die von Gorgias beschriebene Wirkung sowohl den vortragenden Sänger als auch sein Publikum betrifft. Ion räumt ein, er gerate beim Rezitieren trauriger und schrecklicher Szenen außer sich und sei ganz und gar bei den Ereignissen, gleich ob sie sich in Ithaka oder Troia oder anderswo abspielten. Seine Augen füllten sich dann mit Tränen, seine Haare sträubten sich und sein Herz poche (535 C). Dasselbe beobachte er auch bei seinem Publikum, das bei derartigen Szenen ebenfalls weine, furchtbar dreinblicke und mitgerissen sei. Im Übrigen müsse er auch darauf achten, weil es ihn sein Honorar koste, wenn sie lachten, statt zu weinen (535 E). Quintilian bestätigt Ion. Als erfahrener Redner weiß er, dass er bei den Richtern nur dann den gewünschten Affekt etwa der Empörung auslösen kann, wenn er insbesondere den Schluss seiner Rede selbst innerlich durch und durch empört vorträgt. Entsprechendes habe er bei Schauspielern beobachtet, die sogar noch weinten, als sie ihre Maske schon ablegt hatten (6, 2, 35). Auch entfalte das Wort des Schauspielers ohne Maske viel weniger affektive Wirkung als dasselbe Wort des Schauspielers mit Maske (6, 1, 26). Die mit dem Affekt verbundene Identifikation mit dem Helden auf der Bühne gelingt also auch deswegen, weil dank Maske eine Brechung verhindert wird, die unvermeidlich eintritt, sobald man hinter der dramatis persona zugleich noch den bestimmten Schauspieler erkennt. Dass für den Rhetoriklehrer Quintilian die Affekte nicht Gegner, sondern nützliche Helfer sind, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. Wesentlich ist, dass er den Rhapsoden Ion darin bestätigt, dass sowohl der Schauspieler als auch das Publikum selbstvergessen von den Affekten durchdrungen sind. In Platons Politeia spielte indes die innere Verfassung der wenigen Schauspieler und Rhapsoden keine Rolle. Wohl weil dieser Gesichtspunkt wegen der geringen Zahl der Betroffenen politisch nicht relevant erschien, überging ihn Platon sowohl bei seinem großen Paukenschlag in Buch X als auch zuvor in den Büchern II und III, als er die Bildung der Wächter im Medium des homerischen Epos und

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Gorgias 82 B 11 §§ 7–8.

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der Tragödien in ausführlicher Begründung untersagte. 6 Dort interessierte ihn in einem ersten Zugriff die Integrität des Wächterstandes, als er pauschal Darstellungen der Schrecken des Hades verbot, die die Wächter schaudern (φρίττειν) und dank solchen Schauderns (φρίκη) weichlich machten. Auch lässt Platon Szenen streichen, in denen namhafte Männer in Klagen und Jammern über den Tod anderer Helden ausbrächen, weil das die Wächter nur zur Todesfurcht verleite (387 B–E). Platon verwarf also tragische Stoffe im Blick auf die Wächter als Adressaten, weil die Gefahr bestand, dass einschlägige Szenen in deren Gemütern schädliche Affekte wie Furcht und Mitleid auslösten. Entsprechend galt auch Platons Augenmerk, als er in einem zweiten Zugriff im X. Buch erneut den Bannstrahl gegen die tragische Wirkung richtete, nicht der inneren Verfassung der Schauspieler, sondern der affektiven Reaktion der gesamten Bürgerschaft als des gefährdeten Theaterpublikums. Nachdem Platon die Gründung seiner idealen Stadt in Gedanken soeben abgeschlossen hatte, besann er sich in der Rückschau auf die Bedeutung seines Entwurfs und verbannte als unvermeidliche Konsequenz Homer und seine tragischen Nachfolger aus der Stadt. Denn nachdem die Unterredner über die Seelenteilung Einigung erzielt hätten, dürfe die Dichtung, soweit sie mimetisch sei, in der Stadt nicht mehr zugelassen werden (595 A–C). Mit diesem Schritt hat Platon keineswegs gleichsam sein Thema verfehlt; im Gegenteil, die Politeia als politisches Manifest, das sich auf eine politische und zugleich kultische Gemeinde wie die griechische Polis bezieht, muss zwingend auch den Anteil des öffentlichen Kultes in ihre Überlegungen einbeziehen. Das betrifft nicht zuletzt die Homerrezitation, die Bestandteil etwa der Asklepien in Epidauros oder der Panathenäen ist 7; und das betrifft nicht minder die Tragödien, die den Mittelpunkt des Dionysoskultes bilden. Ein wenig überraschend ist indes die Begründung, die auf die Seelenteilung und den mimetischen Charakter der Dichtung abhebt. Die traditionelle Bestimmung der Dichtung als imitatio, das lateinische Wort für Mimesis, hilft zum Platonverständnis noch nicht weiter; denn für ihn bezeichnet Mimesis nicht Dichtung in Form von nachahmender Literatur, sondern in Form von sinnlich-physischer Vgl. hierzu das vorige Kapitel: »Platon und Chrysipp im Streit über Homers theologia«. 7 Platon, Ion 530 A–B. 6

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Präsenz, verkörpert durch das Auftreten rezitierender Rhapsoden oder deklamierender Schauspieler auf der Bühne. In dieser Form täuscht die Dichtung, auf einer Stufe mit der Malerei, Nichtwirkliches vor, als sei es Wirkliches, und das auch noch mit Anspruch. Diese Bestimmung erklärt die Bezugnahme auf die Seelenteilung. Denn der natürliche Adressat dieser Täuschungskunst ist der untere Seelenteil mit seiner angeborenen Distanzlosigkeit, wie sie gerade für die Menge typisch ist. 8 Hätte Platon also ein Verbleiben der mimetisch bestimmten Dichtung in seiner Stadt geduldet, so hätte er eine sogar auch noch kultisch beglaubigte Unterminierung der unter großer Mühe erreichten Stadt der Vernunft befürchten müssen. Die Dichtung erscheint in den Augen Platons als subversive Größe, wenn anders sie als ihren Adressaten immer wieder die Menge in ihrer gattungstypischen Verkennung des vernünftig Angemessenen auch noch bestärkt. 9 Es hätte also nicht genügt, lediglich den Wächtern die Beschäftigung mit Homer und den Tragikern zu untersagen, wenn die übrigen Bürger in ihrem alltäglichen Leben dem die Vernunft desavouierenden Lustprinzip weiterhin gefrönt hätten. Platons größter Vorwurf betrifft nun die unmittelbare Wirkung der dichterischen Täuschung, nämlich die Auslösung von Furcht und Mitleid. Als Bezugsterminus erscheint bei Platon, wie gesagt, noch nicht die Katharsis, aber der Sache nach bezieht er sich auf das damit gemeinte Phänomen: Das Publikum reagiere weinerlich angesichts auf der Bühne dargestellten Unglücks, nehme das Geschehen vorbehaltlos ernst und lasse nur den als wahren Dichter gelten, der den Drang nach dem Genuss des Weinens befriedige (605 C–606 B). Wenn aber weiterhin die süßliche Muse in der Stadt den Ton angeben darf, dann werden Lust und Unlust statt Vernunft und Gesetz in der Stadt herrschen (607 A). Dass diese Befürchtung nicht zu weit hergeholt ist, unterstreicht Platon mit seinem Tadel, dass keine öffentliche Rede auf mitleiderregende Einlagen (ἐλεεινολογία) verzichte (Phaidros 272 A); umgekehrt hält sich Sokrates in seiner Apologia (35 B) eigens zugute, dass er nicht seine ganze Familie vor Gericht habe auftreten lassen, um durch solche mitleiderregenden Tragödienszenen (τὰ ἐλεεινὰ ταῦτα δράματα) die Richter zu Tränen zu rühren. Die Dichtung verantwortet mithin qua Mimesis durch VorspieZu der aus Platons Sicht Unheiligen Allianz zwischen Aischylos und der Menge siehe auch oben Anm. 2, S. 230. 9 Vgl. Platon, Politeia 605 A und 606 D. 8

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gelung des Nichtwirklichen eine nutzlose Täuschung und qua jener affektiven Wirkung, die später neutral Katharsis heißt, einen schweren sittlichen Schaden; und dieser Schaden betrifft nicht die Autonomie des einzelnen Weisen, sondern die Herrschaft der Vernunft in der ganzen Stadt. Wer sich voller Furcht und Mitleid mit dem gestürzten Helden weinend identifiziert, der setzt auch als Naturgegebenheit einen Weltgrund voraus, der von neidischen, hinterlistigen und heimtückischen Göttern bestimmt ist. Er nimmt diesen Weltgrund, der mit dem Sturz des Helden für ihn exemplarisch wird, als gegeben und unvermeidlich hin. Er weint hemmungslos, statt im Vertrauen auf das Gute als wahren Weltgrund an philosophisch angeleiteter Verwaltung eines Vernunftstaates aktiv Anteil zu nehmen. Dieses Fazit stellt Platons Dichteraustreibung als Konsequenz der Leitidee des Höhlengleichnisses dar. Legitim ist das Fazit, weil es Platons identitätsphilosophische Argumentationsweise übernimmt, deren Systematik jedes Detail in nur ein einziges einendes Prinzip einzuordnen bereit ist. Dieser Systematik gebricht es denn auch keineswegs an innerer Logik. Daher kann der Widerspruch des Aristoteles gewissermaßen nur von außen erfolgen; denn er lässt sich nicht auf Platons identitätsphilosophische Prämissen ein, sondern gesteht der Dichtung eine eigene, auf Herkommen und Tradition gegründete Richtigkeit zu, die sie von der Verpflichtung auf politische und theologische Korrektheit entbindet. Aristoteles erkennt in der mimetischen Dichtung keine politische Gefahr mehr; denn was von Dichtern wie Hesiod in mythischer Form geschwatzt werde, verdiene ohnehin nicht mehr eine ernsthafte inhaltliche Debatte. 10 Entsprechend gelassen kann daher Aristoteles auch die Affekte einordnen, die der als Tragödie präsente Mythos im Dionysostheater auszulösen pflegt. Grundlage der Salvierung der Dichtung durch Aristoteles ist seine die Katharsis und die zugehörigen Affekte betreffende Begriffsbestimmung, über der indes das praktische Resultat seiner Rehabilitierung der Dichtung, nämlich eine größere Gelassenheit gegenüber den Affekten, nicht in Vergessenheit geraten darf. Dass sich indes die Aufmerksamkeit der modernen Gelehrten besonders auf die die tragische Katharsis umgebende Begrifflichkeit konzentriert hat, ist nicht verwunderlich; denn das Verständnis der Definition ist schwierig, wenn auch ohne Verschulden des Aristoteles. Dieser trug die Bestim10

Aristoteles, Metaphysik 1000 a 18–19.

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mung des offenbar erst von ihm selbst eingeführten Begriffs der Katharsis umrisshaft erstmals in der Politik (1341 b 32–1342 a 16) vor und kündigte in dieser Passage an, er werde in der Poetik den Begriff genauer erläutern. Dort gibt er auch seine berühmte, noch recht knapp gehaltene Definition der tragischen Katharsis (1149 b 24–28), verschiebt aber zugleich nähere Erläuterungen erneut, und zwar auf einen späteren Teil der Poetik, der wiederum nicht überliefert ist. Zum Glück hat J. Bernays diese unbefriedigende Quellenlage entscheidend verbessert, als er 1857 in seinen »Grundzügen der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie« eine Passage bei Proklos (In Platonis rem publicam I 42) und eine weitere bei Iamblich (De mysteriis I 11) als Zitate aus dem nicht überlieferten Teil der Poetik identifizierte. Zugleich lenkte er die Diskussion um die Katharsis auf den allein erfolgversprechenden Ausgangspunkt, dass nämlich das medizinische Vorbild die Überlegungen des Aristoteles bestimmt habe: »Uns führt der Weg, ehe er in den Hain der Musen mündet, am Tempel des Aesculap vorüber.« In der Politik interessiert sich Aristoteles im Zusammenhang dieses Themas naturgemäß für die Frage, ob die Tragödie in Verbindung mit zugehöriger Musik wirklich ein Verderben für die Seele bedeutet oder ob sie unschädlich ist. Er beobachtet, dass die Affekte des Mitleids, der Furcht und des Enthusiasmus bei allen Zuschauern auftreten. Sie kämen aber, von dieser Erschütterung (κίνησις) ergriffen, unter der Einwirkung heiliger Gesänge wieder zur Ruhe, wenn sie anwendend Gebrauch machten (χρήσωνται) von den Weiheliedern und dabei eben durch Katharsis gleichsam eine Therapie (ἰατρεία τις) der durch den Kummer hervorgerufenen Betrübnis (λύπη) erführen. So erlebten die eben noch Furchtsamen und Mitleidigen eine Reinigung und wohltuende Erleichterung als unschädliche Freude. 11 Am Ende verflüchtigen sich mithin die Affekte, von denen die Theaterbesucher eben noch vollends ergriffen waren, und richten mithin keinen Schaden für das Gemeinwesen an. Die Affekte Furcht und Mitleid treten ein, wenn zum Schluss der Tragödie dem tragischen Helden seine Verblendung (ἄτη) bewusst wird durch Erkenntnis (ἀναγνώρισις) seiner aussichtslosen Lage, die für ihn irreversibel den Sturz (περιπέτεια) bedeutet (Poetik 1452 a 38–39). Ödipus ist in dem Augenblick ein gebrochener Mann, als er erfährt, dass er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. 11

Aristoteles, Politik 1339 b 11–31, 1341 b 19–32, 1342 a 10–11.

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Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von den Affekten

In seiner Rhetorik hat Aristoteles definiert, was im Anblick solcher Szenen das Nebeneinander von Furcht und Mitleid des Zuschauers bedeutet: Furchterregend ist alles, was Mitleid hervorruft, wenn es anderen geschieht (1382 b 21–26); und Mitleid ist ein Schmerzempfinden, das eintritt, wenn einen Unschuldigen ein Übel trifft, das den Mitleidigen auch selbst treffen könnte (1385 b 13–23). Weil Aristoteles zugleich beobachtet hat, dass solche Affizierung des Gemüts durch Furcht und Mitleid zeitlich begrenzt ist, kann er, wie gesagt, die Katharsis für unschädlich erklären. Die berühmte Tragödiendefinition des Aristoteles in der Poetik (1449 b 24–28) darf als Rahmen einer näheren Erörterung der Katharsis, aber auch als deren Resultat angesehen werden: ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας … δι’ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων (sc. ἐλεητικῶν καὶ φοβητικῶν) παθημάτων. Mit J. Bernays übersetzt, lautet die Definition: Die Tragödie ist nun die Darstellung einer ernsten Handlung, die abgeschlossen ist, … wobei sie durch Erregung von Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen) Gemütsaffektionen bewirkt. In dem schon angesprochenen Aristoteleszitat bei Iamblich wird die Katharsis ganz im Sinne dieser Definition als doppelter Vorgang beschrieben: Die Kräfte menschlicher Erregungszustände werden heftiger, wenn sie ganz und gar eingeengt werden; bei kurzer Wirksamkeit und in Grenzen losgelassen aber empfinden wir eine maßvolle Freude und Erfüllung, und danach gereinigt beruhigen wir uns wieder – durch Zureden und ohne Gewaltsamkeit. Offenbar wegen dieser Wirkung stillen wir beim Betrachten fremder Leiderfahrung in Tragödie und Komödie die eigenen Affekte, werden ruhiger und reinigen uns. Proklos beruft sich auf Aristoteles, als er in seinem Kommentar zu Platons Politeia die Austreibung der Dichter für unsinnig erklärt und insbesondere auf die Nachwirkung der kathartischen Ekstase eingeht, diene diese doch der erleichternden Abfindung der Affekte (ἀφοσίωσις τῶν παθῶν), wenn diese im passenden Augenblick erregt werden und uns gereinigt hernach vor Belästigung eben durch die Affekte bewahren. Dieser Beobachtung liegt erneut das medizinische Vorbild zugrunde. Sie vergleicht nämlich die Katharsis mit der ἀπέρασις, einem Terminus aus der Humoralpathologie, der das Abschöpfen überflüssiger Feuchtigkeit bezeichnet, vulgo auch das Erbrechen nach unmäßiger Völlerei. Auf eine Überladung folgt also die Entlas246 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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tung, die als Erleichterung und Beruhigung empfunden wird. Weit entfernt, Schaden anzurichten, dient vielmehr gerade diese Beteiligung der Affekte der Ausgewogenheit des Seelenhaushalts. Die Rehabilitation der Katharsis durch Aristoteles beruht also auf genauer Phänomenbeobachtung und daraus hervorgegangener Definition. Eine ebenso wesentliche Rolle spielt aber auch der methodische Schritt des Aristoteles, der Dichtung die Qualität einer Größe eigenen Rechts zuzugestehen. Erstmals in der Geistesgeschichte verfasste er eine Poetik und sprach der Dichtung in einem Zuge damit eine eigene Richtigkeit (ὀρθότης) und Existenzberechtigung zu, die sie von der Nötigung befreie, den Maßstäben der Politik und anderer Künste zu genügen (Poetik 1460 b 13–15). Entsprechend bedeutet das für die Malerei, dass die Hirschkuh Hörner haben darf, sofern sie nur mimetisch gemalt ist (ebd. 1460 b 31–32). Aristoteles hat die Dichtung von ihrer Verpflichtung zu politischer Korrektheit befreit und ihren alten Anspruch, die Position der prima theologia auszufüllen, nicht einmal mehr erörtert. Erreicht hat er dadurch für die Dichtung, dass sie ihre als gleichsam medizinisch erkannte Funktion durch die Katharsis der Affekte mit umso größerer Unschuld weiterhin ausüben durfte. Aristoteles hat also Platons Korrelativität von tragischer Dichtung und Hingabe an die Affekte durchaus bestätigt, allerdings der Dichtung den Charakter einer Größe sui iuris zugesprochen und der Katharsis nicht eine verderbliche, sondern sogar eine heilsame Wirkung zuerkannt. Anders als Aristoteles hatte Platon in den bei tragischen Aufführungen erregten Affekten eine Gefahr für Vernunft und Sittlichkeit der gesamten Stadt erkannt. Nicht auf Aristoteles, sondern vielleicht eher unbewusst auf Platon rekurrierend, erkannten die Stoiker in den Affekten eine Gefahr zwar nicht für die Stadt, wohl aber für das höchste Gut ihrer Schule, die autonome Tugendhaftigkeit der Weisen. Der aristotelische Vorschlag zur Güte, die Affekte würden doch nach der Phase ihrer kathartischen Erregung wieder in einen wohltemperierten Zustand zurückversetzt, mochte dank Beobachtung der Symptome durchaus plausibel begründet sein, fand aber gleichwohl nicht den Beifall der Stoiker. Sie bestanden darauf, die Affekte (perturbationes) nicht gleichsam zurückzuschneiden, sondern mit Stumpf und Stiel auszureuten. 12 Im Gegensatz zu den Stoi-

12

Cicero, Tusculanae disputationes 4, 57.

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kern begnügten sich, so erklärte Seneca wiederholt 13, die Peripatetiker, die Affekte zu mäßigen; es gelte aber für die Stoiker, diese kompromisslos auszumerzen. Die Empfehlung der Peripatetiker, mäßigend auf die Affekte einzuwirken, sei verfehlt; denn einmal in Bewegung gesetzt seien sie nicht mehr aufzuhalten. Die Hoffnung, ein von Affekten beherrschter Geist könne sich selbst regulieren, erinnere an einen Mann, der sich vom Felsen stürzt und mitten im Fall, selbst wenn er will, nicht mehr abbrechen kann. 14 Auslöser dieser Vorsicht der Stoiker ist erneut jener äußere Vorgang des Sturzes des Demetrios Phalereus samt Folgen, die ja auch andere Philosophen zum Rückzug aus dem politischen Forum nötigten. Konstruktives Ziel des Rückzuges war die Behauptung ihrer Autonomie wenigstens in den Grenzen jener Sphäre, über die sie souverän verfügten, sofern sie bei ihnen selbst lag. Diese Selbstbehauptung musste sich aber nicht nur durch Verzicht auf Staatsämter und Reichtum nach außen bewähren, sondern nicht minder auch nach innen, und das bedeutete, sie durfte auch nicht der Einwirkung von Affekten erliegen. Die Beschränkung auf das, was bei den Weisen selbst lag, erfüllte nur ihren Sinn, wenn es gelang, die Zumutungen äußerer Kräfte nicht weniger ungerührt abgleiten zu lassen als die im Inneren greifenden Verlockungen der Affekte. Da nun den Stoikern bewusst war, dass die Immunisierung gegen die letztere Bedrohung weitaus schwieriger als gegen die erstere war, erkannten sie folgerichtig in der Affektlosigkeit (ἀπάθεια) den Dreh- und Angelpunkt ihrer Ethik, dessen Gewährleistung auf gar keinen Fall der tragischen Dichtung zu überlassen war. Auf den ersten Blick erscheint die Sorge der Stoiker gegenüber den Affekten unbegründet, kommen diese doch der reinen Lehre gemäß im Seelenhaushalt des vollendeten Weisen gar nicht erst vor. Der Weise ist immun gegen das Hereinfallen auf falsche Impulse (ἀπροπτωσία) 15 und kann den Status einmal erreichter Weisheit nicht mehr verlieren. 16 Dank Gleichgültigkeit des Weisen gegenüber den äußeren Gütern und alleiniger Konzentration auf die für ihn verfügbaren seelischen Güter lebt er in vollendetem Glück und bietet affektiven Anfechtungen keine Angriffsfläche. Dieses Vollkommen13 14 15 16

Seneca, Epistula ad Lucilium 116, 1; SVF III 443/444. Cicero, Tusculanae disputationes 4, 41–42. SVF II 130/131. Ebd. I 202.

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heitsbewusstsein war indes offenbar Ausdruck einer von enttäuschenden Erfahrungen noch ungetrübten Aufbruchstimmung. Denn spätestens Chrysipp fürchtete, dass der noch so kritische Verstand bei einer Zustimmung gelegentlich durchaus auch einer Fehleinschätzung erliegen könne. 17 Zugleich zweifelte er grundsätzlich an der Erfüllbarkeit des Ideals des wahrhaft Weisen. Sich selbst hielt er nicht für weise 18; und einmal erklärte er sogar, der wahrhaft Weise sei noch gar nicht gefunden 19, beruhigte aber bei anderer Gelegenheit, es gäbe vielleicht doch einen oder zwei Weise. 20 Erschwerend kam hinzu, dass graduelle Unterschiede unter den Weisen nicht vorgesehen waren; es zählte nur der makellos Weise. 21 Wer mochte sich angesichts dieser rigiden Kriterien schon selbst Weisheit attestieren oder von anderen erwarten, dass sie sich dazu verstehen könnten? Wollte also Chrysipp dessen unerachtet am Ideal des Weisen festhalten, so musste er sich der Seele des Weisen gegenüber verhalten wie der Arzt gegenüber dem Körper eines in der Regel Gesunden, den bisweilen zwar nicht ein Affekt, wohl aber Infekt befällt. Chrysipp erweitert damit die Philosophie, ursprünglich die Instanz systematischer Grundlegung, um die Kompetenz einer therapierenden Wegweiserin, die zur Sicherung ihrer eigenen Grundsätze lehrt, wie Affekte, die in der Seele des Weisen zum Durchbruch gelangt sind, wieder zurückgedrängt werden können. Nicht anders als die Affekte temperierende tragische Dichtung orientiert sich nun also auch die stoische Philosophie am medizinischen Vorbild, aber der Patient ist eben nicht die Menge, sondern der am Vollkommenheitsideal sich messende Weise; und das Heilmittel ist nicht die kathartische Gefühlsaufwallung, die Ähnliches mit Ähnlichem im Gleichgewicht hält, sondern allein das vernünftige und letztlich durch die Theodizee belehrte Argument, das als wahre Katharsis das Unähnliche in therapeutischer Absicht ausschließt, statt mit der Möglichkeit seines turnusmäßig wiederkehrenden Auftauchens zu rechnen. Die Stoiker hatten sich in der Frage der Affekte dank ihrer Systematik bei weitem mehr Bewährungslast aufgebürdet als die pragmatischen Peripatetiker und durften heimlich durchaus zweifeln, ob sie dieser Last auch in jedem Einzelfall gewachsen wären.

17 18 19 20 21

Ebd. I 208. Ebd. III 662. Ebd. III 32. Ebd. III 668. Cicero, bonorum et malorum 3, 34.

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Mit seiner Schrift »Über die Therapie der Affekte« (Τὸ περὶ τῶν παθῶν θεραπευτικόν) macht Chrysipp Ernst mit den unvermeidlichen Zweifeln. Von dieser Schrift ist nur der Titel erhalten 22; ihr Grundsatz, Philosophie als Heilmittel in Anspruch zu nehmen, ist keineswegs neu 23, wird aber nunmehr mit größtem Elan ausgeführt. Über Chrysipps nicht erhaltene Schrift ist die Nachwelt wenigstens indirekt unterrichtet, weil sie offensichtlich dem dritten und vierten Buch von Ciceros »Tusculanae disputationes« als Vorlage diente. Wie für die Humoralpathologie die körperliche Krankheit auf einer Disharmonie der Säfte beruht, so wird die Seele ihrer Gesundheit beraubt, wenn Affekte durch ihre verderbliche Wirkung das innere Gleichgewicht zerstören. 24 Mit seinem auf diesem Grundsatz basierenden Therapeutikón hat Chrysipp es immerhin bis zum Zitat in den Schriften des berühmten Arztes Galen geschafft. Wie dieser Chrysipp vorrechnet, hat er als philosophischer Therapeut den Heilerfolg sogar über die reine stoische Dogmatik gestellt: Die Schilderung in der Ilias (24, 514–515), wie Achill wieder zu sich kam, nachdem er sich um seinen toten Vater sattgeweint hatte und aus seinem Inneren der Hang zur Hingabe an die Trauer entwichen war, deute Chrysipp in dem Sinne, dass Menschen tatsächlich von affektiven Gemütsstimmungen bewegt werden und diese mit der Zeit nachlassen, wenn die Vernunft wieder die Oberhand gewinnt. In seinem Kommentar zu diesem Chrysippzitat bestätigt Galen ihm zwar, dass er diese Beobachtung zu Recht ausspreche, tadelt ihn aber insofern, als ihm entgangen sei, dass er sich nicht im Einklang mit den Grundsätzen seiner Schule befinde. 25 Denn Abwarten, so wird Galen seinen Einwand verstehen, darf nach stoischer Überzeugung nicht an die Stelle von Ausmerzen treten; wohingegen Chrysipp zu seiner Verteidigung anführen könnte, bei der Therapie sei der Erfolg im Einzelfall das Telos und nicht das Lehrbuchdogma. Im Übrigen beruht aber Chrysipps Therapeutik sehr wohl auf einer theoretischen Grundlegung, die zum einen die Affekte – nach wie vor das stets drohende Seelengesundheitsrisiko 26 – klassifiziert, diese zum anderen aber nicht mehr als unDer Titel ist durch SVF III 473 belegt, fehlt allerdings in der Publikationsliste Chrysipps bei Diogenes Laertios. 23 F. Wehrli, Ethik und Medizin, in: MH 8 (1951) 36–62, hat die Äußerungen der Vorläufer Chrysipps zu diesem Thema zusammenfassend dargestellt. 24 SVF III 424. 471. 25 Ebd. III 467. 26 Ebd. III 381. 423. 22

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abhängig wirkende Größen gelten lässt, sondern neben weiteren Faktoren direkt an das ἡγεμονικόν (principale animae), also an die zentrale innere Leitungsinstanz des Individuums bindet. Diese Instanz vergleicht Chrysipp mit einer Spinne, die in der Mitte ihres Netzes da lauert, wo alle Fäden zusammenlaufen. 27 Gegenstand peripatetischen Zuwartens oder gegebenenfalls nachträglichen stoischen Tilgens bleiben also die Affekte, die nur unter Zugrundelegung jeweils genauer Definition zu therapieren sind. Die Stoiker kennen vier Grundaffekte (πάθη/perturbationes), die allesamt auf falschem Urteil beruhen und schon deswegen lasterhaft sind, aber ebendeshalb auch durch in unserer Macht liegendes vernünftiges Urteilen wieder zu verdrängen sind. In diesem Sinne weist die jeweilige Definition allen vier Affekten nach, dass sie schon im Ansatz auf Einbildung beruhen, sofern sie sich allesamt von Phänomenen aus der Sphäre der gleichgültigen Güter, als wären diese wesentlich, bestimmen lassen. 28 So folgt die Betrübnis (λύπη/aegritudo/ maestitia) auf die eingebildete Erwartung eines Übels, die Freude (ἡδονή/laetitia) auf die eingebildete Erwartung eines Guts, das zu falscher Hochstimmung verleitet. Die Furcht (φόβος/metus) beruht auf der Einbildung eines drohenden Übels, das unerträglich erscheint, die Begierde (ἐπιθυμία/libido/cupiditas) hingegen auf der Einbildung eines sich abzeichnenden Guts, dessen der Affektgesteuerte unbedingt sogleich habhaft werden will. 29 Angesichts seiner Dynamik ist der Affekt wohl kaum mit einer harmlosen Neigung zu vergleichen; er wirkt vielmehr als exzessiver Impuls (ὁρμὴ πλεονάζουσα, appetitus vehementior) 30, dessen Vehemenz eine große Gefahr für die Souveränität auch des Weisen darstellen kann. Es fällt auf, dass in der stoischen Hierarchie der Grundaffekte wohl die Furcht auftaucht, aber nicht das Mitleid; dieses gilt vielmehr wie auch 24 weitere Affekte als Sonderfall der Betrübnis, die angesichts eines scheinbar unverdienten Leides eintritt. 31 Misericordia est aegritudo ex miseria alterius iniuria laborantis. 32 Das Mitleid gilt den Stoikern unter allen Affekten als einer der schlimmsten. Zenon rückt Ebd. II 879. Ebd. III 571/575. 29 Quellen: SVF III 377–490. In knapper Übersicht bei Cicero, Tusculanae disputationes (1, 14–15) sowie bei Diogenes Laertios (7, 111–114). 30 SVF I 205/206. 31 SVF III 412–416/433. 32 Cicero, Tusculanae disputationes 4, 17 (SVF III 415). 27 28

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das Mitleid zwischen Laster und Krankheiten: Der Weise sei nicht durch Gefälligkeit zu beeinflussen und verzeihe nie eine Verfehlung; niemand sei mitleidig außer den Toren und den Leichtsinnigen. 33 Insbesondere darf man nie mit einem guten Mann Mitleid haben; denn er könne zwar unglücklich genannt werden, könne es aber per definitionem gleichwohl nicht sein. 34 Seneca bestimmt Mitleid als das seelische Laster (vitium animi) desjenigen, der am liebsten die Gefängnistore öffne, weil er nur auf das spätere Schicksal, nicht auf die Ursache achte. Der Weise werde zwar den Bedrängten helfen, aber nicht aus Mitleid in erniedrigender Weise Almosen verteilen; denn Mitleid beruhe auf einem Fehlurteil, das sich durch das Leid anderer ohne kritische Distanz aus der Fassung bringen lasse. 35 Platon wäre mit Senecas Überlegungen sicher einverstanden gewesen. Die systematische Kasuistik der Affekte dient der philosophischen Therapie zweifellos als diagnostischer Anknüpfungspunkt im Einzelfall. Dieser Ansatz ist für Chrysipp auf jeden Fall notwendig, aber noch nicht hinreichend. Denn ihn interessiert auch die strukturelle Disposition des Adressaten seiner Therapie. Auf den ausschlaggebenden Begriff, das schon erwähnte Hegemonikón, verfiel er gewissermaßen auf Umwegen. Er bezweifelte, dass die Wahrnehmung mit dem Bild des Prägestempels zutreffend beschrieben sei; jeder spätere Stempel lösche schließlich die Einprägung des früheren aus. Um ihrer Gedächtniskraft willen dürfe also die Wahrnehmung nicht statisch gleichsam bei einem Stempeleindruck stehen bleiben, sondern müsse im Eingehen auf eine Reihe immer wieder anderer Erscheinungen sich selbst ebenfalls insofern ändern (ἑτεροίωσις), als sie das Gesehene bei gleichzeitig eigener Anpassung zu einem Nebenund Nacheinander koordiniere. 36 Die Bestimmung der sinnlichen Vorstellung als koordinierender Wandlung führt nun zu einer dieser Wandlung zugrunde liegenden festen Basisgröße, eben dem Hegemonikón, das nicht nur erkenntnistheoretische Bedeutung hat. Wenn nämlich integraler Bestandteil des Hegemonikón die sinnliche Vorstellung ist, warum dann nicht auch Zustimmung, Urteile, Impulse, ja selbst Affekte und überhaupt alle wie immer gearteten Bestrebun-

33 34 35 36

SVF I 213–214. Seneca, De providentia 3, 1. Seneca, De clementia 2, 4–6 = SVF 452. SVF II 56.

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gen? 37 Wenn dem aber so ist, dann gleicht das Hegemonikón nicht einer anima candida, die als Opfer von einem Affekt überrannt wird, sondern es heißt diesen vielleicht sogar freudig willkommen. Dies wiederum bedeutet für die somit gerettete geschlossene Person, dass sie von falschen Vorstellungen ausgeht, wenn sie mildernde Umstände reklamiert, indem sie die Schuld für das Eindringen von Affekten auf mangelnde Wachsamkeit untergeordneter Funktionen abwälzt. Vielmehr liegt das Versagen bei der geschlossenen Person selbst, seitdem sie als mit ihren Affekten identisch diagnostiziert ist. Der Therapeut hat nunmehr seinen Adressaten vor Augen, und das nicht nur im Sinne einer allgemeinen Bestimmung der Subjektivität, sondern zugleich auch als eine höchst individuelle Größe, zu deren Inventar gerade auch die Affekte gehören. Denn das Hegemonikón wird wiederum von einer angeborenen Verfassung (διάθεσις) oder seinem Naturell bestimmt, das der Ausgangspunkt guter oder schlechter Entscheidungen ist. 38 Demgemäß ist das Hegemonikón auch nicht Austragungsort innerer Unruhen (στάσις) zwischen Vernunft und Affekten. Dominiert im Hegemonikón des einen die Vernunft (λόγος), so entscheidet es sich für tugendhafte Handlungen; es kann sich aber unter der Einwirkung eines exzessiven Affekts ebenso auch als eine vernunftlose Größe (ἄλογον) erweisen, wenn dieser als Aggregatzustand des Hegemonikón des anderen die anstehende Entscheidung zugunsten eines Übels trifft. 39 Es kommt also deswegen nicht zu Unruhen zwischen Vernunft und Affekten, weil das bestimmte Hegemonikón entweder mit Tugend und Vernunft identisch ist oder mit der Entschlossenheit, affektiven Verlockungen nachzugeben. Schon Zenon ahnte, dass das Hegemonikón den Ausschlag zum Guten wie zum Bösen geben kann. 40 Aber erst Chrysipp wurde offenbar die Bedeutung dieser Einsicht bewusst, dass nämlich im Falle des Versagens nicht die Funktion der Zustimmung als gleichsam ausgelagerter Dienststelle verantwortlich ist, sondern die Zentrale selbst. Diese offenbar sachgerechte Einsicht erschwert in der Konsequenz sowohl die Lage des Patienten, für den es kein Ausweichen mehr gibt, als auch die des Therapeuten, der nunmehr die ganze Person und nicht lediglich ein einzelnes Organ in den Blick nehmen muss. 37 38 39 40

Ebd. II 836. 839; III 378. 461. 823. SVF III 471/472. Ebd. III 459. Ebd. I 202.

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Das Hegemonikón ist füglich die umfassende Größe, die in therapeutischer Absicht anzusprechen ist. Prinzipiell besteht die Therapie in der Aufklärung darüber, dass dem Affekt nur ein vom Hegemonikón zu verantwortendes Fehlurteil zur Dominanz verholfen hat, das im Falle der Furcht dem bloßen Schein einer Gefahr aufgesessen ist oder im Fall der Begierde dem bloßen Schein eines wünschbaren Vorteils. Eine Therapie durch Aufklärung, und damit erkennt Chrysipp eine weitere Erschwernis, wirkt aber selten und bei der Menge (οἱ πολλοί, vulgus) nie. 41 Im Normalfall muss der stoische Arzt also damit rechnen, dass eine Therapie des Hegemonikón durch Belehrung ausgeschlossen ist. Wer gegen seine Affekte allzu bereitwillig kapituliert hat, ist nicht lediglich kurzfristig verwirrt, sondern für alle Zeit elend, niedergeworfen, deprimiert und unheilvoll dauergeschädigt. 42 Wie der Abhängige sich als undurchdringliche Person mit seiner Droge identifiziert, so das Hegemonikón mit seinen Affekten. Der Affekt steht nicht mehr als kontrollierte Größe dem kontrollierenden Hegemonikón gegenüber, sondern nimmt selbst die Stelle des Hegemonikón ein – eine innere Verfassung, die Vergil (Ekloge 2, 65) auf eine allgemeinverständliche Formel gebracht hat: trahít sua quémque volúptas. In solchen Fällen muss sich der Stoiker an eine bekannte hippokratische Maxime halten: Wenn weder Pharmaka wirken noch das Skalpell noch das Brenneisen, dann darf der Arzt den Patienten, weil er unheilbar erkrankt ist, nicht mehr behandeln. 43 Damit verbleiben also nur noch Patienten mit dem Hegemonikón von Weisen, die aber laut Chrysipp kaum vorkommen und, wenn doch, ihrer Definition nach einer solchen Therapie gar nicht bedürften. Aus der Perspektive Chrysipps dient also sein Therapeutikón der Verteidigung nicht der Theorie des vielleicht gar nicht existierenden schlechthin Weisen, sondern der unvermeidlich abgeschwächten Als-ob-Theorie des nahezu Weisen, die immer dann gefordert ist, wenn dieser über ohnehin schon bestehende Abstriche hinaus noch weitere Verstöße begeht. Dass derartige Verstöße durchaus vorkommen, hat zumindest der in Ciceros Tusculanae disputationes als A (= adolescens?) notierte Gesprächspartner zweimal behauptet. 44 Gegen diese Behauptung wendet sich nun Cicero im dritten und vierten 41 42 43 44

Cicero, Tusculanae disputationes 4, 60. Ebd. 4, 80–82. Hippokrates, Aphorismen 7, 87. Cicero, Tusculanae disputationes 3, 7 und 4, 8.

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Buch, nachdem in den beiden ersten Büchern schon die Behauptung zurückgewiesen hatte, dass Tod und Schmerz als Übel anzusehen seien. Cicero, der römische Senator, hat bei seiner Rezeption Chrysipps ein verständliches Interesse, nicht nur wenige Ausnahmemenschen in den Genuss der Therapie für eher zufällig Gestrauchelte kommen zu lassen, und dürfte deshalb das Therapeutikón auch mit anderen Intentionen gelesen haben, als es der Autor Chrysipp ursprünglich vorgesehen hatte. Wenn also, wie A unterstreicht, Verstöße auch den nominell Weisen unterlaufen, wie gering sind dann erst die Heilungsaussichten der anerkanntermaßen Unweisen? Deshalb erinnert Cicero sogleich seinen Gesprächspartner, es sei doch am Vortag der Nachweis gelungen, dass der Weise zumindest vom bestimmten Affekt der Betrübnis (λύπη/aegritudo) frei sei. Damit bleibt für Cicero die Hoffnung, dass dieser Weise über die Freiheit von Depressionen hinaus mit einiger Sicherheit auch dem Ideal völliger Affektfreiheit genügen könnte. Wenn diese Möglichkeit aber gesichert ist, dann dürfte auch die Therapie eines Normalbürgers nicht unbedingt von vornherein aussichtslos sein. Cicero lag daran, diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Chrysipp hatte ja schon Abstriche gemacht, indem er überhaupt zugab, sein Therapeutikón sei vonnöten; denn der untadelig Weise wird, wie Cato Uticensis bündig erklärt, stets frei von Affekten sein. 45 Nun genehmigt Cicero offenbar noch weitere Abstriche, damit auch Normalbürger von der Therapie profitieren können, die ursprünglich allein für die nahezu Weisen gedacht war. Tatsächlich lassen die von Cicero referierten Fallbeispiele durchblicken, dass er die philosophische medicina animi lieber nicht nur auf den gelegentlich allenfalls leicht gestrauchelten Weisen beschränken will. Deshalb erwähnt Cicero auch nicht die Verschärfungen aufgrund der Hegemonikóntheorie, die ja bei Aussichtslosigkeit einen Therapieverzicht zwingend nach sich zieht; stattdessen zeigt er sich überzeugt, dass sich der gewöhnliche Jähzornige, Missgünstige, Böswillige oder Furchtsame zwar in einer schlimmen seelischen Verfassung befinde, aber trotzdem nicht von vornherein unheilbar sei. 46 Cicero glaubt, sich auch in diesem erweiterten Sinne auf Chrysipp berufen zu dürfen, weil er ja im Grundsatz mit dem Stoiker übereinstimmt, dass nämlich die Sanierung der Affekte gelingt, wenn sie den Befallenen 45 46

Cicero, De finibus bonorum et malorum 3, 35. Ebd. 4, 65. 80.

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davon überzeugt, alle Affekte seien durch eigenes, selbst zu verantwortendes Fehlurteil, mithin freiwillig zugelassen worden und seien daher mit dem Mittel vernünftigen Urteilens, das in unserer Macht liegt, auch wieder abzudrängen. Nur schätzen Chrysipp und Cicero die Zahl derer verschieden ein, die für eine Therapie gemäß diesem beiderseits akzeptierten Grundsatz infrage kommen. Chrysipp kannte neben der Heilung auch den Aspekt der Prävention, die den Jähzornigen und Rachsüchtigen, bis er wieder abgekühlt ist, davon abhält, seinem Drang nachzugeben und Rache zu üben. Der Therapeut muss dafür sorgen, dass das potenzielle Opfer des Rachsüchtigen aus seinem Blickfeld entfernt wird. 47 Selbstverständlich stellen solche Maßnahmen noch keine vollendete Therapie dar; eine wirkliche Heilung müsste das Hegemonikón der Erkrankten davon überzeugen, dass sie sich ihre Symptome durch eigenes Fehlurteil zugezogen haben und sich nur auf dem Wege radikaler Selbstkorrektur wieder von ihnen befreien können. Übergeben wir uns also, so lautet folgerichtig zum Schluss Ciceros (oder Chrysipps?) protreptische Mahnung, der Philosophie und lassen uns durch sie heilen. 48 Und unter diesem »wir« dürfte Cicero anders als der von ihm offenbar leicht modifizierte Chrysipp ein »wir möglichst alle« verstehen. Denn so sehr sich Cicero eingestandenerermaßen von der Philosophie beraten lässt, so wenig ist er doch bereit, sich dank solcher Beratung auf die Wahrung bloßer Ausnahmeinteressen einengen zu lassen; stattdessen rückt er neben dem officium perfectum mit besonderem Nachdruck das officium medium in den Vordergrund. Für Chrysipp hingegen bestand die Therapie der Affekte eingestandenermaßen aus einer Rezeptur, die von vornherein auf den gebildeten und einsichtigen Weisen zugeschnitten war. Die Stoiker hatten das Bild eines unerschütterlich Weisen entworfen, mussten aber im Laufe der Zeit erfahren, dass dieser selten, vielleicht sogar nie auftaucht. Zugeständnisse konnten sie gleichwohl nicht machen; denn die Affektfreiheit war das Essential der inneren Souveränität, die die Bürger des natürlichen Weltstaates gegenüber den Bürgern des geschichtlichen Staates auszeichnete. Wenn ihre Selbstbehauptung nicht nur in Lehrsätzen verankert sein sollte, dann mussten sie statt auf den absolut Weisen wenigstens auf den nahezu Weisen setzen. Mit seinem Therapeutikón sorgte Chrysipp dafür, dass sich wenigs47 48

Ebd. 4, 77–79. Ebd. 4, 83–84.

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tens die letztere Spezies nummerisch ausbreiten konnte. Seine Affekttherapie sicherte das Überleben der Stoiker, die ohne solche Therapie Gefahr liefen, auf die Dauer für Regeln ohne Ausführende einzustehen. Das gründliche Kurieren, das beim Hegemonikón des den Affekt willkommen Heißenden ansetzt, war die unabdingbare Voraussetzung zur Erhaltung eines Standes, der sich aus mindestens nahezu Weisen zusammensetzte. Genau darin liegt auch der Grund, dass die Stoiker die therapeutische Behandlung der Affekte nicht den Gesetzen der tragischen Katharsis auf der Bühne überlassen durften. Denn die Bühne provozierte zunächst auch noch den Ausbruch der Affekte, der erst hernach mit einer alljährlich wiederholten Kur wieder neutralisiert wurde. Zudem war die Wirkung der Bühne auf die Mentalität der Menge zugeschnitten, während Chrysipp beim Vortrag seiner Affektlehre den nahezu weisen Mann im Auge hatte. Wenn es sich um einen solchen Patienten handelte, verstand Chrysipp keinen Spaß. Er bestand darauf, im Falle eines punktuellen Nachgebens das affektive Symptom ein für allemal und ohne Einkalkulieren seiner perpetuierten Wiederkehr auszumerzen. Erneut hat sich gezeigt, dass aus Rücksicht auf ein politisches Ereignis außerhalb der Schule die stoische Lehre von der akademischen bzw. peripatetischen abweichen musste. Die Sezession der Stoiker, letztlich eine Folge der Vertreibung des Demetrios Phalereus, war nichts anderes als die Selbstbehauptung der auf sich selbst zurückgeworfenen Philosophie, die anders als Platon und Aristoteles Chancen auf gelungenes Leben von der Stadt nicht mehr erwartete, die ferner angesichts des um sich greifenden Herrscherkultes in der Konsequenz eine Platons Weise der Entlastung der Götter widersprechende Theodizee entwickelte und die zuletzt gegenüber Aristoteles auf einem erheblich modifizierten Verständnis der Affekte bestand, um die gegen die äußere Welt mühsam gewahrte Autonomie hinterdrein nicht von innen her zu gefährden. Angesichts des Umstandes, dass die Philosophie der Stoiker eine in sich konsistente Antwort auf die nun einmal bestehenden Verhältnisse darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass sie in der hellenistischen Welt für Jahrhunderte die Meinungsführerschaft unter den Philosophen innegehabt, Platon und Aristoteles aber in den Hintergrund gedrängt haben.

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Theodizee und Geschichtsphilosophie

Theodizee und Geschichtsphilosophie Chrysipp hätte in sein Therapeutikón als Handbuch einer medicina animi getrost auch seine Beiträge zur Theodizee im Rahmen der providentia-Lehre aufnehmen können. Die Lösung der tragischen Katharsis, auf Beispiele von willkürlich erscheinender göttlicher Allmacht im Theater mit den Affekten Furcht und Mitleid zu reagieren und diese Affekte hernach durch Beruhigung wieder abklingen zu lassen, bestätigt den Affekten ja nur ihre unveräußerlichen und faktisch bestehenden Rechte. Wenn nun diese Bestätigung auf ein schon von Platon beklagtes Zugeständnis an die Menge hinausläuft, dann darf Chrysipp im Umkehrschluss vom Gebildeten sehr wohl erwarten, dass er den von den Göttern zu vertretenden Übeln in der Welt affektfrei begegnet und diese unter Anleitung der Lehren der Theodizee im Sinne wahrer Katharsis mit Vernunft und Einsicht als ebenso unvermeidlichen wie durchaus plausiblen Weltbestand begreift. Die stoische Kritik der Affekte und die Kritik verfehlter Katharsis gehören sachlich zusammen. Wahre Katharsis ist einsichtsgeleitete Versöhnung mit wirklichen oder vermeintlichen Übeln der Welt unter dem heilsamen Einfluss der Argumente der Theodizee. Allerdings hilft diese Form der Katharsis dem Weisen, nicht dem Toren. Auf diesen Unterschied verweist Cicero (De natura deorum 1, 23) bei seiner Erörterung der Notwendigkeit der providentia: Die Toren können die vielen Widrigkeiten des Lebens nicht ertragen, die Weisen aber vermögen sie zu mildern, indem sie die Übel möglichen Vorteilen abwägend gegenüberstellen (compensatione commodorum lenire). Dank dieser Ausnahmefähigkeit ist der Gewinn, den wahre Katharsis dem Weisen verheißt, ein von Affekten und Ressentiments freies Weltverhältnis durch wohlbegründete Aussöhnung mit kontingenter Zweckwidrigkeit. Zwar wurde den Stoikern das Thema der Versöhnung mit den Übeln der Welt durch Theodizee aus einem ganz bestimmten geschichtlichen Anlass, nämlich dem Siegeszug des Herrscherkultes, aufgenötigt, aber im Verfolg sollte sich erweisen, dass diesem Thema so viel allgemeine Bedeutung eignet, dass es die Philosophie nicht nur in der Antike beschäftigt hat. Im Gegenteil, dieses Thema hat sich, wenn auch aus einer unterschiedlichen Motivationslage heraus, in der modernen Welt erneut aufgedrängt und bleibt wenigstens als eine bis heute offene Frage selbst dann noch auf der Tagesordnung, wenn eine verzweifelte Philosophie vor den Übeln der Welt längst 258 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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kapituliert hat und auf deren Rechtfertigung verzichtet. Angesichts dieser Fortsetzungsgeschichte ist es schon aus Gründen der Vollständigkeit geboten, nach dem bisher Gesagten auch einen Blick auf die Rolle der Theodizee seit G. W. Leibniz zu werfen. Dieser formale Aspekt der Vollständigkeit ist aber nicht der Hauptgrund, das Thema weiterzuverfolgen. Dieser liegt vielmehr darin, dass mit Hegels Geschichtsphilosophie als Fortführung der Tradition der Theodizee 1 gewissermaßen der Umweg beginnt, auf dem er endlich zu seinem substanziellen Thema, dem bürgerlichen Rechtsstaat, findet: Wenn nämlich die wahre Rechtfertigung Gottes aufgrund geschichtsphilosophischer Betrachtung darin liegt, dass die »Weltgeschichte nichts (ist) als die Entwicklung der Freiheit« 2, dann muss auf die Geschichtsphilosophie die Rechtsphilosophie folgen, die verifiziert, inwiefern der Staat als Träger von Recht und Gesetz das weltgeschichtliche Telos der Freiheit tatsächlich schützt und verwirklicht. Und damit wiederum hätte Hegel, wozu er sich auch ausdrücklich bekannt hat, an die Lehre des Aristoteles von der Polis als dem Ort der Verwirklichung bürgerlicher Freiheit angeknüpft. Der große Umweg beginnt also mit der Revitalisierung der Theodizee – eines Themas, das im XVIII. Jahrhundert die Philosophie einer späteren Sattelzeit nicht weniger in Atem gehalten hat als in jener früheren Sattelzeit. Wie in der Antike erfolgte auch nunmehr die Beschäftigung mit der Theodizee nicht ohne einen bestimmten Anlass. Die Fortschritte der Philosophie und der Wissenschaften hatten ein Bewusstsein von Stringenz erzeugt, dessen Ansprüche sich in der Außenwelt nicht wiedererkannten. Optimistische Fortschrittstheorien 3 mitsamt ihrer Steigerungsform der Utopien 4 – Inbegriff bis ins Detail theoretisch ausformulierter Stringenz – taten ein Übriges. Umso mehr empörte sich der von Vollkommenheitserwartungen geprägte Vorstellungshorizont über Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen. Die Frage, warum der Allmächtige zuließ, dass trotz der Denkbarkeit besserer Möglichkeiten immer wieder dergleichen UnG. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, ed. H. Glockner, Stuttgart 21958, Band XI, S. 569. 2 Ebd. S. 568. 3 Zum Begriff des Fortschritts vgl. den Artikel von J. Ritter im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1972, Band 2, Sp. 1032–1059. 4 Einen Überblick über utopische Literatur bietet A. Neusüss (Hrsg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt 31986. Siehe ferner R. Saage: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. 1

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heil eintrat, war nicht mehr auszublenden. Natürlich hatte niemand ausdrücklich Anklage gegen Gott erhoben, aber so eine Klage war ja denkbar und musste vorsichtshalber beantwortet werden, nicht anders als wenn ein Redner mit einer egressio auf denkbare Einwände gegen seinen bisherigen Vortrag eingeht. Die mithin fällige Theodizee-Debatte wurde von G. W. Leibniz eröffnet, der durchaus auch stoische Argumente aufnahm, wenn er sagt, Gott wolle die »Strafe für eine Verschuldung … als geeignetes Mittel …, um größere Übel zu verhindern und größere Güter herbeizuführen. Die Strafe dient auch zur Besserung und Abschreckung, und das Übel dient häufig dazu, das Gut stärker hervortreten zu lassen.« 5 Leibniz bleibt aber nicht bei solchen Reminiszenzen; er hat ein theologisches Fundament ausgebildet, zu dem er sich bekennt, wenn er sich gegen den Anklagepunkt, die Welt hätte sündelos und ohne Leiden sein können, wendet, indem er bestreitet, dass die Welt dann besser wäre. »Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht: jedwedes Universum ist ein Ganzes aus einem Stück …, so hat Gott ein für allemal alles im voraus geregelt, er, der die Gebete, die guten und schlechten Handlungen und alles andere voraussah; und jedes Ding hat vor seiner Existenz idealiter zu dem Entschlusse beigetragen, der über das Dasein aller Dinge gefasst wurde … Wenn somit das geringste Übel, das in der Welt eintrifft, fehlte, es wäre nicht mehr diese Welt, die, alles in allem, von dem sie auswählenden Schöpfer als die beste befunden worden ist.« 6 Denn jedes kontingente Moment, das aus menschlicher Perspektive als Übel erscheinen könnte, befindet sich in einem alle Phänomene dieser Welt umfassenden Interdependenzverhältnis. Zwingend würde daher die in diesem Sinne prästabilierte Weltharmonie gestört, wenn auch nur eines ihrer Momente getilgt würde, gleich wie sehr es auch nach menschlichem Maßstab ein Übel wäre. Wie intensiv das gebildete Publikum mit der Debatte um die Theodizee beschäftigt war, lehrt nicht zuletzt der Verkaufserfolg, den F. M. A. Voltaire mit seinem gegen Leibniz gerichteten satirischen Roman »Candide« (1759) erzielte. In diesem Roman, der übrigens theologisch so anstößig erschien, dass er auf den päpstlichen G. W. Leibniz, Versuche über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, Übersetzung A. Buchenau (1925), Philosophische Bibliothek Band 71, Hamburg 1968, Teil 1 § 23, S. 112. 6 Ebd. § 9, S. 101 f. 5

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Index gesetzt wurde, schilderte Voltaire das Leben des arglosen westfälischen Jünglings Candide, dem keiner der zu seiner Zeit denkbaren Schicksalsschläge erspart blieb. Geduldig hört er sich immer wieder philosophische Erklärungen an, die sein jeweiliges Unglück als aufgehoben im System der prästabilierten Harmonie deuten, bis er eines Tages keine Erklärungen mehr hören will, sondern das Leben nur noch erträglich findet, wenn er seinen Garten umgräbt. I. Kant hat der Theodizee das Geschäft, die menschliche Vernunft mit der Schöpfung auszusöhnen, zugleich mit einem eigenen Lösungsvorschlag entzogen. Zwar hat Kant die Theodizee erst 1791 expressis verbis verabschiedet, diesen Schritt aber schon Jahre zuvor mit dem 4. Satz seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) vorbereitet, wo er die »Unvertragsamkeit« der Gesellschaft als Ursache der Entwicklung menschlicher Talente und der unerlässlichen Abkehr vom »arkadischen Schäferleben« feiert. »Die natürlichen Triebfedern dazu, die … zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwicklung der Naturanlagen antreiben, verraten also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers.« Dieser Schöpfer ist der deistische Gott, der nach dem Schöpfungsakt alles Weitere der Natur überlässt. Indem nun Kants Geschichtsphilosophie demonstriert, dass die Natur die nötigen Vorkehrungen zur Entfaltung der menschlichen Anlagen getroffen hat, vermag sie ebendaher die Theodizee in Gestalt einer Physiodizee weiterzuführen. Dass nun tatsächlich die Vorleistung der Natur – im modernen Jargon gesprochen – auf eine weise und zweckmäßige Anschubfinanzierung als Hilfe zur Selbsthilfe hinausläuft, unterstreicht Kant in seinem Aufsatz »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (1786), wenn er gegen »Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert«, wettert und auf Zufriedenheit mit der Vorsehung besteht, »teils um unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, teils um, indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben, nicht unsere eigene, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser Übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbstbesserung die Hülfe dagegen versäumen.« Mit seinem Aufsatz »Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee« aus dem Jahr 1791 hat Kant auch ausdrücklich einen nicht unerwarteten theoretischen Schlussstrich gezogen. Er muss der Überzeugung gewesen sein, dass er damit keinen Schaden mehr anrichtete, weil die menschliche Autonomie vermöge einer Umbesetzung der Positionen die Lenkung des Weltlaufs, soweit 261 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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es an ihr liegt, längst selbstverantwortlich in die eigenen Hände genommen hatte. Kant blickt also aus der Rückschau auf die vergangene Mühewaltung der Theodizee als der »Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen sie erhebt.« Es wird also ein »Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft« ausgetragen, an dem der Beklagte in absentia teilnimmt. Dass die Vernunft in diesem Verfahren Ankläger, Verteidiger und Richter in einer Person ist, erinnert an das in utramque partem disserere posse der Akademiker. Wie ein akademischer Skeptiker wird Kant, auf Vollständigkeit bedacht, Plädoyer und Gegenplädoyer vortragen: Dem Verteidigungsargument, der Welturheber könne das Moralischböse nicht verhindern, weil es eben auf den Schranken der endlichen Natur des Menschen gründe, hält Kant entgegen, dann könne man auch dem Menschen keine Schuld mehr am Moralischbösen zurechnen; oder wenn der Verteidiger sich über den straffrei davongekommenen Verbrecher beruhigt, dieser werde von seinem Gewissen noch ärger als von den Furien verfolgt, dann übersehe – so Kant – der brave Gelehrte, dass anders als er selbst der Verbrecher wohl kaum mit einem allzu empfindlichen Gewissen ausgestattet ist. Beide Beispiele lassen das Gerichtsurteil ahnen, das Kant schon in der Überschrift zu seinem Aufsatz vorweggenommen hat. Als Richterin hat die Vernunft die Gründe der Verteidigung des Beklagten als unzureichend abgewiesen, nachdem die Vernunft als Partei Revision gegen den Beschluss der Erstinstanz eingelegt hat. Zugleich erwies sich, dass die Theodizee ihrer wahren Intention nach nicht den Weltschöpfer verteidigen, sondern die Menschheit mit seinem Werk aussöhnen wollte. Wenn aber dieser Weg der Aussöhnung mit der Schöpfung offenbar verfehlt war, galt es einen anderen Weg zur Aussöhnung einzuschlagen, den schließlich gottgewollt die Natur schon vorgezeichnet hatte, nämlich den Weg der Entfaltung menschlicher Anlagen im Wettbewerb und des daraus zu erwartenden Segens für die Menschheit. Ausgerechnet diese Überbietung der Theodizee sollte indes letzten Endes auf ihre Bestätigung hinauslaufen. In seinem Aufsatz »Idealismus und Theodizee« hat O. Marquard so überraschend wie plausibel begründet, warum Kants Verabschiedung der Theodizee in Wahrheit zugleich die konstruktive Beantwortung des Problems der Theodizee ganz in deren Sinne darstellt; denn wenn menschliche Autonomie die Alleinverantwortung für das Weltgeschehen übernimmt und auf diese Weise Gott von allen damit ver262 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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bundenen Misshelligkeiten entlastet, so ruft sie unbestreitbar eine Theodizeepause aus, dies aber in maiorem gloriam Dei. 7 Mit diesem Beschluss endet übrigens die inhaltliche Nähe der modernen Theodizee-Diskussion zur antiken. Auch Platon, der mit dem Appell an seine Bürger, sie sollten die Beseitigung der Übel als ihre ureigene Aufgabe betrachten, Kant noch am nächsten steht, hätte niemals die Götter von ihrer Pflicht zur providentia entbunden. Kants Anlass zur Modifikation der etablierten Theodizee war der Siegeszug der menschlichen Autonomie, die sich allerdings zunächst insofern selbst missverstand, als sie sich an die Stelle Gottes setzte, indem sie ihrerseits das Zukunftsziel paradiesisch vollendeter Menschlichkeit festlegte, Tugend mit der Beförderung dieses Zieles gleichsetzte und Schwächen auf dem Weg dahin nicht als Sünde mit der Hoffnung auf Erlösung verstand, sondern als Lasterhaftigkeit mit der Aussicht auf die Todesstrafe. Damit waren die Positionen aus der alten Theodizee-Debatte umbesetzt, insofern nunmehr vor dem Tribunal nicht Gott, sondern der Mensch stand. 8 Den Gerichtsvorsitz führte nicht der spekulative Philosoph, sondern der selbsternannte Repräsentant absoluter Tugend, der sein Urteil über die Lasterhaften, die mit seinem gedanklichen Tempo nicht mithalten konnten, in selbstgerechter Gnadenlosigkeit fällte und in Wahrnehmung dieser Rolle, da er sich selbst ja wohl kaum verurteilen wird, selbst exemt blieb. Die Autonomie, die kaum dank der Aufmunterung Kants zu sich selbst gefunden hatte, wurde sogleich durch den Terror der Jakobiner schon wieder diskreditiert. Dieser Rückschlag traf die Gebildeten ins Mark. In ihrem interesselosen Wohlgefallen an der »Revolution eines geistreichen Volkes« hatte Kant ein für die Zukunft verheißungsvolles Zeichen gesehen; »denn ein solches Phänomen in der Menschengesichte vergisst sich nicht mehr.« 9 Zu den begeisterten Gebildeten gehörte erklärtermaßen auch Hegel, der nun vor der Frage stand, wie die Substanz der Revolution, eben der bürgerliche Rechtsstaat, angesichts der jakobiO. Marquard, Idealismus und Theodizee, in: Phil. Jb. 73 (1965) 33–47 und in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, in: Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1973, S. 52–65. 8 Dieser Zusammenhang ist ausgeführt bei O. Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Abschied vom Prinzipiellen, reclam 7724, Stuttgart 1981, S. 39–66. 9 I. Kant, Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei (1798), Abschnitt 7. 7

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nischen Barbarei zu wahren sei. Indem Hegel sich dieser Frage stellte, beanspruchte er zugleich im Namen der Philosophie auch die Deutungshoheit über die Revolution. In dieser Funktion galt es zunächst, den Tugendterror begrifflich zu identifizieren und im folgenden Schritt die Konsequenzen aus Robespierres Fehlverhalten zu ziehen. Hegels Analyse des Tugendterrors hat H. Lübbe zusammengefasst: Sie lehre uns, »den Terror als ein moralisches Phänomen zu verstehen – als eine Praxis der Tugend. Nicht Barabarei, nicht Verwilderung, sondern der Mensch in der Verwirklichung äußerster Möglichkeiten ist das Subjekt des Terrors … In der terroristischen Aktion verschwindet die Partikularität individueller Interessen in der Universalität dieser Zwecke. Die subjektive Bedingung … ist das gute Gewissen«, dem die terroristische Praxis ihre Kraft verdankt. 10 Im Sinne Hegels folgert H. Lübbe, die Weltgeschichte sei »ein Prozess, der abläuft, ohne dass ein sozial identifizierbares, individuelles oder kollektives Subjekt nachweisbar wäre, das diesen Prozess handelnd zu beherrschen oder zu steuern vermöchte«. 11 Wer sich also dereinst noch ermächtigt fühlt, nach seinem Ermessen Geschichtsprozesse souverän zu bestimmen, sollte sich nicht auf Hegel berufen. Platon hatte menschliche Fehlbarkeit noch mit dem Mittel einer Tugendordnung unter den Auspizien der Philosophenkönige zu neutralisieren versucht; aber selbst das Mittel der Tugend hatte sich unterdessen entzaubert und als denkbares Leitprinzip verabschiedet. Dem Menschen war nur noch zu trauen, wenn ihn eine höhere Instanz in seinem Handeln leitete. Souverän handeln durfte er nur noch unter der Bedingung, dass er sich allenfalls imaginierte, souverän zu handeln. Im Sinne dieses Dementis menschlicher Autonomie gab G. W. F. Hegel der Geschichtsphilosophie eine neue Wende, die sich insofern zugleich zwingend als Fortführung der Theodizee präsentiert, als sie der Avantgarde der Menschheit die Fähigkeit bestreitet, das Geschichtsziel zu bestimmen, weil gemäß dem »Plan der Vorsehung« allein Gott die Welt regiert. Ebendeshalb darf auch nicht einmal der Schein aufkommen, die Welt sei ein »verrücktes, törichtes Geschehen«; im Gegenteil, »die Philosophie will den Inhalt, die H. Lübbe, Freiheit und Terror, in: Praxis der Philosophie. Praktische Philosophie. Geschichtstheorie, reclam Band 9895, Stuttgart 1978, S. 79–81. Vgl. auch H. Lübbe, Hegels Kritik der politisierten Gesellschaft, in: Theorie und Entscheidung, Freiburg 1971, S. 93–110, hier insbes. S. 107. 11 H. Lübbe, Geschichtsphilosophie und politische Praxis, in: Theorie und Entscheidung (wie Anm. 10, S. 264), S. 116 und 129. 10

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Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes.« 12 Mit diesem Schritt, der letztlich ausgelöst wurde durch die Erfahrung des Versagens der Jakobiner, beanspruchte Hegel für die Philosophie nicht nur die politische, sondern auch die theologische Deutungshoheit, wenn er sich nämlich genötigt sah, gegen den deistisch zurückgezogenen, allenfalls noch in der Natur erkennbaren Gott zu argumentieren und stattdessen auf dem »mächtig in der Welt« herrschenden göttlichen Willen zu bestehen. Hegel hält es demgemäß für unerlässlich, »dass die Philosophie sich des religiösen Inhalts gegen manche Art von Theologie anzunehmen hat.« 13 Nicht der sich selbst überschätzende Revolutionär, dem eine hilflos in die Natur ausweichende Theologie das Feld überlässt, bestimmt selbstherrlich den Endzweck der Geschichte, »sondern der Geist der Begebenheiten, der sie hervortreibt, ist das Erste; er ist der Merkur, der Führer der Völker«. 14 Dabei ist Hegel vollauf bewusst, dass eine Geschichtsphilosophie, die im Weltgeist das leitende Moment der Weltgeschichte sieht, zugleich Theodizee sein muss. In diesem Sinne beendet Hegel seine »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« mit dem Satz: »Dass die Weltgeschichte diesen Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten, dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott (geschieht), sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.« 15 Das gottgewollte Geschehen in der Welt ist der »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, demgemäß im Orient einer frei war, in der Antike einige und in der modernen Welt alle. Nicht eine sich selbst überschätzende Clique, sondern der göttliche Weltgeist als System eines Prozesses bestimmt das fällige Geschichtsziel; und dieses Ziel ist nicht die Apotheose für die Tugendhaften und die Guillotine für die Lasterhaften, sondern die widerspruchsfreie Verwirklichung der G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, ed. J. Hoffmeister, Philosophische Bibliothek, Band 171 a, Hamburg 1955, S. 77 f. 13 Ebd., S. 41 und 62 f. 14 Ebd., S. 32 f. 15 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Ort wie Anm. 1, S. 259) S. 569. 12

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Freiheit Aller im bürgerlichen Rechtsstaat. Als Präsenzform des Weltgeistes ist ein Prozess erkennbar, der gemäß dem Willen Gottes Staat und Recht zur Wahrung der bürgerlichen Freiheiten verpflichtet hat – zugleich der Kerngehalt des absoluten Wissens. »Also ist es der Zweck des Geistes, sich das Bewusstsein des Absoluten zu geben und so, dass dies sein Bewusstsein als einzig und allein Wahres gegeben ist, so dass alles danach eingerichtet werden müsse und danach wirklich eingerichtet ist, dass es wirklich die Weltgeschichte regiert und regiert hat. Dies in der Tat erkennen heißt Gott die Ehre geben oder die Wahrheit verherrlichen.« 16 Das absolute Wissen ist Sache der Metaphysik, nicht Sache eines bestimmten politischen Lagers. So hatte es auch Aristoteles gehalten, als er nicht die unmittelbar praktisch ausgerichtete Idee des Guten zum Inhalt absoluten Wissens erhob, sondern den unbewegt Bewegenden, dessen menschliches Korrelat die spekulativ vernehmende Vernunft (νόησις) ohne eigene Handlungsvollmacht war. Wie viel Weisheit auch über den Tag hinaus in Hegels geschichtsphilosophischer Zurückweisung vordergründiger Autonomieansprüche steckt, wurde durch die marxistische Geschichtsphilosophie überdeutlich, die mit dem ihr eigenen Bild von der vollkommenen Welt monopolartig die Zukunft als von ihr zu verwaltendes Ressort betrachtet und mit diktatorischer Gewalt jegliches Abweichen von ihrer für allein legitim erklärten Zielsetzung unterbunden hat. Aus dem Blickwinkel einer Vorstellung von Zukunft, die weder Ausbeutung noch Entfremdung kennt, mag Hegels Geschichtsphilosophie als »Progressbremsung« 17 erscheinen; ihre wahre Absicht ist es aber, den Regress in jene Zeiten auszubremsen, in denen absolute Herrschaft das natürliche Streben nach bürgerlichen Freiheiten zu ignorieren vermochte. 18 Es versteht sich im Übrigen geradezu von selbst, dass Hegel dem bürgerlichen Rechtsstaat nicht den Vollkommenheitsanspruch aufbürdet, künftig jede Form von kontingenter Zweckwidrigkeit auszuschließen; denn was die Theodizee Gott nicht zuDers., Die Vernunft in der Geschichte (wie Anm. 12, S. 265), S. 182. E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1952, S. 419. Vgl. dazu Blochs Interpretation der »Elften These« von K. Marx, die für ihn den »archimedischen Punkt« als Abkehr von Platons Prinzip Anamnesis darstellt (»Das Prinzip Hoffnung«, Frankfurt a. M. 1959, Band I, S. 328–334). 18 Das ist der Tenor der Antwort in O. Marquards Aufsatz »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie« (Frankfurt 1973), der dem Hermeneutiker Hegel eine besondere »Empfindlichkeit gegen Regressionen« attestiert (ebd. S. 50). 16 17

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mutete, sollte auch nicht zum Legitimitätskriterium menschlicher Politik werden. Hegels Vorgehen pflichtet Kant insofern bei, als ja auch dieser eine »allgemeine Geschichte« schreibt, die den »Endzweck der Welt« sucht und dafür bereit ist, »das Zufällige zu entfernen«. 19 Was man entfernt, muss man vorher gesehen haben. So sah auch Hegel viel kontingentes Unheil, konzentrierte sich aber wie Kant entschieden auf den »Endzweck« als das Wesentliche. Denn »auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.« 20 Dieser Endzweck ist wie schon für Kant, so auch für Hegel der Rechtsstaat als Garant der Verwirklichung bürgerlicher Freiheit; denn »die Weltgeschichte ist nichts als die Entwicklung der Freiheit.« 21 Dass um dieses Endzwecks willen die Geschichtsphilosophie als gelehrige Erbin der Theodizee das Kontingente vernachlässigt, wird schließlich auch bei Hegels Würdigung der Französischen Revolution als des faktischen Vehikels moderner Rechtsstaatlichkeit zum Tragen kommen. La terreur war ohne Einschränkung verwerflich, aber entscheidend war die Beförderung des substanziellen Zieles des die bürgerlichen Freiheiten verwirklichenden Rechtsstaats. Gewitzigt durch Kants Widerlegung sämtlicher Argumente, die in der Theodizee vorgetragen wurden, unternahm Hegel nicht einmal im Ansatz den Versuch, mit den Opfern der Schlachtbank auszusöhnen. Die Anerkennung der Gegebenheit, dass sich nicht jederzeit alles »Zweckwidrige« erklären oder begründen lässt, stellt eine Demut dar, die der Vernunft gut zu Gesicht steht. Indes war die Vernunft genötigt, noch demütiger zu werden. Denn Hegels Gedanke, wenn schon mit kontingenter Zweckwidrigkeit aussöhnende Theodizee an ihren eigenen Ansprüchen scheitere, dann wenigstens noch eine auf das Allgemeine beschränkte Geschichtsphilosophie mit versöhnlichem Endergebnis an die Stelle der Theodizee zu setzen, war im XX. Jahrhundert nicht mehr durchzuhalten. Die Übel hatten ein Ausmaß anG. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (Ort wie Anm. 12, S. 265) S. 29. Ebd., S. 80. 21 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Ort wie Anm. 1, S. 259) S. 568. 19 20

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genommen, dass jeder Versuch ihrer Zuordnung zu einem vernünftigen Endzweck eine intellektuelle Zumutung bedeutet hätte. Angesichts dieser Sachlage vermutet O. Marquard, dass die praktische Philosophie das Thema des Glücks auffällig meidet, weil sie sonst auch das Thema des Unglücks einbeziehen und zugleich erkennen müsste, dass sie in Versuchung geraten könnte, zur Erörterung dieses Themas direkt oder indirekt auf den Argumentationsfundus der Theodizee zurückzugreifen, was sich indes angesichts der Atrozitäten dieses Jahrhunderts von vornherein verbietet. 22 Kant durfte noch eine Theodizeepause mit dem offenbar nicht ausdrücklich intendierten Ziel einlegen, dem Grundanliegen der Theodizee auf diese Weise zum Durchbruch zu verhelfen. Inzwischen aber ist Schweigen an die Stelle einer bloßen Pause getreten. Wie Kant in seiner berühmten Definition der Theodizee, wenn auch eher ungewollt, deutlich gemacht hat, war diese zumindest implizit schon eine höchst revolutionäre Form der Theoriebildung, die sich in ihrer Schärfe auf kein antikes Vorbild berufen konnte. Es war denkbar geworden, dass die Vernunft die Gestalt einer Klägerin annahm, die metaphorisch den Weltschöpfer vor das Tribunal zitierte und im Inneren den Gesetzeskodex einer weltumfassenden Neuordnung voraussetzte. Als nun die Theodizee in dieser Neuordnung eine Bedrohung der Weltharmonie erkannte und für deren Ausbleiben lediglich aussöhnenden Trost anbot, lag es nahe, die menschliche Autonomie ins Spiel zu bringen und der Theodizee die von O. Marquard diagnostizierte Pause zu gewähren – zeitgleich übrigens mit den revolutionären Ereignissen in Paris. Im Ergebnis haben Kant und Hegel, so darf aus der Rückschau geurteilt werden, die Theodizee als Geschichtsphilosophie fortgeführt, um die Perspektive der Klägerin auszuloten und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse in eine Rechtslehre münden zu lassen. Als emanzipatives Subjekt verstand Kant in Übereinstimmung mit der englischen Nationalökonomie noch ohne Vorbehalt die moderne bürgerliche Industriegesellschaft, deren Sittlichkeit sich in der Durchsetzung des Prinzips der Rechtsgleichheit aller erweist. Für Hegel hatte aber diese Einschätzung des Dritten Standes nach dem Auftritt der Jakobiner ihre Unschuld verloren. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen Kant und Hegel liegt darin, dass dieser Platon und mehr noch Aristoteles gegen jenen O. Marquard, Glück im Unglück, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Problemata 74, Stuttgart 1978, S. 93–111.

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in Stellung brachte, indem er die Freiheit nicht auf die moralische Innerlichkeit eingeschränkt verstand, sondern diese ganz im Sinne der philosophia practica universalis des Aristoteles als den wesentlichen Inhalt von Recht und Staat bestimmte. Dieser nunmehr in den Mittelpunkt rückende Schwerpunkt bedeutet, dass Hegels Geschichtsphilosophie nach ihrer Vollendung der letztlich auf die Stoiker zurückgehenden Theodizee konsequenterweise über sich selbst hinausweist und ihre Fortführung von der Rechtsphilosophie erwartet. In der so beauftragten Rechtsphilosophie konnten aber die einst im Hellenismus trotz Sezession aus der Polis so einflussreichen alten Stoiker keine Rolle mehr spielen. An ihre Stelle traten zwingend Platon und Aristoteles, die Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie« entsprechend gewürdigt hat, indem er ihnen gutschrieb, dass »das Politische … das Höchste (für sie ist); denn sein Zweck ist der höchste in Rücksicht auf das Praktische … Das Politische ist wie beim Plato das prius. Der besondere Wille des Einzelnen (die Willkür) wird jetzt zum Ersten, Absoluten gemacht; das Gesetz soll so sein, was Alle festsetzen. Aus diesen wenigen Zügen erhellt, dass Aristoteles nicht den Gedanken eines sogenannten Naturrechts … haben konnte; d. h. eben Betrachtung des abstrakten Menschen außer der realen Verbindung.« 23 Diese Aufwertung des Aristoteles läuft auf eine Umwertung der hellenistischen Einschätzung hinaus. Denn umgekehrt gilt Hegel in der Tat jene altstoische »Freiheit des Selbstbewusstseins« bei näherer Betrachtung als Form des »unglücklichen Bewusstseins«, dessen »Bewegung in Begriffen eine Bewegung in (ihm selbst)« ist. Diese Freiheit ist insofern »abstrakt«, als sie sich »gleichgültig gegen das natürliche Dasein« verhält. »Die allgemeinen Worte von dem Wahren und Guten, der Weisheit und der Tugend, bei welchen (der Stoiker) stehen bleiben muss, sind daher wohl im Allgemeinen erhebend, aber weil sie in der Tat zu keiner Ausbreitung des Inhalts kommen können, fangen sie bald an, Langeweile zu machen.« 24 Hegel denkt mit seiner Einschätzung an die alten Stoiker, die indes von der mittleren Stoa, vertreten durch Panaitios (ca. 185–109), den Freund Scipios d. J., insofern modifiziert wurden, als diese neben

G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, ed. H. Glockner, Stuttgart 21959, Band XVIII, S. 399 f. 24 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Philosophische Bibliothek Bd. 114, ed. J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 152–154. 23

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dem officium perfectum (κατόρθωμα) das officium medium sive commune (καθῆκον) gelten lässt. Panaitios versteht unter καθῆκον in Ciceros Auslegung die bürgerlichen Pflichten diesseits der Schule, und das einschließlich der Pflichten der Konsuln, Senatoren und Feldherren. 25 Panaitios, der offenbar die altstoische Staatsferne aufgegeben hat, ist Ciceros Quelle in seiner letzten Schrift De officiis, in der es begrifflich um die Vereinbarkeit von Sittlichgutem und Nutzen (honestum/utile) geht, biographisch aber um Ciceros politisches Testament. Eine strenge Abgrenzung der Stoa gegenüber dem politischen Philosophen Platon hatte sich nunmehr erübrigt. Unter diesen Umständen überrascht es wenig, dass sowohl Cicero selbst vom »deus ille noster Plato« 26 spricht, sondern neuerdings eben auch ein Stoiker wie Q. Lucilius Balbus in Ciceros Dialog De natura deorum (2, 32) Platon einen Gott unter den Philosophen (quendam deum philosophorum) nennt. Eine Philosophie, die in die Mitte der Stadt zurückgekehrt war, konnte auch Platon wieder als ihren genuinen Archegeten anerkennen. Diese Würdigung Platons durch Cicero war nicht nur so dahingesagt. Im Dialog De finibus bonorum et malorum gibt Cicero zu erkennen, dass es ihm eine Herzensangelegenheit war, die Entthronung der Akademiker und Peripatetiker durch die Stoa gerade um der politischen Philosophie willen rückgängig zu machen. Nachdem Cato d. J. (Uticensis) im dritten Buch den Standpunkt der Stoa zur Frage des höchsten Gutes dargelegt hatte, antwortet ihm Cicero im vierten Buch zunächst mit der Grundsatzerklärung, dass Akademiker und Peripatetiker sich mit vollem Ernst der politischen Theorie gewidmet hätten, und das bei leichten terminologischen Unterschieden in der Sache völlig übereinstimmend (§ 5). Die Abkehr Zenons von diesen seinen Vorgängern sei völlig überflüssig gewesen (§§ 13/43). Für den Staat habe die Abkehr nur zu einer Verschlechterung geführt, wenn anders die Stoiker die Natur auf das geistige Herausragen (praestantia animi) verkürzten (§ 54) und mit ihrem Insistieren, außer dem Weisen werde niemand tugendhaft, jedwedes Bemühen um die Tugend unter den Normalbürgern von vornherein entmutigten (§§ 63 f.). Dramatisierend fordert Cicero Cato auf, er möge sich überlegen, was er einem wieder auferstandenen Platon antworten könnte, wenn dieCicero, De officiis 1, 8; De finibus bonorum et malorum 3, 20. 25 und 4, 15; ad Atticum 16, 14, 3. 26 Cicero, ad Atticum 4, 16, 3. 25

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ser ihm vorhielte, warum gerade er, der Mann der vita activa, ihm die Stoa vorzöge, obwohl doch seine Philosophie und nicht Zenon dem tätigen Politiker das für ihn unerlässliche theoretische Rüstzeug biete (§ 61). Die erdachte Ansprache eines Abwesenden geht auf Platons Kriton (50 A–54 C) zurück, wo Sokrates sich fragt, was ihm wohl die Gesetze vorhielten, wenn er das Unrecht der Athener, ihn zum Tode zu verurteilen, mit dem Gegenunrecht beantwortete, ohne Zustimmung der Athener aus dem Gefängnis zu fliehen. Nach diesem Vorbild ließ Cicero in der ersten Rede gegen Catilina das Vaterland schweigend reden (patria tacita loquitur) und den Aufrührer zum freiwilligen Verlassen der Stadt Rom auffordern (1, 18). Nur wenig später lässt Cicero erneut das Vaterland schweigend zu Wort kommen, nun aber gegen sich selbst, ob er, der verantwortliche Consul, nicht durch sein Zögern gegenüber Catilina die Existenz der Stadt gefährde (1, 27–29). In allen Fällen sollen sich die Angesprochenen vorstellen, was wohl ein Abwesender einwenden könnte, und in all diesen Fällen handelte es sich um eine Gefährdung des Gemeinwesens. Und ebendieser Fall ist für Cicero offenbar auch gegeben, wenn die Stoiker die Schule der Akademiker und Peripatetiker verdrängen. Die Vernachlässigung des Aristoteles während der stoischen Ära spiegelte sich übrigens auch im Schicksal seiner Originalmanuskripte wider. Die Sammlung seiner Schriften war nach dem Tode Theophrasts, der sie übernommen hatte, unzugänglich, und Aristoteles selbst war daher im Verfolg in der philosophischen Diskussion abwesend. Strabon (13.1.54, p. 608 C) berichtet, Theophrast sei der Erste gewesen, der systematisch Bücher sammelte und die Könige von Ägypten in der Kunst unterrichtete, eine Bibliothek aufzubauen. Er habe die Bücher des Aristoteles samt der eigenen seinem Schüler Neleus von Skepsis in der Troas vermacht, dessen Nachfahren die Schriften des Aristoteles und Theophrast in einem völlig ungeeigneten Abstellraum lagerten, um sie dem Zugriff des Eumenes II. von Pergamon (r. 197–159) zu entziehen, der für seine Bibliothek in Pergamon nach ihnen fahndete. Ein späterer Nachkomme verkaufte die Texte, von Schimmel und Feuchtigkeit befallen, an Apellikon von Teos, der sie fehlerhaft aufbereitete. Die Folge war, dass die Peripatetiker ohne Originaltexte ihres Gründers dastanden, weil sie mit Ausnahme weniger Gelehrter nur auf exoterische Schriften zugreifen konnten und im Übrigen Gemeinplätze rednerisch ausschmückten (θέσεις ληκυθίζειν) oder sich in bloßen Vermutungen ergingen (εἰκότα 271 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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λέγειν). Zu diesem Missstand habe Rom viel beigetragen. Nachdem Sulla im Jahre 86 Athen erobert hatte, beschlagnahmte er die Sammlung des vor kurzem verstorbenen Apellikon. Danach kamen die Texte in die Hände eines sorglosen Buchhändlers, bis sie ihm endlich der Aristotelesfreund und Grammatiker Tyrannion abschwatzte. Diesen Bericht Strabons ergänzt Plutarch in seiner Vita Sullas (26, 1–2): Sulla beschlagnahmte die Bibliothek des Apellikon mit den Abhandlungen des Aristoteles und Theophrast, die zu jener Zeit wenig bekannt waren. Tyrannion aber, so heißt es, habe die Texte, nachdem sie nach Rom verbracht waren, geordnet (ἐνσκευάσασθαι). Abschließend versichert auch Plutarch, die unangemessene Behandlung der Texte durch die Erben des Neleus habe dazu geführt, dass die alten Peripatetiker keinen Zugang zu den Originalen des Aristoteles hatten. So weit Strabon und Plutarch. Da nun Tyrannion die schlechten Vorlagen wohl kaum sachgerecht emendieren konnte, fragt man sich nach der Lektüre der beiden Berichte, auf welchem Wege denn der Nachwelt die guten und zuverlässigen Aristotelesausgaben beschert wurden. Auf diese Frage hat Plutarch zumindest halb zufriedenstellend geantwortet, indem er über Strabon hinausgehend berichtete, Tyrannion habe das Material Andronikos von Rhodos, Schulhaupt des Peripatos um das Jahr 70, zugeschickt, der die Werke des Aristoteles publizierte und eine Liste ihrer Titel aufstellte. Diese Nachricht hilft insofern weiter, als sie auf die Rolle des Andronikos verweist, nicht aber erklärt, auf welche Weise Andronikos tatsächlich gelingen konnte, was Tyrannion offenbar nicht gelungen ist. Auf diese offene Frage, die die Gelehrten schon lange beschäftigt hat, ist zuletzt O. Primavesi 27 eingegangen, wenn er fragt, woher wir unsere guten Aristotelesausgaben haben, wenn sie auf einer unheilbar schlechten Vorlage beruhten, mit der zumindest Tyrannion vorlieb nehmen musste. Entweder hat Strabon, als er von der schlechten Qualität der Texte sprach, übertrieben, oder es muss noch einen zweiten Überlieferungsstrang gegeben haben. Von diesem Ansatz ausgehend ermittelt O. Primavesi, dass zwei verschiedene Formen, die Texte nach Büchern durchzubuchstabieren, tatsächlich auf zwei Überliegerungsstränge schließen lassen. Diesen Befund bestätigt das Loblied des Athenaios (2 B–3 B) auf Larensis, den Kultbeauftragten des Kaisers Marc Aurel, der in seiner übergroßen BiO. Primavesi: Ein Blick in den Stollen von Skepsis. Vier Kapitel zur frühen Überlieferung des Corpus Aristotelicum, in: Philologus 151 (2007) 51–77.

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bliothek auch alle Werke des Aristoteles und Theophrast besessen habe. Erläuternd fügt Athenaios hinzu, Neleus habe seinerzeit Ptolemaios II. Philadelphos (r. 285–246) die fraglichen Texte verkauft, der sie zusammen mit anderen Schriften, die er in Athen und Rhodos erworben hatte, nach Alexandria brachte. Demnach hat Neleus offenbar die Schriften des Aristoteles in doppelter Ausfertigung besessen; die eine hat er behalten, die später dank der Unachtsamkeit seiner Erben verkam, und die andere dem König verkauft, als sie noch in einem guten Erhaltungszustand war. Vielleicht musste er bei der Übergabe versprechen, niemand anderem ein Exemplar zu verkaufen, auch nicht dem König von Pergamon. Die beiden Textüberlieferungsstränge beginnen offenbar im Hause des Neleus auseinander zu laufen. Der schlechtere Strang verlief von Neleus über Apellikon und Sulla nach Rom zu Tyrannion, der bessere direkt von Neleus zur Bibliothek in Alexandria. Dort dürfte Andronikos eine unverderbte Urschrift für seine gute Aristotelesausgabe gefunden haben, musste sich also nicht auf die Zusendung des Tyrannion verlassen, falls diese überhaupt erfolgt war. Athenaios (214 D–E) beseitigt übrigens noch eine weitere Schwierigkeit in Strabons Bericht, sofern dieser eingeflochten hatte, Apellikon sei zwar eher ein Bibliophiler und weniger an Philosophie interessiert gewesen, habe sich aber trotzdem um eine Wiederherstellung der schlecht erhaltenen Texte bemüht. Da fragt man sich unwillkürlich, wieso ein an Philosophie nicht allzu sehr Interessierter die ungeheuere Mühe auf sich nehmen sollte, die mit der Aufbereitung so vieler philosophischer Schriften verbunden ist. Zumal für ihn Bücher offenbar einen vom Inhalt unabhängigen Wert hatten. Denn nach der Darstellung bei Athenaios hatte der reiche Apellikon die Texte des Aristoteles und zusätzlich noch viele andere lediglich aufgekauft und ferner heimlich Dokumente aus den Metroon, dem Staatsarchiv der Athener, entwendet. Zugleich bescheinigt aber Athenaios dem reichen Apellikon nicht nur eine am Inhalt weniger interessierte Bibliophilie, sondern gleich zweimal auch sein Bekenntnis zur peripatetischen Schule. Ganz uninteressiert an Philosophie war also Apellikon doch nicht, und außerdem könnte er bedacht haben, dass eine sachgerecht aufbereitete Bibliothek wertvoller ist als eine Sammlung loser und ungeordneter Papyri. Dass das Schicksal Sulla und Tyrannion Zugriff nur auf das schlechtere Exemplar erlaubte, deckt sich mit dem Anspruchsdenken des Ptolemaios II. Philadelphos, der die Bibliothek von Alexandria 273 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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gegründet hat. Gegen eine Sicherheit von fünfzehn Talenten borgte sich der König aus dem Athener Metroon das kanonische Exemplar der Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides, um es von seinen Schreibern kopieren zu lassen. Statt den Athenern das Original zurückzuschicken, überließ er ihnen eine Abschrift auf edelstem Pergament und verzichtete auf die fünfzehn Talente (Galen 17, 607). Die Athener mussten das hinnehmen, zumal sie Ptolemaios II. als Verbündeten im Chremonideischen Krieg (267–261) benötigten. Aus diesem Vorgehen des Ptolemaios darf geschlossen werden, dass Ptolemaios auch Texte des Aristoteles und Theophrat für seine Bibliothek nur im Original akzeptierte. Ferner ist zu vermuten, dass Andronikos für seine als vorbildlich gerühmte Ausgabe auf die Vorlage in Alexandria zurückgreifen konnte und nicht auf die Zusendung des Tyrannion angewiesen war, zumal Plutarch seinen Bericht über diesen Vorgang mit einem dicitur einschränkt. Die Freunde des Aristoteles haben Ptolemaios II. offenbar viel zu verdanken. Das Schicksal der Schriften des Aristoteles ist allerdings symptomatisch für seine mangelnde Präsenz in hellenistischer Zeit. Offenbar gab es auch keine ernsthaften Initiativen, auf irgendeine Weise an seine Texte heranzukommen. Als aber das Interesse an der praktischen Philosophie als Philosophie des Staates wieder erwachte, besann man sich eines Besseren und sorgte dafür, dass die Werke des Aristoteles wieder zugänglich wurden. Es waren also auch in der Antike schon Schritte erfolgt, um bei gleichzeitig zurückgehender Autorität der Stoiker nicht nur Platon, sondern auch Aristoteles wieder in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken. Umso leichter war es für Hegel, in seinen »Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie« Platon und Aristoteles auf Unkosten zumindest der alten Stoiker als »Lehrer des Menschengeschlechts« 28 zu apostrophieren – eine Einschätzung, mit der Hegel keineswegs alleine dasteht. A. N. Whitehead rühmt Platon mit den vielzitierten Worten: »The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato … I allude to the wealth of general ideas scattered through (his writings). His personal endowments, his wide opportunities for experience at a great period of civilization, his inheritance of an intellectual tradition not

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (wie Anm. 23, S. 269), S. 298.

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yet stiffened by excessive systematization, have made his writings an inexhaustible mine of suggestion.« 29 Und Whitehead gleichsam ergänzend gibt H. Flashar seinem neuen Buch über Aristoteles den Untertitel »Lehrer des Abendlandes«. Erneut mündete schließlich ein Umweg in ein am Anfang nicht zu erwartendes Wegesende. Der Umweg begann bei der Theodizee, gelangte zur Geschichtsphilosophie und weiter zur Rechtsphilosophie, bis am Ende Platon und Aristoteles wieder auf dem ihnen gebührenden Thron saßen. Die Anknüpfung an Aristoteles ist für Hegel gleichsam naturgegeben. Er erweist Aristoteles die Ehre, weil er in ihm einen kongenialen politischen Denker erkennt. Einer allgemeinen Rechtfertigung bedarf das Prinzip solchen Anknüpfens nicht. Es ist das auszeichnende Merkmal der Philosophie, dass zu ihrer Identität ihre eigene Geschichte gehört. Philosophische Argumentation ist anlassbedingte Anknüpfung an Argumente, die im Fundus der Geschichte der Philosophie immer schon archiviert sind. Blind darf diese Anknüpfung allerdings nicht erfolgen. Ergiebigkeit und Zustimmungsfähigkeit müssen gegeben sein. Mit gutem Grund reklamiert H. Lübbe in vielen seiner Publikationen für den Anknüpfenden im Namen aufgeklärten Selbstdenkens das Recht auf eklektische Inanspruchnahme überlieferter Klassikertexte. Auf dieser Selbständigkeit bestand auch Hegel, indem er etwa gegen Aristoteles mit Nachdruck unterstrich, dass post Christum natum der Sklavenstatus mit dem systematischen Recht nicht mehr vereinbar sei. 30 Bei jeder konkreten Anknüpfung gilt es indes zu bedenken, dass es der spätere Autor naturgemäß leichter hat, seine Eigenständigkeit zu bewahren. Schwerer hat es dagegen der zitierte Autor, der sich nicht mehr wehren kann, wenn er ohne Rücksicht auf seine eigene Intention zitiert wird. Während also der Anknüpfende ungehindert nach seinen Kriterien auf Überliefertes zugreifen kann, muss der zitierte Autor jederzeit bangen, ob er auch als er selbst respektiert und nur im Sinne seiner ursprünglichen Absicht in Anspruch genommen wird. Gegen dieses Risiko, dass eine Aussage nicht im Sinne ihres Urhebers verstanden wird, hilft nur ein einziges Mittel. Der Interpretierende muss die offenbar leitende Ausgangsfrage erfassen, auf die die zu deutende Aussage eine Antwort ist. Diese im Grunde nahe liegende Überlegung war, wie die A. N. Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology (1929). Corrected Edition by D. R. Griffin and D. W. Sherburne, The Free Press, New York 1978, S. 39. 30 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (Ort wie Anm. 12, S. 265), S. 62 f. 29

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rhetorische Lehre von der quaestio finita bzw. infinita dokumentiert, auch in der Antike zumindest implizit schon bewusst.

Die quaestio finita als Prüfstein originalgetreuer Rezeption Wer das gesamte Menschengeschlecht und nicht lediglich einen kleinen Kreis von Anhängern zu seinen Schülern zählen darf, gebietet über eine Autorität, die ihn als bevorzugte Berufungsinstanz erscheinen lässt. Da Platon und Aristoteles einen derartigen Status trotz zwischenzeitlicher Verdrängung in der modernen Welt unbestreitbar wiedergewonnen haben, ist es nur natürlich, dass sie im Streit der Meinungen bevorzugt in den Zeugenstand gerufen werden, gleich welche Handlungssysteme von deren Anwälten jeweils vertreten werden. Platon und Aristoteles haben den Test der Zeit mit Bravour bestanden und damit ihre Glaubhaftigkeit ein für alle Mal gesichert; und wer sich überzeugend auf sie berufen kann, muss eben deshalb auch Recht haben. Solche absichernde Anknüpfung hat, wie Aristoteles selbst betont, gleich einen doppelten Nutzen: Wir gewinnen im Ausgang vom schon Geleisteten (das wir also nicht noch einmal erfinden müssen) weitergehende Erkenntnisse, und wir können in unsere philosophische Tätigkeit noch mehr Selbstvertrauen setzen. 1 Hegel dürfte dieses Ermutigungsargument bereitwillig aufgenommen haben, zumal ihm nicht entgangen war, dass sich das Vertrauen in die philosophische Überlieferung außerhalb des Hörsaals nicht mehr von selbst verstand. Denn er kam nicht umhin einzugestehen, dass der Geist seiner Zeit philosophische Lehren als zeitbedingt relativierte und als »tote Meinung« oder gar als »Kollektion von Mumien« abtat. 2 Nur bleibt bei dieser voreiligen Verabschiedung der Philosophie außer Betracht, dass sie neben ihren zugegeben zeitbedingten Urteilen und Einsichten auch über eine bleibende Fähigkeit gebietet, nämlich das, was ist, als das Vernünftige zu begreifen, und dass sie daraus als ihr verpflichtendes Geschäft ableitet, das, was ist, immer da öffentlich geltend zu machen, wo dessen Vernünftigkeit Aristoteles, Metaphysik 983 b 1–6; vgl. auch Metaphysik 1069 a 24–26. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, ed. H. Glockner, Stuttgart 2 1958, Band I, S. 40. 1 2

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nicht gesehen wird. Gewiss bezieht sich die Philosophie gemäß dieser Maxime sehr wohl auf Probleme ihrer Zeit, das aber gestützt auf die Tradition einer mehr als zweitausend Jahre währenden Einübung in die Kunst, das, was ist, als das Vernünftige zu begreifen und auszusagen. Die Berufung auf die großen Klassiker gehört also gerade auch im Interesse der Gegenwart konstitutiv zum Geschäft der Philosophie. Wenn auch vielleicht öffentlich unbemerkt, wahren also Platon und Aristoteles ihren Einfluss, gehen dabei aber nahezu unvermeidlich das Risiko des Zitierten ein, dass fremde Intentionen in die ihrigen hineinprojiziert werden. Wenn nämlich einerseits Verfechter des bürgerlichen Rechtsstaats wie Hegel und wie später auch die geistigen Begründer der Bundesrepublik Deutschland Platon und Aristoteles als Zeugen anrufen, andererseits dasselbe insbesondere im Falle Platons auch Ideologen des Nationalsozialismus und Kommunismus versucht haben 3, dann kann das formal nur bedeuten, dass sich allenfalls einer von dreien zu Recht auf die beiden Klassiker beruft. ObR. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus (München 1863), interpretiert Platon als Kommunisten, der aber in den Ansätzen stecken geblieben ist. Auch für G. Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart (Leipzig 1899), ist Platon den Weg zum vollendeten Kommunismus nicht zu Ende gegangen. Diesen Widerspruch Platons bemängelt auch D. Tsakonas, Platon und der Sozialismus. Ein Beitrag zur Geschichte der sozialen Theorie mit Bezug auf die Gegenwart (Bonn 1960). Platon füllte also neben dem Vorläufer auch gleich noch die Rolle des ersten Abweichlers aus. Um den Verdacht des Jagdeifers zu vermeiden, der sich an einer ausgestorbenen Art auslässt, seien von der Gegenseite nur einige Titel, aber keine Namen zitiert: Platon als Hüter des Lebens. Platons Zuchtund Erziehungsgedanken und deren Bedeutung für die Gegenwart (1928); Platons Staat und Hitlers Kampf (1933); Der Führergedanke in der platonischen und aristotelischen Staatslehre (1937). Vielsagend ist auch das inoffizielle Detail, dass ein Hochschullehrer jener Tage unter seinen Studenten auf den Spitznamen »PG Platon« hörte. Unschuldig wie er war, musste Platon für solche Vereinnahmung gleichwohl büßen. Am bekanntesten ist das vom gerechten Zorn auf Hitler und Stalin motivierte Buch K. R. Poppers, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (erstmals London 1945). Seiner Absicht wenig dienlich schmäht Popper Hegel als geistiges Bindeglied zwischen dem Nationalsozialismus und Platon und Aristoteles: Alle drei Philosophen huldigten, so Popper, einem archaischen Sippensystem, obwohl sie sich tatsächlich mit einem Staat befassten, der die Fragmentierung in Sippen lange überwunden hatte. Abgesehen von dieser verfehlten Zuordnung scheint es nicht eben eine Empfehlung der offenen Gesellschaft zu sein, wenn sie wirklich zu ihren Gegnern drei hochangesehene Philosophen zählen müsste. Eine gute Übersicht über die schon während des Zweiten Weltkrieges einsetzenden Angriffe auf Platon bietet J. Wild, Plato’s Modern Enemies and the Theory of Natural Law (Chicago 1959).

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wohl nun die einschlägigen Versuche der beiden extremistischen Gruppen längst obsolet sind, wirkt nach wie vor schon die bloße Möglichkeit befremdlich, dass einerseits Anwälte des bürgerlichen Rechtsstaates Platon und Aristoteles mit guten Gründen für sich in den Zeugenstand rufen konnten und dass sich andererseits ebenso jene Extremisten dazu legitimiert fühlten, die bei allen Unterschieden untereinander doch gerade darin übereinstimmten, dass sie in ihrem Denken und Handeln den Rechtsstaat missachteten und überhaupt die Suprematie des Staates zugunsten ihrer jeweiligen Einheitspartei untergruben. Das wirft unvermeidlich die methodische Frage auf, wie sich eine Berufung auf einen Klassiker zumal nach mehr als zwei Jahrtausenden als haltbar, weil originalgetreu erweisen lässt, wenn es offenbar möglich ist, dass ein und derselbe Philosoph aufgerufen wird, den Rechtsstaat und ebenso dessen entschiedene Verächter zu beglaubigen. Offenbar widerfährt dem zitierten Klassiker nur Gerechtigkeit, wenn die jeweilige Anknüpfung gerade unter Berücksichtigung seiner originalen Fragestellung und seiner damit verbundenen ursprünglichen Absicht erfolgt. Damit das Abtragen dieser Beweislast gelingt, scheint ein Versuch nicht müßig, die für die Theorie der Rhetorik so bedeutsame Unterscheidung zwischen quaestio finita (sive definita) und quaestio infinita auch auf die Arbeit der Philosophie zu übertragen. 4 Die quaestio finita ist die Formulierung derjenigen Frage, die das Gericht in einem ganz bestimmten Rechtsfall (causa/ὑπόθεσις) unter Würdigung der beteiligten Personen und Zeitumstände verbindlich beantworten muss: Hat Orest Klytämnestra zu Recht getötet oder nicht? Im Gegensatz zu der auf das Besondere der quaestio finita sive specialis konzentrierten Gerichtsrede wird der Philosophie bereitwillig das Feld der quaestio infinita sive generalis zuerkannt, die ein Allgemeines zum Gegenstand (propositum/θέσις) hat: Wird die Welt vom Fatum oder vom Zufall regiert? Kümmern sich die Götter um die Menschen oder nicht? Beruht das Recht auf Natur oder Übereinkunft? Diese allgemeinen Fragen werden in den Augen der Rhetoriklehrer von der Philosophie immer wieder von neuem erörtert, ohne dass bestimme Veranlassungen, Personen und Zeitumstände dazu nötigen. Quellen: Cicero, De oratore 1, 138–139 und 2, 65–68. 134; De inventione 1, 8–10; Partitiones oratoriae 61 und 106; Topik 79–82; De finibus bonorum et malorum 4, 6. Quintilian 3, 5, 5–16.

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Adressat der Unterscheidung zwischen den beiden Fragegattungen ist der Rhetorikschüler, dem der Lehrer zu verstehen gibt, er möge sich zwar bei seinen Ausführungen auf das zum Besonderen seines bestimmten Falles Gehörige konzentrieren, das aber in dem Bewusstsein, dass in jeder finiten Frage auch eine oder mehrere infinite stecken, die es in maßvoller Ausdehnung mitzubedenken gilt. Als L. Opimius von der Anklage des Volkstribunen P. Decius wegen Ermordung des C. Gracchus freigesprochen wurde, war die grundsätzliche Erörterung ausschlaggebend, ob ein Konsul einen römischen Bürger auf Senatsbeschluss auch dann töten dürfe, wenn die Gesetze dies nicht erlaubten; und der Prozess gegen Milo, den einen Wegelagerer, wegen Ermordung Clodius, des anderen Wegelagerers, stand unvermeidlich im Zeichen der Frage, ob nicht schon vom Grundsatz her die Tötung eines Wegelagerers gerechtfertigt sei. Der Rhetorikschüler hat also zu bedenken, dass hinter seinem noch so bestimmten Fall jederzeit auch allgemeine Gesichtspunkte stecken, die er ausdrücklich geltend machen soll, damit sein Plädoyer umso überzeugender wirkt. Nur soll er mit Rücksicht auf die Geduld der Richter Aspekte der Ethik und Staatslehre kurz und bündig einflechten, statt mit der für die Philosophen typischen Ausführlichkeit die Dinge allzu sehr in die Länge zu ziehen. Damit nun die allgemeinen Gesichtspunkte, auf die der Redner zur Steigerung seiner Argumentation rekurriert, nicht in der Luft hängen, muss er darauf achten, dass sie jederzeit mit der veranlassenden quaestio finita samt bestimmten Personen und Zeitumständen in evidenter Beziehung stehen. Wie indes die angeführten Beispiele philosophischer quaestiones infinitae zeigen, haben die Rhetoriklehrer offenbar deren Rückführung auf eine ganz bestimmte Ausgangsfrage von vornherein nicht vorgesehen. Die Philosophen verhandeln in den Augen der Rhetoren ihre das Allgemeine betreffenden Themen ohne auslösende quaestio finita. Dessen unerachtet dürfte jedoch gerade eine unverkürzte Übertragung des rhetorischen Modells auf die Arbeit der philosophischen Vergegenwärtigung von Klassikern gewährleisten, dass sie originalgetreu erfolgt. Das systematisch interessierende Allgemeine, so darf erwartet werden, wird immer dann im ursprünglichen Sinne des philosophischen Klassikers begriffen, wenn es überzeugend auf eine neben dem Rhetor auch ihm zu unterstellende bestimmte Ausgangsfragestellung samt beteiligten Personen und Zeitumständen bezogen wird. Dieser Arbeitsschritt verbürgt, dass das systematisch interessierende Philosophem zugleich auch historisch 279 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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zutreffend erörtert wird. Eine derartige Absicherung bereitet schließlich auch den festen Boden für die anschließende eklektische Entscheidung, in welchen Grenzen eine Vergegenwärtigung des Befundes einer unterstützenden Rechtfertigung eigener Vorstellungen dient. Generell sind die mit diesem methodischen Gebot verbundenen Schwierigkeiten nicht zu unterschätzen. Das gilt insbesondere, wenn die Befangenheit in der vermeintlichen Selbstverständlichkeit eigener Vorstellungen unbewusst bleibt. Wer zum Beispiel Platons Dialog Kratylos für ein frühes Gründungsdokument der offiziell von J. G. Herder inaugurierten Sprachphilosophie hält, hat die auslösende quaestio finita zu seinem Schaden schon im Ansatz verfehlt. Als Beispiel soll neben möglichen anderen die folgende Passage bei K. Löwith dienen: »Aus den im Kratylos entwickelten Aporien gibt es keinen Ausweg, solange man die Sprache in einzelne Worte aufteilt, die Worte als Namen für einzelne Dinge fixiert und die Beziehung der Worte auf Dinge als bloße Benennung festsetzt. Der Zusammenhang der Worte im Ganzen einer sie wechselseitig bestimmenden Rede und der ursprüngliche Bezug des redenden Menschen zur besprochenen Welt wird damit von vornherein eliminiert.« Löwith erklärt den von ihm angemerkten Fehler aus der Eigenart des auf das εἶδος (species) fixierten griechischen Denkens. 5 Indes ist Platons Beschäftigung mit isolierten Worten im Kratylos ganz und gar folgerichtig, sofern diese einer bestimmten quaestio finita geschuldet ist, nämlich ob es mit Hilfe der Etymologie möglich ist, eine in der Sache liegende Übereinstimmung homerischer und herakliteischer Termini nachzuweisen. Schließlich widmete sich ja nicht anders als die »moderne« Physiologie einst auch die epische Dichtung der Frage nach der Ordnung der Welt im Ganzen. Die Frage, ob die Namen den Sachen von Natur oder durch Konvention zuwachsen, ist eine nachgeordnete quaestio infinita, die im Sinne der ersteren Möglichkeit entschieden wird, weil so die gewagte Hoffnung des Herakliteers Kratylos und des Priesters Euthyphron, dessen Rolle der von ihm am selben Tage schon inspirierte Sokrates übernimmt (Kratylos 396 D–E), bessere Aussichten hat. Im Übrigen fand Platon durchaus einen Ausweg aus der erörterten Aporie, und zwar den der Aufforderung, sich zur Lösung von Sachfragen lieber seiner Vernunft zu bedienen, »statt seine Seele leK. Löwith, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 215.

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diglich den Wörtern in Pflege hinzugeben« (440 C). Platon wollte mit dem Dialog Kratylos also nicht einer bestimmten modernen philosophischen Disziplin 6 präludieren, sondern gegen einen zu seiner Zeit grassierenden Unfug protestieren, der mit dem Ziel der Versöhnung von Epos und ionischer Physiologie im Gewande wissenschaftlicher Anmutung daherkam. Genaues Hinsehen hilft indes nicht, wenn Schriftzeugnisse nur bruchstückhaft überliefert sind. Das erweist sich, wenn man etwa fragt, welche quaestio finita wohl der Auslöser der jonischen Physiologie war. Eine Antwort könnte lauten, dass Thales auf seinen Satz, das Wasser sei das Element aller Dinge, verfiel, weil er nach einer Erklärung für das beunruhigende Phänomen des Erdbebens suchte. Wenn sich nämlich der Erdkreis wie ein Schiff auf dem Wasser bewegt, dann könnte man doch, so hat Thales laut Seneca erwogen, das Erdbeben als Auswirkung des alsdann unvermeidlichen Wellenschlages verstehen. 7 Diese Erklärung erscheint durchaus nicht abwegig, kann aber in Ermangelung umfangreicheren Beweismaterials keineswegs als gesichert angesehen werden. Dagegen besteht ein solcher Mangel auf gar keinen Fall, soweit es Platon und Aristoteles betrifft, die wahrhaft genügend schriftliches Beweismaterial hinterlassen haben. Der Berufung auf Platon und Aristoteles steht also kein äußeres Hindernis im Wege, wenn sie hofft, sich jederzeit im Einklang mit deren Intentionen zu bewegen, sobald sie hinter die doxographisch operierende Tradition des Platonismus und Aristotelismus noch zurückgeht und die ursprünglich zugrunde liegende quaestio finita unter Beachtung von Personen und Zeitumständen zutreffend ermittelt. Als Beispiel diene J. Ritters These, dass der abstrakt postulierende Naturrechtsbegriff, den Chr. Wolff aus der auf Aristoteles zurückgehenden Lehrtradidtion herleitet, im entscheidenden Punkt das Original verfehlt, sofern Aristoteles das Naturrecht gerade nicht wie eine nichtexistierende Größe einfordert; vielmehr sei für ihn das von Natur Rechte in der existierenden Polis institutionell verankert und bilde unter dieser Voraussetzung den aktualen Grund der Freiheit ihrer Bürger. 8 Eine Klassikeranknüpfung, die die quaestio finita zutreffend Zur Einordnung der modernen Sprachphilosophie vgl. A. Reckermann, Sprache und Metaphysik. Zur Kritik der sprachlichen Vernunft bei Herder und Humboldt, München 1979. 7 Thales 11 A 15 = Seneca, Naturales quaestiones 3, 14. 8 J. Ritter, »Naturrecht« bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, in: Metaphysik und Politik, Frankfurt 1969, S. 133–179. 6

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Hegels Rückgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platon und den Tragikern

identifiziert und dies im Verfolg am Text zu verifizieren vermag, verdient das Gütesiegel »originalgetreu«. Demgemäß ist durch den Ausgang von der quaestio finita auf der sachlichen Ebene gewährleistet, dass der Anknüpfende nicht Inadäquates in den Vorläufer hineinprojiziert, sondern von ihm lernt und aus ihm Zutrauen in die eigene Arbeit schöpft, und auf der Ebene der Persönlichkeitsrechte, dass der Vorläufer als ein durch seine eigenen Intentionen charakterisiertes Subjekt an dem Rezeptionsverfahren teilnimmt, also einen Status innehat, der für den Anknüpfenden durch seine Freiheit der eklektischen Herangehensweise ohnehin schon gesichert ist.

Hegels Rückgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platon und den Tragikern Liest man nun Platons Politeia mit den Augen Hegels, so verweist schon der andere Titel des Dialoges, nämlich »Über die Gerechtigkeit«, auf die beherrschende quaestio infinita – eben auf die Frage nach der Gerechtigkeit an und für sich. Am Anfang dieser Erörterung stand aber zweifellos Platons quaestio finita, wie ein Staat beschaffen sein muss, der nicht ausgerechnet seinen gerechtesten Bürger zu Tode bringt. Platons Antwort liegt nahe: Dieser Staat muss dafür bürgen, dass die Menge und ihre demagogischen Aufwiegler, die Platon für den Tod des Sokrates verantwortlich macht, durch politische Entmündigung einer Ordnung unterworfen sind, die auf philosophisch bestimmter Gerechtigkeit beruht. Um eine Wiederholung des Sokratesschicksals zu verhindern, gilt es einen Staat der Sittlichkeit zu gründen, der von der Kardinaltugend der Gerechtigkeit vollständig durchdrungen ist. Mit diesem Ziel vor Augen bleibt Platon seiner finiten Ausgangsfrage treu, sofern er sich in der Politeia mit Bestimmung und Ansiedlung der Gerechtigkeit im vollkommen sittlichen Staat unter den Auspizien des Philosophenkönigs befasst und in seinem Spätwerk, den Nomoi, auf einen detaillierten Gesetzeskodex als die immerhin zweitbeste Möglichkeit setzt, weil die beste Möglichkeit, die Herrschaft des Philosophenkönigs, Übermenschliches vom Menschen verlangt. 1 Die Sittlichkeit des gerechten Staates wiederum

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Zur Begründung des Verzichts auf den Philosophenkönig vgl. oben S. 43, 46, 83 f.

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erweist sich äußerlich betrachtet an dem, was er zulässt, und an dem, was er unterbindet. Damit in diesem Sinne die Durchsetzung der philosophischen Grundsätze ohne Ausnahmen garantiert ist, besteht Platon auf unbedingter Suprematie des Staates und etabliert die dominierende Oberschicht der Wächter, die wiederum auf Privateigentum und Familie verzichten müssen, damit sie nicht entgegen dem Prinzip der Sittlichkeit in Versuchung geraten, ihre Macht zu Selbstbereicherung und Korruption zu nutzen. Wenn Platon dem selbstbewussten, souveränen Staat das Wort redet, vergisst er darüber keineswegs, dass dessen Sittlichkeit als Erfüllung der Kardinaltugenden den einzelnen Bürger nicht minder betrifft. Jeder Einzelne ist der Kardinaltugend seines jeweiligen Standes ebenso verpflichtet wie sein Stand insgesamt, und jeder Einzelne übt damit zugleich als Bürger des gesamten Staates dessen umgreifende Tugend der Gerechtigkeit aus, eben indem er das Seine tut. Politik und Ethik fallen also in Platons praktischer Philosophie zusammen. Deren Unbedingtes, das ἀνυπόθετον, das »unter nichts anderes daruntergelegt werden kann«, ist das Gute als die göttliche Größe, von der sich der Philosoph eine Idee verschafft und daher weiß, dass nicht Trieb und Lustgewinn das irdische Korrelat des Guten sind, sondern allein die Gerechtigkeit (Politeia 505 B–C). Hegel kann auf solche Grundlegung nur dankbar zurückgreifen. Der Staat ist für ihn die Gegenwartsform des »Ganges Gottes in der Welt« 2, und die wahrhaft herrschende Kraft ist nicht der bornierte Avantgardist, sondern göttlicher Geist. Entsprechend steht für Platon im Zentrum des Universums die göttliche Idee, die der Philosoph vernimmt und als Richtmaß des sittlichen Staates seinem politischen Handeln zugrunde legt. Die Korrelativität von Metaphysik und Politik ist gemeinsamer Ausgangspunkt Platons und Hegels. Freilich kommt Hegel nicht umhin anzumerken, dass Platon und Aristoteles wie auch alle übrigen Griechen insgesamt nur wussten, »dass Einige frei sind, nicht der Mensch als solcher« 3, und dass ihnen die Größe der Subjektivität noch fremd war. Auch habe Platon sich der in der modernen Welt unabdingbaren Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft entgegengestemmt, weil in seiner eng umgrenzten Polis »die Allgemeinheit … die Kräfte des Besonderen an G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss (als Rph. nach §§ zitiert) § 258 Z. 3 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (Ort wie Anm. 12, S. 265), S. 62. 2

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sich zieht«. 4 Andererseits verquickt Hegel wie Platon Ethik und Politik und besteht wie Platon auf Sittlichkeit des Staates und auf seiner Suprematie gegenüber Sippen oder Großfamilien. Insbesondere teilt Hegel Platons Bestimmung, dass der gerechte Staat das irdische Korrelat der göttlichen Idee ist, wenn er den Vernunftstaat als Werk Gottes versteht. Allerdings muss Hegel, wie gesagt, den Umstand verschmerzen, dass Platon seine praktische Philosophie noch ohne Rücksicht auf die Subjektivität vorgetragen hat (Encyclopädie § 552). Subjektivität bedeutet moralische Innerlichkeit, die als sie selbst bei einer Handlung dabei ist und Anspruch hat, dass dieses Dabeisein in einem mit ihrer Würde respektiert wird. Subjektivität ist also ein zentrales Moment modernen Selbstverständnisses, dessen Fehlen Platon in den Augen Hegels gleichwohl nicht entwertet, weil ja der Satz, dass der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee ist 5, negativ zum Ausdruck bringt, dass dieser Stellenwert eben nicht der moralischen Innerlichkeit als vorstaatlicher Größe zukommt. Platon bleibt also für Hegel, wenn es um die Suprematie des Staates als das Substanzielle geht, ein ausgezeichneter Zeuge. Aus platonischer Metaphysik, die eine konstante, gleich bleibende Weltordnung annimmt, wird bei Hegel Metaphysik als Geschichtsphilosophie, die die Welt nur als geschichtlichen Prozess interpretieren kann. Wenn nun Hegel diese Weltgeschichte als den Vollzug des göttlichen Willens begreift, so könnte mancher Agnostiker fragen, ob er dann immer noch das, was ist, aussagt und ob nicht in Wahrheit große Männer der Geschichte es waren, die die Welt vorangebracht haben. Hegel antwortet darauf, dass welthistorische Individuen wie Alexander, Caesar und der von Hegel hochgeachtete Napoleon zwar eine höchst aktive Rolle gespielt haben, aber als bloße »Geschäftsführer eines Zwecks …, der eine Stufe in dem Fortschreitungsgange des allgemeinen Geistes bildet.« 6 Dabei hält sich die »allgemeine Idee« im Hintergrund und »schickt das Besondere der Leidenschaft (der nur ihren eigenen Interessen dienenden Individuen) in den Kampf, sich abzureiben. Man kann es die List der Vernunft nennen, dass sie die Leidenschaften für sich wirken lässt.« 7 Diese List der Vernunft, letztlich ein Mittel der Vollstreckung des Willens des 4 5 6 7

G. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283), § 184 Z. Ebd. § 257. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (wie Anm. 12, S. 265), S. 99 f. Ebd. S. 105.

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Christengottes, war ja auch schon dem Heidengott Zeus vertraut, der in der Absicht, die Übervölkerung der Erde zu verhindern, die Leidenschaften Agamemnons und Achills aufeinanderprallen ließ. Nun mag das skeptische Urteilsvermögen wissenschaftliche Belege für Homers und Hegels Vorstellungen von der Weltverwaltung vermissen, aber wie schwer belegbar ist dann erst einmal die Gegenvorstellung, die Weltgeschichte hätte in ihrem Gang ohne die ordnende Hand Gottes auskommen müssen. So oder so, Platons Idee des Guten als des göttlichen Grundes staatlicher Ordnung dient dem Leitgedanken der Hegelschen Geschichtsphilosophie als früher Zeuge. Denn das Walten des absolut Guten verheißt der Polis und ihren Bürgern als Nutzen ein Leben in Gerechtigkeit (Politeia 505 A), und ebendieses Junktim zu demonstrieren, war auch die metaphysische Absicht der Hegelschen Geschichtsphilosophie, die Platons Leitidee in den Hegemon eines geschichtlichen Prozesses umdeutet, der an seinem Ende den Bürgern den Genuss eines Lebens in seinem Rechtsstaat verspricht. Hegel musste an Platon als Vorläufer umso mehr gelegen sein, als es sich um einen Philosophen handelte, der sein »Grau in Grau« malte, nachdem die tragische Dichtung das Thema der Suprematie des Staates zuvor schon aufgegriffen hatte. Als Ephialtes und Perikles 462 den als adelslastig suspekten Areopag entmachteten und seine politischen Kompetenzen auf den Rat, die Volksversammlung und die Geschworenengerichte übertrugen, ihm aber noch die Blutsgerichtsbarkeit zugestanden 8, stimmte im Gegenzug Aischylos 458 in den »Eumeniden«, dem dritten Teil seiner Trilogie »Die Orestie«, das Hohe Lied auf den Areopag an. Dieses Gericht kam ins Spiel, als es von Orest angerufen wurde, der seine Mutter Klytämnestra, von Zeus und Apollon gedrängt, zur Strafe für die Ermordung seines Vaters Agamemnon getötet hatte und deshalb von den Erinnyen (Furien), bluttriefenden Wachhündinnen über das Mutterrecht 9, verfolgt wurde. Die Furien akzeptierten den Areopag unter Vorsitz der Athena als Letztinstanz, warnten aber zugleich, eine uralte Macht werde erschüttert, sollten sie im Prozess unterliegen (490–498). Als sie gefragt wurden, weshalb sie nur Orest und nicht auch Klytämnestra wegen Ermordung des Agamemnon verfolgten, antworteten sie, die Aristoteles, AP 25 und 27; Politik 1274 a 7–11; Plutarch, Perikles 9, 2 und Kimon 15. Aischylos, Choephoren 1048–1058; Eumeniden 261 f. und 326 f.; Euripides, Orest 316–323; Apollodor 1, 1, 4.

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Gattin sei ja nicht blutsverwandt mit dem Gatten (604–608), und bekannten sich damit zu ihrem Prinzip der nur der Blutsverwandtschaft verpflichteten Privatrache. Damit nun die Athener auch begriffen, dass sie dem die Klage der Furien abweisenden Areopag das Ende der privaten Blutrache zu verdanken hatten und sich stattdessen einer auf den Staat freier Bürger zugeschnittenen Gerichtsbarkeit erfreuten, lässt Aischylos Athena erklären, als Zeusgeborene stehe sie naturgemäß auf der Seite der Männer (734–738), und versteht darunter die Vollbürger, die dank Areopag nie mehr archaischen Gerichtsverfahren ausgesetzt wären. Auf diese dichterische Verarbeitung eines mythischen Geschehens kann Hegel nicht zurückblicken, ohne zugleich auch an die Konsolidierung des modernen bürgerlichen Staates zu denken. Gerade deshalb sieht Hegel aber auch, dass beim Siegeszug des Staates im fünften vorchristlichen Jahrhundert, was sich in moderner Zeit nicht wiederholen darf, die Familie die Zeche gezahlt und ihre einst fundamentale Bedeutung eingebüßt hat. »Weil er nur als Bürger wirklich und substanziell ist, so ist der Einzelne, wie er nicht Bürger ist und der Familie angehört, nur der unwirkliche marklose Schatten.« 10 Noch deutlicher wird solche Für und Wider abwägende Nachlese bei Hegels Rezeption der »Antigone« des Sophokles, mit der er sich schon in jungen Jahren intensiver als mit anderen griechischen Autoren beschäftigte. 11 Als Antigones Bruder Polyneikes bei seinem Angriff gegen Theben gefallen war, verbot Kreon, der neue König, dessen Bestattung. Diese Anordnung widersprach dem natürlichen Recht als göttlich ungeschriebenem, für alle gültigem Recht, das den Respekt gegenüber den Göttern und den Eltern ebenso gebietet wie die Beachtung des Totenkultes innerhalb der Familie. 12 Von diesem allgemeingültigen Recht, so Aristoteles, habe sich Antigone leiten lassen, als sie es für Recht hielt, ihren Bruder trotz Verbots zu begraben, da dieses Recht ja von Natur aus bestehe. 13 Als nun der Chor der thebanischen Greise erfährt, eine symbolische Bestattung sei gegen das Verbot erfolgt, aber noch nicht wissen kann, wer das getan hat, Hegel, Phänomenologie des Geistes (wie Anm. 24, S. 269) S. 321. K. Rosenkranz, G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844, repr. Darmstadt 1969, S. 11. 12 Quellen: Aristoteles, Rhetorik 1368 b 8–9, Rhetorik an Alexander 1421 b 36–1422 a 4, Topik 105 a 3–7; Xenophon, Memorabilien 2, 2, 13–14. Vgl. auch Aristoteles, NE 1134 b 19 und insbesondere 1164 b 5–6, wo in einem Atemzug vom Göttern und Eltern geschuldeten Dank die Rede ist. 13 Aristoteles, Rhetorik 1373 b 9–13. 10 11

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stimmt er jenes häufig ohne Rücksicht auf den Zusammmenhang zitierte Chorlied (332–383) an, das nichts mehr und nichts weniger als das Entsetzen über die Unbotmäßigkeit gegenüber der staatlichen Autorität zum Ausdruck bringt: Viel Unheimliches geschieht, doch nichts ist unheimlicher als der Mensch. Mit seinen Künsten, die alles erreichten außer der Unsterblichkeit, bringe er Edles und Übles hervor. Ebenso geschehe auch Gutes und Böses im Handeln der Menschen; denn wer die bei den Göttern geschworenen Gesetze einhalte, sei der beste Bürger der Stadt, wer aber aus Übermut sich gegen das sittlich Gebotene (τὸ καλόν) erhebe, den wollen die Greise nicht an ihrem Herd sehen. Kaum hatten die Greise ihren Chorgesang beendet, da stand Antigone, die Tochter des toten Königs Ödipus, als überführte Täterin vor ihnen; da konnten sie nichts mehr zurücknehmen und hielten ihr vor, sie habe sich aus Unbesonnenheit den königlichen Edikten (τοῖς νόμοις) widersetzt. In den Augen des Chores der Greise, die den »substanziellen Willen« der Polis repräsentieren, ist Antigone nicht Widerstandsheldin, sondern zumal angesichts ihres hohen Ranges als Königstochter eine Gefahr für die Stadt, wenn sie dem amtierenden König, dessen Wort Gesetz ist, unter Berufung auf Pflichten gegenüber der Familie den Gehorsam verweigert. Für Hegel besteht der tragische Konflikt in dem »Hauptgegensatz … des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit«. 14 Beide Seiten treten als unversöhnliche »Totalitäten« auf, wenn Antigone es unterlässt, »dem Gebot des Fürsten Gehorsam zu zollen«, und der König »die Heiligkeit des Bluts« nicht respektiert und befiehlt, »was dieser Pietät zuwiderläuft«. 15 Der Staat hat den Prozess seines Werdens also erst abgeschlossen, wenn seine Suprematie ihn nicht mehr in Kollision mit den Rechten der Familie bringt. Ebendies ist für Hegel auch die Botschaft der »Eumeniden« des Aischylos: »Es ist Athene, die Göttin, das lebendige Athen seiner Substanz nach vorgestellt, die … Orest freigibt, aber den (nunmehr) Eumeniden (heißenden Furien) ebenso als dem Apoll Altäre Hegel, Ästhetik, ed. F. Bassenge, Frankfurt a. M., 1955, Band II S. 564; vgl. Band I S. 218, 448, 454. Diese Ausgabe ist insofern umstritten, als sie auf der Ausgabe H. G. Hothos (1802–1873) fußt, eines mit der Ästhetik Hegels sehr vertrauten Kunsthistorikers, der Hegel selbst noch gehört hatte und sich auf seine eigenen Vorlesungsmitschriften und die anderer Hörer stützte. Er wird mit Sicherheit Hegels Ausführungen richtig verstanden und wiedergegeben haben. 15 Ebd. II 568. 14

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und Verehrung verspricht.« 16 Entscheidend ist, dass die Aussöhnung durch die den Bürgerstaat verkörpernde Göttin Athena herbeigeführt und abgesegnet wird. In den Augen Hegels haben Aischylos und Sophokles mit dem Gehalt ihrer Tragödien gleichsam auf einen Schwebezustand hingewiesen, der in der Erinnerung noch gegenwärtig ist, aber mittlerweile zugunsten der staatlichen Institutionen der Polis entschieden ist. Dessen waren sich beide Tragödiendichter sicher; sonst hätten sie ihrem Kerngedanken nicht zugemutet, sich auch angesichts eines gegen diesen sprechenden Muttermordes und einer verweigerten Bestattung behaupten zu müssen. Platon fand eine Polis vor, der die Dichter eine Organisationsstruktur attestierten, die die Suprematie der staatlichen Organe nach innen verbürgte. Platons Zwischenfrage musste also nicht unbedingt lauten, wie er einen sittlichen Staat aus dem Nichts gründen könnte; sie hätte auch lauten können, wie die bestehende demokratisch geprägte Polis in einen sittlichen Staat zu transformieren sei. In den Augen Platons war aber die demokratische Reform der Polis so sehr missglückt, dass er ihre Vorgaben verschmähte und hinter diese auf einen unbefleckten Nullpunkt zurückging. Unter dieser Prämisse stellte sich seine politische Philosophie der quaestio infinita, wie in systematischer Reflexion die Suprematie eines makellos sittlichen Staates zu begründen sei. Wenn nun in sachgerechter Rezeption, die sich an diese Reflexion hält, Hegel als Hauptzeugen für den von ihm gleichermaßen intendierten sittlichen Staat den Philosophen Platon aufruft, so ist doch in dessen Zeugnis die Aussage der Dichter Aischylos und Sophokles mindestens auch insofern enthalten, als diese ebenfalls für die Souveränität der staatlichen Organe plädierten. In einem mit der Wahrheit Platons vergegenwärtigte Hegel auch die Wahrheit der tragischen Dichter.

Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels So sehr Hegel Platon als politischen Metaphysiker schätzt, Aristoteles steht ihm näher. Zwar bleibt Platon mindestens indirekt präsent, sofern er den Staat als Projektionsfläche der Philosophie bestimmt hat, sofern er die Schule als Ort der Selbstverständigung der Ver16

Ebd. II 569.

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nunft gegründet hat und sofern Aristoteles Hermeneutiker wurde, weil er aus den Schwächen eines vom absoluten Standpunkt aus dekretierenden Systems gelernt hat. An den bestehenden Institutionen weist Aristoteles den Staat als Fundament der Sittlichkeit aus. Ethik ist für ihn eine bestimmte Art von Staatslehre (πολιτική τις), deren Thema das Sittlichgute und das Gerechte ist. 1 Entsprechend besteht die Staatskunst darin, dass sie die Bürger tugendhaft macht, also fähig und willig, das Gute zu tun 2, etwa durch Teilnahme an Gerichten und Volksversammlung sowie durch das Erbringen von Leiturgien – zugunsten der Tragödienchöre, der Gymnasien oder einer Triere, schließlich durch Teilnahme an den kultischen Festen der Stadt. Aristoteles vergisst auch nicht die metaphysische Komponente, wenn anders das Ziel des Handelns unter dem Beifall der Götter ein Leben in Tugend und Glück ist. Wenn nämlich überhaupt etwas ein Geschenk der Götter sei, dann das Glück als höchstes menschliches Gut; und selbst wenn sich das Glück ohne die Hilfe der Götter nur durch menschliches Bemühen um die Tugend einstellte, dann bliebe ein solches Leben immer noch etwas Göttliches. 3 So lautet denn die am Anfang der praktischen Philosophie des Aristoteles stehende quaestio finita, wie unter dem Beifall der Götter das Gedeihen des sittlichen Staates und in einem damit das gelingende Leben des einzelnen Bürgers in rechtlich gesicherter Freiheit möglich ist. Mit dem letzteren Moment gesellt sich zur methodischen Diskrepanz die inhaltliche: Während für Platon Freiheit ein Vorwand der libido der Menge war, ist für Aristoteles die rechtlich und institutionell gesicherte Freiheit des Polisbürgers von essentieller Bedeutung. Seine hermeneutisch zu erörternde quaestio finita lautet demnach, wie die Polis durch Institutionen, Recht und Gesetz der Freiheit ihrer Bürger als Fundament dienen könne. Da ebendiese Frage mutatis mutandis genau auch Hegels quaestio finita ist, darf es nicht verwundern, wenn Aristoteles ihm näher steht als Platon. Diese Präferenz zieht keinerlei Verluste nach sich. Das Plädoyer der Dichter für die Suprematie der Polis und Platons Bestehen auf deren Sittlichkeit sind im Aristoteles unverkürzt enthalten. Besonders interessant wäre für Hegel die AP des Aristoteles gewesen, wenn es zu seiner Zeit schon eine Ausgabe dieser Mono1 2 3

Aristoteles, NE 1094 b 11–15. Ebd.1099 b 29–32, 1102 a 7–9. Ebd.1099 b 9–18.

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graphie gegeben hätte. Mit Sicherheit hätte Hegel die Metafrage der AP aufmerksam verfolgt, ob die Kritik der beiden Philosophenschulen an der Stadt Athen angesichts ihrer geschichtlichen Leistung wirklich dem Prinzip der Theorie genügt hat, das, was ist, auszusagen. Auf die AP konnte Hegel also nicht zurückgreifen, aber die übrigen Schriften des Aristoteles zur praktischen Philosophie lagen ihm vor. Auch diese dokumentierten für ihn hinreichend, dass Aristoteles in der praktischen Philosophie das Bedenkenswerte stets aus der Erfahrung aufnahm und sich konsequenterweise von Platons Ideenlehre lossagte. Aus Unbehagen am Trügerischen, Schwankenden und Ungewissen der Welt, in der er lebte, setzte Platon auf die in einer transzendenten Welt angesiedelten Ideen, um an der Möglichkeit absoluten Wissens festzuhalten, das gegen Täuschung immun und von Abstimmungen in der Volksversammlung unabhängig ist. Natürlich war Aristoteles an der Nichthintergehbarkeit der Vernunft nicht weniger gelegen als Platon, aber er sah, dass durch Überspringen immer schon gemachter Erfahrungen das Lernen ohne Begreifen bleibt und gleichsam halbiert wird. Zu Wissen gesteigerte Erfahrung ist zustande gekommen durch hermeneutisches Anknüpfen an das, was ist, um dessen Bedeutung zu begreifen. Insofern hätten die folgenden programmatischen Sätze Hegels auch von Aristoteles stammen können: »Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie; denn das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst.« Töricht sei das Setzen auf ein in die Zukunft weisendes Sollen, da niemand »seine Welt überspringen« könne. 4 Als Sohn seiner Zeit hatte Hegel natürlich nicht bestimmte Einzelfragen des Aristoteles zu beantworten – nicht die Frage, ob die Bürger der vita activa ihre staatstragende Rolle auf die übliche Weise spielen oder in Gestalt eines kasernierten Wächterstandes; nicht die Frage, wie durch einen institutionellen Kompromiss eine Aussöhnung zwischen Demokraten und Oligarchen zustande kommen kann; nicht die Frage, wie ein geplanter Feldzug seinen Abschluss in der Erreichung eines politisch vertretbaren Zieles finden kann. Insofern war der Bezugspunkt der praktischen Philosophie Hegels nicht Athen oder Philipp von Makedonien, sein Bezugspunkt war die Französische Revolution samt ihrer weltgeschichtlichen Folgen. Gleichwohl ist Hegel, Vorrede zur Rph. (wie Anm. 2, S. 283) sowie Die Vernunft in der Geschichte (wie Anmerkung. 695), S. 95.

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Aristoteles auch zur Vorbereitung auf die intellektuelle Bewältigung dieses Weltereignisses Hegel nicht unerheblich zur Hand gegangen. Formal besteht Aristoteles nicht anders als Hegel darauf, dass es das Geschäft der Philosophie ist, genauer als andere hinzusehen, um das, was ist, als das Wesentliche zu begreifen; und inhaltlich lassen sich mindestens zwei Gedankengänge des Aristoteles anführen, die ihn ohne jede interpretatorische Gewaltsamkeit als Vorläufer Hegels erweisen – seine Kritik an Platons Weiber- und Gütergemeinschaft und seine Theorie der Genesis des Münzgeldes. Beide Gedankengänge des Aristoteles reflektieren eindeutig Entzweiungen; und für Hegel ist der Kern der Französischen Revolution die Entzweiung der Sphäre des Allgemeinen von der Sphäre des Besonderen oder konkreter die Entzweiung des Staates von der bürgerlichen Gesellschaft als dem »System der Bedürfnisse«. Beide angeführten Gedankengänge des Aristoteles unterstützen trotz des Zeitabstandes und trotz verschiedener geschichtlicher Bezugspunkte Hegels Deutungsmodell, sofern sie wie dieser unausgesprochen voraussetzen, dass die Entzweiung formal ein Ablösungsprozess ist, der in einem Dauerzustand endet, und inhaltlich ein Mehr an bürgerlichen Freiheiten zur Folge hat. Die eine Form der Entzweiung, die Aristoteles erörtert, ist die Trennung von Haus und Polis. Vorausgesetzt ist der lange Prozess vom geschlossenen Einzelgehöft über das Dorf zur Polis als natürlichem Telos dieser Entwicklung. 5 Unterdessen ist also das Haus zum Stadthaus geworden und hat sich mit der ursprünglich isolierten Form des Hauses im freien Gelände entzweit. Folge dieser diachronisch darzustellenden Entzweiung ist die bleibende und deshalb synchronisch darzustellende Entzweiung des Hauses und der Agorá als Mittelpunkt der Polis. Im Haus beschränkt sich der freie Bürger gleichsam als bourgeois nunmehr auf die Befriedigung der Bedürfnisse seiner Familie, und auf der Agorá trägt er gleichsam als citoyen seinen Teil bei zur Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten. Diese Entzweiung hat Aristoteles im zweiten Buch der Politik verteidigt, nachdem Platon durch die Einrichtung der Weiber- und Gütergemeinschaft die Aufhebung der internen Funktion des Hauses betrieben hatte. Denn für seine Wächter hatte Platon weder ein privates Haus noch einen privaten Tresor vorgesehen; stattdessen sollten sie sich regelmäßig zu Syssitien treffen und ihr Leben gemeinsam wie in

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Aristoteles, Politik 1252 b 9–31.

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einem Feldlager (στρατοπεδευσαμένους) verbringen (Politeia 416 D–E). In seiner Kritik bezieht sich Aristoteles selbstverständlich auf Platons Politeia, nennt aber seinen Lehrer in diesem Zusammenhang nur ein einziges Mal. Die im Verfolg zitierten Einzelheiten lässt er ausschließlich Sokrates aussprechen, als wolle er den vielleicht nicht unumstrittenen Platon als Urheber dieser ärgerlichen Institution nicht noch mehr belasten, während Sokrates, längst eine Ikone auf dem Sockel der Unangreifbarkeit, wohl eher auf Nachsicht hoffen könnte. In einer erheblich weniger ärgerlichen Angelegenheit, nämlich bei seiner Kritik der Ideenlehre im ersten Buch der NE verschont Aristoteles Platon ebenfalls und nennt kein einziges Mal dessen Namen. Aristoteles macht mit dieser Zurückhaltung deutlich, dass es nur um die Sache geht, und die fordert gleich zweimal die entschiedene Aufmerksamkeit auf das, was ist. Denn Aristoteles merkt an, dass die Weiber- und Gütergemeinschaft nirgends in der Welt praktiziert werde 6 und dass es zu denken gebe, wenn bislang noch niemandem die Vorzüge dieser Institution aufgefallen seien. 7 Vielmehr verweise die tatsächlich bestehende und seit Jahrhunderten bewährte Trennung von Haus und Agorá auf den Vorzug eines komplementären Nebeneinander zweier essentieller Momente im Rahmen des umgreifenden Gefüges der Polis. Welcher Gewinn dieser Trennung zu verdanken ist, versteht sich geradezu von selbst, dass nämlich der freie Vollbürger privat als Hausvater (δεσπότης) seine Subsistenz sichert, um dank daraus erwachsender Unabhängigkeit durch Teilnahme an Rat, Gerichten und Volksversammlung allgemeinen Interessen zu dienen. Ohne diese Funktionstrennung, die beide Seiten in ein Verhältnis notwendiger gegenseitiger Ergänzung stellt, könnten die Bürger ihre Freiheit weder in ökonomischer noch in politischer Hinsicht genießen. Würde diese Entzweiung im Sinne Platons rückgängig gemacht, so bedeutete dies zwangsläufig neben rechtlichen Ungereimtheiten den Verlust der bürgerlichen Freiheiten zumindest für den staatstragenden Stand der Wächter. Daher besteht Aristoteles auf der Erhaltung der Entzweiung, indem er die Vorzüge dieser Funktionstrennung herausarbeitet, und wird damit zum Vorbild für Hegel, der ebenfalls in der

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Aristoteles, Politik 1261 a 8 und 1263 a 2–3. Ebd. 1264 a 1–3.

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Entzweiung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft den die bürgerlichen Freiheiten garantierenden Ordnungsfaktor erkannte. Aristoteles hat also ein Problem der Ökonomik im Rahmen seiner Politik erörtert und wird nunmehr erneut ein Problem der Ökonomik in der Politik kurz anschneiden, um aber gleich darauf auf dessen ausführliche Behandlung schon im Rahmen seiner Ethik zu verweisen. Denn die andere Form von Entzweiung mit der Herkunft, die Aristoteles erörtert, ist die Geldwirtschaft, die er als Folge der Verwandlung des Wiedervergeltungsprinzips interpretiert und im Rahmen seiner ethischen Lehre von der Gerechtigkeit würdigt. Das Grundsätzliche bekräftigt er in der Politik, dass nämlich der Staat eine Einheit sei, die aus einer Vielheit von Elementen bestünde, die wiederum ihrer Art nach (εἴδει) verschieden sein müssten. 8 Ungleichheit ist zwingend geboten, da die Ökonomie in keiner Gesellschaft funktionieren kann, in der die Individuen allesamt dieselben Fähigkeiten und Bedürfnisse haben. Das Einzelgehöft mochte für alle Gewerke zuständig sein, das hochentwickelte Stadthaus war spezialisiert. Neben der daraus notwendig erwachsenden Ungleichheit gilt es nun, ein Gleichheit verbürgendes Moment zu orten, das verhindert, dass die Vielheit bloßer Partikularinteressen die Seite der Einheit und damit des inneren Zusammenhaltes der Bürger zum Verschwinden bringt. Tatsächlich besteht mittlerweile, so Aristoteles, ein Gleichheit herstellendes Gegengewicht zur Wahrung der Einheit in den von Vielheit geprägten Städten, nämlich das Prinzip der Wiedervergeltung (τὸ ἀντιπεπονθός). 9 Mit diesem knappen Hinweis begnügt sich Aristoteles in der Politik, da er das Nähere dazu schon der NE ausgeführt habe. In der Tat hatte Aristoteles in der NE die Metamorphose der Wiedervergeltung unter dem ethischen Oberthema der Gerechtigkeit zugleich mit der Fragestellung der Ökonomik erörtert, wie ein einvernehmlicher Warenaustausch unter den Bürgern möglich ist. Dazu passend hatte Aristoteles die Gerechtigkeit als vollkommene Tugend bestimmt, die aber nicht schlechthin vollkommen sei wie Platons Kardinaltugend, sondern sofern sie in Bezug auf andere ausgeübt werde. 10 Gerade ein solcher Bezug ist aber bei der Wiedervergeltung jederzeit gegeben, jedoch in der archaischen Stadt anders als in der Ebd. 1261 a 17–30. Ebd. 1260 a 30–31. 10 Aristoteles, NE 1129 b 25–27. 8 9

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bürgerlichen. Als Inbegriff des ius talionis bedeutete Wiedervergeltung einst, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Darin waren sich Pythagoreer und Rhadamanthys einig: Litte nur jemand, was er getan, dann wäre das rechtens. 11 Indes bedeutet in einer nach verschiedenen Gewerken spezialisierten, arbeitsteiligen bürgerlichen Stadt Wiedervergeltung nicht mehr die Möglichkeit der Blutrache, sondern friedenerhaltende Wiederherstellung des Gleichen angesichts ungleicher, weil unterschiedlich kostspieliger Waren, die nur auf höchst komplizierte Weise mit anderen Waren vergolten werden können, auf unkomplizierte Weise aber mit dem Mittel des Geldes, das jedes für sich selbst ungleiche Gut mit anderen Gütern vergleichbar macht. 12 Dieser Wiederherstellung der Gleichheit auf der objektiven Seite durch Zahlung des für adäquat erachteten Preises entspricht die Wirkung eines bestimmten Momentes auf der subjektiven Seite. Denn das Motiv, den Zusammenhalt über den mit Geld beglichenen Austausch zu erhalten, ist die allen gemeinsame menschliche Bedürfnisnatur (χρεία), jenes Moment, in dem sich die noch so verschiedenen Gewerbetreibenden alle gleich sind. Um nun das Bedürfnis situationsunabhängig zu machen, tritt das Geld an die Stelle des Bedürfnisses, wenn ein solches im Augenblick der Warenlieferung nicht vorhanden ist, aber nach der Lebenserfahrung in Zukunft eintreten wird. Das Geld garantiert dem Bürger die Freiheit, je nach Bedarf was auch immer und wann auch immer zu kaufen, obwohl nicht zu leugnen sei, dass der Geldwert bisweilen schwanke. 13 Trotz der letzteren Einschränkung verschafft das Geld als Stellvertreter des (im Augenblick noch nicht definierten) Bedürfnisses dem Einzelnen die Freiheit, den Zeitpunkt der Befriedigung eines neuen Bedürfnisses selbst zu bestimmen, und es verschafft der Polis insgesamt die Garantie der Aufrechterhaltung des inneren Wirtschaftskreislaufes, da Geld in der Definition von I. Kant eine Sache ist, »deren Gebrauch nur dadurch möglich ist, dass man sie veräußert«. Geld provoziert also geradezu, ein neues Bedürfnis zu entdecken und dem lieferfähigen Anbieter einen entsprechenden Auftrag zu erteilen. Das Geld sichert die reibungslose und für alle Beteiligten kontrollierbare Kohärenz der Bürger in einer arbeitsteiligen Stadt. 11 12 13

Ebd. 1132 b 21–27. Ebd. 1132 b 31–1133 a 25. Ebd. 1133 a 28–b 16.

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Das Geld, das das Ungleiche kommensurabel macht, und die Bedürfnisnatur, durch die alle Individuen gleichermaßen definiert sind, sorgen also dafür, dass der Vielheit der Häuser samt der in ihnen hergestellten Güter auch eine Einheit gegenübersteht. Die auf diese Momente gegründete bürgerliche Version von Wiedervergeltung durch den Geldverkehr wäre allerdings, und das ist im Blick auf Hegel der entscheidende Punkt, selbst dann ergänzend auf den Staat angewiesen, wenn sämtliche Bürger ohne Ausnahme eine untadelige Zahlungsmoral bewiesen. Das Münzregal war Sache des Staates, der in der Südostecke der Agorá, durch Funde belegt, eine Münzprägewerkstatt (ἀργυροκοπεῖον) unterhielt, von dort aus die attischen Silbermünzen mit der Stadtgöttin auf dem Avers und der Eule auf dem Revers emittierte, nach dem Kurantprinzip ihren Reinheitsgehalt garantierte und die Geldmenge kontrollierte. Damit das Kurantprinzip nicht unterlaufen wurde, durfte auf dem attischen Markt nur mit »Eulen« bezahlt werden. Zuwiderhandeln war mit der Todesstrafe bedroht. 14 Daher mussten auswärtige Kaufleute ihr heimisches Geld bei den Wechslertischen vor der Zeushalle in attische Münzen eintauschen. An diesen Tischen saß ein Beamter, der zudem bei größeren Geldeingängen deren Echtheit zu überprüfen hatte. Ihm waren, sollte er sich unentschuldigt von seinem Platz entfernen, fünfzig Peitschenhiebe zu applizieren. 15 Diese Sanktion beweist, wie sehr schon allein die Geldwertkontrolle auf staatliche Intervention angewiesen war. Nur aufgrund all dieser Vorleistungen konnte schließlich der Staat seine Bürger verpflichten, jederzeit bei Lieferung einer Ware die Silbermünzen als Zahlungsmittel zu akzeptieren. Aristoteles deutet das Münzgeld als Frucht eines emanzipativen Prozesses durch Transformation des archaischen Wiedervergeltungsprinzips. Wie einst bei einem Verbrechen gegen eines ihrer Mitglieder die Sippe ohne Beteiligung noch nicht vorhandener staatlicher Rechtspflege ihr lädiertes Ehrgefühl sanierte, indem sie hinterdrein Vergeltung durch Selbsthilfe übte, so lässt die bürgerliche Version von Wiedervergeltung durch »Geld« Konflikte von vornherein gar nicht erst aufkommen. Beim Blick auf diesen Funktionswandel fällt auf, dass die archaische Form von Wiedervergeltung eine ineffiziente HGIÜ Band I, Nr. 68. Ebd. Nr. 221. An diesen Wechslertischen hielt sich Sokrates mit Vorliebe auf, weil er hier offenbar viele Gesprächspartner antraf (Platon, Apologie 17 C, Hippias minor 368 B, Theages 121 A, Eryxias 392 A–B; Xenophon, Oikonomikos 7, 1).

14 15

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Entzweiung beinhaltete, sofern das Gemeinwesen unbeteiligt neben den in Privatfehden verwickelten Einzelhäusern stand und im Extremfall zuließ, dass die Rache als »Progress ins Unendliche … sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unendliche« weitervererbt 16; hingegen beinhaltet die bürgerliche Version eine effiziente Entzweiung, sofern der Staat, auf seinem Münzregal fußend, das Instrument der Konfliktentschärfung unter den einzelnen Häusern durch Zahlung bei Lieferung bereitstellt und damit den Vorgang für immer abschließt. Der umfassenden Entzweiung als Emanzipation aus der von Einzelgehöften geprägten Frühzeit entsprach die spezifische Entzweiung als Emanzipation aus dem archaischen Wiedergeltungsprinzip. Der eine oder andere Landedelmann mochte in dieser Bewegung einen Verlust an Selbstbestimmung und Eigenmächtigkeit erkennen; wer aber auf die Entzweiung mit bürgerlichen Augen blickte, musste zu der Einschätzung gelangen, dass der vermeintliche Verlust durch den Gewinn einer erheblichen Steigerung des Lebensniveaus mehr als ausgeglichen sei. Diese vollzog sich Tag für Tag durch Begleichung gelieferter Waren mit Tetradrachmen – ein Vorgang, der sich von selbst verstand und dessen Nutzen jedermann sogleich bewusst war. Durch welche Vorteile hingegen die Emanzipation des Stadthauses aus dem Einzelgehöft und die daraus resultierende Trennung von Privatsphäre und Agorá ausgeglichen war, verstand sich zwar ebenso von selbst, wurde aber erst auf ausdrücklichen Vorhalt bewusst, weil diese Vorteile nicht durch den täglichen Vorgang der Bezahlung einer Ware augenscheinlich waren. Da konnte die Parallele der Transformation des Wiedervergeltungsprinzips der Unterfütterung auch der These dienen, dass sich die Entzweiung von Haus und Polis als schrittweise Abkehr von der durch Sippen geprägten Herkunft durch den einhergehenden Gewinn empfiehlt, sofern zum Vorteil beider Seiten das Haus seinen privaten Charakter gewahrt, aber alle außer Hauses besser wahrgenommenen Belange des Allgemeinen ausgelagert hatte. Nicht von Ungefähr hat Aristoteles also am Beispiel des im siebten Jahrhundert in Athen eingeführten Münzgeldes demonstriert, was es heißt, das, was ist, auszusagen und dessen Bedeutung – in diesem Fall die Gleichheit des Ungleichen, den Zusammenhalt der Bürger und die Funktionsgerechtigkeit beim Warenaustausch – herauszuarbeiten. Dieses Geschäft der Philosophie stellt keineswegs 16

G. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283), § 102.

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eine entbehrliche Verdoppelung dar, sondern war auch in diesem Fall nichts als die notwendige Belehrung derer, die sich weigerten, das, was ist, in seiner Vernünftigkeit einzusehen. Platon hatte in der Politeia (416 D–417 A) argumentiert, die eigentumslosen Wächter sollten Edelmetall gleichsam als Gabe der Götter in ihrer Seele haben, darüber hinaus aber auf keinen Fall von Menschenhand zu Münzen geprägtes Silber, mit dem die Menge schon so viel Frevelhaftes angerichtet habe. Konkret denkt Platon an den Zinswucher und an die Neigung, den Gelderwerb über den Erwerb der Tugend zu stellen (Politeia 555 D–556 C). In den Nomoi (742 A–C) präzisiert Platon, nur staatliche Beamte dürften über konvertibel gemünztes Edelmetall verfügen, während den Gewerbetreibenden ausschließlich der Gebrauch einer einfachen, nur im Lande gültigen Währung zu gestatten sei, damit sie ihre Tagelöhner bezahlen und notwendige Einkäufe tätigen könnten. Aus diesen Bestimmungen spricht gewiss Platons persönliche Wunschvorstellung, aber im rückständigen Sparta waren sie sogar offizielle Praxis. Dort war die Verfügung über Gold- und Silbermünzen nur staalichen Organen erlaubt, Privatpersonen hingegen nicht, damit sie nicht in Versuchung gerieten, Geld zu unterschlagen oder sich bestechen zu lassen. Der private Geldverkehr wurde mit bis zu 120 cm langen Eisenspießen abgewickelt, die naturgemäß in der Handhabung äußerst sperrig waren. 17 Wenn Aristoteles zwei aufeinander bezogene Formen von Entzweiung als zustimmungsfähiges Resultat eines Prozesses darstellte, so verfolgte er damit die Absicht, immer noch bestehende Uneinsichtigkeit aufzuklären und Schwankende vor Irritationen zu schützen. Die menschliche Beziehungen versachlichende Drachme, ergänzt um die Verrechnungseinheiten Mine (100 Drachmen) und Talent (6000 Drachmen), verbürgte den innerstädtischen Frieden und Zusammenhalt, seitdem weder die Autorität alter Sippenhierarchien noch Beschlüsse der Agorá direkten Einfluss auf das selbständige Handeln der Häuser untereinander ausübten. Platon war überzeugt, unter den Wächtern gäbe es keinen Rechtsstreit, weil sie weder Geld noch Eigentum besäßen (Politeia 464 D–E). Dagegen könnte Aristoteles auf die unendlich vielen denkbaren Prozesse verweisen, die gar nicht erst angestrengt wurden, weil durch das Münzgeld potenzielle Konflikte schon gelöst sind, bevor sie überhaupt auftreten. Gerade der Plutarch, Lysander 16–17. Ein Bündel solcher Eisenspieße ist im Athener Numismatischen Museum zu besichtigen.

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emanzipatorische Charakter des Münzgeldes veranlasste Aristoteles, dieses in konservativer Absicht zu verteidigen, indem er ihm seine offenkundig heilsame, weil inneren Frieden stiftende Wirkung attestierte. Unter arbeitsteiligen Bedingungen hat das private Stadthaus das sich selbst versorgende Einzelgehöft abgelöst und das Münzgeld die archaische Wiedervergeltung. Beide Entzweiungsprozesse sind interdependent. Der Austausch unter den Stadthäusern wäre ohne Münzgeld nicht praktikabel, und Münzgeld hätte ohne die privaten Häuser keine Funktion. Die an beiden Größen verifizierbare Entzweiung ist – modern gesprochen – als Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft anzusehen. In offenkundiger Zusammengehörigkeit stehen nun Privathaus und Münzgeld als Momente der Gesellschaft auf der einen Seite und ihnen gegenüber in notwendiger Ergänzung die staatlichen Institutionen auf der anderen Seite. Die Häuser und das Geld auf der privaten Seite sind im Alltag ebenso sichtbar wie auf der staatlichen Seite die Geschworenengerichte und die Volksversammlungen. Nur beim Geld könnte die Funktion des Staates weniger ersichtlich sein. Deshalb repräsentieren auf den Münzen Athena und die Eule unübersehbar den Staat und seine Ordnungsfunktion. In zwei voneinander unabhängigen Argumentationsketten hat Aristoteles demonstriert, dass Münzen und Stadthäuser parallel, weil sich gegenseitig bedingend einen Prozess durchlaufen haben, bis sie ihren endgültigen Status dank einer gelungenen Entzweiung erreichten. Richtungweisend ist diese Demonstration methodisch schließlich insofern, als alle drei Disziplinen der philosophia practica universalis – Ethik, Ökonomik und Politik – ihren Anteil an der Argumentation hatten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Aristoteles in mehrfacher Hinsicht Vorarbeit für Hegel geleistet hat. Er hat dem hermeneutischen Einbezug der Erfahrung durch Begreifen dessen, was ist, das Wort geredet; er hat die Fundierung der bürgerlichen Freiheit im Recht des bestimmten Staates als Voraussetzung seiner Sittlichkeit erkannt; und er hat die Entzweiung als Gewinn betrachtet, der jeden denkbaren Trennungsschmerz über den Verlust an sippenbestimmter Herkunft zur bloßen Rückständigkeit stempelt. Insofern hat Aristoteles auch schon die mit der Entzweiung verbundene Zeitstufenproblematik im Blick gehabt. Denn der die Vernünftigkeit der Entzweiung leugnende Platon hatte sich aus der Gegenwart verabschiedet, und zwar hatte er im Falle der Aufhebung der Trennung von Haus 298 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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und Agorá auf eine unausgeführte Zukunft gesetzt, aber im Falle der Kritik der Silbermünze sich in eine längst überwundene Vergangenheit zurückgesehnt. Das sich idealistisch gerierende Leugnen der Substanz der Gegenwart durch Ausweichen entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft ist ein Fehlverhalten, das Aristoteles und Hegel gleichermaßen rügten, jener im Blick auf die antike Polis, dieser im Blick auf die moderne Welt im Zeichen der Französischen Revolution, deren Bedeutung nur im Ausgang von ihrem Kern, nämlich der emanzipativen Entzweiung einer ubiquitären bürgerlichen Gesellschaft mit den geschichtlichen Staaten zu begreifen ist. Bemerkenswert ist die inhaltliche und formale Nähe des Aristoteles zu Hegel über zweitausend Jahre hinweg auch insofern, als bei der Glorious Revolution von 1689 die Aristoteles und Hegel einende Entzweiung mit emanzipativem Telos noch nicht zu beobachten ist. Ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von revolutio, nämlich dem immer wiederkehrenden »Sich-Umwälzen« der Himmelskörper um die Erde, nahm J. Locke (1632–1704) die Übertragung der astronomischen Bedeutung auf eine politische Umwälzung beim Wort und sah in der Revolution ein naturhaft periodisch wiederkehrendes Ereignis, nämlich die Auflösung (dissolution) der alten Regierung und die darauf erfolgende Etablierung einer neuen Regierung. Diese Wende tritt für ihn ein, wenn der Herrscher, durch sein Fehlverhalten (misconduct) der eigentliche Rebell, die Bestimmungen der Declaration of Rights nicht beachtet und das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht, indem er die Freiheits- und Eigentumsrechte des Volkes nicht schützt, das Parlament nicht regelmäßig einberuft oder indem er wie James II. ins Exil geht, statt seine Amtspflichten in London wahrzunehmen. Die Macht fällt dann unwillkürlich an das Volk zurück (the power … devolves to the people) 18 und wird von diesem ganz selbstverständlich einem neuen Herrscher, eben William of Orange anvertraut. Als Entzweiung ist diese Version von Revolution ganz offenbar nicht zu interpretieren; im Gegenteil, William musste die Declaration of Rights unterschreiben, die auf eine Bestätigung traditioneller englischer Freiheitsrechte hinauslief. In dieser engen Bindung der Glorious Revolution an die englische Verfassungsgeschichte sieht E. Burke (1729–1797) auch den entscheidenden Unterschied zur Französischen Revolution, als er in seinen »Reflections on the Revolution in France« nicht müde wird zu betonen, dass ihm die »Rights of 18

J. Locke, Two Treatises of Civil Government, II § 222.

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Men« nichts bedeuten, alles aber die »Rights of Englishmen«. Die Männer der Glorious Revolution verstanden ihr Vorgehen als eine rein innerenglische Angelegenheit ohne ubiquitären Anspruch und legten insbesondere größten Wert auf Kontinuität und Verfassungstreue statt auf Emanzipation aus ihrer geschichtlichen Herkunft. »The Revolution was in form conservative: it professed to restore and to preserve, not to innovate. The fact that it was revolutionary … was soon forgotten.« 19 Die Französische Revolution hingegen ist keine Widerspiegelung der übertragenen Bedeutung von revolutio als einer nach naturhaften Regeln strukturierten Wiederkehr; Umwälzung bedeutet nunmehr Herstellung eines noch nie dagewesenen Zustandes auf Unkosten der Herkunft. Es soll nicht ein neuer Monarch an die Stelle des alten treten, die Monarchie wird abgeschafft. Der Anspruch der Revolutionäre ist ubiquitär wie Kants Kategorischer Imperativ, ihre Abrechnung mit der Geschichte des Landes radikal. Auslöser der Erhebung ist der Dritte Stand, dessen Selbstverständnis schon im Januar 1789, also noch vor dem Sturm auf die Bastille der Abbé Emmanuel-Joseph Sieyès (1748–1836) in seiner Schrift »Qu’est-ce que le tiers état?« formuliert hatte: Der Dritte Stand verkörpere im Gegensatz zum international verflochtenen Königshaus und Adel die Nation und sei aufgrund der daraus abzuleitenden Volkssouveränität allein berechtigt, im Geist seiner Ideale die künftige Verfassung zu kodifizieren. Diese Deklaration des Abbé geriet indes schon bald in die Defensive, als la terreur dafür sorgte, dass ein mit guten Hoffnungen gestartetes Unterfangen diskreditiert wurde. Der Abbé stimmte noch für die Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793, verließ dann die immer radikaleren Jakobiner und machte schließlich 1799 seinen Einfluss geltend, um Napoleon zu seinem 18. Brumaire zu verhelfen. Dass zuvor die Jakobiner unter Maximilien de Robespierre (1758– 1794) gegen ihnen suspekte Landsleute zwei Jahre lang im Namen eines entchristianisierten, zum politischen Kriterium verabsolutierten Tugendbegriffs wüteten, hatte der Abbé nicht verhindern können. Dieser Terror war für Hegel, der so große Hoffnungen auf die Revolution gesetzt hatte, der Anlass, in seiner als Geschichtsphilosophie vorgetragenen Theodizee, wie oben ausgeführt, den Menschen die Souveränität über ihre Geschichte abzusprechen. An die Stelle des

19

G. Clark, The Later Stuarts 1660–1714, Oxford 21955, S. 146 f.

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auf seine Autonomie pochenden Avantgardisten setzt Hegel den Weltgeist als eigenständigen Prozess. Bei aller grundsätzlichen Zustimmung zu den Zielen der Französischen Revolution protestierte Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« mit dem Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken«: Die einzige Leistung dieser terroristischen Freiheit sei der Tod, »der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat« und belanglos ist wie »das Durchhauen eines Kohlhaupts«. Hegel bestreitet nicht das Recht auf Empörung über die revolutionsauslösenden Verhältnisse: »Das ganze System des Staates erschien als Eine Ungerechtigkeit. Die Veränderung war notwendig gewaltsam, weil die Umgestaltung nicht von der Regierung vorgenommen wurde.« 20 Stattdessen ließ Robespierre im Namen der Tugend jeden Bürger hinrichten, dessen Verhalten, gemessen am Ziel der Überwindung des Ancien Régime, Zweifel an seiner Tugendhaftigkeit erlaubten. Der bloße Verdacht genügte und »erhielt eine fürchterliche Gewalt und brachte den Monarchen aufs Schafott. … Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das Höchste aufgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend Ernst gewesen. Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen, und ihre Strafe ist ebenso nur einfach – der Tod.« 21 So sehr Hegel den Terror beklagt, so wenig war er bereit, die Bedeutung der Französischen Revolution auf diese Auswüchse zu reduzieren, obwohl der Terror und die legitimen Ziele der Revolution letztlich dieselbe Wurzel hatten – das menschliche Autonomiebewusstsein, das sich als die Tugendperspektive einer selbstherrlichen Clique politisch absolut setzte, ihrer wahren Substanz nach aber ihre Entelechie in einem die bürgerlichen Freiheiten verwirklichenden Rechtsstaat hätte erkennen müssen. Auf die letztere Seite aber kam es an für die Philosophie. Um dieser Seite willen befasste sich Hegel gerade als akademischer Lehrer für Philosophie eingehend mit dem Thema der Revolution und bekannte, »man muss sich … nicht dagegen erklären, wenn gesagt wird, dass die Revolution von der Phi-

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Ort wie Anm. 1, S. 259), S. 556. 21 Ebd. S. 561. 20

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losophie ihre erste Anregung erhalten habe.« 22 Mit diesem Satz reklamierte Hegel für die Philosophie ein Urheberrecht, das ihr jedoch keineswegs überall Sympathien einbrachte. Denn die Vorwürfe, die E. Burke in seinen »Reflections on the Revolution in France« gegen die auch für ihn mitschuldige Philosophie erhoben hatte, waren auf breite Resonanz gestoßen: Die stets fanatisch auf radikale Neuerungen bedachten Aufklärer unterminierten das Christentum, hätten sich dem »monied interest«, also der städtischen Bourgeoisie auf Unkosten des »landed interest«, also des grundbesitzenden Landadels angebiedert, verfolgten sektiererisch ihre Ziele mit Intrigen, monopolartiger Beherrschung der Öffentlichkeit und sogar Versuchen der Konspiration mit Friedrich dem Großen. 23 Burke’s Angriffe waren nicht nur an den europäischen Höfen wohlgelitten, sie stießen auch in der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit auf ein geneigtes Echo. Gleich noch im Jahre 1790 waren in England bereits 12 000 Exemplare verkauft und 16 000 Exemplare der französischen Übersezung bis Juli 1791. Die 1793 erschienene deutsche Übersetzung von Fr. Gentz erlebte schon im folgenden Jahr ihre zweite Auflage. 24 Im Gegenzug ließ denn auch Hegel dem Satz, mit dem er die »erste Anregung« durch die Philosophie eingestand, ein Aber folgen: »Aber diese Philosophie ist nur erst abstraktes Denken, nicht konkretes Begreifen der absoluten Wahrheit, was ein unermesslicher Unterschied ist.« Das noch ausstehende konkrete Begreifen der wahren Bedeutung der Revolution erfolgte schließlich in Hegels Rechtsphilosophie. Voraussetzung war ganz im Sinne des Aristoteles eine Klärung des eigenen Standpunktes bei gleichzeitigem Eingehen auf die revolutionären Ereignisse, um deren Wesentliches zu begreifen und den Terror als Ausdruck sich selbst missverstehender Autonomie und damit als kontingente Größe auszuklammern. Diese Klarstellung verschafft Hegel die nötige Rückendeckung, das Recht der Revolution offensiv zu vertreten. »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend; und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte Ebd. S. 556. E. Burke, Reflections on the Revolution in France, Everyman’s Library, Vol. 460, ed. A. J. Grieve, London 1910 ff., S. 107–109. 24 Diese Angaben folgen L. Isers Nachwort zu der in der Reihe Theorie 1 in Frankfurt a. M. 1967 erschienenen, von D. Henrich besorgten Neuauflage der Burkeübersetzung von Fr. Gentz, S. 341. 22 23

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nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmamente steht und die alten Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, dass der νοῦς die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, dass der Gedanke die geistige Welt regieren sollte. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt erst jetzt gekommen.« 25 Einschränkend führt Hegel aus, der Anteil daran sei »bei den Deutschen ruhige Theorie; die Franzosen aber wollten dasselbe praktisch ausführen.« 26 Sie hätten die Freiheit der Person, des Eigentums, des Gewerbes sowie den uneingeschränkten Zutritt zu allen Staatsämtern durchgesetzt und die Unfreiheit des Lehnsverbandes, des Feudalrechts, des Zehnten abgeschafft. 27 Im Verfolg schreibt Hegel Napoleon das Verdienst gut, dem kontingenten Moment des Terrors der Jakobiner ein Ende bereitet zu haben; seitdem »herrschte nicht mehr Misstrauen, sondern Respekt und Furcht. Mit der ungeheueren Macht seines Charakters hat er sich dann nach außen gewendet, ganz Europa unterworfen und seine liberalen Einrichtungen überall verbreitet. Keine größeren Siege sind je gesiegt, keine genievolleren Züge ausgeführt worden; aber auch nie ist die Ohnmacht des Sieges in hellerem Licht erschienen als damals.« 28 Soweit die Fakten, die mit Napoleons Niederlage bei Waterloo und der Rückkehr der Bourbonen endeten. Schlimmer noch – selbst zu seiner Glanzzeit war Napoleon, neben Alexander und Caesar Musterbeispiel eines »welthistorischen Individuums«, lediglich einer der »Geschäftsführer eines Zwecks« 29, deren Leidenschaft die »List der Vernunft … für sich wirken lässt.« Auch sie werden getrieben von einem »bewusstlosen Instinkt«, nicht anders als die Völker, die sich um das »Panier« des Endzwecks der Geschichte sammeln. 30 Schließlich werden die großen Individuen »aufgeopfert und preisG. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (wie Anm. 1, S. 259), S. 557 f. 26 Ebd. S. 554. 27 Ebd. S. 558. 28 Ebd. S. 562. 29 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (wie Anm. 12, S. 265), S. 99. 30 Ebd. S. 90. 25

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gegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern durch die Leidenschaften der Individuen. Caesar musste das Notwendige vollbringen … ; er selbst kam in diesem Kampf um, aber das Notwendige blieb doch …«. 31 Selbst Caesar und Napoleon handelten also lediglich im Auftrag des Gedankens, der die geistige Welt regiert. Wie sind dann aber erst die Normalbürger einzustufen, wenn nicht einmal die welthistorischen Individuen aus eigenem Recht handeln? Für Hegels von der Theodizee bestimmte Geschichtsphilosophie stand zunächst nur fest, was sie nicht sind, nämlich keine souveränen Träger des revolutionären Emanzipationsprozesses. Das bedeutet ins Positive gekehrt, dass Normalbürger wie welthistorische Individuen, sofern sie ihr Ziel nicht selbst bestimmen, eben bloße Mittel sind. Die »unermessliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen.« Die »Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, (sind) zugleich die Mittel und die Werkzeuge eines Höheren, von dem sie nichts wissen, das sie bewusstlos vollbringen.« 32 Und diese skeptische Zuordnung, so insistiert Hegel sogleich, ist der Niederschlag des philosophischen Axioms, dass die Vernunft die Welt regiert; von diesem Grundsatz weiche die Philosophie nicht ab – und das mindestens zur Warnung derer, die Gefahr liefen, sich selbst zu überschätzen und den in Wahrheit herrschenden Weltgeist zu unterschätzen. Wie die Mittel dem Plan des Weltgeistes dienen, so auch das »Material …, in welchem der vernünftige Endzweck ausgeführt werde,« nämlich der Staat, in dem »allein der Mensch vernünftige Existenz« hat. 33 Material ist zu verstehen wie die causa materialis (ὕλη) des Aristoteles, die den durch menschliche Kunst zu formierenden Grundstoff bildet. Näher noch an Hegels Vorstellung liegen die Stoiker, die zwei Elemente unterscheiden – das Aktive und das Passive. Die passive Seite bildet der noch durch keine bestimmte Qualität ausgezeichnete Stoff (ὕλη, materia), während die aktive Seite Gott ist, der die Materie mit Vernunft durchdringt. 34 Entsprechend erklärt Hegel, »die allgemeine Idee kommt im Staat zur Erscheinung« 35,

31 32 33 34 35

Ebd. S. 105. Ebd. S. 87. Ebd. S. 110 f. SVF I 85 (Zenon) und I 493 (Kleanthes) = Diogenes Laertios 7, 134. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (wie Anm. 12, S. 265), S. 114.

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denn »das Göttliche des Staates ist die Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist«. 36 Der Staat ist mithin jene materia, die nicht durch menschliche, sondern göttliche Kunst formiert ist. Aus der Sicht der Staatsbürger, die den dank göttlicher Kraft formierten Staat beleben, ist der »Staat der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt.« 37 Mit diesen Sätzen hat Geschichtsphilosophie als Metaphysik die Rahmenbedingungen für die Rechtsphilosophie formuliert: Aktiv handelnde Politiker oder Publizisten spielen in der Rph. keine Rolle. Der Bürger, gleich auf welcher Stufe der sozialen Hierarchie er sich bewegt, ist nicht der Erfinder des Rechtsstaates, wohl aber sein Nutznießer, sofern ihm als Rechtssubjekt seine Freiheit verbürgt ist. Er findet den Rechtsstaat als geschichtlich gewordenes Resultat erst nachträglich vor – wie die Eule der Minerva, die erst mit der hereinbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt. Diese Gunst des wohlwollenden Weltgeistes verpflichtet zu Dankbarkeit, die nicht in terrorträchtiger Tugend, sondern in Rechtschaffenheit ihren angemessenen Ausdruck findet. 38 Die Bürger dieses Staates erleben ihre »wahrhafte Versöhnung …, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet.« 39 Nachdem Hegel mit diesen Richtigstellungen, veranlasst durch den Terror der Jakobiner, die Deutungshoheit der Philosophie über die Theologie folgerichtig auf ihre Deutungshoheit über die Revolution als bürgerlichen Emanzipationsprozess ausgedehnt und damit auch erläutert hat, in welchem Sinne die Philosophie die Revolution begrüßt und in welchem nicht, musste er nunmehr die Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, was die menschlichen Nutznießer des weltgeschichtlichen Prozesses aus den ihnen in den Schoß gefallenen Möglichkeiten zu machen verpflichtet sind. Damit ist Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft angesprochen, auf deren Boden jeder Einzelne gerade nicht die Aktivität entfalten soll, zu der er nicht imstande ist, nämlich dem Weltgeist die Arbeit bei der Konstituierung der Weltordnung abzunehmen. Stattdessen soll der Einzelne eine immer noch hinreichend anspruchsvolle Tätigkeit in seinem Gewerbe ausüben und in einem damit am eigenen Leibe erfahren, dass die 36 37 38 39

Ebd. S. 112. Ebd. S. 115. G. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283) § 150. Ebd. § 360.

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weltgeschichtlich anstehende Verwirklichung der Freiheit genau an jener Entzweiung hängt, die ihm die Bühne für seine Gewerbetätigkeit als ihm angemessene Aktivität angewiesen hat. Denn während auf der einen Seite der Staat das Rechtsprinzip im fundamentalen Sinne sichert, erlebt der Einzelne im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft, dass er im vertraglich geregelten Austausch von Waren und Dienstleistungen mit anderen zugleich als rechtsfähiger Bürger, eben als durch seine persönliche Freiheit definiertes Rechtssubjekt behandelt und anerkannt wird. Die politische Revolution wäre also unvollendet geblieben, wäre mit ihr nicht die ökonomische einhergegangen, die in der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft, gleichsam auf der hiesigen Seite der Entzweiung, ihren freiheitsverbürgenden Niederschlag gefunden hat. Die Philosophie musste darauf der systematischen Vollständigkeit halber unbedingt die Ökonomie in ihren Argumentbereich einbeziehen. Zur Orientierung dienten Hegel insbesondere die Klassiker der Politischen Ökonomie, deren bekannteste Vertreter A. Smith, D. Ricardo und J. B. Say waren. Ohne Vorbehalt akzeptierte Hegel das von den Nationalökonomen analysierte Regelwerk als theoretische Grundlage der modernen bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft. 40 1799 hatte Hegel besonders intensiv J. D. Stewart’s (1712–1789) »Inquiry into the Principles of Political Economy« (1767) studiert und mit ausführlichen, noch erhaltenen Kommmentaren versehen. 41 Gleich ob es sich um selbständige Gewerbetreibende, Manufakturen oder größere Industriebetriebe handelte – ihre Sphäre stellte für Hegel in Übereinstimmung mit den genannten Ökonomen von vornherein niemals das Ganze, sondern nur die eine Seite des entzweiten Ganzen dar. Wenn nun im Sinne der philosophischen Deutung das Heraustreten einer homogenen bürgerlichen Industriegesellschaft aus dem Ensemble organisch gewachsener Staaten die entscheidende J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Köln und Opladen 1957, S. 35–37, hat diese Entscheidung Hegels als seinen ersten wesentlichen Schritt zum konkreten Begreifen beschrieben. In der Rph. § 189 hat Hegel die Leistung dieser Autoren bewundert. A. Smith (1723–1790) mit »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776), J. B. Say (1767–1832) mit dem »Traité d’économie politique« (1803) und D. Ricardo (1772–1923) mit »On the Principles of Political Economy and Taxation« (1817) hätten das im Zerstreuten steckende Notwendige durch die Staatsökonomie als Wissenschaft herausgearbeitet, »die dem Gedanken Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet«. 41 Darauf verweist K. Rosenkranz, G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844, repr. Darmstadt 1969, S. 86. 40

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weltgeschichtliche Wende darstellt, dann laufen letztlich die vom Dritten Stand getragene Revolution und die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft mit der Herkunft auf dasselbe hinaus. Die bürgerliche Gesellschaft wird gerade in ihrer Einseitigkeit zum unentbehrlichen Mittel des letztlich theologisch bestimmten Ziels der Weltgeschichte, sofern sie den einzelnen Bürgern tagtäglich die Gelegenheitsursache bietet, sich im Zuge ihrer Erwerbstätigkeit als rechtsfähige und damit freie Bürger zu erfahren. Nicht absolute Tugend, sondern integrierte Gewerbetätigkeit ist der Boden der Freiheit. Die moderne bürgerliche Emanzipationsgesellschaft, die sich als das universale Vehikel des Prozesses zu einer Welt, in der alle frei sind, betrachten darf, ist eine Größe sui generis, die sich aus der geschichtlichen Herkunft des europäischen Staates herausgelöst hatte. Gewiss blieben von Land zu Land noch wirtschaftspolitische Unterschiede. So behielt Hegel in der Rechtsphilosophie (§§ 250–256) die Korporationen (corps intermédiaires) als Instrument der Daseinsvorsorge ausdrücklich bei, während diese in Frankreich schon am 2. März 1791 abgeschafft wurden. Auch akzeptierte er, dass eine mit ihren Verpflichtungen über sich hinauswachsende bürgerliche Gesellschaft auf die Kolonisierung, die damalige Form der Globalisierung, angewiesen ist, obwohl Preußen keine Kolonien hatte und auch keine entsprechenden Absichten erkennen ließ. Hingegen spielte unterschiedslos Nationalität oder Konfession in den Augen der modernen Gesellschaft keine Rolle mehr (§ 209). In der Arbeitswelt abstrahiert der Bürger von persönlichen Merkmalen, die für ihn als Staatsbürger nach wie vor konstitutiv sind. Wie in der Welt der Wirtschaft Personen über Verträge vermittelt einander gegenübertreten und sich damit als Rechtssubjekte anerkennen, so bestätigt ihnen unabhängig davon der Staat diese Qualität auf einer höheren Ebene noch einmal. Nicht anders als einst Aristoteles das Thema der Entzweiung von Haus und Polis als Thema privater und öffentlich gewährleisteter Freiheit behandelte, begreift Hegel in der Entzweiung von Staat und Gesellschaft die konkrete Bedingung der bürgerlichen Freiheit. Im Gegensatz zu Hegel erkennt A. Smith in seiner »Staatsökonomie« noch Vollzugsdefizite. In der Überzeugung, die Funktion der Bedürfnisbefriedigung endgültig vom Hausvater oder vom gütigen Landesvater übernommen zu haben, müssen seine Kaufleute die Fürsten und Landedelmänner noch mit der liberalen Forderung konfrontieren, der Staat solle sich auf die Landesverteidigung, innere Sicherheit und Rechtspflege beschränken, statt sich durch Vergabe von 307 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Privilegien oder Monopolen sowie durch einengende Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zum Schaden aller in die Wirtschaft einzumischen, von der die Behörden ohnehin nichts verstünden; Investitionsentscheidungen dürften daher nicht in der Hand von dafür nicht qualifizierten Staatsmännern liegen. Die Funktionstrennung der bürgerlichen Gesellschaft und der traditionell dominierenden Kräfte ist offenbar auf dem Weg, aber noch nicht abgeschlossen. Um mögliche moralische Disqualifikation von vornherein zu entkräften, spielt A. Smith im selben Kapitel, in dem er die Selbstregulierung der Arbeitsgesellschaft zurückfordert, noch seine berühmte invisible hand aus: Zwar strebe der Unternehmer in der Tat gemeinhin nicht danach, das allgemeine Wohl zu fördern, sondern verfolge nur den eigenen Gewinn, werde dabei aber gleichsam von einer unsichtbaren Hand dazu gebracht, einen allgemeinen Zweck zu befördern, selbst wenn ihm das gar nicht bewusst ist und er das auch nicht will. 42 Aus Rechtfertigung Gottes ist unversehens Rechtfertigung des Menschen geworden, die ihre segensreiche Wirkung am besten dann entfaltet, wenn der Betroffene es gar nicht merkt. Gerade der Egoismus der Anbieter garantiert dem Konsumenten gute Produkte; der Landesvater, der mit fürsorglicher Protektion den einen Anbieter auf Unkosten des anderen schützt, darf im Interesse aller Konsumenten abtreten. Die Forderung nach Gewerbefreiheit nimmt zugleich dem moralischen Einwand, der Egoismus am Anfang schlage sich auch auf das Ergebnis am Ende nieder, den Wind aus den Segeln. Daneben könnten sich indes Kritiker der aufkommenden bürgerlichen Arbeitsgesellschaft an einem emotionalen Faktor festbeißen. Kühle Rationalität strahlt wenig Charme aus und fördert nicht eben das Gefühl von Behaglichkeit, Geborgenheit und Seelenfrieden. Gegen dergleichen Sentimentalitäten hilft nur das Pochen auf die bittere Notwendigkeit. Das hat B. de Mandeville (1669–1733) mit seiner Bienenfabel schon sehr früh gesehen. Er weist das hilflose Klagen über Mode gewordene Untugenden mit dem Hinweis zurück, ohne diese leicht inkriminierbaren Begleitumstände breche die Wirtschaft zusammen, und schließt mit folgender Moral: Mit Tugend bloß kommt man nicht weit; wer wünscht, dass eine goldene Zeit zurückkehrt, sollte nicht vergessen: man musste damals Eicheln essen. 42

A. Smith, Wealth of Nations, Buch IV, Kapitel 1–2.

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Diese Anspielung Mandevilles auf die arkadische Hirtendichtung hat I. Kant, wie gesagt, im vierten Satz seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« aufgenommen. Allein durch den Wettbewerb, die Selbstsucht und den Antagonismus der ungeselligen Gesellschaft bringe der Mensch alle seine Anlagen zur Entfaltung; ohne diese Momente würden »in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben«. Mandeville und Kant beweisen mit ihrem Hinweis auf die Folgen nüchternen Sinn, wirken aber ähnlich wie A. Smith noch spürbar defensiv, was angesichts eines offenbar noch nicht abgeschlossenen Prozesses auch nicht verwunderlich ist. Auf latente Apologetik lässt sich Hegel nicht mehr ein. Das, was ist, das ist das Selbstverständliche und bleibt es, auch wenn es nicht überall widerspruchsfrei durchgesetzt ist. Die Emanzipationsgesellschaft gehört zu dem, was unbestreitbar, weil geschichtlich fällig ist. Nicht die Verteidigung gegen ihr angelastete Defizite ist an der Zeit, sondern das Loblied auf ihre Vorzüge. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass die »bürgerliche Gesellschaft« in ihrer Zuständigkeit für die Bedürfnisbefriedigung als »Not- und Verstandesstaat« 43 nicht das Ganze ist, sondern lediglich Teil des entzweiten Ganzen ist. Aber gerade der mit der Entzweiung verbundenen Abstraktheit verdankt die Gesellschaft ihre Auszeichnung als Quelle persönlicher Freiheit. Denn indem Hegel den Beschluss von Kants »Kritik der reinen Vernunft«, dass die Wissenschaft sich darauf beschränkt, Naturphänomene zu kontrollieren, aber Freiheit und Moralität außer sich setzt, indem Hegel diesen Beschluss auf die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft überträgt, argumentiert er, dass gerade diese Gesellschaft, abstrakt wie sie ist, das Besondere der Subjektivität freigibt und gerade nicht in deren Selbstsein bedroht. 44 Die Gesellschaft steht also moralischen und emotionalen Ansprüchen der Subjektivität nicht nur nicht im Wege, sondern verschafft ihnen ganz im Gegenteil erst den nötigen Spielraum. Dieser Kollateralnutzen der Entzweiung steigert deren Bedeutung für die unverkürzte Verwirklichung der Freiheit. Weil durch die Entzweiung das weltgeschichtliche VerspreG. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283) § 184. Ebd. §§ 121–123. Auf diese Gegebenheit verweist J. Ritter, a. a. O. (Anm. 40, S. 306) S. 43, mit Nachdruck und bekräftigt sie in der sich an seinen Vortrag anschließenden Diskussion (S. 78).

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chen der Freiheit aller endgültig erfüllt ist, kann Hegel die moderne bürgerliche Gesellschaft mit einem Argument rühmen, das auf die von A. Smith zur Beruhigung angeführte invisible hand nicht mehr zurückgreifen muss. Zur Untermauerung des Segens der Entzweiung gehört auch, dass Hegel in der Rechtsphilosophie (§§ 231–249) die Funktion der Polizei in ihrer alten Bestimmung als Daseinsvorsorge dem Staat entzieht und auf die bürgerliche Gesellschaft überträgt. Laut Grimmschem Wörterbuch bedeutete Polizei in dem von Hegel aufgenommenen alten Sinn »die Regierung, Verwaltung und Ordnung, besonders eine Art Sittenaufsicht in Staat und Gemeinde und die darauf bezüglichen Verordnungen und Maßregeln … Im allgemeinsten Sinne ist Polizei die Sorge eines Staates oder eines Gemeinwesens … für das Gemeinwohl mittels obrigkeitlichen Zwanges. … Die Polizei hat eigentlich zum Zweck das bequeme Leben der Glieder des Staates … Die Polizei besorgt die öffentliche Sicherheit, Gemächlichkeit und Anständigkeit.« Wenn Hegel diese »polizeilichen« Funktionen konsequenterweise vom Staat auf die bürgerliche Gesellschaft als das System der Bedürfnisse überträgt, so bedeutet diese saubere Aufgabentrennung im Rahmen der Entzweiung erneut, dass sie ein in der Gegenwart erreichter Zustand ist, dem ein emanzipatorischer Ablösungsprozess voraufgegangen ist. Ganz im Sinne der Münzgeldtheorie des Aristoteles ist die Entzweiung in der modernen Welt das momentane Gegenüber zweier sich ergänzender Teile des Ganzen, zugleich aber, aus der Rückschau betrachtet, auch das Resultat der Herauslösung eines Teils dieses Ganzen aus nunmehr historisch gewordenen Verhältnissen. In Erinnerung an seinen Lehrer J. Ritter nennt O. Marquard diese Philosophie der Entzweiung »Nichtidentitätsphilosophie«, die durch Bejahung einer ganz spezifischen Form von Gewaltenteilung durch Entzweiung vor der »totalen Zukunftsgesellschaft« und der »totalen Substanznostalgie« warnt. Unsere Freiheit hängt an der Bereitschaft, im Sinne der Entzweiung ein »Doppelleben« zu führen, dessen Hüter der Staat im politischen Sinne und die Philosophie im geistigen Sinne sind. 45 Nicht weniger präsent ist Aristoteles bei Hegels Standortbestimmung der Entzweiung im Gefüge der aktuellen AuseinandersetzunO. Marquard, Zukunft und Herkunft, in: Skepsis und Zustimmung, reclam 9334, Stuttgart 1994, S. 26.

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gen, sofern er in der NE angemessen tugendhaftes Verhalten in der Mitte zwischen zwei falschen Extremen angesiedelt hatte. Hegel lobt Aristoteles ausdrücklich dafür, dass er »die besondere Tugend … als die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig bestimmte« (Rph. § 150). Wie sich nun die Tapferkeit selbstsicher als Mitte zwischen Feigheit und blindem Draufgängertum versteht, so begreift Hegel auch den vom Standpunkt der Philosophie in sich abgeschlossenen und irreversiblen Istzustand der Entzweiung gleichsam als Mitte zwischen falschen Extrempositionen. Auf der einen Seite stehen Legitimisten und Romantiker, die Schutz vor künftig drohendem Unheil allein von der Restauration des durch die Revolution Zerstörten erhoffen, und auf der anderen Seite jakobinische Puristen, die in ihrer Furcht vor einer aristokratischen Konterrevolution überzeugt sind, alles Heil der Zukunft hänge ab vom radikalen Auslöschen der durch Christentum und Ancien Régime verkörperten Herkunft. 46 Dem hält Hegel entgegen, dass der Staat als Kern der Wahrheit der Traditionalisten und die bürgerliche Gesellschaft als Kern der Wahrheit der Futuristen jeweils nur die eine Seite darstellen, die zwingend auf die andere Seite angewiesen ist; und diese wechselseitige Angewiesenheit wiederum ist die im Jetzt liegende Wahrheit der Entzweiung. Eine Schwäche, die der Verteidigung bedarf, liegt also nicht bei der Entzweiung; die Schwäche liegt allein bei der Borniertheit der noch nicht auf der Höhe der Zeit Angelangten. Ihnen das was ist als das Vernünftige zu demonstrieren, macht das von Hegel beschworene »Bedürfnis der Philosophie« aus. Die Argumentation Hegels lehrt, dass die Entzweiung als das Diese These vertritt J. Ritter, a. a. O. (Anm. 40, S. 306), S. 40. Nachdem auf die Jakobiner unter Robespierre schon hingewiesen wurde, seien zur Untermauerung auch für die Seite der Restauration einige Namen angeführt. Ein Vertreter der Romantik ist Novalis (Pseudonym des Baron Friedrich von Hardenberg: 1772–1801) mit seinem 1799 geschriebenen Fragment »Die Christenheit oder Europa«. Unter den Legitimisten wurde schon auf E. Burke hingewiesen, der als »first modern conservative« und »ablest speaker of Parliament« in die Geschichte eingegangen ist. Sein Übersetzer Fr. v. Gentz (1764–1832) wirkte nach den Befreiungskriegen als Mitarbeiter Metternichs. In Frankreich haben L. G. A. de Bonald (1754–1840) und J. de Maistre (1753–1821) die absolute Monarchie und die Suprematie des Christentums verfochten. Ein Denkmal hat ihnen hat R. Spaemann gesetzt: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald, München 1959. Für Deutschland wären die Namen L. v. d. Marwitz (1777–1837) und A. H. Müller (1779– 1829) zu nennen, die gegen die liberale Reformpolitik des Fürsten K. A. von Hardenberg (1750–1822) opponierten.

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Zugleichsein von Staat und bürgerlicher Gesellschaft logisch zwingend ist. »Die Idee in dieser ihrer Entzweiung erteilt den Momenten eigentümliches Dasein – der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen, und der Allgemeinheit das Recht, sich als Grund und notwendige Form der Besonderheit sowie als die Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen.« 47 Das System der Bedürfnisse mit seinen unendlich vielen Partikularinteressen bedarf mindestens einer handlungsfähigen unparteiischen Schiedsstelle, wenn Konflikte auf der Ebene des Rechtsstreits zu lösen sind. Ob mit oder ohne Rechtsstreit, das Vertragsprinzip, von dem die bürgerliche Gesellschaft lebt, ist, wie gesagt, eine permanente Gelegenheitsursache für die jeweiligen Kontrahenten, sich gegenseitig als freie Person anzuerkennen. Dieser ethische Aspekt hätte ohne das Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft kein Dasein. Die Angewiesenheit der Gesellschaft auf den Staat erweist sich auch in der Besteuerung, sofern ohne den Fiskus die für den Erfolg der Wirtschaft nötige Infrastruktur nicht zu gewährleisten wäre. 48 Umgekehrt lernt der Staat von der versachlichenden Wirkung des die Gesellschaft charakterisierenden Vertragsprinzips, das Personen als Rechtssubjekte und Sachen als Rechtsobjekte bestimmt, dass dementsprechend politisches Handeln nicht in der Bevormundung von Personen besteht, sondern in der moderierenden Herbeiführung einvernehmlicher Regelungen des sachlich Gebotenen durch ersichtlich vernünftige Argumentation. Die philosophisch ausschlaggebende Legitimation des Staates, die auf seiner Bestimmung als Wirklichkeit der sittlichen Idee beruht, hätte nicht ohne eine weitere Entzweiung erfolgen können, insofern die durch Versachlichung und Legalität bestimmte Gesellschaft die Subjektivität der moralischen Innerlichkeit außer sich gesetzt hat. Es beweist die Größe des Staates, wenn er der Moralität ihr Recht auf Beisichselbstsein zubilligt und akzeptiert, dass »der moralische Wille unzugänglich« ist. 49 Moralität zeichnet sich aus durch den guten Willen, gute Absichten und das Gewissen, erweist sich aber auch nach außen; denn private Wohltätigkeit »ist der Ort, wo bei aller allgemeinen Veranstaltung die Moralität genug zu tun findet«. 50 Hegel feiert 47 48 49 50

G. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283), § 184. Ebd. § 184 Z. Ebd. § 106 Z. Ebd. § 242.

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die Subjektivität als zweite welthistorische Gestalt, in der er den Inbegriff christlicher Freiheit erkennt, und geht damit unbestreitbar über Aristoteles hinaus. Die Honorierung dieses Hegelschen Befundes, so J. Ritter, charakterisiert schließlich den legitimen Staat: Wenn der moderne Staat »die Menschenrechte auf die christliche Freiheit bezieht, so macht er damit geltend, dass mit ihnen die Freiheit als Freiheit des Einzelnen in seiner Subjektivität, religiös in seinem Verhältnis zu Gott, ethisch in seinem Gewissen, allgemein in seinem in der Innerlichkeit des Selbst gegründeten Sein zum Prinzip des Rechts und des Staates wird.« 51 Es ist also die Entzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft, die dadurch, dass sie die Subjektivität außer sich setzt, diese als selbständige Größe erkennbar macht und auf diese Weise dem christlichen Verständnis vom Menschen zum Durchbruch verhilft. Wer die Entzweiung nicht in seine Reflexion einbezieht, verfehlt das absolute Wissen. Mit der Vorleistung der Gesellschaft für die Befreiung der Subjektivität ist aber erst die notwendige Bedingung einer vom Staat getragenen Sittlichkeit erfüllt. Denn die Insichgekehrtheit der Moralität nötigt geradezu, über diese hinauszugehen. »Das objektive Sittliche« (die Idee der Freiheit und das lebendige Gute), »das an die Stelle des abstrakten Guten tritt, ist die durch die Subjektivität als unendliche Form konkrete Substanz.« 52 Die moralische Innerlichkeit bleibt also unausgeführt, solange sie ihre Objektivität nicht in der vom Staat getragenen Sittlichkeit wiederfindet. Insofern ist eben der Staat und nicht die Moralität die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Mit dieser Verankerung von Freiheit und Sittlichkeit im Institutionellen des Staates ergänzt Hegel Kant durch Aristoteles, weil die Beschränkung praktischer Prinzipien auf die Moralität den Standpunkt der Sittlichkeit unmöglich macht. Umgekehrt ergänzt Hegel Aristoteles durch Kant, wenn er bei den Griechen die Moralität als bewusstes Moment noch vermisst, die doch gerade die Quelle der endgültigen Legitimierung des sittlichen Staates ist. Mit diesen beiden Ergänzungen erfüllt Hegel die hinreichende Bedingung der Konstituierung eines sittlichen Staates. Natürlich weiß Hegel, dass nicht jeder Staat diesem Anspruch genügt, wendet sich aber entschieden gegen jede Form von Staatsschelte. Mit dem Argument, es sei auch »der hässlichste Mensch, der Verbrecher, … immer noch ein lebender Mensch«, hat 51 52

J. Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 21. G. W. F. Hegel, Rph. (wie Anm. 2, S. 283) §§ 142/144.

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denn Hegel auch darauf bestanden, dass auch ein »defigurierter« Staat immer noch ein Staat ist. 53 Denn der nichtexistierende Staat ist in seinen Augen das weitaus größere Übel als der defigurierte. Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie verschiedenste Momente – Person, Moralität und Sittlichkeit, Rechtspflege, Vertrag und Eigentum, Familie, Bedürfnisbefriedigung und den mit der Gesellschaft entzweiten Staat – allesamt in ihr Recht gesetzt. Er hat damit an dem von Platon implizit und von Aristoteles explizit vertretenen Grundsatz festgehalten, dass Ethik und Politik als praktische Philosophie sachlich zusammengehören. Hegel hat wie Aristoteles erfahrungs- und tatsachenbezogen die Bedeutung dessen, was ist, in seiner Vernünftigkeit philosophisch ergründet und auf dieser methodischen Grundlage den Zusammenhang von Entzweiung und Revolution, von Staat und Sittlichkeit, von Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten herausgearbeitet. Bei keinem dieser Eckpunkte waren Platon und Aristoteles unbeteiligt. Vorgetragen hat Hegel seine philosophische Lehre schließlich in der Berliner Universität vor künftigen Inhabern hoher Staatsämter – ebenso wie Platon in der Akademie und Aristoteles im Lykeion.

Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- und Aristotelesrezeption Joachim Ritters Rückgriff auf Aristoteles und Hegel im Zuge seiner philosophischen Begleitung der Wiedergeburt des bürgerlichen Rechtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg war der einleitende Schritt zu jenem Vorgang, den Jens Hacke als die »liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik« charakterisiert hat. Wie nach liberaler Überzeugung die Wirtschaft prosperiert, wenn ihr nicht sachfremde Hindernisse in den Weg gelegt werden, vorausgesetzt natürlich, dass Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte und ein aufnahmefähiger Markt vorhanden sind, so gedeiht vernünftiges Selbst- und Lautdenken, wenn es nicht gewaltsam unterdrückt wird, vorausgesetzt natürlich, dass eine Bildungstradition und eine diese tragende qualifizierte Öffentlichkeit vorhanden sind. Vernunft hinterlässt ihre Eindrücke in der Welt, wenn man sie lässt. Es ist die Sache der Philosophie, dies 53

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zu vernehmen und zu Bewusstsein zu bringen, und die Sache des Staates, erreichte Vernünftigkeit schützend zu bewahren. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann darf sich gerade eine liberal und konservativ operierende Philosophie mit gutem Gewissen von Hegels Maxime leiten lassen, dass das, was ist, die Vernunft ist. Demgemäß war in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland der Philosophie die quaestio finita gestellt, ob mit dieser bestimmten Neugründung der von Sittlichkeit geprägte bürgerliche Rechtsstaat in der bei Aristoteles und Hegel vorgegebenen Deutung hermeneutisch eingeholt und tatsächlich wiederbelebt wurde. Als J. Ritter diese Frage in bejahender Absicht aufnahm, entschied er sich für einen Ausgangsstandpunkt, der zweifellos in der akademischen Welt nur von einer Minderheit geteilt wurde. Eine auffällige »Negationsbesessenheit« verbunden mit »perfektionistischen Sollforderungen« und »Realitätsvermiesung« waren in jener Zeit die Leitmotive der Meinungsführer. 1 Hinzu kam, dass sich auch dieses Nein auf seine Klassiker berufen konnte; denn das Nein diente nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg dem Intellektuellen zum Lebenselexier. Klassischer Ausdruck habitueller Gegenwartsverweigerung sind J. G. Fichtes »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«. In dieser Schrift unterschied Hegels Amtsvorgänger fünf weltgeschichtliche Epochen, deren erste »der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts« war, deren gegenwärtige »der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit« ist und deren künftige das Zeitalter der »Vernunftkunst« als »Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung« sein wird. 2 Auf gleich zwei antike Dichterfürsten hätte Fichte sich berufen können, die ganz in seinem Sinne ihr gegenwärtiges Zeitalter als das eiserne und damit als Ära des skrupellosen Egoismus denunzierten, und zwar auf Hesiod in den Erga (174–201) und Ovid in den Metamorphosen (1, 125–150). In den frühen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war indes mehr im Spiel als die Erinnerung an überlieferte Muster praktischer Philosophie. Die moralische Hypothek, die der junge Staat dem Angriffskrieg und dem Holocaust zu verdanken hatte, ging auf eine Schuld zurück, die in gar keiner Weise kompensierbar war und zur O. Marquard, Einheit und Vielheit, in: Skepsis und Zustimmung, reclam 9334, Stuttgart 1994, S. 37. 2 J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Philosophische Bibliothek Band 247, Hamburg 1956, S. 14 f. 1

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Folge hatte, dass auch dem Nachfolgestaat unverhohlenes Misstrauen entgegenschlug. Auf nationaler Ebene begegnete man dem neuen Staat mit spürbarer Reserve, und international galt Deutschland noch als Paria: Die olympischen Spiele 1948 und die Fußballweltmeisterschaft 1950 fanden ohne deutsche Teilnahme statt. Bekenntnisse zur Bundesrepublik erfolgten unter diesen Umständen allenfalls ein wenig verschämt und voller Scheu vor einem eindeutigen Ja zum neuen Staat. Wer es daher über sich gewann, eine als Bejahung der Bundesrepublik zu verstehende Position zu beziehen, war gut beraten, sich auf Zeugen mit untadeligem Leumund zu berufen. Infrage kamen Aristoteles und Hegel, und der Letztere umso mehr, als seine Auseinandersetzungssituation derjenigen, die J. Ritter vorfand, überraschend ähnlich war. Was einst Hegel als das Auseinandertreten der auf die Herkunft blickenden Verteidiger des Ancien Régime und der auf die Zukunft blickenden Verteidiger einer bürgerlichen Gesellschaft bei absterbendem Staat diagnostizierte, sollte sich unter verschärften Bedingungen in der frühen Bundesrepublik wiederholen, nämlich bei vergleichbarer Zeitlichkeitsstruktur als Emigration aus der wohl immer noch anrüchigen Gegenwart entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Für die erstere Variante optierten romantisierende Rechte, in deren Augen die Bundesrepublik ein schwächliches Epigonengebilde ohne eigene Souveränität darstellte, und für die letztere Variante optierten die Linken, denen die Tage der Bundesrepublik als künftig auslaufenden Produkts des Spätkapitalismus »gezählt zu sein schienen, so dass es opportun wurde, dem Marxismus als wahrscheinlichem künftigen ideologischen Sieger in vorauseilendem Konformismus sich anzuschließen.« 3 Beide aus der Mitte ausscherende Extreme wurden durch das Leben bestraft – die Ersteren, indem sie in der ernst zu nehmenden Öffentlichkeit allmählich marginalisiert wurden, und die Letzteren, indem sie erleben mussten, dass ausgerechnet sie die Zukunft unzutreffend prognostiziert hatten, weil ja schließlich nicht der Dritte Stand vom Vierten annektiert wurde, sondern wenn schon, dann umgekehrt. Durch seine Entscheidung, im Gegensatz zu den beiden Extrempositionen nicht an Fichte, sondern an Hegel anzuknüpfen, hielt sich J. Ritter an das gegenwärtig Wesentliche, eben an den Rechtsstaat, O. Marquard, Apologie der Bürgerlichkeit, in: Philosophie des Stattdessen, reclam 18049, Stuttgart 2000, S. 95.

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dessen Sittlichkeit aufgrund der dank seiner Struktur bestätigten Entzweiungen zu erwarten war. J. Ritter begreift in der tatsächlich vollzogenen Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit das ausschlaggebende Moment der Nachkriegszeit und bekräftigt unter dieser Prämisse ausdrücklich Hegels Motto aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie »Hic Rhodus, hic saltus« (Hier ist Rhodos, hier findet der Tanz statt) und in einem damit die Maxime des antiken Vorläufers Aristoteles, dass sich die Theorie mit dem, was ist, als dem Wesentlichen befasst (περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία). 4 Zu dieser formalen Übereinstimmung Hegels mit Aristoteles gesellte sich beider inhaltliche Überzeugung, dass nur das Recht des bestimmten Staates in der Lage ist, für die Wirklichkeit der Freiheit seiner Bürger einzustehen. Diese Einsicht nahm J. Ritter als philosophischen Ausgangspunkt dankbar auf und fragte, was es bedeutete, dass die Bundesrepublik gerade als bürgerlicher Rechtsstaat nach der verhängnisvollen Desavouierung der Rechtsstaatlichkeit im Dritten Reich wiedergegründet wurde, und erkannte die Bedeutung dieses politischen Gründungsaktes philosophisch darin, dass die Anknüpfung an die Ideale der Französischen Revolution in der erweiterten Hegelschen Auslegung und damit zugleich die Anknüpfung an die Tradition des Deutschen Idealismus gelungen war. J. Ritters Vorgehen erweist sich wie bei Aristoteles und Hegel als dezidiert hermeneutisch. Wenn er gleichwohl der Hermeneutik nie eine eigene Monographie gewidmet hat, so deswegen, weil es überflüssig gewesen wäre; denn, wie Karlfried Gründer resümiert, seine Philosophie war praktische Philosophie, die als Hermeneutik ausgeführt wurde. 5 Als direkt und unmittelbar ausgeführte Hermeneutik darf zudem das dreizehnbändige »Historische Wörterbuch der Philosophie« gelten, dessen erster Herausgeber Joachim Ritter war und nach ihm Karlfried Gründer. »Hegel und die französische Revolution« lautete denn auch der Titel des Vortrags, in dem J. Ritter 1956 seine die Legitimität des Staates betreffende Grundthese untermauerte, das aber, ohne auch nur ein einziges Mal die Bundesrepublik als intendierte Projektionsfläche zu nennen. Gleichwohl musste der Staat der Bundesrepublik gemeint sein; denn aus welchem anderen Grund sollte J. Ritter Hegels Lob des Rechtsstaats so entschieden bekräftigt haben, wo doch Aristoteles, Metaphysik 1069 a 18. Karlfried Gründer, Ritters hermeneutische Philosophie, in: U. Dierse (Hrsg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, S. 66.

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die Tradition des Rechtsstaats in anderen Ländern gar nicht unterbrochen und mithin selbstverständlich geblieben war. Mindestens war also die Bundesrepublik insofern gemeint, als sie durch ihre nunmehr entschiedene Rechtsstaatlichkeit den Anschluss an universale Prinzipien der Weltgesellschaft und damit eben auch an die klassische deutsche Philosophie wiederhergestellt hatte. J. Ritters Beschäftigung mit Hegel war implizit auch Beschäftigung mit der Gegenwart der Bundesrepublik. Damit dieser Zusammenhang seinen Studenten nicht entging, bedeutete er ihnen bisweilen, sie sollten die Beschäftigung mit den Großen der Philosophiegeschichte getrost als Vorwand verstehen, sich mit gegenwärtig drängenden Problemen zu befassen. In einem unveröffentlichten Vorlesungsmanuskript J. Ritters heißt es: »Aristoteles und Platon, deren Lehren historisch bewahrt und restauriert sind, werden gegenwärtig aktuell als Lehren, bei denen die Gegenwart über sich selbst Weisung einholt.« 6 Die Hörer waren also aufgefordert, aus dem offiziellen Hauptthema eine höchst aktuelle Nebenabsicht herauszulesen. Somit waren Aristoteles und Hegel ausdrücklich einbezogen in das hermeneutische Verfahren, sich dem aktuellen Vorgang der Erneuerung der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland philosophisch zuzuwenden und die dem Vorgang zugrunde liegende Bewährung der praktischen Vernunft zu Bewusstsein zu bringen. In seinem 1953 gehaltenen Vortrag »Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles« geht J. Ritter von der Feststellung des Aristoteles aus, dass theoretische und praktisch-poietische Wissenschaften auseinandergetreten sind. Theorie bedeutete ursprünglich das Anschauen eines kultischen Schauspiels sowie die ebenfalls kultische Festgesandtschaft zu den olympischen, pythischen, isthmischen oder nemeischen Spielen. Theorie war also die überlieferte Form der Verehrung der Götter; und an dieser Bestimmung hielt die philosophische Theorie qua natürliche theologia fest. Dem Prozess des Auseinandertretens von herkömmlicher und philosophischer Zuwendung zum Göttlichen entspricht die Niveausteigerung der Künste, deren Meister sich dadurch auszeichnen, dass sie spezialisiert sind, über die unmittelbare Erfahrung hinaus die Gründe und Ursachen eines Sachverhalts kennen und ebendeshalb in der Lage sind, ihr Wissen an ihre Schüler weiterzuvermitteln. Eine entsprechende Niveausteigerung ist nun auch der theologia als theoretischer 6

Ebd. S. 65.

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Wissenschaft gelungen, die aber nicht dazu führte, dass der dichterische und der institutionelle Kult abgelöst wurde. Wie Varro festgehalten hat, pflegte die heidnische Antike durchgängig alle drei Formen von theologia nebeneinander. 7 Ein gegenseitiges Rivalitätsbewusstsein war damit allerdings nicht ausgeschlossen. Während es keinem modernen Wissenschaftler einfiele, sein Renommee mit dem eines Fußballprofis zu vergleichen, lässt sich Xenophanes eben dazu herbei, wenn er sich darüber empört, dass die Kraft eines Olympioniken höher geschätzt werde als seine Weisheit. 8 Die Verärgerung des Xenophanes wäre ohne Pointe, wenn nicht beide Seiten ihrer Vorgeschichte zufolge um die Deutungshoheit in ein und demselben Terrain rivalisierten, um schließlich festzustellen, wer den gemeinsamen Wurzeln zu besserem Gedeihen verhelfe. In der Tat war aus dem ursprünglichen »Geist der Einheit« mittlerweile ein »mit sich selbst entzweiter Geist« hervorgegangen, der indes zu erkennen gibt, »dass in der Tradition der von den Griechen herkommenden Wissenschaftslehre Aussagen bereit liegen, die an die Möglichkeit der Versöhnung und der Verbindung des äußerlich Geschiedenen erinnern.« 9 Dass diese Versöhnung nicht ohne Irritationen zustande kommt, beweist der Protest des Xenophanes. Schließlich aber ist die Versöhnung doch zustande gekommen – ein Vorgang von paradigmatischem Charakter. Damit scheint die Nebenabsicht dieses Vortrags über den Ursprung der Theorie offenbar in der Bestärkung der Einsicht zu liegen, dass die Theorie ohne Bedenken die Entzweiung als konstitutives Moment gelungener Praxis begreifen darf, wenn sie selbst doch ebenfalls aus einem Entzweiungsprozess hervorgegangen ist. Als Produkt bloßer Reflexion wäre die Entzweiung bedeutungslos. Vielmehr muss sie wie ein erscheinendes Moment sichtbar sein in dem, was ist und täglich vorgeht. In seinem Hegels Rechtsphilosophie interpretierenden Aufsatz »Person und Eigentum« demonstriert J. Ritter, dass der alltägliche Austausch von Waren, Dienstleistungen und Immobilien gegen Bezahlung das Handeln von Personen ist, die sich als Rechtssubjekte vertraglich über eine Transaktion geeinigt haben, während Rechtsobjekte allein Sachen sind, über die diese Personen verfügen. Diese Unterscheidung gilt insbesondere für den ausVgl. zum Bericht Varros oben S. 193 f. Xenophanes 21 B 2, Diels. 9 J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, in: Metaphysik und Politik, S. 32. 7 8

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drücklich auf Zeit geschlossenen Arbeitsvertrag, der Leistung und Gegenleistung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer so regelt, dass die Subjektivität als das Unveräußerliche der Kontrahenten nicht tangiert ist. Unter der Bedingung dieser für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven Versachlichung ist der Einzelne Vertragspartner, handelt also als Rechtssubjekt und damit actu als rechtlich freier Bürger. Insofern bestätigt jede noch so geringfügige Transaktion die eigene Handlungsfreiheit. Aber dabei bleibt es nicht. Die »Versachlichung der Beziehungen … ist die Macht der Entzweiung …, welche die gesellschaftliche Existenz der Einzelnen in sich und in ihren Beziehungen zueinander aus allen substanzialen, persönlichen, sittlichen Bindungen löst.« 10 Was auf den ersten Blick wie ein Verlust wirkt, ist in Wahrheit Gewinn, sofern das Lösen auf eine klärende Freisetzung hinausläuft. Denn die Entzweiung trennt die Seite des Vertragspartners von der Seite der individuellen Subjektivität. Erst dadurch werden beide Seiten deutlich identifizierbar und vermögen aufgrund dessen ihr jeweiliges Recht einzufordern. Christliche Freiheit und Freiheit der Person durch Recht und Eigentum widersprechen sich offenbar keineswegs. »Indem sich die Gesellschaft auf das sachliche, durch Eigentum vermittelte Verhältnis von Personen zueinander beschränkt, gibt sie dem Einzelnen als Persönlichkeit frei, zum Subjekt in allem zu werden, was den Reichtum wie die Tiefe des nun von keiner Versachlichung berührten persönlichen, sittlich geistigen Seins ausmacht.« 11 Erneut zeigt sich, dass das, was ist, seine vernünftig begründbare Bedeutung hat, die nicht von der Hand zu weisen ist. Über diesen theoretischen Gewinn hinaus ließe sich als Nebenabsicht die Aufforderung an die Verächter der Marktwirtschaft herauslesen, sie sollten nach der Lektüre des Aufsatzes redlich vor sich selbst klären, wie sie es mit der Freiheit ihrer Mitbürger sowohl im rechtlichen als auch im moralischen Sinne zu halten gedenken. Zur näheren Untermauerung hatte J. Ritter in seinem Vortrag »Hegel und französische Revolution« ausgeführt, inwiefern die Entzweiung als Strukturelement der bürgerlichen Gesellschaft kein Zufallsprodukt des Augenblicks ist, sondern auf eine lange, sie legitimierende Geschichte zurückblickt. Es war die Aufgabe der französischen Revolutionäre, »die Rechtsform der Freiheit zu finden«, um das nicht J. Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts« §§ 34 bis 81, in: Metaphysik und Politik, S. 274. 11 Ebd. S. 277. 10

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mehr rückgängig zu machende Telos der Weltgeschichte, die Verwirklichung der menschlichen Freiheit, zu erfüllen. 12 Indem Hegel dieses Telos teils mit Aristoteles, teils mit dem Christentum in Zusammenhang bringt, widerspricht er den Leugnern der Kontinuität der europäischen Herkunft. Die sich aus der Herkunft emanzipierende bürgerliche Gesellschaft hat durch Versachlichung einerseits die Freiheit der Person als Rechtssubjekts durchgesetzt 13 und andererseits zugleich die moralisch, religiös und ästhetisch bestimmte Subjektivität durch Entzweiung freigesetzt. 14 Damit die Subjektivität nicht ortlos bleibt, hat laut Hegel im Sinne einer die Diskontinuität aufhebenden Kontinuität der Staat die Aufgabe übernommen, »die notwendig gewordene Korrektur der Naturtheorie der Gesellschaft zu vollziehen.« 15 Die Abstraktheit der bürgerlichen, eben den natürlichen Bedürfnissen dienenden Gesellschaft bedeutet für die Subjektivität die sie freisetzende Entzweiung, die wiederum ohne den mit der bürgerlichen Gesellschaft ebenfalls entzweiten Staat ein Dasein ohne Fundament wäre. Das bedeutet für die Geschichtlichkeit der Gesellschaft, dass sie »in der Form der Entzweiung die in der Subjektivität bewahrte Substanz freigibt und damit als den lebendigen Inhalt der von ihr gesetzten Freiheit erhält.« 16 Die aktuelle Nebenabsicht ist unverkennbar. Geschichte ist nicht die Arena, in die Nostalgiker ihre weltanschaulichen Vorlieben projizieren sollten. Vielmehr gilt es, in die Geschichte hineinzuhorchen und das, was sie als das Wesentliche hervorgebracht hat, zu begreifen. Dieser hermeneutische Rückgriff gestattet der Theorie der Gegenwart, das ihr wesentlich Erscheinende als geschichtlich Hervorgebrachtes darzustellen und zu ihrer Selbstvergewisserung zu erklären, dieses Wesentliche habe den Test der Zeit bestanden. Dieser Form der »Hermeneutik der geschichtlichen Welt«, die ihren Blick zugleich in die Vergangenheit und in die Gegenwart richtet, bescheinigt Mark Schweda, sie verfalle weder dem »Szientismus eines analytischen Ansatzes« noch dem »historischen Relativismus«. 17 In seinem Beitrag »Moralität und Sittlichkeit« versöhnt J. Ritter J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, in: Metaphysik und Politik, S. 199–201. 13 Ebd. S. 212 f. 14 Ebd. S. 215. 15 Ebd. S. 231. 16 Ebd. S. 232 f. 17 M. Schweda, Joachim Ritter und die Ritter-Schule, Hamburg 2015, S. 187. 12

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Hegel folgend den Standpunkt der Moralität mit der Sittlichkeit, deren Präsenzformen Familie, Gesellschaft und Staat sind. Die moralische Innerlichkeit vergewissert sich, dass sie unausgeführt, wie sie für sich selbst ist, in der Sittlichkeit das ihr angemessene Korrelat findet, in dem sie sich objektiv wird. In seinen »Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Philosophie« hatte Hegel an Sokrates die Bedeutung des Auseinandertretens von Moral und Sittlichkeit erläutert: Die Lehre des Sokrates ist »eigentlich Moral. Das Ethische ist Sittlichkeit und Moralität, dann auch Sittlichkeit allein. Bei der Moral ist das Hauptmoment meine Einsicht, Absicht, die subjektive Seite … Die Sittlichkeit besteht in dem, dass das an und für sich Gute getan und gewusst wurde. Die Athenienser waren sittliche, nicht moralische Menschen; sie haben das Vernünftige … getan ohne Reflexion … Die Moralität verbindet damit die Reflexion zu wissen, dass auch Dieses das Gute sei, nicht das Andere. Die Sittlichkeit ist unbefangen, die mit Reflexion verbundene Sittlichkeit ist Moralität; dieser Unterschied ist durch die kantische Philosophie erregt, sie ist moralisch.« 18 Das Problem der Ethik besteht dann darin, eine auf Moralität verkürzte Sittlichkeit in ihrer Herkunft, Gewohnheit, Brauch einschließenden Vollstufe wiederherzustellen und der Moralität eine Bühne zu bieten, deren Anspruch auf Verbindlichkeit über die wohlfeile Bekundung des guten moralischen Willens hinausgeht. Diesen Schritt der Wiederherstellung hat J. Ritter mit den Worten zusammengefasst: »Das Aufheben des Standpunktes der Moralität hat so die Form, dass Hegel zu Sitte, Gewohnheit und den politischen und gesellschaftlichen Institutionen übergeht, um diese als ›sittliche‹ Wirklichkeit des in der Moralität gesetzten subjektiven Willens und seines Guten zu begreifen.« 19 Damit ist die praktische Philosophie dank Einbindung der Moralität in die Sittlichkeit über Aristoteles hinausgegangen, besteht aber andererseits darauf, dass diese Einbindung eine Weiterführung der aristotelischen Grundlage bildet. Denn Ethik ist für ihn die »Lehre von dem Guten und Rechten, das in Ethos und Nomos das in ihnen zur Allgemeinheit gebildete Tun der Einzelnen bestimmt.« 20 Die in Staat und Gesellschaft in die Pflicht genommene Moralität akzeptiert Rechtschaffenheit als allG. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Jubiläumsausgabe Band 18, ed. H. Glockner, Stuttgart 1959, S. 46 f. 19 J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit, in: Metaphysik und Politik, S. 292. 20 Ebd. S. 296. 18

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gemeine Bestimmung des Ethischen, wie es tagtäglich zu bewähren ist. Das rechtschaffene Individuum hat »nichts anderes zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist.« 21 Hegel hat also erneut Aristoteles um Kant und Kant um Aristoteles ergänzt, um Moralität und Sittlichkeit gleichmaßen in ihr Recht zu setzen. Die Nebenabsicht dieser Erneuerung der praktischen Philosophie im vollen Umfang dürfte in der Aufforderung gerade des moralisch sensiblen Naturells liegen, sich selbst in den ihn umgebenden Institutionen wiederzufinden und demgemäß dem sittlichen Staat sein Vertrauen zu schenken. Einige wenige Hinweise auf das, was ist, mögen diese Devise rechtfertigen. Die Rechtsstaatlichkeit garantiert Freiheiten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, garantiert die individuelle Freiheit des Selbst- und Lautdenkens, schützt Minderheiten, sichert den darauf Angewiesenen das Existenzminimum als Recht, auf das sie einen Anspruch haben. Der Staat lässt kritische Öffentlichkeit, Protest und Demonstrationen zu und schützt insbesondere die Pressefreiheit. Kein rechtschaffener Bürger muss sich in die innere Emigration zurückziehen. Ohne das entschiedene Bekenntnis zur Freiheit der Bürger gäbe es, was die konkreten Auswirkungen angeht, kein Subsidiaritätsprinzip, keine sozialen Einrichtungen der Kirchen, keine Wohlfahrtsverbände, keine karitativen Organisationen, keine wohltätigen Gesellschaftsclubs, keine ehrenamtlichen Helfer. Das parlamentarische System sichert Ethik schon allein dadurch, dass jeder Bewerber um ein politisches Mandat Mehrheiten für sich nur gewinnt, wenn er die von ihm vertretenen Interessen als allgemeine Interessen darstellt und damit demonstriert, dass die Maximen seines Handelns jederzeit als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können. Da ein sittlicher Staat, wenn er sich selbst ernst nimmt, auf seiner Nichthintergehbarkeit bestehen muss, gehören zu seinen wesentlichen Institutionen verschiedenste Kontrollorgane vom Aufsichtsrat über den Rechnungshof, die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit bis zu den Parlamenten samt angeschlossenen Untersuchungsausschüssen. Diese Instanzen wiederum erfüllen ihre Funktion nur, wenn die dazu nötige Transparenz gegeben ist, die wiederum ohne die demokratische Kardinaltugend der Ehrlichkeit nicht zu haben ist. Ein sittlicher Staat mit solchen Eigenschaften ist der Boden, auf dem einzig ein gelungenes 21

Ebd. S. 306 unter Bezug auf Rph. § 150.

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Leben gedeiht, während das Leben des Einsiedlers (βίος μονώτης) vielleicht moralisch, aber niemals sittlich das vorgezeichnete Ziel erreicht. In seinem Beitrag »Das bürgerliche Leben« (1956) erklärt J. Ritter, inwiefern in der Tat das Leben des Eremiten gerade nicht das Ideal der praktischen Vernunft ist. Der Untertitel »Zur aristotelischen Theorie des Glücks« verweist auf den Zeugen, dessen hermeneutische Argumentationsweise der Beweisführung zugrunde liegt. Aristoteles geht von der Tatsache aus, dass alle Künste als in der Polis dominante Verkörperung vernünftigen Vorgehens bestimmte Einzelziele verfolgen, über die hinaus es ein übergeordnetes Ziel geben müsse, das menschliche Praxis als höchstes Telos im Auge habe. Aristoteles verzichtet eigens darauf, dieses Ziel, eben das auf den Tugenden fußende Glück, gleichsam auf dem Reißbrett zu normieren, sondern geht ausdrücklich hermeneutisch vor, sofern er nicht aus Begriffen deduziert, was das Glück zu sein hat, sondern aus der Art, wie über das Glück gesprochen wird (ἐκ τῶν λεγομένων περὶ αὐτῆς) seine Schlüsse zieht; denn mit der Wahrheit harmonieren die zugrunde liegenden Tatsachen, mit deren Verfehlen aber gerät das Wahre bald in Disharmonie (NE 1098 b 9–12). Wenn nun Aristoteles diesem Grundsatz gemäß feststellt, dass drei in der Polis unterscheidbare Lebensformen ebensoviele Vorstellungen vom Glück entwickelt haben, so verzichtet er auf eine in der Normierung des Glücks liegende Nötigung und wahrt die Verbindung mit dem Bestehenden. 22 Das Bestehende ist die Polis mit ihren Institutionen, in deren Rahmen allein das glückliche Leben gelingen kann; denn der Mensch ist seiner Natur nach ein im umfassenden Sinne politisches Wesen, so dass auch die ethische Frage nach dem Glück und der damit verbundenen Tugend zugleich eine dieser sogar noch übergeordnete politische Frage ist (NE 1094 b 11). 23 Entsprechend hält der wahre Politiker, weil das vollendete Glück eine Tätigkeit im Einklang mit den Tugenden ist, die Bürger zu Tugend und Gesetzestreue an (NE 1097 b 7–11). Als summum bonum humanum ist das Glück selbstgenugsam (αὐταρκές), bedarf also keiner Ergänzung. Selbstgenugsamkeit redet aber nicht dem Leben des Einsiedlers das Wort; vielmehr ist selbstJ. Ritter, Das bürgerliche Leben, in: Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 1969, S. 58. 23 Zu diesem Zusammenhang vgl. insbesondere J. Ritter, ›Politik‹ und ›Ethik‹ in der praktischen Philosophie des Aristoteles, in: Metaphysik und Politik, S. 106–132. 22

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genugsam das Leben des anerkannt politischen Wesens nur in der Gemeinschaft mit Familie, Freunden und Mitbürgern (NE 1097 b 7– 11). Diese Leitsätze des Aristoteles bündelt J. Ritter in der verallgemeinernden Formel: »Was die Subjektivität in unbestimmten Vorstellungen sucht, das liegt in der Erfüllung ihres bürgerlichen Lebens beschlossen. Das Glück, das der Mensch sich schaffen kann, ist die Selbständigkeit und die Festigkeit des bürgerlichen Lebens. In ihm vermag das eigene Leben zu gedeihen, es trägt die Voraussetzungen zum Gedeihen in sich.« 24 Die Nebenabsicht dieser Aristotelesinterpretation lässt J. Ritter mit dem Satz durchblicken, dass »die aristotelische Lehre vom Glück die Verschlossenheit der Subjektivität aufbricht; sie wird dazu gebracht, die Stadt als die Bedingung und den Grund ihres eigenen Bestehens zu begreifen.« 25 Eine sich selbst missverstehende Subjektivität erkennt nicht, dass sie in der Konsequenz in einem für unsittlich erklärten Umfeld lebte, wenn sie Tugend und Glück als Sache rein privater Innerlichkeit betrachtete. Stattdessen darf sie einem Staat, dessen oberster Grundsatz die Achtung der Würde des Menschen und seiner Freiheit ist, getrost vertrauen. Das ostentative Zurschaustellen alternativer Individualität als Selbstüberschätzung des vermeintlich nur aus eigener Kraft Existierenden bewegt sich in Disharmonie mit dem Wahren als dem Wesentlichen des modernen ebenso wie des aristotelischen Staates. Erneut bestätigt sich, dass die praktische Vernunft in ihrem hermeneutischen Vorgehen das in dem, was ist, durchscheinende Vernünftige zu Bewusstsein bringt, damit seine Zustimmungsfähigkeit begründet und zur Aussöhnung mit dem, was ist, aufruft. Dass diese Voraussetzungen nicht in allen Staaten auf der Erde erfüllt sind, ist nicht die Schuld der philosophischen Theorie. Wenn aber einem Staat, der ebendiese Bedingungen ganz offenbar erfüllt, ein trotziges Nein entgegengeschleudert wird, dann liegt auf jeden Fall die Schuld beim Ego des Verweigerers. Es ist guter philosophischer Brauch, eine Abhandlung durch Zusätze zu ergänzen, die denkbare Einwände schon vorweg beantworten. Man könnte nämlich Hegel, dem Zeugen J. Ritters, vorhalten, er hätte sich lediglich auf die Rechtsstaatlichkeit als auszeichnendes Merkmal konzentriert, die indes auch jede repressive Staatsform für sich geltend machen werde, sofern sie nur die Gesetze so niedrig auf 24 25

J. Ritter, Das bürgerliche Leben (wie Anm. 22, S. 324), S. 90. Ebd. S. 92 f.

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der »weißen Holztafel« (album) bekannt macht, dass es jedem Bürger möglich ist, sich lesend über ihren Inhalt zu informieren. Im Unterschied zu solchen Staaten verbindet aber der von Hegel gelobte Rechtsstaat die Verwirklichung des Rechts mit der durch das Recht gesicherten Freiheit seiner Bürger. Das proprium (ἴδιον) eines solchen Staates ist in der nicht eigens zu betonenden Konsequenz die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit durch Gewaltenteilung, ohne die im Konfliktfall die bürgerlichen Freiheiten nicht zu schützen wären. Entsprechend hatte Hegel auch schon den später durch das allgemeine Wahlrecht honorierten Anspruch des Volkswillens auf Beachtung im Auge, wenn er der Rede zustimmt, der Zweck des Staates sei das Glück der Bürger: »Ist ihnen nicht wohl, ist ihr subjektiver Zweck nicht befriedigt, finden sie nicht, dass die Vermittlung dieser Befriedigung der Staat als solcher ist, so steht derselbe auf schwachen Füßen.« 26 Mit diesem unvermeidlichen Zugeständnis akzeptiert implizit auch der Hegelsche Staat das Prinzip demokratischer Wahlen, die nach Maßgabe jeweiliger Vorteilserwartungen entschieden werden. 27 Wer das Wesentliche im Kern erfasst, darf sicher sein, dass er damit auch die wesentlichen Begleitumstände miterfasst hat. Bisweilen wurde gegen J. Ritter der Vorwurf erhoben, dass er bei der Entzweiung stehen geblieben ist, statt über diese hinausgehend eine Einheit wiederherzustellen. Dagegen beruft sich J. Ritter darauf, dass die Entzweiung in unserem Alltag eine längst vertraute Größe ist: »Wir leben zugleich in der Gesellschaft und aus der geschichtlichen Herkunft. In der Wirklichkeit, in der der Mensch als Mensch actu besteht und ist, liegt die Vernunft und die Wahrheit des gegenwärtigen Rechts, die daher den antithetisch fixierten Theorien verschlossen bleibt, die die geschichtliche und gesellschaftliche Natur des Menschen gegeneinander ausspielen.« 28 Die Preisgabe der Entzweiung führt für J. Ritter dann in die Entfremdung, »wenn diese Nichtidentität beiseite gebracht und die eine oder die andere Seite zum Ganzen gemacht wird, während die jeweils andere Seite ins Nichtsein verdrängt wird.« 29 Zu allem Überfluss gibt es aber gleichwohl ein beide Seiten einendes Moment, das die Entzweiung aber G. W. F. Hegel, Rph. § 265 Z. Diesen Zusammenhang mit der Rph. § 265 Z stellt K. Homann her: Das Problem des Sollen, in: U. Dierse (Hrsg.): Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, S. 85. 28 J. Ritter, »Naturrecht« bei Aristoteles, in: Metaphysik und Politik, S. 178. 29 Ebd. S. 252. 26 27

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gerade nicht aufhebt, sondern bestätigt, nämlich das auf beiden Ufern des Flusses gültige Prinzip des Rechts. Nur bleiben beide Seiten ausdrücklich auf den verschiedenen Ufern und unterlassen es, sich in dem sie trennenden Fluss zu vermengen. Ein letztes Bedenken könnte die bei Hegel und J. Ritter gleichermaßen auffällige Zurückhaltung gegenüber Festlegungen über Zukünftiges betreffen. Vorbild in der Sphäre des Rechts dürfte der Brauch ganz bewusst offener oder unvollständiger Verträge sein, die die Verpflichtungen der Kontrahenten, soweit schon fixierbar, festschreiben, die Regelung des noch nicht Absehbaren aber im Vertrauen auf den Anstand beider Parteien und im Blick auf den Geist des Vertrages offen lassen. Entsprechend schickt sich gerade auch eine hermeneutisch operierende Theorie von vornherein gar erst nicht an, eine vollständige Lösung aller in der Zukunft noch denkbaren Probleme anzubieten. Wie aber der offene Vertrag den Kontrahenten nicht vorschreibt, wie sie das Vereinbarte künftig unter naturgemäß noch nicht absehbaren Umständen im Einzelnen ausführen sollen, ihrer Urteilsfähigkeit aber zutraut, die jeweils angemessene Lösung zu finden, so könnte auch die eingestandenermaßen nicht zukunftsmächtige Theorie verfahren. Tatsächlich ist, so J. Ritter, für Hegel »die Gesellschaft als solche nicht in der Lage, die Ordnungen zu erhalten, die sie freigibt, indem sie sie von sich ausschließt … Aber auch der Staat ist für Hegel nicht die eigentliche Macht der Bewahrung; er ist darauf verwiesen, dass die Individuen selber die geschichtlichen Ordnungen wahren, dass sie die Freiheit, die die Gesellschaft freigibt und der ›sittliche‹ Staat sichert, mit substanziellem Leben erfüllen, dass die Macht der sittlich-geistigen Bildung im Staat und in der Gesellschaft erhalten bleibt, die Ordnungen zu bewahren und weiterzutragen, ohne die die freigegebene Freiheit leer werden und schließlich verschwinden muss.« 30 Mit dieser Formulierung hat J. Ritter die berühmte Böckenförde-Doktrin vorweggenommen, die besagt, dass »der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« Es kann also sein, dass künftige Generationen im Sinne von J. Ritters Erwartungen da einspringen, wo eine Funktionsschwäche des Staates zutage tritt. Es kann aber J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 79 – zitiert nach der ersten Fassung von 1957, die die in »Metaphysik und Politik« nicht wiedergegebene Diskussion, die sich an den Vortrag anschloss, vollständig enthält.

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auch sein, dass sich das Wagnis, das der Staat eingegangen ist, im Krisenfall nicht auszahlt. Keine Theorie kann sich für die Zukunft ihrer Aussagen und Erwartungen verbürgen; und wenn die Theorie eine derartige Schranke unumwunden eingesteht, so spricht das nicht für ihre Schwäche, sondern für ihre Fähigkeit, die Grenzen ihrer Reichweite realistisch einzuschätzen. Diese Grenzen zu kennen, aber zugleich auf Ausschöpfen aller Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen zu bestehen, das ist schließlich eine durch und durch liberalkonservative Grundhaltung.

Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practica universalis im Blickpunkt der Ritterschen Mitte. Günther Bien, Hermann Lübbe, Odo Marquard Wie einst David Friedrich Strauß die Hegelschüler in Hegelsche Rechte und Hegelsche Linke unterteilte, so hat Mark Schweda die Ritterschüler nach der Ritterschen Rechten (Versöhnung durch Religion und Nation), der Ritterschen Linken (Versöhnung durch Emanzipation) und der Ritterschen Mitte (Entzweiung und Kompensation) unterschieden. Mit dieser Unterscheidung hat M. Schweda en passant auch die angesichts vieler Divergenzen gelegentlich aufkommenden Zweifel beantwortet, ob J. Ritter tatsächlich eine Schule gegründet hat. Hätte er nicht, so könnte man hinzufügen, dann hätten auch Platon, Aristoteles und Zenon keine Schule gegründet. Wesentlich ist natürlich, was Schweda gezielt sagen will, dass nämlich das Entzweiungsschema eine Zuordnung aller drei Lager zulasse, nämlich der Rechten zur entzweiten Seite der Herkunft, der Linken zur entzweiten Seite der Zukunft und der Mitte zur Entzweiung in beiden Richtungen. Da aber J. Ritters Beschluss lautet, dass die Entzweiung aufrechtzuerhalten und nicht auf Unkosten der einen oder der anderen Seite rückgängig zu machen sei, können nur die Vertreter der Mitte den Rang genuiner Meisterschüler für sich beanspruchen. Daraufhin deren äußerst umfangreiches Werk in extenso zu rekapitulieren, erschiene als entbehrliche Verdoppelung, da es wohlpubliziert und leicht zugänglich ist. Vielmehr muss es in unserem Zusammenhang genügen, an ausgewählten einschlägigen Plädoyers zu demonstrieren, dass sie im Sinne des Schulgründers an die Tradition der philosophia practica universalis anknüpfen, dass sie keine abstrakten 328 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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Grundlagentheorien konstruieren, die doch nicht greifen, sondern warnend, aussöhnend oder bestärkend die Bedeutung dessen ergründen, was gerade im öffentlichen Leben an Bemerkenswertem geschieht, und dass sie mit besonderer Verve die Grundzüge der Lehre des Gründers gegen die neomarxistischen Kritiker seines Erbes verteidigen. Zum letzteren Leitmotiv kennt die Antike eine auffällige Parallele: Die Philosophie des Skeptikers Arkesilaos lebte laut Cicero von ständiger Kritik am stoischen Dogmatiker Zenon. 1 In dem von Ulrich Dierse herausgegebenen Band »Joachim Ritter zum Gedenken« hat Günther Bien mit seinem Beitrag über »Das bürgerliche Leben« geradezu exemplarisch die Kontinuität der praktischen Philosophie von Aristoteles her im Sinne J. Ritters bestätigt. Ethik und Politik bilden eine unauflösliche systematische Einheit, und das gelte auch für das auf den ersten Blick eher allein der Ethik zuzuordnende Thema des Glücks, zumal dieses ohne Bindung an die praktische Philosophie insgesamt ja auch leicht in die Esoterik abwandern könnte. G. Bien ruft ohnehin Aristoteles, aber auch Cicero als Zeugen dafür an, dass das Glück das zentrale Thema der praktischen Philosophie ist: omnis auctoritas philosophiae … consistit in beata vita comparanda. 2 Das Thema des Glücks ist also nicht als Teilbereich der Philosophie zu diskutieren, sondern als Thema der Philosophie überhaupt, eben der Ethik und zugleich der Politik. Ohne Anstand und Rechtschaffenheit im täglichen Zusammenleben mit anderen kommt Glück nicht zustande. Zudem ist das Glück auf die Rahmenbedingung eines liberalen Staates angewiesen, da es nur ein solcher Staat zulässt, dass der Einzelne selbst bestimmen darf, wie er sein Glück findet. 3 Schließlich weist G. Bien darauf hin, dass die prätentiöse Verweigerung der Affirmation durch die Kritische Theorie einer nur negativ zu erfahrenden Welt letzten Endes auf die »Verweigerung des Erwachsenwerdens« hinausläuft. 4 Dieser Einwand erinnert, ins Affirmative gewendet, an sokratisches Tugendwissen, dessen Übertragung auf die Erörterung eines Problems der modernen Welt zu verstehen gibt, dass unverkrampfte Weltkenntnis ein wirksames allgemeines Mittel der Prävention von indivuellem Fehlverhalten

Cicero, Academica posteriora 44. Cicero, De finibus bonorum et malorum 5, 86; vgl. auch 5, 12. 3 G. Bien, Glück – was ist das? Stuttgart, o. J., S. 20. 4 G. Bien, Das bürgerliche Leben, in: U. Dierse (Hrsg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, S. 17. 1 2

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darstellt. Die Aufklärung über die Struktur der Außenwelt im Sinne der »Politik« dient der vernunftgeleiteten Praxis des Einzelnen im Sinne der »Ethik«. Diese Beachtung der Wechselwirkung von Politik und Ethik definiert die Maxime, von der sich die Philosophie der Ritterschen Mitte jederzeit leiten lässt. Es ist Sache der Ethik, gemäß den Lehren der Politik ihre Chancen wahrzunehmen. Im Sinne dieser Maxime erfolgen konkrete Warnungen und konkrete Aussöhnungsvorschläge mit daraus abgeleiteten Empfehlungen angemessenen Verhaltens. Zur Warnung etwa vor der Verweigerungshaltung durch überhöhtes Anspruchsdenken präsentiert O. Marquard eine »Diätetik der Sinnerwartung« auf der Grundlage des Leitsatzes, dass »der Sinn … stets der Unsinn (sei), den man lässt«. 5 H. Lübbe pflegte in seinen Vorlesungen denjenigen, die nach dem Sinn des Lebens suchten, stattdessen einen Blick in ihren Katechismus zu empfehlen. Brisanter noch wird diese Skepsis gegenüber missionarischen Sinnstiftern, wenn sie vor falschen Wahrsagern warnt, die die Gesellschaft einem geschichtsphilosophischen Monotheismus zuliebe (O. Marquard) auf das ideologische Dogma eines einzigen Zukunftsziels verpflichten und damit einem Geschichtsbegriff das Wort reden, der die vielen Einzelgeschichten, deren Narrative und Herkunftsbindungen zum Verschwinden bringt. Der Einzelne geht in der Kaderakte auf und die Gesellschaft im Fünf-JahresPlan. Gegen solche Eindimensionalität richtet H. Lübbe seinen Band »Philosophie in Geschichten« 6, in der er bekannte Autoren wie Heinrich Heine, weniger bekannte wie Wilhelm Schapp und vergessene wie Oswald Spengler präsentiert. Er bekennt sich damit zu seiner Version von Historismus, demgemäß es möglich ist, jeder öffentlichen Äußerung mit intellektuellem Anspruch Plausibilität abzugewinnen und von ihr zu lernen. Er warnt damit vor der meist simplifizierenden geistigen Verarmung, die droht, wenn demagogische Wahrsager Gefolgschaft finden und Andersdenkende ohne inhaltliche Auseinandersetzung durch disqualifizierende Etikettierung mit nichts sagenden -ismen unschädlich machen. Eine verfehlt selektierende Weltorientierung auf der Ebene der politischen Theorie führt unweigerlich in

O. Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung, in: Apologie des Zufälligen, reclam 8351, Stuttagrt 1986, S. 33. 6 H. Lübbe, Philosophie in Geschichten. Über intellektuelle Affirmationen und Negationen in Deutschland, München 2006. 5

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der akademischen wie in der außerakademischen Welt zu individuellem Fehlverhalten auf der Ebene der Ethik. Nun liegt ja seit Aristoteles der Ton der praktischen Philosophie nicht so sehr auf der Warnung als vielmehr in affirmativer Absicht auf Erschließung durch Hermeneutik. Diese Intention kennzeichnet auch die von H. Lübbe vertretene Version von Historismus. Wenn es nun darum zu tun ist, einem auf den ersten Blick anstößigen Bestand die Zustimmungsfähigkeit nachzuweisen, so muss dieser ja nicht unbedingt in der Vergangenheit liegen. Die schonungsvolle Herangehensweise des Historismus lässt sich auch übertragen auf gegenwärtige Umstände, die auf den ersten Blick als Ärgernis erscheinen. Das könnte etwa das demokratische Mehrheitsprinzip betreffen, sofern es ein Durchargumentieren bis zur finalen Entscheidung ausschließt. So ist es für Hobbes gerade in Konfessions- und Gewissensfragen untunlich, »von einem mit eigener Vernunft begabten Menschen (zu) verlangen, der Vernunft irgendeines anderen Menschen oder dem Mehrheitsbeschluss anderer Menschen zu folgen«. 7 Für H. Lübbe hat Hobbes mit seinem berühmten dictum »auctoritas, non veritas facit legem« selbst den Ausweg gewiesen: »Indem an die Stelle der Wahrheit des Bekenntnisses die Autorität des Souveräns zum Grund der öffentlichen Geltung dieses Bekenntnisses gemacht wird, findet sich zugleich das Subjekt in seiner Verpflichtung zur politischen Anerkenntnis dieser Geltung vom Gewissenszwang zur Anerkenntnis dieser Geltung aus Wahrheitsgründen entlastet.« 8 John Locke hat dargetan, dass auch nach einem denkbaren Ende monarchischer Autorität das Problem unverändert bestehen bleibt; denn der aus vielen Einzelnen bestehende politische Körper (body politic) bewegt sich wie auch jeder andere immer nur in eine Richtung drängende Körper dahin, wohin ihn die stärkere Kraft treibt, und das ist das, worauf die Mehrheit sich geeinigt hat (consent of the majority). 9 Locke sagt das deskriptiv und ohne Bedauern, aber der Überstimmte kann das unvermeidliche Mehrheitsprinzip auch jetzt noch unter dem von Hobbes empfohlenen Vorbehalt bejahen, in die Abstimmung sei ja seine eigene Wahrheit nicht eingegangen. Zur demokra-

Th. Hobbes, Leviathan, Kapitel 47 = S. 530 in der Übersetzung von W. Euchner, Politica Band 22, ed. I. Fetscher, Neuwied/Berlin 1966. 8 H. Lübbe, Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Philosophie in Geschichten (wie Anm. 6, S. 330), S. 113. 9 John Locke, Two Treatises of Civil Government, II §§ 95 f. 7

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tischen Abstimmungsniederlage darf neben dem Hinnehmen der durch Mehrheit manifestierten auctoritas die Überzeugung gehören, die Zeit der eigenen veritas könne ja noch kommen. Das Ja zur Allgemeinverbindlichkeit des Mehrheitsprinzips bei zugestandenem intellektuellen Vorbehalt ist zumutbar und führt bei seiner von Murren freien Beachtung zu angemessenem individuellen Verhalten, wenn weder die Abstimmungssieger, indem sie an der bestehenden Verfassung rütteln, noch die Überstimmten, indem sie nun ein extremistisches Lager bilden, auf der Absolutheit ihrer veritas bestehen. O. Marquard hat sich ebenfalls der Maxime verschrieben, dem Bestehenden mit dem Mittel hermeneutischer Argumentation Zustimmung zu sichern. Dieses Ziel verfolgt er insbesondere mit dem Kompensationsgedanken, auf den er erstmals 1958 Bezug nahm, und zwar so, wie ihn der Freudschüler Alfred Adler in seiner »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1907) gebrauchte: Versucht werde die Kompensation bei Organminderwertigkeit »im Aktionsbereich des betreffenden Organs«; sie misslinge aber häufig und nötige deshalb zur »Eröffnung von Nebenkriegsschauplätzen«, die wiederum in einer potenziell neurotischen »Surrogat-Lebensführung« enden können. 10 Zwanzig Jahre später weist O. Marquard dem Kompensationsbegriff einen weitaus größeren Argumentbereich nach, der über seine spezielle Funktion in der Psychoanalyse hinausgeht. In seinem Aufsatz »Kompensation – Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse« 11 definiert er den Begriff allgemein als »wesentliche Kategorie zum Verständnis des Menschen, insbesondere aber zum Verständnis einer Verlaufsfigur moderner geschichtlicher Prozesse«. 12 Die Wirkungsgeschichte des Kompensationsprinzips beginnt theologisch bei Tertullian und bestätigt diesen Sinn noch bei Leibniz: Angesichts der Sünde sei Kompensation das Äquivalenzwort für Erlösung als »Entschuldigung der Menschen durch Gott« und werde »dann in der Theodizee – angesichts der Übel – zum Argumentwort für die Entschuldigung Gottes durch den Menschen«. 13 In der modernen Welt beherrscht der Kompensationsbegriff die Pädagogik, wenn O. Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg/München 1958, S. 20. 11 O: Marquard, Kompensation – Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse, in: Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989, S. 64–81. 12 Ebd. S. 77. 13 Ebd. S. 75. 10

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von ihr erwartet wird, dass sie vermutete ungenutzte Begabungsreserven ausgleichend erschließt; er beherrscht die moderne Ökonomie, wenn federführend John Maynard Keynes bei Konjunkturflauten die das Marktversagen ausgleichende Staatsintervention, also Konjunkturprogramme fordert. Darüber hinaus erinnert O. Marquard an die kulturkritischen Reflexionen J. Ritters, für den die Geisteswissenschaften, die Museen und die Entdeckung der schönen Landschaft eine Kompensation moderner Geschichtslosigkeit seien. Schließlich vergisst er auch nicht seinen eigenen Stand und relativiert damit die der Pädagogik zunächst zugestandene Kompensationsleistung: »Im Bereich jener Altersheime für Twens, zu denen die reformierten Universitäten geworden sind, vertreiben die Maßnahmen zur Förderung der Bildungsegalität« die Forschenden – auf Vortragsreisen oder Kongresse; denn »man ist an der Universität, aber man denkt woanders«. 14 Kompensation bewährt sich auch im Modus des Rückzugs in noch unversehrte Gefilde. O. Marquards Berufung auf die »kulturkritischen« Überlegungen seines Lehrers bedarf noch einer näheren Ausführung. J. Ritter führte 1963 in seiner Rektoratsrede unter dem Titel »Landschaft« aus, »die ästhetische Einholung und Vergegenwärtigung der Natur als Landschaft (habe) die positive Funktion, den Zusammenhang des Menschen mit der umruhenden Natur offen zu halten.« Zugleich betont J. Ritter, dass die Emanzipation aus der »ursprünglichen Einheit mit der Natur« die Bedingung ist, »an die die Freiheit notwendig gebunden bleibt.« Insofern gehört die Landschaft »geschichtlich und sachlich als die sichtbare Natur des ptolemäischen Erdenlebens zur Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft«. 15 Entsprechend haben sich auch die Geisteswissenschaften (übrigens lange nach den Naturwissenschaften) unter der Voraussetzung etabliert, dass die ansonsten »geschichtslose Gesellschaft notwendig eines Organs bedarf, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert.« Folgerichtig droht Lebensgefahr für die Erinnerungsfunktion der Geisteswissenschaften, wenn »die Gesellschaft zum einzigen Sein des Menschen gesetzt und damit die für sie konstitutive Entzweiung zur Macht der Eliminierung des von der Gesellschaft getrennten geschichtlichen und geistiEbd. S. 80. Weniger pointiert skizziert O. Marquard dieselbe Entwicklung in »Apologie des Zufälligen« (wie oben Anm. 5, S. 330) S. 113 f. 15 J. Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M., 1974, S. 161 f. 14

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gen Seins radikalisiert wird.« 16 Ausdrücklich zunächst »in den Spuren von Joachim Ritter« gehend, verfolgt O. Marquard in seinem Aufsatz »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften« die These, die Geisteswissenschaften trügen bei zur »Kompensation« der »durch Modernisierung verursachten lebensweltlichen Verluste«, die auch den exakten Wissenschaftler betreffe. Denn »wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente«. Zur Erhaltung individueller Physiognomie muss neben der »Neutralisierung geschichtlicher Herkunftswelten« auch deren bewusste Bewahrung stehen. 17 O. Marquard vertieft diesen Ansatz durch sein Motto »Zukunft braucht Herkunft«, weil das Leben kurz ist und die Zeit fehlt, alle Vorgaben der Herkunft durch eine völlige Neuauflage zu ersetzen. Das wäre Ressourcenverschwendung und zudem Verkennung der Tatsache, dass wir unvermeidlich schon vorgeprägt sind durch Herkunftsmerkmale wie Familie, Sprache, Nationalität und Religion. Ganz besonders aber hilft uns unsere Herkunft, der oft nur schwer erträglichen Veränderungsgeschwindigkeit unserer Zeit etwas entgegenzusetzen, nämlich inmitten der Schnelligkeit der modernen Welt »kompensatorisch« Formen zu entwickeln, »die es den Menschen erlauben, in dieser schnellen Welt langsam und in vertrauter Umgebung zu leben.« 18 Der theoretisch konstatierende Blick auf zeitgeschichtliche Prozesse erfolgt in der praktischen Absicht, den Handelnden auf aussöhnende Möglichkeiten durch Kompensation hinzuweisen. Dem könnte der Stilist der alten Schule vielleicht schon genügen, wenn er – kompensatorisch angemessen – das Absenden einer E-mail verschmäht und stattdessen einen Brief mit Füllfederhalter schreibt. Entsprechendes gilt in viel weiter reichendem Umfang, wenn man bedenkt, dass auch Touristen, die vielleicht noch nie einen Füllfederhalter benutzt haben, nicht die moderne Trabantenstadt als Attraktion aufsuchen, sondern die organisch gewachsene Altstadt. Der Vollständigkeit halber darf nicht unterschlagen werden, dass sich Lehrer und Schüler nur scheinbar auf das gemeinsame Modell

Ebd.: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, S. 131. O. Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Apologie des Zufälligen, (wie Anm. 5, S. 330) S. 102 f. 18 O. Marquard, Zukunft braucht Herkunft, in: Philosophie des Stattdessen, reclam 18049, Stuttgart 2009, S. 71 f. 16 17

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der Kompensation zur Aussöhnung mit geschichtlichen Prozessen geeinigt haben. Als J. Ritter, wie oben zitiert, das Wort benutzte, geschah das im Zusammenhang seiner Bezugnahme auf O. Marquard 19; und O. Marquard räumt ausdrücklich ein, Kompensation sei nicht das entscheidende Wort J. Ritters über die moderne Welt gewesen, sondern die »positivierte Entzweiung«. 20 Für O. Marquards redliche Einschätzung spricht, dass J. Ritter der Kompensation schon deswegen keinen fundamentalen Stellenwert zugestanden hätte, weil dann im Sinne der prägnanten versicherungsrechtlichen Bedeutung des Wortes die moderne Welt als großer Schadensfall erschienen wäre und weil damit ja auch das marxistische Verdikt, die moderne Welt sei durch Entfremdung definiert, bestätigt würde. Außerdem müsste die »positivierte Entzweiung« hinter das Prinzip der Nichtidentitätsphilosophie zurückfallen, wenn sie etwa im Blick auf Staat und Gesellschaft entscheiden müsste, welche Seite das malum und welche Seite das ausgleichende bonum sei. Die mit dem Begriff der Entzweiung intendierte Aussöhnung wäre dann konterkariert. Weil Geisteswissenschaften, Museen und Landschaftsbilder ohne die moderne Industriegesellschaft überhaupt nicht existierten, wäre es widersinnig, diese als Güter zu klassifizieren, die ihre als Übel geltende Entstehungsursache kompensieren. Offenbar taugt Kompensation nicht als Fundamentalkategorie, wohl aber als Sedativum bei kontingenten Ärgernissen, die unvermeidlich auftreten, auch wenn generell die Grundlegung noch so unanfechtbar erfolgt ist. Diese an die Grundidee der Theodizee erinnernde Formel schreibt im Übrigen dem für das Fundamentale zuständigen Begriff der Entzweiung und dem für das Kontingente zuständigen Begriff der Kompensation dieselbe Intention zu, nämlich den Einspruch gegen verfehltes Lamentieren und stattdessen die Versöhnung mit dem, was ist. Dass in der Tat die Entzweiung das legitimierende Merkmal des bürgerlichen Rechtsstaats darstellt, ist immer wieder betont worden. Dasselbe gilt aber auch für den demokratischen Charakter der Kompensation. Ein autokratisch regierter Staat muss Bürgern, denen er einen schweren Nachteil zumutet, keinen Ausgleich anbieten. Und eine Theorie, die die Welt total negativ erfährt, kann schon deswegen nirgends ausgleichende Vorteile finden, Vgl. oben Anm. 16, S. 334. Vgl. O. Marquard, Zukunft und Herkunft, in: U. Dierse (Hrsg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz 2004, S. 119.

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weil es diese ja erklärtermaßen gar nicht geben darf. Entzweiung und Kompensation dienen beide dem Telos der praktischen Philosophie, individuelles Ethos auf dem Boden begründeter Zustimmung zu dem, was wesentlich ist, gedeihen zu lassen. Sie stehen im Verhältnis sinnvoller Ergänzung, wenn die Entzweiung das große Ganze charakterisiert und Kompensation sich gleichwohl noch versöhnungsbedürftigen Restschwächen zuwendet. Wenn nun Politik und Ethik als zusammengehörige Disziplinen der praktischen Philosophie ganz im Sinne des sokratischen Tugendwissens kooperieren sollen wie Vermittlung allgemeiner Weltkenntnis und individueller Beherzigung des Vermittelten, so ist diese Kooperation auf ein aufnahmebereites Substrat als erreichbaren Adressaten verwiesen. Dieses Substrat ist offenbar ein wie immer gearteter Commonsense oder »Gemeinsinn«, also ein kollektives Bewusstsein, das zuvörderst überzeugt ist, es könne auch ohne wissenschaftliche Beihilfe die Zehn Gebote beachten oder der Devise genügen, dass es ratsam ist, nicht mehr Geld auszugeben als man einnimmt. Zu unterscheiden ist der Commonsense vom gesunden Volksempfinden, das, weil von Demagogen manipuliert, heteronom ist. Der Commonsense hingegen ist eine autonome Kraft, die sich selbstbewusst als Kordon gegen extremistische Parolen gleich welcher Couleur bewährt, selbst wenn den einzelnen Wachtposten gerade keine überzeugenden Gegengründe einfallen. Ein gediegener Commonsense ist konstitutiv für eine wehrhafte Demokratie. Diese ist gewissermaßen vom ersten Tag an auf ihn angewiesen. Entsprechend setzt jede Berufung auf den Commonsense voraus, dass er immer schon da ist, und beansprucht demgemäß mit keinem Wort, ihn ihrerseits generiert zu haben. Musterfall ist der von Platon in der Politeia (331 A–D) mit viel Sympathie charakterisierte wohlhabende Greis Kephalos: Sein Reichtum erleichtere es ihm, Gerechtigkeit zu üben, weil er es nicht nötig habe, andere zu übervorteilen, und weil er weder einem Gott das Opfer noch einem Menschen Geld schuldig bleibe. Als darauf die jüngeren Unterredner fragen, ob es dann auch gerecht sei, ein geliehenes Messer zurückzugeben, wenn der Verleiher unterdessen rasend geworden sei, zieht sich Kephalos lachend zurück – der Sitte gemäß zum Opfern. Gewiss bewies die sich darauf über noch mehr als neun Bücher hinziehende philosophische Erörterung der Gerechtigkeit, dass die Zweifel an allzu einfachen Regeln, wie sehr sie auch auf ein gerüttelt Maß an Lebenserfahrung zurückgingen, berechtigt waren; 336 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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aber auch Kephalos behauptete sich mit seinem Standpunkt. Sein Selbstbewusstsein machte ihn unabhängig von Theorien über das für ihn Evidente; deshalb kehrte er auch nicht mehr in der Kreis der Unterredner zurück. Das Desinteresse des Kephalos an theoretischer Erörterung wird ein Grundzug des Commonsense bleiben, der überzeugt ist, auch ohne tiefschürfende Debatten das Rechte zu tun. Das dürfte in Normallagen nicht schaden, kann aber in Krisen auch seine heilsame Wirkung schmälern, wenn der Rat eines kritischen Korrektivs ausgeschlagen wird. Locus classicus der Bestimmung des Commonsense ist Ciceros Aufzählung thematischer Zuständigkeiten des Redners (De oratore 2, 67 f.): Ihm sind die zentralen Aussagen der Ethik und Politik vertraut, weil er alles erfasst hat, was zur menschlichen Sitte (mos hominum), zu den Üblichkeiten (consuetudo vitae), zur Struktur des Staates (ratio rei publicae), zum Gemeinsinn (sensus hominis communis) gehört. Er muss zu diesen Themen nicht wie die Philosophen in Einzelabhandlungen Auskunft geben, wohl aber muss er diese lebensklug (prudenter) in seine Plädoyers einzuflechten wissen. Die um den Commonsense kreisenden Momente sind offenbar organisch gewachsen, bieten der Philosophie wie im exordium der Politeia Ausgangspunkte der Reflexion, verstehen sich aber auch ohne solche Reflexion für den Redner ebenso von selbst wie für das von ihm angesprochene Publikum. Die Selbstbehauptung des Commonsense gegen apodiktische Theorie bestätigt sich erneut in der modernen Welt, und zwar, so H. Lübbe 21, provoziert durch die mit Cartesianischer Skepsis einhergehende Anzweiflung alltäglicher Evidenzen und darüber hinaus gepaart mit einem auf Gleichheit pochenden demokratischen Potenzial, sofern der Commonsense nicht nur wissenschaftlicher Überlegenheit, sondern auch dem Monopolanspruch auf exklusives Herrschaftswissen trotzt. Dass der Commonsense einen Hauch von gnoseologia inferior akzeptiert, unterstreicht nur, dass er keinen Wert darauf legt, an der Spitze einer wie immer gearteten Wissenschaftshierarchie zu stehen. Ihm genügt es, im Alltag das Richtige zu treffen. Zeuge der wissenschaftskritischen Komponente ist Giambatista Vico (1668–1744), und Zeuge der Komponente des politischen Aufbäumens ist Thomas Paine (1737–1809). Vicos »Prinzipien der Neuen Wissenschaft« setzen sich ab von 21

H. Lübbe, Philosophie in Geschichten (wie Anm. 6, S. 330), S. 261–263.

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Descartes, dessen »alte« Wissenschaft sich more geometrico durch Immunisierung gegen jeden denkbaren Zweifel ihre Infallibilität sichert und von dieser Absicherung alle Lebensbereiche ausschließt, denen keine certa methodus weiterhilft. Bei Vicos Abgrenzung gegen Descartes spielt der Commonsense eine wesentliche Rolle, der im deutschen Idealismus wenig Zuspruch fand, den aber H.-G. Gadamer rehabilitiert hat: Vico verteidige das »Recht des Wahrscheinlichen« und »das praktische Wissen, die Phronesis«. 22 Demgemäß ist »der sensus communis ein Sinn für das Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen lebt, ja mehr noch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine Ordnungen und Zwecke bestimmt wird.« 23 Der Rhetoriklehrer Vico verteidigt dieselben Erkenntnisquellen, aus denen auch Ciceros idealer Rhetor schöpft. Die politische Komponente des Commonsense kam repräsentativ erst ein halbes Jahrhundert nach Vico zum Zuge. Der nach Amerika gewechselte Engländer Th. Paine wurde mit seiner im Januar 1776 publizierten Streitschrift »Common Sense« zum einflussreichen intellektuellen Vorbereiter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die ja mit dem Satz beginnt: We hold these truths to be self-evident. Diese Einflussnahme dürfte der größte Triumph des Commonsense in seiner Geschichte sein. Zwischen den Jahren 1776 und 1783 verfasste Th. Paine sechzehn Memoranden »The American Crisis« unter dem Siegel des Commonsense. Gleich das erste Memorandum ließ George Washington vor demoralisierten Truppeneinheiten verlesen und hauchte ihnen dadurch neuen Mut ein. Der 1787 nach England zurückgekehrte Paine bestätigte erneut die Stoßrichtung des Commonsense gegen die etablierte Macht, als er E. Burke’s Plädoyer für die Legitimität der Monarchie als Beschützerin der »Rights of Englishmen« 1791/92 mit seinem zweibändigen Buch »The Rights of Man« beantwortete. Dieses Buch bestätigte in ganz besonderer Weise das Provokationspotenzial des Commonsense; sonst wäre Th. Paine nicht schon im Mai 1792 wegen seiner Thesen von der englischen Regierung des Hochverrats angeklagt worden. Zu einem Prozess kam es nicht, weil er mit genauer Not noch gerade rechtzeitig nach Frankreich fliehen konnte. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 18. 23 Ebd. S. 19. 22

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Der Commonsense darf sich also ursprünglich als Ausdruck einer demokratischen Trotzreaktion verstehen. Die darauf sich gründende Urteilskraft ist gefragt, wenn im normalen politischen Alltag bisweilen die Einsicht ins Unvermeidliche erwartet wird, ganz besonders aber als zuverlässiges Bollwerk für den Extremfall, dass eine Machtübernahme extremistischer Parteien droht. Nun hat aber der Commonsense, so hat H. Lübbe dargetan, nicht nur seine unbestreitbaren Verdienste, sondern auch Schwächen, die mit seiner Genesis zusammenhängen. Generell kann er – nur allzu menschlich – vorgründigem Interessendenken aufsitzen wie dem »Infantilismus des Forderns, der ineins den Genuss und die Beseitigung der Folgelasten verlangt«. 24 Insbesondere schwächt es den Commonsense, wenn er angesichts ständig davoneilender Reformen und Veränderungen, deren Tempo und Thematik er nicht gewachsen ist, hilflos wirkt. Höchst komplexe europapolitische Probleme wie »Steuerharmonisierung …, technische Normen, Grenzwerte im Umweltrecht und währungspolitische realignments« überfordern den Stammtisch und sind »commonsense-fern«. 25 Der Commonsense muss erfahren, dass er gegenüber Sachverhalten hilflos ist, die seinen Alltag durchaus betreffen. Er muss sich deshalb fragen, ob er vielleicht wissenschaftliche und politische Exzellenz wohl doch zu früh ausgegrenzt hat; denn der Commonsense ist zwar auf »Traditionen … als Orientierungen von generationsüberdauernder Bewährung und Geltung« angewiesen, die aber durch die rasende »Veränderungsgeschwindigkeit der zivilisatorischen Lebensbedingungen« relativiert werden. 26 Natürlich könnte der Commonsense in dieser Lage ebenso trotzig reagieren wie einst gegen lebensferne Wissenschaft und uneinsichtige Legitimisten, indem er kurzerhand die Kooperation verweigert und indem er für seelenheilsirrelevant erklärt, ob er weiß, was unter Facebook, Tweet, Hashtag#…, Gigabyte, Whatsapp, Industrie 4.0 oder in seinem Browser aktivierten Cookies zu verstehen ist und was er tun soll, wenn ihn sein Computer aufgefordert, BIOSOptionen wie Caching oder Shadowing zu deaktivieren. Sollte sich indes die bloße Trotzreaktion gegen eine Sprache, die eine AnerkenH. Lübbe, Philosophie in Geschichten (wie Anm. 6, S. 330), S. 256. H. Lübbe, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994, S. 10. 26 Ebd. S. 258; vgl. auch H. Lübbe, Traditionsverlust und Fortschrittskrise, in: Praxis der Philosophie. Praktische Philosophie. Geschichtstheorie, reclam 9895, Stuttgart 1978, S. 142. 24 25

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nung als Sprache kaum noch verdient, in der Praxis nicht durchhalten lassen, weil sonst kompromittierende Fehlorientierungen und physischer oder wirtschaftlicher Schaden drohen, dann muss wohl oder übel akademisch gestützte Beratung gesucht werden. Da avancieren zwangsläufig philosophische Reflexion, verbreitet durch Multiplikatoren wie Lehrer und Journalisten, und ganz besonders der ebenfalls nur mühsam auf dem Laufenden bleibende Experte zu Säulen der Orientierung; und diese Säulen zeichnen sich gerade nicht durch Gleichheit, sondern durch Überlegenheit mindestens im eigenen Beritt aus. 27 Trotz solcher Zurücksetzung bleibt der Commonsense unverzichtbar, wird aber seiner sozialen Funktion nur gerecht, wenn er illusionslos seine Grenzen erkennt. Das alleine ist schon Commonsense. Überdies bleibt gerade bei noch so angeratener Expertenkonsultation der Commonsense immer noch zuständig für die Anbahnung von Lösungen im Sinne der praktischen Vernunft. Denn die Grundlage des Austausches zwischen Commonsense und überlegener Kompetenz ist nichts anderes als ein jedermann einleuchtendes Arrangement, das auf einer entschieden commonsensefähigen Ethik beruht. Jeder Mitarbeiter einer Unternehmensberatung wird bei seiner Einstellung darauf verpflichtet, mit der Beratung keinerlei Eigeninteressen zu verfolgen, sondern ausschließlich aus der Interessenperspektive des Mandanten zu beraten. Wenn der Mandant das weiß und bestätigt findet, entwickelt er Vertrauen zum Berater, das dieser sich durch erwiesene Ehrlichkeit, die Kardinaltugend der Demokratie, verdienen muss. Das Vertrauen, das der bestimmten Person – sei sie Arzt, Anwalt, praktischer Philosoph, Unternehmensberater, Steuerbevollmächtigter, Wissenschaftler, Wirtschaftsweiser oder politischer Mandatsträger – entgegengebracht wird, schließt die Lücke, die in einer immer mehr veränderungsbeschleunigten Welt zwangsläufig zwischen dem Commonsense aller und dem überlegenen Wissen weniger klafft, seien diese nun Generalisten oder Spezialisten. Es ist also, wenn es darauf ankommt, im Sinne des Commonsense vernünftig, seine Grenzen einzusehen und jenseits dieser Grenzen denen zu vertrauen, die es besser wissen. Angesichts all der damit verbundenen Komplikationen könnten vielleicht in der modernen Welt nach wie vor auf ihren Commonsense Setzende den Athener Kephalos durchaus ein wenig beneiden, weil es ihm in vergleichbarer Lage noch ver27

Ebd. S. 263.

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gönnt war, zumal dank seines Reichtums ohne nennenswerte Einbuße auf das Anhören ihn überbietender Reflexion zu verzichten. Wenn also die praktische Philosophie, was sie hoffentlich immer getan hat, diejenige Beratungsaufgabe wahrnimmt, die in der Rhetorik dem genus deliberativum (γένος συμβουλευτικόν) zufällt, dann muss sie auch ein überzeugendes Verfahren nachweisen, dank dessen Befolgung sie jene welthaften Bestände erfasst, in denen die Beratenen ihre eigenen Angelegenheiten wiedererkennen. Dieses Verfahren beruht nun in der Schule J. Ritters, die sich zu Aristoteles und Hegel als ihren Vorläufern bekennt, erklärtermaßen nicht auf der Entwicklung einer abstrakten Grundlagentheorie vom olympischen Kronoshügel aus, sondern auf dem direkten Aufnehmen dessen, was unterhalb des Hügels im Stadion geschieht. Wenn Hermeneutik dem nachkommt, dann beruht sie nicht auf einer transzendentalen Theorie der Bedingung ihrer Möglichkeit, sondern empfiehlt sich als seit Jahrhunderten bewährtes Verfahren. O. Marquard begründet nun, inwiefern die Hermeneutik tatsächlich die Welt nicht wie ein Objekt von außen bestimmt, sondern selbst gleichermaßen Teil der durch Endlichkeit bestimmten Lebenswelt ist. Mit dieser Ausgangsüberlegung sucht er nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwort ist. Wenn wir offenbar nicht absolut existieren, sondern stets zusammen mit anderen, dann ist nicht eine »singularisierende Hermeneutik der Geschichtsphilosophie« wie die des Marxismus, sondern allein das »pluralisierende Verfahren der literarischen Hermeneutik« realitätsgerecht. Die Hermeneutik ist die Antwort auf die unleugbare Tatsache der Pluralität, die dazu aufruft, einen hermeneutischen Bürgerkrieg zu vermeiden statt ihn gewinnen zu wollen. Diese Botschaft ist aber noch nicht überall angekommen. Denn eine vorreformatorische Theologie findet sich noch in Form von revolutionärer Geschichtsphilosophie als »einziger Theologie, bei der die Säkularisierung misslang«. 28 Der hermeneutische Schritt von der Monomythie zur Polymythie bringt die praktische Philosophie in die Nähe der Geisteswissenschaften; denn woher sollen die vielen Geschichten kommen, auf deren Erzählung eine dem Fanatismus abholde literarische Hermeneutik pocht. Die Geisteswissenschaften stellen offenbar eine Antwort auf dasselbe Problem dar wie die Hermeneutik. In der Tat antO. Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Abschied vom Prinzipiellen (wie oben Anm. 8, S. 263), S. 133.

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worten sie »auf das Trauma des hermeneutischen Bürgerkriegs – der aus rasend gewordener Rechthaberei der Eindeutigkeit entsteht – durch den Ausbau jener wohltätigen Errungenschaft, die die Vieldeutigkeit ist. Darum müssen sie erzählen und umerzählen. Und so kommt es … zur Genesis und Konjunktur des Historismus.« Mit diesen Sätzen ist O. Marquard, der ja nur zunächst in J. Ritters Fußstapfen wandeln wollte 29, ankündigungsgemäß den Historismus rehabilitierend über ihn hinausgegangen. 30 Die Absage der Hermeneutik an die marxistische Geschichtsphilosophie ist natürlich nur abgesichert, weil die bürgerliche Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus mit dem Lob des Rechtsstaats einen systematischen Rahmen abgesteckt hat, der einerseits die Entfaltung von Freiheit und individueller Vielfalt ermöglicht, andererseits aber dafür bürgt, dass der wiederentdeckte Historismus nicht auf eine Beliebigkeit hinausläuft, der aber auch alles gestattet ist. Denn Vielfalt geht keineswegs so weit, dass sie auch eine Lizenz für die Absage an die Vielfalt einschließt. Diese Einschränkung zielt auf den »idealen Diskurs«, in dem »Buntheit nur als Anfangskonstellation gestattet, Bewegung nur als Buntheitsabbau gerechtfertigt (ist); und sein Endzustand – der universalistische Konsens – ist einer, in dem niemand mehr anders ist als die Anderen, so dass dort im Grunde alle Teilnehmer überflüssig werden bis auf jenen einen, der genügt, um jene Meinung zu hegen, die dann sowieso als einzige herrscht.« Eine Parallele dürfte Platons in der Politeia erfolgte Einengung der Dialektik auf ein inneres Durchdenken darstellen, als dessen Subjekt sich der »Eine und die Wahrheit selbst« aus dem Kriton anbietet. 31 Marquards kritischen Sätzen aus den Jahren 1983 und 2003, die einem Analogon der unvollständigen Verträge das Wort reden, könnte man in späteren Jahren vorhalten, sie schlügen angesichts des Umstandes, dass die Lehre vom idealen Diskurs ihre Glanzzeit hinter sich hat, die Schlachten der Vergangenheit noch einmal. Indes hatte O. Marquard die bürgerliche Geschichtsphilosophie Hegels eigens als »Regressbremse« gedeutet und damit impliziert, dass das ErledigVgl. oben die Anm. 18, S. 334. O. Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Apologie des Zufälligen (wie oben Anm. 5, S. 330), S. 109. 31 Ders., Universalgeschichte und Multiversalgeschichte, in: Apologie des Zufälligen (wie Anm. 5, S. 330), S. 73. Diese Kritik des idealen Diskurses wiederholt O. Marquard beinahe wörtlich im Spiegel-Interview (9/2003/S. 151–154). Die Belege bei Platon: Politeia 532 A–B und Kriton 48 A. 29 30

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te nie endgültig erledigt ist, weil die Möglichkeit eines Rückfalls hinter das Erledigte nie auszuschließen ist. Tatsächlich ist die Eindimensionalität der Diskurslehre insofern noch aktuell geblieben, als der hermeneutische Fortschritt, der der christlichen Theologie seit dem Jahre 1517 zugute kommt, die islamische Theologie bis heute zumindest noch nicht vollständig durchdrungen hat, so dass sie sich immer wieder von ihren fundamentalistischen Vertretern distanzieren muss. Gute Hermeneutik lebt nicht ausschließlich vom Vorgegebenen; vielmehr warnt sie darüber hinaus gleichsam aus der Lebenserfahrung vor dem, was noch kommen könnte, und erfüllt auch insofern als Verfahren der praktischen Philosophie deren genuine Aufgabe, Horizonte aufzureißen und dem ethisch angemessenen Verhalten im Rahmen dieser Horizonte gute Gründe zu liefern.

Die Ökonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzte Schlussstein der philosophia practica universalis. Karl Homann An den orientierenden Kommentaren, die die Rittersche Mitte mit der Absicht vorgetragen hat, im Sinne der sokratischen Tradition ein angemessenes, weil auf Wissen beruhendes Verhalten zur näheren wie zur ferneren Welt zu bestärken, waren Politik und Ethik beteiligt, aber nicht die Ökonomik als dritte der drei Disziplinen der philosophia practica universalis. Unter der Hand beruhigte man sich über diese Prädilektion, sei doch der Verzicht, auf wirtschaftliche Themen philosophisch einzugehen, kein Willkürakt aus Bequemlichkeit, sondern einfach vorgegeben, nachdem A. Smith Philosophie und Wirtschaftswissenschaften unwiderruflich getrennt habe. Letztere hätten längst eine eigene Logik entwickelt, und das nicht anders als die ebenfalls aus der Philosophie emigrierte Physik oder die Psychologie. In der Tat hatte A. Smith einerseits seit 1751/52 einen Lehrstuhl für Logik und Ethik inne und veröffentlichte 1759 seinem Amte gemäß »The Theory of Moral Sentiments«, andererseits aber erschien aus seiner Feder bahnbrechend im Jahre 1776 »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«. Beide Schriften waren schon insofern disparat, als A. Smith im »Wealth of Nations« die individuelle Motivationsgrundlage der Gewerbetreibenden abkoppelte von ihrer heilsamen Wirkung für die Allgemeinheit, die erst dank 343 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Die Ökonomik oder der Schlussstein der philosophia practica universalis

der berühmten invisible hand herbeigeführt werde. Bliebe es nun bei einer damit tatsächlich nahe gelegten Trennung von Moralphilosophie und Wirtschaftswissenschaften, so bedeutete dies, dass ethische Theorie und ökonomisches Handeln sich gegenseitig nichts mehr zu sagen hätten. Ein derartiges im gewollten Ignorieren verharrendes Nebeneinander liefe jedoch formal auf ein Ausschlagen des Erbes der philosophia practica universalis hinaus und dürfte inhaltlich erhebliche Schäden für die eine wie für die andere Seite nach sich ziehen. Bei dieser trüben Aussicht sollte sich nun Ökonomik als das rettende, traditional legitimierte Stichwort erweisen, auf das der Ritterschüler Karl Homann zurückgegriffen hat, um die unübersehbare Lücke zwischen Moralphilosophie und Nationalökonomie durch die von ihm vertretene Wirtschaftsethik zu schließen. Auf die Ökonomie bezogen ist die Ökonomik deren wissenschaftliche Theorie, sofern sie sich mit dem Vorteile und Nachteile kalkulierenden Handeln befasst; und auf die Ethik bezogen ist die Ökonomik philosophische Ethik mit anderen Mitteln, sofern sie diese mit ökonomischen Methoden einer fälligen Revision unterzieht. 1 Richtschnur der Ökonomik sind europäische Ideale wie Menschenwürde, Lebensglück und Solidarität. Beweisziel ist der fundamentale Anteil der Marktwirtschaft an der Verwirklichung dieser Ideale. Diese confirmatio verlangt eine korrespondierende refutatio. Denn die Ethik muss einsehen, dass sie nicht mehr in unvermittelter Selbständigkeit Sollenspostulate aufstellen darf, um im Falle der Nichterfüllung die Marktwirtschaft mit bellizistischen Schuldzuweisungen zu diskreditieren oder immerhin billigend in Kauf zu nehmen, dass der nach ihren Postulaten Handelnde sich ebendadurch ruinieren kann. Dem Sollen, das dem Handeln vorgeschrieben wird, muss auch ein Können in dem Sinne entsprechen, dass Regeltreue nicht der erste Schritt in die Insolvenz ist. 2 Die Erhaltung der philosophia practica universalis verlangt offenbar eine interne Reform in dem Sinne, dass das römische Rechtsprinzip ultra posse nemo obligatur seine Gültigkeit behält; und das wäre gewährleistet, wenn die

K. Homann: Wirtschaftsethik: Ethik, rekonstruiert mit ökonomischer Methode, in: Aaken, D. van und Schreck, Ph.: Theorien der Wirtschafts- und Unternehmensethik, Frankfurt a. M. 2015, S. 25. 2 In diesem Sinne ist der Buchtitel K. Homanns »Sollen und Können« (Wien 2014) zu verstehen. 1

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traditionelle, auf die individuelle Motivation bezogene Handlungsethik gewissermaßen unter die Aufsicht einer umgreifenden, ökonomisch kompatiblen Ordnungsethik gestellt wird. Diese Reform erfolgt in der Erwartung, dass bei entsprechender Implementierung nunmehr die Beachtung moralischer Normen nicht mehr vom Risiko einer Insolvenz bedroht ist. Das Vermächtnis der philosophia practica universalis ist angenommen, wenn die Ordnungsethik dafür bürgt, dass die Regeltreue (compliance) des Rechtschaffenen nicht mehr vom weniger Rechtschaffenen ausgebeutet werden kann, also aus Moral eine »geerdete Moral« 3 geworden ist. Es fällt auf, dass Karl Homann weder bei J. Hacke noch bei M. Schweda unter den Ritterschülern aufgeführt wird. Der Grund könnte sein, dass man tatsächlich die Beschäftigung mit Ökonomik im Kreis approbierter Philosophen nicht erwartet. Es liegt aber definitiv keine Usurpation vor, wenn K. Homann gleichwohl den Ritterschülern zugerechnet wird, zumal ja auch durch seinen Beitrag zu dem von U. Dierse 2004 herausgegebenen Sammelband »Joachim Ritter zum Gedenken« diese Zugehörigkeit dokumentiert ist. Er selbst versteht sich als »Enkelschüler« J. Ritters, hat zehn Semester bei ihm studiert und in dessen letzter Hauptseminarsitzung im Jahre 1968 ein aufwändig vorbereitetes, von J. Ritter mit höchstem Lob bedachtes Referat über Rechts- und Geschichtsphilosophie gehalten. Mit J. Ritter verbindet ihn über das rein Biographische hinaus, dass er ebenfalls als Gründer einer Schule gelten darf. Er hatte von 1990 bis 1999 an der Universität Eichstätt-Ingolstadt den ersten Lehrstuhl für »Wirtschafts- und Unternehmensethik« in Deutschland inne und von 1999 bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für »Philosophie und Ökonomik« an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mittlerweile besetzen seine Schüler weitere inzwischen eingerichtete Lehrstühle in dieser Disziplin. Wie Hegel und Ritter perhorresziert er abstrakte Sollenspostulate, und wie Hegel und Ritter arbeitet er hermeneutisch, wenn er auch statt Hermeneutik von Rekonstruktion oder Heuristik spricht. Seine Wirtschaftsethik, eine wie gesagt institutionelle Ordnungsethik, versteht er als modernen Hegelianismus. 4 Er übernimmt also die Hegelvergegenwärtigung als das Grundgesetz der Ritterschule mit allen methodischen Folgen, darf Ebd. S. 34. I. Pies et alii: Freiheit durch Demokratie, Festschrift für Karl Homann, Berlin 2008, S. 10.

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aber die Ausführung, nämlich die Etablierung der von ihm inaugurierten Wirtschaftsethik als sein Eigengewächs betrachten. Eine gewisse Irritation hat K. Homann auf sein Thema gebracht. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass die Philosophie mit ausgemachter Selbstverständlichkeit einen Bogen um ökonomische Fragen schlug, gleichzeitig aber seine 68er Altersgenossen über Kapitalismus und Marktwirtschaft wetterten, ohne von der Sache etwas zu verstehen. Nicht untypisch verband sich mit ihrer geringen Sachkenntnis ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Als Ludwig Erhard, dessen theoretisches Konzept den Praxistest – weltweit als German miracle gefeiert – glänzend bestanden hatte, Kritiker der Marktwirtschaft »Pinscher und Uhus« nannte, quittierten sie in gattungstypisch höhnischer Selbstüberschätzung das Anathema des Bundeskanzlers als Ritterschlag. Umso dringlicher erschien K. Homann die abschließende Erneuerung der philosophia practica universalis gerade unter Einbezug der Ökonomik als Desiderat der Stunde. Durch ein entsprechendes Doppelstudium und eine doppelte Promotion ausgewiesen, entwickelte K. Homann seine Wirtschaftsethik als ethische Philosophie mit anderen Mitteln. Damit ist schon angedeutet, dass sein Rückgriff auf die Ökonomik nicht dem nachträglichen Einfügen eines noch fehlenden Moduls in ein schon vorhandenes Funktionssystem gleicht; denn das neue Modul Ökonomik erfüllt seine Funktion keineswegs additiv neben dem alten Modul Ethik, sondern im kritischen Eingriff in dessen Grundaxiome. Denn die Ökonomik besteht von vornherein darauf, dass die Ethik ihrer Aufgabe nur gerecht werden kann, wenn sie zu strukturellen Änderungen bereit wäre, deren Notwendigkeit sie bislang nicht erkannt hat. Zur Ritterschule gehört ganz besonders der Brauch, nie ein Thema »an sich« zu behandeln, sondern jeweils anlassbedingt im Ausgang von einer quaestio finita. So besteht auch für K. Homann ein höchst aktueller Anlass, sich mit Ökonomik zu befassen, und zwar angesichts von Dilemmastrukturen, die die moderne globalisierte Welt beherrschen, ohne dass die Ethik deren systematische Erörterung bislang für nötig befunden hätte. Er erläutert das Problem anhand des spieltheoretischen Gefangenendilemmas. Beschuldigte in Untersuchungshaft werden getrennt verhört und müssen fürchten, dass sich ihre Komplizen nicht an das vereinbarte Schweigen halten. Da bietet es sich für den einzelnen Häftling an, in präventiver Verteidigung der eigenen Interessen auf die vom Gericht angebotene Kronzeugenregelung einzugehen, bevor es aus derselben Überlegung 346 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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heraus der Komplize tut. Aus Selbstschutz handelt der eine Gefangene ebenso egoistisch, wie er es auch von den Mitgefangenen befürchtet. 5 Diese Komponente des präventiven Selbstschutzes ist in dem Maße – interdisziplinär erwiesen 6 – genetisch im Menschen verankert, dass es sich keine Theorie erlauben sollte, sie kurzerhand zu ignorieren. Zumal dieser Naturfaktor, der bei der Kronzeugenregelung in durchaus erwünschter Weise wirkt, in der Wirtschaft die Treue zur moralischen Einsicht gefährdet, wenn etwa ein Unternehmer, der bei Beachtung des moralischen Postulats des Schutzes der Umwelt automatisch teurer produziert, von seinen weniger umweltbewussten, ihm aber völlig unbekannten Konkurrenten ausgebeutet wird. Verallgemeinert besagt dies, der Anständige ist der Dumme; und diese Verallgemeinerung lehrt, dass die Dilemmastruktur offenbar ein Erklärungsmodell darstellt, das nicht nur die bestimmte Entscheidungssituation eines Unternehmers, sondern menschliches Handeln insgesamt betreffen kann. Bleibt nun die Ethik dabei, sich auf die moralische Einsicht und moralische Motivation des Einzelnen nach Sollensregeln zu beschränken, so wäre das nur gerechtfertigt, wenn der von ihr Angeleitete sein Handeln von Anfang bis Ende störungsfrei und furchtlos kontrollieren könnte. Störungsfrei handelt er aber nicht, weil er bei seinem Handeln nur wenige relevante Umstände selbst kontrolliert, und furchtlos handelt er auch nicht, weil er jederzeit mit unmoralischen Spielzügen der mit ihm auf derselben Seite agierenden Konkurrenz rechnen muss. Das sind die Einwände, die nüchterne Ökonomik der traditionellen Ethik vorträgt. Dieses Dilemma der Ethik ist nur aufzulösen, wenn sie der Forderung der Ökonomik nachkommt, mit ihr gemeinsam unter den Leitgedanken Menschenwürde, Lebensglück, Solidarität und Verantwortung für das Gemeinwohl über eine Handlungsethik hinaus eine Ordnungsethik zu entwickeln, die die Ausbeutung moralischer Akteure zu verhindern verspricht. Ein Scheitern dieses Ansatzes hätte übrigens verheerende Folgen; denn man müsste, wäre eine solche Ordnungsethik nicht zu etablieren, auch die Idee des sittlichen Staates preisgeben. Das mit dem Gefangenendilemma illustrierte Problem ist das Kernproblem der modernen Ökonomik, die ihre Arbeit erst als abgeschlossen betrachten kann, wenn sie die Ethik mit ins Boot nimmt, K. Homann, Sollen und Können, Wien 2014, S. 87 und öfter. K. Homann, Das Können des moralischen Sollens II. Bedingungen individuellen moralischen Handelns, in: Ethica 23 (Innsbruck 2015) 4, S. 291–314.

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und zwar mit dem Ergebnis, dass dank eines Bündels von institutionell vorgegebenen Anreizen und Sanktionen die Akteure im Einhalten von Spielregeln ihr ureigenstes Interesse erkennen und demgemäß erwarten können, dass auch ihre Konkurrenten aufgrund derselben Einsicht das vereinbarte sanktionsbewehrte Regelwerk nicht unterlaufen. Eine mit solcher Zielsetzung kooperierende Ethik baut ersichtlich auf eine institutionelle Ordnung und erst unter dieser unerlässlichen Voraussetzung auch auf individuelles Befolgen moralischer Imperative. Fehlverhalten wäre demnach nicht als individuelle Charakterschwäche zu erklären, sondern als Folge von institutionellen Fehlanreizen, wie etwa zu erwarten ist, dass eine Währungsunion verantwortungslose Kreditaufnahme einzelner Länder befördert, Niedrigzinsen zu unbedachten Investitionen führen oder Sportwetten zu Korruption durch Ergebnismanipulation. Die Notwendigkeit einer umfassenden institutionellen Ordnungsethik war in der Antike noch nicht gegeben. Sie steht – ausgelöst durch den Systemimperativ Wettbewerb und die Globalisierung mit einhergehender unübersehbarer Fülle von Interdependenzen – erst auf der Tagesordnung der modernen Welt. Wesentliche Tagesordnungspunkte dieser Welt, in der wir leben, dürfen aber der philosophischen Aufmerksamkeit nicht entgehen, sondern müssen in anlassbedingte Theorien münden. Derartige Theorien konnten indes, wie gesagt, in der Antike definitiv noch nicht auf die Tagesordnung der praktischen Philosophie gelangen. Wo Hauswirtschaft noch nicht Nationalökonomie war, sondern laut Xenophon »ein Wissen, durch das die Menschen imstande sind, für das Gedeihen ihrer Häuser zu sorgen« 7, da besteht statt unumschränktem Wettbewerb, Globalisierung und daraus folgender Anonymität die persönliche Nähe innerhalb des Hauses und die soziale Kontrolle innerhalb der Stadtmauern. Diese Nähe wiederum lässt schon rein räumlich kein apartes Eigenleben von Ethik und Ökonomik zu, das es hernach erst mühsam wieder in ein Zusammenleben zurückzuführen gilt. Der auf Sichtweite handelnde Polisbürger hatte sein Terrain vollständig im Blick; für ihn existierte nicht die abstrakte Gefahr nicht erkennbarer Absichten seitens präventiv ausscherender unbekannter Gegenspieler. Natürlich lebte auch der Polisbürger nicht ohne Risiken – hausgemachten wie ungenügender Planung oder Selbstüberschätzung, mehr aber noch äußeren Risiken wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Epide7

Xenophon, Oikonomikos 6, 4.

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mien; aber in all diesen Fällen handelte es sich um Risiken, die spieltheoretisch gleichsam als »Spiele gegen die Natur«, nicht aber als Spiele gegen kalkulierende Mit- oder Gegenspieler abzubilden wären. Der antike Bürger musste seine Welt, die durch ein ungestörtes Ineinandergreifen von Ethik und Ökonomik charakterisiert war, nicht in eine nahe und eine ferne, nicht in eine sichtbare und eine unsichtbare Welt einteilen. Er handelte auf einer für ihn gut übersehbaren Bühne als situationsmächtiger Herr des Verfahrens, gleich ob er Gutes oder Böses im Schilde führte. Davon legen die Beispiele Zeugnis ab, die Aristoteles (falls er selbst der Autor ist) in seinen Oikonomiká unter dem Oberthema der Sicherung des Staatshaushalts vorgetragen hat. Dort berichtet er unter anderem von dem Beschluss der Insel Chios, den Staatshaushalt dadurch zu sanieren, dass alle Schuldner öffentlich registriert würden und ihre Raten nunmehr an die Staatskasse zahlten, während der Staat die Gläubiger später entschädigen werde, wenn er wieder dazu imstande sei (1347 b 35–1348 a 3). Ein weniger nachahmenswertes Beispiel lieferte Dionysios von Syrakus, der in seiner Geldnot behauptete, Demeter sei ihm erschienen und habe verlangt, alle Frauen sollten ihren Schmuck dem Tempel überlassen. Darauf vereinnahmte er den Schmuck, indem er ihn zu einem ihm gewährten Darlehen der Göttin erklärte (1349 a 14–24). Die anständigen Chier und der weniger anständige Tyrann bestimmten beide gleichermaßen souverän ihr Ziel mitsamt zielführenden Mitteln und führten ihren Plan von Anfang bis Ende situationsmächtig aus, ohne eine mögliche Intervention aus dem Untergrund auch nur ins Kalkül zu ziehen. Die Chier und der Tyrann hielten mit ausgemachter Selbstverständlichkeit das Heft in der Hand, weil beider Blickfeld in keiner Weise eingeschränkt war. Sie verstanden sich als Täter, die ihre Absichten gradlinig und unverkürzt ausführten, ohne irgendwelche unbekannten Akteure zu fürchten, die ihre Spielzüge mit den gleichen Mitteln, derer sie sich selbst bedienten, durchkreuzen könnten. Anständige und weniger anständige Akteure profitierten gleichermaßen von der Transparenz des Handlungsspielraumes; und wenn die Letzteren deswegen auch leichter auffielen, so konnten sie selbst das noch als Gewinn verbuchen, weil es ihnen das Ansehen besonderer Pfiffigkeit einbrachte. Während nun der Philosoph Aristoteles an einer Menge weiterer Beispiele demonstrierte, wie er über seine Theorie der Herleitung des Geldes aus der Wiedervergeltung hinaus auch sachkundig aus der Welt der Geldwirtschaft zu berichten wusste, beklagte Cicero in 349 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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De officiis (2, 87), dass wohl Geldfachleute, nicht aber Philosophen verstünden, wie man Geld verdient, anlegt und ausgibt. Diese wohl den Stoikern anzurechnende Schwäche war für Cicero umso weniger hinnehmbar, als mittlerweile die Durchsichtigkeit finanzieller Transaktionen im großen Römischen Reich schwerer zu gewährleisten war als in der griechischen Polis. Umso schwieriger wurde es für die praktische Philosophie, die Konvergenz von Sittlichgutem (honestum) und Nutzen (utile) aufrechtzuerhalten, die wiederum für Cicero zu Recht geradezu eine Frage der Staatsräson war. Denn diese Konvergenz zeichnet den sittlichen Staat aus: Die Menschen leben in einer natürlichen Gemeinschaft (communitas: 3, 53), und diese Gemeinschaft verträgt kein privategoistisches Ausplündern von Mitbürgern. Wie Hobbes hat auch Cicero bedacht, dass dieser Grundsatz nur Bestand haben kann, wenn sich alle zu ihm bekennen; und Cicero spricht auch aus, was geschehen soll, wenn auch nur einer aus dieser communitas ausschert. Dieser sei, wenn es sich um einen Tyrannen wie Phalaris handelte, zu töten (3, 19. 32), während im Normalfall ein sanktionsbewehrter Staat Bereicherung auf Kosten anderer durch strenge Gesetze verhindere (3, 23). Prinzipiell bestärkt also der sittliche Staat durch strikten Vollzug geeigneter Gesetze das Vertrauen der Bürger darauf, dass sich Anstand lohne. Redlicherweise war Cicero aber auch bereit, seine Grundsätze einer Periklitierung auszusetzen, und zwar an zwei Beispielen (3, 49–57), die beide einen Mangel an Durchsichtigkeit infolge eines asymmetrischen Informationsstandes zur Voraussetzung hatten. Cicero stellt sich einen Hausverkäufer vor, der einen höheren Preis erzielt, weil er dem Käufer die vielen unsichtbaren Mängel des Hauses verschweigt. Im selben Passus berichtet er auch über den Fall eines Kaufmannes, der mit einem Getreideschiff aus Alexandria in dem von einer Hungersnot geplagten Rhodos vor Anker geht, aber den Rhodiern verschweigt, dass noch weitere Getreideschiffe aus Alexandria unterwegs sind. Dadurch kann er sein Getreide mit umso höherem Gewinn verkaufen. Natürlich verurteilt Cicero beide Verkäufer: Wer so handele, sei kein vir bonus, sondern abgefeimt, verschlagen, arglistig, durchtrieben, dunkel, betrügerisch, ausgekocht. Wenn Cicero mit dieser Beschimpfung auf die Macht der Worte setzt, so handelt es sich um mehr als einen bloßen Appell; Cicero verflucht den Treu und Glauben missachtenden Kaufmann und hat diese Absicht wenige Sätze zuvor schon mit seinem Hinweis durchblicken lassen, dass die Athener sogar schon denjenigen mit öffentlicher Ver350 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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fluchung (exsecratio publica) bestrafen, der einem Wanderer, der sich verirrt hat, den richtigen Weg verschweigt. Kommentierend schließt Cicero seine informelle Verfluchungssanktion mit dem Satz ab, es sei doch von großem Nachteil (inutile), mit so viel rufschädigenden Schmähworten charakterisiert zu werden. Mit der darin enthaltenen Versicherung, dass ein Verstoß gegen das honestum gerade keinen Nutzen, sondern Ansehensverlust einbringt, bestärkt Cicero ein Weltvertrauen, dessen philosophischer Indikator die bruchlose Zusammengehörigkeit von Ethik und Ökonomik ist. Voraussetzung ist die Wiederherstellung der Durchsichtigkeit durch Verhinderung asymmetrischer Information auch unter erschwerten Bedingungen, eine Verpflichtung, die für Cicero bei windigen Geschäften nicht minder bindend war als zwei Jahrzehnte zuvor bei der Demaskierung Catilinas. Wenn nun die Demaskierung in beiden Fällen zwar mit einiger Mühe, aber am Ende eben doch erfolgreich gelingt, dann handelt es sich – wenn überhaupt – um ein Dilemma, das seine Vollstufe noch nicht erreicht hat. Die antike Ökonomie beruhte auf einer unausgesprochenen Kooperation der Anbieter in einem übersichtlichen Aktionsraum materiell in etwa Gleichgestellter. Die Emanzipation des Wettbewerbs aus den damit einhergehenden Bindungen gehört der modernen Welt an. Dieser Schritt führte zu einer beispiellosen Produktivitätssteigerung, die J. St. Mill’s »größtmöglicher Zahl« eine erhebliche Besserstellung verspricht. Zu diesem gerne als selbstverständlich hingenommenen Vorteil gesellt sich indes der Umstand, dass Wettbewerb Expansion nach sich zieht, daher auf eine weitere räumliche Ausdehnung drängt und als Folge eine größere Unübersichtlichkeit hinnehmen muss. Kein Akteur weiß genau, was der Konkurrent unternimmt, um seinen Gewinn weit über das bisher als ausreichend geltende Gleiche hinaus zu steigern, und sieht sich daher genötigt, auch seinerseits präventiv vom Üblichen abzuweichen. Das nunmehr offenkundige Dilemma ruft nach einer Umbesetzung der Positionen. An die Stelle der auf Herkommen gegründeten Sittlichkeit der Antike, über deren Strukturen innerhalb der philosophia practica universalis Einvernehmen herrschte, müssen neuerdings sanktionsbewehrte Institutionen treten, und zwar aufgrund einer Satzung, deren Formulierung die Zukunftsaufgabe einer dazu qualifizierten Ordnungsethik wäre. Wenn aber nunmehr der aus seinen antiken Bindungen entlassene »Wettbewerb auf derselben Marktseite stattfindet« (K. Homann passim), dann muss Kooperation seinen für die Antike zu unterstellen351 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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den Sinn zwingend ändern. Kooperation betrifft neuerdings nicht mehr das Verhältnis der Anbieter auf derselben Marktseite, sondern ihren Respekt vor der anderen, die Regeln definierenden Seite, sofern die Spieler bei ihren Spielzügen die ihnen vorgegebenen Spielregeln zu beachten haben. Durch den Seitenwechsel setzt die moderne Variante von Kooperation systemnotwendig den Wettbewerb frei und wahrt die regulierenden Standards. Die Wettbewerber können diese Standards aus moralischer Überzeugung respektieren; es genügt aber, wenn sie überzeugt sind, durch Kooperation mit den Instanzen, die die Spielregeln exekutieren, ihre eigenen Interessen zu wahren. In logischer Darstellung klingt die Lösung des Problems verblüffend einfach. In Wahrheit bedurfte es gewaltiger Anstrengungen, um die Lage einer Gesellschaft, die Hegel als »geistiges Tierreich« apostrophiert hat, zu sanieren. In seinem Werk »Il Principe« befasst sich erstmals Niccolo Machiavelli (1469–1527) mit dem Problem. Er etabliert die Politik als selbständige, von der Ethik getrennte Disziplin mit eigenen Gesetzen und berät im »Principe« (Kapitel 15–18) den Fürsten wie einen Gefangenen, der an seinem Dilemma grundsätzlich nichts ändern kann und sich auf effizienten Selbstschutz beschränken muss: Wer tugendhaft handelt, wird durch die vielen, die das nicht tun, zugrunde gehen. Es kommt auf das Ergebnis an, gleich ob durch Laster generiert oder nicht. Die Tugend der Freigebigkeit hat den Ruin zur Folge, wenn eine die Großzügigkeit finanzierende Steuererhöhung zur Empörung der Bürger führt. Sein Wort darf man nur halten, wenn es keinen Nachteil einbringt. Der Schein von Güte, Mitgefühl und Treue mag nützlich sein, aber es gilt ihn nur aufrechtzuerhalten, solange das ohne Einbußen möglich ist. Danach sollte sicherheitshalber nur das Laster die Richtschnur des Handelns sein; denn es kommt allein auf den Ausgang der Sache an. Mit solchen und ähnlichen Ratschlägen stempelt Machiavelli die Ethik ihren normativen Ansprüchen zum Trotz als potenziellen Faktor der Positionsschwächung ab und deklassiert sie zur bloßen Fassade. Die Scheinwirkung der Fassade indes lebt von unklaren Sichtverhältnissen, auf die das zur Selbstverteidigung entschlossene Individuum jedoch angewiesen ist, solange es nicht auf eine systematische Lösung des Dilemmaproblems zu hoffen wagt. Diesen Umstand hat William Shakespeare (1564–1616) in seinem Drama »Macbeth« auf die Bühne gebracht. Gleich in der ersten Szene rufen die drei Hexen aus: Fair is foul, and foul is fair, hover through the fog and filthy air: edel ist gemein, und gemein ist edel; 352 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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beides schwebt durch Nebel und trübe Luft. So begrüßen die Hexen Macbeth, der beide Seiten in sich vereinigt, weil er tapfer und damit edel eine Schlacht für König Duncan gewonnen hat, ihn aber gleichwohl verräterisch auf gemeine Weise in Kürze umbringen wird. Dass dieser Widerspruch möglich ist, liegt nicht nur an Macbeth’s Skrupellosigkeit und an der Suada der Lady Macbeth, es liegt nicht minder auch am Siegeszug der von den Hexen angesprochenen schlechten Sicht und des daraus folgenden Watens auf unsicherem Untergrund. Da ist kompetente Beratung gefragt, wie angesichts dieser übermächtigen Ambivalenz der Umstände Selbstbehauptung in präventiver Defensive möglich ist. Solche Beratung benötigt logischerweise nicht nur Machiavellis Fürst, sie ist, wie Shakespeare im Hamlet (I 3) demonstriert, auch auf bürgerlicher Ebene gefragt. Der königliche Oberkämmerer Polonius gibt seinem Sohn Laertes vor dessen Aufbruch nach Paris entsprechende Ratschläge mit auf den Weg: Sage nicht, was du denkst. Sei verbindlich, ohne dich auf jeden Dahergekommenen einzulassen. Binde nur gute Freunde an dich. Leihe jedem dein Ohr, aber wenigen deine Stimme. Lass dich von allen beraten, aber äußere nicht, was du darüber denkst. Verleihe kein Geld, das zerstört die Freundschaft, und borge dir keins, das zerstört deinen Sinn für Sparsamkeit. In jeder Lebenslage lauern also Gefahren, die der Einzelne auf sich selbst gestellt parieren muss. Machiavelli und Shakespeare lieferten eine ungeschminkte Lageanalyse, zu der wohl nur integre Charaktere als schlechtes Gewissen ihrer Zeit fähig sind. Da sie indes glaubten, an dem von ihnen erkannten Schwebezustand sei nichts zu ändern, begnügten sie sich mit Ratschlägen zur Schadensbegrenzung durch Defensivverhalten aus eigener Kraft. Natürlich ist diese Lösung als Halbheit zu kritisieren; sie überlässt es dem Einzelnen, sich selbst zu schützen und auf das Eingreifen des Staates zu verzichten. Das Lob aber, diesen Schwachpunkt des zurückgezogenen Staates als Erster in systematischer Absicht angesprochen zu haben, verdient Thomas Hobbes (1588–1679). Der Ausgang von einem unverhohlenen Naturzustand, den Hobbes dem mühsam verschleierten Naturzustand Machiavellis vorzieht, macht ihn schließlich zum Vorläufer der modernen Wirtschaftsethik, indem er erstmals die traditionelle Handlungsethik einer umgreifenden Ordnungsethik unterwirft. 8 Denn sein Naturzustand ist der offen eingestandene Zustand des reinen, unregulier8

K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 106.

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ten Wettbewerbs 9, in dem jeder seine Bedürfnisse selbst definiert und diese ohne Einschränkung der Mittel verfolgt, zugleich aber damit rechnen muss, dass jeder andere sich ihm gegenüber ebenso verhält. Hobbes präludiert also mit seiner Skizze des Naturzustandes dem modernen Modell des Gefangenendilemmas. 10 In beiden Fällen handelt es sich um fiktive theoretische Konstrukte, die dieselbe heuristische Funktion haben: Sie sollen herausfinden, was zu tun ist, wenn jeder Einzelne zu jeder denkbaren Eigenmächtigkeit fähig ist, das aber nicht, ohne von jedem anderen ein eben solches Verhalten zu gewärtigen. Ohne die illusionäre Bereitschaft, auf die Scheinlösung der Fassade zu setzen und sich allenfalls auf individuell zugeschnittene Schutzmaßnahmen zu beschränken, prüft Hobbes im Ausgang von einem durch nichts beschönigten Naturzustand, wie es einer zu etablierenden staatlichen Ordnung gelingen kann, das angenommene bellum omnium contra omnes zu ersticken. Heuristik ist offenbar insofern hermeneutisch, als sie mit ganz bestimmten Suchanweisungen an die gesellschaftliche Wirklichkeit herantritt und ohne dogmatische Vorfestlegung sondiert, ob die Suche diese Anweisungen bestätigt findet oder nicht. 11 Der Erfolg der Suche läge in diesem Fall in der Zustimmung aller Probanden, also der Zustimmung der aus Überzeugung in den status civilis Eingetretenen. Dem modernen Mittel einer Ordnungsethik entspricht bei Hobbes der status civilis, der auf der Kombination eines Gesellschaftsvertrages der Individuen untereinander und eines Begünstigungvertrages aller gegenüber der Staatsmacht beruht: Ich übertrage dem Staat als civitas mein natürliches Recht, mich selbst zu regieren, unter der Voraussetzung, dass du ihm dieses Recht ebenso überträgst und alle seine Handlungen autorisierst. 12 Für Hobbes ist also das Dilemma gelöst, wenn jeder Einzelne für sich einen Gewaltverzicht akzeptiert und dem Staat das Gewaltmonopol überträgt, dies aber mit aller gebührenden Konsequenz. Denn es ist die fundamentale Pflicht dieses Staates, das Verbrechen des Rückfalls in den Naturzustand durch das Ausscheren Einzelner unter allen Umständen zu unterbinden. Dieser Anforderung an den Staat bei Hobbes entspricht genau der Bannstrahl der Wirtschaftsethik gegen das Ausscheren (deEbd., S. 51. Ebd., S. 117–120. 11 Ebd., S. 234. 12 Th. Hobbes, Leviathan, Kapitel 17. 9

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fection) Einzelner. Am gelungenen oder misslungenen Vollzug dieser Anforderung entscheidet sich der Erfolg oder Misserfolg der zugrunde liegenden Theorie. Die Gefahr des Ausscherens, die den Staat ebenso wie die Ordnungsethik unterminiert, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, d. h. im Wesen zwischenmenschlichen Handelns. Die natürlichen Ursachen des Naturzustandes als eines Dauerkriegszustandes sieht Hobbes laut englischer Ausgabe in competition, diffidence, glory und laut lateinischer Fassung in competitio, defensio, gloria. 13 Der Naturzustand ist also die Bühne für einen unumschränkten Wettbewerb, in dem der Einzelne aus Misstrauen in Abwehrhaltung geht und zur Abschreckung auf seinen »Ruhm« Wert legt, sofern sein Name anderen davon abrät, sich mit ihm auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Hobbes dürfte die Anregung für seine drei Faktoren bei dem von ihm übersetzten Thukydides erhalten haben. Dieser lässt (1, 75, 3) die Athener erklären, sie könnten ihr attisches Seereich nicht aufgeben, weil sie gegen drei übermächtige Faktoren ohnmächtig seien – nämlich Furcht, Prestige und Interesse (δέος, τιμή, ὠφελία). Die der gloria entsprechende τιμή, so erläutern die Athener, sei für sie von Bedeutung, weil die Bündner rebellisch würden, sobald sie keinen Respekt mehr vor ihnen hätten. Das Bestehen auf Respekt ist also eine Form vorbeugender Selbstverteidigung oder defensio. Gleich ob der Naturzustand verschleiert oder offensichtlich ist, er nötigt zu defensivem Verhalten, ohne dass diese Nötigung den Akteuren moralisch anzulasten ist. Nun hat Hobbes nicht nur einen unerwünschten Naturzustand rekonstruiert, sondern auch natürliche Gesetze wie die Goldene Regel und Tugenden wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit vorgefunden. Diese natürlichen Gesetze verpflichten in der Innerlichkeit (in foro interno) zu dem Wunsch, sie mögen dereinst auch in der Außenwelt (in foro externo) gültig sein, obwohl sie derzeit vorsichtshalber aus den Grenzen der Innerlichkeit nicht heraustreten sollten. Moralität in foro interno erfüllt also nur die notwendige, keineswegs schon die hinreichende Bedingung für moralisches Handeln. Denn es »besteht das Problem nicht in meinem … Willen, sondern in der Unsicherheit über das Handeln der anderen. Kürzer: Das Problem ist nicht mein Wille, das Problem sind die anderen.« 14 13 14

Ebd., Kapitel 13. Dazu K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 129 f. K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 181.

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Verhält sich also ein Handelnder gemäß den natürlichen Gesetzen, ohne dass die anderen das auch tun, so wäre das der sichere Ruin. 15 Dies bedeutet, dass der Mensch von Natur die Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft wünscht, die indes von Natur nicht besteht, sondern vom gebündelten Willen aller erst noch zu erzeugen ist. Bei diesem Schritt kann der Einzelne nur gewinnen; zu befürchten hat er nichts. Denn aufgrund seiner Vordisposition muss er, sobald er den status naturalis verlassen hat, nicht mehr eigens zu einem neuen Menschen erzogen werden; denn er ist ja in foro interno von vornherein schon das, was er im status civilis auch nach außen sein wird. In der Wirtschaftsethik besteht das Problem der Erziehung zum neuen Menschen ebenso wenig, weil sie den genetisch bedingt notwendig immer auch und zuerst an sich selbst denkenden Menschen ja nicht verändern, sondern lediglich einhegen will, damit er in den Genuss vorteilhafterer Kooperationen gelangt. Dem kommt der Einzelne sogar entgegen, impliziert doch das Gefangenendilemma, dass die Gefangenen in der sozialen Falle so leben, wie sie eigentlich gar nicht leben wollen. 16 Sie wollen nicht unter der Voraussetzung leben, dass der Satz homo homini lupus das Verhalten diktiert, sondern sie wollen ihre Chance, so zu leben, als gälte die Regel homo homini deus. 17 Entsprechend vollstreckt die Wirtschaftsethik den natürlichen Willen der Wettbewerber, nicht defensiv in der Furcht vor latent drohender Ausbeutung zu leben, sondern offen heraus wie die von Aristoteles beschriebenen Akteure. Sie wollen actu das werden, was sie der Anlage nach immer schon sind. Sobald damit die Rückkehr der Agierenden unter der Ägide eines staatlichen Schutzes in das offene Tageslicht erfolgt ist, kann auch wieder von der Einheit der philosophia practica universalis die Rede sein: der status civilis bedeutet Frieden zumindest im Innern des Landes, er bedeutet Ermöglichung und Bestätigung der natürlichen Tugenden und er bedeutet ein gelungenes Leben, sofern dessen Gegenteil, das Leben im status naturalis, einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz ist (solitary, poore, nasty, brutish, and short). 18 Der konsequent durchkonstruierte bürgerliche Staat vermag sich, so dürfte Hobbes das Resultat seiner Theorie biTh. Hobbes, Leviathan Kapitel 15. Dazu K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 119– 122. 16 K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 87 f. 17 Th. Hobbes, De cive: Widmung an Seine Exzellenz den Grafen William of Devonshire. 18 Th. Hobbes, Leviathan, Kapitel 13. 15

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lanzieren, vor dem Prüfstein des Problemindikators Naturzustand durch dessen Überwindung mit überzeugendem Erfolg zu bewähren. Hobbes hat unter den geschichtlichen Bedingungen seiner Zeit eine Versöhnung der drei praktischen Disziplinen im Einklang mit der Konstituierung eines starken Staates zustande gebracht. Dieser Staat ist der Nationalstaat. Außerhalb seiner Grenzen gilt nach wie vor der Naturzustand. Die Nationalökonomie wird sich an diese Vorgaben des Thomas Hobbes halten. Dieser Staat, dargestellt am Bilde des Seeungeheuers Leviathan, ist öffentlich sichtbar, seine regulierende Macht ist jederzeit spürbar und wirksam. Er verbürgt den Erfolg des regulierten Wettbewerbs. Gleichwohl kann Hobbes als Vorläufer der modernen Wirtschaftethik nur dann beansprucht werden, wenn der status naturalis und der status civilis nicht im zeitlichen Nacheinander erscheinen, sondern im Modus logischer Gleichzeitigkeit. Tatsächlich konstatiert ja das Gefangenendilemma einen Zustand noch bestehender Bedrohung aus dem unberechenbaren Untergrund. Umso mehr gilt es, dem Vorbild, das sich bei Th. Hobbes bewährt hat, zu folgen. Statt sich klammheimlich über die Gefährdung bürgerlicher Sekurität durch ein vielleicht immer noch nicht untergegangenes »tragisches Zeitalter der Griechen« zu freuen, ist es die Pflicht der Vernunft, Wege zu weisen, wie die latente Gefahr durch Institutionen zu neutralisieren ist, die ihre Fähigkeit zum effizienten Zugriff im Hellen des Tageslichts zu erkennen geben und der segensreichen Seite des Wettbewerbs durch geeignete Spielregeln zum Durchbruch zu verhelfen. Methodisch versteht sich der moderne Nachfahre allerdings zu noch weniger Zugeständnissen als der Vorläufer. Durch die Globalisierung hat sich das Problem erheblich kompliziert und verschärft; Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit des Handlungsspielraums sind immer geringer geworden. Entsprechend ungehemmter sind die Kräfte, deren Integration die moderne Ökonomik bewerkstelligen muss, wenn sie ihre Aufgabe erfolgreich abschließen will. In dieser Absicht dürfte sie zumindest theoretisch von den Agierenden nicht das geringste Entgegenkommen erwarten. Hätte sie an irgendeiner Stelle eine nicht vorhandene natürliche Kooperationsbereitschaft unterstellt, so hätte sie sich automatisch eine offene Flanke eingehandelt. So weit musste Hobbes noch nicht gehen. Während bei ihm die Spieler im Spiel der Spieltheorie wenigstens in foro interno schon ein moralisches Bewusstsein aufweisen, ist deren Gegenstück in der modernen Ökonomik, der homo oeconomicus, davon völlig frei. Auch 357 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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dieser Typus homo ist ein Theoriekonstrukt nicht anders als der Naturzustand oder das Gefangenendilemma; er ist auf das Gefangenendilemma bezogen, das außer dem Gebot des Selbstschutzes kein Sollen kennt. Folgerichtig zeichnet er sich dadurch aus, dass er keine Solidarität mit anderen kennt und an nichts anderes denkt als an seinen eigenen Vorteil, unter Vorteil aber nicht nur finanziellen Gewinn versteht, sondern nicht minder auch Gesundheit, Lebensgenuss und soziales Ansehen. 19 Von ihm darf die Theorie erwarten, dass er in einer Dilemmasituation vor keiner präventiven Gegenausbeutung zurückschreckt. Seine Funktion als Prüfstein für die Theorie erfüllt er, wenn diese eine anreizkompatible institutionelle Lösung vorschlägt und auslotet, ob die Lösung selbst in den Augen des amoralisch gedachten homo oeconomicus Bestand hat, weil selbst dieser sie nicht ausschlagen kann. Vorsichtshalber sollte ihn aber auch eine strenge, mit erheblichen Sanktionen bewehrte Ordnungspolitik, die Korruption, Betrug und Vertragsbruch entschieden unterbindet, davon überzeugen, dass er im eigenen Interesse Regeltreue einhalten sollte. Ein Vorläufer dieses bewusst völlig voraussetzungslos gestalteten homo oeconomicus findet sich, wie gesagt, nicht bei Hobbes. Er findet sich aber bei Kant, für den das »Problem der Staatseinrichtung, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar« sein muss; selbst wenn alle Mitbürger sich insgeheim von der Beachtung der Gesetze ausnehmen wollen, so muss die Verfassung solche Privatgesinnungen dermaßen unschädlich machen, »dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine bösen Gesinnungen hätten.« 20 Ein System, durch das selbst Teufel und homines oeconomici integriert werden, muss nicht fürchten, immer noch irgendwo unentdeckte Sollbruchstellen aufzuweisen. Die einen wie die anderen leisten ihre guten Dienste als »Sonde zur Untersuchung der Stabilität institutioneller Arrangements.« 21 Bei den Verhandlungen über eine Koalition von Ethik und Ökonomik gebührt der Letzteren die Federführung. Denn ihr Mandant, die Marktwirtschaft, hat zum einen ein beträchtliches Übergewicht, ist aber zum anderen moralisch angefochten und muss daher vor allen weiteren Schritten in einem Narrativ in eigener Sache geltend 19 20 21

K. Homann (wie Anm. 4, S. 345), S. 102. I. Kant, Zum ewigen Frieden, Die Definitivartikel, Erster Zusatz (1). K. Homann (wie Anm. 1, S. 344), S. 43.

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machen, dass sie ihrem ungünstigen Image zuwider mit ihrem Produkt der Besserstellung möglichst vieler sehr wohl dem moralischen Ziel des gelungenen Lebens dient. Nur wäre das Ziel der Besserstellung ohne den Wettbewerb, offenbar der Quelle des Imageproblems, nicht zu erreichen. Das Narrativ muss also offensiv gerade das konstitutive Moment des Wettbewerbs verteidigen: »Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.« 22 Denn Teilen schafft kein Wachstum; nur dem Wettbewerb sind dauerhaft qualitativ bessere und innovative Produkte zu immer günstigeren Preisen zu verdanken. Unmoralisch ist es daher in Wahrheit, den Wettbewerb durch Protektionismus, Dauersubventionen oder nicht marktgerechte Löhne zu behindern; denn für die Begünstigung der einen müssten die anderen gezwungenermaßen zahlen. Insbesondere gilt es zu vermerken, dass das Charakteristikum der Marktwirtschaft der Service und nicht das Konsumdiktat ist. Denn der Primat der Auftragszuständigkeit liegt bei den Verbrauchern, deren Willen die Marktforschung ermittelt. Der Anbieter geht auf das gerade sich abzeichnende Bedürfnis ein, indem er prüft, ob er am Markt einen Preis durchsetzen kann, der ihm nach Abzug der Gestehungskosten für sein Produkt noch einen Gewinn verspricht. Wenn er dies bejaht, wird er nach Entwicklung des Prototyps die Serienproduktion erst nach nochmaliger Befragung der Verbraucher anwerfen, ob sie beim consumer-test ihr Kaufinteresse bestätigen. Der Gewerbefreiheit auf der einen Seite korrespondiert die Auftragszuständigkeit der Konsumenten auf der anderen Seite. In der Demokratie entscheiden Anbieter und Verbraucher frei aus ihrer jeweiligen Perspektive in der Erwartung von Vorteilen für beide Seiten; sie beweisen damit, wie überflüssig eine ohnehin auf Freiheitsberaubung hinauslaufende sozialistische Planungsbürokratie ist. Sicherlich ist das den Unternehmer aktuell leitende Ziel ein möglichst hoher Gewinn. Dieses Ziel ist ihm in keiner Weise vorzuwerfen, weil es ihm von der Marktwirtschaft und den Wettbewerbern aufgezwungen ist. Schließlich weiß er ja nicht, wie lange seine Erfolgssträhne noch anhält, zumal wenn Wachstum ohne Innovation nicht möglich ist und daher die Wirtschaft einem ständigen Prozess schöpferischer Zerstörung (J. Schumpeter) unterliegt. Da die zu erwartende Zerstörung jeden Unternehmer treffen kann, muss es ihm angesichts des Derselbe (wie Anm. 4, S. 345) S. 15/50/133 – unter Anspielung auf Sankt Martin, der lieber eine Kleiderproduktion hätte starten sollen, statt den Mantel mit dem in Lumpen gehüllten armen Mann zu teilen.

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Risikos, dass sich seine Investitionen nicht rechtzeitig ausgezahlt haben, auch gestattet sein, von seinem Gewinn vorsorglich ausreichend Rücklagen abzuzweigen. Eine besonderes Lob verdient die Marktwirtschaft für ihre Folgerungen aus der unvermeidlichen Rahmenbedingung der Knappheit der Ressourcen. Diese wird schon spürbar, wenn knappen Gütern eine übergroße Nachfrage entgegensteht. Da hilft nur die Regulierung über die Preise, solange es sich um echte Wettbewerbspreise handelt. 23 Knappheit drückt sich auch aus als Mangel an Bodenschätzen. Dagegen hilft gute Organisation, insbesondere durch ohnehin gebotene Vermeidung unnötiger Kosten, die ja auch automatisch auf eine Ressourcenschonung hinausläuft. Der andere Weg, der Knappheit an Bodenschätzen zu begegnen, ist Wissen, also die Förderung der Bildung. Dabei sollte jedem die Bildung zukommen, die seinen natürlichen Anlagen am ehesten entspricht. Wenn man allerdings die künftigen Leistungsträger durch Inklusion und künstlich ausgedehntes gemeinsames Lernen in ihrer Entwicklung ausbremst, so mag das auf den ersten Blick als solidarisch erscheinen, weil es der Gleichheit diene. In Wahrheit ist es aber unsolidarisch, weil die weniger Leistungsstarken von Leistungsträgern, die in der Entwicklung ihrer Anlagen behindert wurden, folgerichtig auf die Dauer auch weniger Quersubventionen zu erwarten haben. Neben angeborener Intelligenz dürfen als knappe und mithin zu schonende Ressourcen auch alle Formen von »Allmenden«, also von Gemeinschaftsgütern gelten. Am originären Beispiel verdeutlicht: Entprivatisisertes Jagdrecht führt dazu, dass jeder Besitzer eines Jagdgewehres sich bemüßigt fühlt, selber tätig zu werden, bevor ein anderer den letzten Rehbock geschossen hat. Schon dieses Beispiel, das als Erstes der Demonstration des mit den Gemeinschaftsgütern verbundenen Dilemmas diente, gibt zu erkennen: Privateigentum mit einhergehender Verantwortungsbereitschaft in Form von Haftung ist solidarischer als Gemeineigentum. 24 Anders als bei privaten Gütern ist bei Gemeinschaftsgütern der Wettbewerb ruinös und muss daher durch kollektive Regelungen unterbunden werden. Das ist insbesondere bei Gemeinschaftsgütern von globalem Charakter wie Klima, reiner Luft, sauberem Wasser, Meeresfrüchten, Frieden, Finanzmarktstabilität bei weitem schwerer zu lösen als die Frage des 23 24

K. Homann, (wie Anm. 4, S. 345), S. 56. Ebd., S. 136.

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Jagdrechts im Binnenland. Rücksichtslose Produktionsmethoden gegenüber der Umwelt, Überfischung der Meere, gegenseitige Nötigung zur Aufrüstung, Abwertungen der Währung zum Schutz der Binnenwirtschaft verweisen auf ein Dilemma, das gerade nicht durch Überführung in konstruktiven Wettbewerb eine Wende zum Besseren erfahren kann. Im Idealfall bestimmen Schonung statt Wettbewerb den Umgang mit den Gemeinschaftsgütern, während der Wettbewerb auf dieselbe Seite, nämlich auf die der Warenproduktion beschränkt bleibt. Präventive Selbstbereicherung im rechtsfreien Raum kann sich nicht unter Berufung auf den marktwirtschaftlichen Wettbewerb rechtfertigen. Im Gegenteil, eine anerkannten Regeln unterworfene Marktwirtschaft repräsentiert geradezu das Lösungsmodell, das angesichts des globalen Missbrauchs von Gemeinschaftsgütern unbedingt zum Zuge kommen muss. Die Leistungsbilanz, auf die die Marktwirtschaft in ihrem Plädoyer in eigener Sache verweist, kann sich sehen lassen. Sie ist die einzige Wirtschaftsform, die der Aufgabe der Besserstellung aller erfolgreich zu genügen vermag und insofern völlig zu Recht soziale Marktwirtschaft heißt. 25 Kein Land mit einer entsprechenden Wirtschaftsordnung hat jemals »die Abstimmung mit den Füßen« an sich erfahren müssen. Trotz dieser quantifizierbaren Erfolge hat die Marktwirtschaft von Beginn an bis heute infolge moralischer Infragestellung unter einem Imageproblem zu leiden, dem die Ökonomik abzuhelfen sich anschickt, indem sie das Problem im theoretischen Zusehen auf seine wirklichen Gründe und Ursachen zurückführt. Dabei wird sich erweisen, dass nicht der Wettbewerb selbst, sondern ein bestimmter Begleitumstand das schlechte Image verursacht, nämlich das schon erwähnte spieltheoretische Gefangenendilemma, demzufolge alle Wettbewerber angesichts immer größerer UnübersichtJ. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1979 ff., Seie 96, hat dargetan, dass gerade wegen des die Marktwirtschaft bestimmenden »Unterschiedsprinzips« alle, mithin eben auch die weniger Begünstigten profitieren. Insbesondere sind dank dieses Prinzips »die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen«. Dieser Mechanismus ist zugegebenermaßen konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt, die die »weniger Begünstigten« besonders hart treffen. Dieses variable Moment entkräftet jedoch nicht den invariablen Erfahrungssatz, dass auf der Grundlage des Nullsummenparadigmas, das den Bestand einer konstanten Umverteilungsmasse voraussetzt, allenfalls einige Privilegierte besser gestellt sind, während wahre Armutsbekämpfung die marktwirtschaftlich generierte Gewinnsteigerung zur Bedingung hat.

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lichkeit wirtschaftlicher Prozesse in der »sozialen Falle« sitzen. Jeder Wettbewerber, der Umweltvorschriften beachtet, seine Steuern zahlt und ohne Bestechung Aufträge akquiriert, ebenso jeder Sportler, der auf Doping verzichtet, muss bei Fehlen sanktionsbewehrter und durchgesetzter Regeln fürchten, dass seine Konkurrenten weniger Skrupel haben und sich dadurch einen illegitimen Wettbewerbsvorteil verschaffen – durch Umgehung der Steuerzahlung oder Produktion in Ländern mit laxen Umweltschutzgesetzen. Damit nun der Rechtschaffene nicht auch noch auf die Idee kommt, seinerseits ebenfalls mit präventiven Maßnahmen vom Pfad der Regeltreue abzuweichen, sich also genau so zu verhalten, wie er es von den Mitbewerbern befürchtet, muss er sich auf eine sanktionsbewehrte institutionelle Ordnung verlassen können, die es ihm möglich macht, so regelkonform zu handeln, wie er es für sich selbst ja nie anders gewollt hat. K. Homann wird deshalb nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass der Dreh- und Angelpunkt eines theoretisch überzeugenden Plädoyers der Ökonomik der Ausgang von der Dilemmastruktur mit dem Ziel ihrer Überwindung durch sanktionsbewehrte Ordnungsethik ist. Dass dieser Ausgangspunkt sachgerecht gewählt ist und im Verfolg seine Fruchtbarkeit unter Beweis stellt, ist der Anspruch der Ökonomik, die unter dieser Prämisse neben ihrer Theoriefähigkeit auch ihren praktischen Nutzen erweist, wenn nämlich dank ihres Regelwerks die betroffenen Akteure vom Druck des Dilemmas befreit wären. Denn das Gefangenendilemma ist ein alle Akteure betreffendes kollektives Problem, das nur kollektiv zu lösen ist. 26 Und sobald die von der Ökonomik entwickelte Lösung als moralisch nicht mehr angreifbare Ordnung implementiert ist, hätte sich in einem damit auch das Imageproblem erledigt. Nunmehr wird überdeutlich, warum bei den fälligen Koalitionsverhandlungen nicht die Ethik, sondern die Ökonomik die Federführung übernehmen muss. Ihre Sache steht auf dem Spiel. Denn ihr Mandant, eben die Marktwirtschaft, ist in einer auf die Dilemmastrukturen zurückzuführenden Notlage, weil sie Dilemmastrukturen zugleich und nebeneinander im Interesse des Wettbewerbs aufrechterhalten, zum Schutz der Gemeinschaftsgüter aber überwinden will. Aus dieser Zwangslage kann sich der Mandant nur befreien, wenn es der Ökonomik gelingt, in einem ersten theoretischen Schritt eine wirksame Ordnungsethik zu formulieren und in einem zweiten prak26

K. Homann (wie Anm. 1, S. 344), S. 33.

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tischen Schritt anreizkompatible und zugleich sanktionsbewehrte Institutionen auf dem Fundament dieser Ordnungsethik vorzugeben. Damit erwartet die Ökonomik, dass die Morallehre gewissermaßen die Seiten wechselt – vom Instrumentarium des Verächters der Marktwirtschaft zur Teilnahme an der Entwicklung einer überzeugenden Wirtschaftsethik mit dem Ziel, dass die Akteure das, was sie in foro interno immer schon als ethische Überzeugungen hegten, endlich vor jedermann sichtbar auch in foro externo ausüben können. Mit einem von der Moralität ausgestellten Gütesiegel wäre dann der Marktwirtschaft jene Qualität attestiert, die ihre Kritiker beharrlich an ihr vermissen. Ökonomik als angewendete Ethik ist die Überschrift über ein ambitioniertes Programm. Ziel ist es, »alle Akteure denselben Moralstandards zu unterwerfen. Das Mittel dazu sind sanktionsbewehrte Regeln.« 27 Moralisches Handeln ist nur zumutbar, wenn die Einbettung der Individualethik in eine allgemeine Ordnungsethik gewährleistet ist. 28 Moralisches Handeln ist aber nicht nur wegen seiner leichten Ausbeutbarkeit auf eine wirksame Ordnungsethik angewiesen; ohne Einbindung in eine Ordnungsethik könnte die Sollensethik auch ein unvermeidliches Misstrauen gegen sich selbst nicht zerstreuen, insofern sie sich ihrer autonomen Natur gemäß wohl vertrags- und verfassungsrechtlich voraussetzen, aber nicht garantieren lässt. Die theoretische Grundlegung einer allgemeinen Ordnungsethik läuft also hinaus auf eine Verquickung der autonomen Handlungsethik aus der Teilnehmerperspektive mit der naturalistischen Ethik aus der Beobachterperspektive. 29 Beide Seiten gilt es zu überzeugen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Bei der nunmehr fälligen Verhandlung übernimmt die autonome Ethik die Führungsrolle, solange jeder Akteur als Subjektivität mit Anspruch auf Respekt und ein gelingendes Leben zur Debatte steht. »Geht es aber um die Implementierung moralischer Prinzipien und Urteile unter Bedingungen von Dilemmastrukturen, fällt die Führungsrolle klar der naturalistischen Ethik mit ihren Konzepten Anreize und institutionelle Arrangements einschließlich der Sanktionen zu.« 30 Zur wirksamen Implementierung tragen Appelle, Schuldzuweisungen oder Nach27 28 29 30

Ebd., S. 35 und öfter. Ebd., S. 36. K. Homann (wie Anm. 2, S. 344), S. 198. Ebd., S. 224.

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weise von Charakter-, Willens- oder Durchsetzungsschwäche nur allzu wenig bei, zumal der Handlungsspielraum des Einzelnen in einer globalisierten, entsprechend interdependenten und von Funktionssystemen mit eigener Logik bestimmten Welt als äußerst gering anzusehen ist. Offenbar ergänzen sich aber autonome und naturalistische Ethik. Wahrscheinlich ist die autonome Ethik schneller zu überzeugen, dass sie unter Modifikation ihres kategorialen Anspruchs die neue Koalition eingehen sollte. Denn sie kann sich unter Dilemmabedingungen realistische Überlebenschancen allenfalls durch stoischen Rückzug aus dieser Welt ausrechnen, während die andere Seite immer noch darauf setzen könnte, sich auf moralfreier Wildbahn eben durch ein Höchstmaß an Robustheit zu behaupten. Davor warnt indes Th. Hobbes mit dem Argument, auch der Stärkste könnte im bellum omnium contra omnes untergehen, sobald sich eine Vielzahl von Schwächeren gegen ihn zusammenschließt. Diese Warnung dürfte auch dem homo oeconomicus einleuchten, der zudem seine Angewiesenheit auf ein Moralitätsattest, wenn er es von seinem Beobachterstandpunkt recht bedenkt, nur schwer leugnen kann. Er hat es bei jeder seiner auf Vorteil und Gewinn bedachten Maßnahmen mit Partnern zu tun, die sei es auf ontogenetischem oder sei es auf phylogenetischem Wege ein Moralbewusstsein internalisiert haben, von dem sie sich leiten lassen, wenn sie sich auf seine Initiativen einlassen. Es wird ihm auch nicht entgehen, dass ihm erwiesenermaßen nur faires Verhalten Vertrauen und Reputation einbringt, das wie eine Investition »mit der Erwartung künftiger Renditen« wirkt 31, weil es das unter Dilemmabedingungen unvermeidliche Misstrauen anderer zerstreut. Auch innerbetrieblich ist Moralität insofern segensreich, als die Mitarbeiter, woran ihnen schon aus Selbstachtung gelegen sein muss, überzeugt sein können, mit jederzeit nach außen vorzeigbaren Mitteln ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Umgekehrt kann sich der noch so kühle Rechner unschwer vorstellen, dass neben der Drohung staatlicher Sanktionen auch informelle Drohungen wie Rufschädigung oder öffentliche Disqualifikation, ausgelöst durch investigative Journalisten oder hauseigene Whistleblower, dazu führen, dass ihm seine Wunschpartner die Kooperation verweigern. Mag nun auch die Moral bei ihrer Verquickung mit der Ökonomik ein wenig zurückstecken, soweit ihr kategoriales Selbstver31

K. Homann (wie Anm. 1, S. 344), S. 33.

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ständnis betroffen ist, so genügt sie doch nach wie vor dem Kriterium der Verallgemeinerung, demgemäß die Maximen des Handelnden »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten« sollen, und kann sich füglich rühmen, als Mitbeteiligte an geschäftlichen Transaktionen eine normative Wirkung auszuüben. Die Theorie, die die Ökonomik als angewendete Ethik ausweist, operiert offenbar nicht in einem ersten Schritt zunächst nur auf der Ebene begrifflicher Klärung des Sachverhalts, sondern bewegt sich von vornherein schon auf der Ebene tätigen Handelns. Eine Theorie, die mit Vorteilserwartungen kompatible moralische Anreize dingfest zu machen vermag, ist nicht »bloße Theorie«. Sie ist in der Welt der Akteure angekommen, die sie insbesondere auf überprüfbare Glaubwürdigkeit und Reputation wie auf einen geldwerten Vorteil hinweist. Im Falle der Reputation kommt über den Augenblick hinaus auch die künftig noch bindende Wirkung hinzu. Wer wird schon das Kapital an Reputation, das er sich etwa durch werbewirksame Schonung der Umwelt hart erarbeitet hat, wieder verlieren wollen? Ältester Zeuge solcher Investition in Reputation ist Caesar, der nach der noblen Behandlung der besiegten Optimaten bei der Einnahme von Corfinium die clementia Caesaris endgültig zu seinem Markenzeichen erhob. Er hatte nicht nur das Leben des unterlegenen Domitius Ahenobarbus und seines Anhanges geschont, sondern ließ seinem Gegner auch noch die öffentliche Kasse, und zwar mit der Bemerkung, er wolle gegenüber dem Geld nicht weniger maßvoll erscheinen als gegenüber Menschenleben. 32 Caesars Kommentar zu seinem Beuteverzicht bezog sich unausgesprochen auf ein von ihm in seiner Darstellung übergangenes Ereignis, als er dem Volkstribunen Metellus Creticus den Tod androhte, wenn er ihm nicht unverzüglich den Zutritt zur Staatskasse unter dem Saturntempel verschaffe, sich aber im letzten Augenblick noch beherrschte. 33 Wie Cicero in einem Brief an Atticus (10, 4, 8) mitteilt, habe ihm Caesars Agent Curio in aller Unbefangenheit erklärt, Caesar habe Metellus am Ende doch geschont, weil er seinen bei Corfinium erworbenen guten Ruf als Mann der clementia samt damit verbundenem politischem Kapital nicht gleich schon wieder habe verspielen wollen.

Caesar, De bello civili 1, 23. Plutarch, Pompeius 62, 1 und Caesar 35, 3–4; Appian, Bella civilia 2, 41; Cassius Dio 41, 17, 2.

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Caesar und Curio zum Trotz wird gegen die Bindekraft der Reputation bisweilen das Bedenken ins Feld geführt, ein Akteur könne bei ausbleibender Reputationsdividende versucht sein, es doch lieber wie die Profiteure von Steueroasen zu halten und auch mit ruiniertem Ruf noch ein auskömmliches Leben zu führen. Denn enttäuschte Vorteilserwartung kann im Einzelfall durchaus zur Vernachlässigung der Reputation führen. Daraus aber einen generellen Einwand gegen die heilsame Wirkung der Reputation abzuleiten hieße indes, deren Gewicht erheblich zu unterschätzen. Als Folge von anerkannt moralischem Verhalten und als Ursache von Gewinnsteigerungen bildet die Reputation die natürliche Schnittfläche, auf der sich Rechtschaffenheit und Vorteilsinteressen begegnen und somit bis in unsere Tage Ciceros Lehre von der Konvergenz von honestum und utile bestätigen. Hinter dieser Lehre steckt mehr als bloßes Wunschdenken. Wer Ciceros These missachtet, hat zumindest inoffizielle Sanktionen zu gewärtigen; denn einseitige Ausrichtung am utile ohne Rücksicht auf die Reputation führt voraussehbar zu gestörter Kommunikation, Misstrauen der Konsumenten und Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen. Trotz einsehbarer Bedenken ist die menschliche Gattung offenbar gut beraten, auf Reputation als bestimmter Form der Wiederkehr einer schon von Cicero beschworenen Konvergenz zu setzen. Wer absolute Verlässlichkeit fordert und deshalb die Bedeutung der Reputation relativiert, könnte am Ende mit leeren Händen dastehen. Neben den positiven Anreizen durch Ausloben der Vorzüge der Reputation stehen die offiziellen Sanktionen als negative Anreize, durch die nunmehr auch der Staat neben Ethik und Ökonomik als die dritte Komponente der philosophia practica universalis ins Spiel kommt. Der Staat ist kontrollierend vertreten durch Gewerbeaufsicht, Kartellamt, Wirtschaftsministerium und Gerichtsbarkeit. Dem Staat obliegt es, die Korruption zu bekämpfen, und wenn das im Einvernehmen mit den beteiligten Akteuren geschieht, umso besser. Ohnehin haben daran alle Akteure ein Interesse, die trotz besserer Leistungen von korrupten Konkurrenten ausgebootet und ausgebeutet werden. Aber auch die der Korruption Beschuldigten können an einer Kooperation mit den Gerichten ein Interesse haben, wenn sie auf diesem Wege ihre verlorene Reputation wiedergewinnen wollen. Um eine derartige Kooperation bei der Korruptionsbekämpfung zu erzwingen, haben sich die amerikanischen »Federal Sentencing Guidelines« ein probates Mittel einfallen lassen: Das Gericht erfindet 366 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

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überaus hohe Strafen, »nicht um die Unternehmen zu bestrafen, sondern um diese Strafen vor Gericht herabsetzen zu können aufgrund nachgewiesener Anstrengungnen zur Korruptionsbekämpfungs durch das Unternehmen selbst. Nicht die Strafe ist der Anreiz, sondern die – rechtlich verbriefte – Aussicht auf Strafminderung bei nachweisbarer aktiver Korruptionsbekämpfung. Das Verhältnis für die geringste und die höchste Strafe für dasselbe Vergehen beträgt 1:80.« 34 Sanktionen gegen bestimmte Unternehmen alleine genügen aber nicht. Staatliches Handeln darf nicht beim Verhindern stehen bleiben. Es muss nach innen wie nach außen für politische Stabilität sorgen; sonst flieht das Kapital in andere Staaten. Auch mangelnde Rechtsstaatlichkeit durch nicht gewährleistete Unabhängigkeit der Gerichte führt zur Kapitalflucht in fremde Länder. Protektionismus darf schon deswegen nicht stattfinden, weil der Begünstigte dann kein Motiv mehr hat, Mitbewerber zu überbieten, indem er Investitionen tätigt, um qualitativ bessere Güter zu erzeugen. Als Ausnahmen können immerhin staatliche Bürgschaften bei riskanten privaten Investitionen im Ausland gelten. Schon Kaiser Claudius, so Sueton (Claudius 18), sicherte den römischen Reedern Entschädigung von Staats wegen zu, sollten ihre Getreideschiffe im Sturm untergehen. Die Marktwirtschaft lässt sich nicht nur passiv vom Staat schützen. Sie muss auch von sich aus aktiv in die öffentlichliche Diskussion eingreifen, indem sie die wiederum vom Staat zu schützende Meinungsfreiheit nutzt und ihre Wahrheit des Wettbewerbs offensiv vertritt. Diese Wahrheit besteht erstens darin, dass der »Druck des Wettbewerbes die einzelnen Wettbewerber veranlasst, nach neuen, besseren Möglichkeiten zu suchen, die Interessen der Nachfrager zu befriedigen. Zweitens diszipliniert der Wettbewerb, da er … die Wettbewerber dazu anhält, sich an den Wünschen der Nachfrager zu orientieren. Drittens entmachtet der Wettbewerb. Die Macht des einzelnen Anbieters ist gering, da stets ein alternativer Anbieter vorhanden ist, der den Nachfragern die zur Befriedigung ihrer Eigeninteressen notwendigen Leistungen anbietet.« 35 Diese drei Vorteile seien der theoretische Grund, weshalb der Wettbewerb das beste Mittel der

K. Homann, Einführung in die Wirtschaftsethik, Berlin 32013, S. 95. Mit diesem Zitat bei leicht umgestellter Wortfolge fasst Rüdiger Waldkirch Karl Homanns Hauptlehrsätze zusammen: Wirtschafts- und Unternehmensethik revisited – Zur Aktualität eines Standardwerkes, in: Freiheit durch Demokratie. Festschrift für Karl Homann, Berlin 2008, S. 102 f.

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Verwirklichung von Solidarität sei, und das sei schließlich empirisch bestätigt durch den welthistorischen Zusammenbruch des Sozialismus. Dem letzteren Hinweis geht es nicht darum, gegen einen ohnehin Gestrauchelten nachzutreten. Es kommt vielmehr darauf an, mit Nachdruck warnend zu unterstreichen, dass Theorien stets gut beraten sind, die ihnen vor Augen liegenden Phänomene nicht zu ignorieren, sondern deren heilsame Bedeutung zu ergründen, wie es Aristoteles als Archeget der philosophia practica universalis gelehrt und beispielhaft vorgeführt hat. Karl Homanns bleibendes Verdienst ist seine Grundlegung der Ökonomik als moderner Wirtschafts- und Unternehmensethik. Dank dieser wissenschaftlichen Leistung hat er ein Fundament gelegt, das zuvor Übersehenes endlich zu Bewusstsein bringt. Als positiv grundiertes Leitbild warnt seine Ökonomik Kritiker der empirischen Marktwirtschaften, aus ihren Bedenken und Einwänden im Einzelnen die Berechtigung zu einer Fundamentalopposition gegen den Kapitalismus abzuleiten. Der Kapitalismus verkörpert eine Ordnung, die unendlich viele Spielzüge zulässt – außer denen, die gegen die Spielregeln verstoßen. Er bürgt für beides, sowohl dem Wettbewerb privater Initiativen zum Wohle aller den nötigen Freiraum zu verschaffen als auch Grenzen zu setzen, wenn der Wettbewerb zu Nachteilen für die Allgemeinheit führt. Demgemäß sieht K. Homann das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus darin, dass er mit Gefangenendilemmastrukturen konstruktiv umzugehen weiß: »Auf der einen Seite wird der Wettbewerb, der auf derselben Marktseite ein Gefangenendilemma darstellt, etabliert und aufrechterhalten … Auf der anderen Seite werden Gemeinschaftsgüter wie zum Beispiel Verfassungen, Rahmenordnungen, Rechtsstaat, aber auch Versicherungen, Frieden, Finanzmarktstabilität und Klimaschutz mit mehr oder weniger großem Erfolg etabliert, die Gefangenendilemmastruktur also zu Gunsten einer Kollektivlösung überwunden, wiederum zum Wohl aller.« 36 Ein besseres Wirtschaftsmodell ist nirgends erkennbar; es fügt sich bruchlos in den demokratisch verfassten Staat. Das an dieser Wirtschaftsform orientierte Leitbild blickt jedoch nicht nur zurück auf das, was im Rahmen der Nationalstaaten schon geleistet ist; es blickt auch voraus, indem es die bewährten Spielregeln als regulative Idee propagiert, wenn es darum zu tun ist, noch nicht

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K. Homann im Interview mit Cog!to vom 16. 12. 2015, S. 6.

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Geleistetes zu vollbringen, nämlich ein Äquivalent des innerstaatlichen Regelwerks auch für die über die Nationalökonomie hinausgegangene globale Marktwirtschaft auszubilden. Ein Verstoß gegen Hegels Verbot, die Zukunft festzuschreiben, wäre das nicht. Die Globalisierung ist längst eine irrversibele Tatsache, und die Theorie befasst sich in vielversprechenden Ansätzen längst mit dem Thema der »Global Governance« und konstatiert eine bemerkenswerte Bereitschaft der Weltwirtschaft, ihrerseits Aufgaben zu übernehmen, die nach herkömmlichem Verständnis Sache der Staaten wären. 37 Unsere Notizen zur Ökonomik sollen aber diese neue Entwicklung nicht weiterverfolgen, sondern an dieser Stelle enden; denn es war ja ihr Ziel, den Prozess der hermeneutischen Erneuerung der praktischen Philosophie nicht nur für die Ethik und die Politik, sondern eben auch für die Ökonomik als Ethik mit anderen Mitteln nachzuzeichnen. Die Ökonomik vollzieht mithin als wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkt in praktischer Absicht den entscheidenden Schritt zur Einholung der philosophia practica universalis auf dem Boden der modernen bürgerlichen Welt. Der Syllabus der Arbeit Karl Homanns dürfte diese Würdigung rechtfertigen, die sich von der Grundthese leiten lässt, dass eine vollständig und widerspruchsfrei erneuerte philosophia practica universalis Indikator einer gelungenen Lebensordnung ist oder, mit anderen Worten, die Entelechie des Potenzials der Rechtsstaatlichkeit verkörpert. Mit ihren Ausführungen hat die Rittersche Mitte schließlich auch die Vorgaben Hegels beherzigt, Ethik, Politik und Ökonomik als Ensemble ausführender Organe dessen darzustellen, was die Rechtsphilosophie im Einzelnen an Entfaltungsmöglichkeiten des Rechtsstaats ausgewiesen hat. Wann immer indes das Leben der Kontingenz Tribut zollt und gegen die Gebote dieser Lebensordnung verstößt, so ist das nicht Ausdruck der Schwäche der praktischen Vernunft, sofern diese nur die allgemeinen Spielregeln, bestimmt, nicht aber die individuellen Spielzüge kontrolliert. Die Zuständigkeit der praktischen Vernunft endet mit dem theoretischen Grundriss einer tragfähigen rechtsstaatlichen Lebensordnung. Dem hermeneutischen Zurückschrecken vor einem in die ferne Zukunft gerichteten Sollen gemäß unterlässt es dieser Grundriss erSiehe zu diesem Thema A. G. Scherer, G. Palazzo, A. Butz: Die neue politische Rolle von Unternehmen in einer globalisierten Welt. Ein kritischer Überblick über die internationale Forschungslandschaft, in: (wie Anm. 1, S. 344), S. 340–384.

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klärtermaßen, die baldige Ankunft einer schlechthin gerechten Welt ohne Armut, Entfremdung und Heillosigkeit zu proklamieren; stattdessen versteht er sich als skeptische Handreichung, die jeden menschenmöglichen Beitrag zur Besserstellung möglichst Vieler begrüßt und gerade deshalb nicht agitatorisch propagiert, in welche bessere Welt die Menschheit streben sollte, sondern sich weitaus verbindlicher auf die Frage konzentriert, welche höchst bestimmten Probleme als nächste auf eine Lösung drängen. Dieser bewusste Verzicht auf das schlechthin Wünschbare bedeutet nicht Preisgabe von erhofften Vorteilen, sondern Schutz des Erreichbaren vor ideologisch bedingter Vereitelung. Die Grenzlinie der philosophia practica restituta ist unabweisbar markiert durch den »eschatologischen Vorbehalt« (J. B. Metz), der besagt, dass die Ankündigung und Herbeiführung eines irdischen Paradieses allein Sache Gottes ist. Gemessen an diesem Vorbehalt erscheinen menschliche Paradiesprojektionen, gleich ob sie sozialistisch oder theokratisch unterfüttert sind, als von vornherein unerfüllbare Heilsversprechen, die übrigens schon allein wegen ihres absehbaren Versagens nicht zur Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen taugen. Der eschatologische Vorbehalt stellt ein klärendes Theologumenon dar, das zugleich von eminent praktischer Bedeutung ist, sofern es die Sphäre des politischen Handelns vor gefährlicher Kontaminierung warnt. Die offenkundige Janusköpfigkeit dieser Warnung zum einen vor verbohrten Ideologen, zum anderen vor falschen Propheten ist getrost auch als einer von möglichen Aspekten der Korrelativität von »Metaphysik und Politik« anzusehen, also jener unauffällig aus dem Hintergrund wirkenden Leitidee des von Joachim Ritter ins Leben gerufenen Collegium Philosophicum. Wie ein moderner Wiedergänger des sokratischen Daimonion, das gleich beim Einbiegen in einen Irrweg sein Veto einlegt, spielt die so verstandene Leitidee die Rolle einer auf natürliche Gegebenheiten abgestimmten Grenzziehung. Wie ein hauseigenes Palladion haben Leitidee und Daimonion die gemeinsame Funktion, periodisch wiederkehrenden Aufrufen zur Grenzüberschreitung Einhalt zu gebieten.

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Verwendete Sigla

AJPh ANRW

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Index nominum et rerum

Anmerkungen werden nur berücksichtigt, wenn sie über eine bloße Stellenangabe hinaus inhaltlich weiterführen. Hochgestellte Ziffern nach den Seitenangaben verweisen auf Anmerkungen Abbé Sieyès 300 Achill 51, 229, 249, 285 Adler, A. 332 Admet und Alkestis 157 Affekt 15, 158, 238–258 Affektlosigkeit 15, 158 f., 248 Agamemnon 119 f., 185 Aias 51, 222, 224 Aigisth 230 Aiolisch 218 Aischines (Redner) 31, 33, 121 Aischylos 103, 230–232, 243 8, 285 f., 288 Akademie 5, 11, 14, 21, 100, 119 f., 151, 159, 162, 184, 270 f., 314 Aktium 190 Alexander II. 88 Alexander III. der Große 12, 34, 40, 51 f., 54, 77, 83–88, 117 f., 123, 125, 165, 170, 192, 284 Alexander IV. 132 Alexander, Sohn des Polyperchon 125 Alexis von Thurioi 146 Alkibiades 31, 137 Alkidamas von Elis 64 Allmenden 360 f. Amnestie 31, 108–112 Amphiktyonie 34 Amyntas III. 87 f. Anagnorisis 47, 150, 210, 245 f. Anaxagoras 303

Anaxarchos aus Abdera 91 Anaximenes von Lampsakos 91 Andokides 109–111 Andronikos von Rhodos 272 f. Antigone 286 Antigonos Gonatas 160, 165, 175– 177, 182 f., 195 Antigonos Monophthalmos 87 15, 96, 122, 125, 132 f., 142, 163–171, 174, 185 Antipatros 37 8, 37, 77 15, 92 f., 117– 122, 124–127, 147, 165, 167 Antisthenes 151, 218 Anytos 16, 114 Apame 95 Apelles 86 Apellikon von Teos (Kea) 271–273 Apollodor von Athen 216 f. 5 Apollon 100 f., 118, 179, 190, 285 Arat von Sikyon 183 Arat aus Soloi 196 f. Archinos 110 f. Areopag 68, 136 f., 144, 182, 285 f. Ares 179, 235, 237 f. Areus 182 f. Arginusen 25, 28, 137, 148 Aristarch 221 Aristipp 158 f. Aristonikos von Marathon 112 Aristonymos 39 Aristophanes 31

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Index nominum et rerum Aristoteles 11–16, 35–117, 153, 290– 299, 259, 266, 269–278, 281, 283, 288–327, 349 Aristoxenos 23 5 Arkesilaos 185 f., 329 Artabanos 164 Artemis 86, 88, 170, 216 Asebie 31, 117 f., 169 Asklepios 179 assensio, siehe Zustimmung Ataraxia 152 Athen, Athener 21–35, 62–72, 100– 187 Athena 216, 226, 287 f. Attalos (Offizier Philipps II.) 84 f. Attalos I. von Pergamon 183 Augustinus 193 f. Augustus 187–191 Aulis 222, 224 Bacon, F. 116 Bedürfnislosigkeit 155 Bernays, J. 245 Bien, G. 22 1, 44 f. 32 u. 34, 60 7, 329 Bienenfabel 308 Bloch, E. 266 17 Böckenförde-Doktrin 327 Bürgerbegriff 62–64, 73 Burke, E. 299, 302, 311 46, 338 Caesar 188 f., 284, 304, 365 Catilina 200, 271 Cato d. J. 255, 270 Chadwick, J. 216 2 Chairephon 100 Chairon von Pellene 40, 124 Chaironeia 52, 123 Chares von Mytilene 95 Charikles (Athener) 124, 126 Charmides 31 Cheirisophos (Spartaner) 30 Choregie 134, 231 Chremonideischer Krieg 160, 182 f., 274 Christenverfolgungen 207–214 Chrysipp 15, 153, 162, 193, 197 f.,

202, 213 f., 225–227, 234–239, 247– 258 Cicero 6, 11, 93, 141, 153, 163, 188, 196, 200–206, 237–240, 254–258, 270 f., 329, 337, 350 f., 365 f. Claudius (Kaiser) 367 Clemens von Alexandria 168, 217 6 Clodius 279 Collegium Philosophicum 6, 370 Commonsense 336–341 Corfinium 365 Cornelius Nepos 21 Daimonion 233, 370 Damnatio memoriae 184, 189 Dareios III. 93, 95 Das Seine tun 30 Defection 354 f. Deinarchos von Korinth 118 2, 146 Delios von Ephesos (Dias von Elis) 39 Delphi 33, 41, 100, 179, 181, 190 Demades 52, 118, 122 7, 144 Demagoge 25, 27, 31 f., 68, 108, 112, 127 f. Demetrios Phalereus 5, 14, 39, 122, 126, 128–147, 149, 161 f., 171 f., 248, 257; 131 12, 143 70 Demetrios Phalereus (Enkel des Vorigen) 182 Demetrios I. Poliorketes 87 15, 142, 146, 163–187 Demetrios II. 18 Demiurg 197 Demochares 40, 147 f., 161, 168 f., 177–179 Demodokos 218 Demosthenes 49, 52 f., 118 f. 2, 121 f., 130, 147 deus ex machina 164 f. Diabolos, siehe Teufel Dialektik 28 f., 46 f., 121, 342 Diodor 141 Diogenes Laertios 37 f., 73 Diogenes (makedonischer Offizier) 183

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Index nominum et rerum Diogenes von Sinope 150 f. Dion 41 f. Dionysios I. 41 Dionysios II. 37, 41 f., 206, 349 Dionysios (makedonischer Offizier) 132, 142 Dionysos 91, 166, 193, 204, 216, 230, 238 Donatus 211 Dorer 223 Dorische Wanderung 217, 220 16 Drakon 108 f. Dreißig Tyrannen 21, 30 24, 99, 109 f., 112 f., 147 Dritter Stand 300, 307, 316 Dromokleides 173 Droysen, J. G. 179 f. Duris von Samos 144, 177, 179 Ekklesiastensold 30, 114 Ekpyrosis 196 Elateia 52 Eleusis 131, 177 Eleusinien 25, 139, 168, 181 Ennius 204 Enthusiasmus (vgl. Inspiration) 245 Entzweiung 291 f., 296–299, 306 f., 309–311, 313, 319, 326 f., 333, 335 f. Epaminondas 81 Ephesos 170, 189, 217 Ephialtes 68, 136, 285 Ephoros 226 Epikur 151 f., 173, 188, 201 f., 203, 205 Epiphanie 190 Eratosthenes 94 57, 216 Erechtheus 78 Erhard, L. 346 Erinnyen 235, 285 f. Eristik 29 Eubulides 53 Eubulos 121 Eudemos von Kypros 24 Euhemeros 166, 204 Eukrates (Athener) 53

Eumenes II. von Pergamon 271 Eupatriden (Großbürger, Patrizier) 69, 72–75, 80 Euphraios von Oreus 33, 40 f., 83 Euripides 37 f., 219, 222, 228, 236 Eurydike 84 1, 87 f. Fatum, siehe Schicksal Fichte, J. G. 315 Flashar, H. 275 Französische Revolution 290 f., 300– 303, 317, 320 f., 263 f. Frauenaufseher 140 f., 143 Frauengesetze 138–140 Freiheit und Recht 63 f. Friedrich der Große 302 Fürsorge, siehe providentia Gadamer, H.-G. 338 Galén 249 Gastrecht 226 Gaugamela 54 Gedächtnis 24, 47, 136 f., 214, 218, 220, 223 Gefangenendilemma 346 f., 351, 354, 356–358, 362–364, 368 Geisteswissenschaften 333–335, 341 f. Geldtheorie 293–298 Gellius 159, 198 Gemeinschaftsgüter 217, 218, 221 Gentz, Fr. von 302, 311 46 Gerechtigkeit 26 f., 30, 43, 55 f., 282, 293, 361 25 Gerichtszwang 28 Gesetzeshüter 46, 57, 136–138, 141, 144 Gewaltenteilung 326 Gleichgültiges 155, 161 Global Governance 369 Glorious Revolution 299 f. Glück 24, 45, 55, 57, 62, 93, 102 f., 248, 289, 324 f., 329 Gorgias 28, 37, 240 f. Gracchus, C. 279 Gräberluxus 135

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Index nominum et rerum Gründer, K. 317 Güterlehre 155 Gyges 43 30, 199 Hacke, J. 314, 345 Handlungsethik 347, 353, 363 Harpalos 124, 165 Haßkamp, D. 111 8 Hegel, G. W. F. 6, 16, 28, 63, 205, 259, 263–269, 274–277, 283–292, 298– 327, 352, 369 Hegemonikón 251–257 Heimarmene, siehe Schicksal Helena 37, 226 Herakleides Pontikos 41 Herakleides (Syrakusaner Nauarch) 41 f. Herakles 28, 86, 91 f., 157, 166, 193, 204 Hermeneutik 5, 12–14, 44–46, 50, 55 f., 63, 98, 155, 266 18, 289 f., 317, 321, 331 f., 341–343, 354 Hermias von Atarneus 35, 49–51, 117–119 Hermolaos (Knappe Alexanders) 92 Herodes Agrippa 192 Herodot 164, 216 f., 225 Herrscherkult 15, 119, 162–207, 233 f., 238, 257 f. Hesiod 197, 224, 315 Hierokles (Karer) 76 12 Himeraios Phalereus 122 Hippias von Elis 22 Hippokrates 254 Historismus 331, 342 Hobbes, Th. 331 f., 353–357, 364 Höhlengleichnis 30, 244 Homann, K. 326 27, 343–370 Homer 214–238, 285 Homo oeconomicus 357 f. honestum/utile 350 f. Horaz 190 f. Hotho, H. G. 287 (Anm.14) Hybris 164 Hyginus 228 Hyperbolos 114 Hypereides 96, 118 2, 119, 121 f., 165

Iamblich 245 f. Idealstaat 13, 50, 52, 72 f., 76, 79, 98 Idee des Guten 26, 43–45, 121, 283 Ideenlehre 36, 290 Ilias 214–227 Inspiration 190 f. Intermundien, siehe Zwischenwelten Invisible hand 310, 344 Iollas (Sohn des Antipatros) 96 Ion (Athener Urkönig) 14, 99–101, 181 Ion (Rhapsode) 230, 241 Ionier 36, 290 Ipsos 170, 178 Isokrates 34, 37 9, 52, 78, 110 Issos 54, 77 Jakobiner 263–265, 268, 300 f., 305 James II. 299 Jupiter 190 f., 201, 205 Kallias von Sphettos 177 Kallikles 28 f., 60 Kallippos (Platonschüler) 42 Kallisthenes 91–93, 99 Kant, I. 43, 45 f., 116 14, 261 f., 294, 313, 323, 357 Kardinaltugenden 30, 58, 152 f., 283 Kassandros 96 f. 69, 125–128, 132 f., 142, 146, 163, 166–169, 171 f., 174 f. Kataleptische Vorstellung (visum comprehensum) 156 f. Katharsis 15, 238–258 Kephalos 336 f., 340 Kerameikos 135, 159, 184 Keynes, J. M. 333 Kleanthes 152, 198 f., 202, 236 Klearchos von Herakleia 39 f., 86, 124 Kleisthenes 25, 27, 75, 100 Kleopatra (letzte Gattin Philipps II.) 88 Kleroterion 185 44 (vgl. auch S. 115) Knappheit 360 Kolonie 47, 78 f., 121 Kompensation 332–335 Konon 90 Konstantin 209

386 https://doi.org/10.5771/9783495813492 .

Index nominum et rerum Kore 181 Korfmann, M. 215 f. Korinthischer Bund (Hellenenbund) 51, 53 f., 169 f. Korporationen 307 Kosmopolit 155, 194 Krates (Akademiker) 176 Krates von Theben 149–151 Kratylos 280 f. Kritias 30 f. Kriton 136, 271 Kyniker 92, 155 Kyros d. Ä. 89, 92 Lachares 171–174 Lactantius 207–214, 235 Lamischer Krieg 11, 117–119, 121, 123 Landschaft 333 Larensis (Kultkenner) 282 f. Latacz, J. 224 f. Leibniz, G. W. 259–261, 332 Leiturgia 133 Leosthenes 123 Licinius (Kaiser) 209 Linear-B Schrift 215–225 Liniengleichnis 27 List der Vernunft 284, 303 Livius 184 f. Locke, J. 299, 331 Löwith, K. 280 Longinus 215 Ludwig XVI. 300 Lübbe, H. 263, 275, 328–343 Lukian 192 Lustprinzip 21, 24, 27, 30, 57, 145, 152, 231, 243, 289 Lykeion 5, 11, 14, 120, 159, 162, 184, 314 Lykurg (Athener) 121, 139 Lysander 40 Lysias 37 9, 110, 113 Lysikrates 134 Lysimachos 132, 166 f., 169, 174–177 Machiavelli, N. 352 Mandeville, B. de 308 f.

Marc Aurel 189 Marmor Parium 216 Marquard, O. 262 f., 268, 310, 315 f., 328–343, 342 31 Mars Ultor 189 f. Massenhochzeit 95 materia (hyle) 48, 104–107, 304 f. Maximianus (Kaiser) 209 Maximinus Daia (Kaiser) 209 Megalopolis 127 Megara 170 f. Menander 141 Menedemos aus Eretria 161 Menedemos (Platonschüler) 39 Menge (die Vielen) 24, 27, 31, 68–70, 74, 124, 127 f., 130, 230, 243 8, 254, 289 Mentor von Rhodos 49 Menyllos (Makedonischer Offizier) 118 f., 124 f. Merkur 190, 265 Messene 64, 81, 170, 223 Metöken 74 f., 81, 120, 153 Metroon (Athen) 273 f. Metroon (Olympia) 187 Metz, J. B. 369 f. Mieza 51 Milet 223 Mill, J. St. 351 Mimesis (imitatio) 243 f. Mitleid 243 f., 246, 251 f. Mnemosyne 220 Monopteros 87, 188 f. Moralität 309, 312 f., 322 f., 363–365 Mucius Scaevola 193 Münzgeld 291 Munychia 118 f., 122, 124 f., 142, 146, 174, 183 Musenhügel 174, 177, 183 Mytilene 51 Napoleon 284, 303 f. Nationalökonomie 162, 306 40, 344, 348 Naturzustand 353–357 Neleus von Skepsis 271–273 Nestor 219, 222

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Index nominum et rerum Nikanor 117, 121, 125–127, 132 Nikeratos 121, 218, 223 Novalis 311 46 Odyssee 215 Odysseus 218 f., 228 f. Ödipus 181, 245, 287 officium medium/perfectum 256, 269 f. Ökonomik 293, 344–369 Oikeiosis 154 Olympia 87, 117, 121, 164, 187 Olympias 84–88, 96 f. 69 Olympiodor (Kommentator) 24 Olympiodor (Athener Stratege) 171, 176 f. Olynth 35, 148 Ordnungsethik 347, 351, 353 f., 363 Orestie 285 Oropos 52, 125 Ostrakismos (Scherbengericht) 114, 199 Ovid 28, 187, 189, 315 Paian 118, 178–181, 188 Paine, Th. 337 f. Palingenesia 196 Pamphila von Epidauros 217 Panaitios 202, 269 f. Panathenäenpeplos 164, 169 Paranomonklage 147–149 Parekbasis 65 f. Parmenion 41, 49, 77 f. Pausanias (Mörder Philipps II.) 84 Pausanias (Perieget) 191 f. Perdikkas III. 32 f., 88 Perdikkas (Diadoche) 122 7 Perikles 130 f., 134, 285 Peripatos 159, 239, 249, 270 f. Peripetie 102, 148, 150, 210, 245 f. Persaios von Kition 161 Perseus (König) 188 Petsas, Ph. 51 Phaiaken 218 f., 229 phantasia, siehe Kataleptische Vorstellung

Phidias 87 Philipp II. 5, 12 f., 33 f., 37, 39 f., 49– 54, 55 2, 72 f., 77, 81, 83–87, 117, 120, 123, 140, 169 f., 192 Philipp V. 183–185 Philippi 190 Philippides von Kephale 168 f., 174, 177 Philokrates 37, 51 Philon (Architekt) 131 f. Philon (Aristotelesschüler) 147–149 Philonides von Theben 161 Philosophengesandtschaft 115 Philosophenkönige 43, 46 f., 83 f., 115, 124, 129 f., 137 f., 144 f., 149, 232, 282 Phönizischer Mythos 31, 47, 78 Phokion 14, 39, 50, 121–130, 142 f. Phormion (Platonschüler) 39 Phyle 27, 60, 163–165, 185 44 pietas 202 f. Platon 11 f., 15 f., 21–54, 57, 78–88, 197 f., 211–214, 230–233, 240–244, 263, 269–271, 274, 280–284, 288, 290, 297 f., 318 Plinius d. J. 192 Plutarch 93–95, 236 f. Politie 12 f., 64–66 5, 69–73 Politische Ökonomie, siehe Nationalökonomie Polizei 310 Polyperchon 125–127, 130, 132, 142, 146 2 Polytheismus 203 Popper, K. 277 3 Poseidonios 202 Primavesi, O. 272 Proklos 245 f. Propyläen 75, 130 Proskynese 89–95 Protagoras 22, 29 providentia (Fürsorge, pronoia) 15, 154, 162 f., 178, 195–207, 234 f., 258 Psephisma 25, 68 f., 107 f., 146 f. Ptolemaios (makedonischer Usurpator) 88

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Index nominum et rerum Ptolemaios I. Soter 125, 132, 142, 163, 166 f., 170 f. Ptolemaios II. Philadelphos 143, 177, 182, 273 f. Ptolemaios III. Euergetes 183 Pylos 216, 218 f. Pyrrhos 175 f. Pythia 41, 190 quaestio finita/infinita 16, 276–282, 289, 346 Quinctius Flamininus 184, 188 f. Quintilian 239, 241 Rawls, J. 361 25 Reckermann, A. 281 6 Redefreiheit 106 religio 202–205, 208 Reputation 365 f. Rhapsode 218, 223 Ricardo, D. 306 Richtereid 110 f. Ritter, J. 6, 16, 281, 306 40, 311 46, 314– 345, 370 Robespierre, M. F. 263, 300 f. Roma (Göttin) 189 f. Roxane 132 Salamis (Zypern) 167, 170 sanctitas 202 f. Say, J. B. 306 Scherbengericht, siehe Ostrakismos Schicksal (heimarmene, fatum) 154, 157, 278 Schiffskatalog 220–224 Schlichter 71, 98 Schliemann, H. 216 Schumpeter, J. 359 Schwarmintelligenz 70 Schweda, M. 321, 328, 345 Seelenteilung 242 f. Seevölker 220 f. 16 Seisachtheia 71 f. Seleukos 95, 166 f., 170 f. Seneca 63, 157 f., 198, 200 f., 207, 215, 239 f., 248, 252, 281 Shakespeare 352 f.

Sittlichkeit 287, 313, 322 f., 329 Skeptische Akademie 185, 203 Sklaven, Sklaverei 54, 63 f., 74–76, 77 15, 80–82, 85, 95, 123, 138 Smith, A. 306–310, 343 f. Sokrates 5, 11, 16, 21 f., 25–27, 29– 32, 37, 65, 78, 100, 112, 135, 137, 148, 151, 271, 282, 292, 295 15, 336, 370 Sollenspostulat 290, 344 f., 356 Solon 105, 108, 112 f., 119 Sonnengleichnis 27 Sophisten 22, 91 Sophokles (Tragödiendichter) 286– 288 Sophokles von Sunion 146, 148 Spaemann, R. 311 46 Speusipp 34, 37, 52 f. Stasimos 226 Stewart, J. D. 306 Stoa Poikile (Bunte Säulenhalle) 152 Stoiker 14–16, 146–163, 193, 269 Strabon 94 57, 141, 224 Stratokles (Athener) 165, 168 f. Subjektivität 283 f., 309, 312 f., 320 f., 325, 363 Sulla 272 f. Synkatathesis, siehe Zustimmung Syrakus 23, 26 f., 41 f., 139 Telesterion 131 f. Tempelraub 33 Tertullian 332 Teufel (Diabolos) 209–213, 357 Thales 281 Theaterkasse 134 Themistios 83 f. Themistokles 90 Theodizee 197, 213, 249, 257–275, 300, 304 theologia tripertita 166, 186 f., 192– 195, 231, 318 f. Theophrast 51, 93, 128 f., 131, 135, 139, 146 f., 149, 152 f., 175, 271–274 Theopomp 34 Thetis 226, 228–230 Thrasybulos 111

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Index nominum et rerum Thrasymachos 29 Thukydides 216 5, 355 Timaios (Historiker) 216 Timolaos von Kyzikos 40, 124 Toleranzedikt 209 Troia 216–219, 228, 230 Troianischer Krieg 218, 223, 225, 231, 236 Tyrannenmörder 164 Tyrannion (Grammatiker) 272 f. Übermensch 199 f., 205 Unbewegt Bewegendes 36 Valens (Kaiser) 83 Valerius Maximus 187 Varro 190–194, 226 Velleius Paterculus 189 Ventris, M. 215 Verblendung (Ate) 47, 49, 150, 209, 246 Verfassungsraster 64 f. Vico, G. 337 visum comprehensum, siehe Kataleptische Vorstellung Volksversammlung 30, 32, 107–109, 114, 129, 131, 146 f., 159, 168, 290 Voltaire, F. M. A. 260 Wächter 55, 57 f., 60, 137, 140 f., 144 f., 232, 240–242, 283, 281 f., 297 Wahrheitskriterium 156

Waldkirch, R. 367 35 Washington, G. 338 Wechslertische 295 Weiber- und Gütergemeinschaft 60 f. 7, 124, 291 f. Weise und Toren 153–155, 195, 235, 249, 252, 254 f., 258 Weltenbrand, siehe Ekpyrosis Weltgeist 265, 301, 304 f. Wende 48 37, 99–107 Wettbewerb 359, 367 f. Whitehead, A. N. 274 Wiedervergeltung 293–296 Wolf, F. A. 214 Wolff, Chr. 281 Xenokrates 35 f., 38, 50–52, 120 14, 120, 146, 153 Xenophanes 211, 319 Xenophon 30, 55 2, 88, 197 f., 348 Xerxes 90, 164 Zenon von Kition 94, 151–153, 159– 162, 165, 202, 253, 270 f., 329 Zenon (ägyptischer Nauarch) 177 Zeus 39, 86 f., 154 f., 166, 195 f., 198 f., 216, 226–230, 235–237, 251 f., 285 Zeus Ammon 87, 91, 192 Zustimmung (synkatathesis, assensio) 156–158 Zwischenwelten (metakosmia, intermundia) 188

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