Religion und Internationales Recht: Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2004/05 und Sommersemester 2005 [1 ed.] 9783428521463, 9783428121465

Religiös geprägte terroristische Gewaltakte und bewaffnete Konflikte, aber auch bereits die zunehmende tägliche Begegnun

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Religion und Internationales Recht: Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2004/05 und Sommersemester 2005 [1 ed.]
 9783428521463, 9783428121465

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ANDREAS Z I M M E R M A N N (Hrsg.)

Religion und Internationales Recht

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost D e l b r ü c k , R a i n e r und A n d r e a s

Hofmann

Zimmermann

Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

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Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Religion und Internationales Recht Vortragsreihe am Walther-Schticking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2004/05 und Sommersemester 2005

Herausgegeben von

Andreas Zimmermann unter Mitwirkung von

Ursula E. Heinz

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-12146-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einführung Andreas Zimmermann

7

Religion und die historische Entwicklung des Völkerrechts Heinhard Steiger

11

Völkerrechtliche Stellung und Praxis des Heiligen Stuhls im Wandel Gerd Westdickenberg

51

Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion Heiner Bielefeldt

83

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention Christoph Grabenwarter

97

Religionsfreiheit und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Eckart Klein und Bernhard Schäfer

127

Religion und Minderheitenschutz Rainer Hofmann

157

Religion und Internationales Privatrecht Haimo Schach

183

Religion und Recht der Europäischen Union Christian Walter

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Autorenverzeichnis

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Einführung Von Andreas Zimmermann Die Terroranschläge des 11. September 2001, der von den USA daraufhin ausgerufene „Krieg gegen den Terror" und die Serie weiterer Anschläge, die seitdem die Welt erschüttern, haben nicht zuletzt auch das Thema „Religion" in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Durch die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh, durch die auch hierzulande eine Debatte über die Entwicklung von Parallelgesellschaften angestoßen wurde, hat das Thema weiter an Brisanz gewonnen. Die Aktualität des Themas Religion gerade auch im Zusammenhang mit rechtlichen Fragen zeigt sich, um nur einige Bespiele zu nennen, in den kontrovers diskutierten Fragen der Zulässigkeit des Schächtens oder des Tragens des muslimischen Kopftuchs an Schulen - Fragen, die nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern immer wieder auch internationale Gerichtsinstanzen beschäftigt haben. Der letztgenannte Umstand legte es nahe, das Thema „Religion" einmal auch aus dem Blickwinkel des internationalen Rechts zu analysieren. Das WaltherSchücking-Institut für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel veranstaltete daher im akademischen Jahr 2004/2005 eine öffentliche Vortragsreihe unter dem Titel „Religion und Internationales Recht". In dem vorliegenden Band sind die schriftlichen Fassungen der gehaltenen Vorträge, teils erweitert und um Fußnoten ergänzt, veröffentlicht. Die heutige Völkerrechtsordnung ist eine säkulare Rechtsordnung. Nur eine säkulare Rechtsordnung kann in der durch die Pluralität von Religionen und Weltanschauungen geprägten Welt von heute universelle Geltung beanspruchen. In seinem Beitrag zeigt Heinhard Steiger auf, dass das Völkerrecht nicht schon immer eine derartige areligiöse Ordnung dargestellt hat, sondern dass das Völkerrecht im Gegenteil bis Ende des 18. Jahrhunderts religiös geprägt war. Steiger spannt dabei einen weiten Bogen von den Anfängen des Völkerrechts im Alten Orient und Ägypten über die griechisch-römische Epoche bis hinein in die christliche Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit und beschreibt, wie religiöse Elemente die Völkerrechtsordnung vom Vertragsschluss bis zur Bestimmung des gerechten Kriegsgrundes prägten. In einem Ausblick stellt er die Frage, ob auch

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Andreas Zimmermann

die heutige säkularisierte Völkerrechtsordnung erneut einer universellen Wertgrundlage bedarf und worin eine solche zu sehen sein könnte. Einen Beweis dafür, dass die Völkerrechtsordnung nicht immer eine säkulare Rechtsordnung dargestellt hat, sondern über lange Zeit christlich geprägt war, mag man auch in der Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls sehen. Mit der völkerrechtlichen Stellung und Praxis von Heiligem Stuhl und Vatikanstaat befasst sich der Beitrag von Gerhard Westdickenberg, dem derzeitigen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl. Westdickenberg geht dabei besonders ausführlich auf die Außenpolitik des Heiligen Stuhls und damit auf eine Materie ein, in die er aufgrund seiner Stellung besondere Einblicke hat. Das Thema „Religion und Internationales Recht" ist aber keineswegs nur von historischer Relevanz. Im Bereich der Menschenrechte hat es im Gegenteil in den letzten Jahren deutlich an Relevanz gewonnen. So lag denn auch der Schwerpunkt der Vortragsreihe des Walther-Schücking-Instituts nicht zuletzt auf dem Verhältnis von Religion zu Fragen des internationalen Menschenrechtsschutzes. Zunächst zeigt dabei der Beitrag von Heiner Bielefeldt verschiedene Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion auf. Das Konzept der Menschenrechte werde heute in der islamischen Welt nicht mehr zurückgewiesen, sondern in die eigene Tradition integriert. Das habe zur Folge, dass die Menschenrechte unter dem Vorbehalt stünden, dass sie mit der Sharia übereinstimmen müssten. Bielefeldt untersucht daher, inwiefern sich Gegensätze zwischen traditionellem islamischen Recht und modernen Menschenrechten durch eine pragmatische Handhabung oder liberale Interpretation der Sharia überbrücken lassen - eine Frage, welche die gegenwärtige menschenrechtliche Debatte mit islamischen Staaten in einem hohen Maße prägt. Auch die Beiträge von Christoph Grabenwarter und Eckart Klein betrachten das Verhältnis zwischen Religion und Menschenrechten, allerdings nicht aus einer innerreligiösen Perspektive, sondern vielmehr aus der Perspektive des völkerrechtlichen Systems zum Schutz der Menschenrechte. Grabenwarter schildert in seinem Beitrag zu Religion und Europäischer Menschenrechtskonvention die Bedeutung der Religion nach der EMRK anhand der Inhalte und Ergebnisse der maßgeblichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 9 der EMRK. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar einerseits den Schutzbereich der Religionsfreiheit weit fasst, andererseits aber den Staaten grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Lösung der durch den religiösen Pluralismus bedingten Probleme zugesteht. Klein, der selbst in den Jahren von 1995 bis 2002 Mitglied des Menschenrechtsausschusses nach dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte gewesen ist, untersucht die Praxis eben dieses Ausschusses

Einführung

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zu Art. 18 des Paktes, der die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit verbürgt. Mit dem Verhältnis von Religion und Menschenrechten im weiteren Sinne befasst sich schließlich auch der Beitrag von Rainer Hofmann zu Fragen von Religion und Minderheitenschutz. Er stellt fest, dass die gegenwärtig umstrittensten Fragen im Rahmen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes den Schutz religiöser Minderheiten betreffen. So sei bereits der Begriff der religiösen Minderheit noch nicht abschließend geklärt. Außerdem sei unklar, worin überhaupt der „Mehrwert" der Anerkennung einer Gruppe als religiöse Minderheit gegenüber den sich aus der individuellen Religionsfreiheit ergebenden Rechten bestehen könne. Aus wiederum einem anderen Blickwinkel beleuchtet Haimo Schack das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Religion. In seinem Beitrag zu Fragen des Verhältnisses von Religion und Internationalem Privatrecht beschreibt er die Spannungen zwischen staatlichen und religiösen Rechten im Familien- und Erbrecht. Er zeigt dabei insbesondere auf, wo der deutsche ordre public der Anwendung von religiösem Recht Grenzen zieht und hebt dabei vor allem dessen Bedeutung für die Bekämpfung der Entstehung von Parallelgesellschaften hervor. Der letzte Beitrag von Christian Walter schließlich untersucht das Verhältnis von Religion und dem Recht der Europäischen Union. Aus dem Umstand, dass im geltenden Recht der Europäischen Union nur einige wenige Bezugnahmen auf Religion existieren, folgt jedoch nicht, dass das Verhältnis zwischen Religion und Europäischem Gemeinschaftsrecht spannungsfrei sei. Dieses Spannungsverhältnis illustriert Walter anschaulich in seinen Ausführungen zum kirchlichen Arbeitsrecht und zur Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf karitative Einrichtungen. Überdies gibt er einen Ausblick auf die künftige Regelung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht zum nationalen Staatskirchenrecht in Art. 1-52 des Vertrages über eine Verfassung für Europa. Insgesamt zeigt die Bandbreite der Beiträge, wie breit gefächert die Fragen sind, die sich aus dem Zusammenspiel (oder aber dem teilweisen Gegeneinander) von Religion und Völkerrecht, Europarecht und internationalem Privatrecht ergeben. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Problematik angesichts einer zumindest teilweise eher abnehmenden religiösen Toleranz weiterentwickeln wird.

Religion und die historische Entwicklung des Völkerrechts 1 Von Heinhard Steiger Geschehen wird's in der Späte der Tage: festgegründet ist der Berg SEINES Hauses zuhäupten der Berge, über die Hügel erhaben, strömen werden zu ihm die Weltstämme all, hingehn Völker in Menge, sie werden sprechen: Laßt uns gehen, aufsteigen zu SEINEM Berg, zum Haus von Jaakobs Gott, daß er uns unterweise in seinen Wegen, daß auf seinen Pfaden wir gehen. Denn Weisung fährt von Zion aus, von Jerusalem SEINE Rede. Richten wird er dann zwischen den Weltstämmen, ausgleichen unter der Völkermenge: ihre Schwerter schmieden sie zu Karsten um, ihre Speere zu Winzerhippen, nicht trägt mehr Stamm gegen Stamm das Schwert, nicht lernen sie fürder den Krieg. Haus Jaakobs, laßt uns nun gehen, einhergehn in SEINEM Licht!

A. Grundlegungen Die Vision des Propheten Jesaja aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert, hier in der Übersetzung der jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und

1

Überarbeitete, erweiterte und um Fußnoten ergänzte Fassung meines Vortrages vom 10. Februar 2005.

Heinhard Steiger

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Franz Rosenzweig ,2 verbindet in einzigartiger Weise die beiden Elemente unseres heutigen Themas, Religion und Recht für die Völker. Zwei Elemente bilden bei Jesaja die Grundlagen der Ordnung zwischen den Völkern: Frieden und Gerechtigkeit unter der richterlichen Herrschaft Gottes, der beides allein herstellen kann. Denn er ist selbst Gerechtigkeit. 3 Frieden und Recht zwischen den Völkern sind religiös nicht nur fundiert, sondern konstituiert. Jesaja setzt diese religiös begründete Vision des Friedens durch Recht und Schiedsspruch gegen die assyrische Politik der Eroberung, Unterwerfung und Gewaltherrschaft im achten Jahrhundert. Der Münchener Alttestamentler Eckart Otto deutet diese Vision als einen - bis heute nicht voll verwirklichten - Entwurf, die Streitigkeiten zwischen den Völkern durch Rechtsprechung zu bewältigen, nicht durch Krieg, Sieg, Unterwerfung. Auch das moderne universelle Weltvölkerrecht ist auf die Sicherung des Friedens in der Welt gerichtet. Es hat sogar eine bedeutsame Struktur der internationalen Rechtsprechung entwickelt, um die Einhaltung des Rechts jedenfalls im alltäglichen Normalfall zu sichern. Aber es ist grundsätzlich und konsequent säkular begründet und ausgerichtet. Das hat seine historischen Gründe, die religiös geprägten Kriege, die Europa seit dem Mittelalter bis in die frühe Neuzeit erschüttert haben, die heutige Pluralität der Religionen und Weltanschauungen der gegenwärtigen Welt, die Trennung von Religion und Staat bis hin zu ausdrücklicher Α-Religiosität vieler Staaten in ihrer inneren Ordnung. Nur durch Neutralisierung der Religionen und Weltanschauungen und konsequente Säkularisierung des Völkerrechts lässt sich offenbar Frieden in der Welt herstellen und aufrechterhalten. Das Dictum des Alberico Gentiiis von 1588 zur Auseinandersetzung zwischen Christen und Türken, nicht zwischen den christlichen Konfessionen, Silete theologi in munere alieno gewinnt heute universelle Bedeutung.4 Aber auch ein säkulares Völkerrecht bedarf eines Minimums gemeinsamer materieller Grundlagen, da der von Jesaja benannte Zusammenhang von Frieden, Gerechtigkeit und Recht unaufhebbar ist. Woher sollen diese gewonnen werden? Es kann sie in der pluralen Welt gerade nicht selbst schaffen, sondern muss sie voraussetzen, denn die Vielfalt der Kulturen erträgt nur einen bestimmten Grad verbindlicher Inhalte eines für alle geltenden universellen Weltvölkerrechts. Damit das Völkerrecht gemeinsames Recht sein kann und eben nicht partikulares aus2

Jes. 2, 1-5, Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift, Bücher der Kündung, Das Buch Jeschajahu, 13. 3 Zum Thema Pax und Justitia seit dem Alten Testament Hans Hattenhauer, Pax et iustitia, Hamburg 1983, Berichte der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg, 1 (1982/83) Heft 3, 5 ff. 4 Alberico Gentili, De iure belli libri très, 1588/89, Ausgabe lat./engl., James Scott (ed.), The Classics of International Law, 2 Bde. 1933, lib I, cap. XII, Bd. 1, 92.

Religion und die historische Entwicklung des Völkerrechts

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grenzendes Recht, müssen die materiellen Grundlagen aus eben diesen Kulturen selbst kommen. Das universelle Völkerrecht muss entsprechend strukturiert sein, um diese Hervorbringungen zu fördern. Unter „Religion" verstehe ich jede Art von Rückbindung an eine transzendentale, also überweltliche und übermenschliche Welt der Götter oder Gottes. Unter „Völkerrecht" verstehe ich für diese Untersuchung jede Art von normativer Gestaltung der Beziehungen zwischen politischen Mächten, d.h. Trägern eigener und eigenständiger, nicht notwendig unabhängiger Herrschaft. Ich nenne das „Zwischen-Mächte-Normativität". Das moderne universelle Weltvölkerrecht zwischen unabhängigen souveränen Staaten ist eine geschichtliche Spielart innerhalb derselben. Den Islam und die asiatischen Religionen in ihrem Verhältnis zu einem Recht der Zwischen-Mächte-Beziehungen muss ich aus Mangel an hinreichenden Kenntnissen ausklammern.5

B. Alter Orient und Ägypten I. Grundlagen Um die Mitte des zweiten Jahrtausend vor Christus bestanden im Alten Orient etwa gleichzeitig die Großreiche der Hethiter und Mittani. In der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends erreichte das neuassyrische Reich seinen Höhepunkt. Über beide Epochen war Ägypten eine bestimmende Macht. Dazwischen standen vor allem in Syrien verschiedene kleinere Reiche, u.a. die israelitischen Königreiche Davids und seiner Nachfolger. Diese Mächte standen untereinander in wechselnden Beziehungen kriegerischer und friedlicher Art. 6 Die Großreiche wurden in der Regel durch die persönliche Herrschaft des Großkönigs konstituiert. Er war derjenige, in dem sich die Einheit des Herrschaftsverbandes manifestierte. 7 Er stand in einer besonderen Beziehung zu den Göttern. Nicht selten wurde dies als ein VaterSohn-Verhältnis zwischen ihm und dem höchsten Gott konzipiert. Jedes Volk hatte seinen eigenen nationalen Götterhimmel. Eine allgemeine gemeinsame Religion gab es nicht. Intern wie international herrschte Polytheismus. Dieser wurde zwar zwischen den Mächten und Völkern nicht in Frage 5 Zum islamischen Völkerrecht Isam Kamel Salem, Islam und Völkerrecht, Das Völkerrecht in der islamischen Weltanschauung, 1984. 6 Karl-Heinz Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, 17 ff. 7

Zu den Frühformen der Herrschafts verbände u.a. Roman Herzog, Staaten der Frühzeit - Ursprünge und Herrschaftsformen, 1988. „Staat" bezeichnet hier nur „Herrschaftsverband" oder politische Einheit und nicht auch schon „Staat" im modernen Sinn.

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gestellt, aber jedes Volk sprach seinen Göttern „Einzigartigkeit" gegenüber denen der anderen Völker zu, Überlegenheit, größere Mächtigkeit, Sieghaftigkeit. Das galt für den Sonnengott Ägyptens ebenso, wie für den Gott Assur der Assyrer. 8 Die religiösen Vorstellungen waren, folgt man der Literatur, in Bezug auf die Innenwelt einer Macht und ihrer Außenwelt von der Unterscheidung Ordnung/Frieden gegen Chaos/Krieg getragen.9 In Ägypten wie in Assyrien und Ugarit (Syrien) garantierten die Götter durch ihre „Söhne", die Herrscher, Ordnung und Frieden nach innen. Aufgabe der Herrscher war es, Chaos und Unordnung, die von außen die innere Ordnung bedrohten, abzuwehren, zu überwinden und zu bekämpfen. Krieg, Gewalt, Unterdrückung oder doch jedenfalls die Herstellung von Oberherrschaft durch Vasallitätsverhältnisse waren der von den Mächtigen in der Regel begangene Weg. Auch Jahwe war zunächst der Gott, der das Volk Israel sieghaft und recht grausam gegen die Feinde der Israeliten zur Eroberung Kanaans führte. 10 Auch zur Zeit Davids waren Sieg und Unterwerfung wohl noch der israelische Weg gegenüber seinen Nachbarn. Aber weder Moses noch David waren Jahwes Söhne, sondern nur seine Erwählten. Das ist die erste Differenz zu den Hethitern oder Ägyptern. Allmählich wandelte sich dann auch das israelitische Gottesbild zu dem Gott der Vision Jesajas, der die Gerechtigkeit und das Recht zwischen den Völkern herstellt. Diese Vision stellte somit einen fundamentalen Paradigmenwechsel dar. Ein zweiter folgte. Die Israeliten hatten zunächst den Monotheismus nur nach innen zur Grundlage ihres Gottesbildes gemacht. Nach und nach wurde daraus ein allgemeiner Monotheismus auch nach außen. Die Götter der anderen Nationen wurden zu nichtigen Götzen.11 Aber daraus folgten, soweit ich sehe, keine Kriegsgründe.

II. Ein hethitisch-ägyptischer Vertrag Die Wirklichkeit war differenzierter und vor allem praktischer orientiert als die radikalen Gottesbilder. Zwar wurden viele, in der Regel sehr grausame Kriege geführt. Aber es wurde auch Handel getrieben, Gesandtschaften ausgetauscht,

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Dazu Eckard Otto, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient, Aspekte für eine Friedensordnung in der Moderne, 1999, 13 ff. 9 Otto (Anm. 8), 37 ff. 10

Buch Josua. Dazu u.a. Johann Maier, Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition, 2000, 38 ff. 11 Dazu Otto Kaiser, Der Gott des Alten Testaments, Theologie des AT 3: Jahwes Gerechtigkeit, 2003, 370 ff.

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Handels-, Friedens-, ΒruderschaftsVerträge geschlossen. So gingen nach den schwankenden Angaben der Historiker zwischen 1290 und 1259 v. Chr. der ägyptische Pharao Ramses II. und der hethitische König Hattusilis III., andere nennen Hattusilis II., einen Friedens-, Freundschafts-, Bruderschafts- und Allianzvertrag ein. 12 Seine religiösen Elemente bestimmten ihn von Anfang bis zum Ende. Zunächst werden die großen Götter der beiden Länder Hatti und Ägypten mit Namen und alle anderen angerufen. Es folgen inhaltliche Abreden. Am Ende stehen Eide beider Seiten und Segen und Fluchklauseln unter Anrufung der beiderseitigen Götter. Hattusilis III. und Ramses II. riefen jedoch nicht jeder seine, sondern gemeinsam die Götter beider Seiten an. Dies war zunächst ein Ausdruck des Gleichrangs beider Parteien. 13 In Vasallenverträgen fanden sich häufig nur die Anrufung der Götter des Großkönigs, der eben überlegen war. Die gemeinsame Anrufung mochte ihren realen Grund in den Machtpositionen der beiden Herrscher haben. Der Pharao hatte einige Jahre vorher in der Schlacht von Kades am Orontes eine zumindest halbe Niederlage erlitten. Aber die Begründungen wurden doch tiefer verankert. Denn die beiderseitigen Götter erscheinen nach der Formulierung in der ersten Bestimmung als die eigentlichen Stifter des Bündnisses. Siehe ... der Großkönig des Landes Ägypten wird das Verhältnis schaffen, das der Sonnengott geschaffen hat und das der Wettergott geschaffen hat für das Land Ägypten und das Land Hatti gemäß seinem Verhältnis von Ewigkeit her, um zwischen ihnen niemals Feindschaft entstehen zu lassen.

Sie wurden nicht nur in das Friedens- und Freundschaftsbündnis der beiden Herrscher eingeschlossen, sondern diese verwirklichten, was die Götter selbst längst vorweggenommen hatten. Deswegen konnten beide sich auch gleichrangig gegenübertreten. Auf dieser Grundlage erhalten auch die Segens- und Fluch-

12 Text in Wilhelm G. Grewe, Fontes Historiae Juris Gentium, Bd. 1, 1380 v. Chr. bis 1495 n. Chr., 1995, 18, er datiert zwischen 1280 bis 1270; Viktor Korosec, Hethitische Staatsverträge. Ein Beitrag zu ihrer juristischen Wertung, 1931,58 ff.; David J. Bederman, International Law in Antiquity, 2001, 146 ff.; Dennis J. McCarthy, Treaty and Covenant, 2. Aufl. 1978, 37 ff.; Katrin Schmidt, Friede durch Vertrag. Der Friedensvertrag von Kadesch 1270 v. Chr., der Friede des Antalkidas von 386 v. Chr. und der Friedensvertrag zwischen Byzanz und Persien von 562 n. Chr., 2002, 21 ff.; Joachim Friedrich Quarck, Da wurden diese großen Länder zu einem Land. Die Beziehungen zwischen Hattusa und Ägypten im Lichte ihrer diplomatischen Korrespondenz, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.), Die Hethiter und ihr Reich - Das Volk der 1000 Götter, 2002, 288 ff. Dort auch eine Synopse der ägyptischen und der hethitischen Fassungen, 293. 13 So Korosec (Anm. 12), 96.

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formein am Schluss des Vertrages einen weiteren Sinn. Deren ergänzter Text in der ägyptischen Fassung lautet: Was den angeht, der die Worte hält, die auf dieser Silbertafel stehen, so sollen die großen Götter des Landes Ägypten und die großen Götter des Landes Hatti ihn leben lassen, gesund sein lassen, mitsamt seinen Häusern, seinem Land und seinen Dienern. Was den angeht, der die Worte nicht hält, die auf dieser Silbertafel stehen, so sollen die großen Götter des Landes Ägypten sowie die großen Götter des Landes Hatti sein Haus, sein Land und seine Diener vernichten.

Durch Eide und Fluchformeln wurden schon in den ersten uns bekannten Verträgen aus dem dritten Jahrtausend zwischen mesopotamischen Städten die Vereinbarungen abgeschlossen.14 Sie finden sich ebenfalls in den anderen Verträgen der Hethiter, den assyrischen, babylonischen und israelitischen Verträgen. 15 Die inhaltlichen Regelungen des Vertrages zwischen den Vertragspartnern wurden so nicht nur „bekräftigt", sondern sie wurden dadurch in die allgemeine religiös getragene Ordnung eingefügt. Ein Eid- und Vertragsbruch verletzte diese Ordnung und damit die Götter selbst.16 Sie verfolgten den Eidbrüchigen als sacer über Jahre. Ein Vorgänger Hattusilis III., der hethitische Großkönig Mursiiis IL, führte in einem Pestgebet eine zwanzigjährige Pest im Hattireich auf den Bruch eines älteren hethitisch-ägyptischen Vertrages zurück: 17 Hattischer Wettergott mein Herr, und ihr Götter, meine Herren! Es ist wahr, der Mensch sündigt. Und auch mein Vater sündigte, und er übertrat das Wort des hattischen Wettergottes, meines Herrn. Ich aber habe in nichts gesündigt. Es ist aber auch das: die Sünde des Vaters kommt über den Sohn. Auch über mich kam die Sünde meines Vaters. Ich aber habe nun vor dem hattischen Wettergott, meinem Herrn und den Göttern, meinen Herren, gestanden: es ist wahr, wir haben es getan. Und weil ich nun meines Vaters Sünde gestanden habe, besänftige sich dem hattischen Wettergott, meinem Herrn, und den Göttern, meinen Herren, der Sinn wieder. Seid mir freundlich gesinnt und jagt die Pest wieder aus dem Land Hatti hinaus.

Er wurde erhört. Auch für Israel galt die Unverbrüchlichkeit des Eides. Die Bewohner Gibeons in Kanaan hatten, um der Vernichtung durch Josua und die Israeliten bei ihrer sehr blutigen Eroberung des von Jahwe verheißenen Landes zu entgehen, durch List 14 Ziegler (Anm. 6), 15. Siehe auch Donald L. Magnetti, The Function of Oath in the Ancient Near Eastern International Treaty, American Journal of International Law 72 (1978), 815-829 (815). 15 Korosec (Anm. 12), 92 ff.; Bederman (Anm. 12), 141 ff. 16

Zu der Funktion von Eiden in der Alten Welt Bederman (Anm. 12), 61 ff. mit weiteren Verweisen. 17 Dazu Albrecht Götze, Pestgebete in: F. Sommer/H. Eheloff (Hrsg.), Kleinasiatische Forschungen I, Bd. 2, 208 ff., §§ 3 ff.

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einen Bündnisvertrag mit diesen erschlichen, indem sie durch zerrissene Kleidung, trockenes Brot und anderes vorgaukelten, von weither außerhalb Kanaans zu kommen. Der Vertrag wurde von Josua und den Ältesten Israels bei Jahwe beschworen. Als die Sache heraus kam, blieben die Israeliten um ihres Schwures bei Jahwe willen dabei, wiesen den Gibeoniten allerdings niedrige Arbeiten zu. 18 Als König Saul Jahrhunderte später doch gegen sie vorging, verhängte Jahwe als Strafe dreimal Hungersnöte über die Israeliten. David löste diese dadurch, dass er den Gibeoniten sieben Nachkommen Sauls auslieferte. 19

III. Die assyrische Weltherrschaft Mit dem Aufstieg des zweiten neuassyrischen Reiches im 8. Jahrhundert v. Chr. scheint sich einiges geändert zu haben.20 Gleichordnungsverträge scheinen nicht überliefert zu sein, sondern nur Vasallen Verträge. Auch sie wurden zwar beeidet, aber anscheinend nur von den Vasallen. Auch hier wurden die Götter zu Garanten aufgerufen, aber anscheinend nur die assyrischen, also vor allem Assur, der dann gegen die eidbrüchigen Vasallen vorgehen sollte. Auch die hethitischen Könige schlossen eine Fülle von Vasallenverträgen. Die Sache selbst war also nicht unbedingt neu. Aber neu scheint die generelle Einstellung zur nicht-assyrischen Welt gewesen zu sein. Auch sie repräsentierte das Chaos gegenüber der Ordnung. Aber anders als in Ägypten musste dieses nicht, wenn auch unter Umständen aggressiv, abgewehrt, sondern es musste aktiv der Herrschaft des assyrischen Königs unterworfen werden. Auch diese Auffassung war aber religiös begründet und getragen. Assur, der oberste assyrische Gott, übertrug dem assyrischen König das Hirtenamt über die ganze Welt. So sollte Frieden werden, aber nicht Frieden durch Recht, wie bei Jesaja, sondern durch Krieg, Sieg, Vasallität und unter Umständen Unterwerfung. Es ging aber nicht darum, die Verehrung des Gottes Assur durch alle Völker zu erreichen, also eine Art allgemeinen Monotheismus zu begründen, sondern sie der Herrschaft des assyrischen Königs zu unterwerfen, den Assur zum Weltherrscher bestellt hatte. Wenn allerdings der abweichende Glaube zum Grund der Rebellion gegen den assyrischen König wurde - und das traf unter Umständen Israel und Juda - , wurde dagegen mit allen Mitteln bis hin zur Umsiedlung und Zerstreuung vorgegangen. Assyrien führte somit, anders als Ägypten oder die Hethiter, eine religiös gegründete Aggressionspolitik in der gesamten ihm bekannten Welt bis Ägypten, das nach inneren Schwächungen um 670 v. Chr. erobert wurde. 18

Jos. 9, 1-24.

19

2. Sam, 21, 1-14.

20

Ich folge nachstehend weitgehend den Darlegungen von Otto (Anm. 8), 37 ff.

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IV. Fazit Religion bildete im Alten Orient die notwendige Voraussetzung und Bedingung der Möglichkeit der Normativität der Zwischen-Mächte-Beziehungen. Das galt auch für nicht-vertragliche Normen für die Stellung der Fremden und Gesandten. So waren in Israel u.a. die Fremden durch direkte Weisungen Jahwes geschützt.21 Obwohl es im Alten Orient keine gemeinsame Religion gab, sondern es stets eine plurale religiöse Welt war, ruhten deren normativen Ordnungen auf der religiösen Deutung der Welt und erhielten erst durch die Götter ihre Gültigkeit. Nicht Trennung von Religion und Recht und dessen Säkularität waren also der Ausweg aus der religiösen Pluralität, sondern gegenseitige Anerkennung in der Verschiedenheit. Die Anrufung auch der fremden Götter begründete Vertrauen, das was wir heute „guter Glaube", bonafides ,nennen.22 Diese nicht-vertraglichen wie vertraglichen Normen mögen als „Recht" bezeichnet werden. Aber man muss sich darüber verständigen, dass sich dieses Recht durch seine religiöse Fundierung und Konstituierung grundsätzlich von modernem Recht unterschied, das sich strikt von religiösen Fundierungen getrennt hat und rein säkular begründet wird.

C. Griechische und römische Ordnungen I. Strukturelle Voraussetzungen Zwei Strukturen der griechischen wie der italisch-römischen Welt unterschieden diese in klassischer Zeit grundlegend vom Alten Orient. 23 Die griechischen Gemeinwesen standen zwar zunächst ebenfalls unter königlicher Herrschaft. Aber sie organisierten sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger republikanisch mit gewählten Magistraten und Versammlungskörpern. Das galt auch für Rom in der Phase seines Aufstiegs zur Weltmacht. Zwar hatte jedes Gemeinwesen seine eigenen Götter. Aber sowohl in Griechenland als auch in Italien und zwischen diesen Regionen des Mittelmeeres bestanden trotz Unterschieden grundlegende Verwandtschaften der religiösen Vorstellungen, die ihrerseits auf indo-europäischen

21

Exodus (2. Buch Mose) 22, 20; 23, 9; Deut. (5. Buch Mose) 24, 17; 27, 19.

22

So einleuchtend Bederman (Anm. 12), 51 ff.

23

Anders als Bederman (Anm. 12), der sie i.d.R. in den einzelnen Sachkapiteln zwar unterscheidet, aber doch in einer Art Kontinuum erörtert, unterscheide ich diese beiden Epochen daher gerade auch in Bezug auf den Zusammenhang von Religion und „Völkerrecht" deutlicher epochal.

Religion und die historische Entwicklung des Völkerrechts

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Grundlagen beruhten. 24 Durch diese religiösen wie politisch-strukturellen Verwandtschaften hatte die griechisch-römische Welt bessere Voraussetzungen für eine allgemeine gemeinsame normativ-rechtliche Ordnung der Zwischen-MächteBeziehungen als der Alte Orient.

II. Griechenland In Griechenland wurden die eigenen Götter Pantheone der verschiedenen poleis überwölbt von einer panhellenischen Götterwelt, die in den Dichtungen Homers und der Theogonie Hesiods ihre literarische Grundlegung fand. 25 Religion vollzog sich vor allem in Kult und Ritual durch Opfer, Gebete und Feste. Die politischrechtliche Gliederung in verschiedene, voneinander unabhängige Gemeinwesen hob diese religiöse Einheit nicht auf. Zahlreiche Kultorte wie Olympia und Delphi waren allen Griechen gemeinsam. Gewisse Feste, wie die Olympischen Spiele, wurden als panhellenische kultische Spiele gefeiert. Die griechischen Gemeinwesen begründeten u.a. Schwurbündnisse, Amphyktonien, die dem gemeinsamen Festkult und dem Schutz der Heiligtümer dienten, z.B. in Olympia und Delphi. 26 Aber auch nicht-vertragliche Normen beruhten auf gemeinsamen religiösen Überzeugungen. So bildeten gerade diese eine Grundlage normativer Ordnung zwischen ihnen. Allerdings verhinderte die religiöse Gemeinsamkeit nicht bittere Kriege zwischen ihnen bis zu gegenseitiger Vernichtung. 27 Umstritten ist das Verhältnis zu der Welt außerhalb der griechischen Ökumene. War sie eine barbarische, rechtlose, gottlose Welt? 28

III. Italien Italien bildete eine ethnisch, kulturell und politisch vielfältige Landschaft. Im Norden und bis in die Mitte lebten die Etrusker, in der Mitte die Latiner, zu denen Rom gehörte, die Sabiner u.a., im Süden die großgriechischen „Kolonien". Da ein sehr großer Teil Italiens einschließlich Roms zunächst unter etruskischer Herrschaft stand, waren etruskische religiöse Vorstellungen maßgebend. Diese aber 24

Alan Watson , The State, Law and Religion, 1992, 4 ff.

25

Zum Folgenden Fritz Graf, Griechische Religion, in: Heinz-Günther Nesselrath (Hrsg.), Einleitung in die griechische Philologie, 1997, 458 ff. 26 Amphyktonie aus dem 7. Jhdt v. Chr., Grewe (Anm. 12), 44. 27

In der delphischen Amphyktonie wird allerdings die Zerstörung einer Stadt und die Ausschließung von frischem Wasser im Kriege wie im Frieden untersagt. Georg Busolt, Griechische Staatskunde. Zweite Hälfte, 1926, 1280 ff. 28 So Bederman (Anm. 12), 61.

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waren griechischen Vorstellungen verwandt. Für Rom wurden die öffentliche Religion des Gemeinwesens und die private Religion der Familien etc. unterschieden.29 Die hier allein maßgebende öffentliche Religion wurde von den Magistraten in Kult und Ritus vollzogen, jedoch unter Beistand und Mitwirkung durch die verschiedenen Priesterschaften, die über die strikte Einhaltung der richtigen Riten zu wachen hatten; denn daran hing die Wirksamkeit der Handlung. Ritus war keine äußere Formalität, sondern Bekenntnis. Diese strenge Ritualisierung galt auch für die Handlungen der ZwischenMächte-Beziehungen durch das System der fetiales. 30 Zwar ist uns dieses nur für Rom überliefert, zudem recht spät im ersten Jahrhundert vor und im ersten Jahrhundert nach Christus durch Cicero, Livius und Dionysios Harlikarnassos. Aber sie berichten, dass dieses System auch bei den Nachbarvölkern bestanden habe. Zudem soll es in der - etruskischen - Königszeit in Rom eingeführt worden sein, war also auch bei ihnen bekannt.31 Wir haben daher eine gemeinsame sakrale Zwischen-Mächte-Normativität italischer Gemeinwesen vor uns.32 Jedoch wandten die Römer das System auch gegenüber Mächten an, die nicht zu diesem religiösen Kulturkreis gehörten, z.B. Karthago. Die Normen des ius fetiale waren „sakrales Recht" und gehörten zum ius publicum, 33 Nach Cicero ist es sanctissimum ius. 34 Die Fetialen waren eine Priesterschaft in der jeweiligen Stadt. In Rom gehörte sie zu den höheren Priesterschaften und umfasste 20 Priester. Sie bestand bis in die Kaiserzeit. Augustus gehörte ihr an. Sie waren für den Schutz der Herolde (Gesandten), die Entscheidungen über Auslieferungen und die Riten bei Abschluss von Verträgen und bei der Einleitung von Kriegen zuständig. Die religiös-normative Richtigkeit des Handelns war im ius fetiale geregelt. Aber es war nicht inhaltlich bestimmt, sondern als notwendiges, heilbringendes Ritual. 35 Es gehörte allgemein zu den Aufgaben der Priesterschaften, Riten für den Kult der Götter zu

29

Zum Folgenden John Scheid, Römische Religion - Republikanische Zeit, in: Fritz Graf (Hrsg.), Einleitung in die lateinische Philologie, 1997, 469 ff. 30 André Weiss, Art. Fetiales, Jus fetiale, in: Dictionnaire des antiquités grecques et romaine, t. 2, 1896, 1095 ff.; Alan Watson, International Law in Archaic Rome, War and Religion, 1993, 1 ff. mit Nachweisen aus den Texten bei Cicero, Livius, Dionysios Halikarnassos u.a.; neuestens Andreas Zack, Studien zum „Römischen Völkerrecht", 2001, 13 ff. 31 Es bestand offenbar auch in Alba, Livius, Ab urbe condita, I, 32, 5. 32 Watson (Anm. 30), 62: Latin communities had not organized political relationship, but they had common religious ties. 33 Zum sakralen Element im ius Max Käser, Das altrömische lus, 1949, 301 ff.; zum Folgenden eingehend Watson (Anm. 24), 72 ff. 34 De off. lib. I, cap 36. 35

Max Käser, lus gentium, 1993, 25 ff.

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entwickeln. Ihre Missachtung war für das Gemeinwesen schädlich. So war alles Handeln gegenüber anderen Mächten kultisch eingefangen.

IV. Herolde und Gesandte Nach griechischem Mythos waren die Herolde als Nachkommen des Götterboten Hermes geheiligt. Das galt auch für die fremden Gesandten. Im 7. Buch seiner Historien berichtet Herodot aus der Zeit der Perserkriege, der Perserkönig Darius habe an die griechischen Städte Gesandte geschickt, die Erde und Wasser als Zeichen der Unterwerfung einfordern sollten. In Athen und Sparta wurden diese getötet. In Sparta gab es ein Heiligtum des Talthybios, eines vergöttlichten Herolds Agamemmnons. Ihm und seinen dort lebenden Nachkommen war der Schutz der spartanischen wie der fremden Gesandten oder besser Herolde anvertraut. Nach dem Mord an den persischen Herolden konnten die Spartaner kein günstiges Opfer mehr erlangen. Sie sandten schließlich zwei Freiwillige, die sich Xerxes, dem Sohn des Darius , als Sühne anbieten sollten. Dieser nahm allerdings ihr Opfer nicht an. Er erwiderte auf ihr Anerbieten, die Spartaner hätten zwar das bei allen Völkern geübte Recht mit Füßen getreten, als sie die persischen Gesandten getötet hätten. Aber er wolle nicht dasselbe tun, sie allerdings auch nicht von ihrer Schuld lösen. Die Fetialen übten auch das Amt der Gesandten zu anderen Mächten. Auch sie waren, wie die Herolde, sakrosankt. In der Regel bestand eine solche Gesandtschaft aus dem pater patratus populi romani und einem „Grasträger", einem Fetialen, der ein Bündel frisches Gras mit Erde vom Kapitol als Zeichen der Heiligung durch Jupiter auf seinem Haupt trug. 36 Auch die fremden Gesandten oder Herolde galten als sakrosankt und standen unter dem Schutz der Fetialen. Ihre Verletzung wurde durch diese dadurch gesühnt, dass der Schuldige an die andere Stadt übergeben oder in Rom selbst bestraft wurde. 37 Dasselbe wurde bei der Verletzung eines römischen Herolds in einem fremden Gemeinwesen gefordert. Die Verweigerung war ein gerechter Kriegsgrund. Auch nach der Ersetzung der Fetialen durch weltliche Gesandte blieb der rechtliche Schutz für diese bestehen.

V. Vertragsschluss Der Abschluss der Verträge zwischen den griechischen poleis wurde von religiösen Riten umfangen, Anrufungen der Götter, Opfer, Orakel, Eidesleistungen

36 37

Weiss (Anm. 30), 1097. Weiss (Anm. 30); Bederman (Anm. 12), 55, für Fabius bei Plutarch.

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etc. 38 Das galt sowohl für die Amphiktonien als auch für die eigentlichen Bündnisverträge, die Symmachien, und für Friedensverträge. Aber die Sanktionen waren wohl „milder" als im Alten Orient. Es gab keine Selbstverfluchungen. In einem Vertrag aus dem 6. Jahrhundert wurde die Zahlung von einem Talent Silber an den Olympischen Zeus vorgesehen, in einem anderen das Fernhalten des Vertragsbrüchigen durch die anderen von den Altären. Strenger als bei den Griechen war das Ritual bei Abschluss eines Vertrages nach dem ius fetiale ausgebildet. Der Vertrag wurde durch den pater patratus unter Anrufung des Jupiter, aber auch des Gottes oder der Götter der anderen Stadt mit dem dortigen pater patratus oder einem Magistrat unter Eid bei Jupiter unter einer Selbstverfluchung abgeschlossen. Dazu wurde in frühen Zeiten ein Opfertier mit dem Stein des Jupiter Lapis getötet.39 Auch die Magistrate beschworen den Vertrag.

VI. Krieg In Griechenland war die Einleitung eines Krieges mit bestimmten religiösen Riten verknüpft, Opfern für die Götter, Orakelbefragung, auch Kriegserklärung durch Herolde. 40 In Rom prüfte das Kollegium der Fetialen die Berechtigung des römischen Kriegsgrundes. 41 Ein pater patratus begab sich danach mit drei anderen Fetialen zum Gegner mit der Forderung nach Genugtuung binnen einer Frist. Dabei wurden in formalisierter Form mehrmals Jupiter und die Ortsgötter als testis angerufen. Streitig ist, ob testis Zeugen oder Richter heißt.42 Nach dem fruchtlosem Verstreichen der Frist drohte er Krieg an und verkündete ihn schließlich, wenn der Senat ihn beschlossen hatte. Das alles geschah in festen Formeln und nach festen Riten. Ein solcher Krieg war dann ein bellum iustum et pium. Die Einleitung eines Krieges war somit eindeutig eine kultische Handlung. 38

Zu den Verträgen siehe Bederman (Anm. 12), 154. Für das heroische Zeitalter Homer, Ilias, 3. Buch, insbesondere Verse 245 ff., Vertrag zwischen Menelaus und Paris/Alexander über einen Zweikampf um Helena, gewiss eine sagenhafte Schilderung, die aber an der wirklichen Praxis orientiert sein dürfte. Beispiele für die jüngere Zeit: Die Staats vertrage des Altertums, Bde. 2 und 3, sowie bei Grewe (Anm. 12), Bd. 1, 44 ff. 39 Livius, Ab urbe condita, I. 24, 3 ff. 40

Bederman (Anm. 12), 227 ff.

41

U.a. Sigrid Albert, Bellum iustum, 1980, 12 ff.; Bederman (Anm. 12), 231 ff.

42

Die h.M. übersetzt mit „Zeugen", Max Käser (Anm. 33), 21; für „Richter" Watson (Anm. 24), 10 ff., mit einleuchtenden Argumenten. Da die religiösen Vorstellungen und das System der Fetialen in Italien gemeinsam war, könnte Jupiter nicht nur als römischer, sondern auch als gemeinsamer göttlicher Richter fungieren.

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VII. lus naturale - ius gentium Im Laufe der Entwicklung Roms zur Weltmacht traten die religiös-kultischen Fetial-Rituale mehr und mehr zurück, weil sie mit der Ausdehnung des Reiches unpraktikabel wurden, verschwanden aber wohl nicht völlig. Augustus selbst war Mitglied des Kollegium der Fetialen und versuchte eine gewisse Wiederbelebung. 43 Die Rückbesinnung auf das ius fetiale in der Epoche des Übergangs von der Republik zum Imperium gehörte wohl zu der allgemeinen Suche nach den Wurzeln im Prinzipat. Dazu steht aber in einem merkwürdigen Unterschied eine ganz andere Entwicklung, die ihren Grund gerade in dem Übergang zur Weltmacht hatte. Denn dadurch wurde es notwendig, sowohl für die Begegnung mit anderen Völkern und Mächten als auch nach innen rechtliche Instrumente zu entwickeln und inhaltlich zu begründen, die nicht nur aus der römischen Tradition und dem römischen Recht kommen konnten. Religiös war die Welt um das Mittelmeer plural. Als Weltmacht wurde das Reich auch nach innen in sich plural, nicht nur polytheistisch; denn es ließ allen Religionen prinzipiell weiten Raum. Es bewältigte diese Pluralität der Religionen weniger durch Neutralisierung als durch Integration. Denn zum Teil wurden fremde Kulte, Mythen und Götter mit den römischen Göttern verknüpft. Aber einige, wie vor allem der jüdische und der christliche Glauben, blieben für sich. Der allgemeine Kaiserkult sollte zudem das Reich zusammenhalten, war aber inhaltsarm und weitgehend rituell. So gewannen für die rechtliche Ordnung gegenüber anderen Mächten nach außen wie gegenüber den Nicht-Römern oder Fremden nach innen die verbundenen Konzepte des ius naturae oder ius naturale und des ius gentium grundlegende Bedeutung. Beide sind wohl zum ersten Mal bei Cicero nachweisbar. 44 Der Begriff ius gentium bezeichnete aber bei ihm u.a. ein „älteres" römisches Recht, so dass er auch schon früher zur Anwendung gekommen sein könnte.45 Er wird in der historischen Literatur verwendet 46 und dann ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert auch von den iuris consultes. Er fand von dort seinen festen Platz in den Institutionen und Digesten.47

43

Karl-Heinz Ziegler, Das Völkerrecht der römischen Republik, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil I, Bd. 2, 1972, 68-114 (110, 112). 44 Cicero, De officiis 3, 69 (17, 50); Max Käser, Das römische Privatrecht, Bd. 2: Die nachklassischen Entwicklungen, 2. Aufl. 1975, 203. 45 Dazu eingehend Käser (Anm. 35), 10 ff. mit weiteren Verweisen. 46 47

Livius 30, 25, 10; Caesar, De bello hispaniense, 42.

Gaius, Institutiones 1, 1 und Dig. 1., 1., 1. 9; Ulpian, Dig. 1. 1., 1., 1. § 4; Hermogenian 1., 1., 1.5.

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Der Begriff hatte eine „völkerrechtliche" und eine „zivilrechtliche" Dimension. Sie waren dadurch verbunden, dass es sich stets um Recht bei allen Völkern oder Menschen handelte, das auch für Rom Anwendung finden sollte. Dazu zählten auch die Normen über Krieg und Frieden, Verträge, Gesandte etc. Im Grunde wurde damit eine gemeinsame, sogar universell gedachte Rechtsordnung vorgestellt.48 Dieses ius gentium konnte auch einen sakralen Charakter haben, wenn es Beziehungen zu den Göttern betraf. 49 Aber für die Beziehungen zwischen Menschen enthielt es keine sakralen Elemente, insbesondere nicht die Definitionen des ius gentium bei den Juristen. Ulpian bestimmte es als ius quo gentes humanae utuntur, Gaius als das Recht quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, Hermogenian zählte u.a. dazu das Recht des Krieges, die Unterscheidung der Völker, die Gründung der Staaten etc. 50 Bereits Cicero hatte den Begriff mit dem des „Naturrechts" verbunden. Das Naturrecht aber war seinerseits nicht religiös, sondern in der recta ratio naturae fundiert. 51 Die Juristen und danach Justinian übernahmen diese Verbindung, wie u.a. die Definition des Gaius mit ihrer Bezugnahme auf die naturalis ratio, das ist die allgemein menschliche Vernunft, zeigt. 52 Cicero stützte es außer auf die Natur auch auf die mores maioresP Zwar beruhten auch diese letzten Endes auf religiösen Gründen. Aber danach wird nicht gefragt. Sie wären also, gäbe es sie überhaupt, jedenfalls irrelevant. Das ius gentium umfasste im Kern auch nicht mehr rituell-kultische Regeln, sondern in erster Linie materielle Rechtsregeln. Diese beruhten aber anders als z.B. in Israel nicht auf religiöser Weisung. Die römische Religion kannte solche wohl nicht. 54 Das römische ius civile war säkulares Recht.55 Das wird auch für das ius gentium angenommen werden müssen, das in seiner privatrechtlichen Dimension das ius civile ergänzte und erweiterte. Trat so bereits am Ende der griechisch-römischen Epoche eine Scheidung der religiösen Sphäre und der weltlichen an der Vernunft orientierten Sphäre, also ein Dualismus hervor? Die Antwort muss offen bleiben, da dafür allgemeinere struktu48 Für die griechische Ausdrucksweise u.a. Polybios, Geschichte II, 8, 12; 19, 9; 58, 6; III, 27, 10 u.a. Meist wird das - ungenau - mit „Völkerrecht" übersetzt. Es kommt aber auf die wörtliche Übersetzung durchaus an, um Fehlschlüsse zu vermeiden. 49

Käser {Anm. 35), 19.

50

Anm. 47. Cicero, Oratio ad haruspicem responsis, 14, 32.

51

52 Dazu Käser (Anm. 35), 14 ff., 37 ff., 54 ff. mit ausführlichen Zitaten. Auf die Schwierigkeiten des Verhältnisses zwischen ius naturale und ius gentium, die die Literatur bis in das 17. Jahrhundert beschäftigte, ist hier nicht einzugehen. 53 Daher bringt Bederman (Anm. 12), 84, es auch in Zusammenhang mit Gewohnheit. 54

Scheid (Anm. 29), 472.

55

Watson (Anm. 24), 73 ff.

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relie Untersuchungen notwendig sind. Festzuhalten aber ist, dass jedenfalls theoretisch Vernunft und Gewohnheit bereits in dieser Zeit an Bedeutung für das Recht gewannen und die Rückbindung an religiöse Grundlagen sich lockerte, wenn nicht verschwand. Nur das eigentliche Sakralrecht hatte noch eine religiöse Funktion. Die volle Bedeutung dieser Entwicklung einer Trennung von Religion und ius gentium für die Zwischen-Mächte-Beziehungen zeigte sich in der nachfolgenden Periode, im christlichen Zeitalter.

D. Christentum und Völkerrecht im Mittelalter I. Grundlegung 394 erklärte Theodosius der Große das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches. War damit der Monismus weltlicher und religiöser Ordnung wiederhergestellt? Das Christentum blieb die allein bestimmende Religion und Grundlage der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ordnung in Europa auch über innere Spaltungen, insbesondere in der Reformation des 16. Jahrhunderts, und über alle politischen Entwicklungen hinaus vom Zerfall des Römischen Reiches, über die Bildung neuer Reiche und der Konzeption einer hierarchischvertikalen Ordnung im Mittelalter unter Kaiser und Papst, bis zu der Entstehung der zwischenstaatlich-horizontalen Ordnung in der Frühen Neuzeit. Erst in der Französischen Revolution wurde ab 1792 das Christentum verdrängt und ein säkularer zivilreligiöser Kult des „Höchsten Wesens" eingeführt. Zwar betraf das nur Frankreich und es gab auch dort schon sehr bald seine Restauration. Aber allein die Tatsache, dass dies bei der „ältesten Tochter der Kirche" möglich gewesen war, stellte einen fundamentalen Bruch mit der Herkunft, dem „ancien régime", dar, mit Wirkungen auch für das Völkerrecht. 56 Das Christentum unterscheidet jedoch inhaltlich von Anfang an grundlegend zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre. Bereits in der Erzählung vom Zinsgroschen unterschied Jesus zwischen dem, was Gottes, und dem, was des Kaisers ist. 57 Der Glaube an Jahwe und seine Weisungen, also Religion, ist kein Grund, dem Kaiser als weltlichen Herrscher die weltlichen Steuern zu verweigern. Der griechische Kirchenlehrer Origines unterschied im dritten Jahrhundert das geistliche Schwert und das weltliche Schwert. Papst Gelasius I. (492-496) schrieb an Kaiser 56 Allgemein zu diesem Bruch durch die französische Revolution Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, 1957; zuletzt wieder in: ders., Metaphysik und Politik, erw. Neuausgabe 2003, 183 ff. 57 Mat. 22, 15-22.

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Anastasios /., „Zwei sind es ja, erhabener Kaiser, von denen die Welt vornehmlich geleitet wird, die geheiligte Kraft des bischöflichen Ansehens und die herrscherliche Gewalt." 58 Der lateinische Kirchenlehrer Augustinus unterschied um 400 zwischen zwei geistigen Reichen, der endgültigen himmlischen civitas divina und der weltgerichteten, zeitlich-irdischen, sündhaften civitas terrena. Auf Erden mischen sie sich in den Menschen und ihren irdisch-politischen Reichen, die mal stärker das eine mal stärker das andere Element verwirklichen. Die Christen sind in ihnen auf der Pilgerschaft zur Vereinigung in der endgültigen, aber erst jenseitigen Gemeinschaft. 59 Mit diesem inhaltlichen Dualismus von geistlich-religiöser und weltlicher Sphäre stellte sich die gegenüber der antiken Situation einer monistischen Struktur völlig neue Problematik der näheren Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander. Sie war vor allem im lateinischen Westen des alten Reiches, auf den ich mich im Folgenden beschränken werde, zunächst eine inhaltliche Frage. Da sich die religiöse Sphäre zunehmend eigenständig und unabhängig von den politischen Mächten in der einen römischen Kirche institutionalisierte und organisierte und sich im Gefolge im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts von der Dominanz der weltlichen Gewalt löste, wurde sie auch eine institutionelle Frage. Die ZweiSchwerter-Lehre war die grundlegende Antwort.

II. Religion und Zwischen-Mächte-Beziehungen bei Karl dem Großen Der inhaltliche Dualismus verhinderte allerdings zunächst nicht, dass ein fast symbiotisches Verhältnis unter einer gewissen Dominanz der weltlichen, nunmehr christlichen Herrscher entstand. Denn diese nahmen von Konstantin bis zu Karl dem Großen für sich in Anspruch, auch über Fragen des Glaubens und des Kultes jedenfalls mitzuentscheiden, indem sie Konzilien einberiefen und deren Beschlüsse sanktionierten, innere Kirchenorganisationen durchzuführen, Bischöfe ein- und abzusetzen etc. Sowohl von seinem eigenen Herrscherverständnis her als auch in seinem praktischen Handeln begriff sich Karl der Große als rex et sacerdos. 60 Das konnte auch zu erheblichen Zwischen-Mächte-Verwicklungen führen. Karl der 58 59

Text (Auszug) bei Grewe (Anm. 12), 274.

Aurelius Augustinus, De civitate Dei libri X X I I , 1928, Nachdruck 1981, dt. Vom Gottesstaat, 1955, Nachdruck 1977 f.; dazu Emilien Lamirande, Art. Civitas Dei, in: Cornelius Mayer (Hrsg.), Augustinus-Lexikon, Bd. 1, 1986-1994, 958 ff.; Ernst-Wolf gang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Antike und Mittelalter, 2002, 203 ff. 60 Arnold Angenendt, Karl der Große als rex et sacerdos, in: Rainer Berndt (Hrsg.), Das Frankfurter Konzil von 794, 2 Bde., 1997, Bd. 1, 255-278.

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Große nahm um 790 den von den oströmischen Kaisern Leon III. und Konstantin V. im achten Jahrhundert ausgehenden Streit um die Verehrung der Bilder Jesu und der Heiligen 61 zum Anlass, in den so genannten Libri Carolini einerseits die von den oströmischen Kaisern in Anspruch genommene religiöse und weltliche Stellung einer scharfen Ablehnung zu unterziehen, andererseits aber auch seinerseits zu dem Streit um die Verehrung der Bilder Stellung zu nehmen und dies auf einem Konzil in Frankfurt 794 sanktionieren zu lassen.62 Auch in mehreren brieflichen Zeugnissen an König Offa von Mercien und an die oströmischen Kaiser Nicephorus und Michael 1. legte Karl der Große seine Grundposition dar, dass die christlichen Glaubenssätze das Handeln der Könige oder Herrscher untereinander zu bestimmen haben. 794 schrieb er an Offa: „Es ist üblicherweise für viele von Nutzen, wenn zwischen königlichen Majestäten und höhergestellten Persönlichkeiten des Diesseits, die durch einmütigen Frieden verbunden sind, die Rechte der Freundschaft und der Eintracht der christlichen Nächstenliebe frei gehalten werden von den niedrigsten Regungen des Herzens." 63 Vor allem mit „Eintracht" (concordia) und „Nächstenliebe" sind religiöse christliche Kernaussagen zum Maßstab der Beziehungen zwischen Königen gemacht. In den Briefen an die beiden Kaiser in Konstantinopel berief sich Karl ausdrücklich und nachdrücklich auf die göttliche Gnade, die Vermittlung und Hilfe für den Frieden zwischen ihnen. Die Erlösung von den Bedrohungen des Todes durch Jesus Christus sei die Grundlage dafür, „das, was wir auf seine Veranlassung hin beginnen, zu einem ehrenvollen und nützlichen Ende und Abschluss zu bringen". 64 Frieden ist also eine Gabe Gottes und hat ihren eigentlichen Grund in der Gemeinschaft des Glaubens. In der Praxis wurden Verträge in feierlicher Form mit Eiden und religiösen Ritualen abgeschlossen. Der bedeutendste Vertrag der Epoche, der Friedensvertrag zwischen Karl dem Großen und Michael I. von 812, wurde nach seiner schriftlichen Abfassung von Karl und seinen Großen unterschrieben, dann in einer religiösen Zeremonie auf dem Altar der Pfalzkirche in Aachen niedergelegt, von dort aufgenommen und den Gesandten des oströmischen Kaisers überreicht. Diese gingen damit nach Rom, wo Papst Leo III. eine ähnliche Zeremonie vornahm. 65 Die Quellen erwähnen keine Eide. Für die Bedeutung der religiösen 61

Johannes Irmscher (Hrsg.), Der byzantinische Bilderstreit, Leipzig 1980.

62

Hubertus Bastgen, Libri Carolini sive Caroli Magni Capitulare de imaginibus, Monumenta Germaniae Historica (MGH), Legum Sectio III, Concilia t. 1 suppl. 1924; Marie-France Anzépy, Francfort et Nicée II, in: Berndt (Anm. 60), Bd. 1, 279-300; Hans G. Thümmel, Die fränkische Reaktion auf das 2. Nicaenum in den Libri Carolini, ebd., Bd. 2, 965-980. 63 MGH, Epp. IV, 144. 64

MGH, Epp. IV, 546; 555.

65

Annales Regni Francorum auf das Jahr 812; Brief Karls an Michael /. (Anm. 64).

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Rituale ist der begleitende Brief Karls an Michael /. aufschlussreich. Karl bittet, dass der oströmische Kaiser die von ihm und seinen Großen unterschriebene griechische schriftliche Fassung des Vertrages, den er danach auch von einem Altar aufheben möge, durch Karls Gesandte an diesen zurücksende. Maßgebend waren also die Unterschriften. Die Rituale traten danach zu diesen hinzu und sollten den Vertrag unter den Schutz Gottes stellen, bildeten aber nicht selbst den verbindlichen Rechtsakt. Das unterscheidet sie funktional grundsätzlich von den Ritualen nach ius fetiale. Im Gesandtschaftswesen fehlten religiöse Elemente. Zwar wurden häufig Bischöfe zu Gesandten bestellt. Aber das gab ihnen anders als den Fetialen keinen besonderen geheiligten Charakter. Sie standen zwar unter rechtlichem Schutz. Aber dieser war weltlicher Art und beruhte im fränkischen Herrschaftsbereich auf dem Königsfrieden. 66 Auch für Kriege galten zwar keine religiösen Rituale. Aber sie waren noch eng mit dem religiös-christlichen Auftrag des Königs oder Kaisers verbunden. So stand institutionell-organisatorisch der einheitlichen geistlich-papstkirchlichen Sphäre eine plurale weltliche Sphäre gegenüber. In einem Brief an Papst Leo III. zu dessen Erhebung auf den Stuhl Petri erneuert Karl das Bündnis mit dessen Vorgänger Hadrian, dessen Inhalt er so formuliert: „Unser Anteil ist, mit der Unterstützung des göttlichen Wohlwollens die heilige Kirche Christi auf allen Seiten vor dem Ansturm der Heiden und vor der Verwüstung durch die Ungläubigen nach aussen zu schützen, und im Inneren die Geltung des katholischen Glaubens zu sichern. Euer Anteil, heiligster Vater, ist, mit Mose die Hände zu Gott zu erheben und unser Heer zu unterstützen, so dass auf Euer Einschreiten hin das Christenvolk mit Gott als Führer und Geber überall und immer den Sieg über die Feinde seines heiligen Namens davonträgt, und der Name unseres Herrn Jesus Christus auf der ganzen Welt verherrlicht wird." 67 In der Praxis wurden nach dem Bericht der Reichsannalen vor dem Zug gegen die Avaren 791 in Regensburg drei Tage lang Bittgänge veranstaltet und Messen gelesen, „so suchten sie Gottes Trost zu bekommen für die Rettung des Heeres und die Hilfe unseres Herrn Jesus Christus und für den Sieg und für die Rache an den Avaren". 68 Das Handeln Karls bezog auch nach außen seine Impulse und Leitlinien aus der Grundlage des Christentums und musste sich daran legitimieren. Aber auch der Verteidigungskrieg für die 66 François Louis Ganshof, Le moyen-âge. Histoire des relations internationales, (Pierre Rouvain ed.), Bd. 1, 2. rev. Aufl. 1958; ders., Merowingisches Gesandtschaftswesen, in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag, 1960, 166-183. 67 MGH, Epp. IV, 136. 68 Annales Regni Francorum, ad a. 791.

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Kirche wurde nicht zu einem heiligen oder frommen Krieg, sondern blieb in der weltlichen Sphäre.

I I I . Respublica Christiana Hatte sich die religiös-geistliche Sphäre in der einen einheitlichen Papstkirche organisiert, so gliederte sich die weltliche Sphäre institutionell-organisatorisch mehr und mehr in einem Pluralismus von Herrschaftsverbänden. Denn bereits im 9. Jahrhundert zerfiel das karolingische Großreich. Zwar gelang es den ostfränkischen, dann deutschen Königen seit Otto dem Großen, die Kaiserwürde endgültig an die deutsche Krone zu binden und auch die italienische und dann die burgundische Krone mit ihr zu vereinen. Aber das westfränkische Königreich blieb selbständig, und zudem bildeten sich im Norden, Westen, Süden und Osten mehr und mehr eigenständige, voneinander und vor allem vom Kaiser weitgehend unabhängige regna heraus. Herrschaftsbefugnisse übte dieser nur in seinen drei regna und dort aus, wo ihm als Lehnsherr Herrschaftsrechte zustanden, aber nicht in den anderen regna. So musste nicht nur das inhaltliche wie institutionelle Verhältnis zwischen Päpsten und weltlichen Herrschern, allen voran dem Kaiser geklärt werden. Es musste auch für die Beziehungen zwischen den weltlichen Mächten eine normative Ordnung konzipiert und praktisch geübt werden. Da alle christlichen Herrschaftsverbände des Abendlandes in dem einen christlichen, katholischen Glauben übernational vereinigt waren, bildete selbstverständlich eben diese religiöse Einheit die allgemeine inhaltliche Grundlage auch für die normative Ordnung ihrer politisch-rechtlichen Beziehungen untereinander. Für diese Ordnung wurden auch die Begriffe christianitas, respublica Christiana u.ä. verwendet. 69 Aber diese konstituierte keine einheitliche Herrschaftsorganisation. 70 Die Grundkonzeption der mittelalterlichen Ordnung der christlichen Welt, d.h. aber des Abendlandes, bestand in einem hierarchischen Aufbau, in dem jeder an seiner Stelle die ihm zustehenden Herrschaftsbefugnisse innehatte. An der Spitze standen Kaiser und Papst. Die respublica Christiana oder christianitas war also weder mit dem Reich noch mit der Kirche identisch. Sie bezeichnen vielmehr im Kern eine vornehmlich geistig-religiöse Einheit aller Christen und christlichen Herrschaften, die die einzelnen selbständigen Herrschaftsverbände gemäß ihrer jeweiligen Stellung in dem christlichen Gesamtordo zusammenfasste. Daher eignete sich der Begriff auch noch in einer Zeit, als einerseits in der Reformation die papstkirchliche Einheit zerfallen und andererseits die Herrschaftsverbände zu gleichgeordne69

Nachweise bei Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1. Aufl. 1984, 77 f., mit weiterführender Literatur, auch zur Begriffsgeschichte. 70 Grewe (Anm. 69), 69 ff., 76 ff.

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ten, frühmodernen, aber nach wie vor christlichen Staaten herangewachsen waren, wenn er auch seinen Inhalt wandelte.71 Damit musste auch das Verhältnis der nunmehr einzigen, zudem kirchlich institutionalisierten christlichen Religion zum Zwischen-Mächte-Recht, oder „Völkerrecht" der Zeit, neu bestimmt werden. Das galt umso mehr, als es innerhalb dieser respublica Christiana stets erhebliche Herrschaftskonflikte gab, die auch immer wieder in Kriegen ausgetragen wurden.

IV. Geistliche und weltliche Gewalt nach dem Investiturstreit Bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts stand der Kampf um die Klärung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt in der respublica Christiana im Vordergrund. Nach dem ersten Schritt zur Trennung der beiden Gewalten zugunsten der päpstlichen Hoheit über die geistlich-kirchliche Sphäre machten die Päpste in Auseinandersetzungen zunächst mit den Kaisern und nach dem Ende der Staufer mit den französischen Königen mehr und mehr den Anspruch geltend, kraft ihrer geistlichen Autorität auch eine potestas indirecta und mit dieser eine gewisse Suprematie in weltlichen Angelegenheiten ausüben zu können. 72 Sie versuchten, eine Position des Vorranges der geistlich-religiösen Gewalt aufzubauen, die sie theoretisch unter anderem durch eine Veränderung des Inhaltes der ZweiSchwerter-Lehre untermauerten. Christus habe beide Schwerter, das geistliche wie das weltliche, an Petrus übergeben; dieser übergebe dann das weltliche Schwert an den Kaiser bzw. die Könige weiter. 73 In der Bulle „Ausculta fili" von 1301 betonte Bonifatius VIII. gegenüber Philipp IV. von Frankreich, dass auch er einen Höheren, nämlich den „höchsten Hierarchen der kirchlichen Hierarchie", d.h. den Papst, über sich habe, der von Gott „über Könige und Königreiche gesetzt" sei. Wer das nicht anerkenne, sei „als Ungläubiger überführt und gehört nicht zur Herde Gottes". 74 Das klang sogar nach Inanspruchnahme einer universellen potestas directa, aber aus religiösen Gründen. Mit einer päpstlichen Suprematie wäre das vom Papst ausgehende religiös-kirchliche kanonische Recht auch für die Zwischen-MächteBeziehungen der Zeit zum letztlich maßgebenden Recht geworden. Mit dem wenige Jahre danach beginnenden Avingoneser Exil der Päpste ab 1309 wurde der Kampf zugunsten der weltlichen Macht entschieden. So setzte der Ausgang dieses Streites in einem zweiten Schritt endgültig die Trennung weltlicher und geistlicher Gewalt zugunsten der weltlichen Gewalt durch. Das war auch von entscheidender 71

Unten, E . V .

72

Die Literatur dazu ist kaum überschaubar, u.a. Walter Ulimann, The Growth of Papal Government in the Middle Ages, 2. Aufl. 1961; Grewe (Anm. 69), 60 ff. 73 Bonifatius Vili, Bulle „Unam Sanctam", 1301; Grewe (Anm. 12), 304. 74

Ebd.

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Bedeutung für das Recht der Zwischen-Mächte-Beziehungen. Die Päpste verloren ihre geistliche Hoheit nicht, aber ihre religiös-geistliche Dominanz innerhalb der respublica Christiana trat wieder zurück. Zwar blieb der christliche Inhalt des Rechts gewahrt, aber die weltlichen Interessen der Herrscher traten deutlicher hervor, verselbständigten sich und veränderten damit nicht nur die politischen Inhalte, sondern auch allmählich die Struktur der christianitas oder respublica Christiana. 15

V. Verselbständigung des Völkerrechts Um eben diese Zeit begann das Völkerrecht, sich als ein besonderes Recht eines besonderen Bereiches der weltlichen Sphäre, des Zwischen-Mächte-Bereiches oder der „internationalen Beziehungen" der Zeit, d.h. zwischen den christlichen Herrschaftsverbänden und dann zwischen den sich heranbildenden frühmodernen Staaten, herauszubilden, 76 für das die christlich-religiösen Glaubensbezüge zwar noch Inhalte bestimmen, aber nicht mehr fundierend und konstituierend sind. Diese Fundierung liegt, wie gerade Thomas von Aquin sehr deutlich macht, vielmehr in der Naturrechtslehre, aber auch in menschlicher Setzung.77 Es knüpfte zum einen an die antike Lehre vom Naturrecht und vom ius gentium an, die über Augustin und vom Decretum Gratiani überliefert waren. Zum anderen wurden die im 11. Jahrhundert wieder entdeckten Digesten Kaiser Justinians, also das heidnische Römische Recht, auch für das Recht zwischen den Mächten Bezugsquelle. Die Lehre griff somit auf die vorchristliche Zeit zurück. Thomas von Aquin, der einen Weltherrschaftsanspruch der Päpste ablehnte, nahm zum Ausgangspunkt seiner Lehre des Naturrechts Aristoteles und Augustinus und des ius gentium Ulpian und Gaius. 78 Bartolus de Sassof errato und Baldus de Ubaldus

75

Josef Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica Christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 3, 1971, 1 ff.; zuletzt Heinz Schilling, Die neue Zeit - Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750, 1999; aus der älteren Literatur nach wie vor lesenswert Friedrich August v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952. 76 Dazu Heinhard Steiger, Art. Völkerrecht, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, 1992, 97-140 (108 ff.). 77 Summa Theologica, II. Buch, II. Teil, Frage 57, Art. 3, Albertus Magnus Akademie Bensberg (Hrsg.), Deutsche Thomas-Ausgabe (lat./dt.), Bd. 18,7 ff., dazu Kommentar von Arthur Fridolin Utz, ebd., 434 ff. 78 Summa Theologica (Anm. 77), II-II, 57, Art. 2 und 3.

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kommentierten die einschlägigen Digestenstellen.79 Beide Zweige fügten zwar christliche Grundlagen und Elemente ein und hinzu. Das weltliche Völkerrecht löste sich keineswegs inhaltlich von den religiösen Grundlagen. Auch bestanden in dieser Zeit weiterhin enge Verbindungen zum kanonischen Recht, insbesondere durch das Institut des Eides; denn kraft ihrer Binde- und Lösegewalt konnten sich die Päpste von Vertragseiden lösen.80 Aber es entstand eine eigene Völkerrechtslehre unterschieden von der Lehre anderer Rechtsdisziplinen, die neben den naturrechtlichen allgemeinen Lehren seit dem 14. Jahrhundert in einer reichen, wenn auch speziellen Traktatiiteratur das Recht der Verträge, das Recht der Gesandten und das Recht des Krieges behandelte. Zwar hielt diese Lehre an den Rückbindungen an die religiös-christlichen Grundlagen fest. Aber sie konzentrierte sich mehr und deutlicher auf die Bewältigung der weltlichen Probleme der Ordnung zwischen den sich verstaatlichenden Herrschaftsverbänden.

VI. Die Lehre vom gerechten Krieg Allerdings ist das ein langwieriger Prozess. Das wird in der Lehre vom gerechten Krieg sehr deutlich. Das Mittelalter war in höchstem Masse kriegerisch, zumal die Fehde sich als eine kriegerische Form der Rechtsdurchsetzung etablieren konnte.81 Krieg schien aber mit christlichem Glauben nicht vereinbar. Vor allem das Tötungsverbot und das Gebot der Feindesliebe schienen durch Krieg verletzt. Daher musste eine Kriegslehre auf religiös-christlicher Grundlage gefunden werden. Ansatz der Frage war also ein religiöses Problem, nämlich ob Herrscher, Feldherren und Soldaten, die Krieg führten, in Sünde lebten, also ihr Seelenheil verlören, und wie sie vielleicht gerettet werden könnten. Das religiöse Anliegen also ist der Ursprung der Lehre vom bellum iustum bereits bei Augustinus und dann bei Thomas von Aquin.* 2

79

Zur Rezeption des römischen Rechts im Völkerrecht u.a. Heinhard Steiger, Art. Völkerrecht, in: Manfred Landfester (Hrsg.), Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15/3, 2002, Sp. 1043-1049. 80 Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1997. 81 82

Otto Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. 1965, 1 ff.

Zu Augustinus Marie-François Berouard, Art. bellum, in: Augustinus-Lexikon (Anm. 59), Bd. 1, Sp. 638-645; Thomas von Aquin, vor allem Summa Theologica (Anm. 77), I., II., Frage 40, die im Gesamtkontext „Sünde" steht, Thomas-Ausgabe (Anm. 77), Bd. 12; dazu Gerhard Beestermöller, Thomas von Aquin und der gerechte Krieg, 1990; ders., Die Idee des „gerechten Krieges" als Friedensethik? in: Thomas Bruha/

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Krieg war nach dieser Lehre als ultima ratio zulässig, musste aber drei Voraussetzungen erfüllen: Eine zuständige Autorität musste ihn führen, eine justa causa musste zugrunde liegen und die recta intentio, den Frieden wiederherzustellen, musste ihn leiten. Eine iusta causa konnte grundsätzlich nur auf einer Seite liegen. Die theologische Rechtfertigung erfolgte konsequent in erster Linie aus dem Alten und trotz dem Gebot der Feindesliebe auch aus dem Neuen Testament. Ab dem 14. Jahrhundert traten die Kommentatoren in die Diskussion ein, z.B. Bartolus. Sie orientierten sich an dem weltlichen Text der Digesten, übernahmen aber in dessen Kommentierung zur Rechtfertigung eines Krieges die theologischen Rechtfertigungen, 83 denn die Digesten selbst enthalten dazu nichts. So wurden aus religiösen Normen weltlich-rechtliche Normen. Zwei religiöse Gründe konnten eine iusta causa darstellen: der Kampf gegen Häretiker und der Kampf gegen Ungläubige, insbesondere die Rückeroberung des Heiligen Landes.84 Häresie störte nicht nur die religiöse, sondern auch die weltliche Ordnung, die die Einheit der religiösen Ordnung voraussetzte. Solche Häretikerkriege waren im 13. Jahrhundert der Krieg der französischen Könige gegen die Katharer in Südfrankreich, 85 im 15. Jahrhundert der Kampf gegen die böhmischen Hussiten86 und, zweifellos am folgenschwersten gerade auch für die Loslösung des Völkerrechts von religiösen Grundlagen, die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts nach der lutherischen und dann der calvinistischen Reformation. In all diese Kriege mischten sich selbstverständlich auch sehr weltliche machtpolitische Interessen der beteiligten Herrscher in Frankreich, im Reich. Aber die religiösen Gründe waren nicht nur vorgeschoben, sondern bewegten die Menschen der Zeit, für die anders als heute die Suche nach einem religiös wahren Leben um ihres Heiles willen im Zentrum der Lebensgestaltung stand. Schon Karl der Große hatte in seinem Brief an Leo III. den Verteidigungskrieg gegen Ungläubige als seine Aufgabe genannt. 1095 auf dem Konzil von ClermontFerrand rief Papst Urban II. zum ersten Kreuzzug zur Befreiung der heiligen Stätten, „die jetzt schmählich und ehrfurchtslos durch den Schmutz der Unreinen

Sebastian Heselhaus/Thilo Marauhn (Hrsg.), Legalität, Legitimität und Moral - Können Gerechtigkeitspostulate Kriege rechtfertigen?, 2005, i. Dr. 83 Bartolus de Sasso/errato, Commentarla in secundam digesti (Secunda Bartoli super digesto nuovo), in: Opera, 9 Bde., Bd. 4, Lyon 1547, Höstes, 236 (Rückseite) ff. 84 Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, 187 ff.; Grewe (Anm. 69), 73 f. 85 Dazu Michel Roquebert, Histoire des Cathares, Hérésie, Croisade, Inquisition du Xle au XlVe siècle, 1999 (Zusammenfassung einer 5-bändigen Untersuchung, 1970-1998). 86 Dazu Heinrich Koller, Kirchenspaltung und Krise in Böhmen, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2, 1987, 433 ff.

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besudelt werden", von den Ungläubigen auf. Geistliche, u.a. Bernhard von Clairvaux predigten mit Nachdruck und großer Überzeugungskraft die Kreuzzüge als religiös begründete Pflicht der christlichen Adeligen. 87 Weder der Kaiser noch Könige waren zunächst daran beteiligt. Die Päpste waren offenbar die zuständige Autorität für die Ausrufung eines Kreuzzuges, auch wenn sie stets von anderen, auch Kaisern und Königen, tatsächlich geführt wurden. Die Päpste setzten auch kirchliche Wohltaten, wie Nachlass der Sündenstrafen, für die Teilnahme am Kreuzzug aus. Aber Kriege zur gewaltsamen Bekehrung der Ungläubigen waren nach übereinstimmender Lehre bis in die Frühe Neuzeit nicht zulässig, obwohl der Missionsauftrag zu den Verpflichtungen auch der Herrscher gehörte.

VII. Praxis zwischen christlichen Herrschern Die Praxis musste deutlicher noch als im Frühmittelalter den Dualismus der beiden Sphären zugrunde legen. Davon ging auch der „Gottesfrieden" aus, durch den die Ortskirchen versuchten, die vielen Fehden und Kriege zurückzudrängen. Dieser bestand in einem beschworenen Frieden für einige Tage oder bestimmte Zeiten zwischen Adligen, Städten etc. einer Region unter der Leitung eines Bischofs, der seine geistliche Gewalt zur Garantie und Durchsetzung einsetzte. Dabei spielte der gemeinsame Eid aller Partner eine zentrale Rolle, aber auch das Bußsakrament. Aber die „Verweltlichung" zeigte sich darin, dass an seine Stelle mehr und mehr der von den weltlichen Mächten vereinbarte und mit weltlichen Mitteln, u.a. dem Ausbau weltlicher Gerichtsbarkeit gesicherte und durchgesetzte „Landfrieden" trat. 88 Die christlichen Herrscher praktizierten untereinander Frieden und Krieg stets auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Die christlichen Begriffe pax, iustitia, concordia , Caritas und amicitia wurden ständig als handlungsleitende Maßstäbe genannt. Die Verträge begannen grundsätzlich mit der Invocatio Sanctae Trinitatis; Präambeln der Verträge, insbesondere der kriegsbeendenden Friedensverträge, verwiesen häufig auf Gott, der einerseits durch den Krieg habe strafen 87

Textauszüge in: Grewe (Anm. 12), 242 ff. Zu Bernhards Predigten von 1146 Peter Dinzelbacher, Bernhard von Clairvaux, 1998, 284 ff. Zur Geschichte der Kreuzzüge u.a. Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, 9. Aufl. 2000. 88

Viktor Achter, Art. Gottesfrieden, in: Georg Erler (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1. Aufl. 1971, Sp. 1762-1765; Ekkehard Kaufmann/Heinz Holzhauer, Art. Landfrieden, ebd., Bd. 2, 1. Aufl. 1978, Sp. 1451-1485; Elmar Wadle, Landfrieden, Strafe, Recht, 2001; Heinhard Steiger, Friede in der Rechtsgeschichte, in: Wolfgang Augustyn (Hrsg.), Pax. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens, 2003, 11-62 (18 ff.).

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wollen, durch dessen Gnade aber andererseits die Herzen der Fürsten zum Frieden geneigt gemacht wurden, der stets als Gabe Gottes angesehen wurde. 89 Religiöse Rituale, wie der gemeinsame Besuch von Gottesdiensten mit Empfang der Sakramente, der Austausch von Brüderküssen 90 und die Beeidigung des Vertrages durch die Partner auf dem Kreuz, dem Evangelium und Reliquien der Heiligen, 91 prägten nach wie vor den Abschluss von Verträgen. Aber der Eid war nicht obligatorisch. Die Verbindlichkeit eines schriftlichen Vertrages beruhte nicht auf ihm, sondern auf der Unterschrift bzw. später der Ratifikation; denn Verträge zwischen christlichen Herrschern waren weltliches Recht. Das galt auch für die Verträge der Päpste in weltlichen Angelegenheiten. Die christliche Religion hatte inhaltliche, aber keine konstituierende Bedeutung.

VIII. Praxis gegenüber nicht-christlichen Mächten Das Verhältnis zu Nicht-Christen, d.h. Muslimen, war unter religiösen Aspekten kompliziert und in Theorie und Praxis zwiespältig. Nicht nur im Kriegsrecht, auch im Vertragsrecht führten die religiösen Gegensätze bei manchen Autoren zu einer Ablehnung ihrer Rechts- und Vertragsfähigkeit. 92 Papst Gregor IX. kritisierte Kaiser Friedrich II., weil dieser, der sich zudem im Kirchenbann befand, 1229 Jerusalem auf seinem zur Lösung vom Bann gelobten Kreuzzug durch einen Vertrag mit Sultan El-Kamil zurückgewann, aber dafür auch den Muslimen bestimmte Rechte einräumen musste.93 Aber in der Praxis sah das anders aus, insbesondere nachdem die Türken immer mehr im Mittelmeer vordrangen. So machte zwar das Vorhaben eines Vertrages Franz L mit Suleiman dem Prächtigen von 1535 Skandal in ganz Europa, zumal er gegen Karl V., d.h. den christlichen Kaiser, gerichtet zu sein schien. Aber schon viel länger hatten Venedig und wohl auch Genua Handelsverträge mit politischen Inhalten mit den Sultanen abgeschlossen. Wir sind damit aber schon in einer neuen Epoche des Völkerrechts der Christenheit. Allerdings wurden die Verträge, auch der von 1229, auf eine bestimmte Zeit abgeschlossen, standen so in gewisser Weise zwischen Waffenstillstand und 89

Heinhard Steiger, Präambeln zu Friedensverträgen der Vormoderne, i.V.

90

Claudia Garnier, Zeichen und Schrift, in: Frühmittelalterliche Studien, Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Bd. 32, 1989, 263 ff. Zur Bedeutung von Ritualen im Mittelalter Gerd Althoff, Die Macht der Rituale, 2003. 91 Zu Eiden bei Verträgen Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter, 1989, 168 ff. 92 Grewe (Anm. 35), 75; Ziegler (Anm. 6), 97 f. 93 Carolus Rodenberg (Hrsg.), Briefe Georgs IX., MGH, Epistolae saeculi X I I I e regestis pontificum Romanorum selectae, 1894, Nachdruck 1982, Bd. 1, Nr. 390, 308 f., Nr. 397, 315 ff.

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Friedensvertrag. Aber auch zwischen christlichen Mächten wurden Friedensverträge häufig auf Lebenszeit der Partner befristet.

E. Christentum und Völkerrecht in der Frühen Neuzeit I. Grundlegungen Die Lockerung des sich verselbständigen Völkerrechts von einer zu engen Bindung an die christlich-religiösen Glaubensinhalte setze sich in Theorie und Praxis vom 16. Jahrhundert an beschleunigt fort. Drei Vorgänge waren dafür maßgebend: die Begegnung mit nicht-christlichen Völkern in Amerika und nunmehr vertieft in Asien durch die Entdeckung der Seewege im 15. Jahrhundert; der Bruch der christlich-inhaltlichen Einheitlichkeit und in dessen Folge der kirchlichinstitutionellen Einheit in der Reformation im 16. Jahrhundert; die Aufklärung ab dem 17. Jahrhundert, die im 18. Jahrhundert zunehmend auch anti-religiöse und vor allem anti-kirchliche Züge annahm. Alle drei Vorgänge führten zu einer Zunahme der kulturellen und religiösen Pluralität in einer sich auch politisch auf der Grundlage der Herausbildung der souveränen Staaten neu organisierenden Welt. Das Verhältnis von Religion und Völkerrecht musste wiederum neu bestimmt werden. Da das einerseits ein dringendes praktisches Problem darstellte, anderseits in dieser Zeit das „Völkerrecht" im modernen Sinn eines Rechts zwischen staatlichen Herrschaftsverbänden als solches auch wissenschaftlich begriffen und immer intensiver bearbeitet wurde, 94 wurde auch dieses Verhältnis nunmehr als solches in der Lehre reflektiert. Das Christentum blieb auch in seinen konfessionellen Spaltungen, zu denen die russisch-orthodoxe Ausprägung des Christentums trat, in der gesamten Epoche die grundlegende religiöse Ausrichtung der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ordnungen der sich herausbildenden Staaten Europas und der Ordnung ihrer Beziehungen untereinander. Aber unter dem Einfluss der Aufklärung trat es mehr und mehr in den Hintergrund und wurde von der religiösen Grundlage zu einem Element der allgemeinen kulturellen Einheit. 95 Gegenüber fest etablierten und organisierten nicht-christlichen Mächten, d.h. nach wie vor der Türkei, aber auch gegenüber den asiatischen Mächten, reduzierte sich die christliche Ausrichtung auf das Recht und vor allem die Zulassung zur Mission bei den Einwohnern und den Schutz der eigenen christlichen Religions-

94

Steiger (Anm. 76), 108 ff.

95

Grewe (Anm. 69), 332 ff.

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ausübung der christlichen See- und Kaufleute. Beides musste, jedenfalls zunächst, von den asiatischen Herrschern in einem Vertrag oder, und das war die Regel, durch einseitigen Akt von ihrer Seite bewilligt werden. 96 Für Amerika und im Lauf der Zeit auch für einige Gebiete in Asien und Ozeanien stellte sich die Frage, ob das Christentum Eroberung und Unterwerfung der indianischen Mächte unter vor allem spanische Herrschaft forderte oder doch rechtfertigte.

II. Völkerrechtslehre Die weitere Verselbständigung des Völkerrechts gegenüber seinen religiösen Grundlagen wird vor allem darin sichtbar, dass sich, hinausgreifend über die spezielle juristische Traktatliteratur, ab dem 16. Jahrhundert eine systematische, allgemeine, naturrechtlich-juristische Völkerrechtslehre entwickelte, die sich von der theologisch-naturrechtlichen Lehre der Scholastik und Spätscholastik mehr und mehr emanzipierte und sich später in einer positiv-rechtlichen Völkerrechtslehre von diesen Grundlagen völlig löste.97 Zwar knüpfte die juristische Völkerrechtslehre an die traditionelle scholastische, theologische Naturrechtslehre an, wie sie in der spanischen spätscholastischen Lehre von Francisco de Vitoria und seinen Nachfolgern bis zu Francisco Suarez ausgeformt worden war. Aber schon diese hatte weitgehend auf eine religiös-christliche Fundierung verzichtet, sondern auf der menschlichen Vernunft aufgebaut. Die Aufklärung verstärkte diesen Strang bis in das 18. Jahrhundert. Hugo Grotius leitete das Völkerrecht aus dem natürlichsozialen Wesen der Menschen, also der aristotelischen Bestimmung des Menschen als animal sociale, ab, und fügte hinzu: „Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch dann Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere." 98 Die nachfolgende Natur-

96

Dazu Heinhard Steiger, Recht zwischen Europa und Asien im 16. und 17. Jahrhundert?, in: Klaus Bußmann/Elke Werner (Hrsg.), Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, 2004, 95-118. 97 Die ersten Hauptwerke sind Gentiii (Anm. 4); Hugo Grotius, De iure belli ac pacis., dt. hrsg. und übersetzt von Walter Schätzel, Vom Recht des Krieges und des Friedens, 1950; dazu Steiger (Anm. 76), 112 ff.; ders., Das „ius ad bellum" in der Völkerrechtsgeschichte - universelle Geltung oder Beschränkung auf „anerkannte Kulturvölker"?, in: Bruha/Heselhaus/Marauhn (Anm. 82). 98 Grotius (Anm. 97), Prolegomena § 11, 33. Grotius nimmt damit allerdings eine These Gregors von Rimini aus dem 14. Jahrhundert (gest. 1358) Jahrhundert auf, der das Naturrecht als vernunftbegründete lex indicativa im Unterschied zur göttlich gesetzten lex

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rechtslehre wurde auch in ihrer völkerrechtlichen Dimension auf der Grundlage einer innerweltlichen, vernunftrechtlichen, wissenschaftlichen Methode entwickelt. So lautete die Titel der Darstellung des naturrechtlichen Völkerrechts des Hallenser Philosophen Christian Wolff von 1749 „Jus gentium methodo scientifica pertractatum". Die wissenschaftliche Methode aber war eine mathematisch-geometrische Methode. Diese Zuspitzung mochte sich nicht überall finden. Aber das Naturrecht und das daraus abgeleitete Völkerrecht wurden zum innerweltlichen Recht. Eben dadurch sollte es universalisierbar werden, unabhängig von der christlich-religiösen Grundlegung Europas. Es war grundsätzlich für die Beziehungen zwischen allen Völkern, Herrschern und Herrschaftsverbänden ohne Rücksicht auf Religion, Zivilisation und selbst rechtlich-politische Organisation im Sinne europäischer Staatlichkeit anwendbar. Pufendorf wandte sich zudem, anders als Bacon, auch ausdrücklich gegen Unterschiede auf Grund der Zivilisation." Allerdings löste sich das vernunft-naturrechtliche Völkerrecht inhaltlich keineswegs von christlichen Grundsätzen. Vattel betonte im 18. Jahrhundert nachdrücklich die wenn auch „unvollkommene", d.h. nicht einklagbare Pflicht zur Solidarität der Völker untereinander. 100 Die Rückbindung verlagerte sich im 18. Jahrhundert inhaltlich allmählich von der Ebene des Rechtes auf die Ebene der Moral, von der des äußeren Handelns auf die des Gewissens. Denn auch für das Völkerrecht vollzog sich nicht nur die Unterscheidung, sondern die Trennung von Recht und Moral, die vielleicht folgenreichste Entwicklung der Normativität in der Neuzeit überhaupt. Das schlug sich vor allem in der Kriegslehre nieder.

III. Kriegslehre Gentiiis Ausruf von 1588, silete theologi in munere alieno , galt nicht dem innerkonfessionellen Streit der christlichen Mächte. Vielmehr galt er den Auseinandersetzungen der Christen mit den muslimischen Türken. Denn der Krieg gegen diese habe nicht in der Religion, sondern nur darin einen rechtfertigenden imperativa bestimmt und so vom Willen Gottes gelöst und den Verstoß als einen Vernunftverstoß angesehen hatte, Rainer Specht, Art. Naturrecht, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 576. 99 Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo, 1672, dt. Acht Bücher vom Natur- und Völker-Rechte, 2 Bde., 1711, Nachdruck 1998, lib. II, cap. III, § VII, Bd. 1, 321 ff. Wie er wohl auch Christian Thomasius, zitiert bei Fisch (Anm. 84), 266; Francis Bacon, Advertisement touching an Holy War, 1629, in: The Works of Francis Bacon, Bd. 7, 1963, 11-36 (28 ff.). 100 Heinhard Steiger, Solidarität und Souveränität oder Vattel reconsidered, in: Ekkehart Stein/Heiko Faber (Hrsg.), Festschrift für Helmut Ridder, 1989, 97-104.

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Grund, dass diese die Christen immer wieder angriffen und bedrohten. 101 Im Übrigen argumentierten er wie auch später noch Grotius zur Rechtfertigung eines Krieges zunächst auf der traditionellen christlich-religiösen Grundlage. Aber beide fügten Argumente aus der Geschichte der Antike hinzu. Krieg wurde damit aus der weltlichen Tradition gerechtfertigt. Die vernunftrechtliche Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts erklärte den Krieg aus der Natur des Menschen und rechtfertigte ihn aus dem Zustande der zwischenstaatlichen Ordnung und der necessitas. Aber mehr und mehr verlor auch die Lehre vom bellum iustum und der materiellen iusta causa ihre religiös-theologische Dimension. Vor allem die iusta causa des Kampfes gegen Häretiker erwies sich zunehmend als untauglich, ja als friedenszerstörend, da der mit der Reformation auftretende religiös-konfessionelle Konflikt in Europa mit dieser Lehre, d.h. kriegerisch, nicht nur nicht bewältigt werden konnte, sondern eher angeheizt wurde. Das zeigte sich schon im Schmalkaldischen Krieg 1546/47; denn selbst Karl V. konnte nach seinem Sieg die religiöse Einheit im Reich nicht wiederherstellen. Endgültig aber scheiterte deren kriegerische Durchsetzung im Dreißigjährigen Krieg. Das Recht zur Intervention eines Staates in einem anderen Staat aus religiösen Gründen war im konfessionellen Zeitalter umstritten. Zwar blieben zunächst zwei religiös bestimmte Kriegsgründe gegenüber Nicht-Gläubigen bestehen: die Weigerung, die Predigt überhaupt zuzulassen, und der Zwang auf die Untertanen, nach der Annahme des Christentums zu den alten Göttern zurückzukehren. 102 Es gab auch um 1600 bedeutende Befürworter einer Intervention zum Schutz der Religionsverwandten. Zwei der eindeutigsten Verfechter waren einerseits der Calvinist Philippe Duplessis-Mornay m und

101

Oben (Anm. 4). Ich danke Ernst-Dieter Hehl für den Hinweis, dass auch die Kreuzzüge sich nicht gegen die Ungläubigen richteten, die zu bekehren waren, sondern gegen die Eroberer des christlichen Heiligen Landes, das es zurückzuerobern galt. 102 Francisco de Vitoria, Relectio de indis, 1535, in: Ulrich Horst u.a. (Hrsg.), Vorlesungen II, lat./dt., 1997, 3. Abt. 2. Rechtgrund, 472 ff.; Gentiii (Anm. 4), lib. I, cap X V , 117/72; Grotius (Anm. 97), lib. II, cap. 25, § 8, 408. Als Beispiel wurde kein zeitgenössisch-konfessioneller Konflikt, sondern das Vorgehen Justinians gegen die Perser genannt. Ob - wie Grewe (Anm. 69), 215 f., meint - beide damit auch für ihre Zeit ein allgemeines Recht religiöser Intervention in den zeitgenössischen konfessionellen Angelegenheiten befürworten wollten, erscheint jedoch zweifelhaft. 103 Philippe Duplessis-Mornay (Junius Brutus), Vindiciae contra tyrannos, in: Jürgen Dennett (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, 1968, 61-202, 4. Untersuchung, 191 ff.; Ahémar Esmein, La théorie de l'intervention internationale chez quelques publicistes français du XVIe siècle, Nouvelle Revue historique de droit français et étranger 24 (1900), 549-574.

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andererseits der Katholik Kaspar Schoppe.104 Aber spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde sie von der überwiegenden Meinung abgelehnt.105 Wenn es um religiöse Wahrheit geht, kann es eine iusta causa ex utraque parte nicht geben. Weltlich geht es hingegen um Recht, oft nur um Interessen. Da es zwischen den Mächten keinen Richter gibt, wurde die Bestimmung des gerechten Kriegsgrundes der berechtigten Autorität eines jeden Staates zugeordnet und diese grundsätzlich als rechtlich legitimierend anerkannt. Also nicht mehr der materielle Inhalt des Kriegsgrundes, sondern die formelle Entscheidungsbefugnis wurde für das bellum iustum maßgebend. So trat an die Stelle der Lehre vom gerechten Krieg die Lehre vom formell rechtmäßigen, d.h. von der zuständigen Autorität erklärten und geführten öffentlichen Krieg. 106 Allerdings blieben noch letzte inhaltliche Grenzen. Es musste ein wenn auch weit interpretierter Rechtsbruch vorliegen. Reine Macht-, Eroberungs- und Unterwerfungskriege wurden nicht als legal angesehen. Damit wurde zwar die Frage nach dem materiell gerechten Kriegsgrund nach außen unerheblich, damit auch die Frage, ob es einen solchen auf beiden Seiten geben könne. Aber Vattel, der diese Lehre am prägnantesten ausformulierte, band andererseits den Monarchen bei der Ausübung seiner Befugnis, Krieg zu erklären und zu führen, nachdrücklich an sein Gewissen zurück und damit auf der inneren Ebene an christliche Grundsätze. 107

IV. Kriegspraxis Zwar hat die Geschichtswissenschaft herausgearbeitet, dass sich um 1600 ein religiös-konfessionell begründetes duales System in den internationalen Beziehungen zwischen katholischen und calvinistischen Mächten herausgebildet habe. 108 104

Kaspar Schoppe (Gasparus Sciopius), Classicum belli sacri sive Heldus redivivus, Ticinus 1619 . 105 106

Grewe (Anm. 69), 388 ff.

Grotius (Anm. 97), lib. III, cap. 3,439 ff.; Emerde Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, 2 Bde., 1758, liv. III, chap. XII, Bd. 2, 163 ff.; dazu Emmanuelle Jouannet, Emer Vattel et l'émergence doctrinale du droit international classique, 1998,224 ff. 107 Vattel (Anm. 106), 20 ff. Er begründet diese zwei Ebenen aus seiner Unterscheidung von droit des gens necessaire/interne und droit des gens volontaire/externe; dazu Jouannet (Anm. 106), 141 ff. 108 Heinz Schilling, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit - Phasen und bewegende Kräfte, in: Peter Krüger (Hrsg.), Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems, 1991,19^6 (21), wieder abgedruckt in: Luise Schorn-Schütte/Olaf Mörke (Hrsg.), Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, 2002, 588-617 (591 f.); John Haxtable Elliot, Das geteilte Europa: 1559-1598, 1980.

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Aber zum einen weist sie selbst darauf hin, dass sich die französische Politik seit Heinrich IV. nicht in dieses Schema eingepasst, sondern seine raison d'état in der Auseinandersetzung mit der Casa d'Austria zum Leitprinzip seiner Außenpolitik gemacht habe und deshalb mit den protestantischen Mächten gegen Spanien zusammengegangen sei. Zum anderen spiegelte sich diese Dualität nur sehr bedingt in der Praxis der Kriege dieser Zeit und ihrer Vorbereitung durch Bündnisse wider. 109 Zwar spielten religiöse Gründe eine gewisse Rolle. Aber nur wenige Bündnisse wurden ausdrücklich mit religiösen Anliegen geschlossen, so z.B. das Bündnis Elisabeth /. und Jakobs VI. von 1586 gegen Philipp II. 110 und das Bündnis Philipps II. mit der französischen Liga gegen Heinrich IV. von 1590. 111 Selbst die Bündnisse im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges nannten in der Regel politische Gründe, vor allem der Kampf gegen Spanien und das Haus Habsburg, oder rechtliche Gründe, so an zentraler Stelle die Abwehr der Verletzung der Freiheit und Privilegien der Reichsstände. Zwar verbargen sich hinter diesen gerade auch ihre Religionsrechte aus dem Augsburger Religionsfrieden von 1555. Aber Religionsgründe trugen nicht mehr aus sich eine iusta causa, sondern sie mussten in Rechtsgründe übersetzt oder umgewandelt worden sein, deren Bruch dann zu einem legitimen Kriegsgrund werden konnte. 112 Noch später verschwanden religiöse Begründungen für Bündnisse völlig. Allenfalls für die Kriege gegen die Türken hatten sie noch eine mehr oder weniger rhetorische Funktion im Sinne einer traditionellen Kreuzzugsideologie. Aber auch diese hörte allmählich auf. Die Verweltlichung der Kriege wird auch in den Kriegserklärungen und Kriegsmanifesten der Zeit deutlich.113 Die Kriegserklärungen zum französisch-spanischen Krieg von 1595 oder das Kriegsmanifest Gustav Adolfs von 1630 anlässlich seiner Intervention im Reich z.B. nennen keine religiösen Gründe als solche. Das schließt nicht aus, dass der Dreißigjährige Krieg noch Elemente eines Religionskrieges hatte. Aber „weltliche" Gründe hatten bereits am Anfang ebensoviel und im Zuge 109

Heinhard Steiger, Zwischen Konfessionalisierung und Staatsräson - Die „Adoleszenz" des modernen Völkerrechts um 1600, i. V. 110 Vertrag v. 5. Juli 1586, Jean Dumont, Corps universel Diplomatique du Droit des Gens etc., Bd. V/1, 1728,457. 111 112

Vertrag v. 11. Januar 1590, ebd., 481.

So auch Johann Wilhelm Newmayr von Ramsla, Von der Neutralitet und Assistenz oder Unpartheylichkeit und Partheylichkeit in Kriegs Zeiten sonderbarer Traktat oder Handlung, 1620, Kap. 13 (ohne Seitenzählung), der die Zulässigkeit einer Intervention aus Gründen der Religion nicht an diese selbst, sondern an den Bruch eines rechtlich verbindlichen Versprechens des Fürsten gegenüber seinen Untertanen auf Religionsausübung band. 113 Konrad Repgen, Kriegslegitimation in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), 27^49; Anuschka Tischer, Art. Kriegserklärung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, i. Dr.

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der Entwicklung dominantes Gewicht wie die Auseinandersetzung um die Eigenständigkeit der Reichsstände in ihren Territorien gegen den Kaiser, deren Teilnahme an der Reichsregierung, die Zurückdrängung des Hegemonialanspruches der Casa d'Austria , die Ausdehnung der Herrschaftsbereiche Frankreichs und Schwedens. Später ging es nur noch um derartige weltlich-politische Gründe.

V. Friedenspraxis Da eine Entscheidung über die Wahrheit der streitigen religiösen Bekenntnisse inhaltlich nicht getroffen und mit Krieg nicht durchgesetzt werden konnte, musste um des Friedens willen die Wahrheitsfrage offen gelassen und das Zusammenleben in der Differenz organisiert und geregelt werden. Das geschah zwar zunächst innerhalb der Herrschaftsverbände durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 im Heiligen Römischen Reich und durch das Edikt von Nantes im Royaume de France. 114 Der Erstgenannte erschien zwar als kaiserlicher Rechtsakt Karls V., beruhte aber als Reichsabschied strukturell auf einer Vereinbarung zwischen den katholischen Reichsständen und den Reichsständen der Confessio Augustana zur Fortentwicklung des Ewigen Landfriedens von 1495, die der römische König Ferdinand /. im Namen seines Bruders annahm, bestätigte und verkündete. Der Religionsfrieden wurde vor allem von vier Elementen getragen. Die inhaltliche Lösung der Religionskonfliktes wurde auf gelegenere Zeiten verschoben. Der Landfrieden wurde auf Religionsangelegenheiten ausgedehnt, also jegliche Art kriegerischer Gewalt aus Gründen der Religion zwischen Kaiser und Reichsständen und zwischen diesen verboten. Zum Dritten wurde den weltlichen Reichsständen das eigene Reformationsrecht in ihren Territorien nach dem Prinzip cuius regio, eius religio zugesprochen. Kaiser und Reich durften also bei einem Konfessionswechsel eines weltlichen Landesherrn auch für sein Territorium nicht intervenieren. Für die Reichsebene wurde schließlich Parität der beiden Konfessionen hergestellt. Fragen der „spaltigen Religion" waren damit für die rechtliche Ordnung innerhalb des Reiches neutralisiert. Das Reich blieb ein christliches, „heiliges" Reich, wurde aber nicht konfessionell festgelegt. Innerhalb der Territorien blieb hingegen die jeweilige Konfession des Landesherrn tragende und prägende Grundlage der gesamten Ordnung. Er erlangte sogar mehr und mehr die Kirchenhoheit, in den evangelischen Gebieten einschließlich der Bekenntnishoheit. Dieses Modell wurde in den Friedensverträgen von 1648 innerhalb des Reiches bestätigt und fortgeschrieben, u.a. durch den formellen Einschluss des Calvinismus. Da es sich 114

Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 2004.

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aber nicht mehr nur um eine innerreichische, sondern auch um eine völkerrechtliche Regelung auch für den europäischen Friedensschluss handelte, die zudem völkerrechtlich von Mächten außerhalb des Reiches mitgarantiert wurde, wurde diese Neutralisierung der Religionsfragen inhaltlich ein Modell für die europäische Friedensordnung. In allen folgenden Friedensverträgen bis zum Vertrag von Teschen vom 13. Mai 1779 wurden diese Regeln des Westfälischen Friedens immer erneut bestätigt. Dadurch wurde die konfessionelle Neutralität mittelbar zu einem tragenden Grundsatz der völkerrechtlichen Friedensordnung Europas. Mit der fortschreitenden Einbeziehung Russlands in diese Ordnung wurde sie auch auf die Orthodoxie ausgedehnt. Aber Europa blieb christlich und seine Ordnung wurde weiterhin von christlichen Grundsätzen getragen. 115 Bis zum Ende der Frühen Neuzeit wurden Verträge mit der Invocatio Sanctae Trinitatis eingeleitet. Noch 1763 schlossen die Könige von Großbritannien, Frankreich und Spanien eine paix chrétienne ,116 Die Bezugnahme auf Gottes Willen, Güte und Gnade gehörte selbstverständlich auf allen Seiten zur Friedensrhetorik und schlug sich ebenfalls in den Präambeln der Friedensverträge nieder. Die älteren Begriffe respublica christiana/republique chrétienne , la Chrétienté , orbis christianum blieben bis in das 18. Jahrhundert in Gebrauch. Sie wurden erst allmählich durch den Begriff „Europa" in den Präambeln der Verträge ersetzt. Aber religiöse Feiern und Zeremonien blieben üblich, allerdings getrennt und nicht ökumenisch.

VI. Der Eid Allerdings verschwand im 17. Jahrhundert endgültig die Beeidung der Verträge, wenn der Eid auch die Reformation zunächst überstand. 117 Die Wandlung des Verhältnisses von Religion und Völkerrecht wird durch keinen anderen Vorgang

115

Grewe (Anm. 69), 168 ff.; Heinhard Steiger, Vom Völkerrecht der Christenheit zum Weltbürgerrecht. Überlegungen zur Epochenbildung im Völkerrecht, in: Paul-Joachim Heinig u.a. (Hrsg.), Festschrift für Peter Moraw, 2000, 171-187 (175 ff). 116 Friedensvertrag von Paris v. 10. Februar 1763, Georg Friedrich Martens, Recueil des principaux traités d'Alliance, de Paix etc., Bd. 1, 1791, 33. Zur Pax Christiana trotz „spaltiger Religion" Heinhard Steiger, Friedensschluß und Amnestie in den Verträgen von Münster und Osnabrück, in: Heinz Duchhardt/Patrice Veit (Hrsg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, 2000, 207-245 (214 ff.). 117 So wurde der spanisch-britische Vertrag von 1630 von beiden Königen trotz ihrer Konfessionsverschiedenheit beschworen. Die niederländischen und spanischen Gesandten beschworen am 15. Mai 1648 den Vertrag vom 30. Januar desselben Jahres in der Ratskammer des Rathauses von Münster, die deswegen „Friedenssaal" heißt.

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deutlicher. Der Eid ist, wie Paolo Prodi eingehend dargelegt hat, „eine dynamische Rechtsinstitution",118 die im Frühmittelalter ganz allgemein und auch im Völkerrecht eine andere Funktion hatte als im Spätmittelalter und dann auch in der Frühen Neuzeit. Im Frühen Mittelalter entwickelte sich der Eid zum sacramentum iuris. U9 Prodi nennt ihn „Recht herstellendes Organ". 120 Mit dem auch institutionellen Dualismus der geistlich-religiösen und der weltlich-politischen Sphären im Investiturstreit änderte der Eid seine Beziehung zum Recht. Er verlagerte seine Bindungskraft allein in die religiöse Sphäre, die aber der Binde- und Lösegewalt der Kirche unterlag. Er band nicht, wenn seine Erfüllung zur Sünde führen würde. Die geistliche Gewalt nahm die Entscheidung darüber in Anspruch und löste gegebenenfalls vom Eid, z.B. den Treueiden der Lehnsträger. 121 Das war im Alten Orient und in der Antike unvorstellbar, wie das Verhalten der Israeliten im Hinblick auf den erschlichenen Eid der Gibeoniten zeigt. Der Eid führte nicht mehr zur Entstehung der rechtlich-vertraglichen Verbindlichkeit, sondern stellte nur ihre religiöse Bekräftigung dar. Da aber die Herrscher sich mehr und mehr auf sich selbst stellten, nicht nur gegenüber dem Kaiser, sondern auch gegenüber dem Papst, emanzipierte sich das Zwischen-Mächte-Recht vom Eid als einem religiösen Institut. Zwar blieb er auch insofern „ein Zwischenglied zwischen dem Sakralen und der Politik". 1 2 2 Aber vor die Eidesleistung trat mehr und mehr die weltliche Ratifikation der Verträge. Diese scheint im 12. Jahrhundert aufgekommen zu sein, als die Vertragspartner nicht mehr unmittelbar selbst, sondern durch Bevollmächtigte handelten. Nicht der Eidbruch wird völkerrechtlich sanktioniert, z.B. durch Krieg, sondern der Vertragsbruch. Die Strafe für den damit verbundenen Eidbruch ist geistlicher, d.h. kirchenrechtlicher Art, z.B. durch Exkommunikation. Aber dem ist noch nachzugehen. Ratifikation und Eid blieben nebeneinander noch bis in das 17. Jahrhundert hinein Bestandteile des Abschlusses eines Vertrages. Aber allein die Ratifikation war rechtlich maßgebend.123 Ein Eidbruch konnte jedenfalls bei zwischen-konfessionellen Verträgen von niemandem mehr sanktioniert werden. Er wurde funk118

Prodi (Anm. 80), 57.

119

Ich folge hier Prodi (Anm. 80), 63 ff. Sakrament heißt in der Lehre der Kirche ein sichtbares geheiligtes Tun, durch das ein unsichtbarer göttlicher Heilsgehalt (Gnade) als göttliches Pfand vermittelt wird. Dieses ist unauslöschlich und unaufhebbar, z.B. und vor allem die Taufe. 120 Prodi (Anm. 80), 67. 121 122

Prodi (Anm. 80), 91 ff., nennt das „Die päpstliche Revolution".

Prodi (Anm. 80), 119. Der Vertrag von Vervins von 1598 wurde erst am 27. Mai 1601 von dem spanischen König Philipp III. beeidet, war aber schon am 11. Juli 1598 von seinem Vater Philipp IL ratifiziert worden und in Kraft getreten. 123

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tionslos und daher unnötig. Zwar beruhte das Vertragsvölkerrecht nach wie vor auf der ursprünglich durch den Eid versprochenen fides ,bonafides oder bonne foy, deren Beachtung in jedem Vertrag versprochen wurde. Aber sie selbst war inzwischen ein Rechtsprinzip der aequitas als zweitem Zweig des Rechts geworden, hatte also den alten religiösen Charakter der fides verloren. Mit dem Wegfall des Eides nach Jahrtausenden verlor das Völkerrecht trotz der noch bestehenden inhaltlichen Bezugnahmen auf die religiöse Sphäre seine formell-institutionelle Rückbindung an dieselbe. Diese hatte ihren Charakter seit dem Vertrag von 1270 v. Chr. zwischen Hattusilis III. und Ramses IL immer wieder verändert. Aber stets waren die Handelnden sich wohl bewusst, dass ihr Tun dieser Rückbindung bedurfte.

F. Fazit und Ausblick I. Fazit Am Ende des 18. Jahrhunderts verlor die christlich-religiöse Grundlegung in den völkerrechtlichen Prinzipien der Französischen Revolution und der Praxis ab 1792 ihre inhaltliche Bedeutung für die Ordnung Europas und damit des Völkerrechts. Es wurde mit dieser Ordnung selbst säkularisiert. 124 Aber der Verzicht auf die Rückbindung der völkerrechtlichen Ordnung an religiöse Grundlagen ließ die Fragen nach ihren inhaltlichen Grundlagen offen. In der französischen Revolution selbst wurde ein erster Versuch unternommen, eine neue materielle Grundlage zu finden, indem man auf die eigenen Ideale zurückgriff. 125 Aber dabei wurde auch sofort die Ambivalenz dieser Ausrichtung deutlich. Denn am 19. November 1792 verabschiedete der Konvent eine Resolution, in der die exekutive Gewalt beauftragt wurde, „de donner aux généraux les ordres nécessaires pour porter secours à ces peuples et défendre les citoyens qui auraient été vexés ou qui pourrait l'être 124 Zum Begriff der Säkularisierung G. Marramao , Art. Säkularisierung, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, 1134 ff., hier vor allem Abschnitte C und D, 1135 ff. Zum Vorgang der Säkularisierung der politischen Ordnung allgemein die umfangreiche Literatur von und bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die stufenweise Auflösung der Einheit von geistig-religiöser und weltlichpolitischer Ordnung in der Verfassungsentwicklung der Neuzeit, in: Gerhard Dilcher/Norbert Horn (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Band IV, Rechtsgeschichte, 1978,43. 125 Robert Redslob, Völkerrechtliche Ideen der französischen Revolution, in: Festgabe für Otto Mayer, 1916, 273-301; Wolf gang Martens, Völkerrechtsvorstellungen der französischen Revolution in den Jahren von 1789 bis 1793, Der Staat 3 (1964), 295 ff.; Grewe (Anm. 69), 485 ff.

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pour la cause de la Liberté". Der Konvent band damit den Fortbestand des Friedens mit anderen Staaten an eine bestimmte Verfassung oder einen bestimmten politischen Zustand, den der Freiheit. Im konkreten geschichtlichen Ergebnis kehrte sich so die materielle Bestimmung der Bedingungen des Friedens gegen Frieden in der Realität. Frankreich ging, wie das christliche Völkerrecht des Mittelalters in den Kreuzzügen, von der Defensive in die Offensive über. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege versuchten die führenden europäischen Mächte mit der „Heiligen Allianz" die christlichen Grundlagen zu restaurieren. Sie scheiterten alsbald an ihren eigenen weltlichen Interessen. Die Lehre spaltete sich. Zum einen dauerte die Naturrechtslehre fort, aber sie wurde zur Rechtsphilosophie.126 Zum anderen wurde das „Völkerrecht der zivilisierten Staaten" entwickelt, das statt auf religiöse Grundlagen auf „Zivilisation", also eine Art innerweltlicher Zivilreligion zurückgriff. Darin steckten auch christliche Bestandteile, die aber nicht als solche herangezogen wurden. Zwar vereinigte dieses Völkerrecht die europäischen, amerikanischen und einige asiatische Staaten. Aber weite Teile der Welt, vor allem in Afrika und Asien, wurden im Namen dieser Zivilreligion von der völkerrechtlichen Ordnung ausgeschlossen und der Kolonialherrschaft der zivilisierten Staaten unterworfen. 127 Auch eine Zivilreligion hat dieselben Ambivalenzen für das Völkerrecht wie eine traditionelle Religion. Sie stützt, aber auch sie schließt die Nicht-Zugehörigen aus.

II. Das Dilemma In der religiös, kulturell und weltanschaulich pluralen Welt der Gegenwart sind Neutralität und Säkularität des Völkerrechts unabdingbar, um eine universelle Weltrechtsordnung zu herzustellen und zu erhalten. Jedes Beharren auf einem religiös oder sonst begründeten Wahrheitsanspruch als Grundlage dieser Ordnung würde sie gerade zerstören, bzw. gar nicht erst zustande kommen lassen. Aber auch das säkulare Völkerrecht bedarf einer materiellen Grundlage. Seine Funktion ist heute wie vor 3200 Jahren, Frieden auf der Grundlage einer der Gerechtigkeit angenäherten rechtlichen Ordnung herzustellen und zu gewährleisten. Frieden und Gerechtigkeit sind aber inhaltlich materielle Zustände. Sie verlangen also materielle Kriterien. Kann man diesem Dilemma entrinnen?

126

Heinhard Steiger, Völkerrecht und Naturrecht zwischen Christian Wolff und Adolf Lasson, in: Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, 45-74 (53 ff.). 127 Steiger, ius ad bellum (Anm. 97); Grewe (Anm. 69), 520 ff.; Mariti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, 2002.

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III. Universelle Wertgrundlage? Wie auch für die innerstaatlichen Ordnungen wird auch für die internationale Ordnung zunehmend eine gemeinsame universelle „Wertgrundlage" postuliert. Der Begriff „Wert" ist ein europäischer Begriff, abgeleitet aus der westlichen Ökonomie und aus der europäisch/amerikanischen Philosophie.128 Dem Begriff und seiner Verwendung in der politischen Diskussion gegenüber ist Vorsicht geboten. Was ein Wert ist oder was Wert hat, ist vom Begriff „Wert" her nicht bestimmbar und schon gar nicht universalisierbar. Es bedarf einer Wertbestimmung, die auf vorausliegenden Gründen beruht, z.B. einer Religion, einer Weltanschauung, Interessen ökonomischer, wissenschaftlicher, politischer oder sonstiger Art. Um universelle Werte zu begründen, bedarf es somit einer universellen Verständigung. Sie können weder vorausgesetzt noch gar „postuliert" werden. In Weiterführung der Ideale der Französischen Revolution werden in der Gegenwart regelmäßig die Würde des Menschen, Menschenrechte und Demokratie als universelle Werte gehandelt. Man beruft sich dafür auf gemeinsame positive Rechtsdokumente, die Satzung der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Menschenrechtsverträge etc. Art. 1-2 des „Vertrages über eine Verfassung für Europa" bezeichnet u.a. die Menschenwürde, Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität als „universelle Werte". Aber der Gebrauch des Begriffs „Werte" für die Inhalte dieser Rechtsvorschriften weist darauf hin, dass nicht diese Rechtsvorschriften selbst mit ihren objektiven Regelungen, subjektiven Rechten und Pflichten, Institutionen und Verfahren zu ihrer Verwirklichung gemeint sind, sondern dahinter stehende allgemeine Wesenheiten oder Gegebenheiten. Dann stellt sich jedoch das Problem nach dem Verhältnis der positiv-rechtlichen Festlegungen zum Begriff „Wert". Gelten die Rechtsvorschriften, weil sie vorpositive Werte normieren, oder gelten die Werte, weil sie in positiven Rechtsvorschriften enthalten sind? Die Formulierung des Europäischen Verfassungsvertrages deutet darauf hin, dass den universellen Werten eine vorpositive Geltung zugesprochen wird; denn als „universelle Werte" können sie nicht durch einen regionalen Vertrag universelle Geltung erlangen. Strukturell liegt mit dem Rückgriff auf eine vorausgesetzte universelle, dem Völkerrecht vorgegebene Wertgrundlage ein zu dem Verhältnis christlich-religiöser Grundlagen zum Völkerrecht vom 4. bis zum 18. Jahrhundert analoges Verhältnis vor. Anders als für die christlich-religiösen Grundlagen fehlt

128

A. Hügli/S. Schlotter/P. Schaber/A. Rust/N. Rougley/H. Adler/K. Lichtblau, Art. Wert und Wert/Preis, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 2005, Sp. 556-591.

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es aber für die Wertgrundlagen an einer deutlichen Inhaltsbestimmung. Das birgt erhebliche Gefahren für ein universelles Völkerrecht. 129 In der amerikanischen Völkerrechtslehre hat es im vorigen Jahrhundert zumindest zwei Anläufe gegeben, über die „Werte" Demokratie und Menschenrechte die Völkerrechtsordnung zu definieren, in den fünfziger Jahren durch Myres S. McDougal m und in den neunziger Jahren durch John Rawls . Dieser unterscheidet in seinem Law of peoples zwei Hauptgruppen von Gesellschaften oder peoples, aufbauend auf seiner allgemeinen liberalen Rechtstheorie: well-ordered societies , die liberalen und demokratischen Grundsätzen folgen, denen vor allem die outlaw states oder auch outlaw regimes gegenüber stehen.131 Damit bezeichnet er die Staaten (nicht Völker oder Gesellschaften!), die sich nicht nach einem reasonable law of peoples richten, sondern Krieg als Mittel der Wahl für die Durchsetzung ihrer zwar rationalen, aber nicht vernünftigen Interessen einsetzen.132 Durch den Begriff outlaw werden diese Staaten, wie Robin Hood, außerhalb des Rechts gestellt. Die deutsche Übersetzung „Schurkenstaat" ist insofern nicht korrekt und verharmlosend. Das reasonable law of peoples ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich an den liberalen Grundsätzen orientiert, also an Menschenrechten, Demokratie etc. Daran haben die outlaw states oder outlaw regimes schon per se keinen Anteil, sie sind eben outlaw. Das reasonable law of peoples ist also nicht universell, sondern partikular. Die rechtlichen oder besser normativen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen werden von Rawls einseitig bestimmt. Die well-ordered societies haben gegen die outlaw states/outlaw regimes das Recht zur Verteidigung, deren Voraussetzungen im Einzelnen aber nicht genannt werden. Rawls greift in diesem Zusammenhang auch die Lehre vom gerechten Krieg wieder auf. Dieser war zwar stets ein Krieg zur Verteidigung, konnte aber auch durch einen Angriff geführt 129

1999/2000 verhängten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ohne materielle und verfahrensmäßige Rechtsgrundlage im Maastricht-Vertrag „Sanktionen" gegenüber Österreich, weil dieses durch die Bildung einer Koalition des ÖVP mit der angeblich rechtsextremen FPÖ die nirgendwo festgelegten, sondern postulierten „Werte" der EU verletzt oder doch gefährdet habe. Das war ein eindeutiger Bruch des geltenden Vertragsrechts. Allgemein zur Wertproblematik: Carl Schmitt/Eberhard Jiingel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, 1979. 130 Dazu Heinhard Steiger, Zur Begründung der Universalität des Völkerrechts, Der Staat 5 (1966), 422 ff., 430 ff. 131 John Rawls, The Law of Peoples, 1999, dt. Das Recht der Völker. Zitiert wird die amerikanische Ausgabe. Zur Kritik u.a. Mark Arenhövel, Gerechtigkeit als Grundlage einer internationalen Ordnung? Anmerkungen zu John Rawls, in: Bruha/Heselhaus/Marauhn (Anm. 82). 132

Rawls (Anm. 131), 90.

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werden. Im Übrigen haben die well-ordered societies ein Interesse daran, dass auch die outlaw states zu solchen werden. Dafür schlägt er verschiedene Maßnahmen des Drucks vor. Krieg ist dafür nicht völlig und von vorneherein ausgeschlossen. Diese Theorie scheint inzwischen in die Politikformulierung überzugehen. Präsident Bush hat in seiner Inaugural speech am 20. Januar 2005 den Kampf gegen die Tyrannen und für die Freiheit aller Völker zum Inhalt amerikanischer Außenpolitik erklärt. Die Tyrannen bezeichnete er als The rulers of outlaw regimes. Jedenfalls zur eigenen Verteidigung wie der der Freunde wolle er auch Waffen nicht ausschließen. Aber auch er definiert die Voraussetzungen dafür nicht näher. Er hat zudem den freiheitswilligen Völkern Unterstützung zugesagt. Was das für die Friedenssicherung durch Recht bedeutet, ist unbestimmt. Freundliche, unterstützende militärische Intervention scheint nicht ausgeschlossen.

IV. Recht und materielle Grundlage Da der Ausweg aus dem Dilemma über die Postulierung einer universellen Wertgrundlage eher zu Spaltungen als zu einer Einheit der universellen Völkerrechtsordnung führen wird, müssen andere Lösungswege gesucht und gefunden werden. Es liegt nahe, auf die Erfahrungen der Befriedung des Konfessionskonfliktes in Europa nach der Reformation im 17. Jahrhundert durch Recht zurückzugreifen. Diese gelang, so scheint mir, weil sie drei Bedingungen erfüllte. Die erste Bedingung ist, dass die Geltung, Einhaltung und Anwendung des vereinbarten positiven Rechts nicht über die Behauptung des Höher- oder Vorranges vorpositiver Wahrheiten, heute Werte, in Frage gestellt wird. Die zweite Bedingung ist, den sich seit 1945 beschleunigenden materiellen, inhaltlichen Ausbau des positiven Völkerrechts auf allen Ebenen voranzutreiben und parallel dazu auch die institutionellen und verfahrensmäßigen Instrumente zu seiner Überwachung, Einhaltung und Durchsetzung weiter zu stärken bis hin zu einer obligatorischen Gerichtsbarkeit. Auf diese Weise wird auch der Rückgriff auf vorpositive Werte als Lückenfüller überflüssig. Drittens muss gleichzeitig nach Konsensen über die materiellen Grundlagen gesucht werden. Denn ohne solche Konsense gibt es keine Kriterien für gemeinsames Recht und Unrecht. Jeder Staat oder jedes Volk wird dann allein seinen partikularen kulturellen einschließlich religiösen Vorstellungen und seinen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Interessen folgen. Die Konsensbildungen werden aber nur stufenweise und auf einzelnen Feldern möglich sein. Denn die inhaltliche Fortbildung des Völkerrechts ist in unterschiedlichen Sachbereichen unterschiedlich schwierig, umso schwieriger, je dichter es einerseits an die kulturell-religiösen Traditionen und Selbstverständnisse der Völker und andererseits an deren vitale Interessen geht. Die religiösen, kultu-

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rellen und weltanschaulichen Traditionen bilden aber nicht nur Hindernisse, sondern sind gerade auch die notwendigen Quellen der gemeinsamen materiellen Fortentwicklung des Völkerrechts. Hier kommt der im positiven Völkerrecht vielfach verbürgten Religionsfreiheit zentrale Bedeutung zu. 133 Deren Garantie hat nicht nur für die Menschen in den Staaten, sondern auch für die universelle Völkerrechtsordnung insgesamt fundamentale Bedeutung. Sie bestätigt zwar zunächst die Neutralität und Säkularität des universellen Weltvölkerrechts, weil sie dieses von jeder verpflichtenden oder bindenden religiösen, philosophischen oder weltanschaulichen Grundausrichtung, auch postulierten „Wertgrundlagen" löst. Aber sie öffnet es gleichzeitig für die Vielfalt dieser Traditionen unter der Bedingung der gegenseitigen positiven öffentlichen Anerkennung ihrer Verschiedenheit, ohne dass diese ihren Wahrheitsanspruch für sich selbst aufgeben. Eine derartige Öffnung zu Religionen und Weltanschauungen vermag deren inhaltliche Potentiale für den Frieden und seine Inhalte im gegenseitigen Austausch fruchtbar zu machen. Allerdings müssen sie sich auch selbst auf Religionsfreiheit gegeneinander und gegenseitige Anerkennung einlassen, dürfen also keine fundamentalistischen Ausschließlichkeitsansprüche erheben. 134 Denn nur dann werden sie fähig, sich auf Gespräche und die Suche nach tragenden Gemeinsamkeiten miteinander einzulassen. Damit wird das Verhältnis von Völkerrecht und Religionen, also in der Mehrzahl, wiederum neu bestimmt. Die Anerkennung und Verwirklichung der Religionsfreiheit macht sich den Pluralismus gerade für universell akzeptierte Grundlagen einer der Gerechtigkeit verpflichteten Weltordnung zunutze, ohne ihn in Frage zu stellen. Auch in der Gegenwart bleibt so das säkulare Völkerrecht - um seiner von Jesaja postulierten zentralen Aufgabe willen, Frieden auf der Grundlage von Recht und Gerechtigkeit zu sichern - zwar weiterhin auf die Religionen verwiesen, aber nicht mehr durch unmittelbare Bindung an eine Religion, sondern durch neutrale Öffnung auf ihre Pluralität.

133 134

Dazu Eckart Klein in diesem Band.

Es gilt auch für die internationale Ebene das Wort des französischen Staatslehrers, Charles de Secondât et de Montesquieu: „Lorsque les lois d'un état ont cru devoir souffrir plusieurs religions, il faut qu'elles les obligent aussi à se tolerer entre elles". De l'esprit des lois, liv. X X V , chap. IX, De la tolérance en fait de religion.

Völkerrechtliche Stellung und Praxis des Heiligen Stuhls im Wandel Von Gerd Westdickenberg" Befasst man sich mit dem Heiligen Stuhl, so eröffnen sich dem sich unbefangen Nähernden eine ganze Reihe erstaunlicher, manchmal gar verwirrender Aspekte nicht nur sprachlicher Natur: Man spricht vom Heiligen Stuhl, aber auch vom Apostolischen Stuhl und darüber hinaus auch vom Vatikanstaat oder - korrekt vom „Staat der Vatikanstadt". Welche dieser Gebilde sind Völkerrechtssubjekte oder sind es gar alle? Der Heilige Stuhl ist die älteste ununterbrochen bestehende Institution der Welt. Gleichzeitig aber beruht die heutige völkerrechtliche Stellung des Vatikanstaates auf einem Bündel von Abkommen, den so genannten Lateranverträgen, die erst vor etwas mehr als 75 Jahren geschlossen wurden. Der Vatikanstaat ist der mit Abstand kleinste souveräne Staat - mit seinen ca. 44 Hektar, 1 d.h. einem Viertel der Größe Monacos, und seinen ca. 500 Staatsangehörigen, von denen fast die Hälfte (nämlich die Nuntien und ihre aus Rom entsandten Mitarbeiter) außerhalb des Staates lebt. Dies sind Einzelheiten, die für manches Quiz geeignet wären. Sie skizzieren aber auch einige der Gesichtspunkte, die ich nachfolgend behandeln möchte: zunächst die Definition der verschiedenen Begriffe im Zusammenhang mit dem Heiligen Stuhl, ihr geschichtlicher Hintergrund und daran anknüpfend die Entwicklung der völkerrechtlichen Stellung des Heiligen Stuhls/Vatikans (A.); danach die staatliche Organisation und in diesem Zusammenhang die Organe, durch die der Heilige Stuhl handelt, insbesondere den diplomatischen Dienst (B.); anschließend Grundprinzipien der Außenpolitik des Heiligen Stuhls sowie einzelne konkrete Beispiele seines Handelns und damit verbundene materiellrechtliche Fragen, wie z.B. Konkordate, Stellungnahmen zu Völker- und menschenrechtlichen Fragen (C.).

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, der am 2. Juni 2005 gehalten wurde. Er gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. 1

Plus noch einigen extraterritorialen Gebieten innerhalb der Region Lazio, wie z.B. dem Päpstlichen Sommerpalast in Castelgandolfo, bzw. innerhalb Roms, wie z.B. verschiedene Verwaltungsgebäude wie die Cancelleria oder der Laterankomplex.

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Α. Entwicklung der völkerrechtlichen Stellung des Heiligen Stuhls Papst Benedikt XVI. an der Spitze des Heiligen Stuhls ist der 264. Nachfolger des Apostels Petrus als Bischof von Rom. Das Papsttum machte in seinen knapp 2000 Jahren eine erhebliche Entwicklung durch und gestaltetete sich in den verschiedenen geschichtlichen Epochen sehr unterschiedlich, wies zudem starke Brüche auf, wie z.B. die Zeiten im Exil außerhalb Roms2 oder den Untergang des Kirchenstaates 1870, und verzeichnet des öfteren einander bekämpfende Päpste und Gegenpäpste, manchmal mehrere Gegenpäpste gleichzeitig.3

I. Der Kirchenstaat Der Kirchenstaat begann sich im 8. Jahrhundert zu etablieren und bestand rund 1000 Jahre. Sein Oberhaupt war der Papst. Zuvor hatten die Päpste bereits zunehmend neben rein kirchlichen Funktionen auch staatliche übernommen, insbesondere nach dem Untergang des Römischen Reiches für Rom und Umgebung. So war z.B. bereits Papst Gregor I. Ende des 6. Jahrhunderts der geistliche und weltliche Herr Roms, letzteres unter nomineller staatlicher Herrschaft von Byzanz. Der Kirchenstaat hatte als Kern Schenkungen, beginnend mit der so genannten, inzwischen als Fälschung erkannten konstantinischen Schenkung von Gebieten im heutigen Latium durch Kaiser Konstantin. Zu diesem Gebiet, dem sogenannten „Patrimonium Petri", 4 kam dann an der Adriaküste das Exarchat Ravenna hinzu. Die Schenkung Kaiser Pippins 756 vervollständigte und bestätigte dann endgültig den Kirchenstaat als zusammenhängende Landmasse in Mittelitalien, wie er mit gewissen kleineren Veränderungen bis zu seinem Untergang bestand. Während der genaue Beginn des Kirchenstaates sich nicht eindeutig an ein konkretes Datum knüpfen lässt, steht das Datum seines Untergangs fest: der 20. September 1870, als die Truppen Garribaldis an der Porta Pia die römische Stadtmauer durchbrachen und mit Rom die letzte Bastion des Kirchenstaates kampflos einnahmen, nachdem Papst Pius IX. befohlen hatte, den Widerstand einzustellen. Das Gebiet, das heute den Vatikanstaat umfasst und im Wesentlichen 2

Avignon im 14. Jahrhundert, Paris Anfang des 19. Jahrhundert oder im Königreich von Neapel Mitte des 19. Jahrhundert. 3 Z.B. während des großen Abendländischen Schismas, Ende des 14./Anfang des 15. Jahrhunderts oder im 11. und 12. Jahrhundert. 4 Ein Streifen entlang der tyrrhenischen Küste - bis zu ca. 80 km landeinwärts - von Civita Vecchia bis Terracina.

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von der so genannten Leonischen Mauer 5 umschlossen wird, ließen die Truppen des italienischen Königs unangetastet. Dieses Gebiet wurde das selbst gesuchte Asyl von insgesamt 6 Päpsten. Der damalige Papst Pius IX. lehnte das von Italien 1871 verabschiedete so genannte „Garantiegesetz" ab, das dem Papst die freie Ausübung der Kirchenregierung (jedoch ohne territoriale Souveränität) und der Kirche einige Privilegien und Entschädigungen garantierte. Aus Protest gegen die Einnahme des Kirchenstaates durch das italienische Königreich, die sie als völkerrechtswidrige Annektion nicht akzeptierten, verließen die Päpste den Vatikan nicht mehr und verharrten in ihrer freiwilligen „römischen Gefangenschaft": der Beginn der so genannten „römischen Frage".

II. Der Staat der Vatikanstadt Der Staat der Vatikanstadt, kurz Vatikanstaat genannt, wurde durch die so genannten Lateranverträge vom 11.2.1929 geschaffen. 6 Sie umfassen drei Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Italien: ein Konkordat, eine Finanzkonvention, die die finanzielle Entschädigung seitens des italienischen Staates zugunsten der Kirche für den Verlust des Kirchenstaates regelte, und den eigentlichen Vertrag, der die „römische Frage" klärte und den Vatikanstaat schuf, um - wie es in der Präambel der Vereinbarung heißt - „angesichts der Notwendigkeit, die absolut sichtbare Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls zu sichern, dessen unbestreitbare Souveränität im internationalen Bereich zu garantieren". 7 Der Vatikanstaat hat sich von Beginn an als vom Heiligen Stuhl zu unterscheidendes Völkerrechtssubjekt begriffen, 8 das die klassischen Kriterien eines Staates erfüllt, nach innen über eine eigene Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung verfügt, nach außen internationale Verträge abschließt bzw. internationalen Konventionen beitritt, aber auch zusammen mit dem Heiligen Stuhl das aktive und passive Gesandschaftsrecht in Anspruch nimmt. Der Papst übt als absoluter Monarch die volle legislative, administrative und judikative Gewalt aus - Art. 1 des Grundgesetzes des Vatikanstaates vom

5 6

Gebaut von Papst Leo IV. in der Mitte des 9. Jahrhunderts.

Sie wurden im Lateranpalast, dem Sitz des Bischofs von Rom, neben seiner Bischofskirche San Giovanni in Laterano unterzeichnet. 7 Vgl. Text wie z.B. abgedruckt in: Hyginus Eugene Cardinale, The Holy See and the International Order, 1976, 319 ff. 8 Winfried Schulz, Der Staat der Vatikanstadt, der Heilige Stuhl und die Römische Kurie in den Schriften von Winfried Schulz, Franz X. Walter zur Vollendung des 70. Lebensjahres, 1999, 20, mit weiteren Nachweisen.

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22.2.2001.9 Normalerweise wird aber die gesetzgebende Gewalt - bis auf die Fälle, die dem Papst vorbehalten sind - von der „Päpstlichen Kommission für den Vatikanstaat" (besetzt mit 7 Kardinälen) ausgeübt. Rechtsquellen sind in erster Linie die so genannten „fonti principali", wie z.B. das eben erwähnte Grundgesetz, der Codex Juris Canonici (CIC) aus dem Jahre 1983,10 Apostolische Konstitutionen bzw. eigens für den Vatikanstaat erlassene „dispositivi"; bei Fehlen einschlägiger Bestimmungen gelten ersatzweise die bei In-Kraft-Treten der Lateranverträge in Italien bestehenden Gesetze und Verordnungen. Die Verwaltung des Vatikanstaates liegt in den Händen des „Gouverneurs des Staates der Vatikanstadt", einem Kardinal, und seinem Stab und umfasst u.a. die allgemeinen technischen Dienste, die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Dienste, die Polizei, aber auch Einrichtungen wie die Vatikanischen Museen oder den Münz- und Briefmarkendienst. Die Rechtsprechung ist durch eine eigene Justizordnung 11 mit allgemeinen Zivil- und Strafgerichten in drei Instanzen geregelt. Daneben gibt es für Arbeitsstreitigkeiten (insgesamt hat der Vatikanstaat an die 3000 Mitarbeiter) das „Zentrale Arbeitsbüro".

III. Der Heilige Stuhl Der Heilige Stuhl (der CIC gebraucht den Begriff „Apostolischer Stuhl" synonym) 12 ist Völkerrechtssubjekt kraft Herkommens und besteht unabhängig vom früheren Territorium des Kirchenstaates und dem späteren des Vatikanstaates.13 So bestand in den knapp 60 Jahren nach Untergang des Kirchenstaats und des Verlustes der Gebietshoheit und vor der Gründung des Vatikanstaates mit eigener Gebietshoheit durch die Lateran Verträge der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt allgemein anerkannt fort, 14 und eine ganze Reihe von Staaten - darunter auch

9

Text z.B. unter www.vatican.va/vatican_city_state/legislation/documents.

10

Codex Juris Canonici, Libreria Editrice Vaticana, 1983, lateinisch-deutsche Ausgabe, 2. Aufl. Kevelaer 1984. 11 Justizordnung (Ordinamento Giudiziario, erlassen durch Gesetz aus dem Jahr 1987). 12

Canon 361, wobei z.B. M. Kühl, in: Bensberger Protokolle Nr. 107, Vatikan - Politik und Diplomatie, 29 f., zwischen beiden Begriffen insoweit einen Unterschied machen will, als er unter dem Apostolischen Stuhl den Papst selbst sowie sein Handeln als Oberhaupt der Kirche in Lehr- und Leitungsamt versteht, als Träger dessen, was innerkirchlich geschieht bzw. veranlasst wird. 13 Z.B. Wolf gang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.),Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 5, Fn. 7; Cardinale (Anm. 7), 42 ff. 14 Dies zeigt sich z.B. auch an der Inanspruchnahme des Heiligen Stuhls in dieser Zeit als Vermittler (zwischen Spanien und Deutschland wegen der Karolinen 1885) resp.

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Preußen und Bayern - beließen diplomatische Vertreter beim Papst als dem Oberhaupt der katholischen Kirche akkreditiert (zunächst waren es 17 Staaten, aber die Zahl schwankte bis zu den Lateranverträgen immer wieder und hatte sich zum Schluss bei Gründung des Vatikanstaates auf 30 vergrößert). 15 Durch das Garantiegesetz Italiens genossen sie auch diplomatische Immunität, wenngleich der Heilige Stuhl dieses Gesetz nie akzeptierte. Der Heilige Stuhl ist eines der letzten Beispiele (wie auch der Souveräne Militärorden der Malteserritter) dafür, dass ein Herrschaftsverband Rechtssubjekt des Völkerrechts allein aufgrund der Person des Souveräns ist. 16 Inwieweit er eo ipso nicht Träger aller völkerrechtlichen Rechte und Pflichten sein kann und deshalb nur partielle Völkerrechtssubjektivität besitzt,17 lasse ich dahingestellt, da letztlich nicht von praktischem Interesse. Die Konstitution des Heiligen Stuhls wird durch den CIC im Teil I I „Hierarchische Verfassung der Kirche", Can. 331 ff. geregelt. Nach Can. 331 besitzt der Bischof von Rom, d.h. der Papst, „kraft seines Amtes in der Kirche die höchste, volle und unmittelbare und universale Gewalt". Can. 349 bestimmt das Kardinalskollegium nicht nur zum Papstwahlgremium, sondern auch dazu, entweder in seiner Gesamtheit oder durch einzelne Kardinäle in besonderer Funktion den Papst zu unterstützen. In der Gesamtheit des Kollegiums geschieht dies insbesondere während der sog. Konsistorien, Versammlungen der Kardinäle „zur Beratung schwerwiegender Angelegenheiten" oder zur Durchführung gewisser besonders feierlicher Akte (Can. 353 § 2). Die „Römische Kurie" umfasst die Organe des Heiligen Stuhls, die im Auftrag und Namen des Papstes die Geschäfte der Gesamtkirche besorgt (Can. 360), und Schiedsrichter (zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti in Grenzfragen 1895) oder seiner guten Dienste (zwischen Spanien und den USA wegen Kuba 1898), vgl. Rede von Kardinal Staatssekretär Sodano am 18.6.2003 in Warschau, veröffentlicht in eigener Broschüre, 2003, 10. 15 Cardinale (Anm. 7), 182 f. 16

Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 8, Rn. 1, S. 82; Christian Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century. General Course on Public International Law, Recueil de Cours 281 (1999), 141, sieht den Heiligen Stuhl - wie u.a. auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz - als ein Beispiel für nicht-staatliche Entitäten, denen deshalb Völkerrechtssubjektivität zukommt, weil sie das einschränkende Kriterium erfüllen, ein allgemeines öffentliches Interesse (general welfare interest) zu erfüllen. 17 So z.B. Ipsen (Anm. 16), 54, § 4, Rn. 6; anders Heribert Franz Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhls, 1975, 774, der keine Einschränkung der Qualität sieht: denn nicht nur Staaten seien vollkommene Völkerrechtssubjekte, sondern sie seien lediglich die typischen.

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besteht insbesondere aus dem Staatssekretariat, den Kongregationen und Päpstlichen Räten sowie den Gerichtshöfen. „Grundgesetz" ihres Aufbaus ist die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus", mit der Papst Johannes Paul IL 1988 Aufbau und Zuständigkeiten der Kurie neu regelte. 18 Das Staatssekretariat ist innerhalb der Kurie die Behörde, die am engsten dem Papst bei der Ausübung seiner höchsten Gewalt zur Seite steht. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Weltkirche, sondern auch die Kommission für den Vatikanstaat ist angehalten, in wichtigen Fragen sich mit dem Staatssekretariat abzustimmen, dessen Leiter Mitglied der Kommission ist. Dem Staatssekretariat mit seinen insgesamt ca. 250 Mitarbeitern steht der Kardinal Staatssekretär vor, der erster Mitarbeiter des Papstes in der Leitung der Weltkirche und höchster Repräsentant der politischen und diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhles ist. Soweit überhaupt denkbar, könnte er in einer weltlichen Regierung mit einem Ministerpräsidenten verglichen werden, dessen Rang er protokollarisch auch einnimmt. Innerhalb des Staatssekretariates gibt es zwei Sektionen: Die erste Sektion (Art. 41-44 Pastor Bonus) für die „allgemeinen Angelegenheiten" wird manchmal „Innenministerium" und ihr Leiter, ein Erzbischof, der so genannte „Substitut", „Innenminister" genannt. Das spielt darauf an, dass hier u.a. die Beziehungen der Kurie zu den Ortskirchen in aller Welt, d.h. Kircheninterna behandelt werden. Jedoch geht der Aufgabenbereich dieser Sektion weit darüber hinaus, umfasst auch die Beziehung zu den anderen Institutionen der Kurie, umschließt die Arbeit der Nuntiaturen in aller Welt ebenso wie die Betreuung der diplomatischen Vertretungen beim Heiligen Stuhl. Dementsprechend - und hier trifft die Bezeichnung besser - nennt man häufig den Leiter der zweiten Sektion „für die Beziehung mit den Staaten", ebenfalls ein Erzbischof, den „Außenminister" des Heiligen Stuhls. Diese Sektion befasst sich gem. Art. 45-47 Pastor Bonus mit den Angelegenheiten, die mit den Regierungen verhandelt werden müssen, z.B. den diplomatischen Beziehungen und dem Abschluss von Konkordaten. Neben dem Staatssekretariat wird die Römische Kurie insbesondere durch die 20 so genannten Dikasterien, d.h. die Kongregationen und Päpstlichen Räte gebildet. Sie sind primär Verwaltungsorgane, können aber auch Gesetzgebungsbefugnis haben und in Sonderfällen sogar Gerichtsbarkeit 19 ausüben. Sie können in ihren Aufgaben (aber sicherlich nicht in ihrer Größe, die zwischen 12 und 70 18 19

Siehe www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/apost_constitutions .

Z.B. die Glaubenskongregation bei Verfahren zum Schutz des Bußsakramentes, vgl. Norbert Ruf, Das Recht der katholischen Kirche nach dem neuen Codex Juris Canonici, 1983, 108.

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Mitgliedern und festen Mitarbeitern schwanken kann!) mit Ministerien in einer Regierung verglichen werden und werden in der Regel von einem Kardinal geleitet. Zu unterscheiden sind einmal die Leitung (zumeist Präfekt, Sekretär und Untersekretär), dann die Mitglieder des Dikasteriums (zumeist Kardinäle und Bischöfe aus Kurie und Ortskirchen, die in regelmäßigen, aber mit wenigen Ausnahmen20 zeitlich länger auseinander liegenden Abständen zusammenkommen) sowie der Stab fester Mitarbeiter. Unterschiede ergeben sich prinzipiell nicht zwischen Kongregationen und Päpstlichen Räten, jedoch sind erstere die klassischen, die älteren Dikasterien und letztere im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils entstanden. Letztere werden manchmal auch nicht von einem Kardinal, sondern von einem Erzbischof geleitet. Zu den Kongregationen zählen z.B. die für die Glaubenslehre (bis vor kurzem von Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt XVI. geleitet), die für die Bischofsernennungen (für ca. 70 % aller Bischöfe; die übrigen 30 %, insbesondere in den Missionsgebieten, werden von der nachfolgend genannten Kongregation ernannt) und die für die Evangelisierung der Völker (zahlenmäßig die größte und zudem mit eigenem Haushalt). Wichtige Päpstliche Räte sind z.B. der für die Einheit des Christentums (Ökumene mit den anderen christlichen Kirchen, geleitet vom deutschen Kardinal Kasper), der für Gerechtigkeit und Frieden, der für die Laien und der für den interreligiösen Dialog (mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Islam). Besonders hervorheben möchte ich den 1967 ins Leben gerufenen Rat „Gerechtigkeit und Frieden" wegen seiner sehr weit gespannten Aufgaben (sein Name ist Programm: vom Bereich der kirchlichen Soziallehre, über die Friedens-, Entwicklungshilfe- oder Gesellschaftspolitik bis zu den Vereinten Nationen), geleitet vom langjährigen Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen (VN) in New York, dem italienischen Kardinal Martino. Eine Zusammenarbeit in Form von regelmäßigen, wöchentlichen Sitzungen aller Chefs der Dikasterien, wie man sie als Kabinettstreffen von weltlichen Regierungen her kennt, gibt es nicht. Lediglich wenige Male im Jahr traf sich Papst Johannes Paul II. mit den Leitern der Dikasterien. Ein - nicht immer geübtes Abstimmungsverfahren erfolgt in rudimentärer Form bilateral zwischen betroffenen Dikasterien auf der Ebene der „zweiten Männer", der Sekretäre, oder dadurch, dass Personen Mitglieder mehrerer Dikasterien sind und so Kenntnis von einem zum anderen Dikasterium wachsen kann. Unter den Gerichtshöfen der Kurie sind drei zu unterscheiden: 1. Die Apostolische Pönitentiarie (hier geht es um rein innerkirchliche Rechts- und Disziplinar20

Z.B. bei der Glaubenskongregation oder der Bischofskongregation.

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fragen betreffend im Wesentlichen Fragen der Exkommunikation) unter Leitung eines Kardinals (er ist einer der ganz wenigen in der Leitung der Kurie, der mit dem Tode eines Papstes nicht sein Amt verliert) 21 bearbeitet nur wenige Fälle; ihre Arbeit ist sehr technisch und sachlich eng begrenzt. 22 2. Die Apostolische Signatur ist der oberste Gerichtshof der Kurie, ebenfalls unter Leitung eines Kardinals (Art. 121-125 Pastor Bonus). Dieser Gerichtshof hat nicht nur rein judikative Aufgaben,23 sondern entscheidet auch in Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der Kurie sowie überwacht die kuriale Justizverwaltung und insbesondere die kirchlichen Diözesangerichte weltweit. 3. Die Römische Rota ist mit Abstand das am meisten beschäftigte Kirchengericht. Sie verfügt über ihre eigenen gesetzlichen Regeln (1994 verabschiedet von Johannes Paul II.) und ist in erster Linie ein Berufungsgericht (Can. 1444, § 1 und 2), das in zweiter Instanz über Entscheidungen der ordentlichen Gerichte ersten Grades und in dritter und letzter Instanz über Berufungsentscheidungen der Rota selbst oder anderer Berufungsgerichte befindet. Sie ist am bekanntesten für die von ihr zu entscheidenden Fälle von Ehe-Annullierungen und überprüft zumeist lediglich ihr vorgelegte Entscheidungen von vorinstanzlichen Diözesangerichten in diesen Fragen; sie kann jedoch auch Verfahren in erster Instanz sofort an sich ziehen. Zur Römischen Kurie werden noch eine ganze Reihe weiterer Institutionen gezählt, z.B. die Vatikanische Bibliothek und das Päpstliche Geheimarchiv unter Leitung eines Kardinals, Kommissionen bzw. Komitees (z.B. für Geschichtswissenschaften) sowie drei Päpstliche Akademien, die für die Wissenschaften, die für die Sozialwissenschaften und die für das Leben.

IV. Verhältnis zwischen Heiligem Stuhl und Vatikanstaat Das Verhältnis zwischen beiden wird in der Literatur zum Teil unterschiedlich diskutiert, jedoch besteht fast einhellig die Ansicht, dass beide Völkerrechtssubjekte sind. 24 Praktisch wird ihr Verhältnis zueinander oft dahingehend definiert, dass der Vatikanstaat dem Heiligen Stuhl zu- und untergeordnet ist und - so klingt es ja auch in der Präambel des Lateran Vertrages an - die territoriale Basis für das Völkerrechtssubjekt Heiliger Stuhl bildet und - so formuliert der Lateran vertrag 21

Dazu zählen noch insbesondere der Kämmerer (Camerlengo), der Substitut, Vertreter des Staatssekretärs. 22 23

Vgl. Thomas J. Reese, Im Inneren des Vatikan, 2000, 153.

Z.B. Nichtigkeitsklagen, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand bei Klagen vor der Römischen Rota, Beschwerden gegen Nichtzulassung bei der Rota, Kompetenzkonflikte innerhalb des kirchlichen Gerichtswesens. 24 Z.B. Cardinale (Anm. 7), 63 ff.; Sodano (Anm. 14), 12 f.

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(Art. 3 und 4) - dass der Heilige Stuhl unumschränkte souveräne Gewalt und Jurisdiktion über den Vatikanstaat besitzt. Beide Völkerrechtssubjekte stehen also nicht in Konkurrenz zueinander, sondern der Vatikanstaat hat eine dienende Funktion für den Heiligen Stuhl.25 Papst Pius XL formulierte es am Tag der Unterzeichnung der Lateranverträge dahingehend, dass „die geistliche Souveränität des Papstes als Haupt der Kirche ohne einen ,civilis principatus Sanctae Sedis' nicht zu begreifen sei". 26 Der Vatikanstaat steht in untrennbarer Verbindung mit dem Heiligen Stuhl, da sein Oberhaupt allein der Papst sein kann.27

B. Wie handelt der Heilige Stuhl im zwischenstaatlichen Bereich? Auf der internationalen Bühne der Staatengemeinschaft ist der Heilige Stuhl seit langem ein anerkannter Akteur. Der Wiener Kongress im 19. Jahrhundert und später im 20. Jahrhundert das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen sehen den Grundsatz vor, dass der Gesandte des Papstes, der apostolische Nuntius, Doyen des diplomatischen Korps ist. Für den Fall, dass ein Land diesem Grundsatz nicht folgen wollte, sah der Heilige Stuhls seit 1965 als päpstlichen Gesandten den sogenannten „Pro-Nuntius" 28 vor, der einen Rang unterhalb des Nuntius steht. Die Entwicklung des Gesandschaftsrechtes insgesamt wurde seit den Anfängen im 16. Jahrhundert, in starkem Maße vom Päpstlichen Gesandschaftswesen mitgeformt.

I. Wie entwickelte sich das Päpstliche Gesandtschaftswesen? Historisch gehen die Nuntien als diplomatische Gesandte des Papstes auf dessen Emissäre an den Hof von Byzanz und später zu anderen europäischen Herrscherhäusern zurück. 29 Seit Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts tragen sie 25

Köck (Anm. 17), 165, geht so weit, dass der Vatikanstaat ohne den Heiligen Stuhl kein souveräner Staat mehr sei. Denn Italien habe den Vatikanstaat nur unter der Souveränität des Heiligen Stuhls anerkannt. Ohne die Souveränität des Heiligen Stuhls sei der Vatikanstaat kein Staat mehr, sondern falle zurück an Italien. 26 Schulz (Anm. 8), 25 ff. 27

Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht - Theorie und Praxis, 3. Aufl. 1984, 248; Köck (Anm. 17), 780. 28 Der Begriff bestand schon früher, wurde nun jedoch für den Fall geschaffen, dass ein Land dem päpstlichen Gesandten nicht den Rang des Doyen einräumte. Die ersten ProNuntien nach dieser Regelung waren die in Kenia und Sambia; vgl. Cardinale (Anm. 7), 142 f. 29 Cardinale (Anm. 7), 140 ff.

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den Namen Nuntius, sind ständige Vertreter des Papstes bei den Staatsoberhäuptern fremder Staaten und zumeist im Rang eines Erzbischofs. Die ersten ständigen Nuntien wurden 1492 beim spanischen König, 1513 beim Kaiser und ebenfalls beim französischen König akkreditiert, 30 während umgekehrt Kaiser Maximilian II. 1560 den ersten ständigen Gesandten an den Heiligen Stuhl entsandte.31 Deutsche Staaten entsandten noch später erstmals Gesandte an den Heiligen Stuhl, z.B. Bayern seit Beginn des 17. Jahrhunderts, Preußen 1747, andere lediglich zeitweilig. 32 Die heutige Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl (seit 1954) steht in der Tradition der Preußischen Gesandtschaft. Denn der preußische Gesandte beim Heiligen Stuhl war - bis zum Ende des Staates Preußen 1934 - seit 1920 in Personalunion Botschafter des Deutschen Reiches beim Heiligen Stuhl. Dessen letzter Botschafter war der Vater unseres früheren Bundespräsidenten, Ernst von Weizsäcker.

II. Wie sieht die heutige Praxis aus? Heute wird der Heilige Stuhl u.a. durch die Auslandsbesuche des Papstes selbst (eine neue Entwicklung erst der Pontifikate von Paul VI. und insbesondere Johannes Paul II.) aktiv, aber auch durch Sondergesandte, die er zu bestimmten Ereignissen entsendet, oder in der täglichen politischen Arbeit durch die päpstlichen Gesandten, die Nuntien. 33 Das Päpstliche Gesandschaftsrecht ist in den Can. 362-367 CIC geregelt. Die Aufgabe der Nuntien erstreckt sich in der Regel auf zwei Bereiche: in erster Linie auf die Beziehungen der Kurie zu den jeweiligen Ortskirchen, in zweiter Linie auf

30

Erwin Gatz, Grundsätzliches zu den Diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl, in: Deutsche Vertretungen beim Heiligen Stuhl, 1984, 6; Cardinale (Anm. 7), 30 f. 31 Vorher hatte allerdings bereits z.B. die Republik Venedig 1488 einen Botschafter zum Heiligen Stuhl entsandt; vgl. Cardinale (Anm. 7), 30; Egon Johannes Greipl, Deutsche Diplomatische Vertreter beim Heiligen Stuhl in der Zeit vor dem Wiener Kongress, in: Deutsche Diplomatische Vertretungen beim Heiligen Stuhl, 1984, 12. 32 Gatz (Anm. 30), 8 f. 33

Die Auslandsreisen von Leitern der Dikasterien sind in aller Regel dem innerkirchlichen, nicht dem zwischenstaatlichen Bereich zuzuordnen. Allerdings ist die Unterscheidung durchaus fließend. So ist z.B. der Präsident des Päpstlichen Rates „Gerechtigkeit und Frieden" bei seinen Auslandsreisen zum Teil durchaus politisch und nicht nur kirchlich aktiv, wenn er z.B. vor öffentlichen Foren spricht, sich mit Mitgliedern anderer Regierungen zu Fragen z.B. der Entwicklungshilfe trifft oder wenn der Rat Tagungen z.B. zur Verschuldungsproblematik der Dritten Welt organisiert und dazu Mitglieder ausländischer Regierungen einlädt.

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die diplomatischen Beziehungen mit den Staaten (gibt es Letztere nicht, dann spricht man im Allgemeinen nicht von Nuntien, sondern apostolischen Delegaten). Der Heilige Stuhl hat insgesamt mit 174 Staaten diplomatische Beziehungen, so dass es einfacher ist, die Staaten zu nennen, mit denen er keine pflegt: insbesondere mit der Volksrepublik China (aber mit Taiwan unter der Bezeichnung China seit 1942), mit Vietnam, mit Saudi-Arabien, mit Malaysia. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Ansprache an das Diplomatische Korps am 12.5.2005 sein Interesse daran deutlich gemacht, auch mit den Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen, mit denen dies bisher nicht möglich war. 34 Mit Russland (seit den 90er Jahren) und mit der PLO pflegt man „Beziehungen besonderer Art" und mit vielen nichtchristlichen (erstes Land 1942 Japan) bzw. islamischen Ländern (erstmals Ägypten 1947)35 bestehen ganz normale diplomatische Beziehungen, z.B. Iran, Indonesien, Libyen, Irak. Diplomatische Beziehungen werden auch zur EU gepflegt. Mit Israel hat der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen 1994, mit den USA 1984 Jahren geknüpft. Darüber hinaus nimmt der Heilige Stuhl an zahlreichen internationalen oder regionalen intergouvernementalen Organisationen teil, zumeist als Beobachter, 36 seltener als Mitglied. 37 Von 72 Staaten (Stand April 2005) residieren die akkreditierten Botschafter auch in Rom; die übrigen sind mindestens doppelakkreditiert und residieren - da keine Doppelakkreditierungen beim italienischen Staatsoberhaupt vom Heiligen Stuhl akzeptiert werden - in anderen europäischen Hauptstädten, zahlreiche in Berlin.

III. Wie ist der diplomatische Dienst aufgebaut? Wo liegt der Schwerpunkt der Tätigkeit? Der diplomatische Dienst des Heiligen Stuhls ist personell klein und macht nicht einmal 300 Personen aus. Es gibt eine eigene Diplomatenakademie für die Ausbildung. Deren Absolventen finden sich aber nicht nur an den Nuntiaturen weltweit, sondern bilden auch das Gros der Mitarbeiter im Staatssekretariat. Der Schwerpunkt der Tätigkeit der Nuntiaturen liegt ganz überwiegend nicht in der Wahrnehmung der Beziehungen mit der Regierung des Gastlandes, sondern vorrangig im Wirken für und mit der Ortskirche und in der Förderung der Ökume34

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 270 vom 12.5.05.

35

Cardinale (Anm. 7), 185.

36

Z.B. in den VN, der FAO, aber auch in ILO, UNEP, WHO, WTO, Europarat, OAS, Afrikanische Union 37 Z.B. in der IAEA, aber auch UNHCR, UNCTAD, WIPO, INTELSAT, UPU und ITU, in den letzten dreien auch für den Vatikanstaat.

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ne und des Kontaktes mit den nicht-christlichen Religionen. Sie haben zentrale Mitwirkungsfunktionen bei den Vorschlägen für neue Bischöfe und kümmern sich im Bereich der Sachfragen um die Aushandlung von Konkordaten sowie insbesondere um die Sicherstellung des Rechts auf freie Religionsausübung.38 Die Bemühungen im außenpolitischen Bereich konzentrieren sich auf Menschenrechte, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik allgemein. Eindeutig politisch ausgerichtet sind die päpstlichen Delegierten, die den Heiligen Stuhl bei internationalen Organisationen vertreten, z.B. den Vereinten Nationen, der EU oder dem Europarat.

C. Wie sehen konkrete Einzelbeispiele des völkerrechtlichen Handelns des Heiligen Stuhls/Vatikanstaats aus? I. Vertragspraxis Wie bereits oben ausgeführt, nehmen sowohl das Völkerrechtssubjekt Heiliger Stuhl als auch das Völkerrechtssubjekt Vatikanstaat am völkerrechtlichen Verkehr durch Zeichnung von bi- und multilateralen Verträgen teil. So ist z.B. der Heilige Stuhl den Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen bzw. der Vertragsrechtskonvention beigetreten ebenso wie den Rotkreuzabkommen von 1949, der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Atomwaffensperrvertrag, um nur einige zu nennen. Andererseits ist der Vatikanstaat bisher diese Aufzählung ist abschließend - Vertragspartei des internationalen Getreiderats (IGC), der Satzung der Weltorganisation für Tourismus, der Internationalen Postunion (UPU) und des Internationalen Fernmelde Vertrages (ITU), von INTELSAT und UNIDROIT. Allerdings - und dies vereinfacht nicht die Dinge - heißt es auf der Homepage des Heiligen Stuhls,39 dass der Heilige Stuhl an diesen letztgenannten Organisationen „Mitglied auch im Namen und für den Vatikanstaat" ist.

1. Kriterien, nach denen entschieden wird, welches der beiden Völkerrechtssubjekte beitritt In der Literatur findet sich hierzu wenig bis gar nichts. Ipsen 40 und wohl auch Köck u sehen als Kriterium an, ob der Vertragsgegenstand dem kirchlichen Heils38 39

Ruf (Anm. 19), 114. www.vatican.va.

40

Ipsen (Anm. 16), § 8, Rn. 2, S. 82.

41

Köck (Anm. 17), 782 f.

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auftrag zuzuordnen oder aber typisch staatlich-gebietsbezogen ist: Im ersteren Fall sieht man den Heiligen Stuhl, im letzteren den Vatikanstaat als handelndes Völkerrechtssubjekt. Es scheint mir aber fraglich, ob dieses Kriterium, das zunächst einleuchtet, stichhaltig ist. Wo ist bei einer Organisation wie der Preparatory Commission for the Comprehensive Nuclear Test-Ban Treaty Organisation oder der Haager Organisation für das Verbot chemischer Waffen, bei denen der Heilige Stuhl Mitglied ist, wo bei der FAO oder den VN, bei denen allein der Heilige Stuhl Beobachterstatus hat, der kirchliche Heilsaspekt überhaupt zu sehen, geschweige denn ein solcher Schwerpunkt? Da mag das andere Kriterium hilfreicher sein: Der Vatikanstaat ist dann Mitglied, wenn es sich um typisch staatlich-gebietsbezogene Organisationen handelt. Denn dies könnte man z.B. bei der Internationalen Postunion oder der Internationalen Fernmeldeunion bejahen. Somit wäre der Heilige Stuhl immer dann Mitglied, wenn nicht ausnahmsweise anhand des voranstehend genannten Kriteriums der Vatikanstaat Mitglied ist. Der Heilige Stuhl selbst hat sich ausdrücklich zu dieser Frage nicht näher erklärt. Allerdings kann man seine Homepage dahingehend interpretieren, dass grundsätzlich der Heilige Stuhl handelndes Völkerrechtssubjekt ist, weil allein er Gegenstand der Liste auf der Homepage ist und lediglich in den Ausnahmefällen zusätzlich erklärt wird, bei diesen Organisationen sei der Heilige Stuhl auch im Namen und für den Vatikanstaat Mitglied. Daher ziehe ich es vor, grundsätzlich vom Heiligen Stuhl als Mitglied oder Beobachter auszugehen, es sei denn dass aufgrund typisch staatlich-gebietsbezogenen Vertragsgegenstandes auch zusätzlich der Vatikanstaat Mitglied ist (er ist nirgendwo als Beobachter vermerkt).

2. Menschenrechtsabkommen Der Heilige Stuhl hat u.a. das Abkommen gegen Rassismus von 1966, das Abkommen zum Schutz der Kinderrechte von 1989 und das Antifolterabkommen von 1984 gezeichnet und ratifiziert. Dagegen hat er das Abkommen zu den Rechten der Frau von 1953, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 weder gezeichnet noch ratifiziert. Der Heilige Stuhl vertritt insoweit die Auffassung, dass er grundsätzlich die Ziele dieser Abkommen indossiert, jedoch stünden einem Beitritt ein ganzes Bündel an zuvor zu klärenden Problemen entgegen: Z.B. würden die Abkommenstexte zum Teil nicht den völkerrechtlichen Besonderheiten des Heiligen Stuhls gerecht; teilweise bestünden keine Möglichkeiten zu Vorbehaltserklärungen, die aufgrund der Verfassung des Heiligen Stuhls/Vatikan-

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staates (z.B. kein Zugang von Frauen zum Priesteramt) bzw. von Glaubensüberzeugungen (z.B. Ehescheidung oder Abtreibung) erforderlich würden.

II. Prinzipien der Außenpolitik des Heiligen Stuhls Die besondere Qualität des Handelns des Heiligen Stuhls in der internationalen Staatengemeinschaft unterstrich Papst Paul VI. in seiner Rede vor den Vereinten Nationen - der ersten eines Papstes dort - am 4.10.1965: „Ihr habt vor Euch einen Menschen wie Euch, einen Bruder, der unter Euch Repräsentanten souveräner Staaten einer der kleinsten ist, versehen mit einer nur äußerst kleinen, quasi symbolischen territorialen Souveränität - gerade ausreichend um frei zu sein, seine geistliche Mission auszuführen und jedem, der mit ihm zu tun hat, zu versichern, dass er unabhängig ist von jeglicher Autorität dieser Welt. Ein Bruder, der keine weltliche Macht hat und keinerlei Ambitionen, mit Euch zu konkurrieren". 42 In ähnlicher Weise unterstrich Papst Johannes Paul II. die „raison d'être" vatikanischer Diplomatie: „... in der internationalen Gemeinschaft die Stimme zu sein, die das menschliche Gewissen erwarte. ... Als geistliche und universelle Autorität werde der Heilige Stuhl weiterhin seinen Dienst für die Menschheit leisten ohne andere Sorge als die, unermüdlich den Notwendigkeiten des Gemeinwohls, dem Respekt der menschlichen Person ... zu dienen".43 In einer Grundsatzrede im Januar 2004 (bisher nicht veröffentlicht) legte der gerade aus dem Amt geschiedene „Außenminister" des Heiligen Stuhls, der nunmehrige Kardinal Tauran, dar, der Heilige Stuhl sei eine „moralische Macht religiöser Natur", deren Mission im Rahmen der Beziehungen mit den Verantwortlichen in der Gesellschaft in der Welt generell es sei, „dem Gewissen der Person und der Völker eine Stimme zu geben". Diplomatie des Heiligen Stuhls insoweit verschieden von der anderer Staaten - drücke die Fürsorge des Papstes für alle Völker der Erde aus. Denn die katholische Kirche sei die einzige Religion mit Zugang zu diplomatischen Beziehungen. Diese Diplomatie beruhe auf vier Hauptprinzipien: 1. Achtung der menschlichen Person und ihrer Rechte, allen voran das Recht auf Leben, in allen Phasen der biologischen Entwicklung bis zum natürlichen Tod. Mit diesem Ziele habe der Heilige Stuhl aktiv an den großen VN-Konferenzen teilgenommen: Umwelt und Entwicklung (Rio, 1992), Menschenrechte (Wien, 1993), Bevölkerung und Entwicklung (Kairo, 1994), Frauen (Peking 1995), Habitat (Istanbul 1996) und Nach42 43

Acta Apostolicae Sedis, L V I I (1965), 877.

Am 9.1.1995 gegenüber dem diplomatischen Korps, abgedruckt in: Giovanni Paolo I I e la Famiglia dei Popoli, 2002, 255 ff.

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haltige Entwicklung (Johannesburg 2000). Art. 3 der Menschenrechtserklärung und Art. 6 des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte seien nicht vereinbar mit Forderungen nach Abtreibung, Experimenten mit Embryonen oder Liberalisierung der Euthanasie; 2. Förderung und Verteidigung des Friedens. Der Papst habe immer wieder gemahnt, dass jeder Staat die Pflicht habe, seine Existenz und seine Freiheit gegen einen ungerechten Aggressor zu schützen - mit verhältnismäßigen Mitteln. Dies sei aber die einzige Ausnahme, um von den Instrumenten des Dialogs, der Vermittlung und der Diplomatie absehen zu können. Friedensförderung verlange auch Abrüstung, weshalb der Heilige Stuhl den Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen von 1971 unterzeichnet habe, weshalb er Mitglied des Abkommens gegen Chemiewaffen von 1993 sei ebenso wie des Abkommens gegen Antipersonenminen von 1997; 3. Streben nach einer sozialen und internationalen Ordnung, gestützt auf Recht und Gerechtigkeit. Jedes Land habe die Pflicht, seinen Bürgern die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu sichern: Arbeit, Nahrung, Gesundheit, Wohnung und Bildung; 4. Wertschätzung für die Demokratie.

III. Friedenspolitik Jedes Jahr seit 1979, als Johannes Paul IL erstmals am 1. Januar einen Weltfriedenstag ausrief, sandte der Papst eine Friedensbotschaft an diesem Tag in die Welt. Dadurch wollte er deutlich machen, dass dem Heiligen Stuhl der Frieden vorrangiges politisches Ziel ist.

I. Irak Ganz besonders deutlich wurde dies im Frühjahr 2003, als der Papst mit seiner Ansprache an das diplomatische Korps eine regelrechte politische Offensive gegen eine bewaffnete Intervention im Irak begann. Darin sagte er u.a., Krieg sei nicht immer unausweichlich, aber immer eine Niederlage für die Menschheit.44 Insbesondere sprach er sich für das Völkerrecht und die „noble Ausübung der Diplomatie" aus, um Konflikte zwischen Nationen zu lösen. Die VN-Charta und Völkerrecht mahnten, dass Krieg, selbst wenn es um die Wahrung des Gemeinwohls gehe, nur als letzte Option und unter Beachtung striktester Bedingungen akzeptabel sei. Die offiziöse, weil vom Staatssekretariat des Heiligen Stuhls gegengelesene Jesuitenzeitschrift „Civiltà cattolica" verurteilte auch öffentlich in einem Leitartikel den Gedanken eines Präventivkrieges und argumentierte sowohl moral44

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 20 vom 13.1.2003.

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theologisch als auch völkerrechtlich. 45 Im Hinblick auf die Irak-Intervention meinte der damalige „Außenminister" des Vatikan, der heutige Kardinal Tauran, ein „Angriffskrieg wäre ein Verbrechen gegen den Frieden", und fuhr fort, „während die legitime Selbstverteidigung die Existenz eines vorangegangenen bewaffneten Angriffs voraussetzt". 46 Der ständige Beobachter des Heiligen Stuhls bei den V N in New York erklärte am 1.4.2003 vor der Abrüstungskommission der V N im Hinblick auf den Irak die „force of law" als vorrangig vor dem „law of force". 47 Ende Februar - mitten in den Bemühungen, eine militärische Intervention zu verhindern - betonte der damalige „Außenminister" des Heiligen Stuhls, Tauran, das Recht zur legitimen Verteidigung setze einen bewaffneten Angriff voraus. Kein Grundsatz des Völkerrechts ermächtige einen oder mehrere Staaten zur Gewaltanwendung, um ein Regime zu stürzen, weil dies möglicherweise über Massenvernichtungswaffen verfüge. 48 Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, und heutige Papst Benedikt XVI. bekräftigte diese Aussagen, als er im Januar 2003 in einem Interview mit Radio Vatikan betonte, es sei nach den Maßstäben der katholischen Soziallehre derzeit „eine Rechtfertigung für den Irak-Krieg nicht sichtbar". 49 Der Papst schickte sowohl zu Saddam Hussein einen persönlichen Gesandten (den französischen Kardinal Etchegaray, bewährter „troubleshooter" von Papst Johannes Paul II.) als auch zu Präsident Bush (Kardinal Laghi , einen früheren Nuntius in den USA und persönlichen Freund der Familie Bush). Er stimmte sogar einer Privataudienz für den damaligen irakischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Tariq Aziz zu und empfing innerhalb weniger Tage u.a. die Ministerpräsidenten von Großbritannien (erstmals in 30 Jahren), Italien und Spanien, den deutschen Außenminister Fischer, einen Staatssekretär im französischen Außenministerium, den Bruder des iranischen Staatspräsidenten mit einer Sonderbotschaft, den russischen Senatspräsidenten. Die Tatsache, dass die Spitzen der internationalen Politik sich beim Papst „die Klinke in die Hand gaben", um für ihre Position zu werben, ja wenn möglich den Heiligen Stuhl für sie zu gewinnen, sollte auch den Skeptikern gegenüber einem realen Einfluss des Heiligen Stuhls auf die internationale Politik zu denken geben. Selbst die einzig verbliebene Supermacht, die USA, wollte dem Heiligen Stuhl nicht allein das Feld im Grenzbereich Politik/Theologie überlassen und entsandte Mitte Februar einen prominenten amerika-

45

Civiltà cattolica, Ausgabe vom 18.1.2003, 107 ff.

46

Am 24.2.2003 bei einer Konferenz in Rom, vgl. Zeitschrift 30 Tage, Ausgabe Nr. 3, 2003, 8 ff. 47 Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 168 vom 1.4.2003. 48

Siehe oben (Anm. 46).

49

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA), Meldung Nr. 595 vom 17.1.2003.

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nischen katholischen Moraltheologen, Michael Novak, nach Rom, um in Vorträgen für die US-Position eines präventiven Handelns zu werben.

2. Welche Rolle spielen völkerrechtliche Fragen in der Außenpolitik des Heiligen Stuhls? Ihnen misst der Heilige Stuhl große Bedeutung bei. Ich zitierte entsprechende Passagen aus einer Papstrede.50 Solche öffentliche Erklärungen des Heiligen Stuhls sind kein Einzelfall. Der damalige Kurienkardinal Ratzinger und heutige Papst Benedikt XVI. vertrat in einem Interview mit Radio Vatikan die Ansicht, nach der traditionellen kirchlichen Lehre könne ein Krieg nur dann legitimiert werden, wenn ein „ganz schwerwiegendes und anders überhaupt nicht zu beseitigendes Unrecht nur auf diese Weise bekämpft werden kann". Ferner müsse abzusehen sein, dass die daraus entstehenden Schäden nicht größer seien als der daraus folgende Nutzen; zudem dürfe die Zivilbevölkerung nicht auf gravierende Weise beeinträchtigt werden. 51 So befürwortete der heutige „Außenminister" des Heiligen Stuhls, Erzbischof Lajolo in der ersten Rede eines vatikanischen Außenministers vor der VN-Vollversammlung am 30.9.2004, Organisationen wie die V N müssten spezielle Prärogativen erhalten, um in Zeiten internationaler Krisen Konflikte verhindern oder sogar, wenn absolut notwendig, „humanitär intervenieren" zu können, d.h. Aktionen, um „einen Angreifer zu entwaffnen". 52 Noch deutlicher meinte sein Vorgänger Tauran im Hinblick auf Vorschläge des Heiligen Stuhls zum Rechtsbegriff der humanitären Intervention anlässlich des Krieges in Jugoslawien, die Staaten hätten „das Recht, ja die Pflicht einzuschreiten und die zu entwaffnen, die töten wollen - nicht, um zum Krieg aufzurufen, sondern um ihn zu verhindern". 53 So leiste der Heilige Stuhl einen Beitrag dazu, dass bei der Abfassung völkerrechtlicher Dokumente, die oft ideologisch geprägt seien, ... der Beitrag des klassischen Völkerrechts gewahrt bleibe. In einem Vortrag 54 nannte der frühere vatikanische „Außenminister" Tauran als Elemente einer „Strategie für den Frieden" des Heiligen Stuhls - die klare Ablehnung des Krieges, - eine effektive Abrüstung,

50

Siehe oben unter C. III. 1.

51

KNA, Meldung Nr. 595 vom 17.1.2003.

52

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 474 vom 30.9.2004.

53

Siehe oben (Anm. 46), 10.

54

Siehe oben (Anm. 46), 9.

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- eine internationale Ordnung, die sich auf Recht und Gerechtigkeit und auf die Menschenrechte stützt, - den Respekt für das Völkerrecht und erwähnte in diesem Zusammenhang die Mitarbeit des Heiligen Stuhls bei der Erarbeitung von internationalen Konventionen.55

3. Solidarität zwischen den Völkern Friedenspolitik sieht der Heilige Stuhl im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffes auch in einer Politik der Solidarität und Gerechtigkeit zugunsten der armen und ärmsten Länder in der Welt. Damit ist nicht nur Solidarität der reichen mit den armen Ländern im Wege der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gemeint, sondern - wie Johannes Paul II. Anfang diesen Jahres betonte56 - auch darin, dass die Güter dieser Erde allen zugute kommen sollen. Solidarität könne Hunger und ungerechte Armut überwinden. Papst Benedikt XVI. hat sofort in seiner Rede bei der feierlichen Amtseinführung am 24.4.2005 diese Linie aufgenommen und zur Bekämpfung der Armut und des Hungers aufgerufen. 57 Ein konkretes Politikbeispiel insoweit ist das Bemühen des Heiligen Stuhls um Afrika und sein Engagement für die Erreichung der Millenniumsziele. Im Jahre 2004 veranstaltete der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden mehrere hochrangige Konferenzen, um die Aufmerksamkeit auf die Probleme des Kontinents zu lenken und Wege zu Problemlösungen aufzuzeigen. Zum einen berief er über die Lage Afrikas allgemein ein Zusammentreffen aller afrikanischen Botschafter beim Heiligen Stuhl mit Vertretern der Kurie und afrikanischen Ortsbischöfen ein, zum anderen veranstaltete er eine Konferenz, die sich speziell mit der Frage der Verschuldung afrikanischer Staaten befasste und an der u.a. der britische Finanzminister, der frühere IWF-Direktor Camdessus sowie Minister verschiedener afrikanischer Staaten teilnahmen. Auf dieser Konferenz befürworteten die Vertreter des Heiligen Stuhls einen massiven Schuldenerlass. In diesem Zusammenhang ist auch eine Kampagne zu sehen, an der sich zahlreiche geistliche Orden aus der katholischen Kirche beteiligt haben, indem sie an in der Verantwortung stehende Politiker appellierten, sich im G-7/G-8 Rahmen für die Erreichung der Millenniumsziele einzusetzen. Darüber hinaus fand zum zweiten Mal überhaupt nach 10 55

Der Heilige Stuhl hat wichtige völkerrechtliche Institute (u.a. Gesandschaftswesen, Schiedsgerichtsbarkeit) mit ausgebildet, vgl. Vitzthum (Anm. 13), 6. 56 Ansprache an das Diplomatische Korps am 10.1.2005, Ziff. 6, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 14 vom 10.1.2005. 57 Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 238 vom 24.4.2005.

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Jahren im Staatssekretariat des Heiligen Stuhls eine interne Konferenz aller Nuntien in Afrika statt, um die Situation auf dem Kontinent zu diskutieren.

IV. Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Heiligen Stuhl und den Vereinten Nationen? 1. Einstellung zu den VN Der Heilige Stuhl - oft sogar Johannes Paul II. oder Kardinal Staatssekretär Sodano persönlich - hat immer wieder die zentrale Rolle der VN-Charta und der V N generell im Verhältnis zwischen den Staaten betont. In einem Schreiben an VN-Generalsekretär Annan vom Juni 2003 betont Kardinal Staatssekretär Sodano die zentrale Rolle der V N nicht nur als Vermittler, sondern auch „als Führer für die gesamte Menschheit zu einem friedlichen Zusammenleben nach Recht und Gesetz".58 In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag vom 1.1.2004 bekräftigte Papst Johannes Paul II., dass die „ V N trotz der Grenzen und Verzögerungen, die größtenteils auf Versäumnisse ihrer Mitglieder zurückzuführen sind, durch die Aufbereitung des kulturellen und institutionellen Bodens für den Aufbau des Friedens bedeutend dazu beigetragen haben, die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit der Völker und den Anspruch auf Entwicklung zu fördern. 59 In diesem Text fährt der Papst dann fort mit der - allerdings nicht näher ausformulierten - Forderung nach einer Reform der VN: „Die Menschheit ... braucht einen höheren Grad internationaler Ordnung". Bereits 199560 hatte er gefordert, die V N müssten sich „immer mehr aus dem kalten Stadium einer administrativen Institution zu dem eines moralischen Zentrums" erheben, in dem sich „alle Menschen der Welt zu Hause fühlen", sozusagen in der „Familie der Nationen". Eine Konkretisierung dieser Reformvorstellungen hat es bisher jedoch nicht gegeben. Im Zusammenhang mit der Intervention im Irak im Frühjahr 2003 beklagte der Präsident des Päpstlichen Rates „Gerechtigkeit und Frieden", der frühere ständige Beobachter des Heiligen Stuhl bei den VN, Kardinal Martino , eine Krise der VN, die den Ruf der Enzyklika von Johannes XXIII. nach einer weltweiten, wirklichen Autorität, die in der Lage sei, Frieden und Entwicklung in der Welt zu sichern, noch deutlicher mache. Die Schwächung internationaler

58 59

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 318 vom 20.6.2003.

Siehe den auch in deutscher Sprache veröffentlichten Text, z.B. in der Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 16.12.2003, 5 f. 60 Ansprache an die 50. VN-Vollversammlung, 5.10.2005, vgl. Attività della Santa Sede, 1996, 470 ff.

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Organisationen könne auch das Bewusstsein der Menschheit schwächen, eine Familie zu sein.

2. Welchen Status hat der Heilige Stuhl innerhalb der VN? Der Heilige Stuhl besitzt seit 1964 Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Eine Zeit lang dachte der Heilige Stuhl in den Jahren 2002/2003 darüber nach, ob er sich um die Mitgliedschaft bewerben sollte. Auslöser war dabei der Erwerb der Mitgliedschaft durch die Schweiz, die den Heiligen Stuhl als mehr oder weniger einzigen staatlichen Beobachter zurückließ. Im Ergebnis trat der Heilige Stuhl an Italien heran, um im VN-Kreis einen Schritt zu sondieren, die Beobachterrechte des Heiligen Stuhls signifikant auszuweiten. Die Sondierungen mündeten in einem Konsensbeschluss des Plenums der V N vom 1.7.2004.61 Danach hat der Heilige Stuhl weiterhin kein Stimmrecht (für ihn eher ein Vorteil denn ein Nachteil) und kein Benennungsrecht für Kandidaten für VN-Wahlämter, jedoch Rederecht und das Recht zur Zirkulation von Dokumenten, ein eingeschränktes Recht zur Stellung von Geschäftsordnungsanträgen und zur Miteinbringung von Resolutionen sowie Sitzrecht in der GV und ihren Ausschüssen.62 Seit diesem Konsensbeschluss wurde die Frage einer Mitgliedschaft von Seiten des Heiligen Stuhls nicht mehr aufgeworfen. Aus einem Artikel in der Jesuitenzeitschrift „Civiltà Cattolica" ist zu entnehmen, dass der Heilige Stuhl zwar eine Vollmitgliedschaft in den V N als rechtlich möglich erachtet, letztlich aber der Auffassung ist, dass sie nicht der besonderen Natur und den wohlverstandenen Interessen des Heiligen Stuhls entspräche.63 Damit dürfte der Heilige Stuhl das erreicht haben, worum es ihm letztlich ging - nämlich in den V N im Sinne seiner Prioritäten die Stimme erheben zu können, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, als Vollmitglied an Abstimmungen teilzunehmen - was er prinzipiell als „eher spiritueller Beobachter" und „Stimme der Stimmlosen in den V N " zu vermeiden sucht.

61 62

Resolution 58/314 vom 1.7.2004.

Erläuterungen des VN-Sekretariates zu den Rechten des Heiligen Stuhls in: VNDokument A/58/871 vom 16.8.2004. 63 Civiltà Cattolica vom 18.12.04, 588 f., wo u.a. negativ bewertet wird, dass bei einer Vollmitgliedschaft der Heilige Stuhl bei Abstimmungen in eine unendliche Reihe von Abstimmungspositionen zu politischen Themen geriete und sich so der Gefahr aussetzte, gegen seine spirituelle und moralische Rolle als Institution über den Parteien zu verstoßen. Selbst konsequente Stimmenthaltung würde auf Kritik stoßen - von innerhalb der Kirche oder von außen.

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3. Was ist die Position des Heiligen Stuhls zu den aktuellen Reformbestrebungen ? Zu den aktuellen Reformbestrebungen innerhalb der V N hat sich der Heilige Stuhl bisher lediglich in allgemeiner Form geäußert.64 Insbesondere hat er nicht zu einer Erweiterung des VN-Sicherheitsrates um weitere Mitglieder respektive zu möglichen Kandidaten für eine solche Erweiterung Stellung genommen. Erzbischof Lajolo, „Außenminister" des Heiligen Stuhls, zitierte vor der VN-Vollversammlung im September letzten Jahres lediglich die Worte von Papst Johannes Paul IL am Weltfriedenstag 2004. 65 Erzbischof Migliore, 66 ständiger Vertreter des Heiligen Stuhls bei den V N in New York, forderte, entsprechend ihrer universellen Mitgliedschaft müßten die V N sich ähnlich umfassenden Zielen anpassen. Hauptpunkt für den Heiligen Stuhl sei es, dass Strukturen den Aufgaben folgen müßten. Zentrale Kriterien für eine Umgestaltung der Strukturen seien Repräsentativität und umfassende Beteiligung („representation and inclusiveness"), für neue Verfahren Unparteilichkeit und Effizienz. Die Legitimität der Entscheidungen der V N einschließlich des Sicherheitsrates leiteten sich letztlich wie bei jedem politischen Organ von zwei „Säulen" ab: zum einen von Grad und Ausmaß der Vertretung, zum anderen vom Verfahren der Entscheidungsfindung. Bei einer Restrukturierung des Sicherheitsrates sollte man darauf achten, dass seine Zusammensetzung so weit wie möglich die Weltbevölkerung, die geopolitischen Regionen, die verschiedenen Stadien der Entwicklung und die verschiedenen Kulturen widerspiegelt. Die V N müßten eine mehr nach außen schauende Organisation werden, die in der Lage ist, sorgfältiger dem Bedarf und den Forderungen der weltweiten Gemeinschaft zuzuhören.

V. Wie gestalten sich die Beziehungen des Heiligen Stuhls mit Europa? 7. Europäische Einigung Seit den Anfängen der europäischen Einigung begleitete sie der Heilige Stuhl mit Wohlwollen und zum Teil aktiver Unterstützung. Die europäische Integration 64

So z.B. Außenminister Erzbischof Lajolo am 30.9.2004 vor der Generalversammlung, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 474 vom 30.9.2004 bzw. der ständige Beobachter des Heiligen Stuhls bei den VN, Erzbischof Migliore, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 484 vom 6.10.2004. 65 Siehe oben (Anm. 59). 66

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 484 vom 6.10.2004.

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ist darüber hinaus ein Thema, zu dem sich insbesondere Johannes Paul IL persönlich immer wieder, auch durch öffentliche Aufrufe geäußert hat. Dies gilt gerade auch für die Erweiterung des geeinten Europas nach Osten. Schon früh hat Papst Johannes Paul IL das geflügelte Wort von den beiden Lungenflügeln verwandt, durch die Europa atmen müsse: Westen und Osten. Selbst nach der letzten Erweiterungsrunde vom 1. Mai 2004 forderte er, der Prozess der EU-Erweiterung müsse „bis an die Grenzen des Kontinents" ausgedehnt werden. Er müsse „alle Völker" Europas erfassen, da diese über ihre historischen Verbindungen hinaus auch „dieselben kulturellen und religiösen Werte" teilten. 67 Diese Äußerung des Papstes, in der er nicht konkret zu den geographischen Grenzen Europas Stellung nahm, dürfte diejenige sein, die innerhalb der Kurie am weitesten ging. Denn offiziell nimmt der Heilige Stuhl die Haltung ein, er sei nicht Mitglied der EU und wolle sich deshalb auch nicht zu ihrer Erweiterung äußern. Dies gilt auch für eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei. Insoweit hat der Heilige Stuhl allerdings wiederholt auf die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien gedrungen, insbesondere auf das Prinzip der Religionsfreiheit. Vermutlich dürfte man jedoch nicht völlig die vatikanische Wirklichkeit verkennen, wenn man bei vielen Mitgliedern der Kurie persönlich von Skepsis oder gar Ablehnung gegenüber einer türkischen EU-Mitgliedschaft ausgeht oder zumindest von der Ansicht, die Aufnahme anderer Staaten in Europa sei vordringlicher. So hat sich z.B. ausdrücklich als persönliche Meinung gekennzeichnet - auch der damalige Kardinal Ratzinger 68 gegen eine Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen. Der frühere vatikanische „Außenminister", der heutige Kardinal Tauran, äußerte sich gegenüber dem Corriere della Sera zu einem Türkeibeitritt im Jahr 2003 sehr zurückhaltend und meinte, Staaten wie Moldawien oder der Ukraine sollte man den Vortritt geben.69 Andererseits ließ der italienische Kardinal Tucci gewisse Sympathien für einen Beitritt erkennen: Verankerung eines „großen, authentisch moderaten islamischen Landes" in der europäischen Demokratie. 70

2. Europäische Verfassung Die Bedeutung, die sowohl europäische Gremien der katholischen Kirche als auch der Heilige Stuhl, der ja ebenso wie der Vatikanstaat kein EU-Mitglied ist,

67

Vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 212 vom 2.5.2004.

68

Interview mit Figaro Magazine vom 13.8.2004.

69

Vgl. Ausgabe vom 25.5.2003; in ähnlichem Sinne auch der Präsident der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Ruini. 70 Gegenüber Radio Vatikan, zitiert nach S. Magister, www.chiesa.org, vom 19.10.2004.

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dem europäischen Integrationsprozess beimessen, zeigte sich zuletzt ganz deutlich bei der Diskussion über die Europäische Verfassung. Die Katholische Kirche arbeitete bei ihrer Lobbyarbeit im Hinblick auf die Verfassung zweigleisig: vorrangig durch die Kommission der europäischen Bischofskonferenzen (COMECE) und - insbesondere in der Schlussphase der Diskussion - durch den Heiligen Stuhl, und zwar sowohl über dessen Beobachter bei der EU als auch direkt durch den Papst und den Kardinal Staatssekretär gegenüber politischen Besuchern und Botschaftern. Die COMECE erarbeitete frühzeitig Stellungnahmen und Positionspapiere und speiste sie in den Diskussionsprozess in Brüssel ein. 71 Vorrangig ging es ihr hier um Fragen der kirchlichen Selbstverwaltung und um Wahrung des insoweit bestehenden Acquis in den einzelnen Mitgliedstaaten, um formalisierte Beteiligung am Entscheidungsprozess der EU in Bereichen, die für die Kirche relevant sind. Insoweit entspricht der Art. 52 des Verfassungsentwurfes in vollem Umfang den Wünschen der katholischen Kirche (aber wohl auch der anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere der christlichen Kirchen, mit denen sich die katholische Kirche eng abstimmte). Denn dort wird genau der Acquis in den Mitgliedstaaten anerkannt. Zudem wird ein offener, transparenter und regelmäßiger Dialog mit der Union garantiert. Darüber hinaus setzte sich die COMECE auch dafür ein, dass in die Präambel ein Gottesbezug aufgenommen und in der Verfassung die christlichen Wurzeln Europas anerkannt würden. In der Schlussphase der Diskussion im Konvent, als sich eine Regelung wie nun im Art. 52 abzeichnete, konzentrierten sich die Bemühungen auf die Aufnahme des Gottesbezuges und der Erwähnung der christlichen Wurzeln in die Verfassung. Als Akteur trat hier immer stärker der Heilige Stuhl (z.B. mit einem Kongress des Päpstlichen Rates „Gerechtigkeit und Frieden" gemeinsam mit italienischen Politikern im Januar 2003), ja Papst Johannes Paul IL selbst in den Vordergrund. So äußerte er z.B. im September 2002 in seiner Ansprache anlässlich der Überreichung meines Beglaubigungsschreibens sein Vertrauen darauf, dass Gelehrte und politische Verantwortungsträger aus Deutschland einen „gezielten Beitrag" dazu machten, dass eine klare Bezugnahme auf Gott und den christlichen Glauben in die europäische Verfassung gelange.72 Der Vorsitzende des Konvents, Giscard D'Estaing, suchte den Papst Ende Oktober 2002 auf, um für die von ihm ver-

71 Z.B. gemeinsam mit der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen, CEC, vom 27.9.2002 in einem Dokument mit dem Titel Churches and Religious Communities in a Constitutional Treaty of the EU. 72 L'Osservatore Romano vom 14.9.2002, 4.

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tretenen Positionen73 zu werben. Auch öffentlich appellierte Johannes Paul II. in immer kürzeren Abständen - praktisch bei jedem Besucher aus einem EU-Mitgliedsland - für sein Anliegen. 74 Er musste dann aber schließlich sehen, dass der Entwurf ohne den gewünschten Bezug auf Gott und die christlichen Wurzeln von den Staats- und Regierungschefs in Rom unterzeichnet wurde. Der Heilige Stuhl hat in seiner Reaktion zwar Bedauern über das Fehlen der von ihm gewünschten Passagen ausgedrückt, jedoch vorrangig die Unterzeichnung begrüßt und Befriedigung über einen weiteren, wichtigen Schritt der europäischen Integration und über den nun mit Art. 52 geschaffenen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog deutlich gemacht.75 In seiner Neujahrsansprache an das diplomatische Korps im Januar dieses Jahres hob Johannes Paul IL Europa sogar als Modell für die Welt hervor: Staaten, „die in tödlichen Kriegen umfangen" gewesen seien, vereinten sich nun in der EU mit einer gemeinsamen Verfassung. Zur Lage nach der Ablehnung des Europäischen Verfassungsentwurfs in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden hat sich der Heilige Stuhl offiziell nicht geäußert. Allerdings haben Vertreter nationaler Bischofskonferenzen und der COMECE den negativen Ausgang der Referenden mit Bedauern kommentiert.

3. Wie kommt es, dass der Vatikanstaat Euromünzen ausgibt? Spätestens die mit bemerkenswerten Preisforderungen im Internet angebotenen Euro-Münzsätze des Vatikanstaates haben einem breiteren Kreis bewusst gemacht, dass der Vatikanstaat Euromünzen prägen darf und zum so genannten „Euroland" zählt, ohne Mitglied der EU zu sein oder in einem irgendwie gearteten Assoziierungsverhältnis mit ihr zu stehen. Er ist zusammen mit Monaco und San Marino der einzige Nichtmitgliedstaat, der dieses Privileg hat. Dies geht für den Vatikan letztlich auf die Lateranverträge zurück, nach denen die italienische Lira gesetzliches Zahlungsmittel im Vatikanstaat war.

73

Regelungen, wie sie sich nun in Art. 52 finden, aber - angesichts französischer Tradition der Laizität - wenig Chancen für einen Konsens für einen Bezug auf christliche Wurzeln bzw. Gott. 74 Z.B. am 7.11.2003 gegenüber der Versammlung der Robert-Schumann-Stiftung, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 558 vom 7.11.2003. Vgl. für die Problematik und Positionen insgesamt z.B. Daniel Deckers, Gott in Europa, FAZ vom 16.11.02. 75 Vatikan-Sprecher Navarro- Valls, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 306 vom 19.6.04.

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Gemäß den Lateranverträgen von 1929 und der 1991 mit Italien geschlossenen Convenzione Monetaria darf der Vatikanstaat eigene Münzen prägen. Bis zur Einführung des Euro gab es die sowohl im Vatikan als auch in Italien gültige Währung der Lira mit vatikanischer Prägung. 1998 hat der Europäische Rat dies Münzrecht für den Euro bestätigt, obwohl der Vatikanstaat weder Mitglied der EU noch des Vertrags werks zur Gemeinschafts Währung Euro war. Am 29. Dezember 2000 haben der vatikanische „Außenminister" Tauran 76 und sein italienischer Kollege Dini im Namen der EU eine Convenzione Monetaria zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Italien unterzeichnet. Danach darf der Vatikanstaat den Euro als offizielle Währung nutzen und jährlich in geringer Auflage, nämlich für den Gegenwert von ca. 670.000 Euro, Euromünzen prägen bzw. Scheine drucken lassen, die auf das italienische Gesamtvolumen angerechnet werden. 77 Zur Zeit gelangen kaum Euromünzen in den Geldverkehr, weil sie ganz überwiegend sofort vom Münzhandel aufgenommen und teuer weiterverkauft werden.

VI. Klonen Das VN-Projekt einer Internationalen Konvention gegen das Klonen von Menschen wurde von Anfang an vom Heiligen Stuhl mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Bereits bei der ersten Sitzung des VN-Sonderausschusses zur Erarbeitung eines Verhandlungsmandats für eine solche Konvention war der Heilige Stuhl zusammen mit den USA und Costa Rica - einer der Wortführer der Gruppe, die über den deutsch-französischen Resolutionsentwurf hinaus nicht nur das reproduktive Klonen, sondern auch das so genannte „therapeutische" Klonen verboten wissen wollte. Der von Frankreich und Deutschland gewählte Ansatz der Beschränkung auf das reproduktive Klonen, um angesichts bereits weit fortgeschrittener Forschungsvorhaben im Bereich des Klonens in einigen Ländern der Welt möglichst breiten internationalen Konsens zu ermöglichen, wurde vom Heiligen Stuhl über die Dauer der Verhandlungen hinweg immer deutlicher aus prinzipiellen, einen Kompromiss ausschließenden Gründen abgelehnt. Das Argument des

76

Laut Erklärung von Papstsprecher Navarro-Valls im Namen des Heiligen Stuhls (als Vertreter des Vatikanstaates), vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 782 vom 29.12.2000. 77

Der Vatikanstaat ist auch insoweit ein Sonderfall, weil er anders als Monaco und San Marino keine Sonderbeziehungen zur EU, wie z.B. eine Zollunion, hat. Einzelheiten sind nachzulesen bei Bernd Krauskopf/Christine Steven, Einführung des Euro in außereuropäischen Territorien und währungsrechtliche Regelungen im Verhältnis zu Drittstaaten, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1999, 650 ff.

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„kleineren Übels" wenigstens einer Konvention gegen das reproduktive Klonen, wenn ein allgemeines Klonverbot realistisch nicht zu erreichen sei, war - so schälte sich zunehmend heraus - für den Heiligen Stuhl nicht akzeptabel: Therapeutisches Klonen sei letztlich nicht anders zu beurteilen als reproduktives Klonen, weil dabei menschliche Embryos „verbraucht" würden, um Stammzellen zu gewinnen.78 Die Sorge war nicht zuletzt auch die, dass eine Zustimmung zu einer begrenzten Konvention gegen das reproduktive Klonen inzidenter als Zustimmung für andere Formen des Klonens missverstanden werden könnte. Diese Haltung des Heiligen Stuhls dürfte auch dadurch bestärkt worden sein, dass andere Staaten, wie z.B. die USA, aber auch Spanien, lediglich ein umfassendes Klonverbot akzeptieren wollten. Die Haltung des Heiligen Stuhls in dieser Frage hat vermutlich für viele Staaten mit überwiegend katholischer Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt. Die große Mehrzahl von ihnen, soweit sie bereits Position bezogen hatten, folgten der Haltung des Heiligen Stuhls. Verschiedene Kompromissvorschläge kamen letztlich nicht zum Zuge, so dass die VN-Generalversammlung nach vierjährigen Verhandlungen am 8.3.2005 eine „VN-Erklärung zum Klonen von Menschen" mit 89 zu 34 Stimmen bei 38 Enthaltungen annahm (Deutschland stimmte dafür). In dieser Erklärung wird dazu aufgefordert, menschliches Leben „angemessen zu schützen" und jegliches Klonen zu verbieten, „in dem Maße wie es gegen die Menschenwürde verstößt". Stimmerklärungen einiger Staaten nach der Abstimmung machten deutlich, dass sie die Erklärung als letztlich unverbindlich ansahen; sie hindere niemanden daran, das Potential des therapeutischen Klonens weiter auszuloten. „UNO-Erklärung gegen das Klonen reicht nicht!", so äußerte sich am 10.3.2005 im Radio Vatikan der Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, Bischof Sgreccia , der maßgeblich an der Ausarbeitung der Position des Heiligen Stuhls beteiligt war. Die Erklärung bezeichnete er als „eine Formalität, einen Appell, an den sich keiner hält". Die VN-Generalversammlung habe offensichtlich „nicht die Kraft und den Mut" gehabt, bestimmten menschlichen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen. „Keine Kraft zu einem klaren Nein - nur so formal, das niemanden zu nichts verpflichtet"! Der ständige Beobachter des Heiligen Stuhls, Erzbischof Migliore , kommentierte verhaltener: Die Resolution sei wichtig, denn sie fordere von allen Staaten, jede Form des menschlichen Klonens zu verbieten.

78 Siehe z.B. die Ausführungen des damaligen ständigen Beobachters des Heiligen Stuhls, Kardinal Martino , im Sonderausschuss der V N am 24.9.2002, vgl. Bulletin des Presseamtes des Heiligen Stuhls Nr. 161 vom 24.9.2002.

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VII. Konkordate 1. Definition Konkordate sind Verträge zwischen Staat und Kirche, in diesem Fall der katholischen Kirche, die eine besondere Bezeichnung haben und einvernehmlich solche Fragen regeln, die im beiderseitigen Interesse sind. Solche Abkommen können Einzelfragen regeln (wie z.B. der Vertrag zwischen dem Freistaat Thüringen und dem Heiligen Stuhl vom 19.11.2002 über die Integration der kirchlichen Theologischen Fakultät Erfurt in die staatliche Universität Erfurt), aber auch ein Bündel ganz unterschiedlicher Fragen. 79 Es handelt sich dabei um völkerrechtliche Verträge, die beide Seiten gleichermaßen binden und nicht einseitig widerrufen werden können.80 Der Heilige Stuhl hat Konkordate in großer Zahl weltweit abgeschlossen,81 allerdings überwiegen die Staaten, die bisher keine derartigen Vereinbarungen haben - darunter so katholische wie Irland. Immerhin ist unter dem Pontifikat von Johannes Paul IL die Zahl der Konkordate kontinuierlich gestiegen. Der Heilige Stuhl sieht sie als ein Instrument, das sich den politischen Realitäten anpasst und sich unterschiedlichen rechtlichen Strukturen je nach Bedarf und Regelungsobjekt modifizieren lässt. Waren Staaten in früheren Jahren nicht zum Abschluss von Konkordaten bereit, so begnügte sich der Heilige Stuhl des öfteren mit verwaltungsrechtlichen Regelungen.82 Gerade nach dem Zerfall des kommunistischen Herrschaftssystems in Osteuropa war eine ganze Welle von neuen Konkordaten des Heiligen Stuhls mit den dortigen Staaten zu beobachten. Allerdings ergeben sich auch immer wieder Rückschläge. So scheiterte vor ca. zwei Jahren ein Konkordat mit Georgien im letzten Moment - der vatikanische „Außenminister" war 79 80

Siehe unten C. VII. 4.

Früher vertretene Auffassungen wie die Privilegientheorie (danach stehen Kirche und Staat in einem Über-/Unterordnungsverhältnis und ist das Konkordat lediglich der Form nach ein Vertrag, in Wirklichkeit aber ein Päpstliches Gesetz) oder die Legaltheorie (danach ist allein der Staat Quelle allen Rechts, weshalb der über der Kirche stehende Staat sich ihr gegenüber rechtlich nicht binden könne und das Konkordat nur der Form nach ein Vertrag, in Wirklichkeit aber ein staatliches Gesetz sei) sind heute überholt; vgl. Hubert Lenz, Die Kirche und das weltliche Recht, 1956, 18 f. 81 Insgesamt 65 (darunter allein 13 mit deutschen Ländern), davon 43 mit Nationalstaaten (22 in Europa, 11 in Amerika, 6 in Afrika und 4 in Asien); vgl. Carlos Corrai Civiltà Cattolica vom 5.3.2005, 469; das erste Konkordat der Neuzeit wurde 1801 mit Frankreich geschlossen, dem dann im 19. Jahrhundert zahlreiche Konkordate mit europäischen bzw. lateinamerikanischen Staaten folgten; vgl. Sodano (Anm. 14), 11. 82 Z.B im 19. Jahrhundert mit sogenannten Zirkumskriptionsbullen wie in Österreich oder Preußen; vgl. August Franzen, Kleine Kirchengeschichte, 6. Aufl. 2000, 334.

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bereits in Tiflis zur Unterzeichnung - am Widerstand der dortigen orthodoxen Kirche. Umgekehrt kam im letzten Jahr ein Konkordat mit der Tschechischen Republik nicht zustande, weil das bereits von beiden Seiten paraphierte Abkommen nicht vom tschechischen Parlament ratifiziert wurde.

2. Form der Verträge Sie kann ganz unterschiedlich sein. So gibt es das „klassische" Modell eines förmlichen Vertrages, den beide Vertragspartner unterzeichnen und der durch Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft gesetzt wird (so z.B. die Abkommen der Länder Niedersachsen von 1965 und Rheinland-Pfalz von 1969), aber auch das Modell eines Notenaustausches und anschließender In-Kraft-Setzung durch den Austausch von Ratifikationsurkunden (wie z.B. mit der Tunesischen Republik von 1964) oder die Form eines Abschlussprotokolls (nach Gesprächen mit dem ehemaligen Jugoslawien von 1964). Es hat sogar Fälle gegeben, in denen neben eine Vereinbarung noch ein Protokoll trat, das die Punkte aufführte, in denen beide Parteien ihre unterschiedlichen Standpunkte festhielten (z.B. mit der ehemaligen Volksrepublik Ungarn 1964).83

3. Bezeichnung Die traditionelle Bezeichnung „Konkordat" ist nicht ausschlaggebend bei der Beurteilung eines Abkommens zwischen Kirche und Staat. So findet sich die klassische Bezeichnung „Konkordat" häufig bei den Abkommen mit deutschen Ländern, aber auch südamerikanischen Staaten, aber es gibt auch andere, wie „Modus vivendi" (Tunesien) oder „Agreement" (Ungarn) oder „Protokoll" (z.B. Jugoslawien). Im offiziellen Organ des Heiligen Stuhls für die Veröffentlichung von Abkommen, den Acta Apostolicae Sedes, werden alle unabhängig von ihrer Bezeichnung mit dem Wort „conventio" (Übereinkommen) überschrieben. 84

4. Inhalt Inhaltlich können sich die Verträge über ein sehr weites Feld erstrecken. Zu den „klassischen" Gebieten, die in einem solchen Abkommen geregelt werden, zählen z.B. Religionsfreiheit, Fragen des konfessionellen Schulwesens, des Religions83

Vgl. Lothar Schöppe, Neue Konkordate und konkordatäre Vereinbarungen, 1970,10 f.

84

Schöppe (Anm. 83), 10 f.

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Unterrichts auch an staatlichen Schulen, der Feiertagsordnung, der Krankenhausund Militärseelsorge, der Jurisdiktion und der Amtsaufgaben der Geistlichen. Hinzu kommen können so wichtige Bereiche (gerade in Deutschland) wie das Besetzungsrecht nicht nur von Bischofsstühlen, sondern auch von kirchlichen Ämtern generell sowie von Lehrstühlen bei katholischen Fakultäten staatlicher Universitäten oder Fragen des Steuerrechts. Die Inhalte reichen aber auch bis hin zur Beteiligung kirchlicher Stellen bei Rundfunk- und Fernsehen, Kunstschätzen und Denkmälern, Vermögensfragen, Eherecht. 85 Als Grundelemente der Abkommen des Heiligen Stuhls mit Staaten sind beispielshalber zu nennen: - die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat (so z.B. in den Abkommen mit Polen, Gabon, Peru). Die Verträge mit den deutschen Ländern verwenden dabei häufig die Formulierung des Art. 137 der Weimarer Verfassung (Bestandteil des GG gem. Art. 140 GG), wonach jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbständig ordnet und verwaltet im Rahmen der Gesetze; - die Anerkennung der Kirche mit eigener Rechtspersönlichkeit; - die gegenseitige Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche (so z.B. in den Abkommen mit Polen, Israel, Peru, aber auch mit den deutschen Ländern); - die Unterordnung unter die internationale Rechtsordnung (z.B. im Grundlagenvertrag mit Israel von 1993); - der Grundsatz „pacta sunt servanda", der sich insbesondere z.B. in den Abkommen des Heiligen Stuhls mit den deutschen Ländern zeigt, in denen die für diese Gebiete geltenden Bestimmungen des Reichskonkordats bzw. des Preußischen Konkordats einbezogen sind. 86

5. Deutschland Der Heilige Stuhl hat mit dem Deutschen Reich am 20.7.1933 ein Konkordat geschlossen, das für die Bundesrepublik Deutschland fort gilt. 87 Davor hatten insbesondere Länder wie Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) Konkordate unterschiedlichen Umfangs geschlossen. Diese gelten in den Teilen der Bundesrepublik Deutschland, die zu den früheren Ländern Preußen, Bayern und Baden zählten, insofern weiter, als das Reichskonkordat den Länderkonkordaten 85

Vgl. Übersicht in Schoppe (Anm. 83), 211 ff.

86

Vgl. insgesamt Corral (Anm. 81), 463 ff.

87

BVerfG 6, 309 ff.

80

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Vorrang gab.88 In Deutschland haben in Folge der zwischen dem Deutschen Reich bzw. den oben genannten Ländern und dem Heiligen Stuhl geschlossenen Konkordate auch die evangelischen Landeskirchen mit dem Staat Kirchenverträge geschlossen, allerdings lediglich auf Länderebene mit Bayern, Baden und Preußen; erst 1955 begannen auch andere Länder Kirchenverträge mit den evangelischen Landeskirchen zu schließen.89 Nach dem Krieg haben dann einzelne Länder neue Vereinbarungen bzw. Verträge über Veränderungen bestehender Konkordate mit dem Heiligen Stuhl geschlossen. Nach der deutschen Wiedervereinigung setzte dann eine ganze Welle neuer Länderkonkordate respektive Staatsverträge ein, insbesondere mit den neuen Bundesländern. Seitdem haben bis auf Hamburg, Berlin, Hessen und SchleswigHolstein alle Länder solche Vereinbarungen geschlossen. In Hamburg wurden Ende Februar 2005 Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Hamburg aufgenommen. In Berlin wird die Aufnahme der unterbrochenen Verhandlungen in Erwägung gezogen. In Hessen und Schleswig-Holstein trägt man sich zur Zeit offensichtlich nicht mit solchen Überlegungen. Im Ergebnis ist also die Rechtslage in den einzelnen Ländern unterschiedlich, wenn auch in den großen Linien ähnlich. Der frühere Nuntius in Deutschland, Erzbischof Giovanni Lajolo, meinte zu diesem gewissen „Pluralismus" 2002, er sei historisch gewachsen und „gewiss nicht zum Schaden".90 Eine besondere Ausgestaltung des sich aus den Konkordaten herausgebildeten deutschen Staatskirchenrechts ist die Beteiligung ortskirchlicher und staatlicher Stellen bei der Besetzung von Bischofsstühlen. Hierbei räumen die Konkordate der staatlichen Seite in Deutschland mehr Rechte ein als in vielen anderen Staaten der Welt. Das Reichskonkordat von 1933 bestimmt in Art. 14 lediglich die Minimalvoraussetzung, dass „die Bulle für die Ernennung von Erzbischöfen, Bischöfen ... erst ausgestellt [wird], nachdem der Name dem Reichstatthalter im zuständigen Land mitgeteilt und festgestellt ist, dass gegen ihn Bedenken allgemein politischer Natur nicht bestehen". Ähnlich regelt Art. 6 des Preußischen Konkordats von 1929 die Frage politischer Bedenken gegen einen Kandidaten, geht aber weiter insofern, als das Vorschlagsrecht der örtlichen Domkapitel für die Benennung eines Nachfolgers auf einen vakanten Bischofssitz festgelegt wird. Aus den von ihnen vorgelegten Listen stellt der Heilige Stuhl eine Dreierliste zusammen, aus der die Domkapitel dann den Bischof wählen. Das Badische Konkordat enthält in Art. III sehr ähnliche Bestimmungen. Stark hiervon abweichend, die Stellung des Heiligen 88

Werner Weber, Die deutschen Konkordate und Kirchenverträge der Gegenwart, 1962, 10 89 Weber (Anm. 88), 9. 90

KNA, Aktueller Dienst Inland vom 25.3.2002.

Völkerrechtliche Stellung und Praxis des Heiligen Stuhls im Wandel

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Stuhls gegenüber der Ortskirche viel stärker ausbauend, heißt es in Art. 14 des Bayerischen Konkordats von 1924: „In der Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe hat der Heilige Stuhl volle Freiheit", d.h. er kann aus den vom betroffenen Domkapitel sowie den von den bayrischen Bischöfen erstellten Triennallisten den ihm genehmen Kandidaten frei auswählen. Allerdings muss sich der Heilige Stuhl auch hier „versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten".

D. Abschluss Die Trauerfeierlichkeiten beim Tod von Papst Johannes Paul II. haben deutlich gemacht, wie weit der Heilige Stuhl wieder international an Bedeutung gewonnen hat. 160 offizielle Delegationen von Staaten aus aller Welt, überwiegend vom Staatsoberhaupt geführt, waren anwesend. Von international politisch wichtigen Staaten fehlte praktisch nur die VR China. Selbst Staaten wie Vietnam, SaudiArabien und Afghanistan, die keine diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl pflegen, hatten Delegationen entsandt. Daneben waren noch 13 offizielle Delegationen von intergouvernementalen Organisationen vertreten. Nur 135 Jahre nach dem Ende des Kirchenstaates und 75 Jahre nach dem Ende selbstgewählter Isolation im Vatikan ist der Heilige Stuhl auf internationaler Bühne ein Faktor, der nicht zuletzt gerade deswegen von hoher Bedeutung ist, weil er sich nicht vorrangig als staatliche, sondern vielmehr als moralische Autorität versteht. Allerdings steht ihm als Völkerrechtssubjekt anders als anderen Religionsgemeinschaften die staatliche internationale Bühne zur Verfügung, um diese moralische Autorität im internationalen Staatenverkehr geltend zu machen. Natürlich spielte bei der Beteiligung an den Trauerfeierlichkeiten die charismatische Persönlichkeit von Johannes Paul II. mit seinen über 26 Jahren Amtszeit eine wichtige Rolle. Die ebenso bemerkenswert hochrangige und zahlreiche staatliche Vertretung bei den Feierlichkeiten zur Einführung des neuen Papstes Benedikt XVI. zeigte aber, wie sehr die Staatenwelt auch auf den neuen Papst sieht und welch große Bedeutung sie dem Heiligen Stuhl insgesamt beimisst.

Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion Von Heiner Bielefeldt

A. Einführung Menschenrechtsverletzungen finden in aller Welt statt. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Zu nennen wären beispielsweise ethnische Konflikte, die Furcht vor Bürgerkriegen, die Schwäche rechtsstaatlicher Institutionen, das Fehlen oder die Krise sozialer Sicherungssysteme, Auseinandersetzungen um ungerecht verteilte ökonomische Ressourcen, Vorurteile gegen Flüchtlinge, Migranten und andere Minderheiten, die Angst politischer Eliten vor unerwünschter Konkurrenz und vor einer unabhängigen Presse. Hinzu kommen kulturelle Faktoren, etwa traditionellreligiöse Legitimationsmuster für die Aufrechterhaltung einer oft diskriminierenden Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern oder für die Ablehnung von Homosexuellen. Es fällt auf, dass, wenn von Menschenrechtsverletzungen in islamisch geprägten Staaten die Rede ist, religiöse oder kulturelle Ursachen häufig in den Vordergrund der Darstellung gerückt werden, während politische, soziale oder ökonomische Faktoren eher wenig Aufmerksamkeit finden. Ob es um fehlende Schulausbildung für Mädchen in Irak oder Afghanistan, desolate Verhältnisse in marokkanischen Gefängnissen oder Folterpraktiken bei der saudischen Polizei geht - stets scheint sich der Autoritarismus einer vom Islam dominierten Kultur als Schlüssel zur Erklärung der Probleme anzubieten.1 Verschärft wird die Einseitigkeit solcher Wahrnehmung, wenn „der Islam" dabei als eine unbefragte Größe vorausgesetzt wird - als gäbe es keine Auseinandersetzungen um die Interpretation seiner Quellen und die angemessene Verwirklichung religiöser bzw. religionsrechtlicher Vorgaben in der modernen Gesellschaft. Öffentliche Kontroversen um das Verständnis und die Praxisrelevanz der Religion sind in vielen islamisch geprägten Ländern - in Iran, Sudan, SaudiArabien, aber auch in Ägypten oder Malaysia - riskant und bergen die Gefahr sozialer Stigmatisierung oder sogar direkter staatlicher Verfolgung. Gleichwohl 1

In solch kulturalistisch-engführendem Sinne argumentiert seit langem auch Bassam Tibi, vgl. z.B. ders., Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, 1994.

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Heiner Bielefeldt

finden entsprechende Debatten selbst in einem theokratischen Staatswesen wie der Islamischen Republik Iran öffentlich statt. Überflüssig sind sie nur nach Ansicht muslimischer Fundamentalisten, für die der Islam ein sich selbst auslegendes umfassendes System mit vorgegebenen Antworten für alle Lebenslagen darstellt. Paradoxer weise spiegelt sich eine solche - gleichermaßen lebensfremde wie traditionsfremde - Sichtweise auch bei vielen westlichen Beobachtern wider, die die Frage nach dem Verhältnis von Islam und Menschenrechten mit Zusammenstellungen einschlägiger Koranzitate ein für allemal meinen beantworten zu können.2 Der vorliegende Aufsatz hat zum Ziel, einige Facetten der innerislamischen Debatte über Menschenrechte aufzuzeigen. 3 Dass dies - im Blick auf die Vielfalt islamisch geprägter Länder und Regionen sowie auf die Komplexität der Positionen - nur in exemplarischer Absicht geschehen kann, versteht sich dabei von selbst.

B. Zeitgenössische muslimische Positionen zu Menschenrechten I. „Islamisierung" menschenrechtlicher Begriffe Selbst im konservativen oder fundamentalistischen Spektrum des Islams wird der Begriff der Menschenrechte heute meist nicht einfach zurückgewiesen. Stattdessen wird er so in die eigene islamrechtliche Tradition integriert, dass die Menschenrechte im Ergebnis nur unter Vorbehalt der Scharia zur Geltung kommen. Dieses Konzept so genannter „islamischer Menschenrechte" versteht sich zumeist als Alternative zu den Menschenrechtsnormen der Vereinten Nationen, die nicht selten als „westlich" abgetan werden. So betont Abul Α Ία Mawdudi, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode längst zum Klassiker des Islamismus avanciert, in seinem Buch „Human Rights in Islam": „The people in the West have the habit of attributing every good thing to themselves and try to prove that it is because of them that the world got this blessing ...". 4 Mawdudi sieht die „islamischen" 2

Vgl. zum Beispiel Bundesverband der Bürgerbewegungen zur Bewahrung von Demokratie, Heimat und Menschenrechten e.V., Bedrohte Freiheit. Der Koran in Spannung zu den Grund- und Freiheitsrechten in der Bundesrepublik Deutschland sowie zu internationalen Rechtsnormen und Verträgen. Arbeitshilfe für die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam, 3. Aufl. 2004. 3 Vgl. grundlegend dazu Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, 1999. 4 AbulA'la Mawdudi, Human Rights in Islam, 1976, 13.

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Menschenrechte sowohl als Konzept als auch in ihren einzelnen Verbürgungen unmittelbar in den Quellen des Islams - also in Koran und Sunna - begründet. Aus dem göttlichen Ursprung der Menschenrechte schließt er auf deren zeitlose Gültigkeit und Unveränderlichkeit: „The rights which have been sanctioned by God are permanent, perpetual and eternal. They are not subject to any alterations or modifications, and there is no scope for any change or abrogation." 5 Dieser integralistische Ansatz hat sich in den 1980er und 1990er Jahren in einer Reihe von Menschenrechtsdokumenten islamischer Organisationen manifestiert. So heißt es in den Abschlussthesen eines im Dezember 1980 in Kuwait durchgeführten Seminars über Menschenrechte im Islam: „Islam was the first to recognise basic human rights and almost 14 centuries ago it set up guarantees and safeguards that have only recently been incorporated in universal declarations of human rights." 6 Im selben Duktus beginnt die im Jahre 1981 vom „Islamrat für Europa" - einer nicht-staatlichen islamischen Organisation - vorgelegte Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung mit den Worten: „Vor vierzehn Jahrhunderten legte der Islam die ,Menschenrechte' umfassend und tiefgründend als Gesetz fest." 7 Deutlicher noch als in der Erklärung des Islamrats von 1981 kommt die integralistische „Islamisierung" menschenrechtlicher Begriffe im Entwurf einer Erklärung der Menschenrechte im Islam zum Ausdruck, der von den Außenministern der „Organisation der Islamischen Konferenz" im August 1990 in Kairo angenommen wurde. 8 Sowohl die Erklärung im Ganzen als auch die einzelnen Rechte stehen unter dem Vorbehalt, dass sie mit der Scharia übereinstimmen müssen. Artikel 24 bestimmt in diesem Sinne: „Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt werden, unterstehen der islamischen Scharia." Und der abschließende Artikel 25 bekräftigt noch einmal: „Die islamische Scharia ist die einzige zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung." Angesichts des nachdrücklich behaupteten Vorrangs der Scharia können Menschenrechte in ihrer normativen Eigenstruktur von vornherein nicht zur Geltung kommen. Im Gegenteil besteht der Eindruck, dass die islamische Menschenrechts5 6

Mawdudi (Anm. 4), 15.

Human Rights in Islam. Report of a seminar held in Kuwait, December 1980, veröffentlicht von der Internationalen Juristenkommission 1982, 9. 7 Zitiert nach der Übersetzung von Martin Forstner, in: CIBEDO-Dokumentation Nr. 15/16 (Juni/September 1982), 20. 8 In deutscher Übersetzung vorliegend in: Gewissen und Freiheit (Halbjahreszeitschrift der Internationalen Vereinigung zur Verteidigung und Förderung der Religionsfreiheit), Bd. 36 (1. Halbjahresband 1991), 93-98.

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erklärung von Kairo zur Rechtfertigung autoritärer Freiheitsbeschränkungen herhalten kann, wenn beispielsweise die Rechte auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2) oder auf Meinungsfreiheit (Artikel 22) Vorbehaltsklauseln zugunsten der Scharia enthalten. Zwar proklamiert die Kairoer Erklärung in Artikel 1 die gleiche Würde aller Menschen „ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, politischer Einstellung, sozialem Status oder anderen Gründen". Darauf folgt jedoch der möglicherweise als Einschränkung zu verstehende - Hinweis: „Der wahrhafte Glaube ist die Garantie für das Erlangen solcher Würde auf dem Pfad zur menschlichen Vollkommenheit." In Bezug auf das Geschlechterverhältnis wird eine ungleiche Rollenverteilung und Rechtsstellung festgeschrieben, 9 wenn es in Artikel 6 heißt: ,,a) Die Frau ist dem Mann an Würde gleich, sie hat Rechte und auch Pflichten; sie ist rechtsfähig und finanziell unabhängig, und sie hat das Recht, ihren Namen und ihre Abstammung beizubehalten, b) Der Ehemann ist für den Unterhalt und das Wohl der Familie verantwortlich." Artikel 5 der Kairoer Erklärung fordert die Freiheit der Eheschließung, beschränkt die Liste der verbotenen Ehehindernisse aber auf Rasse, Hautfarbe und Nationalität; Ehehindernisse, die aus Religionsverschiedenheit resultieren und nach wie vor in den meisten islamischen Ländern rechtlich in Kraft sind, 10 bleiben hingegen unberührt. Besonders scharf zeigt sich der Widerspruch zu den Menschenrechtsstandards der Vereinten Nationen bei Artikel 10, der anstelle eines allgemeinen Rechts auf Religionsfreiheit den Vorrang des Islams behauptet. Dort heißt es: „Der Islam ist die Religion der unverdorbenen Natur. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren." Auch wenn in dieser Formulierung kein unmittelbares Verbot der Konversion vom Islam zu einer anderen Religion ausgesprochen ist, läuft der Artikel doch zumindest auf eine Ächtung jeder Missionstätigkeit unter Muslimen und damit auf eine Beschränkung der Religionsfreiheit hinaus. Die Kairoer Erklärung erweist sich damit als ein politisches Dokument, das die inhaltliche Kontinuität mit den universalen Menschenrechtsstandards der Vereinten Nationen bewusst preisgibt.

9

Vgl. dazu Ann Elizabeth Mayer, Islam and Human Rights. Tradition and Politics, 3. Aufl. 1999, 93 ff. 10 Vgl. dazu Sami Aldeeb Abu-Sahlieh, Les Musulmans face aux droits de l'homme. Religion & droit & politique. Étude et documents, 1994, 127 ff.

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II. Pragmatische Reformen Die von konservativen oder islamistisch orientierten Muslimen behauptete Unveränderlichkeit der Scharia verbindet sich in vielen Stellungnahmen paradoxerweise mit einem gewissen Maß an pragmatischer Reformbereitschaft. Dies ist kein neues Phänomen. Von Anfang an mussten die islamischen Rechtsgelehrten mit der Tatsache zurechtkommen, dass - ungeachtet des prinzipiell festgehaltenen Vorrangs der Scharia - rechtliche Elemente und Institutionen nicht-religiöser Herkunft in den islamischen Gesellschaften eine nicht selten entscheidende Rolle spielten.11 Man versuchte diese Spannung einerseits dadurch aufzulösen, dass man nicht-islamische Rechtselemente gewissermaßen „islamisierte", z.B. unter Zuhilfenahme allgemeiner Rechtsprinzipien wie des Gemeinwohls (maslaha); was immer der islamischen Umma von Nutzen war, konnte auf diese Weise als schariagemäß gerechtfertigt werden. Andererseits wurden Gebote der Scharia dadurch partiell suspendiert, dass man ihre vollständige Geltung auf eine ideale muslimische Gemeinschaft - die Gemeinde des Propheten in Medina - beschränkte und somit der Kontingenz des menschlichen Lebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung trug. 12 Trotz des Widerstands puristischer Rechtsgelehrter und Rechtsschulen entwickelte sich so eine Tradition des flexiblen und pragmatischen Umgangs mit den Weisungen der Scharia. Diese pragmatische Handhabung ermöglicht heute Annäherungen an moderne Rechtsstandards. Wenn beispielsweise die Körperstrafen der Scharia - darunter Amputationsstrafen und grausame Formen der Hinrichtung - zur Debatte stehen, verweisen Muslime gern auf das Vorbild des zweiten Kalifen Omar, der angeordnet haben soll, dass die im Koran vorgesehene Strafe der Handamputation für Diebstahl in Zeiten von Hunger und Not nicht verhängt werden darf. 13 Auch konservative Muslime schließen daraus vielfach, dass die Amputationsstrafen der Scharia - zumindest solange nicht sämtliche sozialen Probleme der Gesellschaft gelöst sind - eher als eine religiös-ethische „Mahnung" denn als praktikabler Bestandteil eines Strafrechts zu verstehen sind. 14 Das heißt, auch sofern die theoretische Geltung dieser Strafen unangetastet bleibt, wird deren praktische

11

Vgl. Baber Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam. Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Heft 20 (1986), 12-60. 12

Vgl. Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1964, 84.

13

Vgl. z.B. Muhammad Said al-Ashmawy, L'islamisme contre l'islam, 1989, 50.

14 Vgl. Ann E. Mayer , A Critique of An-Na'im's Assessment of Islamic Criminal Justice, in: Tore Lindholm/Kari Vogt (Hrsg.), Islamic Law Reform and Human Rights. Challenges and Rejoinders (Nordic Human Rights Publications, 1993), 37-60 (58).

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Anwendbarkeit auch seitens Konservativer vielfach in Zweifel gestellt oder offen bestritten. Diese paradoxe Verbindung von theoretischem Geltungsanspruch und tatsächlicher Nicht-Anwendung der Körperstrafen ist schon aus den traditionellen Rechtsschulen bekannt. Obwohl die traditionellen Scharia-Schulen an der prinzipiellen Gültigkeit der Scharia-Strafen nicht rütteln wollten, haben sie mittels hoher Beweishürden, enger Tatbestandsdefinitionen und kurzer „Verjährungsfristen" (im allgemeinen ein Monat) den tatsächlichen Vollzug der grausamen Körperstrafen weitgehend verhindert. 15 Die Scharia-Strafen sind infolgedessen in vielen Gegenden der islamischen Welt seit langem nicht angewendet worden oder in der Praxis ganz unbekannt. In der ganz überwiegenden Mehrheit der islamischen Länder bilden sie gegenwärtig keinen Bestandteil der staatlichen Strafgesetze. Seit den späten 1970er Jahren sind solche grausamen Strafen allerdings in einer Reihe von Staaten - oft im Zusammenhang ideologischer Islamisierungskampagnen - wieder eingeführt worden. 16 Im Rahmen der Scharia hat sich eine Tradition relativer religiöser Toleranz entwickelt, die über Jahrhunderte das Nebeneinander unterschiedlicher Religionsgruppen ermöglichte. Obwohl theoretisch nur die „Leute des Buches", d.h. die Angehörigen der dem Islam verwandten monotheistischen Offenbarungsreligionen toleriert werden konnten, fand man in der Praxis immer wieder Wege, diesen Grundsatz flexibel zu handhaben. So hat man vielfach auch weitere Religionen wie die hinduistischen Religionen Indiens in den Kreis der Buchreligionen aufgenommen und damit die Voraussetzungen für die Koexistenz von Muslimen und Hindus in Südasien geschaffen. 17 Mit einer menschenrechtlich gedachten - d.h. diskriminierungsfrei gewährleisteten und individuell einklagbaren - Religionsfreiheit darf die traditionelle islamische Toleranz allerdings nicht verwechselt werden: Sie bleibt bezogen auf ein mehr oder weniger geordnetes Nebeneinander relativ geschlossener anerkannter Religionsgemeinschaften unter der Vorherrschaft des Islams. Selbst im Ehe- und Familienrecht, das von jeher den Kernbestand der als auch rechtsgültig erachteten und praktizierten Scharia-Normen bildet, ist eine gewisse Flexibilität möglich, durch die sich konzeptionelle Differenzen zwischen traditio15

Vgl. Schacht (Anm. 12), 176: „There is a strong tendency to restrict the applicability of hadd punishments as much as possible ..." (Hervorhebung im Original). 16 Tatsächlich angewendet werden diese Strafen, wie aus den Berichten von amnesty international und anderen Menschenrechtsorganisationen hervorgeht, z.B. in Iran, SaudiArabien, Sudan, Mauretanien sowie in einigen schwarzafrikanischen Ländern. 17 Vgl. Roy P. Mottahedeh, Toward an Islamic Theology of Toleration, in: Lindholm/Vogt (Anm. 14), 25-36 (26).

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nellem islamischen Recht und modernen Menschenrechten wenigsten in einigen Teilen provisorisch überbrücken lassen. Ein Beispiel dafür, dass auch ohne formellen Bruch mit der Scharia Reformen in Richtung auf eine rechtliche Besserstellung der Frau möglich sind, bietet das osmanische Familiengesetz von 1917. Darin wurden die Gerichte angewiesen, fakultative Klauseln im Ehevertrag zu beachten, die von den Vertragsparteien vereinbart werden konnten, um z.B. im Falle einer Zweitheirat des Mannes der ersten Ehefrau das Recht zur Scheidungsklage zu geben.18 Das Gesetz diente dazu, die Polygamie zwar nicht abzuschaffen, aber doch zu erschweren und zugleich generell die Chancen der Frau auf eine gerichtliche Scheidung zu verbessern. Auch heute argumentieren muslimische Frauenrechtlerinnen teilweise in der Linie solcher traditioneller Möglichkeiten, die sie in Richtung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern weiter entwickelt sehen wollen. 19 Übrigens vertrat schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts Mohammed Abduh, damals Großmufti von Ägypten, die Ansicht, dass die Polygamie im Koran nicht vorgesehen sei.20 Die theoretisch eingeräumte Möglichkeit, dass ein Mann mehr als nur eine Frau heiratet, sei nämlich an die Bedingung geknüpft, dass der Mann allen seinen Frauen gleichermaßen gerecht werden könne (Sura 4,3) - eine Bedingung, von der der Koran ausdrücklich sagt, dass sie praktisch uneinlösbar sei (Sura 4,129).

III. Ansätze liberaler Scharia-Interpretation Die Möglichkeiten, auf dem Wege pragmatischer Flexibilisierung die Scharia modernen menschenrechtlichen Vorstellungen provisorisch anzunähern, sollten nicht gering geachtet werden, sind aber dennoch in ihrer Reichweite beschränkt. Außerdem bleibt der Status menschenrechtlicher Errungenschaften auf diese Weise ungeklärt und folglich ungesichert. Viele muslimische Reformerinnen und Reformer geben sich deshalb mit pragmatischen Zwischenlösungen nicht zufrieden, sondern suchen nach Möglichkeiten einer Neu-Interpretation der Scharia, um dadurch Raum für die Anerkennung und Durchsetzung menschenrechtlicher Freiheits- und Gleichberechtigungsansprüche zu schaffen.

18 19

Vgl. James Norman D. Anderson, Law Reform in the Muslim World, 1976, 49.

Vgl. Ziba Mir-Hosseini, Neue Überlegungen zum Geschlechterverhältnis im Islam. Perspektiven der Gerechtigkeit und Gleichheit für Frauen, in: Mechthild Rumpf/Ute Gerhard/Mechthild M. Jansen (Hrsg.), Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion, 2003, 53-81. 20 Vgl. John L. Esposito , Islam and Politics, 3. Aufl. 1991, 51.

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Einige Reformvorschläge laufen darauf hinaus, den juridischen Charakter der Scharia ganz oder teilweise in Abrede zu stellen. So macht Ali Merad darauf aufmerksam, dass Scharia vom Wort her nicht „Gesetz", sondern „Wegweisung" bedeutet. Genauer meine der Begriff „den Weg, der zur Tränke führt, zu dem Wasser, das Quelle des Lebens ist". 21 In scharfen Worten kritisiert Merad den traditionellen Legalismus und mehr noch die neuerliche Politisierung der Scharia, durch die deren ethisch-spirituelle Bedeutung verloren zu gehen drohe: „Man hat ... aus einigen Zeilen des Koran, die schmiegsam, leicht, ätherisch und spirituell sind, Stahl und Bomben geschmiedet und dann festgelegt, dass dies das Gesetz Gottes sei. Dabei handelt es sich doch in Wahrheit gar nicht um ein Gesetz, sondern um einen Weg! Hier geschieht heute eine Art Betrug, sofern man Worte Gottes und des koranischen Gesetzes mit einem Gesetz umkleidet, das zu 90 Prozent Menschenwerk und historisch bedingt ist." 22 Von einem ähnlichen, primär ethischen Verständnis der Scharia ausgehend differenziert der bekannte ägyptische Richter Muhammad Said al-Ashmawy systematisch zwischen der Scharia einerseits und der historischen islamischen Jurisprudenz (fiqh). 23 Während die Scharia göttlichen Ursprungs sei, müsse die mittelalterliche Rechtskasuistik (fiqh) als Menschenwerk und folglich als historisch bedingt angesehen werden. Die weithin übliche Vermischung beider Konzepte verstoße gegen den Islam, weil dadurch die Transzendenz des Göttlichen gegenüber dem Menschlichen - und damit zugleich der strenge islamische Monotheismus geleugnet werde. Mit der kategorialen Unterscheidung zwischen Scharia und fiqh wird das Corpus juridischer Normen, das man traditionell als „islamisches Recht" bezeichnet und mit der Scharia verbunden hat, als geschichtliches Recht erkannt. Damit öffnet sich der Raum sowohl für historisch-kritische Untersuchungen als auch für politisch-rechtliche Reformen nach Maßgabe demokratischer und menschenrechtlicher Prinzipien. Diese Prinzipien wiederum können durchaus kritisch mit dem Geist einer - dann allerdings primär ethisch und nicht unmittelbar juridisch verstandenen - Scharia vermittelt werden. Denn der Koran, die Hauptquelle der Scharia, betont wiederholt die Würde des Menschen als eines zur Verantwortung berufenen und befähigten

21

Ali Merad, Die Scharia - Weg zur Quelle des Lebens (Diskussionsbeitrag), in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, 1993, 392-393 (392). 22 Merad {Anm. 21), 392. 23

219 ff.

Zu dieser in der Reformdiskussion häufig betonten Differenz vgl. Krämer (Anm. 3),

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Wesens.24 Eine zentrale Rolle spielt in den jüngeren islamischen Debatten die koranische Auszeichnung des Menschen als „Statthalter" (khalifa) Gottes auf Erden (Sura 2,30 u.ö.). Der dem Menschen damit verliehene Rang ist so hoch, dass nach dem Koran selbst die Engel von Gott aufgefordert werden, sich vor Adam niederzuwerfen (Sura 2,34). Vielfach angeführt wird auch ein Vers, wonach Gott die Kinder Adams geehrt hat (Sura 17,70). An einer anderen Stelle ist von einem geheimnisvollen Vertrauenspfand (amana) die Rede, das Gott zunächst „den Himmeln und der Erde und den Bergen angeboten", schließlich aber allein dem Menschen übertragen hat, weil nur er kühn genug war, diese Herausforderung anzunehmen (Sura 33,71).25 Die koranischen Anknüpfungspunkte für eine offene islamische Würdigung der Menschenrechte werden allerdings auch von reformorientierten Muslimen oftmals eher eklektizistisch herangezogen. Dies jedenfalls ist der Vorwurf von Abdullahi An-Na 'im, der seinerseits einen systematischen Entwurf für ein neues islamisches Recht vorgelegt hat. 26 An-Na 'im stützt seine Konzeption auf eine sehr umstrittene Koranlektüre, die vor allem auf die Differenz zwischen mekkanischen und medinensischen Suren innerhalb des Korans abstellt. Diese auch in der traditionellen Exegese bekannte Unterscheidung versteht An-Na 'im - anders als in der Tradition - als eine theologische Hierarchisierung: Während die in Mekka geoffenbarten Suren die zeitlose Botschaft des Korans enthielten, seien die späteren medinensischen Suren auf die spezifischen Verhältnisse der Gemeinde in Medina zugeschnitten und deshalb weder von zeitloser Gültigkeit noch unmittelbar auf moderne Verhältnisse übertragbar. Die vor allem aus medinensischer Zeit stammenden juridischen Partien des Korans müßten demnach im Lichte der ursprünglichen mekkanischen Botschaft verstanden und relativiert werden. Auf diese Weise will An-Na 'im aus dem Koran ein neues islamisches Recht entwickeln, das die progressiven Impulse des Islams für die Moderne fruchtbar macht und das inhaltlich weitgehend mit internationalen Menschenrechtsnormen übereinstimmt. 27 Während An-Na 'im mit der Hierarchisierung von mekkanischen und medinensischen Suren ein zwar kühnes, aber auch vergleichsweise starres Schema historisch-

24

Vgl. Rotraud Wielandt, Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer islamischer Denker, in: Schwartländer (Anm. 21), 179-209. 25 Eine eindrucksvolle Deutung dieses Verses bietet Mohamed Talbi, Religionsfreiheit Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?, in: Schwartländer (Anm. 21), 242-260 (252 ff.). 26 Vgl. Abdullahi Ahmed An-Na 'im, Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law, 1990. 27 Vgl. An-Na 9im (Anm. 26), 54 ff.

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kritischer Koranexegese bemüht,28 fordern andere Reformer die Einbeziehung der modernen Hermeneutik bei der Koraninterpretation. 29 Fazlur Rahman sieht darin die einzige Chance, die vielfach oberflächliche Koranlektüre zu überwinden, die er als „piecemeal, ad hoc, and often quite extrinsic" kritisiert und die seiner Einschätzung nach in der jüngeren Zeit an Niveau eher noch verloren hat. 30 Norani Othman, Sprecherin der malaysischen „Sisters in Islam", einer liberalislamischen Organisation zur Durchsetzung der Frauenrechte, skizziert die Grundlinien eines solchen hermeneutischen Projekts, bei dem es vor allem darauf ankomme, die historische Differenz zwischen koranischem Text und modernem Leser zu vergegenwärtigen und dadurch zugleich fruchtbar zu machen: „... we in the present have to read those texts in order to understand them at all; but in seeking to understand them we - like all Muslims throughout history - bring to our own reading of those past texts the frameworks of understanding of our own time and place. We hear the past voices that speak to us speaking with contemporary accents, as it were - our own. So we are always, like all the great ulama of the past - even if they were not aware of it - both reading the present back into the past from which we seek contemporary guidance, and also left with the problem ... of deciding how we are now to implement or proceed upon that understanding." 31 Das Bewusstsein des historischen Abstandes, den es in der Textauslegung gleichermaßen zu überwinden wie aufrechtzuerhalten gilt, wehrt nach Norani Othman sowohl dem positivistischen Zugriff auf den Offenbarungstext als auch der autoritären Implementierung eines vermeintlich eindeutig erkennbaren und zeitlos gültigen göttlichen Gesetzes. In dieselbe Richtung denkt auch der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid. Sein Ziel besteht darin, den Sinngehalt der koranischen Weisungen zunächst aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen und dann - im Wissen um die historische Differenz - kritisch auf den Kontext der modernen Gesellschaft zu beziehen. Auf diese Weise will er den sozialreformerischen Geist des Korans für die Moderne zur Geltung bringen, wie er schreibt: „Der Bedeutungswandel, den der Koran bewirkt hat, und die Hervorhebung der Gleichheit zwischen

28

So auch die Kritik von Ishtiaq Ahmed, Abdullahi An-Na'im on Constitutional and Human Rights Issues, in: Lindholm/Vogt (Anm. 14), 61-74. 29 Vgl. dazu auch Christian W. Troll, Der Blick des Koran auf andere Religionen, in: Walter Kerber (Hrsg.), Wie tolerant ist der Islam?, 1991, 47-69 (61 ff.). 30 Fazlur Rahman, Islam & Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, 1982, 4. 31 Norani Othman, The Sociopolitical Dimensions of Islamisation in Malaysia: A Cultural Accomodation of Social Change?, in: dies. (Hrsg.), Shari'a Law and the Modern Nation-State. A Malaysian Symposium, 1994, 123-143 (128).

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den Menschen ... erlaubt es, zweifelsfrei zu bekräftigen, dass der Islam tendenziell der Stabilisierung der Sklavenhaltergesellschaft entgegengewirkt hat. ... So ist es unabdingbar, dass es Ziel und Bestreben sein muss, diese ursprüngliche Tendenz in der islamischen Position zu vertiefen." 32 Konkret fordert Abu Zaid beispielsweise gleiches Erbrecht für Mann und Frau, weil er die generelle Sinnrichtung des Korans darin sieht, dass die Frau überhaupt ein Erbrecht hat und somit als Rechtsperson anerkannt ist, während er die konkreten Details - darunter auch die Differenz zwischen Männern und Frauen in der Erbfolge - für zeitbedingt erklärt. 33 Außerdem verurteilt er die rechtliche Diskriminierung von religiösen Minderheiten als einen Menschenrechtsverstoß, der nicht weniger gravierend sei als offener Rassismus.34 Eine feministische Perspektive in der Koraninterpretation findet sich auch bei Riffat Hassan, die sich dabei vornehmlich auf das Zentraldogma des Islams, nämlich den strengen Monotheismus, stützt. Die Transzendenz Gottes, so ihre Forderung, dürfe nicht mit irdischen Machtverhältnissen verquickt und zu deren Legitimation missbraucht werden. Dies gelte gerade auch für das Geschlechterverhältnis, das in der islamischen Tradition zu Unrecht dem Mann eine geradezu heilsrelevante Vormundschaftsstellung gegenüber der Frau eingeräumt habe - was für Riffat Hassan an Gotteslästerung grenzt: „The husband, in fact, is regarded as his wife's gateway to heaven or hell and the arbiter of her final destiny. That such an idea can exist within the framework of Islam - which totally rejects the idea of redemption, of any intermediary between a believer and the Creator - represents both a profound irony and a great tragedy." 35 Der Kampf gegen einseitige Vormundschaftsverhältnisse und Diskriminierungen findet für Riffat Hassan seine theologische Begründung zuletzt also in der Transzendenz des einen Gottes, dem gegenüber alle Menschen als Kreaturen gleich geachtet werden müssen.

IV. Muslimische Würdigung des säkularen Rechts Der Begriff der Säkularität hat aus historischen Gründen für viele Muslime offenbar den negativen Klang von Religionsfeindlichkeit. 36 Gleichwohl gibt es 32

Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses. Aus dem Arabischen übers, von Chérifa Magdi, 1996, 179 f. 33 Vgl. Abu Zaid (Anm. 32), 97. 34 35

Vgl. Abu Zaid (Anm. 32), 171.

Riffat Hassan, On Human Rights and the Qur'anic Perspective, in: Arlene Swidler (Hrsg.), Human Rights in Religious Traditions, 1982, 51-65 (63). 36 Vgl. Rotraud Wielandt, Zeitgenössische Ägyptische Stimmen zur Säkularisierungsproblematik, in: Die Welt des Islams X X I I (1982), 117-133.

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einige muslimische Autoren, die sich affirmativ mit der modernen Säkularität auseinandersetzen. Beinahe schon ein „Klassiker" in dieser Debatte ist der Ägypter Ali Abdarraziq, dessen Buch „Der Islam und die Grundlagen der Macht" im Jahre 1925, also unmittelbar nach der Abschaffung des Kalifats, erschien. 37 Obwohl die Absetzung des letzten osmanischen Kalifen durch Mustafa Kemal Atatürk ein machtpolitischer Akt und keine religiöse Reformmaßnahme war, sieht Abdarraziq die Überwindung der im Kalifat kulminierenden Verquickung von Religion und staatlicher Politik als eine auch theologische Notwendigkeit an. Denn der Anspruch der Kalifen, ein göttlich begründetes Herrschaftsamt auszuüben oder gar als unmittelbarer „Stellvertreter Gottes" auf Erden 38 zu fungieren, bedeute nichts anderes als Idolatrie. 39 Diese aber sei unvereinbar mit dem strengen Monotheismus, wie ihn der Koran verkündet. 40 In der Tradition Abdarraziqs steht heute beispielsweise sein Landsmann Said al-Ashmawy. Er wendet sich gegen jedwede Sakralisierung der Politik, die sowohl für die Politik als auch für die Religion verheerende Konsequenzen haben müsse.41 Denn, wie die Erfahrung lehrt, mündet die durch Sakralisierung gegen kritische Infragestellung immunisierte politische Herrschaft nicht selten in Despotie. Gleichzeitig verkommt die Religion zum Instrument machtpolitischer Strategien und Intrigen. Über solche Missbrauchserfahrungen hinaus widerstreitet nach al-Ashmawy theokratische Herrschaft bereits ihrem Anspruch nach der Zentralbotschaft des Korans, nämlich dem strengen Monotheismus, in dessen Licht Theokratie als eine Form der Gotteslästerung erscheinen muss, weil dadurch die Transzendenz der Gottesherrschaft auf die Ebene des politischen Machtkampfes zwischen Menschen herabgewürdigt wird. Auseinandersetzungen um die Säkularität von Staat und Recht finden seit einigen Jahren auch in der Islamischen Republik Iran statt. Es gehört zu den paradoxen Erfahrungen der jüngsten Geschichte Irans, dass gerade der „Gottesstaat" dazu geführt hat, die Autorität der Religion und ihrer theologischen Vertreter in den Augen vieler Menschen zu schwächen. Neben dem Freiheitsanspruch der Menschen, die sich gegen Bevormundungen durch staatliche oder selbsternannte religiöse Wächterorganisationen zur Wehr setzen, sind daher auch theologische Motive zu Faktoren einer Reformbewegung geworden, die nach politischen, 37

Ich beziehe mich im Folgenden auf die französische Übersetzung: Ali Abdarraziq, L'islam et les bases du pouvoir, in zwei Teilen erschienen in: Révue des Etudes Islamiques, Bd. V I I (1933), 353-391, und Bd. V i l i (1934), 163-222. 38 Zu diesem Titel vgl. Bernard Lewis, Die Sprache des Islam, 1991, 81 ff. 39

So Abdarraziq (Anm. 37), Teil 1, 391.

40

Vgl. Abdarraziq (Anm. 37), Teil 2, 220 f. Vgl. al-Ashmawy (Anm. 13), 11, 34, 85 u.ö.

41

Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion

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philosophischen und theologischen Auswegen aus dem offenkundig gescheiterten theokratischen Projekt suchen.42

C. Fazit In vielen islamisch geprägten Staaten steht es schlecht um die Menschenrechte. Dafür primär kulturelle und religiöse Gründe anzuführen, wäre jedoch voreilig. Dass Mädchen in Irak am Schulbesuch gehindert werden, hat vermutlich mehr mit der prekären sicherheitspolitischen Lage als mit bestimmten kulturellen Traditionen des Landes zu tun. Die Pressezensur und die Verfolgung politischer Dissidenten in Tunesien oder Iran unterscheidet sich nicht substanziell von politischen Repressionsmaßnahmen, wie sie in anderen Regionen der Welt zu beobachten sind. Selbst in den Bereichen, in denen kulturelle und religiöse Traditionen in Konflikt zu menschenrechtlichen Normen stehen - etwa bei der Gestaltung des Geschlechterverhältnisses oder beim Umgang mit religiösen Minderheiten - , gilt es zu berücksichtigen, dass Wandlungsprozesse möglich sind und stattfinden. Wie sich die innerislamische Debatte um die Menschenrechte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln wird, hängt von vielen, vor allem auch von regional-spezifischen Faktoren ab, so dass allgemeine Prognosen darüber weder möglich noch sinnvoll sind. Die in diesem Aufsatz gewählte Gliederung (von islamistischen Menschenrechtskonzepten über pragmatische Ausgleichsversuche bis hin zu liberalen, feministischen und säkularistischen Positionen) ist jedenfalls nicht im Sinne einer einlinigen Fortschrittsannahme zu lesen. Vielmehr lassen sich die beschriebenen Tendenzen - mit vielen regionalen Besonderheiten - derzeit alle gleichzeitig beobachten, und es spricht viel für die Annahme, dass dies auf absehbare Zeit so bleiben wird. Fest steht indessen, dass Menschenrechte längst zum Gegenstand einer innerislamischen Diskussion geworden sind, die sich zwischen integralistischer Apologetik einerseits und selbstkritischer Reformbereitschaft andererseits bewegt. Angesichts der Tatsache, dass eine solche Debatte stattfindet (jedenfalls dort, wo die politischen Verhältnisse einen halbwegs offenen Meinungsaustausch ermöglichen), erweisen sich kulturalistische Kategorien, die die Menschenrechte ausschließlich dem „Westen" zuschreiben, als wirklichkeitsfremd wie aufklärungsfeindlich. 43

42 43

Vgl. Navid Kermani, Iran: Die Revolution der Kinder, 2000, 43 ff.

Vgl. Aziz al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, 1996, 10.

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention Von Christoph Grabenwarter

A. Einleitung „Kraft der Verfassung, der Gesetze und der Verordnungen und in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis des Obersten Verwaltungsgerichts und der Europäischen Kommission für Menschenrechte sowie dem von der Universitätsverwaltung gefassten Beschluss dürfen Studenten, die das islamische Kopftuch tragen, und Studenten mit Bärten nicht zu Vorlesungen, Kursen oder praktischen Übungen zugelassen werden ... Wenn Studenten, deren Namen und Matrikelnummern nicht auf der Liste enthalten sind, auf der Teilnahme an praktischen Übungen oder dem Zugang zu Unterrichtsräumen bestehen, müssen sie auf die Rechtslage hingewiesen werden. Falls sie sich weigern, die Lehrveranstaltungen oder die Unterrichtsräume zu verlassen, ... müssen sie informiert werden, dass sie nicht zur Teilnahme berechtigt sind. Wenn sie sich fortgesetzt weigern, den Unterrichtsraum zu verlassen, hat der Leiter der Lehrveranstaltung den Vorgang in einen Bericht aufzunehmen und darin darzulegen, warum es unmöglich war, die Lehrveranstaltung abzuhalten.4' Dieses Zitat stammt aus einer Richtlinie des Kanzlers der Universität von Istanbul vom 23. Februar 1998, welche den Zugang von Studierenden zum Universitätsgelände regelte. Entsprechend dieser Richtlinie wurde Frau Leyla §ahïn durch das Aufsichtspersonal der Zugang zu einer schriftlichen Prüfung in Onkologie verweigert, weil sie ein muslimisches Kopftuch trug. Nachdem sie von weiteren Lehrveranstaltungen und Prüfungen ausgeschlossen worden war und Verfahren gegen diese Beschränkungen vor türkischen Gerichten angestrengt hatte, entschied sie sich zur Fortsetzung ihres Studiums an der Universität Wien, wo sie ihr Medizinstudium in der Zwischenzeit abschließen konnte, und zwar mit Kopftuch. Sie wandte sich nach Erschöpfung des Instanzenzuges vor türkischen Gerichten an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und drang dort mit ihrer Beschwerde ebenso wenig durch 1 wie die Genfer Lehrerin, Frau Lucia Dahlab, die während ihres Dienstes an Grund- und Hauptschulen das muslimische Kopftuch tragen 1

EGMR, Urt. v. 29.6.2004, Leyla §ahîn, Nr. 44774/98, Ziff. 114 f.

Christoph Graben warter

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wollte. 2 Beispiele wie die beiden genannten zeigen, dass die Fragestellungen mit Bezug zur Religion auf europäischer Ebene durchaus mit jenen vor dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar sind. Eine genauere Betrachtung von Ergebnissen und Inhalten maßgeblicher Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofes macht wiederum deutlich, dass sowohl die faktische Situation in manchem Mitgliedstaat als auch der Weg der Begründung auf europäischer Ebene ein anderer sein muss, als er dies nach dem Grundgesetz ist. Ich will im Folgenden die Bedeutung der Religion nach der EMRK anhand von vier zentralen Themenfeldern erörtern, nämlich der individuellen Religionsfreiheit, der korporativen Religionsfreiheit, der politischen Rechte und der Diskriminierungsverbote. Die EMRK gewährleistet in Art. 9 die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Sie ist maßgebliche Quelle für den Status quo der Grundrechte nach Art. 6 Abs. 2 EUV und diente als Vorbild und Auslegungshilfe für Art. 11-70 des Verfassungsvertrags für Europa (Art. 10 Grundrechte-Charta). 3

B. Individuelle Religionsfreiheit Im Folgenden beschränke ich meine Ausführungen auf die Religionsfreiheit, konkret auf die individuelle Religionsfreiheit, zu deren Kern die Freiheit der Religionsausübung gehört. Als unbestritten gilt heute, dass die Beachtung religiöser Gebräuche vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 EMRK erfasst ist. Damit werden jedenfalls Gebräuche im Zusammenhang mit kultischen Handlungen erfasst, wie das Glockengeläut, der Ruf des Muezzins, Prozessionen, Wallfahrten oder das christliche Totengedenken.4 Darüber hinaus werden neben religiösen Riten auch Gebräuche geschützt, welche glaubensgeleitete Handlungen und Verhaltensweisen zum Gegenstand haben, die stärker in einen Bereich des Alltagslebens hineinreichen und dem Bereich der allgemeinen Lebensführung zuzurechnen sind.5

2

EGMR, Entsch. v. 15.2.2001, Lucia Dahlab, Reports of Jugdments and Decisions (RJD) 2001-V, Ziff. 2. 3 Dazu N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 10, Rn. 1, 6. 4 C. Grabenwarter, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 6. Lieferung 2003, Art. 9 EMRK, Rn. 73; siehe zum christlichen Totengedenken zu Allerheiligen auch den österreichischen Verfassungsgerichtshof, VfSlg. 16054/2001. 5 Grabenwarter (Anm. 4), Rn. 17.

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention

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Andererseits steht nicht jede Handlung, die aus religiösen Motiven erfolgt, unter dem Schutz des Art. 9 EMRK. 6 So hat der EGMR die Beschwerde zweier Apotheker aus Salleboeuf (Frankreich), die von französischen Gerichten zu einer Geldstrafe und Schadensersatz verurteilt worden waren, weil sie drei Kundinnen die Herausgabe der ihnen durch ärztliches Rezept verschriebenen Empfängnisverhütungsmittel verweigerten, für unzulässig erklärt. 7 Denn, so der Gerichtshof, die Ausübung religiöser Gebräuche im Sinn von Art. 9 Abs. 1 EMRK umfasse nicht jede Handlung oder jedes Verhalten, das religiös motiviert ist.8 In seiner Güterabwägung berücksichtigte der Gerichtshof auch, dass der Verkauf der Verhütungsmittel in Apotheken monopolisiert ist und den Beschwerdeführern außerhalb ihrer beruflichen Sphäre hinreichend Möglichkeiten geboten werden, ihre religiösen und ethischen Vorstellungen zu manifestieren. 9

I. Schächten Das Schächten von Tieren ist sowohl nach jüdischer als auch nach islamischer Glaubensüberzeugung Voraussetzung für den Verzehr von Fleisch.10 Als solches fällt es in die Kategorie eines religiösen Brauchs und damit in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK. 1 1 Die Richtigkeit dieser Auffassung beweist ein Blick auf die Entstehungsgeschichte, welche deutlich macht, dass ein weites Verständnis insoweit zugrunde zu legen ist, als auch außerhalb des Gottesdienstes stattfindende religiöse Verhaltensweisen und Handlungen erfasst sein sollten, wobei es konkrete Hinweise darauf gibt, dass man insbesondere das Schächten von Tieren erfassen wollte. 12 Nach der EMRK ist es für die Eröffnung des Schutzbereichs unerheblich, dass der Grad der Verbindlichkeit des Verbots, nur Fleisch von geschächteten Tieren zu 6

EGMR, Kalaç, Urt. v. 1.7.1997, RJD 1997-IV, Ziff. 27; EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 66. 7

EGMR, Entsch. v. 2.10.2001, Pichon u. Sajous , RJD 2001-X.

8

EGMR, Pichon u. Sajous (Anm. 7).

9

EGMR, Pichon u. Sajous (Anm. 7).

10

Näher hierzu M. Levinger, Die Jüdische Schlachtmethode - das Schächten, in: R. Potz/ B. Schinkele/W. Wieshaider (Hrsg.), Schächten. Religionsfreiheit und Tierschutz, 2001, 1 ff.; H. Mousa, Schächten im Islam, in: ebd., 16 ff. 11 EGMR, Urt. v. 27.6.2000, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Große Kammer), RJD 2000VII, Ziff. 73 f. 12 N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990, 49; K. Pabel, Der Grundrechtsschutz für das Schächten, Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2002, 220 (224).

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verzehren, innerhalb einer Religionsgesellschaft umstritten ist. Die frühere Position des BVerwG ist deshalb nicht mit der des EGMR vereinbar, 13 im Gegenteil: Der religiös-neutrale Staat hat sich nach der EMRK einer Entscheidung des Streits innerhalb einer Religionsgemeinschaft zu enthalten und muss davon ausgehen, dass eine bestimmte Handlung einen religiösen Brauch darstellt, auch wenn sie nicht von allen Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft als solcher angesehen wird. 14 Auf dieser Grundlage war es für den EGMR unproblematisch, das Schächten von Tieren als eine von der Religionsfreiheit der EMRK geschützte Tätigkeit unter die Religionsausübung im Zusammenhang mit der Beachtung religiöser Bräuche zu subsumieren.15 Im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen zwei jüdischen Organisationen in Frankreich stellte der EGMR fest, dass das Schächten den Zweck verfolge, Gläubige mit Fleisch von Tieren zu versorgen, die nach den religiösen Vorschriften geschlachtet worden seien.16 Dies stelle einen wesentlichen Aspekt der jüdischen Religionsausübung dar. 17 Auch wenn der EGMR noch nicht die Gelegenheit hatte, den vom Bundesverfassungsgericht im Januar 2002 entschiedenen Fall zu beurteilen, 18 ist davon auszugehen, dass er diesen nicht anders entschieden hätte, wobei er einen Umweg über das Grundrecht der Berufsfreiheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit wohl selbst dann nicht gegangen wäre, wenn es entsprechende Grundrechte in der EMRK gäbe. Im von ihm entschiedenen Fall hatte er nämlich überhaupt den Eingriff in die Religionsfreiheit verneint, weil das französische Recht ohnehin die Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen für rituelles Schlachten vorsah und der

13

Das BVerwG hatte die Verweigerung der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG (BGBl 1 1972, 1277) insbesondere daraufgestützt, dass der Islam keine Religionsgemeinschaft sei, die ihren Mitgliedern durch zwingende Vorschriften den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersage: BVerwGE 99, 1 (3 f.); BVerwGE 112, 227 (234); anders nun BVerfGE 104, 337 (353 ff.). 14 Vgl. hierzu den österreichischen Verfassungsgerichtshof, VfSlg. 15394/1998. 15 16 17

EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 73 f. EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 73.

EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 73. Zur entstehungsgeschichtlichen Bestätigung dieser Ansicht vgl. Pahel (Anm. 12), 224. 18 BVerfGE 104, 337 = EuGRZ 2002, 92. Exemplarisch dazu Anm. U. Volkmann, Deutsches Verwaltungsblatt (DVB1) 2002, 328 (332 ff.); 7. Oebbecke, Islamisches Schlachten und Tierschutz, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2002, 302 ff.; A. Dietz, Ausnahmegenehmigungen zum Schächten aufgrund § 4a TierSchG, Natur und Recht 2003, All ff.; N. Arndt/M. Droege, Das Schächturteil des BVerfG - Ein „dritter Weg" im Umgang mit der Religionsausübungsfreiheit, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) 48 (2003), 188 ff.; Anm. M. Rohe, österreichisches Archiv für recht & religion (öarr) 2002, 69 (78 ff.).

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Staat deshalb effektiv die Religionsfreiheit gewährleistet habe.19 Das Monopol einer Vereinigung hielt er für zulässig.20 Irritierend sind allenfalls zusätzliche Argumente, die der Gerichtshof ins Treffen führt und die ein wenig an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erinnern, 21 nämlich der Hinweis auf die Möglichkeit des Bezugs von Fleisch aus dem Ausland oder von Schlachtern, die zwar die vorgeschriebene Methode, nicht aber zusätzlich gewünschte Kontrollen befolgen würden. 22 Diese Zusatzargumente sind wohl im Ergebnis weder tragfähig noch tragend.

II. Religiöse Symbole in öffentlichen Bildungseinrichtungen Fragen der Religionsfreiheit in Zusammenhang mit der Schule sind auch von Art. 9 EMRK erfasst. Während jedoch das religiöse Symbol an den Wänden des Klassenzimmers 23 noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs war, hatte er sich bereits mit religiös motivierten Kleidungsvorschriften zu befassen. Noch bevor der Kopftuch-Streit das Bundesverfassungsgericht erreichte, hatte der EGMR bereits einen vergleichbaren Fall gegen die Schweiz entschieden. Die Genfer Lehrerin Lucia Dahlab, die während ihres Dienstes das muslimische Kopftuch tragen wollte, drang mit ihrer auf die Religionsfreiheit gestützten Beschwerde in Straßburg nicht durch. 24 Sie wurde als offensichtlich unbegründet für unzulässig erklärt, wobei sich der EGMR insofern deutlich festlegt, als er das Kopftuch als ein starkes äußeres Symbol ansieht, welches insbesondere auf Kinder

19

EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 76.

20

EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 77.

21

BVerwG 99, 1 (8), wo das BVerfG ebenfalls auf die Möglichkeit des Fleischimports verweist. Vgl. auch BVerwGE 112, 227 ff. 22 23

EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 79, 81 f.

BVerfGE 93, 1. Im Senat war insbesondere die Frage, wann ein Eingriff in die negative Religionsfreiheit vorliegen soll, umstritten; dazu die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und Haas, BVerfGE 93, 1 (29 ff.); exemplarisch zur Entscheidung des BVerfG U. Häußler, „Schulkreuze" im säkularen Staat. Zum Verhältnis von Grundrechtsschutz und Neutralitätsprinzip, ZevKR 43 (1998), 461 ff.; M. Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, Journal für Rechtspolitik (JRP) 1995, 237 ff.; C. Link, Stat Crux? Die „Kruzifix"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 3353 ff.; G. Strejcek, Grundrechtsdogmatische und rechtspolitische Gedanken zum Kruzifix-Beschluß des Bundesverwaltungsgerichtes, JRP 1995, 228 ff. 24 EGMR, Dahlab (Anm. 2), Ziff. 2.

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einen bekehrenden Einfluss haben könne.25 Er hält es in diesem Zusammenhang wörtlich für „schwierig", dieses Symbol in der Schule mit dem „Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter und dem Eintreten für Toleranz, Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Einklang zu bringen" und verweist darauf, dass diese Werte in einer Demokratie gerade von Lehrern vermittelt werden sollten.26 Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass der EGMR Beschränkungen der Religionsfreiheit in diesem Zusammenhang durchaus großzügiger gegenübersteht als etwa das Bundesverfassungsgericht, 27 wobei die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Meilinghoffeher der Linie des EGMR entspricht. 28 Diese Großzügigkeit wurde im eingangs zitierten Fall §ahïn bestätigt,29 wenngleich man hier die besondere Situation des Islam und des Verhältnisses des Staates zu Religionsfragen in der Türkei berücksichtigen muss.30 Gerade deshalb aber verdienen die Ausführungen des EGMR in der Verhältnismäßigkeitsprüfung Beachtung. Nach Art. 9 Abs. 2 EMRK hat der Gerichtshof in der Prüfung nach einem legitimen Ziel zu suchen. Dieses findet er im Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sowie in der öffentlichen Ordnung. 31 Zu beachten ist auch, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Studierende handelt, der das Argument der Vorbildfunktion einer Lehrerin nicht entgegengehalten werden kann. Neben den nicht zu knappen Ausführungen zur Begründung einer zurückgenommenen Kontrolldichte, auf die noch einzugehen ist, führt der EGMR vor allem zwei Prinzipien 25

EGMR, Dahlab (Anm. 2), Ziff. 1 ; vgl. dazu auch H. Goer lieh, Religionspolitische Distanz und kulturelle Vielfalt unter dem Regime des Art. 9 EMRK, NJW 2001, 2862 f. 26 EGMR, Dahlab (Anm. 2), Ziff. 1. 27

Das BVerfG vertritt insbesondere die Ansicht, dass alle Deutungsmöglichkeiten des Kopftuchs in Betracht gezogen werden müssen sowie dass die Konflikte, die innerhalb der Schule zwischen Eltern, Schülern und Lehrern durch das Tragen religiös interpretierbarer Bekleidungsstücke seitens einzelner Lehrer auftreten können, nur eine abstrakte Gefahr darstellen, BVerfGE 108, 282 (303 ff.). Exemplarisch zum Urteil des BVerfG U. Battis/P. F. Bultmann, Was folgt für die Gesetzgeber aus dem Kopftuchurteil des BVerfG?, Juristenzeitung (JZ) 2004, 581 ff.; R. Diibbers/Z. Dlovani, Der „Kopftuchstreit" vor dem Bundesverfassungsgericht - ein Zwischenspiel, Arbeit und Recht 2004, 6 ff.; G. Robbers, Muslimische Lehrerinnen, das Kopftuch und das deutsche Bundesverfassungsgericht, öarr 2003, 405 ff. 28 BVerfGE 108, 282 (319, 328). 29

EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 114 f; hierzu K. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, EuGRZ 2005, 12 ff. 30

Zu dieser Problematik ausführlich C. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei; Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart n. F. 36 (1987), 179 ff.; ders., Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, EuGRZ 1990, 129 (143 ff.). 31

EGMR, Leyla §ahîn (Anm. 1), Ziff. 84.

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zugunsten des Kopftuchverbots an türkischen Universitäten ins Treffen, nämlich den Laizismus als Garantie für die Demokratie und das Prinzip der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, dieses wiederum akzentuiert als Gleichheit von Mann und Frau. 32 Dass diese beiden Prinzipien letztlich gegenüber der Religionsfreiheit durchdringen, resultiert daraus, dass der EGMR die spezifische Situation in der Türkei entscheidend in die Abwägung einbezieht. Hier wird zunächst das Verständnis des Laizismus durch den türkischen Verfassungsgerichtshof als besonders bedeutsam für die demokratische Verfassungsordnung der Türkei angesehen.33 Sodann wird darauf abgestellt, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung muslimischen Glaubens sei und daher das öffentliche Tragen religiöser Kleidungsstücke die Gefahr in sich berge, dass jene, die dies nicht tun wollten, unter Druck durch die religiös gestimmte Mehrheit geraten könnten.34 Mit diesem Gesichtspunkt steht die weitere Annahme im Zusammenhang, dass das Kopftuch nicht mehr bloß religiöses Symbol sei, sondern auch politische Bedeutung insoweit habe, als extremistische politische Bewegungen religiös motivierte Staatsstellungen durchsetzen wollten. 35 Es mag zwar durchaus stimmen, dass das Kopftuch mittlerweile vielerorts als Symbol des Islamismus verstanden und auch aus diesem Grund von vielen muslimischen Frauen getragen wird und derartige politisch-religiöse Bestrebungen den türkischen Säkularismus in seinen Grundfesten erschüttern, dennoch ist es unzulässig, das Kopftuch pauschal auf diesen Sinngehalt zu reduzieren, insbesondere da eine derartige Geisteshaltung aus dem Verhalten der Beschwerdeführerin nicht ableitbar ist. 36 Generell ist zu bezweifeln, ob das rigide Verbot religiöser Symbole im öffentlichen Raum in der Türkei geeignet ist, die angestrebten Ziele des Säkularismus und der Gleichheit von Mann und Frau auf Dauer sicherzustellen. Dennoch ist es zulässig, dass der EGMR den historischen Besonderheiten der Beziehung zwischen Staat und Religion in der Türkei besondere Bedeutung zumisst, da dies mit einer Betonung des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten korreliert. 37

32

EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 104 ff.

33

EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 104 f.

34

EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 108.

35

EGMR, Leyla §ahîn (Anm. 1), Ziff. 109.

36

Der EGMR bezeichnet vielmehr ihren Entschluss ein muslimisches Kopftuch zu

tragen als religiös motivierte Handlung, EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 71. 37

Vgl. auch EGMR, Dahlab (Anm. 2), Ziff. 1. Ausführlich zur Kontrolldichte unten F. II.

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Christoph Grabenwarter

III. Glaubenswerbung Die Religionsausübungsfreiheit des Art. 9 EMRK umfasst auch das Recht der Glaubenswerbung. 38 In diesem Kontext geriet vor allem Griechenland in das Visier der Straßburger Richter, nachdem griechische Gerichte Personen, die nicht der griechisch-orthodoxen Kirche angehörten, wegen Proselytismus verurteilt hatten.39 Dabei bricht der EGMR eine Lanze für die religiöse Toleranz auch gegenüber mitunter aufdringlicher Glaubenswerbung. Die Grenze des zulässigerweise vom Staat verpönten Verhaltens wird dort gesehen, wo die Religionsfreiheit angemessen respektiert wird. Solange nicht der Versuch unternommen wird, Gläubige anderer Religionen mit missbräuchlichen Mitteln 40 von der eigenen Religion zu überzeugen, besteht kein zwingendes soziales Bedürfnis, dieses Verhalten zu bestrafen. 41 Ein solches wurde daher für Zeugen Jehovas, die im privaten Bereich für ihren Glauben warben, ebenso verneint 42 wie für Angehörige der griechischen Luftwaffe, welche im familiären Kontext für den Beitritt zur Pfingstkirche eintraten. 43 Für zulässig hält es der EGMR aber, wenn der Staat gegen Glaubenswerbung innerhalb der Streitkräfte vorgeht. Er verweist darauf, dass die hierarchischen Strukturen einer Armee jeden Aspekt der Beziehung zwischen militärischem Personal beeinflussen könnten und es für einen Untergebenen schwer gemacht werden könnte, die Annäherungen einer Person höheren Ranges zurückzuweisen oder sich aus

38

EGMR, Urt. v. 25.5.1993, Kokkinakis, 24.2.1998, Larissis u.a., RJD 1998-1, Ziff. 38.

Serie A 260-A, Ziff. 31; EGMR, Urt. v.

39

Hierzu auch Blum (Anm. 12), 71 f.; A. Weber, Menschenrechte. Texte und Fallpraxis, 2004, 595 f. 40 Vgl. EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 45. So auch BVerfGE 12, 1 (4 f.), wo der Beschwerdeführer, der Anhänger der Ludendorff-Bewegung war, seine Mitgefangenen mittels Tabak zum Austritt aus der evangelischen Kirche bewegen wollte. Das BVerfG stellte klar, dass „die an sich erlaubte Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung dann Missbrauch des Grundrechts [auf Religionsfreiheit wird], wenn jemand unmittelbar oder mittelbar den Versuch macht, mit Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel, andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen". 41 EGMR, Kokkinakis (Anm. 38), Ziff. 48 f. J. A. Frowein, in: J. A. Frowein/W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 9, Rn. 24, hält hingegen jede Bestrafung wegen Werbung für den eigenen Glauben für grundsätzlich unzulässig. 42 EGMR, Kokkinakis (Anm. 38), Ziff. 48 f., wo der Beschwerdeführer im Haus einer Nachbarin für die Zeugen Jehovas geworben hatte. 43 EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 58 f.

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einem Gespräch zurückzuziehen. 44 Ein in der zivilen Welt als harmloser Austausch von Ideen angesehenes Gespräch könne innerhalb der Grenzen militärischen Lebens als eine Form der Belästigung oder als Anwendung ungebührlichen Drucks durch Missbrauch von Macht betrachtet werden. 45 Zwar dürfe nicht jede Diskussion über Religion in diese Kategorie gestellt werden, dort wo es die Umstände aber erforderten, könnten spezielle Maßnahmen zum Schutz von Rechten untergebener Angehöriger der Streitkräfte ergriffen werden. 46 Diese differenzierende Haltung, die typisch für die situationsbezogene Abwehrerwägung des EGMR ist, passt vollständig in das Gesamtbild der Straßburger Judikatur. Sie trägt dem Grundgedanken einer demokratischen Gesellschaft in der einen wie in der anderen Konstellation Rechnung. Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellte, war die Frage, ob das griechische Verbot des Proselytismus hinreichend bestimmt und damit vorhersehbar war, d.h. ob es den Normunterworfenen möglich war zu erkennen, welches Verhalten zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen würde und welches nicht. Hier vertrat der Gerichtshof die Ansicht, dass viele Gesetze zwangsweise teilweise vage gehalten sein müssen, um auf diese Weise eine übertriebene Starrheit zu vermeiden und mit geänderten Umständen Schritt halten zu können.47 Die auf Art. 7 EMRK gestützten Beschwerde hatte somit keinen Erfolg. 48 Ebenfalls mit der Problematik der Vorhersehbarkeit hatte sich der Gerichtshof infolge des Verbots der türkischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi), und zwar in Bezug auf die Auflösung verfassungsfeindlicher Parteien - insbesondere, wenn sie am laizistischen System der Türkei rüttelten, - durch den Verfassungsgerichtshof, auseinanderzusetzen.49 Die maßgebliche Bestimmung im türkischen Parteiengesetz war eine Woche vor dem Urteil des türkischen Verfassungsgerichtshofs aufgehoben worden, jedoch bot die türkische Verfassung selbst eine materielle Grundlage für die Auflösung verfassungsfeindlicher Parteien durch den türkischen Verfassungsgerichtshof. 50 Auch hier verweist der EGMR darauf, dass es unmöglich ist, zu einer absoluten Exaktheit in der Erarbeitung von Gesetzen zu 44

EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 51.

45

EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 51; zustimmend Anm. S. Korinek, Juristische Blätter (JB1) 1998,573 (576). 46 EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 51. 47 48

EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 34.

EGMR, Larissis u.a. (Anm. 38), Ziff. 35. Blum (Anm. 12), 72, hält hingegen die griechische Rechtslage für unvereinbar mit Art. 9 EMRK. 49 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Große Kammer), RJD 2003-11, Ziff. 51 ff. Näheres dazu unter D. 50 D. Kugelmann, Die streitbare Demokratie nach der EMKR, EuGRZ 2003,533 (534).

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Christoph Grabenwarter

gelangen, insbesondere in Bereichen, die auf Grund des gesellschaftlichen Wandels Änderungen unterliegen. 51 Insbesondere hänge der geforderte Grad an Genauigkeit auch von dem Inhalt des Textes, dem Sachverhalt, den er regeln soll, und den Eigenschaften der Adressaten ab. 52 Da im gegenständlichen Fall Adressat des Eingriffs eine politische Partei war, sei es für die Beschwerdeführerin vorhersehbar gewesen, dass sie durch anti-laizistische Aktivitäten Gefahr lief, ein Verfahren zur Auflösung der Partei auszulösen.53 Somit war dieser Eingriff „vom Gesetz vorgesehen". 54 In beiden Fällen zeigt sich die Schutzfunktion des Gesetzes im demokratischen Rechtsstaat für die (religiöse) Minderheit, auch wenn seinen Anforderungen in den konkreten Fällen nicht Rechnung getragen worden sind.

IV. Negative Religionsfreiheit und elterliches Erziehungsrecht Es ist auch für die Religionsfreiheit nach der EMRK völlig unbestritten, dass die negative Freiheit, d.h. eine Religion nicht zu haben oder auszuüben, geschützt ist. 55 Dies hat der EGMR etwa im Fall von Parlamentariern in San Marino ausdrücklich festgestellt, die ihren Eid unter Einschluss einer religiösen Beteuerung leisten mussten, ohne dass eine dem Art. 56 Satz 4 GG vergleichbare Regelung bestand.56 Negative Freiheit kann auch bei Sachverhalten in Bildungseinrichtungen eine Rolle spielen,57 wobei hier weniger an Sachverhalte zu denken ist, in denen mitunter ein Eingriff darin gesehen wird, dass Schüler einem Symbol ausgesetzt sind. 58 Es geht hier vielmehr um die Verpflichtung zur Teilhabe an Handlungen,

51

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

u.a. (Anm. 49), Ziff. 57.

52

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 57. So auch bereits in EGMR, Urt. v. 28.3.1990, Groppera Radio AG u.a., Serie A 173, Ziff. 68; EGMR, Urt. v. 22.11.1995, Cantoni, RJD 1996-V, Ziff. 35. Kritisch hierzu Kugelmann (Anm. 50), 535. 53 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 63. 54

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

u.a. (Anm. 49), Ziff. 64.

55

EGMR, Urt. v. 18.2.1999, Buscarmi, RJD 1999-1, Ziff. 34; hierzu auch Grabenwarter (Anm. 4), Rn. 21 ff.; in Bezug auf das Kruzifix-Urteil des BVerfG J. Müller-Volbehr, Positive und negative Religionsfreiheit, JZ 1995, 996 (999 f.). 56 EGMR, Buscarmi (Anm. 55), Ziff. 34, 39. 57

Siehe oben B. II. Zur Problematik des Kruzifixes in deutschen Klassenzimmern BVerfGE 93, 1; dazu G. Czermak, Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, seine Ursachen und seine Bedeutung, NJW 1995, 3348 ff.; Häußler (Anm. 23), 461 ff.; Jestaedt (Anm. 23), 237 ff.; Link (Anm. 23), 3353 ff.; R. Pofalla, Kopftuch ja - Kruzifix nein?, NJW 2004, 1218 ff.; L. Renck, Zum rechtlichen Gehalt der Kruzifix-Debatte, Zeitschrift für Rechtspolitik 1996, 16 ff. 58

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention

107

Veranstaltungen etc. im schulischen Rahmen, die geeignet ist, die Religionsfreiheit zu berühren, beispielsweise die Verpflichtung zur Teilhabe an einem Schulgebet.59 Keinen Eingriff in die Religionsfreiheit bildet die Teilhabe an staatlichen Veranstaltungen, die zunächst keinen Religionsbezug haben. Der EGMR wies Beschwerden von Anhängern der Zeugen Jehovas ab, deren Kinder zur Teilnahme an Schulparaden anlässlich des Nationalfeiertags verpflichtet worden waren und denen bei Nichtteilnahme disziplinarische Maßnahmen drohten. Der Gerichtshof verbarg zwar nicht sein Erstaunen, dass Schüler unter Androhung des Schulausschlusses zur Teilnahme an einer Parade außerhalb einer Schule an einem Feiertag verpflichtet werden könnten.60 Dessen ungeachtet verneint der Gerichtshof bereits einen Eingriff in die Religionsfreiheit, da die Verpflichtung zur Teilnahme an der Parade nicht die religiösen Überzeugungen der Eltern verletzen würde. 61 Gleichsam zur Legitimation dieses Ergebnisses wird zuvor darauf hingewiesen, dass die Schülerinnen Victoria Valsamis und Sophia Efstratiou von der Teilnahme am Religionsunterricht und an orthodoxen Gottesdiensten über ihren Antrag befreit worden waren. 62 Mit einiger Zurückhaltung bemerkt der Gerichtshof im Hinblick auf das elterliche Erziehungsrecht (Art. 2 1. ZP EMRK), dass es nicht seine Aufgabe sei, über die Zweckmäßigkeit anderer Erziehungsmethoden zu befinden, welche nach Ansicht des Beschwerdeführers besser geeignet wären, um das historische Gedächtnis in der jüngeren Generation zu erhalten. 63

V. Schutzpflichten Der EGMR hat in den letzten zehn Jahren sukzessive durchaus differenzierte Schutzpflichten für einzelne Grundrechte entwickelt, 64 wobei die Begründung im Wesentlichen abwehrrechtliche Wurzeln hat. In der Frühphase dieser Rechtsprechung rechtfertigte der EGMR Eingriffe in die Meinungs- und Kunstfreiheit mit

59

Zur Zulässigkeit des Schulgebets an christlichen Gemeinschaftsschulen BVerfGE 52, 223 (238, 241,249 ff.), wobei allerdings Ausweichmöglichkeiten für jene Schüler bestehen müssen, die das Schulgebet ablehnen. 60 EGMR, Urt. v. 18.12.1996, Efstratiou, RJD 1996-IV, Ziff. 32; EGMR, Urt. v. 18.12.1996, Valsamis, RJD 1996-IV, Ziff. 31. 61 EGMR, Efstratiou (Anm. 60), Ziff. 38; EGMR, Valsamis (Anm. 60), Ziff. 37. 62

EGMR, Efstratiou

(Anm. 60), Ziff. 38; EGMR, Valsamis (Anm. 60), Ziff. 37.

63

EGMR, Efstratiou

(Anm. 60), Ziff. 33; EGMR, Valsamis (Anm. 60), Ziff. 32.

64

Ausführlich dazu C. Grabenwarter, lage 2005, § 19, Rn. 17 ff.

Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auf-

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Christoph Grabenwarter

Schutzpflichten gegenüber einer Kirche und deren Angehörigen. 65 Den Leitfall bildet in diesem Zusammenhang die vor elf Jahren ergangene Entscheidung Otto Preminger Institut gegen Österreich. 66 Hier hatte ein Alternativkino in Innsbruck die Aufführung des Filmes „Das Liebeskonzil" von Werner Schröter angekündigt, die der Allgemeinheit zugänglich sein sollte. Der Film zeigt den Gott der jüdischen, der christlichen und der islamischen Religion unter anderem als einem offensichtlich senilen alten Mann, der den Teufel als seinen Freund bezeichnet. Eine andere Szene zeigt die Jungfrau Maria, die sich eine obszöne Geschichte vorlesen lässt, eine andere erweckt den Eindruck einer gewissen erotischen Spannung zwischen der Jungfrau Maria und dem Teufel. Der erwachsene Jesus wird als einfältig und geistig zurückgeblieben dargestellt. Der EGMR sah in der Beschlagnahme und Einziehung des Films durch die österreichischen Gerichte einen Eingriff in Art. 10 EMRK, der jedoch zum Schutz der Rechte anderer gerechtfertigt war. 67 Ausdrücklich betonte der EGMR, dass zu den Rechten anderen auch gehöre, in religiösen Gefühlen nicht durch den öffentlichen Ausdruck von Anschauungen anderer Personen beleidigt zu werden. 68 Zwar dürften die Mitglieder einer religiösen Mehrheit oder Minderheit bei Ausübung ihrer Religionsfreiheit nicht vernünftigerweise erwarten, von jeglicher Kritik ausgenommen zu sein.69 Dennoch könne die Art, in der religiöse Anschauungen und Lehren bekämpft oder geleugnet werden, möglicherweise die Verantwortlichkeit des Staates auslösen, insbesondere um die friedliche Ausübung der nach Art. 9 EMRK garantierten Rechte zu gewährleisten.70

65 EGMR, Urt. v. 20.9.1994, Otto Preminger Institut, Serie A 295-A, Ziff. 47, 49; EGMR, Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, Ziff. 48. Anders hingegen die Rechtsprechung der Kommission zur Religionsfreiheit von Geistlichen innerhalb ihrer Kirche, EKMR, Entsch. v. 8.3.1976, X , Nr. 7374/76, DR 5, 157 (158); EKMR, Entsch. v. 8.3.1985, Knudsen, Nr. 11045/84, DR 42, 247 (257 f.); EKMR, Entsch. v. 8.5.1985, Priissner, EuGRZ 1986, 648 f. Zum Schutz religiöser Gefühle ausführlich P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht: Inhalt und Reichweite einer „gemeineuropäischen Grundrechtsfunktion", 2002, 829 ff. 66 EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65); hierzu ausführlich C. Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religion, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 55 (1995), 128 ff. Zur österreichischen Rechtslage ausführlich W. Platzgummer, Herabwürdigung religiöser Lehrer, Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst, JB1 1995, 137 ff. 67 EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 43, 48, 56 f. 68

EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 48.

69

EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 47. EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 47.

70

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention

109

Der EGMR verweist zwar zunächst auf seine allgemeine, liberale Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK, die seit dem Fall Handyside 11 eine gleich bleibende Formel verwendet, wonach auch Äußerungen geschützt sind, die verletzen, schockieren oder stören.72 Sodann präzisiert der EGMR, dass unter den Verantwortlichkeiten und Pflichten nach Art. 10 im Kontext von religiösen Meinungen und Glaubensüberzeugungen legitimerweise eine Verpflichtung angenommen werden könne, wonach soweit wie möglich Äußerungen zu vermeiden sind, welche absichtlich verletzend sind und dadurch deren Rechte beeinträchtigen und die daher nicht zu irgendeiner Form einer öffentlichen Debatte beitragen, welche geeignet wäre, den Fortschritt in menschlichen Beziehungen zu fördern. 73 Diese Entscheidung war vielfacher Kritik unterworfen, und zwar im Hinblick auf drei Gesichtspunkte: Zum Ersten wird nicht recht klar, ob das Ziel des Eingriffs der Schutz religiöser Gefühle oder der Schutz des religiösen Friedens ist. 74 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der EGMR darauf abstellt, dass die Mehrheit der Tiroler Bevölkerung katholischen Glaubens sei.75 Zum Zweiten ist fraglich, ob der Eingriff und die Verletzung durch das Zeigen des Films oder durch seine Ankündigung erfolgt sind. 76 Jedenfalls ist auch hier bemerkenswert, dass der EGMR seinen Beurteilungsspielraum stark zurücknimmt. Zum Dritten ist die Relevanz regionaler Verhältnisse, hier die konfessionelle Gebundenheit der Mehrheit der Tiroler, zu hinterfragen. Dies wirft die weitergehende Frage auf, ob Katholiken, die in einem Land nur eine kleine Minderheit bilden, mehr an Kritik erdulden müssen als jene, die in einem katholischen Kernland leben. Eine vergleichbare Entscheidung „Visions of Ecstasy" über erotische Visionen der Heiligen Theresa von Avila traf der EGMR im Fall Wingrove gegen Großbritannien kurze Zeit später, in dem er das Zertifikat für die Verbreitung eines Videofilms und dessen Verweigerung als mit der Meinungsfreiheit vereinbar anerkannte.77 Beide Entscheidungen zeigen, dass der EGMR Schutzpflichten im religiösen Bereich ernst nimmt, aber Zurückhaltung übt, indem er den Staaten vor allem bei der Bekämpfung von Blasphemie einen größeren Spielraum gewährt.

71

EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, Ziff. 49.

72

EGMR, Handyside (Anm. 71), Ziff. 49; EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 49. 73 EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 49. 74

Grabenwarter

75

EGMR, Otto Preminger Institut (Anm. 65), Ziff. 52.

{Anm. 66), 147.

76

Grabenwarter

77

EGMR, Wingrove

(Anm. 66), 151 ff. (Anm. 65), Ziff. 64 f.

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Christoph Grabenwarter

C. Korporative Religionsfreiheit Neben der individuellen Religionsfreiheit schützt Art. 9 EMRK nach heute weitgehend unbestrittener Auffassung auch die auf religiöse Vereinigungen bezogene Freiheit, mithin die so genannte korporative Religionsfreiheit. 78 Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Zusammenhang ist, dass die Ausübung der Religionsfreiheit typischerweise in Gemeinschaft mit anderen erfolgt. Dementsprechend stellt Art. 9 Abs. 1 EMRK ausdrücklich die Beziehungen zu anderen Personen her und schützt er die Religionsausübung „einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen".

I. Gründung und Anerkennung religiöser Vereinigungen Der grundrechtliche Schutz korporativer Religionsfreiheit setzt voraus, dass das Grundrecht die Gründung von religiösen Vereinigungen, Kirchen und Religionsgemeinschaften schützt.79 In Parallele zur Garantie des Art. 11 EMRK schützt Art. 9 EMRK gleichsam als lex specialis zu diesem Grundrecht die Gründung von Vereinigungen, deren Zweck die Ausübung von Tätigkeiten im Schutzbereich der Religionsfreiheit sowie die Ermöglichung der Ausübung der Religionsfreiheit in Gemeinschaft mit anderen ist. 80 Das Recht der religiösen Vereinigungsfreiheit gewährt den Gläubigen die Möglichkeit, sich zu Glaubensgemeinschaften zusammenzuschließen, ohne dass der Staat in willkürlicher Weise eingreift. In dieser Hinsicht ist die Autonomie der Religionsgemeinschaften unverzichtbar für den Pluralismus einer demokratischen

78

Frowein (Anm. 41), Rn. 9; Grabenwarter (Anm. 64), § 22, Rn. 84, 98; differenziert H. T. Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 1998, 361 ff. Anders noch C. Hillgruber, Staat und Religion, DVB1 1999, 1155 (1177). Zum Schutz der korporativen Religionsfreiheit nach Art. 11-70 V V E S. Muckel, Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, Die Öffentliche Verwaltung 2005, 191 (193 ff.). 79

C. Grabenwarter, Die korporative Religionsfreiheit nach der Menschenrechtskonvention, in: S. Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner, 2003, 149. 80 Vgl. EGMR, Urt. ν. 13.12.2001, Metropolitankirche von Bessarabien u.a., RJD 2001-XII, Ziff. 118.

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention

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Gesellschaft, 81 ja sie bildet das Herzstück des Grundrechtsschutzes nach Art. 9 EMRK. 8 2 Dies schließt nicht aus, dass der Staat insbesondere bei Konflikten zwischen Religionsgemeinschaften einzugreifen hat, nicht zuletzt mit dem Ziel, Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften zu schützen.83 Bei der Ausübung seiner Befugnisse hat sich jedoch der Staat einer Bewertung der verschiedenen Religionen und Glaubenshaltungen zu enthalten und sich auf einen Standpunkt der Neutralität und Unparteilichkeit zurückzuziehen. 84 Vor allem geht es nicht an, dass der Staat zur Bekämpfung von Spannungen zwischen Religionsgemeinschaften bestimmte Gemeinschaften nicht zulässt und dadurch den Pluralismus beseitigt.85 Nicht unzulässig ist hingegen ein System vorheriger Genehmigung von Religionsgemeinschaften, solange die Intervention des Staates im Genehmigungsverfahren den Anforderungen des Art. 9 Abs. 2 EMRK entspricht. Um dem Rechnung zu tragen, darf der Staat keine Bewertung hinsichtlich der Legitimität der Glaubensüberzeugungen und der Modalitäten vornehmen, in denen sie zum Ausdruck kommen. Insbesondere ist es unzulässig, wenn staatliche Maßnahmen einen bestimmten Religionsführer bzw. Organe einer gespaltenen Religionsgemeinschaft begünstigen oder wenn der Staat versucht, eine solche Religionsgemeinschaft gegen ihren Willen unter eine einheitliche Führung zu stellen.86 Ein Staat, der unter konkurrierenden Religionsgemeinschaften eine bestimmte bevorzugt und die Entstehung einer weiteren Kirche einerseits mit dem Argument ablehnt, dass sie keinen neuen Kultus repräsentiere, und andererseits die Anerkennung vom Willen der bereits anerkannten Kirche abhängig macht, verletzt seine durch Art. 9 gebotene Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit. 87 Freilich können - und dafür bietet die europäische Geschichte zahlreiche Beispiele - der Bestand und die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften in ihrer Koexistenz in einem bestimmten Staat den sozialen und religiösen Frieden, manchmal sogar den Bestand eines Staates selbst gefährden, dies zumal dann, wenn Religionszugehörigkeit mit ethnischen Merkmalen korreliert. Wiewohl es legitim ist, dass der Staat diesen Gefahren entgegenwirkt, hat er sich dennoch stets angemessener Mittel zu bedienen. Soweit eine Religion als Plattform für gewaltsame 81

Vgl. EGMR, Urt. v. 26.10.2000, Hasan und Chaush (Große Kammer), RJD 2000-XI, Ziff. 62. 82 EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 118. 83

Vgl. nur EGMR, Kokkinakis

84

EGMR, Hasan und Chaush (Anm. 81), Ziff. 78.

(Anm. 80), Ziff. 33.

85

EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Serif, RJD 1999-IX, Ziff. 53.

86

EGMR, Serif (Anm. 85), Ziff. 52.

87

EGMR, Metropolitankirche

von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 123.

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Christoph Grabenwarter

politische Aktivitäten, staatsfeindliches Handeln und ähnliches missbraucht wird, ist der Staat gegebenenfalls nicht daran gehindert, entsprechende Vereinigungen mit religiösem Anspruch auch zu untersagen. Dies wird man namentlich bei Vereinigungen bejahen können, welche darauf gerichtet sind, dem auch in der EMRK vorausgesetzten Modell eines laizistischen Staates entgegenzuwirken. Dabei ist jedoch Zurückhaltung geboten: Nicht jede in diese Richtung gehende Äußerung im Umfeld einer Religionsgemeinschaft kann schon dieser zugerechnet werden. Für die Beurteilung kommt es nicht bloß auf die Glaubenswahrheiten und das „Programm" einer Religionsgemeinschaft an, sondern auch auf ihr tatsächliches Verhalten. 88 Soweit jedoch religiöser und sozialer Frieden betroffen sind, ist die Versagung der Anerkennung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft regelmäßig nicht verhältnismäßig, solange sich nicht nachweisen lässt, dass die Störung des religiösen und sozialen Friedens ausschließlich auf das Verhalten ihrer Angehörigen zurückzuführen ist. 89 Ein ganz entscheidender Gesichtspunkt für die Verhältnismäßigkeit der Versagung einer Anerkennung als Religionsgemeinschaft ist es, wenn die betroffene Religionsgemeinschaft dadurch daran gehindert wird, Rechtspersönlichkeit zu erlangen. Wenn das innerstaatliche Recht daran die Rechtsfolge knüpft, dass keine Möglichkeit für Priester besteht, Gottesdienste zu feiern, sich die Gläubigen nicht versammeln können und die Religionsgemeinschaft mangels Rechtspersönlichkeit hinsichtlich ihres Vermögens keinen gerichtlichen Rechtsschutz genießt, so bildet dies unter den genannten Rahmenbedingungen jedenfalls einen Eingriff, regelmäßig eine Verletzung der Rechte nach Art. 9 EMRK. 9 0 Mit Art. 9 EMRK ist es dagegen grundsätzlich vereinbar, wenn die staatliche Rechtsordnung für Religionsgemeinschaften verschiedene Arten rechtlicher Organisation vorsieht. 91 So ist es zulässig, wenn ein bestimmter Status gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften unter erschwerten Bedingungen gewährt wird und gleichzeitig eine Alternative für Religionsgemeinschaften, die diese Kriterien (noch) nicht erfüllen oder erfüllen wollen, besteht. Dement88

EGMR, Metropolitankirche

von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 125.

89

EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 126, 129; dazu Anm. E. Synek, insbesondere zur Situation in der Republik Moldova, öarr 2003, 156 (160 ff.). 90 EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 105, 129. 91

So sieht etwa das österreichische Recht eine Unterscheidung in gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften nach dem Gesetz vom 20. Mai 1874, betreffend die gesetzliche Anerkennung vom Religionsgesellschaften (RGBl 68/1874) und Religiösen Bekenntnisgemeinschaften, die nach dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften (BGBl. I 19/1998) Rechtspersönlichkeit erlangen, vor.

Religion und Europäische Menschenrechtskonvention

113

sprechend ist die Rechtslage nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV mit der Konvention vereinbar, wenn und insoweit sich Religionsgemeinschaften als Vereine konstituieren können und die Kriterien, die an die Erlangung des Körperschaftsstatus nach Art. 137 WRV geknüpft werden, keinen Inhalt aufweisen, welcher selbst unter der Berücksichtigung dieser Alternative im Licht des Art. 9 Abs. 2 EMRK als unverhältnismäßig erschiene. Angesichts der Rechtsfolgen, die an den Körperschaftsstatus geknüpft werden, erscheint es verhältnismäßig, von Religionsgemeinschaften zu verlangen, dass sie nach ihrer Verfassung die Gewährung des dauerhaften Bestandes bieten müssen.92 Auch ist es ohne weiteres mit Art. 9 EMRK vereinbar, wenn von Religionsgemeinschaften Rechtstreue, insbesondere die Achtung des Verbots einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität verlangt werden. Es darf von den Religionsgemeinschaften verlangt werden, dass sie nicht im Widerspruch zu den prinzipiellen Wertungen des verfassungsrechtlichen Religions- und Staatskirchenrechts geraten. 93

II. Selbstbestimmungsrecht von Kirchen und religiösen Vereinigungen Wie eingangs erwähnt, verfügt die EMRK anders als nationale Verfassungen keinen bestimmten Status für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie ist hier vielmehr für die große Vielfalt staatskirchenrechtlicher Systeme in Europa offen. 94 92

BVerfGE 102, 370 (384 f.); dazu C. Hillgruber, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, NVwZ 2001, 1347 (1349 ff.); ders., Über den Sinn und Zweck des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus, in: C. Graben warter/N. Lüdecke (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Kirchenrechts und Staatskirchenrechts, 2002,79 ( 84 ff.); ähnlich auch VfSlg. 16102/2001, dem zufolge eine 10-jährige Beobachtungsphase durch die Kultusbehörde für Religionsgesellschaften nach dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften (BekGG) als Voraussetzung für eine Anerkennung als gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft zulässig ist. Zum Kriterium des dauerhaften Bestandes nach § 11 Abs. 1 Ziff. 1 BekGG (mindestens 20 Jahre) C. Grabenwarter, Kirchen, Religionsgesellschaften und andere, JRP 1997, 266 (272 f.). 93 94

Vgl. BVerfGE 102, 370 (384) = NJW 2001, 429 (432).

Vgl. die Gegenüberstellung verschiedener Systeme bei G. Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union (1995), 351 (352 ff.); M. Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: J. Isensee/W. Rees/W. Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates - der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift Joseph Listi, 1999, 29 ff.; T. Giegerich, Religionsfreiheit als Gleichheitsanspruch und Gleichheitsproblem, in: R. Grothe/T. Maraun (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001,241 (288 ff.); R. Minnerath, Church Autonomy in Europe, in: G. Robbers (Hrsg.), Church Autonomy, 2001, 381 (384 ff.).

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Wenngleich damit die konkreten Konturen für das Selbstbestimmungsrecht von Kirchen und Religionsgemeinschaften durch das nationale Recht gezogen werden, so lassen sich doch aus der EMRK Mindestanforderungen für das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ableiten. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bezieht sich in der Terminologie des deutschen Staatskirchenrechts auf das Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten (Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 WRV). Zu diesen eigenen Angelegenheiten gehören jedenfalls Lehre und Kultus sowie Verfassung und Organisation der Kirchen. Hinsichtlich Lehre und Kultus ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 9 EMRK der Schutz durch die Menschenrechtskonvention. Was Verfassung und Organisation der Kirchen und Religionsgemeinschaften betrifft, so verursachen Ingerenz- oder Mitwirkungsbefugnisse des Staates bei der Verleihung kirchlicher oder religionsgemeinschaftlicher Ämter regelmäßig Probleme. Selbst dann, wenn es zu Konflikten innerhalb von Religionsgemeinschaften kommt, hat sich der Staat grundsätzlich neutral zu verhalten. Er darf insbesondere nicht zu Gunsten einer Glaubensrichtung innerhalb einer Religionsgemeinschaft Partei ergreifen und die andere Seite unterdrücken. Vielmehr hat der Staat für Toleranz zwischen den miteinander in Konflikt liegenden Gruppen zu sorgen. 95 Wenn der Staat in die interne Organisation einer Religionsgemeinschaft eingreift, verletzt er regelmäßig die Rechte der Religionsführer. So fand der EGMR eine Verletzung von Art. 9 EMRK anlässlich von Konflikten innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Bulgarien. Hier erkannten die bulgarischen Behörden eine der beiden konkurrierenden Bewegungen als die einzige offizielle Führung an, mit der Konsequenz, dass die bis dahin anerkannte Führung gänzlich ausgeschlossen wurde. Mangels gesetzlicher Grundlage für dieses Verhalten lag schon aus diesem Grund eine Verletzung von Art. 9 EMRK vor, ohne dass der EGMR eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen musste, die wohl ebenfalls zum Ergebnis einer Verletzung geführt hätte.96 Ein ähnlicher Sachverhalt liegt dem Fall Serif zugrunde, in dem der griechische Staat anstelle eines nach dem Freitagsgebet gewählten Muftis nach neuen Wahlvorschriften einen anderen Mufti ernannt hatte. Die Bestrafung des alten Mufti, der weiterhin sein Amt ausüben wollte, sah der EGMR als eine Verletzung des Art. 9 EMRK an.97 Eine weitere innere Angelegenheit als Teil des Selbstbestimmungsrechts bildet die Errichtung und Nutzung von Gebäuden, die für Zwecke des Gottesdienstes gebraucht werden. Da sie Voraussetzung für die Grundrechtsausübung in Gemeinschaft, wie sie Art. 9 EMRK explizit schützt, sind, wirkt jeder staatliche Eingriff 95

Vgl. EGMR, Serif (Anm. 85), Ziff. 53.

96

EGMR, Hasan und Chaush (Anm. 81), Ziff. 94 ff.

97

EGMR, Urt. v. 17.10.2002, Agga, Nr. 50776/99, u.a. Ziff. 56 ff.

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in diesen Bereich gleichzeitig auf die Religionsausübung der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft zurück. Der EGMR hat im Fall einer strafrechtlichen Verurteilung in Folge der Nutzung eines Gottesdiensthauses der Zeugen Jehovas - in Griechenland - , für welches keine Bewilligung seitens der staatlichen Behörden vorgelegen hat, eine Verletzung von Art. 9 EMRK festgestellt. In diesem Zusammenhang hielt der Gerichtshof fest, dass der Staat kein Ermessen darüber haben dürfe, zu entscheiden, ob bestimmte religiöse Überzeugungen und Mittel der Äußerung derselben Überzeugungen legitim seien. Das Erfordernis einer Genehmigung ist danach nur insoweit mit Art. 9 EMRK vereinbar, als es den Minister dazu ermächtigt, zu überprüfen, ob die formellen Bedingungen der entsprechenden Gesetze erfüllt wurden. Selbst wenn das Verwaltungsgericht seine Rechtsprechung darauf beschränkt, bildet eine gegenläufige Verwaltungspraxis, welche zu Verzögerungen führt und auf eine Genehmigung des Bischofs der griechisch-orthodoxen Kirche abstellt, eine Verletzung von Art. 9 EMRK. 9 8 Die Nutzung von Eigentum zu religiösen Zwecken hatte eine Menschenrechtsbeschwerde der Islamischen Religionsgemeinschaft e.V., die im Februar 1990 in der DDR gegründet und am 1. März nach DDR-Recht als religiöse Vereinigung mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet wurde, an den EGMR zum Gegenstand.99 Eine am 15. Mai 1990 erfolgte Spende des Präsidiums der PDS an die religiöse Vereinigung wurde durch den mittlerweile aufgehobenen Art. 20b Abs. 2 Parteiengesetz einer Treuhandanstalt unterstellt. Zwar lag keine Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit der Religionsgemeinschaft vor, dieser war aber nach Ansicht des Gerichtshofs gerechtfertigt, um sicherzustellen, dass Vermögenswerte politischer Parteien, die fragwürdigen Ursprungs waren, nicht unterschlagen wurden. 100

D. Religionsfreiheit und politische Rechte In der Beschränkung politischer Rechte gegenüber politischen Bewegungen islamistischer Prägung führt die Verquickung von politischen und religiösen Ideen zu Maßnahmen, die auch eine religionsrechtliche Dimension haben. Diese Fragen stellten sich bisher insbesondere im Zusammenhang mit Parteiverboten sowie mit Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit.

98 99

EGMR, Urt. v. 26.9.1996, Manoussakis u.a., RJD 1996-IV, Ziff. 47 ff.

EGMR, Entsch. v. 5.12.2002, Islamische Religionsgemeinschaft e.V., RJD 2002-X, Ziff. 1. 100 EGMR, Islamische Religionsgemeinschaft e.V. (Anm. 99), Ziff. 1.

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Die Parteifreiheit ist nach der EMRK im Rahmen der allgemeinen Vereinigungsfreiheit durch Art. 11 EMRK geschützt. Sie genießt wegen ihrer Funktion für die Demokratie an sich eine gewisse Privilegierung in der Rechtsprechung. 101 Dementsprechend begrenzt der EGMR den Spielraum der Staaten beim Erlass von Parteiverboten. Es gehört nach Ansicht des EGMR zum Wesen der Demokratie, dass verschiedene politische Programme angeboten und diskutiert werden dürfen, selbst solche, welche die gegenwärtige Staatsorganisation in Frage stellen, 102 vorausgesetzt, dass diese Programme nicht die Demokratie selbst gefährden. 103 Diese Aussage hat jedoch ihre Grenzen. Mit Bezug zur Religion öffnet der EGMR nämlich den Beurteilungsspielraum der Staaten.104 Dies vor allem dann, wenn eine Partei durch Wahlerfolge besonders erfolgreich ist, wie im Fall der vom türkischen Verfassungsgericht verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei. Bei Überprüfung der Begründung des türkischen Verfassungsgerichtshofes hatte der EGMR die schwierige Frage der Verschränkung von politischem Pluralismus und religiöser Freiheit zu beurteilen. Programm der Wohlfahrtspartei war es nämlich unter anderem, islamische Vorstellungen in der türkischen Gesellschaft zu verwirklichen. Für die Beurteilung des konkreten Verbotes konzentrierte sich der EGMR auf folgende drei Gesichtspunkte: 1. Lagen plausible Anhaltspunkte dafür vor, dass das Risiko der Beeinträchtigung der Demokratie, vorausgesetzt es wurde festgestellt, in hinreichender Weise unmittelbar bevorstand? 105 2. Waren die in Betracht gezogenen Handlungen und Äußerungen der Führer und Mitglieder der

101

EGMR, Urt. v. 30.1.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei, RJD 1998-1, Ziff. 25; EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 87. Ausfuhrlich zur Problematik von Partei verboten Κ Pabel, Partei verbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV 63 (2003), 921 ff. 102 Vgl. dazu auch EGMR, Urt. v. 10.7.1998, Sidiropoulos, RJD 1998-IV, Ziff. 46 f., wo der EGMR die Nichtregistrierung eines Vereins mit dem Namen „Heim mazedonischer Zivilisation" durch griechische Behörden wegen des Verdachts der Staatsgefährlichkeit für unzulässig erklärte. 103 EGMR, Urt. v. 25.5.1998, Sozialistische Partei u.a. (Große Kammer), RJD 1998-III, Ziff. 47; ähnlich auch EGMR, Urt. v. 9.4.2002, Yazar u.a., RJD 2002-11, Ziff. 49; EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 98. 104 Ob die nationalen Behörden zur Stellung eines Partei Verbotsantrages verpflichtet sind, ist in Deutschland durchaus umstritten; näheres dazu bei J. Ipsen, Parteiverbot und „politisches" Ermessen, in: M.-E. Geis u.a. (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung. Festschrift Maurer, 2001, 163 ff. 105 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 102, 107 ff.

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117

betroffenen politischen Partei der Partei insgesamt zurechenbar. 106 3. Fügten sich die Handlungen und Äußerungen, die der politischen Partei zurechenbar waren, zu einem Ganzen, welches das eindeutige Gesamtbild eines von der Partei entworfenen und nach außen vertretenen Gesellschaftsmodell ergab, das im Widerspruch zu der Konzeption einer demokratischen Gesellschaft stand?107 Diesen drei Fragen schob der Gerichtshof einen Punkt nach, nämlich dass die Gesamtwürdigung hinsichtlich dieser drei Fragen zudem der geschichtlichen Entwicklung, in welcher die Auflösung der betroffenen Partei stand, Rechnung tragen und auch das allgemeine Interesse daran berücksichtigen müsse, in einem Staat das Prinzip des Laizismus im Rahmen dieser Entwicklung zu bewahren, um das ungestörte Funktionieren der demokratischen Gesellschaft zu sichern. 108 In seiner Begründung legte der Gerichtshof zunächst die Bedeutung der Partei dar, aus der sich ergab, dass die verbotene Partei zum Zeitpunkt ihrer Auflösung tatsächlich das Potential besaß, die politische Macht zu ergreifen. Das wiederum hätte sie in die Lage versetzt, das in ihrem Programm niedergelegte Gesellschaftsmodell zu verwirklichen. 109 Der entscheidende Punkt in der Begründung ist, inwieweit der Plan zur Errichtung einer Pluralität von Rechtssystemen im Kontext mit den Inhalten der Scharia die Verhältnismäßigkeit des Parteiverbots begründen könnte. Nach einer Analyse von einzelnen Inhalten der Scharia gelangte der Gerichtshof zum Ergebnis, dass die Scharia mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie unvereinbar sei. 110 Unbestritten blieb, dass die Refah-Partei für die Errichtung einer Pluralität von Rechtsordnungen und zugleich für die Einführung der Scharia eintrat. 111 Der Gerichtshof wies das Vorbringen der Beschwerdeführer zurück, dass das Verbot eines Systems der Pluralität von Privatrechtsordnungen 106

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 101,111 ff.; vgl. zur Problematik der Zurechenbarkeit demokratiefeindlicher Bestrebungen auf die jeweilige Partei auch EGMR, Yazar u.a. (Anm. 103), Ziff. 49. 107 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 104, 116 ff. 108 109

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

u.a. (Anm. 49), Ziff. 124 f.

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 108; näher dazu S. Eiffler, Die „wehrhafte Demokratie" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Kritische Justiz 2003, 218 (223 f). 1,0 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 123. Die Scharia ist nach Ansicht des Gerichtshofs - unter Rückgriff auf das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts - vor allem vor dem Hintergrund der damit einhergehenden Änderungen des Strafrechts und des Strafprozessrechts, der Stellung der Frau in der Rechtsordnung und generell der Art und Weise, wie im Einklang mit religiösen Vorschriften sämtliche Bereiche des privaten und des öffentlichen Lebens erfasst werden, mit der Konvention nur schwerlich vereinbar (Ziff. 123). Zur Vereinbarkeit der Scharia mit dem Grundgesetz H. Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat, 2003, 94 ff. 111 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 127.

118

Christoph Grabenwarter

aufgrund der besonderen Rolle des Laizismus in der Türkei einer Diskriminierung der Muslime gleichkommen würde, die ihr privates Leben in Übereinstimmung mit den Vorschriften ihrer Religion zu führen wünschten.112 Der Gerichtshof verwies darauf, dass in der Türkei jedermann in seiner privaten Sphäre die Erfordernisse seiner Religion befolgen könne. 113 Entscheidend ist die Gesamtwürdigung, die der Gerichtshof vornahm. Er hielt fest, dass die Handlungen der Mitglieder und Führer der Refah-Partei der Gesamtpartei zuzurechnen seien, dass diese Handlungen das langfristige politische Projekt der Einführung eines auf der Scharia beruhenden Herrschaftssystems im Rahmen einer Pluralität von Rechtsordnungen beabsichtigten und dass der Rückgriff auf Gewalt durch die Refah nicht ausgeschlossen sei. 114 Weil diese Pläne mit der Konzeption einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar seien und es eine tatsächlich existierende Gefahr der Umsetzung dieser Pläne in die Tat gäbe, befand der Gerichtshof, dass die Sanktion des türkischen Verfassungsgerichtshofes angemessen gewesen sei. 115 Dass der Gerichtshof mit dieser Entscheidung ein wohl abgewogenes Ergebnis erzielte, die Entscheidung aber nicht immer zu Ungunsten des Religiösen ausfallen muss, zeigt sich in einem 2003 ebenfalls gegen die Türkei entschiedenen Fall. 1 1 6 Hier wurde ein islamischer Religionsführer in eine Live-Fernsehsendung eingeladen, um dort seine in der Öffentlichkeit bereits bekannte Position im Rahmen einer Diskussion zu vertreten. Der EGMR sah in der folgenden Sanktionierung 117 1,2

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

u.a. (Anm. 49), Ziff. 128.

113

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

u.a. (Anm. 49), Ziff. 128.

114

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 132; vgl. auch EGMR, Yazar u.a., (Anm. 103), Ziff. 60, wo der EGMR allerdings zu dem Ergebnis kam, dass die politischen Führer der kurdischen HEP nicht den Einsatz von Gewalt für politische Zwecke zu rechtfertigen suchten und die Auflösung der Partei daher unverhältnismäßig war. 115 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 132. Bereits in EGMR, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (Anm. 101), Ziff. 57, hat es der Gerichtshof als Kern einer demokratischen Gesellschaft, und damit auch als äußere Grenze für Parteien, die Tatsache angesehen, dass in der Demokratie die Möglichkeit eröffnet werde, Probleme im Wege des Dialogs und ohne Rückgriff auf Gewalt zu lösen, selbst wenn diese Probleme drängend sind. Näher dazu Pabel (Anm. 101), 935 f; zum Demokratiekonzept des EGMR auch Eiffler (Anm. 109), 219 f. 116 EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI; vgl. aber auch EGMR, Entsch. v. 18.1.2001, Zaoui, Nr. 41615/98, Ziff. 1, wonach Propaganda für islamistische politische Organisationen keinen Ausdruck einer religiösen Überzeugung darstellt. 117 Der Beschwerdeführer wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 600.000 türkischen Lire wegen Aufhetzung zu religiös motiviertem Hass

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dieser Aussagen 118 eine Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit nach Art. 10. 119 Er berücksichtigte dabei, dass der Beschwerdeführer nicht zu Hass und Gewalt aufgerufen hatte. 120 Zudem war er in die Fernsehsendung eingeladen worden, damit er dort seine bekannte Position innerhalb einer aktuellen, kontroversen Diskussion in der türkischen Gesellschaft vertreten konnte. 121 Das Recht eines Staates, sich zur Verteidigung seiner demokratischen und pluralistischen Ordnung gegen extremistische religiöse Äußerungen zur Wehr zu setzen, findet somit dort Grenzen, wo es nicht unmittelbar um die Verteidigung von Rechten anderer oder um den Schutz der staatlichen Ordnung gegen konkrete Gefahren geht. Eine religiös motivierte Meinungsäußerung darf nicht schlechter als eine weltanschaulich begründete Äußerung gestellt werden. Eine weitere Verquickung politischer und religiöser Elemente zeigt sich dann, wenn es um Fragen des Asylrechts geht. Hier ist zum einen an die Problematik des Kirchenasyls zu denken und zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit religiös Verfolgten Asylrecht zu gewähren ist, wobei hier in Bezug auf die Gewährleistungen der EMRK sowohl Anknüpfungspunkte an die Art. 2, 3 und 8 jeweils in Verbindung mit Art. 9 EMRK bestehen können. In Deutschland ist nach der Spruchpraxis des BVerfG das Recht auf freie Religionsausübung als asylrechtliches Schutzgut anerkannt, andererseits vermögen sie nur dann ein individuelles Recht auf Asyl zu gewähren, 122 wenn die Eingriffe derart massiv sind, dass sie die Menschenwürde verletzen und darüber hinaus die Bewohner des Heimatstaats derartige Eingriffe auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben.123 In der Rechtsprechung wird jeweils darauf abgestellt, ob die Betroffenen konkret einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt waren. 124 Nach deutschem Recht ist fraglich, ob das Recht auf Gewährung von Kirchenasyl aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, wie es durch Art. 140 GG i.V.m. 137 und Feindseligkeiten nach § 312 Abs. 2 und 3 des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt, EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 13 ff. 118 In seinen Aussagen ging es um seine Einstellung zu islamische Bekleidungsvorschriften und zum türkischen Kemalismus sowie über sein Demokratieverständnis, EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 11. 119 EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 52. 120

EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 51.

121

EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 51.

122

G. M. Liegmann, Eingriffe in die Religionsfreiheit als asylerhebliche Rechtsgutverletzung religiös Verfolgter, 1993, 84 f. 123 BVerfGE 54, 341 (357). 124

Vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 3.4.2001, A 9 S 1897/00 (Verfolgung von Christen im Sudan); V G Karlsruhe, Urt. v. 5.4.2001, A 11 Κ 11473/00 (Verfolgung von Falun Gong-Anhängern in China).

120

Christoph Grabenwarter

Abs. 3 WRV, aber auch Art. 9 EMRK gewährleistet wird, abgeleitet werden kann 125 sowie ob dieses als Rechtfertigungsgrund für rechtswidriges Verhalten herangezogen werden kann. 126

E. Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen Aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK folgt in Verbindung mit der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK ein Verbot religiöser Diskriminierung. Auf dieses berief sich eine Mutter, Frau Hoffmann, die um das Sorgerecht für ihre Kinder stritt und damit das Grundrecht auf Schutz des Familienlebens, das Art. 8 EMRK gewährleistet, geltend machte.127 Österreichische Gerichte hatten das Sorgerecht dem Vater zugesprochen und dabei maßgeblich auf die Zugehörigkeit der Mutter zu den Zeugen Jehovas abgestellt. Zwar war in der Begründung der Sorgerechtsentscheidungen nicht pauschal auf die Religionszugehörigkeit verwiesen worden, doch war entscheidungserheblich gewesen, dass die Mutter - wie alle Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft - bestimmte Feiertage wie Weihnachten und Ostern ablehne und Bluttransfusionen für sich und ihre Kinder ausschloss. Diese Rechtsprechung hätte letztlich dazu geführt, dass es Anhängern der Zeugen Jehovas faktisch unmöglich geworden wäre, in einem gerichtlichen Verfahren das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen. Der EGMR erkannte zwar die legitime Motivation des Schutzes der Kinder, die hinter den Entscheidungen der österreichischen Gerichte stand, an, betrachtete jedoch im Ergebnis die religiöse Diskriminierung der Mutter als nicht gerechtfertigt. 128 Gegen das Verbot religiöser Diskriminierung verstößt ein Mitgliedstaat auch dann, wenn aus einer Religionszugehörigkeit unverhältnismäßige Sanktionen für den Betroffenen folgen. So konnte ein Anhänger der Zeugen Jehovas in Griechenland nicht den Beruf eines Wirtschaftsprüfers ergreifen, weil er wegen Wehrdienstverweigerung vorbestraft war. Der EGMR sah es zwar grundsätzlich als zulässig an, dass straffällig gewordene Personen von bestimmten Berufen wie dem des

125

Näher dazu L. Renck, Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl, NJW 1997, 2089 ff.

]26

So wurde etwa ein deutscher Pfarrer, der einer kurdischen Familie aus der Türkei in seiner Kirche „Asyl" gewährte, wegen Verstoßes gegen das AuslG verurteilt, LG Osnabrück, Urt. v. 2.11.2001, Az 7 Ns 131/01. Vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 19.3.1997, Az 3 Ζ BR 73/97, und AG Wolfratshausen, Beschl. v. 30.10.1995, Az Β X I V 17/95, nach denen die Verhängung der Abschiebungshaft bei der (beabsichtigten) Inanspruchnahme von Kirchenasyl zulässig ist. 127 EGMR, Urt. v. 23.6.1993, Hoffmann, Serie A 255-C, Ziff. 28. 128

EGMR, Hoffmann (Anm. 127), Ziff. 34, 36.

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121

Wirtschaftsprüfers ausgeschlossen seien.129 Im Fall des beschwerdeführenden Anhängers der Zeugen Jehovas sei jedoch zu berücksichtigen, dass die Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen erfolgt sei und weder Unehrlichkeit noch moralische Verwerflichkeit impliziere, die geeignet wären, die Fähigkeit des Verurteilten zur Ausübung dieses Berufs in Frage zu stellen. 130

F. Drei Beobachtungen I. Zum Schutzbereich der Religionsfreiheit Auf der Ebene des Schutzbereichs lässt sich ein weit gefasster Wortlaut und eine ebensolche Praxis feststellen, die in der Tendenz auf Ausweitung gerichtet ist. Nicht nur Riten, sondern auch Gebräuche sind geschützt. Nicht allzu strenge Standards werden angelegt, wenn es darum geht festzustellen, ob ein religiöser Gebrauch vorliegt, insbesondere was die Akzeptanz durch die Angehörigen einer Religion betrifft. Dagegen ist der EGMR bei der Annahme eines Eingriffs bisweilen restriktiv, 131 vielleicht zu restriktiv. Diese Position ist der eines völkerrechtlichen Menschenrechtsgerichtshofs adäquat.132 Schematische Abgrenzungen bergen die Gefahr von Widersprüchen in sich und könnten den Schauplatz der grundrechtlichen Auseinandersetzung in ein anderes Grundrecht, beispielsweise in das über die Verfahrensgarantien, das nicht die entsprechenden Abwägungsparamenter bereithält, verlagern.

II. Verhältnismäßigkeitsprüfung und Kontrolldichte In einer weiteren Hinsicht können Gleichheit und Diskriminierungen eine Rolle spielen, und zwar als religionsbezogene Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in Freiheitsrechte. Im türkischen Kopftuchstreit machte sich der EGMR eine Überlegung zu Eigen, die wenigstens ambivalent ist. Die Beschränkung des Kopftuch129

EGMR, Urt. v. 6.4.2000, Thlimmenos, RJD 2000-IV, Ziff. 47.

130

EGMR, Thlimmenos (Anm. 129), Ziff. 47.

131

Vgl. EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 84; kritisch hierzu Grabenwarter (Anm. 4), Rn. 30. 132 Zu Stellung und Status des EGMR Grabenwarter (Anm. 64), § 2, Rn. 1 ff.; G. Ress, Rechtsstellung, Aufgabenbereich und Legitimation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: M. Holoubek/B. Gutknecht/S. Schwarzer/A. Martin, Dimensionen des modernen Verfassungsstaates. Symposium zum 60. Geburtstag von Karl Korinek, 2002, 129 (132 ff.).

122

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Tragens beruhe nicht nur auf dem Prinzip des Laizismus, sondern auch auf dem der Gleichheit - und beide würden sich gegenseitig ergänzen und verstärken. 133 Diese Passage lässt den Leser noch einigermaßen ratlos, er erhält jedoch Aufklärung an späterer Stelle: Im türkischen Verfassungssystem komme dem Schutz der Rechte von Frauen eine besondere Bedeutung zu, Geschlechtergleichheit sei eines der zentralen Prinzipien der Konvention und es werde auch vom türkischen Verfassungsgericht als zentrales Prinzip angesehen.134 Die Aufladung der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit diesem Gleichheitsargument erscheint nicht notwendig und sie ist vor allem deshalb ambivalent, weil sie dem Kopftuch einen diskriminierenden Inhalt unterstellt, dessen Annahme nach neueren Erkenntnissen zumindest für Sachverhalte in Deutschland umstritten ist. Die im Verfahren zum Kopftuchverbot vor dem BVerfG gehörte Sachverständige legte nämlich dar, dass das Kopftuch von jungen Frauen auch getragen werde, um in einer Diasporasituation die eigene Identität zu bewahren und zugleich auf die Tradition der Eltern Rücksicht zu nehmen; ferner um durch ein Zeichen für sexuelle NichtVerfügbarkeit mehr eigenständigen Schutz zu erlangen und sich selbstbestimmt zu integrieren. 135 Das Kopftuch darf mithin nicht ohne weiteres auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung verkürzt werden. 136 Überlegungen dieser Art sind der Sache nach ausgerichtet auf Schutzpflichten des Staates zur Gewährleistung der Geschlechtergleichheit gegenüber privatem Druck, der eine religiös motivierte Diskriminierung bewirken könnte. In der Kontrolldichte ist eine deutliche Divergenz zu vermerken. Zum einen nimmt der EGMR in heiklen Fällen der Religionsfreiheit die Kontrolldichte zurück. Dies wird besonders deutlich in Fällen, in denen sich politische Auseinandersetzungen mit religiösen Fragen vermischen. 137 Hier wäre zwar nach der allgemeinen Judikaturlinie eine strenge Kontrolle zu erwarten, dennoch zieht sich der Gerichtshof unter Hinweis auf historische Besonderheiten und staatliche

133

EGMR, Leyla §ahîn (Anm. 1), Ziff. 104.

134

EGMR, Leyla §ahîn (Anm. 1), Ziff. 107.

135

BVerfGE 108,282 (304). Ein weiterer Grund, der damit zusammenhängt, kann auch ein sozial, kulturell und religiös geprägtes Schamgefühl sein; dazu Anm. L. Michael, JZ 2003, 254 (257). 136 BVerfGE 108, 282 (305). So weist etwa auch Michael (Anm. 135), 257, zutreffend darauf hin, dass einer Muslima nicht unterstellt werden darf, mit ihrem Kopftuch primär ihren Glauben bekennen zu wollen. 137 Dazu K. Pabel, Staatskirchenrechtliche Fragen vor dem EGMR (Anm. zu EGMR, Urt. v. 13.12.2001, Église Métropolitaine de Bessarabie ), in: J. Menzel u.a. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung. Ausgewählte Entscheidungen zum Völkerrecht in Retrospektive, 2005, 560 (564).

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123

Grundentscheidungen zurück. 138 In gewisser Weise zeigt sich eine Parallelität zur Kopftuch-Entscheidung des BVerfG - man könnte sagen, was für Karlsruhe recht ist, muss für Straßburg billig sein. Man könnte aber noch einen Schritt weitergehen: Selbst wenn es für das BVerfG nicht recht ist, muss es für einen völkerrechtlichen Gerichtshof billig sein. Die vor zehn Jahren begonnene Zurückhaltung des EGMR erweist sich heute als weise. Zu komplex sind die gesellschaftlichen Probleme, insbesondere mit dem Islam geworden, zu verschieden sind die Strategien der Mitgliedstaaten, wie man etwa an den Beispielen der Niederlande, Frankreich und Deutschland erkennen kann. Zur Begründung der Rücknahme der Kontrolldichte verwies der EGMR in einigen der angesprochenen Entscheidungen auf zwei bekannte Überlegungen, nämlich Divergenzen in den jeweiligen Rechtssystemen (kein einheitlicher europäischer Standard) und seine Rolle als internationales Gericht. 139 Neu und verstärkend tritt der Hinweis hinzu, dass im Verhältnis zwischen Staat und Religion und im Bildungswesen, d.h. in Bereichen, die sehr traditionsgeprägt sind, die nationalen Instanzen - unter gleichzeitiger Wahrung der Überwachungsfunktion des Gerichtshofs 140 - als besser geeignet angesehen werden, die erforderlichen Wertungen zu treffen. 141 Diese Entscheidung ist nachvollziehbar, zwingend ist sie nicht. Mit mancher Prägung durch Tradition hat der EGMR auch schon aufgeräumt. In Fällen von Gleichheit und Diskriminierung wird die Kontrolldichte jedoch verschärft. Doch gilt es hier auch eine differenzierende Grenze zu ziehen. Immer dann, wenn die Eingriffe in die Religionsfreiheit oder in andere Grundrechte ein 138

EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) §ahïn (Anm. 1), Ziff. 109.

u.a. (Anm. 49), Ziff. 124 f.; EGMR, Leyla

139

So etwa in EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 84; EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 119; EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 100; EGMR, Leyla §ahïn (Anm. 1), Ziff. 100; EGMR, Gündüz (Anm. 116), Ziff. 37. Vgl. dazu C. Engel, Die Schranken der Schranken in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Merkmal „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" in den Schranken vorbehalten, das Diskriminierungsverbot, und die „margin of appreciation", Zeitschrift für Öffentliches Recht 1986, 261 (273 ff.). 140 So etwa EGMR, Dahlab (Anm. 2), Ziff. 1 ; EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 119; EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 100. 141

EGMR, Leyla §ahîn (Anm. 1), Ziff. 100; vgl. aber auch EGMR, Wingrove (Anm. 65), Ziff. 58, wo der Gerichtshof - allerdings in Zusammenhang mit Art. 10 EMRK betont, dass die staatlichen Behörden grundsätzlich in einer besseren Position sind, die Erfordernisse in Bezug auf die Einschränkung des Grundrechts durch die Rechte anderer sowie die Notwendigkeit einer Beschränkung zu beurteilen.

124

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diskriminierendes Element in sich tragen, stellt der EGMR die Prüfung scharf. 142 Hier ist der EGMR eher bereit, eine Verletzung festzustellen. Systeme der Staatskirche sind in solchen Fällen besonders anfällig.

III. Die EMRK und das Verhältnis von Staat und Religion Die Festlegungen in der Rechtsprechung zur Religionsfreiheit lassen sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, welches das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sowie anderen Religionsgemeinschaften im Leitbild des demokratischen Rechtsstaats nach der EMRK zeigt. Dieses Leitbild wurde von Beginn an in der Rechtsprechung zu allen Konventionsgarantien entwickelt und in jüngerer Zeit bezogen auf das Verhältnis Staat und Religion präzise herausgearbeitet. In den Entscheidungen zu Art. 9 EMRK betont der EGMR durchweg die Rolle des Staates als neutralen und unparteilichen Organisators der Ausübung verschiedener Religionen und Glaubensüberzeugungen. 143 In dieser Rolle hat der Staat die Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung, religiöser Harmonie und Toleranz in der demokratischen Gesellschaft zur Aufgabe, indem er einerseits die Legitimität religiöser Überzeugungen nicht bewertet und andererseits gegenseitige Toleranz zwischen Gruppen mit entgegengesetzten Glaubensüberzeugungen sichert. 144 Will man diese rechtliche Perspektive in einen Begriff fassen, so gilt es festzuhalten, dass das Prinzip des säkularen Staats eines der Grundprinzipien eines Staates ist, welches im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Respekt für Menschenrechte und Demokratie steht. Haltungen, die dieses Prinzip nicht respektieren, sind nicht ohne weiteres als von der Freiheit der Religionsausübung und damit von Art. 9 EMRK geschützt anzusehen.145 Die vorstehenden Ausführungen zeigen deutlich die Vielfalt der Probleme, mit denen sich die europäischen Staaten gegenwärtig konfrontiert sehen, ausschnittsweise ergeben sie sich auch für Deutschland. Dass sich Fragen der Religionsfreiheit künftig häufiger stellen werden, und zwar insbesondere in Zusammenhang mit gesellschaftlicher Integration, politischen Freiheit und Gleichheit von Mann und Frau, daran besteht kein Zweifel. Das Beispiel einer niederländischen Abgeordneten muslimischer Herkunft, die nach der Ermordung des Filmregisseurs Theo 142 EGMR, Hoffmann (Anm. 127), Ziff. 36, EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 129 ff. 143 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 91,94; vgl. auch Grabenwarter (Anm. 79), 156. 144 Vgl. EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek (Anm. 11), Ziff. 84; EGMR, Metropolitankirche von Bessarabien u.a. (Anm. 80), Ziff. 123. 145 EGMR, Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a. (Anm. 49), Ziff. 93.

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125

Van Gogh im November 2004 aus Sicherheitsgründen öffentliche Auftritte vermied, kann als anschauliches Symbol für diese tief greifenden Probleme dienen. Es weist auf die Grenzen des Rechts, auch des Menschenrechts hin. Diesseits dieser Grenze nimmt der europäische Standard eine wichtige Rolle in der Vergewisserung der nationalen Lösung ein.

Religionsfreiheit und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Von Eckart Klein und Bernhard Schäfer*

A. Einleitung Es trifft sich gut, dass heute der Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution von 1789 ist (14. Juli). Dies erinnert daran, dass wenige Wochen später, am 26. August 1789, die „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" verkündet wurde. Dort heißt es in Artikel X: „Niemand soll wegen seiner Ansichten, auch nicht wegen der religiösen, beunruhigt werden, sofern die Äußerung die durch das Gesetz errichtete öffentliche Ordnung nicht stört." Dreizehn Jahre früher, am 12. Juni 1776, war die Virginia Bill of Rights (Art. 16) mit folgender Formulierung vorausgegangen: „Religion oder die Ergebenheit, die wir unserem Schöpfer schuldig sind, und die Art, wie wir sie ausfüllen, kann lediglich durch Vernunft oder Überzeugung bestimmt werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen einen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion nach den Geboten ihres Gewissens. Und jeder hat die Pflicht, christliche Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit untereinander zu üben." An diese Aussagen schließt unser Thema an. Die im Jahr 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte1 sagt in ihrem Artikel 18: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen."

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den Eckart Klein am 14. Juli 2005 am WaltherSchücking-Institut gehalten hat. 1 Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, U N Doc. A/810 (1948), 71; Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen.

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Eckart Klein und Bernhard Schäfer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war ein Legislativprogramm für die Vereinten Nationen auf dem Gebiet der Menschenrechte. Freilich dauerte es viele Jahre, bis die Erklärung in normativ verbindliches Recht umgesetzt werden konnte. Vor allem geschah dies durch die beiden 1966 beschlossenen Konventionen, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt),2 die allerdings erst 1976 in Kraft getreten sind. Der erstgenannte Vertrag enthält einen umfangreichen Katalog bürgerlicher und politischer Rechte, darunter die hier zu behandelnde Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 183). Als Überwachungsorgan wurde der Menschenrechtsausschuss (MRA) errichtet.4 Er überwacht die Einhaltung der Verpflichtungen aus diesem Pakt durch die Vertragsstaaten. Diese Funktion nimmt der Ausschuss in der Praxis durch die Prüfung von Staatenberichten (Art. 40) und Individualbeschwerden (Fakultativprotokoll 5 ) wahr. Staatenbeschwerden (Art. 41) sind bisher nicht erhoben worden. Einzig obligatorisches Verfahren ist das Staatenberichts verfahren. Die folgenden Ausführungen gründen sich - neben der Literaturauswertung vor allem auf die Debatten und Abschlussbemerkungen des MRA zu den Staatenberichten, d.h. die „Abschließenden Bemerkungen" (Concluding Observations), und auf die vom Ausschuss abgegebenen Rechtsmeinungen (Views), mit denen er auf Individualbeschwerden (Communications) antwortet. Eine dritte Quelle sind die so genannten „Allgemeinen Bemerkungen" (General Comments),6 mit denen der Ausschuss seine Rechtsauffassung zu einzelnen Rechtsgarantien oder Problemen auf Grund seiner bisherigen Praxis zusammenfasst. 2

Verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1966, Resolution 2200 A (XXI), UN Doc. A/6316 (1967), 49; BGBl. 1973 II, 1534 und 1570. 3 Artikel ohne weitere Angaben sind solche des Zivilpakts. 4 Zu dessen Errichtung und Aufgaben siehe Art. 28 ff. sowie Eckart Klein, Human Rights Committee, in: Helmut Volger (ed.), A Concise Encyclopedia of the United Nations, 2002, 229-233; Bernhard Schäfer, Die Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll zum Zivilpakt: Ein Handbuch für die Praxis, 2004, 30 ff. 5 Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (Anm. 2); BGBl. 1992 II, 1247. 6 Diese sind zusammengestellt in UN Doc. HRI/GEN/l/Rev.7 (2004), 124 ff.; Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Die „General Comments" zu den VN-Menschenrechtsverträgen: Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005, 32 ff. Vgl. auch Eckart Klein, General Comments - Zu einem eher unbekannten Instrument des Menschenrechtsschutzes - , in: Jörn Ipsen/Edzard Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht - Staat - Gemeinwohl: Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, 301-311.

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129

B. Aufbau und Gegenstand des Artikels 18 I. Schutzbereich Art. 18 Abs. 1 gewährt jedermann das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung zu haben oder anzunehmen. Absatz 2 schreibt ausdrücklich fest, dass niemand Zwang ausgesetzt werden darf, der seine dahingehende Freiheit beeinträchtigen würde. Hierdurch wird deutlich, dass nicht nur die positive, sondern auch die negative Freiheit geschützt wird. Geschützt ist sowohl der innere Bereich („forum internum"), das heißt die geistige Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung anzunehmen, zu haben, abzulegen oder zu ändern, als auch der äußere Bereich („forum externum"), also die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung öffentlich zu bekunden und zu praktizieren. Die Bekundung kann eine Person allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht vornehmen. Die Freiheit der Eltern oder gegebenenfalls der betreuenden oder pflegenden Person („des Vormunds oder Pflegers"), die religiöse oder sittliche Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen, ist in Art. 18 Abs. 4 niedergelegt.

1. Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Absatz 1 und 2) a) Gedanken- und Gewissensfreiheit 7 Das Recht auf Gedanken- und Gewissensfreiheit ist, so Manfred Nowak, „das Recht jedermanns, sich seine Gedanken und sein Gewissen ohne unzulässige Einflüsse von außen autonom zu bilden. Dieses Recht geistig-sittlicher Existenz ist eng mit jenem auf Privatheit in Art. 17 sowie mit jenem privater Meinungsfreiheit in Art. 19 Abs. 1 verknüpft". 8 Diese Freiheiten sind - sofern sie den inneren Vorgang betreffen - absolute Rechte, die nicht der Einschränkungsmöglichkeit des Art. 18 Abs. 3 unterliegen. Eingriffe in diese Freiheiten durch Indoktrination, „Gehirnwäsche" oder sonstige Beeinflussung des Bewusstseins oder Unterbe-

7 Zur Gewissensfreiheit allgemein siehe z.B. Leonard M. Hammer, The International Human Right to Freedom of Conscience: Some Suggestions for its Development and Application, 2001. 8 Manfred Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll: CCPR-Kommentar, 1989, Art. 18 des Paktes, Rn. 10 (Originalhervorhebungen).

130

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wusstseins sind daher unzulässig.9 Die Abgrenzung zu allgemeinen Einflüssen, denen eine Person täglich durch staatliche oder private Werbung oder Propaganda ausgesetzt ist, ist nicht immer leicht. Unzulässig sind Beeinflussungen auf jeden Fall dann, wenn sie mit Zwang oder ähnlichen unerlaubten Mitteln ausgeübt werden. 10

b) Religions- und Weltanschauungsfreiheit Art. 18 schützt nicht nur den religiösen „Glauben", wie es der englische Wortlaut („belief 4 ) nahe legen könnte, sondern auch die nicht-religiöse „Überzeugung 44, wie es der französische Begriff „conviction 44 verdeutlicht und ebenfalls durch die Materialien zur Vertragsausarbeitung bestätigt wird. 11 Geschützt werden daher theistische, nicht-theistische und atheistische Überzeugungen sowie das Recht, keine Religion oder Weltanschauung zu besitzen.12 Nach Ansicht des Menschenrechtsausschusses sind die Begriffe „Religion und Weltanschauung44 weit auszulegen.13 Der Schutzbereich des Artikels beschränkt sich daher nicht nur auf traditionelle Religionen oder entsprechende religiöse oder weltanschauliche institutionalisierte Einrichtungen, sondern erfasst auch neuere und kleinere Religionsgemeinschaften, also auch religiöse Minderheiten. Eine Definition von „Religion 44 hat der Ausschuss bisher jedoch vermieden, was angesichts der Schwierigkeit, diesen Begriff abschließend zu bestimmen, nicht verwunderlich ist. 14 Der Ausschuss hat sich daher bis dato auch nicht mit der Relevanz von Faktoren für die Definition von Religion wie die Zahl der Anhängerschaft, die

9

Ebd. sowie Manfred Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights: CCPR Commentary, 2. Aufl. 2005, Art. 18 CCPR, Rn. 10. 10 Ebd. 11

Hierzu Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 14. Zur Diskussion im Dritten Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Bedeutung dieser Passage siehe Marc J. Bossuyt, Guide to the „travaux préparatoires" of the International Covenant on Civil and Political Rights, 1987, 361 f. 12 MRA, General Comment No. 22: Article 18 (Freedom of Thought, Conscience and Religion), UN Doc. CCPR/C/21/Rev.l/Add.4 (1993), § 2. 13 Ebd. 14

Hierzu Peter Cumper, Freedom of Thought, Conscience, and Religion, in: David Harris/Sarah Joseph (eds.), The International Covenant on Civil and Political Rights and United Kingdom Law, 1995, 355-389 (359). Siehe auch Sarah Joseph/Jenny Schultz/Melissa Castan, The International Covenant on Civil and Political Rights: Cases, Materials, and Commentary, 2nd ed. 2004, 502 (§ 17.03), sowie allgemein Wojciech Sadurski, On Legal Definitions of „Religion", Australian Law Journal 63 (1989), 834-843.

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Wahrheit oder Falschheit des relevanten Glaubens und der historischen Herkunft auseinander gesetzt.15 In einem Fall hat der Ausschuss allerdings ausgeführt, dass ein Glaube, der in erster Linie aus der Anbetung und Verteilung narkotischer Drogen bestehe, nicht in den Schutzbereich von Art. 18 falle. 16 Im konkreten Fall handelte es sich bei der Droge um Cannabis Sativa, von den Beschwerdeführern als „Sakrament" oder „Gottes Lebensbaum" verehrt. 17 Es ist allerdings problematisch, ob ein solcher Glaube schon prima facie nicht in den Schutzbereich von Art. 18 fällt. Die Einnahme von Narkotika, die Verwendung anderer verbotener Stoffe oder Ausübung verbotener Praktiken kann durchaus zur Ausübung eines Glaubens gehören. Deshalb ist in einem solchen Fall die Lösung nicht über die Schutzebene, sondern vielmehr über die Rechtfertigungsebene zu suchen. In solchen Fällen wird eine Beschränkung der Religionsausübungsfreiheit zum Schutz der Gesundheit oder der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung (ordre public) als zulässig erachtet werden müssen.18

2. Ohne Zwang zu haben oder anzunehmen (Absatz 1 und 2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde. Die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung „anzunehmen", umfasst auch das Recht, seine oder ihre Religion oder Weltanschauung zu wechseln.19 Dass auf eine Person kein Zwang ausgeübt werden darf, die seine Freiheit beeinträchtigen würde, ergibt sich bereits aus der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als solcher. Die besondere Betonung des Verbots der Zwangsausübung in Art. 18 Abs. 2 ist jedoch im Zusammenhang mit dem Recht auf Religionswechsel zu sehen, das in die Endfassung des Art. 18 nicht mehr ausdrücklich aufgenommen wurde. Das Verbot der Zwangsausübung bedeutet nicht nur das Verbot der Androhung oder Anwendung physischen Zwangs oder strafrechtlicher Sanktionen, sondern auch das Verbot von Politiken oder Praktiken gleicher Absicht oder gleicher

15

Joseph/Schultz/Castan (Anm. 14), 502 (§ 17.03). MRA, M A.B. et al. ν. Canada (No. 570/1993), Entscheidung vom 8. April 1994, UN Doc. CCPR/C/50/D/570/1993 (1994), § 4.2. 17 Ebd., §2.1. 16

18

Kritisch und in diesem Sinne auch Joseph/Schultz/Castan

19

So auch MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 5.

(Anm. 14), 503 (§ 17.04).

132

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

Wirkung. 20 Hierzu sind etwa der beschränkte Zugang zu Erziehung, ärztlicher Versorgung, Arbeit oder zu den durch Art. 25 garantierten Paktrechten zu zählen.21 Der Menschenrechtsausschuss hat zum Beispiel 22 in einem die Republik (Süd-) Korea betreffenden Fall die zwangsweise Natur des „Ideologie-KonvertierungsSystems" hervorgehoben, das in diskriminierender Weise mit der Absicht angewandt wird, die politische Meinung eines Gefangenen zu ändern, indem Anreize bevorzugter Behandlung im Gefängnis und verbesserte Möglichkeiten der Strafaussetzung angeboten werden. 23 Der Vertragspartei war es nicht gelungen, dieses System zum Schutz irgendeines der in Art. 18 genannten Zwecke als notwendig zu rechtfertigen. Der Ausschuss hielt dafür, dass ein solches System die Freiheit der Bekundung der Weltanschauung in diskriminierender Weise wegen der politischen Anschauung einschränke und damit Art. 18 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 26 verletze. 24 Im Oktober 2003 teilte der Vertragsstaat dem Ausschuss mit, dass er das Oath of law-abidance-System, das das früher bestehende System abgelöst hatte, abgeschafft habe, da es die Gewissens- und Meinungsäußerungsfreiheit verletzen könne.25 Zudem hat der Staat Einzelpersonen vor Zwang von Seiten Privater, der ihre Freiheit beeinträchtigen könnte, zu schützen.26

3. Bekundung der Religion oder Weltanschauung (Absatz 1 und 3) Art. 18 Abs. 1 S. 2 umfasst auch die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden. Davon 20

Ebd.

21

Ebd.

22

Zu zwei weiteren Beispielen aus der Praxis des MRA siehe Joseph/Schultz/Castan (Anm. 14), 505 (§ 17.07): Marokko und Beschränkungen inter-religiöser Ehen, Concluding Observations: Morocco, UN Doc. CCPR/C/79/Add.44 (1994), § 14; Irland und der religiöse Eid des Präsidenten und der Richter, Concluding Observations: Ireland, UN Doc. CCPR/C/79/Add.21 (1994), § 15, und erneut in: UN Doc. A/55/40 (2000), §§ 422-451, § 29 (b). 23 MRA, Yong-Joo Kang v. Republic of Korea (No. 878/1999), Auffassungen vom 15. Juli 2003, UN Doc. CCPR/C/78/D/878/1999 (2003), § 7.2. 24 Ebd. 25 26

UN Doc. A/59/40 I (2004), § 250.

Siehe Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 10; Joseph/Schultz/Castan 505 (§ 17.08).

(Anm. 14),

Religionsfreiheit und I P b r g R

133

werden nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen erfasst, wie etwa Gottesdienste, Prozessionen, die Beschneidung, Gebete und sonstige Riten und Rituale, sondern auch Gewohnheiten wie die Befolgung von Ernährungsvorschriften, das Tragen eines Bartes oder besonderer Kleider, Kopfbedeckungen oder Amtstrachten (Ornate) 27 sowie die Verwendung einer gemeinsam benutzten Sprache. 28 Zur Ausübung der Religion oder Weltanschauung gehören auch die Errichtung entsprechender Wohltätigkeitseinrichtungen, das Erbitten und Entgegennehmen von Spenden sowie die Aufnahme und Unterhaltung von Beziehungen in religiösen oder weltanschaulichen Fragen zu anderen Personen oder Gemeinschaften auf nationaler und internationaler Ebene.29 Zudem umfasst die Bekundung durch Unterricht und Ausübung der Religion oder Weltanschauung Handlungen, die für die Glaubensgemeinschaft zur Durchführung ihrer wesentlichen Tätigkeiten unentbehrlich sind. Dazu gehören die Freiheit der Wahl ihrer Verantwortlichen, Priester oder geistigen Führer und Lehrenden, die Freiheit, Schulen und Hochschulen zu gründen, und die Freiheit, religiöse Texte oder Publikationen herzustellen und zu verbreiten 30. In Bezug auf die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen hat der Ausschuss zwei Beschwerden für ratione materiae unzulässig erklärt. 31 Der Ausschuss hat dabei festgehalten: „Obwohl Art. 18 das Recht schützt, Meinungen und Überzeu27

Hierzu auch unten unter C. III. sowie MRA, Hudoyberganova v. Uzbekistan (Anm. 28), § 6.2. 28

Siehe hierzu MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 4; MRA, Boodoo v. Trinidad and Tobago (No. 721/1996), UN Doc. CCPR/C/74/D/721/1996 (2002), § 6.6; Art. 6 der Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung vom 25. November 1981, UN Doc. A/RES/36/55; Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 24 ff. Vgl. auch Jochen A. Froweinl Wolf gang Peukert, Europäische MenschenrechtsKonvention: EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 9, Rn. 11 ff. 29

Siehe Art. 6 lit. b, f und i der Erklärung von 1981 (Anm. 28).

30

Z.B. durch das Herstellen und Verteilen von Flugblättern. Vgl. den Fall vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte Arrowsmith v. UK (No. 7050/75), Bericht vom 12. Oktober 1978, Decisions and Reports (DR) 19 (1980), 5 (19 f.). 31

Siehe MRA, J.P. v. Canada (No. 446/1991), Entscheidung vom 7. November 1991, UN Doc. CCPR/C/43/D/446/1991 (1991), § 4.2; J.v.K. and C.M.G.v.K.-S. v. Netherlands (No. 483/1991), Entscheidung vom 23. Juli 1992, UN Doc. CCPR/C/45/D/483/1991 (1992), § 4.2. In einem Fall gegen die Bundesrepublik Deutschland wurde ebenfalls eine Verletzung von Art. 18 gerügt. Dabei ging es um die Steuerverweigerung eines Quäkers aus Gewissensgründen wegen der Verwendung der Steuer für militärische Zwecke. Die Beschwerde wurde jedoch ratione temporis aufgrund des Vorbehalts der Bundesrepublik für unzulässig erklärt. Siehe MRA, K.V. and C.V. v. Germany (No. 568/1993), Entscheidung vom 8. April 1994, UN Doc. CCPR/C/50/D/568/1993 (1994).

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gungen zu haben, auszudrücken und zu verbreiten, einschließlich der Ablehnung von militärischen Aktivitäten und Ausgaben aus Gewissensgründen, liegt die Verweigerung aus Gewissensgründen, Steuern zu bezahlen, klar außerhalb des Schutzbereichs dieses Artikels." 32 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem solchen Fall ganz parallel entschieden.33

a) Öffentlich oder privat Die Bekundung der Religion oder Weltanschauung kann öffentlich oder privat erfolgen. Öffentlich ist die Religions- oder Weltanschauungsausübung dann, wenn sie den Bereich des Privaten, in der Regel den häuslichen Bereich oder den Bereich einer privaten, geschlossenen Veranstaltung einer Gemeinschaft, zu der kein allgemeiner Zugang besteht, verlässt. Öffentlich sind daher insbesondere Bekundungen wie Prozessionen auf der Straße, Messen in allgemein zugänglichen Gebäuden und nach außen sichtbar angebrachte Symbole (Kirchturm mit Kreuz, Moschee mit Minarett, Synagoge mit Davidstern, Schreine etc.). Da die öffentliche Religions- oder Weltanschauungsausübung in der Regel gleichzeitig eine Meinungsäußerung darstellt, kann sie als Spezialfall der öffentlichen Meinungsfreiheit (Art. 19 Abs. 2) betrachtet werden. 34 Bei religiösen oder weltanschaulichen Bekundungen ist daher immer die speziellere Schrankenregelung des Art. 18 Abs. 3 heranzuziehen. Bei der privaten Ausübung, beispielsweise dem häuslichen Gebet alleine oder in Gemeinschaft mit anderen, ist immer auch Art. 17 zu beachten, der das Privatleben, die Familie und die Wohnung schützt. Art. 17 Abs. 1 ist insoweit anders als Art. 18 aufgebaut, als er nur willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe in den Schutzbereich der genannten Rechtsgüter verbietet. Zu fragen ist, ob die spezielleren Einschränkungsregeln des Art. 18 Abs. 3 auch hier heranzuziehen sind. Teilweise wird vertreten, dass die private Ausübung einer Religion oder Weltanschauung den Beschränkungen des Art. 18 Abs. 3 nicht unterworfen werden darf. 35 Dies soll zumindest solange der Fall sein, als sie jenen Bereich individueller Existenz und Autonomie nicht verlässt, der die Freiheit und Privatsphäre anderer nicht berührt, also primär die häusliche Ausübung religiöser

32

J.P. v. Canada (Anm. 31), § 4.2 (Übersetzung der Autoren).

33

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 2 BvR 478/92, Beschluss vom 26. August 1992, NJW 1993, 455 f. 34 So Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 21. 35

Ebd., Rn. 20.

Religionsfreiheit und I P b r g R

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Riten und Bräuche, und zwar alleine oder in Gemeinschaft mit anderen. 36 Allerdings muss gesehen werden, dass Art. 18 Abs. 3 keinen Unterschied zwischen privat und öffentlich macht. Je stärker die Privatheit der Ansatz ist, desto höhere Anforderungen sind an die Rechtfertigung eines Eingriffs, unter zusätzlicher Berücksichtigung des Art. 17, zu stellen.

b) Allein oder in Gemeinschaft mit anderen Die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu bekunden, kann allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfolgen. Dem Wortlaut ist zu entnehmen, dass es keiner institutionalisierten Form der Gemeinschaft für die Ausübung bedarf, wie z.B. einer Kirche. Die Religionsfreiheit, zusammen mit der Vereinigungsfreiheit (Art. 22), garantiert jedoch auch das Recht, eine Kirche zu gründen und zu unterhalten, wobei unter Kirche eine organisierte religiöse Gemeinschaft, die auf identischen oder zumindest wesentlich gleichen Ansichten beruht, zu verstehen ist. 37 Das Recht aus Art. 18 steht den Mitgliedern einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu, nicht jedoch der Gemeinschaft als juristischer Person oder sonstiger Vereinigung als solcher. 38 Die Gemeinschaft genießt aber mittelbaren Schutz über ihre Mitglieder, da auch sie bei Beschränkungen, die der juristischen Person oder sonstigen Vereinigung auferlegt werden, betroffen sind. Unter Umständen lässt sich aus dem Recht, seine Religion oder Weltanschauung „in Gemeinschaft mit anderen" zu bekunden, ableiten, dass die Religionsgemeinschaft selbst einen gewissen Schutz genießt, etwa für das Recht, Gottesdienste abzuhalten oder Unterricht zu erteilen. Hierbei ist auch die Vereinigungsfreiheit (Art. 22) zu berücksichtigen. Zu erwähnen ist an dieser Stelle allerdings, dass die Beschwerdebefugnis nach dem Fakultativprotokoll nur natürlichen, nicht auch juristischen Personen zusteht.39 Bei der Glaubensausübung in Gemeinschaft mit anderen ist neben der soeben erwähnten Vereinigungsfreiheit insbesondere das Recht, sich friedlich zu versammeln (Art. 21), zu beachten, etwa bei Prozessionen.

36

Ebd.

37

Paul Sieghart, The International Law of Human Rights, 1983, § 23.3.5.

38 Hierzu Sieghart (Anm. 37), § 23.3.5, mit Verweisen auf die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR); allgemein Nowak (Anm. 9), Art. 2 CCPR, Rn. 24 f. 39

Hierzu Schäfer (Anm. 4), 62, m.w.N.

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4. Religiöse und sittliche Erziehung (Absatz 4) Gemäß Art. 18 Abs. 4 verpflichten sich die Vertragsstaaten, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls der betreuenden oder pflegenden Person („des Vormunds oder Pflegers") zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen. 40 Hier besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Kindes aus Art. 18 Abs. 1 und der Freiheit der Eltern aus Art. 18 Abs. 4. Die Schwierigkeit liegt darin zu bestimmen, wo oder vielmehr wann die Freiheit der Eltern aufhört und die der Kinder beginnt.41 Eine genaue Altersgrenze wurde bei der Ausarbeitung dieser Vorschrift nicht diskutiert, jedoch stellten verschiedene Delegierte fest, dass das Elternrecht nur so lange gelte, bis das Kind reif genug sei, darüber selbst zu entscheiden.42 Hier wird man, soweit die Frage von der Reife des Kindes abhängt, von Fall zu Fall entscheiden oder ein bestimmtes Durchschnittsalter als Grenze ansetzen müssen, z.B. wie in der Bundesrepublik Deutschland bei 14 Jahren. Jedoch ist in jedem Entwicklungsstadium des Kindes dessen Meinung, soweit es sie bilden und zum Ausdruck bringen kann, zu berücksichtigen. 43 Aus Art. 18 Abs. 4 und weiteren Vorschriften (Art. 13 Abs. 3 Sozialpakt) wird auch die Freiheit zur Gründung einer religiösen oder weltanschaulichen Schule abgeleitet werden können. Problematischer ist die Sicherstellung der Freiheit der Eltern in öffentlichen Kindergrippen und -gärten, Vorschulen und Schulen. Einen positiven Leistungsanspruch auf Erteilung eines bestimmten, von den Eltern geforderten Religions- oder Weltanschauungsunterricht lässt sich aus Art. 18 Abs. 4 sicherlich nicht ableiten, was auch durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt wird. 44 Religionsunterricht kann aber an öffentlichen Schulen erteilt werden, solange sichergestellt wird, dass in nicht-diskriminierender Weise eine Befreiung hiervon oder Alternativunterricht hierzu vorgesehen ist. 45 Der Alternativunterricht kann auch die Geschichte von Religionen und Ethik zum

40

Vgl. hierzu auch Art. 5 der Erklärung von 1981 (Anm. 28).

41

Sieh e Joseph/Schultz/Castan

(Anm. 14), 515 (§ 17.31), m.w.N.

42

Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR Rn. 49, Anm. 129, m.w.N. Die Delegierten wollten die genaue Festlegung dieses Alters offensichtlich den Vertragsstaaten überlassen. 43 Vgl. hierzu Art. 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, BGBl. 1992 II, 122. Beachte auch den Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 dieses Übereinkommens: „Die Vertragsstaaten achten die Rechte und Pflichten der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten" (Hervorhebung hinzugefügt). 44 Siehe Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 52, m.w.N. 45

MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 6.

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Gegenstand haben, solange dies in einer neutralen und objektiven Weise sowie unter Beachtung der Überzeugungen von Eltern, die an keine Religion glauben, geschieht.46 Die Vorschrift steht aber auch generell keinem allgemeinen Unterricht entgegen, in dem über Gegenstände wie die Geschichte der Religionen gelehrt wird, sofern dies ebenfalls neutral und objektiv erfolgt. 47 In einem Fall (Unn et al. v. Norway) stand die Vereinbarkeit eines Alternativunterrichts mit Art. 18 Abs. 4 zur Prüfung durch den Menschenrechtsausschuss an. Im Jahre 1997 wurde mittels einer gesetzlichen Neuerung in Norwegen das bis dahin alternativ zum Religionsunterricht angebotene Lehrfach „Lebenshaltungswissen" („Life stance knowledge"), das für die Schüler nicht obligatorisch vorgesehen war, durch das obligatorische Fach „Christliches Wissen und religiöse und ethische Erziehung" (CKREE) abgelöst. Dieses Fach ließ eine Präferenz für das Christentum erkennen. Eine Befreiung von diesem Unterricht war für bestimmte Teile, theoretisch sogar von jedem Teil des Unterrichts möglich. In der Praxis sah die Befreiung jedoch anders aus und wurde zum Teil nicht umgesetzt. Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass dieses System des Unterrichtsfachs CKREE, wie es in Bezug auf die Beschwerdeführer konkret umgesetzt wurde, eine Verletzung von Art. 18 Abs. 4 darstellte. 48

II. Schrankenregelung (Absatz 3) 49 Grundsätzlich kann es keine Freiheit ohne Schranken geben. Demgemäß enthält Absatz 3 des Art. 18 Einschränkungsmöglichkeiten. Danach darf die Freiheit, seine 46

Siehe MRA, Hartikainen et al. v. Finland (No. 40/1978), Auffassungen vom 9. April 1981, UN Doc. A/36/40 (1981), Annex X V , § 10.4. 47 MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 6. 48

MRA, Unn et al. v. Norway (No. 1155/2003), Auffassungen vom 3. November 2004, UN Doc. CCPR/C/82/D/1155/2003 (2004), §§ 14.7 und 15. In einem anderen Fall, in dem eine Verletzung der Art. 26, Art. 18 Abs. 1 und 4 sowie Art. 27 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 gerügt wurde, stellte der Ausschuss eine Verletzung von Art. 26 fest; eine Prüfung der anderen Artikel hielt er danach nicht mehr für erforderlich. Siehe MRA, Waldman v. Canada (No. 694/1996), Auffassungen vom 3. November 1999, UN Doc. CCPR/C/67/D/694/1996 (1999). 49 Zu den Schrankenregelungen des Paktes allgemein siehe Alexandre Charles Kiss , Permissible Limitations on Rights, in: Louis Henkin (ed.), The International Bill of Rights: The Covenant on Civil and Political Rights, 1981, 290-310, und die von Experten und Expertinnen der International Commission of Jurists und anderen Organisationen ausgearbeiteten Siracusa Principles on the Limitation and Derogation Provisions in the International Covenant on Civil and Political Rights, abgedruckt in: Human Rights Quarterly (HRQ) 7 (1985), 3-14.

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Religion oder Weltanschauung zu bekunden, nur den „gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind". Dem Wortlaut zufolge bezieht sich die Schrankenregelung nur auf die Bekundung der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit. Nicht erfasst werden daher die Gedanken- und (innere) Gewissensfreiheit, die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung zu haben oder anzunehmen, sowie die erzieherische Freiheit der Eltern nach Absatz 4. 5 0 Diese Freiheiten werden vorbehaltlos geschützt. Die Schrankenregelung des Art. 18 Abs. 3 entspricht im Aufbau dem der entsprechenden Regelungen in anderen Artikeln des Paktes,51 weicht aber insofern ab, als die aufgezählten zulässigen Einschränkungszwecke begrenzter sind. 52 Die Beschränkung muss auch mit den sonstigen Bestimmungen des Paktes im Einklang stehen, obwohl dies in Art. 18 Abs. 3 nicht wie in Art. 12 Abs. 3 ausdrücklich gefordert wird; es entspricht jedoch einer allgemeinen Logik. Dabei sind insbesondere auch die Art. 2 Abs. 1, 3 und 26 zu beachten, so dass diskriminierende Beschränkungen unzulässig sind.53 Insgesamt müssen die Einschränkungen zudem mit Gegenstand und Zweck des Zivilpaktes in Einklang stehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beschränkende Maßnahme in jedem Einzelfall auf klaren gesetzlichen Grundlagen basieren, zu einem legitimen Zweck erfolgen und den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss.

1. Gesetzlich vorgesehene Einschränkung Die Einschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein.54 Erforderlich ist danach, dass ein Eingriff in das Recht durch ein generell-abstraktes Gesetz oder eine entsprechende ungeschriebene Norm des Gewohnheitsrechts (common law) gerechtfertigt wird, das zum Zeitpunkt der Beschränkung bereits in Kraft ist. Das Gesetz selbst muss die genauen Eingriffsvoraussetzungen aufstellen, unter denen die Rechte beschränkt werden können, und darf denen, die mit seiner Durchführung beauftragt sind, keine unbeschränkte Ermessensfreiheit verleihen. 55 50

Siehe auch MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8.

51

Art. 12 Abs. 3, Art. 19 Abs. 3, Art. 21, S. 2 und Art. 22 Abs. 2.

52

Also „in summa weniger Eingriffe zulässt als die genannten Artikel", Nowak (Anm. 8), Art. 18 des Paktes, Rn. 31 (Rn. 33 der engl. 2. Aufl., Anm. 9); hierzu unten Β. II. 2. 53 Siehe auch MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8. 54 55

Engl.: „prescribed by law"; franz.: „prévues par la loi".

So der M R A zur entsprechenden Regelung in Art. 12 Abs. 3, General Comment No. 27: Freedom of Movement (Art. 12), U N Doc. CCPR/C/21/Rev.l/Add.9 (1999); dt. MenschenRechtsMagazin 2000, 85 ff., §§ 12 f.

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Insofern ist das Gesetz auch hinreichend bestimmt zu formulieren und allgemein bekannt zu machen, so dass die Betroffenen hiervon Kenntnis erlangen und gegebenenfalls Rechtsbehelfe dagegen einlegen können.56 Zu beachten ist auch Art. 5 Abs. 1, wonach keine Bestimmung des Paktes dahin ausgelegt werden darf, dass sie für einen Staat das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der Paktrechte oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt. 57 Daraus, wie auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, folgt insbesondere auch, dass die gesetzlich vorgesehenen Beschränkungen und deren Anwendung nicht den Wesensgehalt des Rechts beeinträchtigen dürfen. 58 Das Verhältnis von Recht und Beschränkung, von Norm (Regel) und Ausnahme darf nicht umgekehrt werden. 59 Die Schrankenregelung ist daher auch genau und eng auszulegen.60

2. Zum Schutz bestimmter Zwecke Die gesetzlich vorgesehene Einschränkung darf nicht zu jedwedem, sondern nur zum Schutz der in Art. 18 Abs. 3 abschließend aufgezählten Zwecke erfolgen. Diese sind die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Sittlichkeit oder die Grundrechte und -freiheiten anderer. Grammatikalisch betrachtet bezieht sich zumindest nach dem englischen Wortlaut das Wort „öffentlich" nicht nur auf die Sicherheit, sondern auch auf die drei darauf folgend genannten Kriterien. 61 Die

56

Siehe Siracusa Principles (Anm. 49), § 17; hierzu Alexandre Kiss, Commentary by the Rapporteur on the Limitation Provisions, in: HRQ 7 (1985), 15-22 (18). 57

Zu Art. 5 siehe Eckart Klein, Reflections on Article 5 of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Nisuke Ando (Hrsg.), Towards Implementing Universal Human Rights: Festschrift for the Twenty-Fifth Anniversary of the Human Rights Committee, 2004, 127-143. 58 MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8; vgl. auch General Comment No. 27 (Anm. 55), § 13. 59 MRA, General Comment No. 27 (Anm. 55), § 13. 60

Louis Henkin, Introduction, in: ders. (Anm. 49), 1-31 (24 und 26); Kiss (Anm. 49), 308; MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8. 61

Engl.: „public safety, order, health, or morals or the fundamental rights and freedoms of others". So auch die spanische Version; anders die französische, wonach nur die ersten drei Kriterien eingeschlossen wären („la protection de la sécurité, de l'ordre et de la santé publique, ou de la morale ou des libertés et droits fondamentaux d'autrui"). Hierzu Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 36.

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Eckart Klein und Bernhard Schäfer

„nationale Sicherheit" wird in Art. 18 nicht erwähnt, jedoch werden viele Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit auch im Rahmen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt sein.62

a) Öffentliche Sicherheit und Ordnung Bei der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt es sich um schwierige Rechtsbegriffe. Das Konzept der öffentlichen Sicherheit betrifft die Sicherheit von Personen, also deren Schutz vor Gefahren für ihr Leben und ihre physische Integrität oder erheblichen Schaden für ihr Eigentum.63 Beschränkungen der Ausübung der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit sind danach z.B. dann zulässig, wenn bei einer religiösen oder weltanschaulichen Versammlung eine konkrete Gefährdung für die Sicherheit von Personen (d.h. ihres Lebens, ihrer körperlichen Integrität oder Gesundheit) und/oder Sachen eintritt. 64 Schwieriger zu bestimmen ist im Rahmen des Art. 18 Abs. 3 die Bedeutung der „öffentlichen Ordnung". Dies beruht darauf, dass im Gegensatz zu anderen Vorschriften des Paktes (z.B. Art. 21 und 22 Abs. 2) bei Art. 18 Abs. 3 in der englischen Fassung der französische Zusatz in Klammern „ordre public" fehlt. Durch diesen Zusatz wird in den anderen Bestimmungen verdeutlicht, dass bei der Ausarbeitung festgestellt und berücksichtigt wurde, dass es sich bei der „öffentlichen Ordnung" um einen rechtstechnischen Begriff handelt, der in den verschiedenen Rechtsräumen und selbst innerhalb eines Rechtsraums in den verschiedenen Rechtsgebieten (z.B. in Frankreich im öffentlichen Recht und im Privatrecht) unterschiedlich verstanden wird. Zumindest ist die „öffentliche Ordnung" in Art. 18 Abs. 3 nicht im Sinne einer „öffentlichen Politik" („public policy"), wie das Begriffspaar in England verstanden wird, zu verstehen, sondern eng auszulegen, im Sinne von „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" („Vermeidung öffentlicher Unordnung"/"prevention of public disorder"). 65 Es wird daher argumentiert, dass im Vergleich zu den anderen Vorschriften die Religions- und Weltanschauungsfreiheit nur zur Vermeidung von Ordnungs-

62

So auch für die öffentliche Ordnung Joseph/Schultz/Castan

63

Siracusa Principles (Anm. 49), § 33.

64

Beispiel von Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 38.

65

(Anm. 14), 508 (§ 17.15).

Hierzu Karl Josef Partsch, Freedom of Conscience and Expression, and Political Rights, in: Henkin (Anm. 49), 209-245 (212 f.). Siehe auch die Diskussion innerhalb der Menschenrechtskommission bei der Ausarbeitung des Entwurfs, zusammengefasst in: UN Doc. A/2929, § 113, abgedruckt bei Bossuyt (Anm. 11), 365 f., m.w.N.

Religionsfreiheit und I P b r g R

141

Störungen im engeren Sinne beschränkt werden darf. 66 Die öffentliche Ordnung im Sinne von ordre public wird ansonsten so verstanden, dass sie die Summe aller Regeln ist, die das Funktionieren der Gesellschaft sicherstellen, oder die Sammlung fundamentaler Grundsätze, auf denen die Gesellschaft ruht. 67 Die Achtung der Menschenrechte ist dabei Teil dieser Ordnung. So hat der Ausschuss die Regelung von Nachnamen, einschließlich deren Änderungen, als eine Angelegenheit der öffentlichen Ordnung (ordre public) angesehen und Einschränkungen nach Art. 18 Abs. 3 aus diesem Grunde für zulässig erklärt. 68 Auch können Einschränkungen für Strafgefangene, die sich aus der Gefängnisordnung ergeben, aufgrund der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein.69 Bei Versammlungen und Demonstrationen werden ebenfalls oftmals Einschränkungen erforderlich sein. Im Rahmen der öffentlichen Ordnung (oder auch der öffentlichen Sicherheit und der Grundrechte und Freiheiten anderer) ist insbesondere auch Art. 20 Abs. 2 zu berücksichtigen. 70 Danach ist jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, durch Gesetz zu verbieten.

b) Öffentliche Gesundheit und Sittlichkeit Die öffentliche Gesundheit (Volksgesundheit) und die öffentliche Sittlichkeit (Moral) sind als Kriterien in allen weiteren Schrankenregelungen des Zivilpakts ebenfalls enthalten.71 Zum Schutz der Volksgesundheit können beispielsweise die Impfpflicht zur Vermeidung der Verbreitung von schwerwiegenden Krankheiten oder sonstige Maßnahmen zu Verhinderung von Epidemien als Eingriffe in die 66

Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 39. Siehe auch John P. Humphrey , Political and Related Rights, in: Theodor Meron (ed.), Human Rights in International Law: Legal and Policy Issues, 1984 (paperback 1992), 171-203 (180 f.), und Partsch (Anm. 65), 212 f. 67 Siracusa Principles (Anm. 49), § 22. Siehe auch Kiss (Anm. 49), 302. 68 MRA, Coeriel and Aurik v. Netherlands (No. 453/1991 ), Auffassungen vom 31. Oktober 1994, UN Doc. CCPR/C/52/D/453/1991 (1994), § 6.1. Kritisch zu dieser Entscheidung Konrad Sahlfeld, Aspekte der Religionsfreiheit: im Lichte der Rechtsprechung der EMRK-Organe, des UNO-Menschenrechtsausschusses und nationaler Gerichte, 2004, 216 f. 69 Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 40; vgl. hierzu EKMR, McFeeley et al. v. UK (No. 8317/78), Entscheidung vom 15. Mai 1980, DR 20 (1980), 44. 70 Siehe auch MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 7. Zu Art. 20 siehe MRA, General Comment No. 11: Artide 20 [1983], U N Doc. HRI/GEN/l/Rev.7 (2004), 133. 71 Siehe Art. 12 Abs. 3, 19 Abs. 3, 21 S. 2 und 22 Abs. 2 („der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit"; engl.: "public health or morals"; franz.: „la santé ou la moralité publiques"); in Art. 14 Abs. 1 S. 3 ist hingegen nur die „Sittlichkeit" genannt.

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Eckart Klein und Bernhard Schäfer

Religions- und Weltanschauungsfreiheit gerechtfertigt sein, auch wenn die betroffene Person solche medizinischen Eingriffe wegen ihrer religiösen Überzeugung ablehnt. Fraglich ist jedoch (auch unter Einbeziehung des Rechts auf Privatleben nach Art. 17), ob nicht nur die Volksgesundheit, sondern auch die individuelle Gesundheit einer Person unter Verweis auf Art. 18 Abs. 3 geschützt werden darf, 72 was teilweise angenommen wird. 73 Beispielsweise greift die Vorschrift, einen Motorradhelm zu tragen, in die Religionsfreiheit eines Sikhs ein, wenn er dadurch genötigt wird, seinen Turban zu entfernen. Ein solcher Eingriff wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schutz der (öffentlichen) Gesundheit als gerechtfertigt erachtet. 74 Zum gleichen Ergebnis kommt der Menschenrechtsausschuss in Bezug auf das Tragen eines Schutzhelmes während der Arbeit. 75 Als Anhaltspunkt für zulässige Beschränkungen aufgrund der Volksgesundheit kann Art. 12 des Sozialpakts herangezogen werden. 76 Diese Bestimmung fordert von den Vertragsstaaten unter anderem Maßnahmen zur Senkung der Zahl der Totgeburten und der Kindersterblichkeit und zur gesunden Entwicklung des Kindes sowie zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer, endemischer, Berufs- und sonstiger Krankheiten. Die öffentliche Sittlichkeit bezieht sich auf Grundsätze, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als allgemeine Leitlinien für das individuelle und kollektive Verhalten akzeptiert werden. 77 Die öffentliche Sittlichkeit kann in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich ausfallen. Der EGMR gesteht daher den Staaten zur Beurteilung, was die öffentliche Sittlichkeit verlangt, einen relativ weiten, wenn auch nicht grenzenlosen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu. 78 Letztlich kann die Einräumung eines Beurteilungsspielraums jedoch nicht die eigene Einschätzung und Entscheidung des Vertragsüberwa72

Hierzu Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 43.

73

Z.B. Siracusa Principles (Anm. 49), § 25.

74

EKMR, X. v. UK(No. 7992/77), Entscheidung vom 12. Juli 1978, DR 14 (1979), 234

(235). 75

MRA, Singh Bhinder v. Canada (No. 208/1986), Auffassungen vom 9. November 1989, UN Doc. CCPR/C/37/D/208/1986 (1989), § 6.2. Die Vertragspartei verweist bei seinen Ausführungen auch auf Art. 7 lit. b des Sozialpakts, wonach die Vertragsstaaten sichere und gesunde Arbeitsbedingungen zu gewährleisten haben. 76 So Kiss (Anm. 49), 303. 77 78

Kiss (Anm. 49), 304.

Siehe z.B. EGMR, Handyside v. UK (No. 5493/72), Urteil vom 7. Dezember 1976, Series A 24 (1976), §§47 ff. („margin of appreciation").

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143

chungsorgans, vorliegend des Ausschusses, ersetzen. Vielmehr gilt es eine eigene Beurteilung unter Einbeziehung der regionalen, nationalen und/oder lokalen Verhältnisse vorzunehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, wie der Ausschuss in seiner Allgemeinen Bemerkung zu Art. 18 hinweist, dass sich die Auffassung von Sittlichkeit aus zahlreichen sozialen, philosophischen und religiösen Traditionen ergibt; deshalb müssen sich Einschränkungen der Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, zum Schutz der Sittlichkeit auf Grundsätze stützen, die nicht ausschließlich aus einer einzigen Tradition abgeleitet werden. 79

c) Grundrechte und -freiheiten anderer Art. 18 Abs. 3 verlangt, dass die Einschränkungen zum Schutz der „Grundrechte und -freiheiten anderer" 80 erforderlich sein müssen. Die Formulierung lässt erkennen, dass nicht alle Rechte anderer zu Beschränkungen legitimieren sollen, sondern nur solche grundlegender Bedeutung. Diese Rechte werden zumindest in den durch den Zivilpakt selbst gewährleisteten Rechten zu sehen sein.81 Beschränkungen der Ausübung der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit sind daher aufgrund der grundlegenden Rechte und Freiheiten anderer gerechtfertigt oder sogar geboten, z.B. wenn durch die Ausübung das Sklaverei verbot, 82 das Recht auf Leben83 oder das Diskriminierungsverbot 84 betroffen werden. Die Verbreitung beispielsweise von antisemitischen oder antiislamischen Ansichten aus vermeintlich religiös motivierten Gründen kann oder muss zum Schutz der Ehre (Art. 17) und sonstiger Rechte (auch aus Art. 20 Abs. 2) der Mitglieder der

79

MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8 (die englische und französische Fassung dieser Allgemeinen Bemerkung weichen geringfügig voneinander ab, indem die französische Fassung keine Entsprechung für den Zusatz „exclusively", „ausschließlich" enthält: „pour protéger la morale doivent être fondées sur des principes qui ne procèdent pas d'une tradition unique"). 80 Engl.: „fundamental rights and freedoms of others"; franz.: „des libertés et droits fondamentaux d'autrui". 81 In diesem Sinne auch Nowak (Anm. 9), Art. 18 CCPR, Rn. 45 (internationaler Mindeststandard von Menschenrechten; Menschenrechtspakte). 82

Art. 8; z.B. aufgrund einer Weltanschauung, die von verschiedenen Wertigkeiten von Personengruppen ausgeht. 83 Art. 6; beispielsweise religiös motivierte Personenopfer. 84

Art. 2 Abs. 1, 3, 26 und 27; z.B. Unterdrückung einer Personengruppe aus religiösen Gründen.

144

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

betroffenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft eingeschränkt werden.85

3. Erforderlichkeit

(Verhältnismäßigkeit)

Die Einschränkungen müssen zum Schutz eines oder mehrerer der genannten Zwecke erforderlich 86 sein. Im Gegensatz zu Art. 21 und 22 fehlt hier der Zusatz „in einer demokratischen Gesellschaft". 87 Aber schon angesichts des Art. 25 kann Maßstab nur die demokratische Gesellschaft und nicht etwa die Diktatur sein.88 Die Voraussetzung, dass die Einschränkungen erforderlich sein müssen, reflektiert das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Erforderlich ist daher, wie es in der Allgemeinen Bemerkung des Ausschusses zu Art. 18 heißt, dass die Einschränkungen nur zu dem Zweck angewandt werden dürfen, für den sie vorgeschrieben wurden, und dass sie in direktem Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden Zielen stehen und verhältnismäßig sein müssen.89 Was unter dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verstehen ist, hat der Ausschuss vor allem in seiner Allgemeinen Bemerkung zur entsprechenden Regelung in Art. 12 zum Ausdruck gebracht. Danach müssen einschränkende Maßnahmen geeignet sein, ihre schützende Funktion zu erfüllen; sie müssen das mildeste Mittel unter denen sein, die geeignet sind, das gewünschte Ergebnis zu erreichen; und schließlich müssen sie zu dem zu schützenden Rechtsgut in einem angemessenen Verhältnis stehen.90 Gefordert wird auch, dass mit der Einschränkung auf ein drängendes öffentliches oder soziales Bedürfnis geantwortet wird und die Bewertung über die Notwendigkeit einer Beschränkung auf objektiven Überlegungen

85

Siehe (zum entsprechenden Art. 19 Abs. 3) MRA, Ross v. Canada (No. 736/1997), Auffassungen vom 18. Oktober 2000, U N Doc. CCPR/C/70/D/736/1997 (2000), §§ 11.5 ff.; Faurisson v. France (No. 550/1993), Auffassungen vom 8. November 1996, UN Doc. CCPR/C/58/D/550/1993 (1996), §§ 9.4 ff. 86 Oder notwendig; engl.: „necessary"; franz.: „nécessaires". 87

Die Bedingung wird auch noch in Art. 14 Abs. 1 genannt, jedoch nicht unmittelbar verbunden mit der Erforderlichkeit. 88 Siehe auch Kiss (Anm. 49), 307, der den EGMR, Handyside v. UK (No. 5493/72), Urteil vom 7. Dezember 1976, Series A 24 (1976), § 49, zitiert: „It may be submitted that even in the limitation clauses where no explicit mention is made of a democratic framework, the idea of democracy is always underlying, signifying that every , formality', condition', restriction' or,penalty' imposed in this sphere must be proportionate to the legitimate aim pursued." 89 MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 8. 90

Siehe MRA, General Comment No. 27 (Anm. 55), § 14.

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145

beruht. 91 Zu beachten ist ferner, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht nur vom Gesetz, das die Beschränkungen regelt, eingehalten werden muss, sondern auch von der Exekutive und Judikative, die diese Gesetze anwenden. Die Staaten müssen sicherstellen, dass alle Verfahren, mit denen die betroffenen Rechte beschränkt werden, zügig durchgeführt und Gründe für die Anwendung beschränkender Maßnahmen angegeben werden. 92

C. Problembeispiele aus der Praxis des Ausschusses I. Gewissensfreiheit und Kriegsdienstverweigerung Von Anfang an umstritten war, ob der Zivilpakt, insbesondere über die in Art. 18 geschützte Gewissensfreiheit, auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung erfasst. Anfänglich vertrat der Ausschuss die Ansicht, dass der Zivilpakt kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung bereithalte. In der Unzulässigkeitsentscheidung L.T.K. gegen Finnland aus dem Jahre 1985 hielt der Ausschuss noch fest, dass weder Art. 18 noch Art. 19, insbesondere unter Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 3 lit. c (ii), 93 so ausgelegt werden könnten, als enthielten sie ein solches Recht.94 Dieses Ergebnis legt auch die Entstehungsgeschichte von Art. 18 in gewisser Weise nahe, wonach ein Vorschlag, dass eine Person, die den Kriegsdienst verweigert, vom Militärdienst befreit werden sollte, nicht aufgenommen wurde. 95

91

Siracusa Principles (Anm. 49), § 10 S. 1 (b) und S. 2.

g2

MRA, General Comment No. 27 (Anm. 55), § 15; siehe auch Siracusa Principles (Anm. 49), §§ 10 f. 93

„[...] als ,Zwangs- oder Pflichtarbeit' im Sinne dieses Absatzes gilt nicht [...] jede Dienstleistung militärischer Art sowie in Staaten, in denen die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt wird, jede für Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebene nationale Dienstleistung". 94 MRA, L.T.K, v. Finland (No. 185/1984), Entscheidung vom 9. Juli 1985, UN Doc. CCPR/C/OP/2 (1990), 61, § 5.2. Bereits zuvor wurde diese Frage im Fall Muhonen v. Finland ( No. 89/1981), Auffassungen vom 8. April 1985, UN Doc. A/40/40 (1985), Annex VII, angesprochen, konnte letztlich aber unbeantwortet bleiben (ebd., § 3). 95 Siehe UN Doc. A/2929, § 117 („Another proposal which was not adopted was that ,persons who conscientiously object to war as being contrary to their religion shall be exempt from military service' [E/CN.4/SR.161, 49-50 & § 57 (PI), § 51 (RCH), § 52 (USA), § 53 (GB), § 54 (U), § 55 (AUS), § 56 (IND)]."), wiedergegeben bei Bossuyt (Anm. 11), 364.

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Auch die Europäische Menschenrechtskommission kam unter Verweis auf die Art. 8 Abs. 3 lit. c (ii) entsprechende Regelung in Art. 4 Abs. 4 lit. b EMRK zu dem Ergebnis, dass Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung umfasst. 96 Diese Auslegung der genannten Vorschriften zur Problematik Kriegsdienstverweigerung wurde in der Literatur kritisiert. Beispielsweise hält Manfred Nowak die genannte Entscheidung L.T.K. gegen Finnland für ebenso fragwürdig wie die Straßburger Rechtsprechung. Er führt dazu aus, dass der bloße Verweis auf Art. 8 keineswegs so überzeugend sei, wie dies auf den ersten Blick erscheine. „Aus Art. 8 Abs. 3 lit. c (ii) ergibt sich a priori lediglich, dass die Vertragsstaaten generell nicht verpflichtet sind, die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anzuerkennen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Wehrpflicht bzw. die konkrete Ausübung des Wehrdienstes grundsätzlich nicht in andere Rechte des Paktes eingreifen können. Ob die Wehrpflicht einen Eingriff in die Gewissens-, Religions- oder Weltanschauungsfreiheit darstellt, muss vielmehr durch Interpretation des Anwendungsbereiches von Art. 18 Abs. 1 beantwortet werden." 97 Die Ansicht des Ausschusses hat sich seit dieser Entscheidung aus dem Jahre 1985 inzwischen geändert. Im Jahr 1993 hat der Ausschuss dem umstrittenen Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seiner Allgemeinen Bemerkung zu Art. 18 einen eigenen Absatz gewidmet. In diesem stellt er zwar zunächst fest, dass dieses Recht nicht ausdrücklich im Zivilpakt anerkannt wird; er sei jedoch der Auffassung, dass ein solches Recht insofern aus Art. 18 abgeleitet werden müsse, als die Verpflichtung, tödliche Gewalt anzuwenden, möglicherweise ernsthaft mit der Gewissensfreiheit und dem Recht, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, in Konflikt treten könne.98 96

EKMR, X v. Austria (No. 5591/72), Entscheidung vom 2. April 1973, Collection of Decisions 43 (1973), 161. Siehe auch bereits zuvor die Ansicht der EKMR im Fall Grandrath v. Germany (No. 2299/64), Yearbook 10 (1967), 626 ff. (670 ff., 674), sowie das Sondervotum Ermacoras, der entgegen der Kommission den Art. 9 EMRK für anwendbar, den Eingriff jedoch gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sieht, ebd., 674 ff. Zu einer späteren Entscheidung und der Bestrafung der Verweigerung des Ersatzdienstes siehe X v. FRG (No. 7705/76), Entscheidung vom 5. Juli 1977, DR 9 (1978), 196 ff. (203 ff.). 97 98

Nowak (Anm. 8), Art. 18 des Paktes, Rn. 28 (Fußnoten weggelassen).

MRA, General Comment No. 22 (Anm. 12), § 11. Während der Ausschuss in einem Fall aus dem Jahre 1990 beiläufig bei der Prüfung des Art. 26 noch festhielt, dass der Pakt kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bereithält (Järvinen v. Finland (No. 295/1988), Auffassungen vom 25. Juli 1990, U N Doc. CCPR/C/39/D/295/ 1988 (1990), § 6.2), hat auch er bereits ein Jahr später in einem Fall, in dem es um Steuerverweigerung aus Gewissensgründen ging, in einem Nebensatz erwähnt, dass „article 18 of the Covenant certainly protects the right to hold, express and disseminate opinions and convictions, including conscientious objection to military activities and expenditures", J.P.

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Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist immer wieder auch Gegenstand der Prüfung in Staatenberichtsverfahren gewesen. So hat der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen zu Vietnam im Jahre 2002 die Vertragspartei aufgefordert sicherzustellen, dass Personen, die zum Militärdienst verpflichtet sind, den Status eines Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen beanspruchen und ohne Diskriminierung einen Ersatzdienst leisten können." Kolumbien und Finnland forderte der Ausschuss ebenfalls auf, Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes einzuräumen. Er betonte dabei unter Verweis auf die Art. 18 und 26 zusätzlich, dass die Dauer des Ersatzdienstes keinen Strafcharakter haben dürfe. 100 In den Abschließenden Bemerkungen zu Finnland stellte der Ausschuss zudem klar, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht nur in Friedens-, sondern auch in Kriegszeiten anerkannt werden sollte. Diese Forderung ist im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 2 zu sehen, wonach von Art. 18 auch nicht in Notstandszeiten abgewichen werden darf. Eine bevorzugte Behandlung durch die Anerkennung nur einer Gruppe (im Fall Finnlands die Zeugen Jehovas) als Kriegsdienstverweigerer darf mit Blick auf Art. 26 ebenfalls nicht erfolgen. 101 Mit der grundsätzlichen Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen unter Art. 18 hat sich die Problematik dieses Themas auf das Diskriminierungsverbot bzw. Gleichbehandlungsgebot nach Art. 26 verlagert, aber auch auf Art. 18 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und möglicherweise Art. 18 Abs. 2 selbst. 102 Dabei spielt insbesondere die im Verhältnis zum Militärdienst zum Teil exzessiv längere Dauer des Ersatzdienstes eine umstrittene Rolle. 103 In der AllV. Canada (Anm. 31), § 4.2. Ähnlich 1992 in J.v.K. and C.M.G.v.K.-S. v. Netherlands (Anm. 31), §4.2. 99 MRA, Concluding Observations: Viet Nam, UN Doc. CCPR/CO/75/VNM (2002), § 17. 100 MRA, Concluding Observations: Colombia, UN Doc. CCPR/CO/8O/COL (2004), § 17; Concluding Observations: Finland, UN Doc. CCPR/CO/82/FIN (2004), § 14. 101 UN Doc. CCPR/CO/82/FIN (2004), § 14. 102 Sondervotum Bertil Wennergrens zu Järvinen v. Finland (Anm. 103). 103 Vom Ausschuss wurde beispielsweise keine Verletzung festgestellt in: Järvinen v. Finland (No. 295/1988), Auffassungen vom 25. Juli 1990, UN Doc. CCPR/C/39/D/295/ 1988 (1990), §§ 6.2 ff. Hier waren es acht Monate Militärdienst und der Ersatzdienst wurde von 12 auf 16 Monate verlängert. Eine Verletzung von Art. 26 wurde hingegen festgestellt in: Foin ν. France (No. 666/1995), Auffassungen vom 3. November 1999, UN Doc. CCPR/C/67/D/666/1995 (1999), § 10.3; Maille ν. France (No. 689/1996), Auffassungen vom 10. Juli 2000, UN Doc. CCPR/C/69/D/689/1996 (2000), § 10.4; Venier et al. ν. France (Nos. 690/1996; 691/1996), Auffassungen vom 10. Juli 2000, UN Doc. CCPR/C/69/D/690/1999 (2000), § 10.4. In diesen Fällen dauerte der Ersatzdienst 24 im Vergleich zu 12 Monaten Militärdienst. Beachte bei allen Fällen die angebrachten Sonder-

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gemeinen Bemerkung des Ausschusses vom 20. Juli 1993 heißt es hierzu: „Ist dieses Recht in Gesetzgebung und Praxis einmal anerkannt, soll es keine Unterscheidung der Verweigerer aus Gewissensgründen nach der Art ihrer besonderen Anschauungen mehr geben, und ebenso soll es keine Diskriminierung von Verweigerern aus Gewissensgründen mehr geben, weil sie ihren Militärdienst nicht geleistet haben." 104 Der Ansicht, dass die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Schutzbereich des Art. 18 fällt, ist grundsätzlich zuzustimmen. Bei der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen handelt es sich eben um eine Frage des Gewissens, so dass die Lösung innerhalb des Art. 18 zu suchen ist. Die Negativdefinition von Art. 8 Abs. 3 lit. c (ii) kann nicht gleichzeitig als Negativdefinition des Schutzbereichs von Art. 18 herangezogen werden. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass die Kriegsdienstverweigerung als Manifestation der Religions- und Weltanschauungsfreiheit 105 oder als Bekundung der Gewissensentscheidung als solcher durch Absatz 3 einschränkbar ist. In der Regel wird dabei allerdings nur die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer verhältnismäßig sein. Die Prüfung, ob eine vom Gewissen diktierte Entscheidung vorliegt, kann jedoch vorgenommen werden. Wird die Kriegsdienstverweigerung anerkannt und ein Ersatzdienst vorgeschrieben, so muss auch die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrens zur Anerkennung und der Ersatzdienst selbst mit Art. 18 und anderen Paktrechten vereinbar sein. Ist dies der Fall und wird die Entscheidung der zuständigen Behörde im Rahmen dieser nationalen Regelungen gefällt, dann ist auch die Durchsetzung des Militärdienstes bei einer Ablehnung der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mit Art. 18 vereinbar. 106

II. Religions- und Weltanschauungsfreiheit und öffentlicher Dienst Das Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit und öffentlicher Dienst (Staatsdienst) war und ist beispielsweise Gegenstand der Erörterung und Kritik des Ausschusses im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens mit der Bundesrepublik Deutschland. Bei der folgenden Erörterung wird auch deutlich, wie die Religionsund Weltanschauungsfreiheit mit anderen Rechten, vorliegend insbesondere Art. 2

voten. Siehe auch Concluding Observations: Cyprus, UN Doc. CCPR/C/79/Add.39 (1994), § 19. 104 MRA. General Comment No. 22 (Anm. 12), § 11. 105

Vgl. Partsch (Anm. 65), 212. Hierzu MRA, Westerman v. Netherlands (No. 682/1996), Auffassungen vom 3. November 1999, UN Doc. A/55/40 I I (2000), Annex IX.D, § 9.5. 106

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Abs. 1 (akzessorisches Diskriminierungsverbot) und Art. 25 lit. c (gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern) verbunden ist. Während des Verfahrens zum Erstbericht der Bundesrepublik Deutschland107 im Jahre 1978 wurde das damalige sog. Berufsverbot (betreffend mutmaßlicher Rechts- und Linksradikaler, auch „Radikalenerlass" genannt)108 unter Art. 18 diskutiert und insbesondere nach der Art der Überzeugungen, die zur Rechtfertigung des Berufsverbots herangezogen wurden, gefragt. 109 Der zweite Bericht 110 der Bundesrepublik wurde im Ausschuss 1986 diskutiert. 111 Das Berufsverbot wurde wieder angesprochen, dieses Mal im Rahmen des akzessorischen Diskriminierungsverbots (Art. 2 Abs. 1). Es wurden Bedenken über die Vereinbarkeit des Berufsverbots mit Art. 2 Abs. 1 geäußert. Empfunden wurde, dass die Bundesrepublik das Recht auf Nichtdiskriminierung verletze, indem Beamtenposten und Beamtenausbildung Staatsangehörigen aus politischen Gründen verwehrt werde. 112 Im Jahre 1990 wurde der dritte Bericht, 113 der noch vor der Öffnung der Mauer verfasst und im Dezember 1988 eingereicht wurde, im Ausschuss behandelt.114 Erneut wurde der Zugang zu öffentlichen Ämtern diskutiert und unter anderem gefragt, wie das Verbot der Einstellung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei (KP) in den öffentlichen Dienst im Lichte der Wiedervereinigung gesehen würde, insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass viele Staatsbedienstete zum

107

Federal Republic of Germany: Initial Report, UN Doc. CCPR/C/l/Add.18 (1977).

108

Siehe die Beratungen des Bundeskanzlers mit den Länderregierungschefs am 28. Januar 1972, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Regierung Nr. 15 vom 3. Februar 1972, 142. 109 Siehe den Bericht des Ausschusses an die UN-Generalversammlung, UN Doc. A/33/40, § 349. Siehe zudem UN Doc. CCPR/C/SR.92, 93, 94 und 96 (1978). Vgl. zu diesem Thema auch EGMR, Vogt v. Germany (No. 17851/91), [GC] Urteil vom 26. September 1995 (Merits), Series A 323; dt. NJW 1996, 375. Der EGMR hat in diesem Fall eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) jeweils mit zehn zu neun Stimmen festgestellt. 110 Federal Republic of Germany: Second Periodic Report, UN Doc. CCPR/C/28/Add.6 (1985). 111 Report of the Human Rights Committee, UN Doc. A/41/40 (1986), §§261 ff. Siehe auch UN Doc. CCPR/C/SR.663-667 (1986). 112

UN Doc. A/41/40 (1986), § 270.

113

Federal Republic of Germany: Third Periodic Report, UN Doc. CCPR/C/52/Add.3

(1988). ] 14 Siehe Report of the Human Rights Committee, UN Doc. A/45/40 ( 1990), §§ 321 ff.; sowie CCPR/C/SR.963-965 (1990).

150

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

damaligen Zeitpunkt Mitglied der KP der Deutschen Demokratischen Republik waren. Bei der Untersuchung des vierten Staatenberichts 115 1996 bildete mit Blick auf Art. 18 und 25 nicht nur erneut die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen der politischen Anschauung eine Rolle, sondern auch der Umstand, dass die Mitgliedschaft in bestimmten religiösen Sekten in manchen Bundesländern die Person für die Einstellung in den öffentlichen Dienst disqualifizieren sollte. 116 Dieser letzte Aspekt verletze unter bestimmten Umständen die in Art. 18 und 25 garantierten Rechte.117 Dabei ging es unter anderem um die Scientology-Kirche. Das Ausschussmitglied Lord Colville vertrat dabei die Ansicht, dass es inakzeptabel sei, dass vom 1. November 1996 an alle Bewerber auf eine Stelle im öffentlichen Dienst in Bayern angeben mussten, ob sie der Scientology-Kirche angehörten. 118 Im fünften Staatenberichtsverfahren 2004 wurde die Religionsfreiheit mit Blick auf den Staatsdienst erneut diskutiert. Dabei ging es wiederum konkret um die Behandlung von Scientology-Mitgliedern. Die Bundesrepublik nahm hierzu im Rahmen von Art. 25 unter Verweis auf die Abschließenden Bemerkungen des Ausschusses zum vorherigen Bericht Stellung. 119 Die Bundesregierung hob hervor, dass die Länder mitgeteilt hätten, dass für sie die maßgeblichen Kriterien für die Einstellung in den öffentlichen Dienst gemäß Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes allein die Eignung, Befähigung und fachliche Leistung einer Person seien; die Mitgliedschaft in einer Sekte allein („als solche") könne daher den Eintritt in den öffentlichen Dienst nicht verhindern. 120 Weiter heißt es: „Die Praxis der Länder, über die Einstellung in den öffentlichen Dienst im Einzelfall an Hand der genannten Kriterien (Eignung, Befähigung, fachliche Leistung) zu entscheiden, ist im Hinblick auf Artikel 25 Buchstabe c) des Pakts nicht zu beanstanden. Eine Verletzung von Artikel 18 des Pakts (Religionsfreiheit) ist nach Auffassung der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls nicht zu befürchten, wenn es um Mitglieder der Scientology-Organisation geht. Denn diese Vereinigung stellt [...] keine religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaft, sondern eine auf wirtschaftlichen Gewinn

115

Fourth Periodic Report: Germany, UN Doc. CCPR/C/84/Add.5 (1996).

116

Siehe Concluding Observations: Germany, UN Doc. CCPR/C/79/Add.73 (1996), §§ 16 f.; siehe auch UN Doc. CCPR/C/SR. 1551-1553 und 1558 (1996/1997). 117 UN Doc. CCPR/C/79/Add.73 (1996), § 16; siehe auch § 17. 118 1,9

UN Doc. CCPR/C/SR. 1553 (1997), § 3.

Fifth Periodic Report: Germany, UN Doc. CCPR/C/DEU/2002/5 (2002), §§ 309 ff.; dt. Fassung im Internet unter: http://www.bmj.de/media/archive/269.pdf (zuletzt abgerufen im September 2005). 120 Ebd., § 310. Zu besonderen Regelung in Bayern siehe ebd., § 311.

Religionsfreiheit und I P b r g R

151

und Machterwerb ausgerichtete Organisation dar. Selbst wenn man aber den Schutz des Artikels 18 annehmen würde, wäre die Prüfung der Eignung eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst auch im Hinblick auf die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung durch Artikel 18 Abs. 3 des Pakts gerechtfertigt. Denn sie wäre erforderlich, um das Funktionieren des öffentlichen Dienstes und damit den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten." 121 In der daraufhin an die Bundesregierung gerichteten Frageliste 122 bat der Ausschuss mit Blick auf Art. 18 und 19 um Klärung, wie die Mitgliedschaft in „Sekten und Psychogruppen", einschließlich der Mitglieder von Scientology, bestimmt werde, um sich nachteilig auf die Eignung der Person zum öffentlichen Dienst auswirken zu können. 123 Nach der Erörterung 124 des Staatenberichts mit der deutschen Delegation im März 2004 verwies der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen „erneut auf seine Besorgnis darüber, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten religiösen Vereinigungen oder Glaubensrichtungen einer der Hauptgründe ist, aus denen Personen von der Einstellung in den öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden, was unter bestimmten Umständen die nach den Artikeln 18 und 25 des Pakts garantierten Rechte verletzen kann." 125 Der Ausschuss ermahnte die Bundesrepublik Deutschland daher, ihre diesbezüglichen Verpflichtungen aus dem Pakt in vollem Umfang zu erfüllen. 126 Aus diesen Berichtsverfahren wird deutlich, dass es nicht immer einfach sein kann zu bestimmen, was eine Religionsgemeinschaft ist oder wann der Schutzbereich des Art. 18 eröffnet ist oder nicht. In Bezug auf die Religionsgemeinschaft ist es - nicht zuletzt um Missbrauch durch die Staaten zu vermeiden - sicherlich erforderlich, dass dieser Begriff weit gefasst wird. Eine Gemeinschaft sollte nicht alleine aufgrund der Tatsache, dass sie auch auf wirtschaftlichen Gewinn ausge-

121

Ebd., §312.

122

List of Issues: Germany, UN Doc. CCPR/C/80/L/DEU (2003).

123

Ebd., § 18.

124

Siehe hierzu UN Doc. CCPR/C/SR.2170, 2171 und 2188 (2004).

125

Concluding Observations: Germany, UN Doc. CCPR/CO/80/DEU (2004); dt. Fassung im Internet unter: http://www.bmj.de/media/archive/718.pdf (zuletzt abgerufen im September 2005), § 19. 126 Ebenfalls im März 2004 erklärte Ausschuss nach Art. 2 des Fakultativprotokolls eine Beschwerde für unzulässig, in der unter anderem eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1,18 und 25 wegen eines Ausschlusses aus der CDU aufgrund der Mitgliedschaft bei Scientology und der Bestätigung dieses Ausschlusses durch eine Gerichtsentscheidung gerügt wurde. Siehe Arenz et al. v. Germany (No. 1138/2002), Entscheidung vom 24. März 2004, UN Doc. CCPR/C/80/D/1138/2002 (2004).

152

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

richtet ist, als Religionsgemeinschaft disqualifiziert werden. Im Zweifel sollte der Schutzbereich eröffnet sein. Des Weiteren wird aus der Darstellung ersichtlich, dass die Mitgliedschaft in einer religiösen oder weltanschaulichen Vereinigung als solche kein hinreichender Grund für die EinstellungsVerweigerung in den öffentlichen Dienst sein kann. Nach Art. 25 lit. c sind Staatsangehörige ohne Unterschied und ohne unangemessene Einschränkungen zu öffentlichen Ämtern zuzulassen. Ausschlaggebend muss daher, wie es auch Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes fordert, die individuelle Eignung, Befähigung und fachliche Leistung, nicht darf es die religiöse oder weltanschauliche Überzeugung des Bewerbers oder der Bewerberin sein. Handelt es sich allerdings bei der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft um eine Organisation, die darauf abzielt, die im Zivilpakt anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen (Art. 5 Abs. 1), die grundlegenden Rechte und Freiheiten anderer zu beeinträchtigen oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung (ordre public) zu gefährden, so kann bei der Beurteilung der Eignung die Mitgliedschaft in einer solchen Gemeinschaft insofern berücksichtigt werden, als diese Rückschlüsse auf den Bewerber oder die Bewerberin zulässt; insofern sind auch Einschränkungen über Art. 18 Abs. 3 zulässig.

III. Aktuelles Thema: Kopftuchstreit Das in der Bundesrepublik insbesondere mit dem Fall von Frau Fereshta Ludin bekannt gewordene Thema „Kopftuch in öffentlichen Einrichtungen" 127 war auch Gegenstand einer Entscheidung des Menschenrechtsausschusses im November 2004. In diesem Fall, Hudoyberganova gegen Usbekistan, 128 rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 18 und 19, da sie von der Universität (Tashkent State Institute for Eastern Languages) ausgeschlossen wurde, weil sie entgegen einer entsprechenden Institutsordnung ein Kopftuch („hijab") aus religiösen Gründen trug und sich weigerte, dieses abzulegen.

127

Siehe insbesondere BVerfG, 2 BvR 1436/02, Urteil vom 24. September 2003, Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2003, 621 ff. Zum sog. Kopftuchstreit in Deutschland siehe z.B. Heiner Bielefeldt, Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland: Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte, 2004 (Dt. Inst, für Menschenrechte, Policy Paper No. 3); Sonja Rademacher, Das Kreuz mit dem Kopftuch: Wieviel religiöse Symbolik verträgt der neutrale Staat?, 2005. 128 MRA, Hudoyberganova v. Uzbekistan (No. 931/2000), Auffassungen vom 5. November 2004, UN Doc. CCPR/C/82/D/931/2000 (2004).

Religionsfreiheit und I P b r g R

153

Der Ausschuss hält in seiner Entscheidung zunächst fest, dass die Freiheit, die Religion zu bekunden, das Recht einschließt, Kleider oder Amtstrachten in der Öffentlichkeit im Einklang mit dem Glauben oder der Religion der Person zu tragen. Darüber hinaus ist der Ausschuss der Ansicht, dass, wenn eine Person am Tragen religiöser Kleider in der Öffentlichkeit oder im Privatbereich gehindert wird, dies eine Verletzung von Art. 18 Abs. 2 begründen kann. Unter Verweis auf seine Allgemeine Bemerkung zu Art. 18 hält der Ausschuss Politiken oder Praktiken mit Art. 18 Abs. 2 für unvereinbar, die die gleiche Absicht oder die gleiche Auswirkung wie direkter Zwang haben, z.B. die Verhinderung des Zugangs zu Bildung. Der Ausschuss erinnert jedoch daran, dass die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, nicht absolut ist und Einschränkungen, die gesetzlich vorgesehen und zum Schutz eines in Art. 18 Abs. 3 aufgezählten Zwecks erforderlich sind, unterliegen kann. 129 Im vorliegenden Fall beruhte der Ausschluss der Beschwerdeführerin auf einer neu erlassenen Institutsordnung. Der Ausschuss betont in seiner Entscheidung, dass die Vertragspartei keinen bestimmten Grund aufgeführt hat, weshalb sie die der Beschwerdeführerin auferlegten Einschränkungen für notwendig im Sinne von Art. 18 Abs. 3 erachtet. Stattdessen hatte der Vertragsstaat versucht, den Universitätsausschluss der Beschwerdeführerin lediglich mit ihrer Weigerung, den Kopftuchbann einzuhalten, zu rechtfertigen. Aufgrund der besonderen Umstände des Falls und der Abwesenheit irgendeiner Rechtfertigung (im Sinne von Art. 18 Abs. 3) durch den Staat hat der Ausschuss in diesem Fall eine Verletzung von Art. 18 Abs. 2 festgestellt. 130 Gleichzeitig hat er aber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass dieses Ergebnis nur für diesen konkreten Fall gilt. Die Entscheidung lasse das Recht eines Vertragsstaates, Äußerungen der Religion oder Weltanschauung im Rahmen von Art. 18 zu beschränken, unberührt. Ebenso lasse er das Recht akademischer Institutionen unberührt, spezielle Vorschriften in Bezug auf ihre eigene Funktionsfähigkeit zu erlassen. 131 Die den Auffassungen des Ausschusses beigefügten Sondervoten lassen daran zweifeln, ob der Sachverhalt abschließend geklärt war. Insbesondere das von Ruth Wedgwood angeführte Argument, dass es nicht eindeutig war, ob es sich bei dem in Frage stehenden „hijab" um ein Kopftuch, das die Haare und den Nacken verbirgt, oder darüber hinaus um eine Verschleierung des gesamten Gesichts handelt, spielt bei der Beurteilung der Rechmäßigkeit der Beschränkung durchaus

129

Ebd., § 6.2.

130

Ebd. Ebd.

131

154

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

eine Rolle. 132 Wedgwood verweist hierzu auch auf den Fall Leyla §ahin gegen die Türkei 133 vor dem EGMR. In diesem ähnlich gelagerten Fall vor dem EGMR richtete sich die Beschwerdeführerin gegen das Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuches in höheren Erziehungseinrichtungen (im Fall die Universität von Istanbul), was einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht auf Religionsfreiheit, insbesondere ihr Recht auf Religionsausübung, darstelle (Art. 9 EMRK). Nachdem der EGMR das Vorliegen eines Eingriffs in die Religionsausübungsfreiheit der Beschwerdeführerin und das Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage für diesen Eingriff festgestellt hat, 134 sah er die vom Vertragsstaat angeführten Zwecke, deren Schutz das Verbot dienen soll (Wahrung der öffentlichen Ordnung an der Universität; Aufrechterhaltung des Grundsatzes der Säkularität; Schutz der Rechte und Freiheiten anderer), als nach Art. 9 Abs. 2 EMRK legitime Zwecke an (Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und Schutz der öffentlichen Ordnung). 135 Den Schwerpunkt der Untersuchung bildete die Frage, ob die Einschränkung auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. 136 Der EGMR hebt bei der Untersuchung unter anderem den Grundsatz der Geschlechtergleichheit und das Prinzip der Säkularität in der Türkei hervor, das eines der fundamentalen Prinzipien des Staates sei. Er betont auch den Beurteilungsspielraum (margin of appreciation), der dem Staat bei der Beurteilung, was notwendig sei, zustehe, das Ergebnis allerdings der Überprüfung durch den Gerichtshof unterliege. Erwähnt wird auch, dass die Natur der Erziehung (in öffentlichen Einrichtungen) ordnende Befugnisse erforderlich mache. Der EGMR hebt mit Blick auf die Gleichheit der Geschlechter weiter hervor, dass, wenn die Frage des islamischen Kopftuchs im türkischen Kontext erörtert wird, die Auswirkungen berücksichtigt werden müssen, die das Tragen eines solchen Symbols, das als eine verbindliche religiöse Pflicht vorgegeben oder angesehen wird, auf jene haben kann, die es nicht tragen wollen. 132 Siehe weiter das abweichende Sondervotum von Hipolito Solari-Yrigoyen, der die Beschwerde für unsubstantiiert hält und der im Sachverhalt keine Verletzung von Art. 18 and 19 erkennen kann. Sir Nigel Rodley stimmt in seinem Sondervotum mit dem Ergebnis überein, kritisiert jedoch den Satz „duly taking into account the specifics of the context" (§ 6.2, letzter Satz), da der Vertragsstaat den Grund für die der Beschwerdeführerin auferlegten Beschränkungen nicht angab. 133

EGMR, §ahin v. Turkey (No. 44774/98), Urteil vom 29. Juni 2004. Der Fall wurde an die Große Kammer verwiesen, von dieser bis Ende August 2005 jedoch noch nicht entschieden. Siehe auch bereits EKMR, Karaduman v. Turkey (No. 16278/90), Entscheidung vom 3. Mai 1993, DR 74 (1983), 93. 134

EGMR, §ahin v. Turkey (Anm. 133), §§ 68 ff. und 72 ff.

135

Ebd., §§ 82-84. Im Einzelnen ebd., §§ 85 ff.

136

Religionsfreiheit und I P b r g R

155

Die Regelung der Istanbuler Universität (vom 9. Juli 1998) würde alle Formen der Kleidung, die eine Religion oder einen Glauben symbolisieren oder manifestieren, in gleicher Weise („on an equal footing") behandeln, indem diese auf den Universitätsgeländen verboten sind. Unter Berücksichtigung der gemachten Ausführungen und des dem Vertragsstaat zustehenden Beurteilungsspielraums stellt der EGMR abschließend fest, dass die Regulierungen der Universität von Istanbul, die das Tragen des islamischen Kopftuchs Einschränkungen unterwirft und die die Maßnahmen zu deren Umsetzung regeln, im Prinzip gerechtfertigt und verhältnismäßig zum angestrebten Ziel sind, und deshalb als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" erachtet werden können. Eine Verletzung des Art. 9 EMRK konnte der EGMR daher nicht feststellen. 137 Mit Blick auf die zuvor angeführten Äußerungen des Menschenrechtsausschusses im Fall Hudoyberganova ist davon auszugehen, dass der Ausschuss in diesem Fall zum gleichen Ergebnis gelangt wäre. Zu beachten ist jedoch, dass der EGMR, was für den Pakt genauso gilt, stark auf die Verhältnisse in der Türkei Bezug genommen hat. Legt man die vom EGMR aufgestellten engen Maßstäbe und das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Kontext der Bundesrepublik Deutschland an, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Aufgrund dessen, dass Muslime allgemein, und muslimische Mädchen und Frauen, die ein Kopftuch in öffentlichen Bildungseinrichtungen tragen, die Minderheit bilden, 138 besteht hierzulande keine Gefahr übermäßiger Beeinflussung Dritter über das alltägliche Maß hinaus. Eine Gefährdung der Neutralität des Staates ist hierdurch ebenfalls nicht zu erkennen. Insofern erscheint ein Verbot des Kopftuchs bei Abwägung der widerstreitenden Interessen (insbesondere Schutz der Gleichberechtigung von Männern und Frauen einerseits und der Wahrung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit andererseits) in Deutschland als unverhältnismäßig. Diese Frage mag allerdings anders zu beurteilen sein, wenn es nicht um Schülerinnen und Studentinnen, sondern um Lehrerinnen geht. Bei Lehrerinnen oder Lehrern (bei diesen z.B. durch das Tragen der Kippa oder einer Amtstracht) ist aufgrund der aufgeführten Interessen des Staates, einschließlich dessen Neutralitätspflicht, eine Einschränkung der individuellen Freiheit eher als verhältnismäßig zu erachten als bei Schülerinnen und Schülern. Bei Letzteren ist insbesondere auch der Umstand zu berücksichtigen, dass der Besuch der Schule für Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Alter verpflichtend ist.

137 138

Ebd., §§ 114 f. Ausnahmen mag es hier in einzelnen Schulklassen, etwa in Berlin, geben.

156

Eckart Klein und Bernhard Schäfer

Beispielsweise kam der EGMR in einem Fall, in dem es um eine Grundschullehrerin ging, der es untersagt wurde, ein islamisches Kopftuch während des Unterrichts zu tragen, zu dem Ergebnis, dass die staatliche Maßnahme in diesem konkreten Fall als grundsätzlich gerechtfertigt und gemessen an dem verfolgten Ziel, die Rechte und Freiheiten anderer, die öffentliche Ordnung und öffentliche Sicherheit zu schützen, verhältnismäßig sei. Das Verbot des Tragens eines Kopftuches während des Unterrichts sei daher „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". 139

D. Fazit Wie am letzten Beispiel ersichtlich wird, sind die möglichen Konflikte innerhalb des Art. 18 mit Blick auf die Religionsfreiheit noch nicht abschließend geklärt. Die in Art. 18 enthaltenen Freiheiten werden weiterhin Gegenstand der Untersuchung durch den Menschenrechtsausschuss im Rahmen der Staatenberichts- und Individualbeschwerdeverfahren sowie von Kontroversen innerhalb des Ausschusses bleiben. Die bisherige Praxis des Ausschusses war stark fallbezogen, was ihm allerdings ermöglicht, auch bei zukünftigen Fällen flexibel zu reagieren. Im Einzelnen bleiben viele Fragen offen. Hierzu gehört insbesondere auch die Frage, was zum Erreichen eines legitimen Zwecks in einer demokratischen Gesellschaft jeweils tatsächlich erforderlich ist. Hier muss für jeden Einzelfall versucht werden, die rechtlich richtige Antwort zu finden.

139

EGMR, Dahlab v. Switzerland (No. 42393/98), Entscheidung vom 15. Februar 2001, ECHR Reports 2001-V, 447 (463); dt. EuGRZ 2003, 595 ff.

Religion und Minderheitenschutz Von Rainer Hofmann*

A. Einleitung Als Andreas Zimmermann und ich im Mai 2004 die einzelnen Gegenstände und Referenten der für das akademische Jahr 2004/2005 vorgesehenen Vortragsreihe des Walther-Schücking-lnstituts für internationales Recht festlegten, übernahm ich gerne das heutige Thema, nämlich Religion und Minderheitenschutz. Ich tat dies in der Erwartung, dass es sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der nicht allzu viele Fragen aufwerfen würde. Der Grund für diese Annahme war der Umstand, dass in sehr vielen Veröffentlichungen zur Religionsfreiheit zu Recht betont wird, dass sie bereits lange vor der Entwicklung des modernen völkerrechtlichen Schutzsystems der Menschenrechte Gegenstand völkervertraglicher Regelungen war. 1 Diese Regelungen behandelten - naturgemäß - in erster Linie die Rechte derjenigen, die einer Religion anhingen, die sich in der Situation einer numerischen Unterlegenheit gegenüber einer anderen dominierenden Religion befand. Folgerichtig wird denn auch immer wieder darauf verwiesen, dass es völkerrechtlichen Schutz religiöser Minderheiten lange vor der Schaffung des völkerrechtlichen Systems zum Schutz nationaler Minderheiten nach Ende des Ersten Weltkriegs gegeben habe.2 Mit anderen Worten: Der völkerrechtliche Schutz religiöser Der Verfasser dankt Herrn Dr. Holger Scheel, ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel für die freundliche Überlassung seiner Dissertation zum Thema „Die Religionsfreiheit im Blickwinkel des Völkerrechts, des islamischen und des ägyptischen Rechts", der er viele wertvolle Einsichten und Anregungen verdankt. Die Arbeit wird in der Schriftenreihe des Instituts erscheinen. 1 Vgl. etwa R. Grote, Die Religionsfreiheit im Spiegel völkervertraglicher Vereinbarungen zur politischen und territorialen Neuordnung, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht - Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001, 3 ff. (3) m.w.N. 2

Vgl. F. Capotorti, Minorities, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, vol. III, 1997,410 ff. (411 f.); A. Eide, The Framework Convention in Historical and Global Perspective, in: M. Weller (ed.), The Rights of Minorities. A Commentary

158

Rainer Hofmann

Minderheiten blickt also auf eine verhältnismäßig lange Geschichte zurück, was erwarten ließe, dass über seine wichtigsten Aspekte eigentlich Einigkeit herrschen sollte. Wie im Folgenden zu zeigen ist, entspricht dies aber keineswegs der Wirklichkeit - vielmehr lassen sich bei der Behandlung von Religion und Minderheitenschutz wie in einem Brennspiegel die gegenwärtig umstrittensten Fragen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes konzentriert betrachten: Diese betreffen zum einen den Begriff der religiösen Minderheit und zum anderen die Rechte, welche die einer solchen Minderheit angehörenden Personen haben. Bevor diese beiden Fragen näher untersucht werden, erscheint aber ein historischer Überblick über die völkerrechtliche Entwicklung des Schutzes religiöser Minderheiten geboten.

B. Überblick über die historische Entwicklung des völkerrechtlichen Schutzes religiöser Minderheiten In zeitlicher Hinsicht empfiehlt sich eine Untergliederung des Überblicks über die historische Entwicklung des völkerrechtlichen Schutzes religiöser Minderheiten in folgende Abschnitte: zunächst der Zeitraum zwischen dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 bis zum Wiener Kongress von 1815; dann die Entwicklungen im 19. Jahrhundert und zu Anfang des 20. Jahrhunderts; ferner der Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts; und schließlich die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg.

I. Vom Augsburger Religionsfrieden von 1555 bis zum Wiener Kongress von 1815 Ausgangspunkt der Darlegungen der historischen Entwicklung des völkerrechtlichen Schutzes religiöser Minderheiten ist immer wieder der Augsburger Religionsfriede von 1555,3 dessen 550. Wiederkehr wir im September dieses Jahres begehen. Nun lässt sich sicherlich kaum behaupten, dass es sich hierbei um einen völkerrechtlichen Vertrag gehandelt hat. Für das hier zu behandelnde Thema ist er on the European Framework Convention for the Protection of National Minorities, 2005, 25 ff. (27 ff.); G. Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten, 1931, 72 ff.; P. Thornberry, International Law and the Rights of National Minorities, 1991, 25 ff. 3

Vgl. hierzu statt vieler A. Freiherr von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 136, Rdnr. 12 ff.

Religion und Minderheitenschutz

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aber insofern von großer Bedeutung, als er zwar wegen des Grundsatzes cuius regio - eius religio nicht die Einführung der Religionsfreiheit im modernen Sinne bewirkte, aber doch immerhin die grundsätzliche Gleichstellung der evangelischen (lutherischen) mit der katholischen Konfession schuf. Als - wenn auch schwaches - Gegenstück zum Recht des Landesherren auf Konfessionswahl (ius reformandi) begründete er für die Untertanen der jeweils anderen Konfession das Recht, gegen Zahlung einer Abzugsteuer unter Mitnahme ihres Eigentums mit ihren Familien auszuwandern (ius emigrandi). Ohne Frage von völkerrechtlicher Natur sind hingegen die Verträge des Westfälischen Friedens von 1648.4 Im Friedensvertrag von Osnabrück (Instrumentum Pacis Osnabrugense = IPO) finden sich nun eine ganze Reihe von Vorschriften, welche die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens fortentwickeln und für unser Thema von ganz erheblicher Bedeutung sind: Den Anhängern der katholischen und der lutherischen Konfession werden jetzt die Angehörigen des reformierten Bekenntnisses gleichgestellt; dabei ist allerdings zu betonen, dass schon der Augsburger Religionsfriede in seinem § 17 alle nicht ausdrücklich erwähnten Religionen vom allgemeinen Friedensgebot ausnahm - eine Regelung, die in Art. V I I § 2 IPO wiederholt wurde. Weiter wurde zwar in Art. V § 35 IPO bestimmt, dass Untertanen katholischen und protestantischen (lutherisch wie reformiert) Glaubens nicht aufgrund ihres Bekenntnisses „verachtet" werden sollten; ein eigentliches religiöses Selbstbestimmungsrecht war wegen des in Art. V § 30 IPO festgeschriebenen und nur den reichsunmittelbaren Ständen zugewiesenen Rechts auf Bestimmung des religiösen Bekenntnisses (ius reformandi) aber nicht vorgesehen: Den Angehörigen von - modern gesprochen - religiösen Minderheiten wurden nur ein sehr eingeschränktes Recht auf private Andacht in ihren Häusern (devotio domestica) sowie das schon 1555 eingeräumte Recht auf Auswanderung (ius emigrandi) zugestanden. Außerhalb des Heiligen Römischen Reiches gab es einen solchen vertraglichen Ausgleich nur in der Schweiz5 und, in gewissem Umfang, in Siebenbürgen. In den anderen europäischen Staaten blieb die Frage religiöser Toleranz - und damit der Anerkennung religiöser Minderheiten - abhängig von der einseitigen Gewährung durch die jeweilige weltliche Obrigkeit. Ungeachtet des Umstandes, dass einhergehend mit der Aufklärung die Gewährung religiöser Toleranz immer mehr als Selbstverständlichkeit erschien, ist doch zutreffend betont worden, 6 dass in denjenigen europäischen Staaten, die sich - wie England, die Niederlande oder Schwe4

Vgl. zum Folgenden Freiherr von Campenhausen (Anm. 3), § 136, Rdnr. 14 ff.; Grote (Anm. 1), 4 ff. 5 Vgl. Grote (Anm. 1), 10 f. m.w.N. 6 Grote (Anm. 1), 12 f.

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den - mehrheitlich von der katholischen Kirche abgewandt hatten, ein echtes Staatskirchentum entstand, während die katholischen Monarchen nicht auf ihre weitgehenden Ingerenzrechte in die Angelegenheiten der einzigen oder bevorzugten Kirche in ihrem Herrschaftsgebiet verzichteten. Interessant ist aber vor allem, dass sich schon in den Verträgen über Gebietsabtretungen des 17. Jahrhunderts Bestimmungen über den Schutz des konfessionellen status quo ante finden. 7 Dies setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort und greift in gewisser Weise den völkervertraglichen Regelungen vor, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Reaktion auf die seinerzeit bewirkten, ganz erheblichen Veränderungen staatlicher Territorien vereinbart wurden und die zutreffend als die Geburtsstunde des modernen Minderheitenrechts verstanden werden. Als erster einschlägiger Vertrag wird in der Regel der 1660 zwischen Polen, dem Heiligen Römischen Reich, Schweden und Brandenburg geschlossene Vertrag von Oliva genannt, der etwa den katholischen Bewohnern Lettlands, das von Polen an Schweden abgetreten wurde, die ungestörte häusliche Religionsausübung sicherte. Vergleichbare Regelungen zugunsten der Angehörigen der betroffenen katholischen Minderheiten finden sich später im 1678 zwischen Frankreich und den Niederlanden geschlossenen Vertrag von Nijmegen und dem - im Friedensvertrag von Hubertusburg von 1763 bestätigten - vorläufigen Friedensvertrag von 1742 zwischen Preußen und Österreich-Ungarn betreffend die Abtretung Schlesiens an Preußen. Im Zusammenhang mit den Verträgen, welche die polnische Teilung bewirkten, wurden diese Schutzklauseln erstmals auch auf andere christliche Bekenntnisse erstreckt: So wurde etwa im 1773 zwischen Österreich und Polen in Warschau geschlossenen Vertrag bestimmt, dass der besondere Status der nicht unierten Griechisch-Orthodoxen erhalten bleiben sollte. Zu betonen ist allerdings, dass alle diese Regelungen in zweifacher Hinsicht begrenzt waren: Zum einen bezogen sie sich nicht auf religiöse Minderheiten im Allgemeinen, sondern nur auf die in den jeweils abgetretenen Gebieten ansässigen Menschen. Zum anderen wurde keine umfassende Religionsfreiheit garantiert, sondern nur die ungehinderte Religionsausübung in dem Umfang, wie er vor der jeweiligen Gebietsabtretung bestanden hatte (status quo ante bellum). Selbst dieser Grundsatz wurde nicht immer eingehalten: So wurde die den Katholiken, die in den durch die Friedensverträge zwischen Frankreich und Großbritannien von Utrecht (1713) und Paris (1763) an Großbritannien abgetretenen französischen überseeischen Territorien lebten, eingeräumte Religionsausübungsfreiheit unter den Vorbehalt gestellt, dass sie mit den britischen Gesetzen vereinbar sei. 7

Vgl. zum Folgenden Grote (Anm. 1), 13 ff., und ausführlich H. Wintgens, Der völkerrechtliche Schutz der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, 1930, 66 ff.

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Von großer Bedeutung ist aber vor allem auch der Umstand, dass hier einschlägige Regelungen nicht nur in die zwischen christlichen Mächten geschlossenen Verträge Eingang fanden, sondern seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts immer wieder Verträge mit dem Osmanischen Reich zum Schutz der in dessen Territorium lebenden Christen geschlossen wurden. Den Anfang machte der schon 1615 zwischen Kaiser Matthias und Sultan Ahmet I. vereinbarte Vertrag von Wien, der den katholischen Christen das Recht sicherte, Kirchen zu bauen und dort Gottesdienste abzuhalten. Vergleichbare Bestimmungen finden sich später im Vertrag von Karlowitz aus dem Jahr 1699 zwischen Polen und der Hohen Pforte und dem Vertrag von Koutchouk-Kainardji von 1774 zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich, in dem sich die Hohe Pforte nicht nur zur Abtretung der Bukowina an Österreich, sondern auch zum Schutz aller Christen, auch der Orthodoxen, verpflichtete. Zu betonen ist zum einen, dass diese Verträge, im Unterschied zu den zwischen den christlichen Mächten geschlossenen, keinerlei territoriale Begrenzung vorsahen, und zum anderen, dass sich die Hohe Pforte in ihnen letztlich nur völkerrechtlich zur Einhaltung des innerstaatlichen Rechtszustandes verpflichte: Das im Osmanischen Reich geltende „millet"-System gestand den nicht-islamischen Glaubensgemeinschaften ohnehin - bei Erfüllung ihrer Tributpflichten weitgehende Autonomie bei der Regelung ihrer zivilen und religiösen Angelegenheiten zu und ging damit weit über das in den christlichen Staaten übliche Maß an Religionsfreiheit hinaus.8

II. Vom Wiener Kongress 1815 bis zum Ersten Weltkrieg Wie Grote 9 zutreffend feststellt, wurde mit der Überwindung des überkommenen cuius regio - eius religio-Grundsatzes durch die Anerkennung eines allgemeinen Prinzips der individuellen Religionsfreiheit und der beginnenden Trennung von Staat und Kirche als Folge der revolutionären Umwälzungen in Nordamerika und Westeuropa am Ende des 18. Jahrhunderts auch ein entsprechender Wandel in der Praxis des völkervertraglichen Schutzes religiöser Minderheiten vorbereitet. 10 So gewährte etwa das 1815 geschlossene Abkommen über die Personalunion zwischen Belgien und den Niederlanden allen Bekenntnissen unter der Geltung der niederländischen Verfassung gleichen Schutz, während vom unabhängig gewordenen Griechenland auf der Londoner Konferenz von 1830 die staatsbürgerliche Gleichbehandlung aller Untertanen ohne Unterschied des Bekenntnisses verlangt wurde. Im Zuge der Zurückdrängung des Osmanischen Reiches vom Balkan wurden dann 8

So zutreffend Thornberry

9

Grote (Anm. 1), 17.

1()

(Anm. 2), 29.

Vgl. zum Folgenden auch Thornberry

(Anm. 2), 30 ff.

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den die ehemals türkischen Gebiete übernehmenden Staaten Verpflichtungen zur Gleichbehandlung der muslimischen Minderheiten, aber zunehmend auch der Juden auferlegt. Im Unterschied zu den früheren Verträgen wurde aber nicht nur der universale, also allen - und nicht nur den christlichen - Glaubensgemeinschaften zugestandene Charakter der Religionsfreiheit garantiert, sondern auch das Recht auf kollektive - und nicht mehr nur individuelle - Religionsausübung einbezogen. Am deutlichsten zeigte sich dies wohl im Berliner Vertrag von 1878, der detaillierte Regelungen über den künftigen Schutz der Religionsfreiheit in den neu entstehenden Staaten Südosteuropas und im Osmanischen Reich enthielt: Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen, Garantie der Freiheit der öffentlichen Religionsausübung und Recht der Glaubensgemeinschaften auf Gestaltung ihrer inneren Organisation. 11 Ein weiterer bemerkenswerter Umstand ist die „Internationalisierung" des Schutzes der Rechte religiöser Minderheiten auf dem Balkan und im Osmanischen Reich.12 Dies zeigte sich nicht nur an den Forderungen gegenüber Griechenland im Jahre 1830, sondern besonders nachdrücklich im 1856 mit dem Sultan in Paris geschlossenen Friedensvertrag, in dem die von diesem zugesicherte Wahrung der Religionsfreiheit der christlichen Bevölkerung als gemeinsame Angelegenheit der beteiligten europäischen Mächte behandelt wird. Im Berliner Vertrag von 1878 wurde diese Haltung bestätigt. Zutreffend wird aber auch betont, dass dieses System eines völkervertraglichen Schutzes religiöser Minderheiten gravierende Defizite aufwies. 13 Zum einen galt es keineswegs universell, sondern nur für den Balkan und das Osmanische Reich, war also höchst selektiv; zum anderen waren die europäischen Garantiemächte kaum bereit, die von den christlichen Staaten Südosteuropas eingegangenen Verpflichtungen in der Praxis auch einzufordern, geschweige denn durchzusetzen.

III. Die Völkerbundszeit Dieser „selektive Ansatz" - heute würde man wohl von double standards sprechen - und die mangelnde Bereitschaft, die eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten bzw. durchzusetzen, charakterisierten dann auch das in der Zwischenkriegszeit geltende, unter der Ägide des Völkerbundes bestehende völkervertragliche System zum Schutz von Minderheiten, wobei insofern eine ganz bedeutsame Verschiebung des Schutzansatzes bzw. -Objektes eintrat: Im Mittelpunkt standen 11

Vgl. Grote (Anm. 1), 19 f.

12

Grote (Anm. 1), 20.

13

So zu Recht Grote (Anm. 1), 21 f.; vgl. auch Thornberry

(Anm. 2), 26.

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nicht länger die religiösen, sondern die nationalen Minderheiten, womit aber letztlich nur dem im 19. Jahrhundert eingesetzten Wandel Rechnung getragen wurde; im Zeitalter des religiös zumeist indifferenten Nationalstaates ging es zwangsläufig in erster Linie um die Lage der nationalen und nicht mehr der religiösen Minderheiten. 14 Dieses System war letztlich eine Reaktion auf die durch den Ersten Weltkrieg und die seine Folgen regelnden Pariser Vorortverträge bedingten Gebietsveränderungen und sollte nicht zuletzt auch die politische Stabilität der neuen territorialen Ordnung Europas sichern, indem es vielen, zum Teil neu entstandenen nationalen Minderheiten ein völkervertraglich gesichertes Mindestmaß an Rechten garantierte. Es gründete sich vor allem auf die von Polen, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Griechenland mit den Alliierten geschlossenen Verträge und einschlägige Bestimmungen in den Friedensverträgen mit Bulgarien, Österreich, der Türkei und Ungarn. Es wurde vervollständigt durch eine Reihe bilateraler Verträge, nämlich zwischen Finnland und Schweden zu den AlandInseln, zwischen Deutschland und Polen zu Oberschlesien, zwischen Österreich und der Tschechoslowakei zu den Sudetengebieten, zwischen Finnland und der Sowjetunion zu Ostkarelien, zwischen Polen und der Freien Stadt Danzig betreffend deren polnischsprachige Bewohner und zwischen den Alliierten und Litauen zum Memelgebiet; hinzu kamen eine Reihe einseitiger Erklärungen, die von Albanien, den baltischen Staaten und dem Irak bei ihrer jeweiligen Aufnahme in den Völkerbund abgegeben wurden. Dieses auf den genannten Rechtsakten beruhende System beschäftigte zwar immer wieder den Ständigen Internationalen Gerichtshof, 15 scheiterte aber letztlich 14

Vgl. zum Folgenden etwa Capotorti (Anm. 2), 412 f.; Eide (Anm. 2), 33 ff.; Grote (Anm. 1), 23 ff.; R. Hofmann, Menschenrechte und der Schutz nationaler Minderheiten, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 65 (2005), 587 ff. (589 ff.); Thornberry (Anm. 2), 38 ff.; ausführlich zum Minderheitenschutzsystem unter dem Völkerbund siehe A. Balogh, Der internationale Schutz der Minderheiten, 1928; Erler (Anm. 2), 127 ff.; E. Flachbarth, System des internationalen Minderheitenrechts, 1937; H. Kraus, Das Recht der Minderheiten, 1927; A. Mandelstam, La protection internationale des minorités, 1931; aus jüngerer Zeit C. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, 1979. 15 Von besonderer Bedeutung war das Gutachten zur Frage der Minderheiten-Schulen in Albanien vom 6.4.1935 (Case Concerning the Minority Schools in Albania ), PCIJ Series A/B No. 64, in dem die minderheitenspezifischen Ziele dieses Systems herausgestellt wurden. Zum einen sollte die völlige Gleichheit zwischen den Angehörigen von Minderheiten und den anderen Staatsangehörigen eines Staates gesichert und zum anderen den Angehörigen von Minderheiten angemessene Mittel zur Wahrung ihrer eigenständigen Identität gegeben werden.

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an der immer stärker abnehmenden Bereitschaft der Staaten, in einer von zunehmend aggressivem Nationalismus geprägten Zeit ihre rechtlichen Verpflichtungen einzuhalten; hinzu kamen die fehlende Befugnis und auch der mangelnde Wille des Völkerbundes, die Anwendung dieses Systems wirklich durchzusetzen.16 Mit Ausnahme des finnisch-schwedischen Abkommens zu den Aland-Inseln vom 27. Juni 1921,17 das auch heute noch in Kraft ist, gelten alle anderen genannten Verträge und Erklärungen als obsolet und daher rechtlich unbeachtlich.18 Auch wenn fast alle diese Verträge den Schutz nationaler Minderheiten in den Vordergrund rückten, wurde jedenfalls - in den Pariser Vorortverträgen - auch der Aspekt der Religionsfreiheit einbezogen: In ihnen mussten sich die betroffenen Staaten verpflichten, allen Einwohnern das freie öffentliche und private Bekenntnis ihres Glaubens, ihrer Religion und ihrer Überzeugung zu garantieren, soweit es mit der öffentlichen Ordnung und Moral vereinbar war. Ferner durfte bezüglich des Zugangs zum öffentlichen Dienst sowie zu Berufen und Gewerben niemand wegen seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Diese allgemeinen Garantien wurden durch eine Reihe spezieller Rechte für bestimmte religiöse Minderheiten wie etwa der Juden in Polen, Griechenland und Rumänien oder der Muslime in Albanien, Griechenland und Jugoslawien ergänzt. 19 Für die hier zu behandelnde Thematik von besonderer Bedeutung ist der griechisch-türkische Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923,20 der auch heute noch in Kraft ist und die wichtigste völkerrechtliche Grundlage des Minderheitenschutzes in beiden Staaten darstellt. 21 Er schützt zum einen die „muslimischen Bewohner von West-Thrazien", denen neben dem Recht auf freie private wie öffentliche Religionsausübung unter anderem folgende weitere Rechte gewährt sind: Anspruch auf umfassende Gleichbehandlung mit allen griechischen Staatsangehörigen (Diskriminierungsverbot); sich in Fragen des Ehe-, Familien- und Erbrechts nicht nur an die staatlichen Zivilgerichte, sondern auch an die zuständi16

Vgl. nur Capotorti (Anm. 2), 413, und Thornberry

(Anm. 2), 46 ff.

17

Zur Rechtslage der Aland-Inseln siehe die Beiträge in: L. Hannikainen/F. Horn (eds.), Autonomy and Demilitarisation in International Law: The Aland Islands in a Changing Europe, 1997, und umfassend M. Suksi, Alands konstitution, 2005. 18 Vgl. nur Capotorti (Anm. 2), 413. 19 20

Vgl. Grote (Anm. 1), 23 f.

LNTS Vol. 28 No. 12.; vgl. hierzu auch R. Hofmann, Minderheitenschutz in Europa, 1995, 167 ff. 21 Vgl. zum Folgenden die Beiträge von A. Filos, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Griechenland, einerseits, und von C. Rumpf Die rechtliche Stellung der Minderheiten in der Türkei, andererseits; beide in: J. A. Frowein/R. Hofmann/S. Oeter (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Teil 2, 1994,61 ff. bzw. Teil 1, 1993, 448 ff.

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gen Mufti-Ämter zu wenden; türkischsprachige Presseerzeugnisse herauszugeben; sich der türkischen Sprache im privaten wie öffentlichen Bereich bedienen zu dürfen sowie staatlich finanzierte Primär- und Sekundärschulen besuchen zu können. Zum anderen gewährt der Vertrag den „nicht-muslimischen Minderheiten" der Türkei entsprechende Rechte. Interessant ist hier vor allem, dass aufgrund religiöser Zugehörigkeit bestimmten Minderheiten nicht nur die für religiöse Minderheiten bedeutsamen Rechte zugestanden werden, sondern auch solche Rechte, die üblicherweise nach ethnischen oder sprachlichen Kriterien bestimmten nationalen Minderheiten gewährt werden - wie insbesondere Rechte auf Gebrauch und Unterricht der jeweiligen Minderheitensprache.

IV. Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahmen die Vereinten Nationen zunächst nichts, um das alte System des Völkerbundes wieder zu beleben oder es durch ein eigenes System zu ersetzen.22 Dies entsprach durchaus der damals vorherrschenden Auffassung, dass das vormalige System des Schutzes der Rechte nationaler Minderheiten, die als Gruppenrechte konzipiert waren, ohne weiteres durch ein auf dem Schutz von Individualrechten beruhendes Menschenrechtssystem ersetzt werden könne.23 Daher enthält auch keiner der am 10. Februar 1947 in Paris unterzeichneten Friedensverträge mit Bulgarien, Finnland, Rumänien und Ungarn minderheitenspezifische Regelungen, sondern nur allgemeine Diskriminierungsverbote und Garantien der Religionsfreiheit; 24 eine Ausnahme stellt allein der Friedensvertrag mit Italien dar, dem das Gruber-de Gaspari-Abkommen vom 5. September 1946 zu Südtirol beigefügt wurde. 25 Hinzu kamen dann noch am 29. 22

So enthalten weder die Charta der Vereinten Nationen noch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 Bestimmungen zu nationalen Minderheiten; vgl. hierzu Eide (Anm. 2), 37 ff.; Hofmann (Anm. 14), 590 f.; Thornberry (Anm. 2), 133 ff. 23 Die vor allem in der Wissenschaft recht lange intensiv geführte Diskussion, ob Minderheitenrechte heute als Individual- oder Gruppenrechte zu verstehen sind, hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung verloren und gilt vielen Autoren als inhaltlich überholt. Immerhin sei angemerkt, dass die völkerrechtlichen Dokumente zum Schutz der Rechte nationaler Minderheiten durchgängig von Individualrechten ausgehen, die allerdings „in Gemeinschaft mit anderen" ausgeübt werden können; vgl. zur Gesamtproblematik R. Hofmann, Minority Rights: Individual or Group Rights? A Comparative View on European Legal Systems, German Yearbook of International Law (GYIL) 40 (1998), 356 ff. 24 Vgl. Grote (Anm. 1) und Hofmann (Anm. 14), 590. 25 Zur aktuellen Rechtslage in Südtirol siehe die Beiträge in: J. Marko (Hrsg.), Die Verfassung der Südtiroler Autonomie, 2004.

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März 1955 die Bonn-Kopenhagener Erklärungen, die - obwohl eigentlich kein völkerrechtlicher Vertrag - als rechtliche Grundlage einer politischen Entwicklung dienten, die das deutsch-dänische Grenzgebiet, neben den Aland-Inseln und Südtirol, zu einer der Regionen Europas werden ließ, die von vielen als Vorbilder für eine gelungene Lösung einer zuvor durchaus problematischen Minderheitensituation gesehen werden. 26 Dennoch spielten Fragen des Schutzes der Rechte nationaler und religiöser Minderheiten in Europa bis zum Zerfall des Sozialismus keine größere Rolle; so enthält die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als das wichtigste vom Europarat erarbeitete völkervertragliche Menschenrechtsinstrument mit ihrem Art. 9 zwar eine Bestimmung zum Schutz der Religionsfreiheit, aber keine spezifischen Minderheitenrechte. Anders verlief angesichts der Haltung der Staatengemeinschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erstaunlich - die Entwicklung auf universeller Ebene, also im Bereich der Vereinten Nationen. Sie wird daher auch zunächst dargestellt werden. Während sich der Völkerbund, wie erwähnt, vor allem dem Schutz der (nationalen) Minderheiten gewidmet hatte, erkoren die Vereinten Nationen, in Übereinstimmung mit Art. 1 Ziff. 3 und 55 lit. c) VN-Charta, die Menschenrechte zu einem ihrer wichtigsten Tätigkeitsfelder. Erstes Ergebnis war die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948.27 Sie gewährt, in Einklang mit der früheren Verfassungs- und Völkerrechtspraxis, 28 in Art. 2 allen Menschen einen Anspruch auf Genuss aller in der Erklärung aufgezählten Rechte; eine Diskriminierung aus Gründen der Religion ist nicht zulässig. Die in Art. 18 genannte Religionsfreiheit umfasst neben der Freiheit, eine Religion zu haben und zu konvertieren, auch das Recht, diese Religion durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollzug von Riten öffentlich oder privat auszuüben.29 Diese - wie andere - Formulierungen dienten als Vorbild für die einschlägigen Gewährleistungen in den bindenden Instrumenten des universellen wie regionalen Menschenrechtsschutzes, wie sich am Wortlaut von Art. 18 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR), Art. 9 EMRK oder Art. 12 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) deutlich zeigt. 30 26

Zu Inhalt und Bedeutung der Bonn-Kopenhagener-Erklärungen siehe die Beiträge in: J. Kühl/M. Weller (eds.), Minority Policy in Action: The Bonn-Copenhagen Declarations in a European Context 1955-2005, 2005. 27 Zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte siehe G. Alfredsson/A. Eide (eds.), The Universal Declaration of Human Rights: A Common Standard of Achievement, 1999. 28

Für einen Überblick siehe Freiherr von Campenhausen (Anm. 3), § 136, Rdnr. 23 ff.

29

Vgl. M. Scheinin, Article 18, in: Alfredsson/Eide (Anm. 27), 379 ff.

30

Zur Religionsfreiheit im Völkerrecht siehe etwa J. A. Frowein, Religionsfreiheit und internationaler Menschenrechtsschutz, in: Grote/Marauhn (Anm. 1), 73 ff.; N. Lerner, Religious Human Rights Under The United Nations, in: J. D. van de Vyver/J. de Witte

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Im Unterschied zu den Menschenrechten unternahmen die Vereinten Nationen zunächst keine vergleichbaren Anstrengungen im Bereich der Rechte nationaler oder religiöser Minderheiten. Dies änderte sich in den 1960er Jahren deutlich.31 An zeitlich erster Stelle steht das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. April 1966 (CERD), dessen Bestimmungen, vor allem der bekannte Art. 5, von dem zur Überwachung der Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft im Übereinkommen ergebenden staatlichen Pflichten zuständigen Ausschuss zu einem auch für nationale wie religiöse Minderheiten wichtigen Instrument entwickelt wurden. 32 Gleichwohl wird allgemein Art. 27 IPbürgR als die bedeutendste vertragliche Regelung des universellen Völkerrechts zum Schutz der Rechte von Angehörigen nationaler (und religiöser) Minderheiten angesehen.33 Ziel der Vorschrift ist die Sicherung der eigenständigen - nämlich kulturellen, religiösen und sozialen Identität der betroffenen Minderheit als Ganzes. Allerdings ist Art. 27 IPbürgR kein kollektives Schutzrecht für Minderheiten, sondern ein Individualrecht zugunsten ihrer Angehörigen, weshalb eine angebliche Verletzung - im Unterschied zum

(eds.), Religious Human Rights in Global Perspective, 1996, 79 ff., und B. Tahzib, Freedom of Religion or Belief, 1996. 31

Vgl. die Überblicke über diese Entwicklung bei Capotorti (Anm. 2), 413 ff.; Eide (Anm. 2), 39 ff.; Thornberry (Anm. 2), 257 ff. 32

Vgl. hierzu etwa N. Lerner (Anm. 30), 105 ff., und R. Wolfrum, The Committee on the Elimination of Racial Discrimination, Max Planck Yearbook of United Nations Law 3 (1999), 489 ff.; zu Fragen des Minderheitenschutzes unter CERD siehe id., Der völkerrechtliche Schutz religiöser Minderheiten und ihrer Mitglieder, in: Grote/Marauhn (Anm. 1), 53 ff. (61 ff.), und id., Das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Herkunft, Sprache oder Hautfarbe im Völkerrecht, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, 213 ff. 33

Zu dieser Vorschrift vgl. die Kommentierungen von S. Joseph/J. Schultz/M. Castan, in: id. (eds.), The International Covenant on Civil and Political Rights, 2. Aufl. 2004, 752 ff.; R. Hofmann/N. Boldt, Kommentar zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in: Das deutsche Bundesrecht, Teil I A 10 c, 2005, 21 ff., und M. Nowak, in: id., UN Covenant on Civil and Political Rights: CCPR-Commentary, 2. Aufl. 2005, sowie die Beiträge von R. Burchill, Minority Rights, in: A. Conte/S. Davidson/R. Burchili (eds.), Defending Civil and Political Rights - The Jurisprudence of the United Nations Human Rights Committee, 2004, 183 ff.; Hofmann (Anm. 14), 591 ff.; D. Kugelmann, Minderheitenschutz als Menschenrechtsschutz, Archiv des Völkerrechts 39 (2001), 233 ff.; P. Leuprecht, Minority Rights Revisited: New Glimpses of an Old Issue, in: P. Alston (ed.), Peoples' Rights, 2001, 111 ff., und Wolfrum, Der völkerrechtliche Schutz religiöser Minderheiten und ihrer Mitglieder, in: Grote/Marauhn (Anm. 1), 53 ff. (65 ff.).

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Selbstbestimmungsrecht - auch durch eine individuelle Mitteilung gerügt werden kann.34 Von einiger Bedeutung ist ferner Art. 14 der Konvention über die Rechte der Kinder (CRC) vom 20. November 1989.35 Im Unterschied zu Art. 18 IPbürgR enthält Art. 14 CRC wegen des starken Widerstandes der islamischen Staaten aber keine ausdrückliche Garantie des Rechtes auf Wechsel der Religion. 36 Für Kinder, die religiösen Minderheiten angehören, ist Art. 30 CRC von Bedeutung, der den Wortlaut von Art. 27 IPbürgR wiederholt. 37 Hinzuweisen ist schließlich noch auf die am 18. Dezember 1992 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Konsens angenommene „Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious, and Linguistic Minorities". 38 Die tatsächliche Bedeutung dieses - als Resolution der Generalversammlung rechtlich nicht verbindlichen - Dokuments kann aber nur als gering angesehen werden. 39 Um den Umfang dieses Beitrags nicht zu sprengen, wird sich die Darstellung der einschlägigen Rechtsentwicklungen auf regionaler Ebene auf Europa beschränken. Dies lässt sich auch damit rechtfertigen, dass hier mit der EMRK und der Rahmenkonvention des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten die mit Abstand wichtigsten regionalen Instrumente zum Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten bestehen. In Art. 9 EMRK wird neben der Gedanken-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit auch die Religionsfreiheit gewährleistet. 40 Dabei werden Religions- und Weltanschauungsfreiheit in jeglicher Form geschützt; umfasst ist das forum internum wie das forum externum , also der Glaube selbst und seine Ausübung. 34

Chief Ominayak and the Lubicon Lake Band v. Canada. Comm. 167/84, Beschluss vom 10.5.1990. 35 Vgl. hierzu etwa M. Bossuyt, La Convention des Nations Unies sur les droits de l'enfant, Revue Universelle des Droits de l'Homme 2 (1990), 141 ff., und G. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, 1994. 36 Vgl. Dorsch (Anm. 35), 137, und N. Lerner, Proselytism, Change of Religion, and International Human Rights, Emory International Law Review 12 (1998), All ff. (537). 37 Vgl. Dorsch (Anm. 35), 145. 38

UN Doc. GA/Res. 47/135; vgl. hierzu die Beiträge in: A. Phillips/A. Rosas (eds.), The UN Minority Rights Declaration, 1993; Α. Eide, Commentary on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious, and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN.4/ Sub.2/AC.5/2001 /2; Hofmann (Anm. 20), 23 ff. 39 Vgl. Hofmann (Anm. 14), 593. 40 Zur Religionsfreiheit in der EMRK vgl. statt aller C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, 219 ff.

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Ausdrücklich garantiert ist auch das Recht auf Wechsel der Religion. Welche Folgerungen sich aus der zunehmenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Religionsfreiheit für die Rechte religiöser Minderheiten ergeben, wird im weiteren Verlauf des Beitrags dargestellt. 41 Andererseits ist zu berücksichtigen, dass sich der EGMR wegen des Fehlens einer minderheitenspezifischen Bestimmung in der EMRK bislang noch eher selten zu nationalen bzw. religiösen Minderheiten in besonderer Weise geäußert hat. 42 Bezüglich des Bestandes von Minderheitenrechten in Europa ist zu betonen, dass es nach dem Zerfall der sozialistischen Regime zu einer sehr beachtlichen Zunahme von bilateralen Verträgen zum Schutz nationaler Minderheiten kam. Heute besteht ein dichtes Netz vertraglicher Bindungen zwischen praktisch sämtlichen mittel- und osteuropäischen Staaten.43 Daneben kam es aber vor allem zu einem enormen Anstieg internationaler Bemühungen um die Schaffung multilateraler Strukturen zum Schutz von Minderheitenrechten. 44 Erstes Ergebnis war die Annahme des Kopenhagener Abschlussdokuments vom 29. Juni 1990 der „Conference on the Human Dimension" der damaligen KSZE, das in seinem Teil IV detaillierte Standards für Minderheitenrechte enthält. Zwar ist es kein rechtlich verbindliches Dokument, hatte aber ganz erheblichen Einfluss auf die seitherige minderheitenrechtliche Entwicklung in Europa. 45 Das entsprechende Engagement der KSZE-Mitgliedstaaten spiegelte sich dann auch in der am 21. November 1990 angenommenen „Charta von Paris für ein Neues Europa" wider. Wichtigster Schritt war aber sicherlich die im Juli 1992 getroffene Entscheidung, das Amt eines „High Commissioner on National Minorities" (HCNM) zu schaffen, dem die Funktion eines „instrument of conflict prevention" zugewiesen wurde. 46 Zu dieser 41

Siehe unten unter C.

42

Vgl. insofern R. Hofmann, Nationale Minderheiten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in: J. Bröhmer et al. (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg Ress, 2005, 1011 ff.; G. Pentassuglia, Minority Issues as a Challenge in the European Court of Human Rights, G Y I L 4 6 (2003), 401 ff. ; vgl. auch R. Medda-Windischer, The Jurisprudence of the European Court of Human Rights, European Yearbook of Minority Issues 1 (2003), 487 ff., und 2 (2004), 445 ff. 43 Vgl. E. Lantschner/R. Medda-Windischer, Protection of National Minorities Through Bilateral Agreements in South Eastern Europe, European Yearbook of Minority Issues 1 (2003), 535 ff. 44 Siehe zum Folgenden Hofmann (Anm. 14), 594 ff. 45 46

Vgl. Hofmann (Anm. 20), 34 ff.

Vgl. hierzu umfassend C. Höhn, Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention Der Minderheitenschutz im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 2005; siehe auch M. van der Stoel, The Role of the OSCE High Commissioner on National Minorities in the Field of Conflict Prevention, Recueil de Cours (RdC) 296 (2002), 9 ff.

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Aufgabe der Konfliktprävention gehört auch die Beauftragung unabhängiger Experten mit der Erarbeitung von inhaltlichen Empfehlungen zu innerstaatlichen Regelungen minderheitenrelevanter Rechtsbereiche, wie z.B. Erziehung, Sprachenrechte und Teilhabe am öffentlichen Leben.47 Im Unterschied zu diesem Ansatz der KSZE/OSZE verfolgte der Europarat seine Tradition der Ausarbeitung völkerrechtlicher Verträge. Die entsprechenden Anstrengungen führten schließlich zur Annahme zweier Abkommen: Die für die hier zu erörternde Problematik nicht einschlägige „Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen" vom 5. November 199248 und - vor allem das schon erwähnte„Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten" (FCNM) vom 1. Februar 1995. Es ist in kurzer Zeit zum unbestritten wichtigsten völkervertraglichen Instrument des europäischen Minderheitenschutzes geworden 49 und gewährt in seinem Art. 7 Personen, die nationalen Minderheiten angehören, das Recht auf Religionsfreiheit, das dann in Art. 8 FCNM weiter präzisiert wird. 50

V. Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt zunächst, dass der Schutz religiöser Minderheiten ein historisch ausgesprochen wichtiges Element der Entwicklung des völkerrechtlichen Schutzes sowohl der Menschen- wie der eigentlichen Minderheitenrechte war. Dennoch gibt es heute kein völkervertragliches Instrument, das ausschließlich den spezifischen Problemen religiöser Minderheiten gewidmet ist. 51 Umfang und Inhalt der den religiösen Minderheiten zustehenden Rechte ist daher auf der Grundlage der erwähnten Instrumente, d.h. vor allem IPbürgR, CERD, EMRK und FCNM zu bestimmen. Zuvor ist aber zu klären, welche Voraussetzungen eine 47

Vgl. hierzu R. Hofmann, New Standards for Minority Issues in the Council of Europe and the OSCE, in: Kühl/Weller (Anm. 26), 239 ff. (247 f.). 48 Vgl. z.B. S. Pfeil, Ziele der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und Möglichkeiten staatlicher Unterstützung, Europa Ethnica 60 (2003), 24 ff. 49 Für einen Überblick siehe R. Hofmann, The Framework Convention for the Protection of National Minorities: An Introduction, in: Weller (Anm. 2), 1 ff.; für eine umfassende Darstellung siehe R. Hofmann, Zur Überwachung der Umsetzung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten - Eine Bilanz nach fünf Jahren, Europa Ethnica 61 (2004), 3 ff. ; vgl. auch Hofmann (Anm. 14), 595 ff. 50 Vgl. zu beiden Bestimmungen die umfangreichen Kommentierungen von Z. Machnyikova, in: Weller (Anm. 2), 193 ff. und 225 ff. 51 Insofern sei darauf verwiesen, dass die ursprünglich in den Vereinten Nationen unternommenen Anstrengungen zu Ausarbeitung und Abschluss eines Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form religiöser Intoleranz nicht mehr weiterverfolgt werden; vgl. Wolfrum (Anm. 33), 54.

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Gruppe von Menschen erfüllen muss, um als religiöse Minderheit anerkannt zu werden.

C. Der Begriff der religiösen Minderheit Es gibt noch immer keine allseits anerkannte völkerrechtliche Definition des Begriffs der Minderheit. Die meisten Varianten gehen auf den Vorschlag von Francesco Capotorti aus den späten 1970er Jahren 52 zurück und umfassen objektive wie subjektive Elemente, nämlich objektive Unterschiede gegenüber der Mehrheitsbevölkerung bezüglich Geschichte, Kultur, Religion, Sprache und geringere Personenzahl sowie, als subjektives Element, den gemeinsamen Willen der Gruppenmitglieder, ihre eigenständige Identität zu erhalten. Diese Elemente sind letztlich auch nicht umstritten; in Wirklichkeit geht es in der Praxis wie im Schrifttum heute zumeist um den Gegensatz zwischen den so genannten „alten" und „neuen" oder autochthonen und allochthonen Minderheiten. Auf universeller Ebene, wo die einschlägigen Texte, insbesondere Art. 27 IPbürgR und die erwähnte Minderheitendeklaration der Generalversammlung, religiöse Minderheiten als eigenständige Kategorie neben ethnischen und sprachlichen Minderheiten nennen, bestand und besteht wohl noch immer eine gewisse Unklarheit, ob den Angehörigen religiöser Minderheiten andere Rechte zustehen als den Personen, die zu den beiden anderen Kategorien zählen. In Europa ist diese Frage, wie noch zu zeigen ist, aufgrund der einschlägigen Praxis dahin geklärt, dass religiöse Minderheiten als nationale Minderheiten im Sinne des Rahmenübereinkommens anzusehen sind. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt untersucht, ob und ggf. in welchem Umfang auch „neue" (allochthone) Minderheiten als religiöse Minderheiten im Sinne des universellen und regionalen (europäischen) Völkerrechts anerkannt werden. In einem zweiten Schritt wird - wiederum getrennt nach den beiden Ebenen - die Frage behandelt, ob ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten jeweils als getrennte Kategorien mit eigenen Rechten zu sehen sein oder letztlich als Untergruppen einer einzigen Kategorie „Minderheit" gelten müssen.

I. „Alte" und „neue" religiöse Minderheiten Für den Anwendungsbereich des Art. 27 IPbürgR ist diese Frage - jedenfalls aus der Sicht des Human Rights Committees als desjenigen Organs, das zur Überwachung der aus einer entsprechenden Mitgliedschaft fließenden staatlichen Pflichten 52 F. Capotorti , Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious or Linguistic Minorities, U N Doc.E/CN.4/Sub.2/384/Rev.l, 1979.

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zuständig ist - geklärt: Bekanntlich hat es in seinem General Comment zu Art. 27 IPbürgR 53 ausgeführt, dass Angehörige einer der in Art. 27 IPbürgR genannten Kategorien von Minderheiten nicht notwendig Staatsangehörige des jeweiligen Vertragsstaates sein müssen, um sich auf den Schutz aus Art. 27 IPbürgR berufen zu können. Auch wenn diese Auffassung sicherlich nicht unumstritten ist 54 und durchaus fraglich sein mag, ob sie von der Mehrheit der Vertragsstaaten geteilt wird, erscheint sie vorzugswürdig: Zum einen spricht Art. 27 IPbürgR von „persons" und nicht - wie etwa seinerzeit vom indischen Vertreter in der Menschenrechtskommission vorgeschlagen 55 - von „citizens"; zum anderen ist sie auch systematisch geboten, da sich entsprechend Art. 2 IPbürgR auch Ausländer auf Rechte aus Art. 27 IPbürgR berufen können.56 Bestätigt wird dies auch durch die insofern recht eindeutige Entstehungsgeschichte der Minderheitendeklaration der Generalversammlung. 57 Allerdings wird zumeist eine gewisse Verfestigung des Aufenthaltes gefordert, was zutreffend zum einen mit dem Hinweis auf den Wortlaut, nämlich „exist", und zum anderen mit dem Argument begründet wird, dass ansonsten kein Unterschied zur Gewährung der Religionsfreiheit in Art. 18 IPbürgR bestehe, die etwa auch Touristen zusteht.58 Dies bedeutet, dass sich in den Vertragsstaaten des IPbürgR grundsätzlich auch Angehörige zugewanderter religiöser Minderheiten, in Deutschland also etwa Muslims, auf den Schutz aus Art. 27 IPbürgR berufen können. Grundsätzlich anders stellt sich die Lage in den Mitgliedstaaten des Europarats, insbesondere des Rahmenübereinkommens, dar. 59 Ungeachtet aller Einflüsse seitens der befassten Gremien der Vereinten Nationen scheint eine Mehrheit der europäischen Staaten solchen „neuen" Minderheiten immer noch die Anerkennung 53

General Comment No. 23 (50) on Article 27 vom 6.4.1994, para. 5.1, UN Doc.CCPR/C/21/ rev.l/Add.5. 54 Für die gegenteilige Auffassung siehe etwa F. Ermacora, The Protection of Minorities Before the United Nations, RdC 182 (1983), 247 ff. (305). 55 UN Doc.A/C.3/SR.l 103, § 38; vgl. auch Y. Dinstein, Freedom of Religion and the Protection of Religious Minorities, Israel Yearbook of International Law 20 (1990), 155 ff. (167); C. Tomuschat, Protection of Minorities and Article 27 of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Festschrift für Hermann Mosler, 1983, 949 ff. (960 ff.), und R. Wolfrum, The Emergence of 'New Minorities' as a Result of Migration, in: C. Brölmann/R. Lefeber/M. Zieck (eds.), Peoples and Minorities in International Law, 1993, 153 ff. (163). 56 So Hofmann/Boldt (Anm. 33), 66. 57

Vgl. nur Thornberry

58

Vgl. Tomuschat (Anm. 55), 960, und Wolfrum

59

(Anm. 2), 28. (Anm. 33), 57.

Vgl. zum Folgenden Hofmann (Anm. 14), 601 f. mit umfassenden Nachweisen zur Spruchpraxis des Advisory Committee.

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jedenfalls als nationale Minderheit zu verweigern. Während sich der EGMR mit dieser Frage - im Unterschied zu dem Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Gruppe von Personen, die sich als nationale Minderheit fühlt, die staatliche Anerkennung verweigert werden darf, wenn mit einer solchen Anerkennung gewisse, vom Völkerrecht an sich nicht geforderte Rechte bzw. Privilegierungen verbunden sind 60 - noch nicht befassen musste, hat das für die Überwachung der Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft im Rahmenübereinkommen ergebenden staatlichen Pflichten vor allem zuständige Advisory Committee durchgängig erklärt, dass sich aus dem Wortlaut einiger Bestimmungen - wie etwa Art. 11 Abs. 3 FCNM - eindeutig ergibt, dass sie nur für Angehörige „alter" Minderheiten gelten, während gleichermaßen eindeutig ist, dass sich alle Menschen, also auch Angehörige „neuer" Minderheiten, auf Art. 6 FCNM berufen können. Für die hier zu erörternde Problematik, ob sich auch Angehörige „neuer" religiöser Minderheiten auf die Bestimmungen des Rahmenübereinkommens berufen können, ist entscheidend, dass das Advisory Committee in ständiger Praxis ausgeführt hat, dass manche andere Bestimmungen - wozu eben namentlich Art. 7 und 8 FCNM zählen - eine Anwendung auch auf Angehörige „neuer" Minderheiten nicht ausschlössen. Es hat daher durchgängig einen „inclusive approach" empfohlen; ob es so die eher gegenläufige Tendenz vieler Mitgliedstaaten des Rahmenübereinkommens61 zu ändern vermag, bleibt abzuwarten. Im Unterschied zur Lage unter Art. 27 IPbürgR ist also keineswegs geklärt, ob sich auch Angehörige „neuer" religiöser Minderheiten auf die Rechte aus Art. 7 und 8 FCNM berufen können. Dies ändert natürlich nichts an dem Umstand, dass ihnen selbstverständlich das Recht auf Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK zusteht.

II. Der Inhalt des Begriffs der „religiösen" Minderheit Bezüglich Art. 27 IPbürgR ist zunächst zu bemerken, dass anfangs umstritten war, ob religiöse Minderheiten überhaupt in den Schutzbereich der - künftigen Bestimmung zum Schutz von Minderheiten fallen sollten; insbesondere die kommunistischen Staaten sprachen sich dagegen aus,62 konnten sich letztlich aber nicht durchsetzen. Damit ist heute aber nur geklärt, dass religiöse Minderheiten grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 27 IPbürgR fallen, aber nicht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine Personengruppe als religiöse Min60

Zum insoweit einschlägigen - und sehr umstrittenen - Urteil des EGMR im Fall Gorzelik v. Poland vom 17.2.2004; vgl. hierzu Hofmann (Anm. 42), 1020 ff. 61 Vgl. ausführlich hierzu Hofmann (Anm. 49), 16 ff. 62 Vgl. Wolfrum (Anm. 33), 66.

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derheit in dessen Sinn zu verstehen. Die Praxis des Human Rights Committee gibt hierzu keinerlei Aufschlüsse; insbesondere geht der erwähnte General Comment63 überhaupt nicht auf mit religiösen Minderheiten zusammenhängenden Fragen ein. Auch die - soweit ersichtlich - bisher einzige communication, die unter dem Fakultativprotokoll einging und mögliche Rechte religiöser Minderheiten unter Art. 27 IPbürgR betraf, veranlasste das Human Rights Committee nicht zu entsprechenden Ausführungen. 64 Für das Rahmenübereinkommen hingegen ist eindeutig geklärt, dass religiöse Minderheiten als nationale Minderheiten im Sinne dieses Vertrags anzusehen sind.65 Andererseits ist auch insoweit zu betonen, dass die einschlägige Praxis des Advisory Committee noch nicht sehr umfangreich ist. 66 Insbesondere war das Advisory Committee - im Unterschied zu sprachlich oder kulturell definierten Minderheiten 67 - noch nicht mit Fällen befasst, in denen es Staaten abgelehnt hatten, einer religiös definierten Minderheit den Schutz des Rahmenübereinkommens einzuräumen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass unter religiösen Minderheiten die sich aus diesem Vertrag ergebenden rechtlichen Möglichkeiten offenbar noch verhältnismäßig unbekannt sind. Am Schluss der 2004 beendeten ersten Überwachungsperiode lässt sich feststellen, dass sich Juden am häufigsten auf den Schutz als nationale Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens berufen und diese Stellung auch erhalten haben; dabei ist auffällig, dass - mit Ausnahme Schwedens - die Staaten, die Juden als Minderheit anerkannt haben, ausschließlich ehemals sozialistische oder gar Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren. 68 Als Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens anerkannt wurden auch eindeutig als ausschließlich religiös definierte Minderheiten die 63

Siehe oben, Anm. 53.

64

Stellungnahme vom 3.11.1999 im Fall Waldman v. Canada , Communication 694/ 1996; hier ging es allein um die Frage einer möglichen Diskriminierung jüdischer Privatschulen gegenüber katholischen Privatschulen, was das Human Rights Committee allein unter Art. 26 IPbürgR behandelte. 65 Vgl. die Nachweise bei Hofmann (Anm. 14), 602. 66

Für einen Überblick siehe Hofmann (Anm. 14), 605; umfassend die erwähnten (Anm. 50) Kommentierungen von Z. Machnyikova. 67 Zum Streit, ob etwa die „Egyptians" in Albanien oder die Roma in Dänemark als nationale Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens anzusehen sind, vgl. Hofmann (Anm. 14), 601. 68 Vgl. einerseits para. 16 der Stellungnahme zu Schweden und andererseits etwa para. 18 der Stellungnahme zu Armenien, para. 20 der Stellungnahme zu Aserbaidschan, para. 22 der Stellungnahme zu Moldawien; para. 19 der Stellungnahme zu Polen, para. 20 der Stellungnahme zur Russischen Föderation; para. 18 der Stellungnahme zur Tschechischen Republik; und para. 16 der Stellungnahme zu Ukraine. Alle diese Stellungnahmen sind zugänglich unter http://www.coe.int/T/E/human_rights/minorities/ .

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Jesiden in Armenien und Aserbaidschan 69 sowie die Lateiner und Maroniten in Zypern. 70 Interessant ist, dass allein in Serbien und Montenegro Muslime - und zwar auch nur die im Sandzak ansässigen - als Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens anerkannt wurden. Allerdings ist bezüglich der Juden wie der Muslime zu unterstreichen, dass das Schutzsystem des Rahmenübereinkommens letztlich darauf beruht, dass eine bestimmte Gruppe sich seiner bedienen möchte; fehlt es an entsprechenden Äußerungen, sei es aus mangelnder Kenntnis71 oder aufgrund einer bewussten Entscheidung,72 so werden die betroffenen Gruppen nicht in das Überwachungssystem einbezogen. Ausgehend von der raison d'être jeglichen Schutzes nationaler und anderer Minderheiten, nämlich entsprechend dem gemeinsamen Willen der Mitglieder der jeweiligen Gruppe ihre eigenständige Identität zu wahren, und unter Heranziehung der von Capotorti entwickelten Kriterien wäre jede Gruppe, die sich hinsichtlich ihrer Religion von der Mehrheit unterscheidet und aufgrund dieser unterschiedlichen Religion eine eigenständige Identität besitzt, als religiöse Minderheit anzuerkennen. Auch wenn dies auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, kommen bei näherer Überlegung doch Zweifel auf: Könnten sich denn z.B. die Katholiken in Deutschland als religiöse Minderheit bezeichnen und sich auf Rechte aus Art. 8 FCNM berufen? Mir scheint, diese Frage sei verneinend zu beantworten. Zu der unterschiedlichen, religiös geprägten Identität und dem gemeinsamen Willen, diesen zu bewahren, muss wohl noch eine quantitatives Merkmal treten, nämlich dass es sich um eine gegenüber den Mitgliedern der Mehrheitsreligion spürbar kleinere Gruppe handelt. Jedenfalls ist auffällig, dass sich im europäischen Kontext - mit Ausnahme der Lateiner und Maroniten - nirgendwo Angehörige christlicher Kirchen auf den Status als Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens berufen haben; interessanterweise gilt dieser Befund aber nicht nur für Katholiken, Protestanten 69

Vgl. para. 18 der Stellungnahme zu Armenien und para. 20 der Stellungnahme zu Aserbaidschan. 70 Vgl. para. 18 ff. der Stellungnahme zu Zypern. 71

Vieles spricht dafür, dass sich jüdische Minderheiten in Westeuropa nicht auf den Schutz aus dem Rahmenübereinkommen berufen haben, weil ihre Mitglieder fälschlicherweise annehmen, dass nur ethnisch und sprachlich definierte Minderheiten als nationale Minderheit im Sinne dieses Übereinkommens gelten. 72 So haben sich z.B. die Sami in Norwegen dagegen ausgesprochen, als nationale Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens angesehen zu werden, da dies mit ihrer Rechtsstellung als „indigenous people" nicht vereinbar sei, vgl. para. 19 der Stellungnahme zu Norwegen; im Gegensatz hierzu haben sich die Sami in Finnland und Schweden ausdrücklich unter den Schutz des Rahmenübereinkommens gestellt, vgl. para. 14 der Stellungnahme zu Finnland und para. 16 der Stellungnahme zu Schweden.

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oder Orthodoxe, sondern auch für Angehörige zahlenmäßig durchaus kleiner christlicher Gruppen wie etwa der protestantischen Freikirchen. Auffällig ist auch, dass Zeugen Jehovahs, die im Bereich der individuellen Religionsfreiheit immer wieder entscheidend zur Fortentwicklung der einschlägigen Praxis beitrugen, sich nirgendwo auf den Schutz aus dem Rahmenübereinkommen berufen haben. Festzustellen ist auch, dass der Begriff der „religiösen Minderheit" in der Praxis des Human Rights Committee keine größere Rolle spielt. In seinen Stellungnahmen zu Staatenberichten islamischer Staaten finden sich zwar regelmäßig durchaus kritische Äußerungen zum Apostasieverbot, aber dies eben im Zusammenhang mit der in Art. 18 IPbürgR geschützten Religionsfreiheit und nicht im Kontext des Minderheitenschutzes nach Art. 27 IPbürgR. Schließlich sei noch kurz die Frage angesprochen, welchen Inhalt eine bestimmte Überzeugung oder Anschauung haben muss, um für ihre Angehörigen des Status einer „religiösen" Minderheit begründen zu können. Dies hat nichts mit dem Umstand zu tun, dass anerkannt ist, dass unter Art. 18 IPbürgR und Art. 9 EMRK nicht nur „Religionen", sondern auch „Weltanschauungen" geschützt sind, während Art. 27 IPbürgR und die Vorschriften des Rahmenübereinkommens offenkundig nur „Religionen" betreffen. 73 Die Antwort auf die Frage lässt sich grundsätzlich durch Heranziehung der einschlägigen Praxis des Human Rights Committee zu Art. 18 IPbürgR und des EGMR zu Art. 9 EMRK formulieren. Dies bedeutet etwa, dass Angehörige einer Gruppe, die angeben, ihr Glaube gebiete den Anbau und den Konsum von Rauschgiften (hier: Cannabis), sich nicht auf den Schutz von Art. 18 IPbürgR berufen können74 und, sollte dies das einzige Kriterium des Glaubens sein, auch keine religiöse Minderheit bilden.

III. Zwischenergebnis Als - vorläufiges - Ergebnis lässt sich also feststellen, class bezüglich der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Gruppe eine religiöse Minderheit im Sinne der einschlägigen Bestimmungen des geltenden Völkervertragsrechts darstellt, eine eindeutige Antwort nicht gegeben werden kann. Angesichts der langen geschichtlichen Entwicklung des Rechts betreffend religiöse Minderheiten ist dies erstaunlich. In erster Linie liegt es wohl daran, dass es - im Unterschied zu ethnisch und/oder sprachlich definierten Minderheiten - kaum einschlägige Praxis der jeweiligen Überwachungsorgane gibt, was wiederum offenbar damit zusammenhängt, dass sich Angehörige solcher religiöser Minderheiten, aus welchen Gründen 73 74

Vgl. Wolfrum

(Anm. 33), 57.

Vgl. para. 4.2 der Stellungnahme vom 25.4.1994 im Fall Church of the Universe v. Canada , Communication 570/1993.

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auch immer, bislang kaum auf den Schutz durch völkervertragliche Instrumente berufen haben. Insofern sind also weitere wissenschaftliche Untersuchungen durchaus angezeigt. Schließlich sei noch angemerkt, dass jedenfalls für Art. 27 IPbürgR davon auszugehen ist, dass sich auch Angehörige „neuer", also zugewanderter religiöser Minderheiten auf diese Bestimmung berufen können.

IV. Rechte der Angehörigen religiöser Minderheiten Bezüglich der vom Völkerrecht gewährten Rechte der Angehörigen religiöser Minderheiten empfiehlt sich eine Unterscheidung zwischen den Rechten, die sich aus der jedem Menschen zustehenden Religionsfreiheit ergeben, und den für Angehörige religiöser Minderheiten spezifischen Rechten, wie sie im europäischen Kontext aus Art. 8 FCNM folgen, d.h. das Recht auf Gründung und Leitung religiöser Einrichtungen.

7. Der Inhalt des Menschenrechts der Religionsfreiheit Im Rahmen dieser Darstellung kann keine umfassende Darstellung des Inhalts des Menschenrechts der Religionsfreiheit gegeben werden; 75 ein Überblick über die für Angehörige religiöser Minderheiten wichtigsten Aspekte muss daher ausreichen. Unumstritten hat jeder Mensch das Recht, eine Religion zu haben und sie auszuüben. Umfassend geschützt sind dabei die innere (forum internum) und äußere (forum externum) Sphäre der Religionsfreiheit. Dies bedeutet insbesondere, dass ein breites Spektrum möglicher Handlungen erfasst ist. So umfasst das Konzept des Gottesdienstes alle Rituale und Zeremonien, die als direkter Ausdruck des Glaubens zu verstehen sind, wie auch diejenigen Praktiken, die Bestandteil solcher Handlungen sind, also z.B. das Bauen von Gotteshäusern, den Gebrauch ritueller Objekte, das Tragen heiliger Symbole oder das Begehen religiöser Feiertage. Zudem sind religiöse Gebräuche wie das Einhalten bestimmter Speisegebote,76

75

Vgl. insoweit z.B. die Kommentierungen zu Art. 18 IPbürgR in den bei Anm. 33 angeführten Veröffentlichungen, für Art. 9 EMRK die Darstellung bei Grabenwarter (Anm. 40), 219 ff., und zu Art. 7 und 8 FCNM die erwähnten (Anm. 50) Kommentierungen von Machnyikova. 76 Zur Problematik des Verbots des Schächtens siehe EGMR, Urteil vom 27.6.2000, Cha ' are Shalom Ve Tsedek ν. France, Reports of Jugdments and Decisions (RJD) 2000VII.

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das Tragen bestimmter Kleidungsstücke77 oder das Sprechen einer besonderen Sprache geschützt. Das Recht auf Ausübung und Unterricht einer Religion schützt Verhaltensweisen, die für das Handeln der religiösen Gruppe als solcher notwendig sind, z.B. die Wahl der religiösen Führer, Priester und Lehrer, 78 die Gründung religiöser Seminare und Schulen oder die Veröffentlichung religiöser Schriften und -jedenfalls im europäischen Kontext von Art. 9 EMRK - die Missionierung. 79 Aus der Ausübungsfreiheit folgt auch das Recht, keiner Religion anzugehören und - auch wenn dies in manchen islamischen Staaten nicht möglich sein sollte diese aufzugeben und/oder eine neue anzunehmen.80 So darf der Staat die Ausübung religiöser Gebräuche81 oder die Einbeziehung in eine Religionsgemeinschaft nicht erzwingen, 82 was aber der Institution einer Staatskirche nicht entgegensteht, solange die individuelle Möglichkeit besteht, nicht Mitglied dieser Staatskirche zu sein. Ferner dürfen Personen nicht wegen ihrer Religion bezüglich des Zugangs zu Berufen benachteiligt werden; 83 nur für die Ausübung bestimmter, eine besondere Nähe zum jeweiligen Staat voraussetzende Berufe (z.B. Militär) können gewisse Einschränkungen der Religionsfreiheit zulässig sein.84 Schließlich ist zu betonen, dass den Staat eine grundsätzliche Gewährleistungs- und Schutzpflicht trifft, um die ungestörte Ausübung der Religionsfreiheit - auch gegenüber Eingriffen durch

77

Vgl. zu Art. 18 IPbürgR insbesondere die Stellungnahme vom 28.11.1989 im Fall Singh Binder v. Canada , Communication 208/1986 (Weigerung eines Sikh, aus religiösen Gründen anstelle eines Turbans einen Sturzhelm zu tragen); zu Art. 9 EMRK die Rechtsprechung zur Zulässigkeit des staatlichen Verbots des Tragens eines Kopftuchs durch muslimische Lehrerinnen oder Studentinnen, nämlich EGMR, Urteil vom 15.2.2001, Dahlab v. Switzerland, RJD 200-V, und die „landmark decision" der Grand Chamber des EGMR vom 10.11.2005 im Fall Leyla §ahin v. Turkey, in der die Kammerentscheidung vom 29.6.2004, RJD 2004-VII, bestätigt wurde. 78 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Hasan and Chaush v. Bulgaria, RJD 2000-IX; EGMR, Urteil vom 17.10.2002, Agga v. Greece, RJD 2002-IX; EGMR, Urteil vom 16.12.2004, Supreme Council of the Muslim Community v. Bulgaria (Application No. 39023/97). 79 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Kokkinakis v. Greece, Series A 260-A, para. 31, und EGMR, Urteil vom 24.2.1998, Larissis v. Greece, RJD 1998-1, para. 38. 80 So - jedenfalls für Art. 9 EMRK - unbestritten seit Kokkinakis v. Greece (Anm. 79). 81 Keine Verpflichtung zu religiösen Eidesformeln, vgl. EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Buscarmi ν. San Marino, RJD 1999-1. 82 Nichtmitglieder der evangelischen Kirche nicht zur Zahlung von Kirchensteuer verpflichtet, vgl. EGMR, Urteil vom 23.10.1990, Darby v. Sweden, Series A 87. 83 Vgl. EGMR, Urteil vom 6.4.2000, Thlimmenos v. Greece, RJD 2000-IV. 84

Vgl. EGMR, Urteil vom 1.7.1997, Kalaç v. Turkey,

RJD 1997-IV.

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Private - zu sichern. 85 Einschränkungen können allerdings zur Aufrechterhaltung des religiösen Friedens in gewissem Umfang zulässig sein.86

2. Spezifische Rechte der Angehörigen religiöser Minderheiten In den universell oder regional geltenden völkerrechtlichen Menschenrechtsverträgen finden sich keine Bestimmungen über spezifische Rechte der Angehörigen religiöser Minderheiten. Als solche spezifischen Rechte sind insbesondere diejenigen anzusehen, die sich auf den kollektiven Aspekt der Religionsfreiheit beziehen, die also unbedingt notwendig sind, um die eigenständige Identität der religiösen Minderheit als Gruppe von Menschen zu sichern. Diese Rechte beziehen sich folglich vor allem auf die Gründung einer Religionsgemeinschaft und gegebenenfalls deren staatliche Anerkennung sowie die Errichtung und Leitung religiöser Einrichtungen. Diesem Umstand trägt für den europäischen Kontext Art. 8 FCNM Rechnung, der eben diese Rechte - zusätzlich zur individuellen Religionsfreiheit in Art. 7 FCNM - garantiert. Auf universeller Ebene, d.h. in der Praxis des Human Rights Committee, findet sich kaum einschlägige Praxis. Ob allein aus der Kritik am Verbot des Religionswechsels abgeleitet werden kann, es bestehe ein Recht auf Gründung einer religiösen Gemeinschaft mit dem daran anschließenden Anspruch auf staatliche Anerkennung und der Möglichkeit, religiöse Einrichtungen zu gründen, scheint letztlich zweifelhaft. Insofern wird die zukünftige Praxis unter Art. 27 IPbürgR abzuwarten sein. Im europäischen Kontext hat der EGMR eindeutig einen grundsätzlichen Anspruch auf Gründung und staatliche Anerkennung einer Religionsgemeinschaft einer religiösen Minderheit anerkannt. 87 Auch in der einschlägigen Praxis des Advisory Committee findet sich eine Reihe von Aussagen, in der staatliche Praktiken, die Gründung von religiösen Gemeinschaften zu behindern, deutlich gerügt

85

Vgl. African Commission on Human and Peoples' Rights, Amnesty International et al v. Sudan (Comm. No. 48/90, 50/91, 52/91 and 89/93); die Kommission erkannte auf eine Verletzung von u.a. Art. 8 Afrikanische Menschenrechtskonvention (Religionsfreiheit); die Entscheidung ist zugänglich unter http://wwwserver.law.wits.ac.za/humanrts/ africa/comcases/comcases. html. 86 Vgl. EGMR, Urteil vom 20.9.1994, Otto-Preminger-Institut v. Austria , Series A 295-A, und EGMR, Urteil vom 25.11.1996, Wingrove v. United Kingdom, RJD 1996-V. 87 Vgl. EGMR, Urteil vom 26.9.1996, Manouusakis v. Greece, RJD 1996-IV; EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Metropolitan Church of Bessarabia v. Moldova, RJD 2001-XII.

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wurden. 88 In diesem Zusammenhang ist auch auf die häufig vorgebrachte Kritik gegenüber Staaten hinzuweisen, wenn diese Streitigkeiten über die Eigentumsverhältnisse an Kirchengebäuden, insbesondere Ansprüche auf Rückgabe solcher Gebäude an Religionsgemeinschaften religiöser Minderheiten, nur schleppend behandeln.89 Mit diesem grundsätzlichen Anspruch auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft untrennbar verbunden scheint mir der Anspruch auf die Befugnis zur eigenständigen Regelung der inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft. 90 Besondere Bedeutung im Rahmen von Art. 8 FCNM kam der Frage staatlicher Unterstützung gegenüber Religionsgemeinschaften zu. Insofern wurde immer wieder betont, dass eine gewisse rechtliche Privilegierung einzelner Religionsgemeinschaften zulässig sein könne, aber nicht ein solches Ausmaß erreichen dürfe, dass von staatlicher Diskriminierung auszugehen sei. Dies betrifft vor allem die Problematik finanzieller Unterstützung von Religionsgemeinschaften durch den Staat. Unzulässig wäre eine Beschränkung auf nur eine oder mehrere Religionsgemeinschaften bei gleichzeitigem Ausschluss anderer Religionsgemeinschaften; zulässig ist aber die Ausrichtung der staatlichen Unterstützung an der Mitgliederzahl oder Repräsentativität einer Religionsgemeinschaft oder einer sie repräsentierenden Einrichtung. 91 Dieses Diskriminierungsverbot hat auch Auswirkungen auf das Strafrecht. So wurde die britische Blasphemie-Regelung, die nur das Christentum schützt, als dringend reformbedürftig bezeichnet.92 Aus diesem Anspruch auf grundsätzliche Gleichbehandlung dürfte sich gegebenenfalls auch ein Anspruch auf Anerkennung eines besonderen Status - wie z.B. den einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft in Deutschland - ergeben. Eng verbunden mit der Gründung und Anerkennung einer Religionsgemeinschaft durch die Angehörigen einer religiösen Minderheit ist die Frage der Gründung besonderer Einrichtungen, insbesondere religiös geprägter Schulen.93 Auch hier müssen alle Religionsgemeinschaften, auch diejenigen religiöser Minderheiten, unter Beachtung des Diskriminierungsverbots gleich behandelt werden. Dies gilt auch für den Zugang zum öffentlichen Dienst. 88

Vgl. etwa para. 34 der Stellungnahme zu Estland, oder para. 72 der Stellungnahme zur Russischen Föderation. 89 Vgl. etwa para. 43 der Stellungnahme zu Albanien. 90

Vgl. hierzu die erwähnten (Anm. 78) Urteile des EGMR zu staatlichen Eingriffen (Nichtanerkennung der Wahl religiöser Würdenträger durch den Staat) gegenüber der jeweiligen islamischen Minderheit in Bulgarien und Griechenland. 91 Vgl. insbesondere para. 29 der Stellungnahme zu Dänemark; siehe auch para. 29 der Stellungnahme zu Finnland; para. 39 der Stellungnahme zu Norwegen. 92 Vgl. para. 69 der Stellungnahme zum Vereinigten Königreich. 93

Vgl. hierzu para. 29 der Stellungnahme zu Zypern betreffend die schulische Situation der Maroniten.

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D. Abschließende Bemerkungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Bereich des Rechts religiöser Minderheiten sehr vieles viel weniger klar ist als im Bereich des Rechts ethnischer oder sprachlicher Minderheiten. Hieran hat auch die ständige Praxis des Advisory Committee, religiöse Minderheiten als nationale Minderheiten im Sinne des Rahmenübereinkommens anzuerkennen, grundsätzlich nichts geändert. Unklar geblieben ist insbesondere die Antwort auf die Frage, worin der „Mehrwert" der Anerkennung einer Gruppe als religiöse Minderheit gegenüber den sich aus der individuellen Religionsfreiheit ohnehin ergebenden Rechten besteht. Insofern lässt sich jedenfalls für den europäischen Kontext das Recht auf diskriminierungsfreie Gründung von Religionsgemeinschaften und ihre staatliche Anerkennung und Förderung, einschließlich der von solchen Religionsgemeinschaften unterhaltenen schulischen und sozialen Einrichtungen nennen. Für den universellen Bereich fällt der Befund eher noch kärglicher aus. Insgesamt scheint es also so zu sein, dass der Schutz religiöser Minderheiten, mit dem die völkerrechtlichen Bemühungen auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes einsetzten, erheblich an Intensität und Bedeutung gegenüber Regelungen zugunsten ethnischer und sprachlicher Minderheiten verloren hat. Dies dürfte eine Folge des Rückgangs der Bedeutung der religiösen Zugehörigkeit eines Menschen im Vergleich zu seiner ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sein. In dem Umfang, in dem - nicht nur, aber gerade in Europa - sich die Verhältnisse umzukehren scheinen, also die Bedeutung der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit ab- und die Relevanz religiöser Elemente zunehmen, dürfte auch die Problematik der Rechte der Angehörigen religiöser Minderheiten wieder wachsen - und insofern besteht in der Tat erheblicher Bedarf an wissenschaftlichen Untersuchungen zur Vorbereitung späterer völkerrechtlicher Bemühungen.

Religion und Internationales Privatrecht Von Haimo Schack

A. Staatliches und religiöses Recht Unter dem objektiven Recht versteht man die Gesamtheit der staatlichen Normen, die das menschliche Verhalten und Zusammenleben regeln. Recht in diesem Sinne ist das geschriebene Gesetz genauso wie das Gewohnheits- und Richterrecht (vgl. Art. 2 EGBGB). Auf einer anderen Ebene liegen Moralvorstellungen, die eine Gesellschaft mehr oder weniger stark prägen können. Verstöße gegen sittliche Gebote, gegen ethisch oder religiös begründete Verhaltensregeln werden staatlicherseits nicht sanktioniert, solange sie nicht in einem institutionalisierten Verfahren in die staatliche Rechtsordnung aufgenommen worden sind. Letzteres ist bei so grundlegenden sittlichen Geboten wie „Du sollst nicht töten!" durchaus häufig der Fall und geschieht mittelbar auch über Generalklauseln wie vor allem §§ 138,242, 826 BGB. Während der Staat nur ein Minimum sittlicher Regeln als Recht sanktioniert, zielen die Religionen auf ein sittliches Optimum, das allerdings von den verschiedenen Religionsgesellschaften und Glaubensgemeinschaften unterschiedlich definiert wird und über die Anforderungen des staatlichen Rechts weit hinausgehen und ihnen auch widersprechen kann. Innerhalb Deutschlands als eines säkularen, zu religiöser Neutralität verpflichteten Staates1 ist die Lage klar: Exekutive und Judikative sind an das staatliche „Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 I I I GG). Für abweichende religiöse Rechtsvorstellungen bleibt da kein Raum, solange der Staat nicht selbst eine Ausnahme macht, die in seltenen Fällen mit Rücksicht auf die grundrechtlich garantierte Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 4 GG) geboten sein kann. Aber wie so

1 Vgl. BVerfG 14.12.1965, BVerfGE 19,206,216 (zur Kirchensteuer; „der Staat [darf] einer Religionsgesellschaft keine Hoheitsbefugnisse gegenüber Personen verleihen, die ihr nicht angehören"); Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 4 GG, Rn. 146 f.; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztverantwortung, 1997, 75 f. - Für das Eherecht vgl. auch § 1588 BGB.

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häufig gerät Selbstverständliches ins Wanken, sobald ausländisches Recht ins Spiel kommt.

I. Funktion des IPR Das Internationale Privatrecht hat die Aufgabe, „bei Sachverhalten mit einer Verbindung zum Recht eines ausländischen Staates [zu bestimmen], welche Rechtsordnungen anzuwenden sind". Diese Definition des Kollisionsrechts in Art. 3 I 1 EGBGB ist im vorliegenden Zusammenhang in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zum einen wird eine Beziehung „zum Recht eines ausländischen Staates" vorausgesetzt. Aus der Sicht des deutschen Kollisionsrechts ist die Religionszugehörigkeit deshalb unmaßgeblich. Soll die Ehe deutscher Ehegatten in Deutschland geschieden werden, so kann der Scheidungsunwillige, auch wenn beide Ehegatten katholisch sind, sich nicht auf die Unscheidbarkeit der Ehe nach kanonischem Recht2 berufen. Ebenso wenig kann ein deutscher Muslim seine deutsche muslimische Ehefrau in Deutschland wirksam verstoßen.3 Zum anderen sind auf der Rechtsfolgenseite mit den berufenen „Rechtsordnungen" solche von Staaten gemeint, wie sich aus den Art. 3 folgenden Artikeln des EGBGB eindeutig ergibt, etwa aus der Formulierung in Art. 4 I EGBGB „Wird auf das Recht eines anderen Staates verwiesen". Das deutsche IPR erklärt aus dem Nebeneinander der vielen staatlichen Rechtsordnungen ein nationales Recht für anwendbar und verknüpft damit einen auslandsbezogenen Sachverhalt mit nationalstaatlichen Rechtssätzen. Das geschieht mittels Anknüpfungspunkten, die beim Personalstatut traditionell unmittelbar an die Staatsangehörigkeit, sonst ganz überwiegend an räumliche Kriterien, wie den gewöhnlichen Aufenthalt, im Deliktsrecht an den Tatort oder im Sachenrecht an den Belegenheitsort, anknüpfen. 4 Das staatliche Kollisionsrecht ist damit territorial-staatlich konzipiert, 5 und auch im Anwendungsbereich des Personal statuts kommt es auf die Staats- und nicht etwa auf die Religionszugehörigkeit an. Religiöse Rechte dagegen sind ganz anders, nämlich personal konzipiert. Ihr Geltungsanspruch transzendiert die Grenzen der Nationalstaaten. 2

Can. 1141, Lateinisch-deutsche Ausgabe des Codex Iuris Canonici von 1983: Codex des kanonischen Rechtes, Kevelaer 2001. 3 Zur Verstoßung („talaq") eingehend unten C. II. 3. 4 Zur gelegentlich, vor allem im Schuldrecht, den Parteien gestatteten Rechtswahl s. unten A. III. 5 Aus deutscher Sicht gibt es kein personales Recht ohne territoriale Basis; Christian von Bar/Peter Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. I Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, §4, Rn. 164.

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II. Kollisionsrechtliche Verweisung auf religiöses Recht In die Situation, religiöses oder religiös geprägtes Recht anwenden zu müssen, kann ein deutscher Richter nur geraten, wenn das deutsche Kollisionsrecht auf das Recht eines ausländischen Staates verweist, 6 der seinerseits religiöses Recht für auch im staatlichen Bereich verbindlich erklärt. 7 Hier lassen sich drei Konstellationen unterscheiden. 1. Zunächst kann das deutsche Kollisionsrecht auf eine staatliche Rechtsordnung verweisen, die mehr oder weniger stark religiös geprägt ist. Diese Prägung ist besonders stark in Staaten mit einer Staatsreligion, die, wie der Islam, das alltägliche Verhalten der Gläubigen eingehend regeln will. So ist der Islam Staatsreligion in den meisten Staaten zwischen Marokko und Pakistan,8 nicht jedoch zum Beispiel in der Türkei, deren Rechtsordnung seit Kemal Atatürk trotz eines Bevölkerungsanteils von über 99 % Muslimen bewusst laizistisch ausgestaltet ist.9 Wo religiöses Recht kodifiziert worden ist, gilt es als staatliches Recht, wird es von staatlichen Gerichten nach staatlichen Regeln ausgelegt und kann sich eigenständig, losgelöst von seinem religiösen Ursprung entwickeln. 10 Das wird besonders deutlich bei Rechtsordnungen, die islamisches Recht kodifiziert, es dabei aber in wesentlichen Punkten abgeändert und modernisiert haben, wie Tunesien 1956 durch die Abschaffung der Polygamie und durch die Einführung der ausschließlich gerichtlichen Scheidung und der Gleichstellung von Frauen und Männern im Scheidungsrecht.11

6 Und dessen Kollisionsrecht nicht etwa auf das deutsche Recht zurückverweist, vgl. Art. 4 I EGBGB. 7 Vgl. BGH 12.12.1979, NJW 1980, 1221 (grundsätzlich nicht in Indonesien); von Bar/Mankowski (Anm. 5), § 4, Rn. 165. 8 Vgl. Mohamed Charfi, L'influence de la religion en droit international privé des pays musulmans, Recueil des Cours 203 (1987-III), 321,344 f.; für Afghanistan (Art. 2 der Verfassung von 2004) Axel Schwarz, Das Recht Afghanistans, IPRax 2005, 383, 384 (vgl. Art. 131 zum interislamischen Privatrecht). 9 Seit Art. 2 der türk. Verfassung von 1924 i.d.F. von 1937 (heute Art. 2 der Verfassung von 1982); türk. Zivilgesetzbuch von 1926. Dass die Rechtspraxis in Anatolien anders aussieht (vgl. etwa Peter Mankowski, Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, IPRax 2004, 282, 284), steht auf einem anderen Blatt und zeigt, wie schwierig es ist, „kulturelle Identität" (unten Β. II.) rechtlich zu fassen. 10 Vgl. Kilian Rudolf Bälz, Die „Islamisierung" des Rechts in Ägypten und Libyen: Islamische Rechtsetzung im Nationalstaat, RabelsZ 62 (1998), 437,463. 11

Vgl. Nadjma Yassari, Islamisches Recht oder Recht der Muslime - Gedanken zu Recht und Religion im Islam, ZvglRWiss 103 (2004), 103,119 f.; Stephanie Waletzki, Ehe und Ehescheidung in Tunesien, zur Stellung der Frau in Recht und Gesellschaft, 2001.

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2. Zweitens gibt es Rechtsordnungen, die unmittelbar religiöses Recht zur Anwendung berufen, wie zum Beispiel die Scharia im (seit 1979) theokratischen Iran, 12 in Kuwait und in Saudi-Arabien. 13 Unter Scharia versteht man die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die sich primär aus dem Koran und der Sunna, d.h. der Überlieferung der Taten und Worte des Propheten Mohammed (um 570-632), ergeben. 14 Hier existieren beträchtliche, kollisionsrechtlich relevante Unterschiede zwischen der schiitischen Rechtsschule (vorwiegend im Iran) und den vier sunnitischen Rechtsschulen der Hanafiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten.15 Das islamische Recht gibt es genau genommen also nicht, sondern nur verschiedene Deutungen der jeweiligen Rechtsschulen, d.h. einen regionalen Konsens über den Inhalt der Scharia. Auf die jeweils herrschende Rechtsschule kommt es auch dann an, wenn die Scharia nicht in ihrer Gesamtheit für anwendbar erklärt, sondern nur zur Lückenfüllung des staatlichen Rechts herangezogen wird, wie etwa in Ägypten in Art. 1 I I ZGB von 1948.16 In die Kategorie unmittelbar berufenen religiösen Rechts gehört auch das Eherecht des Vatikanstaates, für das ausschließlich der Codex Iuris Canonici gilt 1 7 (Can. 1055-1165). Auch auf Malta, wo die römisch-katholische Religion Staatsreligion ist, gilt zum Teil immer noch das kanonische Eherecht, 18 insbesondere ist eine Scheidung ausgeschlossen. Je enger der Schulterschluss des staatlichen mit dem religiösen Recht ist, desto mehr wird die Toleranz des deutschen Kollisionsrechts auf die Probe gestellt. Zumal wenn ausländisches religiöses Recht, wie häufig im Islam, auch auf Nichtoder Andersgläubige angewandt werden soll, liegt der Griff zur Notbremse des deutschen ordre public in Art. 6 EGBGB nahe.19 3. Komplexer ist die dritte Konstellation, bei der die berufene ausländische Rechtsordnung ihr Ehe-, Familien- oder Erbrecht je nach der Religionszugehörigkeit der Betroffenen unterschiedlich geregelt hat. Hier wird auf die staatliche Rechtseinheit verzichtet, um religiöses Recht zu respektieren und zugleich mög12

Art. 2 iran. Verfassung von 1979 erhebt das islamische Recht zum Maßstab aller Gesetze, Text bei Yassari (Anm. 11), 114. 13 Art. 1 der Verfassung von 1992, Text bei Yassari (Anm. 11), 116. 14

Yassari (Anm. 11), 108 ff.

15

Vgl. den Überblick zu den Verbreitungsgebieten bei Yassari (Anm. 11), 110, Fn. 28.

16

Deutscher Text bei Yassari (Anm. 11), 114.

17

Hellmut Hecker, in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Vatikanstadt (1992), 8. 18 Vgl. Art. 21 ff. malt. EheG; Peter Pietsch, in: Bergmann/Ferid, Malta (2003), 15. 19 Vgl. Hans Jürgen Sonnenberger, in: MünchKomm-BGB, Bd. X, IPR, 3. Aufl. 1998, Art. 4 EGBGB, Rn. 107; s. unten Β. I.

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liehst zu vermeiden, dass ein bestimmtes religiöses Recht auf Andersgläubige angewandt wird. Ein solches interreligiöses Privatrecht kennen vor allem Israel, Jordanien 20 und der Libanon, 21 aber auch Indien. 22 Damit ein solches System funktionieren kann, bedarf es interpersonaler Kollisionsnormen und auch besonderer Bestimmungen für gemischt-religiöse Ehen. Zusätzliche Probleme entstehen, wenn das religiöse Recht nicht, wie (seit 1955) in Ägypten, ausschließlich von staatlichen Gerichten angewandt wird, 23 sondern wenn für seine Anwendung religiöse und staatliche Gerichte nebeneinander zuständig sind, wie zum Beispiel in Jordanien 24 und - besonders ausgeprägt - im Libanon und in Israel. 25 Das vom deutschen IPR gemäß Art. 4 I I I EGBGB berufene ausländische interpersonale Kollisionsrecht ist zunächst staatliches Recht, das jedoch gegebenenfalls seinerseits religiöses interpersonales Kollisionsrecht berufen kann. 26 Beispiel: 27 Die Deutsche A will in Deutschland den israelischen Staatsangehörigen Β heiraten. Sie ist evangelisch, er jüdischen Glaubens. Die Voraussetzungen der Eheschließung richten sich (kumulativ) nach dem jeweiligen Heimatrecht der Verlobten. Art. 13 I EGBGB beruft für den Israeli damit israelisches Eheschließungsrecht. Dieses ist interreligiös gespalten, so dass die deutsche kollisionsrechtliche Verweisung auf das Heimatrecht um eine israelische interpersonale Kollisionsregel ergänzt werden muss (Art. 4 I I I 1 EGBGB). 28 Sie 20

Omaia Elwan/Hartmut Ost, Die Scheidung deutsch-jordanischer Ehen vor deutschen Gerichten, unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-orthodoxen Kirchenrechts, IPRax 1996, 389-397. 21 Pierre Gannagé, Le pluralisme des statuts personnels dans les Etats multicommunautaires - Droit libanais et droits proche-orientaux, 2001 ; ders., Les sociétés multicommunautaires face à l'évolution du droit international privé de la famille, Travaux du comité français de droit international privé 1995-1998, 297-308. 22 Rechtsvergleichender Überblick mit Literaturangaben bei Fritz und Gudrun Sturm, Einleitung zum IPR, in: J. v. Staudingers Kommentar zum BGB, Rn. 722-724 (2003). 23 Zu Ägypten vgl. Kurt Lipstein/Istvàn Szàszy, Interpersonal Conflict of Laws, in: International Encyclopedia of Comparative Law III, ch. 10 (1985), 9 f. 24 Elwan/Ost (Anm. 20), 390 f. 25

Hierzu Lipstein/Szâszy

26

Deutlich von Bar/Mankowski

27

Nach BGH 12.5.1971, BGHZ56, 180.

28

(Anm. 23), 17 f. (Libanon) und 18 f. (Israel). (Anm. 5), § 4, Rn. 165 am Ende.

Vgl. BGH 14.10.1992, IPRspr. 1992 Nr. 3b, S. 8 (Iran, Sorgerecht). - Enthält das berufene ausländische Recht keine interpersonalen Kollisionsregeln, dann ist gemäß Art. 4 I I I 2 EGBGB die Teilrechtsordnung anzuwenden, mit der der Sachverhalt am engsten verbunden ist; vgl. Rainer Hausmann, in: J. v. Staudingers Kommentar zum BGB, Art. 4 EGBGB, Rn. 342 ff. (2003).

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beruft hier das jüdische religiöse Recht,29 das einem Juden die Eheschließung mit einer Nichtjüdin verbietet. Ob dieses Resultat in Deutschland hinnehmbar ist, wird später noch zu erörtern sein.30 Die Konstruktion interpersonaler Kollisionsrechte gerät in erhebliche Schwierigkeiten, wenn Rechtsverhältnisse von Personen geregelt werden müssen, die keiner Religion angehören, oder wenn es um gemischt-religiöse Ehen geht.31 Nicht immer steht ein staatliches Hilfsrecht zur Verfügung, das, wie zum Beispiel in Indien, auch Mischehen zulässt.32 Ein so radikaler wie untauglicher Versuch, das Problem zu leugnen, sind die Eheverbote wegen Religionsverschiedenheit, wie sie uns im islamischen und im israelisch-jüdischen Recht begegnen.

III. Rechtswahl Manche interreligiösen Kollisionsrechte gestatten den Eheleuten, das anwendbare staatliche oder religiöse Recht zu wählen.33 Im deutschen Internationalen Familien- und Erbrecht dagegen ist die Wahl religiösen Rechts nicht zulässig. Hier wird kollisionsrechtliche Parteiautonomie nur in sehr engen Grenzen gewährt und dabei durchgängig auf das Recht eines bestimmten Staates (Heimat- oder Aufenthaltsstaat, Lageort) beschränkt. 34 Im Internationalen Schuldrecht scheint die Parteiautonomie auf den ersten Blick etwas weiter zu gehen, wenn als Vertragsstatut ein „Recht" gewählt werden kann, Art. 2711 EGBGB. 35 Ob Recht in diesem Sinne auch religiöse Rechte oder andere nichtstaatliche Regelwerke sein können, ist umstritten, für den derzeit geltenden Art. 27 EGBGB = Art. 3 EuVÜ 3 6 mit der herrschenden Meinung aber zu verneinen.37 Denn Art. 27 I I I und die folgenden Vorschriften des EGBGB machen 29

BGHZ56, 180, 185.

30

Zum Eheverbot der Religionsverschiedenheit s. unten C. I. 4.

31

Zum Problem vgl. von Bar/Mankowski

(Anm. 5), § 4, Rn. 170.

32

Vgl. zum indischen Special Marriage Act von 1956 OLG Hamburg 25.4.2000, IPRax 2002, 304 f. mit Anm. Marianne Andrae/Jana Essebier, Zur Scheidung einer Ehe zwischen einer deutschen Christin und einem indischen Schiiten, IPRax 2002, 294, 296. 33 Vgl. z.B. für Jordanien Elwan/Ost (Anm. 20), 391. 34 35

Vgl. Art. 14 I I - I V , 15 II, 25 I I EGBGB.

Ebenso Art. 42 Satz 1 EGBGB für außervertragliche Schuldverhältnisse. 36 Römisches EWG-Übereinkommen vom 19.6.1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, BGBl. 1986 II, 810. Das Übereinkommen soll künftig durch eine auf Art. 65 EGV gestützte Rom-I-Verordnung ersetzt werden. 37 Wulf-Henning Roth, Zur Wählbarkeit nichtstaatlichen Rechts, in: Festschrift Jayme 2004, Band I, 757, 758 m.w.N.; Peter Mankow ski, Überlegungen zur sach- und interessen-

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deutlich, dass die Parteien nur das „Recht eines anderen Staates" sollen wählen dürfen. Das entspricht der herkömmlichen Konzeption eines territorial-staatlichen IPR (oben Α. I.). Überdies halten bislang nur die staatlichen Rechtsordnungen hinreichend flächendeckende und praktisch erprobte Privatrechtsnormen bereit. 38 Das Problem der Wählbarkeit religiösen Rechts als Vertragsstatut hat sich vor kurzem dem englischen Court of Appeal gestellt.39 Eine arabische Bank machte Darlehensansprüche gegen Schuldner aus Bangladesch geltend, die sich auf das Zinsverbot des Koran 40 und die folgende Rechtswahlklausel beriefen: „Subject to the principles of the Glorious Sharia'a, this agreement shall be governed by and construed in accordance with the laws of England." Das Gericht deutete die Bezugnahme auf die Scharia als eine materiellrechtliche Verweisung im Rahmen des gewählten englischen Vertragsstatuts, sah sich jedoch außer Stande, der Scharia hinreichend konkrete anwendungsgeeignete Rechtsnormen zu entnehmen. Da das Handelsrecht von Bahrain am Sitz der Bank das Zinsverbot des islamischen Rechts nicht übernommen hat,41 lag es hier in der Tat näher, die formelhafte Erwähnung der Scharia als bloße Bekräftigung der die Parteien leitenden Prinzipien zu verstehen. Dieser Fall zeigt deutlich, dass religiöses Recht infolge seiner Unschärfe und Lückenhaftigkeit als Vertragsstatut ungeeignet ist und sich auch als materiellrechtliche Verweisung nicht empfiehlt. Im Ehe- und Familienrecht ist es um die Normendichte religiöser Rechte deutlich besser bestellt, doch erlaubt hier das deutsche Kollisionsrecht, wie erwähnt, generell keine Wahl eines religiösen Rechts. gerechten Rechtswahl in Verträgen des internationalen Wirtschaftsverkehrs, RIW 2003,2, 11 f.; Andreas Spickhoff, in: Heinz Georg Bamberger/Herbert Roth, Kommentar zum BGB, Bd. III, 2003, Art. 27 EGBGB, Rn. 6, 10; a.A. Sven Schilf, Allgemeine Vertragsgrundregeln als Vertragsstatut, 2005, 390 ff.(schon de lege lata), 3X Künftig könnte man deshalb, zumal in einer Rom-I-Verordnung, erwägen, auch eine Wahl der Unidroit- oder Lando-Prinzipien zu erlauben; dafür - im Einklang mit der Regelung in § 1051 I 1 ZPO („Rechtsvorschriften") für die Schiedsgerichtsbarkeit - u.a. Roth (Anm. 37), 771; Schilf (Anm. 37). 39 Shamil Bank of Bahrain EC v. Beximco Pharmaceuticals Ltd. [2004] 1 W.L.R. 1784 = [2004] 2 All E.R. Comm. 312 (C.A.); zur Vorinstanz Anmerkung Kilian Bälz, Das islamische Recht als Vertragsstatut?, IPRax 2005, 4 4 ^ 7 . 40 Sure 2, Vers 276. Vgl. Hilmar Krüger, Zum islamischen Zinsverbot in Vergangenheit und Gegenwart, in: Festschrift Welser 2004, 579-595. Zu dessen Umgehung durch Leasing- und gesellschaftsähnliche Konstruktionen vgl. Charfi (Anm. 8), 347-349; Kilian Bälz, Islamic Law as Governing Law under the Rome Convention, Uniform Law Review 2001, 37, 40 ff. 41 Kredit- und Verzugszinsen erklären für in Handelssachen zulässig Art. 76 und 81 HGB (Gesetz Nr. 7/1987); vgl. Hilmar Krüger, An Introduction to the Law of Contract in Arab States, Studi Maghrebini N. S. 2 (2004), 201-222 (erschienen 2005).

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IV. Grundlegende Unterschiede 1. In einem säkularen Staat ist das staatliche Recht autonom, sieht man einmal von den wenigen, aber wichtigen Vorgaben universaler Menschenrechte und naturrechtlicher Prinzipien ab. Staatliches Recht wird in einem demokratisch legitimierten Verfahren gesetzt. Es wandelt sich mit den jeweiligen sozialen Verhältnissen, die es regeln soll, und es kann vom Gesetzgeber geändert oder aufgehoben werden. Staatliches Recht ist damit relativ, zeit- und ortsgebunden, von sich wandelnden Wertvorstellungen und Mehrheitsverhältnissen abhängig. Dementsprechend sind alle staatlichen Rechtsordnungen prinzipiell gleichwertig, keine besser oder richtiger als eine andere. Auf dieser Prämisse beruht unser staatliches Kollisionsrecht (unten Β. I.). Das ist bei religiösen Rechtsordnungen grundlegend anders. Religiöses Recht tritt mit dem Anspruch ewiger Wahrheit auf (lex aeterna) und kann deshalb streng genommen von Menschenhand nicht geändert werden. 42 Religiöse Rechte wollen absolut und exklusiv gelten.43 Wer glaubt, selbst im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, tut sich schwer, andere Auffassungen zu respektieren und abweichende Rechtsnormen gelten zu lassen. Das Leitbild von der Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen gilt für religiöse Rechte gerade nicht. 44 Schon von ihrem Ausgangspunkt her können sie andersartige Rechte nicht tolerieren. 45 Damit sind die Kollisionen personal-religiöser mit territorial-staatlichen Rechtsordnungen vorprogrammiert. Zu Kollisionen kommt es insbesondere, wenn das religiöse Recht Geltung auch für Andersgläubige beansprucht. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die materiellrechtlichen Regelungen des neuen Codex Iuris Canonici von 1983 nur noch auf Katholiken, und nicht wie sein Vorgänger von 1917 auf alle getauften Christen anwendbar sind. 46 Verschärft wird die Situation wiederum dadurch, dass religiöse Gerichte Entscheidungen staatlicher Gerichte regelmäßig auch dann nicht 42

Zum Spannungsverhältnis zwischen göttlicher Offenbarung und notwendiger Anpassung vgl. Paul Heinrich Neuhaus, Der neue Codex Iuris Canonici in privatrechtlicher Sicht, RabelsZ 47 (1983) 502,503, und die Apostolische Konstitution zur Promulgation des CIC (Anm. 2), XI. 43 Das gilt besonders für offensiv missionarische Religionen wie die römischkatholische und den Islam. 44

Louis-Léon Christians, Le droit canonique internormatif: Conflits de lois et de juridictions avec les systèmes étatiques et les autres systèmes religieux en droit matrimonial, Revue critique de droit international privé 1998, 217, 219. 45 Vgl. Paul Heinrich Neuhaus, Rezension Wähler (Anm. 87), RabelsZ 43 (1979) 776, III. 46 Vgl. Christians (Anm. 44), 220; die Zuständigkeit in Ehesachen (Can. 1671) erfasst dagegen nach wie vor alle Getauften, ebd., 224.

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anzuerkennen pflegen, wenn diese religiöses Recht angewandt haben.47 Auf diese Weise wollen die religiösen Gerichte ihr Auslegungsmonopol sichern. 2. Mitunter wird dem Exklusivitätsanspruch religiösen Rechts auf überraschende Weise zum Durchbruch verholfen. Ein Beispiel hierfür ist das ägyptische IPR, das im Ausgangspunkt wie das deutsche das Personalstatut an die Staatsangehörigkeit des Betroffenen knüpft. Das anwendbare ausländische Heimatrecht wird jedoch kraft des ägyptischen ordre public (Art. 28 ZGB) verdrängt, wenn der Ausländer Muslim ist; damit setzt sich für Muslime, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, stets das islamische Recht durch. 48 Die Ehe zweier Türken wird nach ägyptischem IPR also nicht nach dem säkularen türkischen, sondern nach islamischem Recht beurteilt. Ebenso könnte ein deutscher Muslim seine Ehefrau in Ägypten wirksam verstoßen. Hier hat sich im Gewände des staatlichen Kollisionsrechts ein islamischer ordre public entwickelt, der das gesetzliche Anknüpfungssystem praktisch in sein Gegenteil verkehrt. Diese Wirkung wird dadurch noch verstärkt, dass ein Wechsel der Religionszugehörigkeit im Laufe des Verfahrens ausnahmsweise dann berücksichtigt wird, wenn der Betroffene zum Islam übergetreten ist. 49 Solche Durchbrechungen eines scheinbar neutralen staatlichen Kollisionsrechts zu Gunsten religiös geprägten Rechts darf man deshalb nicht übersehen. 3. Die grundlegenden Unterschiede zwischen säkularen und religiösen bzw. religiös geprägten Rechtsordnungen haben sich in den letzten Jahren deutlich verschärft. Während religiöse Rechte traditionsbewusst sind und die reine Lehre durchsetzen wollen, haben sich die säkularen westlichen Demokratien zu immer liberaleren, permissiven Gesellschaften entwickelt. 50 Bei uns stehen individuelle Selbstverwirklichung, Freiheit und Gleichheit im Vordergrund; es bleibt jedem Einzelnen überlassen, ob und inwieweit er sein Verhalten an religiösen Vor47 48

Vgl. zum kanonischen Recht Christians (Anm. 44), 243.

Bruno Menhofer, Religiöses Recht und internationales Privatrecht, dargestellt am Beispiel Ägypten, 1995, 89, 111 f., 243; Maurits S. Berger, Conflicts Law and Public Policy in Egyptian Family Law: Islamic Law Through the Backdoor, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 555, 593; ganz ähnlich für Marokko Hubert Kotzur, Kollisionsrechtliche Probleme christlich-islamischer Ehen, dargestellt am Beispiel deutschmaghrebinischer Verbindungen [Algerien, Marokko, Tunesien], 1988, 51 f.; weniger rigoros in Tunesien, ebd. 59 f.; vgl. Omaia Elwan, Einflüsse des Islam und des Begriffs der arabischen Nation auf das [...] Kollisionsrecht der arabischen Staaten, in: Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, 1990, 291, 304 f.; Charfi (Anm. 8), 411 ff. 49 Menhofer (Anm. 48), 242; Gannagé, Les sociétés (Anm. 21), 302; für Ägypten Art. 7 des Gesetzes 462/1955, Text bei Marianne Stiehl, Das interpersonale Kollisionsrecht im IPR, Diss. Augsburg 1989, Anhang X X V I I . 50 Vgl. Gannagé, Les sociétés (Anm. 21), 298 f., 304.

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Schriften ausrichten will. Diese konträren Werte Vorstellungen zeigen sich nirgends so deutlich wie im Familienrecht, im Recht der Scheidung, der nichtehelichen und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Wie nun soll ein säkularer Staat mit den religiösen Rechtsvorstellungen einzelner seiner Bürger oder Einwohner umgehen? Wie weit kann oder darf er ihnen im Rahmen des deutschen Kollisionsrechts nachgeben?51

B. Grundhaltung des deutschen Kollisionsrechts I. Anwendung fremden Rechts bis zur Grenze des ordre public Das deutsche IPR beruht auf der Prämisse, dass alle staatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich gleichwertig sind. 52 Das auf einen auslandsbezogenen Sachverhalt anwendbare materielle Recht kann deshalb zunächst ohne Rücksicht auf seinen Inhalt allein nach den Kriterien der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit bestimmt werden. 53 Unsere Vorstellungen von der richtigen Anknüpfung (nicht des richtigen Rechts!) sind in den deutschen Kollisionsnormen niedergelegt, die idealiter den internationalen Entscheidungseinklang bewirken sollen: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt soll, egal in welchem Staat er entschieden wird, in der Sache gleich entschieden werden. Gerade im Internationalen Familienrecht sind hinkende Rechtsverhältnisse besonders unerwünscht. Dem Ziel eines internationalen Entscheidungseinklanges dienen vor allem die Wahl international gebräuchlicher Anknüpfungspunkte 54 und die Beachtung von Rück- und Weiter-

51 Nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind Sonderregeln des deutschen materiellen Rechts zugunsten von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften, wie etwa die Erlaubnis zum Schächten in § 4a II Nr. 2 TierschutzG; BAG 10.10.2002, NJW 2003, 1685, bestätigt von BVerfG 30.7.2003, NJW 2003,2815 (Kopftuch einer Kaufhausangestellten). 52 Siehe oben Α. IV. 1.; vgl. Gerhard Kegel/Klaus Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, § 1 III, S. 6; Klaus Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, 52 ff., 54; im Ansatz zurückgehend auf Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band 8, Berlin 1849, 26 f. - Ebenso im Internationalen Zivilverfahrensrecht zur Gleichwertigkeit der Rechtspflege: Haimo Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl. 2002, Rn. 35; kritisch Reinhold Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, 5. Aufl. 2005, Rn. 37 („Fiktion"). 53 Zu ihr insbesondere Kegel/Schurig (Anm. 52), § 2 I, S. 131 ff.; BGH 20.6.1979, BGHZ 75, 32, 41 („kollisionsrechtliche Sachgerechtigkeit"); kritisch Haimo Schack, Das IPR - ein Buch mit sieben Siegeln, reif für das moderne Antiquariat?, in: Liber Amicorum Gerhard Kegel, 2002, 179, 188 ff. 54

Vgl. Jan Kropholler,

Internationales Privatrecht, 5. Aufl. 2004, § 6 III, S. 40.

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Verweisungen55 in Art. 4 EGBGB. Zu einer endgültigen und einheitlichen Lösung des Rechtsstreits führt auch die grundsätzliche Anerkennung ausländischer Entscheidungen ohne Rücksicht darauf, welches materielle Recht das ausländische Gericht angewandt hat. 56 Die Anerkennungsvorschriften überspielen damit im Einzelfall unsere generell-abstrakten Kollisionsnormen. Der internationale Entscheidungseinklang ist jedoch kein Ziel um jeden Preis. Das Kollisionsrecht ist keineswegs ergebnisblind oder wertneutral. Das zeigt sich etwa in der Wahl von Anknüpfungspunkten, die der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 I I 1 GG) Rechnung tragen, 57 und insbesondere an der Schranke des ordre public, der die Anwendung ausländischen Rechts ebenso begrenzt wie die Anerkennung ausländischer Entscheidungen.58 Art. 6 EGBGB verbietet die Anwendung ausländischen Rechts, wenn sie „zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist". Die Eingriffsschwelle, ab der das berufene ausländische im praktischen Ergebnis durch das deutsche Recht ersetzt wird, hängt vom Ausmaß der Inlandsbeziehung ab. Je stärker die Inlandsbeziehung des Sachverhalts ist, desto eher greift der deutsche ordre public ein, der für gleiche Lebensverhältnisse im Inland und damit für den inneren Entscheidungseinklang sorgen soll. Typischerweise wird der ordre public- Vorbehalt ausgelöst, wenn die Anwendung des fremden Rechts die deutschen Grundrechte oder die Menschenrechte verletzen würde. 59 Gelegentlich hat sich der deutsche ordre public zu eigenen Kollisionsnormen verdichtet, die absolute Geltung beanspruchen. Das ist bei Art. 13 I I I und Art. 17 I I EGBGB geschehen, die beide auf den Kulturkampf der 1870er Jahre zurückgehen60 und dafür sorgen, dass Ehen im Inland nur vor einem Standesbeamten geschlossen61 und auch nur durch ein deutsches staatliches Gericht geschieden 55

Kegel/Schurig

56

Schack (Anm. 52), Rn. 24, 870.

57

(Anm. 52), § 10 I I I 3, S. 397, und § 10 IV 3, S. 403.

Vgl. Art. 14 EGBGB seit der IPR-Reform von 1986. Art. 6 EGBGB und die Anerkennungshindernisse in § 328 I Nr. 4 ZPO, § 16a Nr. 4 FGG, Art. 34 Nr. 1 EuGVO, Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ/LugÜ. 59 Art. 6 Satz 2 EGBGB; vgl. die Beiträge von Dagmar Coester-Waltjen, Herbert Kronke und Juliane Kokott, in: Die Wirkungskraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (BerDGVR) 38 (1998) 9 ff., 33 ff. und 71 ff.; sowie Christian von Bar und Reinhold Geimer, in: Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, BerDGVR 33 (1994), 191 ff. (Internationales Privatrecht) bzw. 213 ff. (Internationales Zivilverfahrensrecht). 60 Die obligatorische Zivilehe wurde in Preußen 1874, im Deutschen Reich 1875 und in Frankreich schon 1792 eingeführt; vgl. Alexander Lüderitz, Familienrecht, 27. Aufl. 1999, Rn. 126. 61 Eine sehr eng begrenzte Ausnahme sieht Art. 13 III 2 EGBGB für Ausländerehen vor. 58

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werden können. In Deutschland erfolgte kirchliche Trauungen oder Privatscheidungen, etwa durch eine Verstoßung, sind deshalb rechtlich wirkungslos. Das mag für die Betroffenen hart sein, festigt aber entscheidend unser säkulares Staatswesen. Zur Durchsetzung eines säkularen Rechtsstaates nimmt die staatliche Rechtsordnung damit bewusst auch hinkende Rechtsverhältnisse in Kauf. Die Parteien haben es in der Hand, diese hinkenden Rechtsverhältnisse dadurch zu beenden, dass sie die Eheschließung oder Ehescheidung im Ausland oder in den vom deutschen Recht zwingend vorgeschriebenen Formen im Inland wiederholen. Das ist umständlich, aber darum lange noch nicht verfassungs- oder menschenrechtswidrig. 62

II. Kollisionsrechtliche Achtung von „kultureller Identität44? Mit einem System generell-abstrakter Kollisionsnormen schwer vereinbar sind die von Jayme angestoßenen Überlegungen63 eines angeblich postmodernen Rechts auf kulturelle Identität. Auf solche individuellen Befindlichkeiten 64 kann eine staatliche Rechtsordnung indes nur schwer eingehen. Jeder Mensch hat unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Umstände seine kulturelle Identität prägen: Das können die Religionszugehörigkeit sein,65 die Abstammung oder die soziale Herkunft, die engere Heimat, Europa oder die ganze Welt. Derartige 62

Gegen Erik Jayme, Diskussionsbeitrag in: BerDGVR 38 (1998), 118, der Art. 17 I I EGBGB für menschenrechtswidrig hält. Auch das hinter Art. 13 I I I 1 EGBGB stehende Prinzip der obligatorischen Zivilehe ist keineswegs verfassungswidrig; missverständlich Martin Morlok (Anm. 1), Art. 4 GG, Rn. 125, der sein Verdikt im Folgenden jedoch nur auf das von § 67 PStG als Ordnungswidrigkeit sanktionierte Verbot kirchlicher Voraustrauungen bezieht (auch insoweit sehr fraglich). 63 Erik Jayme, Identité culturelle et intégration: le droit international privé postmoderne, Recueil des Cours 251 (1995) 9-267; ders., in: Erik Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 2003, 5, 6; ders., Kulturelle Identität und Kindeswohl im internationalen Kindschaftsrecht, IPRax 1996, 237-244; aufgegriffen von Katja Klingenstein, Kulturelle Identität und Kindeswohl im deutschen internationalen Adoptionsrecht, 2000 (Diss. Heidelberg 1999). 64 Jayme, Identité culturelle (Anm. 63), 36,247, 261 f.; ders., Zum Jahrhundertwechsel: Das Kollisionsrecht zwischen Postmoderne und Futurismus, IPRax 2000,165,169, spricht von der „Rückkehr der Gefühle". 65

Zur Religion als Teil der kulturellen Identität Peter Mankowski, Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, IPRax 2004, 282, 287; Dieter Henrich, Parteiautonomie, Privatautonomie und kulturelle Identität, in: Festschrift Jayme, 2004, Bd. I, 321 f.: „Die Bibel und der Koran prägen die kulturelle Identität stärker als die Gesetze eines nationalen Gesetzgebers".

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Umstände sind so beliebig wie für eine kollisionsrechtliche Anknüpfung untauglich; sie provozieren geradezu eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes in Art. 3 I I I 1 GG. 66 „Kultur" lässt sich kaum definieren, 67 noch weniger lässt sich „die" kulturelle Identität auf einen einzigen oder auch nur einzelne konkrete Anknüpfungspunkte reduzieren. Die Berücksichtigung kultureller Unterschiede 68 ist, soweit sie nicht die staatliche Ordnung des Gemeinwesens gefährdet, Aufgabe des materiellen Rechts, das auf Einzelfälle flexibler reagieren kann.69 Dass sich dem postulierten Recht auf kulturelle Identität kollisionsrechtlich nichts abgewinnen lässt, zeigt sich im Grundsatzstreit um das Staatsangehörigkeits- oder das Aufenthaltsprinzip. Die Regelannahme, dass sich die kulturelle Identität mit der Staatsangehörigkeit des Betroffenen decke,70 ist wenig überzeugend, denkt man etwa an Auswanderer oder Flüchtlinge, die vielleicht gerade auf der Suche nach einer neuen kulturellen Identität sind. An ihre alte darf man sie ganz sicher nicht kollisionsrechtlich fesseln. Im Streit um das Staatsangehörigkeits- oder das Aufenthaltsprinzip lässt sich aus „der" kulturellen Identität deshalb kein Honig saugen,71 zumal wenn man bedenkt, dass islamisch geprägte Rechtsordnungen, unabhängig von Staatsangehörigkeit oder gewöhnlichem Aufenthalt des Betroffenen, seine Religionszugehörigkeit als Muslim durchschlagen lassen (oben Α. IV. 2.). Die Achtung kultureller Identität kann deshalb sicher nicht bedeuten, dass wir unser territoriales durch ein personales Anknüpfungssystem, etwa im Sinne einer professio iuris, ersetzen müssten. Denkbar wäre allein eine vorsichtige Erweiterung der kollisionsrechtlichen Privatautonomie, etwa dergestalt, dass der Betroffene nach einem längeren Inlandsaufenthalt das Aufenthaltsrecht als sein Personalstatut wählen könnte.72

66

Noch ausführlicher formuliert ist das Diskriminierungsverbot in Art. 211 der in Nizza am 7.12.2000 proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EU-ABl. 2000 C 364, 1; künftig Art. 11-81 Abs. 1 der EU-Verfassung, EU-ABl. 2004 C 310, 1. 67

Vgl. den Versuch von Mankowski (Anm. 65), 283.

68

Vgl. Art. 22 der EU-Grundrechte Charta: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen." Künftig Art. 11-82 und in Abs. 3 der Präambel zu Teil I I der EU-Verfassung. 69 Ebenso Mankowski (Anm. 65), 288 f. 70

So Heinz-Peter Mansel, Das Staatsangehörigkeitsprinzip im deutschen und gemeinschaftsrechtlichen IPR: Schutz der kulturellen Identität oder Diskriminierung der Person?, in: Jayme, Kulturelle Identität und IPR (Anm. 63), 119, 134 f. 71 So auch von Bar/Mankowski (Anm. 5), § 4, Rn. 51; Bernd von Hoffmann/Karsten Thorn, Internationales Privatrecht, 8. Aufl. 2005, § 5, Rn. 8. 72 Für ein solches Wahlrecht de lege ferenda Mansel (Anm. 70), 138 f. Zu diesem Instrument der Integrationsförderung s. unten D.

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Der große Vorteil des Staatsangehörigkeitsprinzips ist seine vergleichsweise stabile Anknüpfung. Zu Schwierigkeiten kommt es bei den immer häufigeren Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit, zumal wenn unter mehreren nicht die effektive, sondern gemäß Art. 512 EGBGB stets die deutsche Staatsangehörigkeit den Ausschlag geben soll. Doch auch insoweit brächte eine personale Anknüpfung an die Religionszugehörigkeit keine Verbesserung: Auch wenn die meisten Menschen nur einer Religion anhängen,73 können wir doch niemanden zwingen, seine Religionszugehörigkeit zu offenbaren, wenn er das nicht freiwillig tut. 74 Noch unerträglicher wäre es, wollte man die behauptete Religionszugehörigkeit nachprüfen oder gar einem religiösen Recht darin folgen, dass es einen Glaubenswechsel oder Kirchenaustritt nicht akzeptiert. 75 Kollisionsrecht ist damit aus guten Gründen staatliches Recht, das mit generellabstrakten, territorialen Anknüpfungspunkten arbeitet. Das schließt indes nicht aus, dass ausländische religiöse Rechte auf zwei Wegen im Inland Wirkungen entfalten können: Zum einen kann kraft des Rechtsanwendungsbefehls des deutschen Kollisionsrechts fremdes religiöses Recht zur Anwendung gelangen (oben Α. II.); zum anderen können auf religiöses Recht gestützte ausländische Entscheidungen im Inland anzuerkennen sein.

C. Spannungsfelder im Familien- und Erbrecht Heftige Spannungen zwischen staatlichen und religiösen Rechten treten vor allem im Familien- und Erbrecht auf, das im Folgenden anhand von Beispielen näher beleuchtet werden soll.

I. Eheschließung 1. Die Differenzen beginnen mit der Form der Eheschließung.76 In Deutschland kann sie nur vor einem Standesbeamten erfolgen (Art. 13 I I I 1 EGBGB, § 1310 BGB), es gilt das Prinzip der obligatorischen Zivilehe (oben Β. I.). Auf den sakramentalen Charakter der Ehe (Can. 1055) nimmt das deutsche Recht also keine 73

Fälle mehrfacher Religionszugehörigkeit kommen z.B. in Japan vor.

74

Vgl. Stiehl (Anm. 49), 179. Vgl. zum jüdischen Recht Erwin E. Scheftelowitz, in: Bergmann/Ferid, Israel (1987), 104; zum islamischen Recht Hilmar Krüger, Fetwa und Siyar, Wiesbaden 1978, 113-115. 75

76 Überblick bei: Mathias Rohe, Rechtsfragen bei Eheschließungen mit muslimischen Beteiligten, StAZ 2000, 161-169; Peter Scholz, Islam-rechtliche Eheschließung und deutscher ordre public, StAZ 2002, 321-334.

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Rücksicht. Im Ausland dagegen wird oft auch eine kirchliche Eheschließung fakultativ akzeptiert, seltener als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung gefordert. 77 Hier ist den Partnern, die eine hinkende Ehe vermeiden wollen, zu raten: Doppelt genäht hält besser! 2. Wer die Abwechslung liebt, will vielleicht nicht dieselbe Frau zweimal, sondern lieber vier Frauen heiraten. Das ist nach dem Koran genauso erlaubt 78 wie (nach schiitischem Recht) auf Zeit geschlossene Ehen.79 In Deutschland können solche polygamen Ehen unabhängig vom Personalstatut der Beteiligten nicht geschlossen werden. Für die deutsche Partei gilt das Verbot der Doppelehe als zweiseitiges Ehehindernis (§ 1306 BGB, Art. 13 I EGBGB), und auch einem Marokkaner würde der deutsche Standesbeamte unter Berufung auf den ordre public verwehren, eine Marokkanerin als zweite, dritte oder vierte Ehefrau zu nehmen.80 Dagegen werden im Ausland eingegangene polygame Ehen grundsätzlich anerkannt, etwa wenn die Großfamilie nach Deutschland gezogen ist. 81 Das wirft komplizierte Angleichungsprobleme im Unterhalts- und Erbrecht auf, aber auch im Sozialhilfe- und Steuerrecht. 82 Wenn sich eine Frau mit der Rolle der viertbesten Ehefrau von allen begnügen möchte, kann man das als ihre freie Entscheidung hinnehmen, zumal der Unterschied zwischen simultaner und gesellschaftlich akzeptierter serieller Polygamie so groß nicht ist. 77

Vgl. Christian von Bar/Peter Mankowski, in: J. von Staudingers Kommentar zum BGB, Art. 13 EGBGB, Rn. 664-669 (1996). 78 Sure 4, Vers 4. Für Indien Alexandra von Oppen, Eheschließung und Eheauflösung im indischen Familienrecht, 2004, 94 ff. Zu den unterschiedlichen einschränkenden Voraussetzungen für die Eingehung einer Zweitehe vgl. Christine Schirrmacher, Frauen und die Scharia, 2004, 20, 116 ff. - Tunesien indes hat 1956 die Mehrehe gesetzlich verboten; Kotzur (Anm. 48), 127 f. 79 Zwischen einer Stunde und 99 Jahren; vgl. Schirrmacher (Anm. 78), 120 ff. 80

Art. 6 I GG; h.M., von Bar/Mankowski (Anm. 77), Rn. 252 m.w.N.; großzügiger Scholz (Anm. 76), 332 f. 81 Vgl. LG Frankfurt/M. 12.1.1976, FamRZ 1976, 217 [Indonesien, eheliche Kindschaft]; AG Bremen 27.4.1990, StAZ 1991, 232, 233 [Jordanien]; Mathias Rohe, The Application on Islamic Family Law in German Courts and its Compatibility with German Public Policy, in: Jürgen Basedow/Nadjma Yassari (Hrsg.), Iranian Family and Succession Laws and their Application in German Courts, 2004, 19, 27. 82 Vgl. etwa § 34 I I SGB I; BSG 30.8.2000, BSGE 87, 88, mit Anm. Erik Jayme, IPRax 2003, 267 [Marokko] (zwei Witwen); Hess. LSG Darmstadt 29.6.2004, IPRax 2005, 43 (Leitsatz mit Anm. Erik Jayme: in Marokko geschlossene Zweitehe schließt Witwerrente aus); OVG Rheinland-Pfalz 12.3.2004, DVB1. 2004,908 (nur Leitsatz; Aufenthaltsbefugnis für Zweitfrau); BFH 6.12.1985, BStBl. 1986 I I 390 [Marokko] (ZusammenVeranlagung). - Die beitragsfreie Familienversicherung von Zweitfrauen soll dem Vernehmen nach in Kürze abgeschafft werden.

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3. Die Toleranz muss aufhören, wo die Eheschließung nicht auf der eigenen freien Entscheidung beruht. Zwangsverheiratungen, arrangierte Ehen - juristisch eine Stellvertretung bei der Auswahl des Ehegatten - sind mit der höchstpersönlichen Natur dieses Rechtsgeschäfts unvereinbar (vgl. § 1311 BGB); sie verstoßen gegen die Menschenwürde und damit gegen unseren ordre public. 83 Ebenso wenig können wir es akzeptieren, wenn eine volljährige Frau eine Ehe nur durch einen Ehevormund eingehen kann, auch wenn dieser die Frau nicht in ihrem Willen vertritt. 84 4. In der Praxis wirft das Eheverbot wegen Religionsverschiedenheit die größten Probleme auf, mit dem viele religiöse Rechte ihre Glaubensgemeinschaft vor fremden Einflüssen abzuschirmen versuchen. Solche Eheverbote kennen das katholische Kirchenrecht (Can. 1086, 1124), das jüdische Recht (oben Α. II. 3.) und besonders strikt viele islamische Rechtsordnungen.85 Eine so weitreichende Einschränkung der bürgerlichen Eheschließungsfreiheit kann kein säkularer Staat hinnehmen. Religiös motivierte Eheverbote des von Art. 13 I EGBGB berufenen Personalstatuts müssen deshalb am deutschen ordre public (Art. 6 EGBGB) scheitern. 86

II. Eheauflösung 1. Das Problem kehrt wieder bei der Eheauflösung. Sie tritt nach islamischem Recht automatisch ein, wenn ein muslimischer Ehegatte vom Glauben abfällt 87 83

AG Gießen 31.1.2000, IPRspr. 2000 Nr. 1 = StAZ 2001, 39 [Iran]; Rohe (Anm. 76), 166 f. - Zur Abgrenzung gegenüber einer nach Art. 111 EGBGB zulässigen Handschuhehe (durch Boten) BGH 19.12.1958, BGHZ 29, 137, 139 ff. = Haimo Schack, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 2. Aufl. 2000, Nr. 27; BayObLG 28.11.2000, IPRspr. 2000 Nr. 51, 108 f. = StAZ 2001, 66. 84 LG Kassel 26.2.1990, StAZ 1990, 169, 171 [Iran] mit Anm. Arnold Kremen vgl. auch Scholz (Anm. 76), 329 f.; und zur Institution des Ehevormunds Schirrmacher (Anm. 78), 77 f. 85 Sure 2, Vers 222; Sure 60, Vers 11; für Indien von Oppen (Anm. 78), 181 f. 86

BGHZ 56, 180, 187 ff., 191, für das israelisch-jüdische Recht; ebenso für islamische Rechtsordnungen: AG Kaiserslautern 15.9.1992, IPRspr. 1992 Nr. 105 [Pakistan]; implizit auch OLG Koblenz 6.1.1994, FamRZ 1994, 1262 [Ägypten]; vgl. von Bar/Mankowski (Anm. 77), Art. 13 EGBGB, Rn. 387 ff., 393 m.w.N, wobei hier schon ein geringer Inlandsbezug genügt, Rn. 397; a.A. (bei bloßem Genehmigungsvorbehalt) OLG Oldenburg 11.4.1967, IPRspr. 1966/67 Nr. 68, S. 228 f. [Iran]. 87 Vgl. Klaus Wähler, Interreligiöses Kollisionsrecht, 1978, 70 ff.; Kotzur (Anm. 48), 29 f.; OLG Köln 16.9.1982, IPRspr. 1982 Nr. 43, S. 98 [Iran] (in casu unbeachtlich, weil Scheidungsstatut das deutsche Recht war).

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(Apostasie). Auch wegen Ketzerei konnte bis vor kurzem nach ägyptischem Recht eine Ehe (durch Popularklage!) aufgelöst werden. 88 Beides verstößt gegen unseren ordre public. 2. Auch umgekehrt akzeptieren wir es nicht, wenn eine katholisch geprägte Rechtsordnung, wie etwa Spanien bis 1981, die Scheidung einer Ehe kategorisch verbietet (Can. 1141). Dies hat das Bundesverfassungsgericht aus der Perspektive der Eheschließungsfreiheit (Art. 6 1 GG) in seinem Spanierbeschluss festgestellt 89 und der Gesetzgeber in Art. 13 I I EGBGB aufgegriffen. Vor den heute nur noch wenigen scheidungsfeindlichen Rechtsordnungen90 schützt einen deutschen Ehegatten schon das Privilegium germanicum des Art. 1712 EGBGB: Hiernach kann ein deutscher Staatsangehöriger, notfalls in Anwendung deutschen Scheidungsrechts, 91 dem Ehejoch stets entrinnen. Für nicht-deutsche Ehegatten muss man bei hinreichendem Inlandsbezug auf den allgemeinen ordre public-Vorbehalt des Art. 6 EGBGB zurückgreifen. 92 3. Das mit Abstand größte Problem in diesem Zusammenhang ist die Privatscheidung durch Verstoßung. Nach islamischem Recht kann der Ehemann seine Frau einseitig ohne Angabe von Gründen durch dreimalige Erklärung verstoßen. 93 Der talaq („Ich verstoße dich") muss nur in Gegenwart zweier männlicher muslimischer Zeugen, nicht unbedingt gegenüber der Ehefrau erklärt werden. 94 Es erleichtert die Scheidung ungemein, wenn der Ehemann seiner Frau die Nachricht über die erfolgte Scheidung, wie aus Pakistan und Malaysia berichtet wird, durch E-Mail oder durch eine SMS zukommen lassen kann.95 Ein in Deutschland ausge88

Appellationsgericht Kairo 14.6.1995, Affäre Abu Zayd, hierzu Kilian Bälz, Eheauflösung aufgrund von Apostasie durch Popularklage: der Fall Abû Zayd, IPRax 1996, 353-356. 89 BVerfG 4.5.1971, BVerfGE 31, 58 = Schack (Anm. 83), Nr. 1. 90

Vgl. Christian von Bar/Peter Mankowski, in: J. von Staudingers Kommentar zum BGB, Art. 17 EGBGB, Rn. 21 ff. 91 Hier gilt das Zerrüttungsprinzip, § 1565 BGB. 92

Kropholler (Anm. 54), § 46 I 2, S. 360; Christian von Bar, Internationales Privatrecht, Band I I Besonderer Teil, 1991, Rn. 255; Mark Oliver Kersting, Der Anwendungsbereich des Art. 17 I 2 EGBGB, FamRZ 1992, 268, 274. 93 Sure 65, Vers 3 und Sure 2, Verse 227 ff.; von Bar/Mankowski (Anm. 90), Rn. 63 ff.; Rohe (Anm. 81), 28 m.w.N. aus der deutschen Rechtsprechung. 94 Nach einigen Rechtsschulen, z.B. der schiitischen, ist Zugang unnötig; Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht (IPG) 1967/68 Nr. 25, S. 295, 310 (Köln) [Iran]; vgl. Alexander Lüderitz> „Taläq" vor deutschen Gerichten, in: Festschrift Baumgärtel, 1990, 333 ff. 95 Berichtet von Peter Hay, The American „Covenant Marriage" in the Conflict of Laws, Louisiana Law Review 64 (2003) 43, 45, footnote 13.

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sprochener „talaq" ist schon wegen des Scheidungsmonopols der deutschen Gerichte (Art. 17 I I EGBGB) wirkungslos. Die Wirksamkeit eines im Ausland ausgesprochenen „talaq" scheitert bei hinreichendem Inlandsbezug am deutschen ordre public (Art. 6 EGBGB), da wir eine solche strukturelle Schlechterstellung der Ehefrau nicht hinnehmen können (Art. 3 II, 6 I GG). 96 Ob das auch dann gilt, wenn die Frau mit der Scheidung einverstanden ist 97 oder wenn die Ehe auch in Anwendung deutschen Scheidungsrechts hätte geschieden werden können,98 ist umstritten. Bevor man den „talaq" in Bausch und Bogen verwirft und damit hinkende Ehen provoziert, muss man sich das andersartige Eheverständnis des islamischen Rechts vergegenwärtigen. Danach ist die Eheschließung ein gewöhnlicher Vertrag, der auch Abreden über die Scheidungsgründe enthalten kann. 99 So ist es in manchen islamischen Rechtsordnungen möglich, dass sich die Ehefrau von ihrem Mann zur Selbstverstoßung bevollmächtigen lässt.100 Auch kann die Ehefrau ausnahmsweise selbst auf Scheidung klagen („tafriq"), wenn der Ehemann seine vertragliche Hauptpflicht zur Unterhaltsleistung nicht erfüllt. 101 Dieser Scheidungsgrund kann, wenn der Ehemann nicht leistungsfähig ist, seinerseits gegen den deutschen ordre public verstoßen. 102 Solche Umstände sprechen dafür, bei der Anerkennung ausländischer Privatscheidungen 103 vielleicht doch etwas großzügiger zu sein. Wenn allerdings die Ehefrau an der Privatscheidung überhaupt nicht beteiligt worden ist und sich mit ihr auch nachträglich nicht einverstanden erklärt hat, wenn sie also „in die Rolle eines passiven Verfahrensobjekts gedrängt" worden ist, schließt der

96

OLG Frankfurt/Main 18.1.2001, IPRspr. 2001 Nr. 59 [Jordanien]; OLG Zweibrücken 16.11.2001, IPRspr. 2001 Nr. 72, S. 153 f. = NJW-RR 2002, 581 [Libanon]. Ebenso in Frankreich, vgl. Patrick Courbe, Le rejet des répudiations musulmanes, D. 2004, 815-820 in Anm. zu fünf Entscheidungen der Cour de cassation vom 17.2.2004, D. 2004, 828 f. 97 So AG Frankfurt/Main 9.8.1988, IPRax 1989,237,238 [Iran]; Schweiz. BG 8.2.1962, BGE 88 148,51 f. [Ägypten]. 98 Dann einen ordre public-Verstoß verneinend OLG München 19.9.1988, IPRax 1989, 238, 241, mit Anm. Erik Jayme 223 [Iran]; Hans-Georg Pauli, Islamisches Familien- und Erbrecht und ordre public, Diss. München 1994, 52 ff., 63; Rohe (Anm. 81), 28 m.w.N.; AG Kulmbach 28.10.2003, IPRax 2004, 529, 530, mit Anm. Hannes Unberath 515, 517 [Afghanistan]. 99 Vgl. BGH 6.10.2004, BGHZ 160, 332, 343 [Iran], s. unten Anm. 107. 100 Vgl. von Bar/Mankowski (Anm. 90), (Art. 17 EGBGB), Rn. 66, 67, 69 für Afghanistan, Indien und Syrien. 101 OLG Schleswig 21.12.2000, IPRspr. 2000 Nr. 66, S. 137 [Iran]. 102 103

Vgl. OLG Bremen 21.5.1999, FamRZ 1999, 1520 f. [Iran].

D.h. bei der Anwendung des von Art. 17 I 1 EGBGB berufenen ausländischen Scheidungsstatuts; vgl. Schack (Anm. 52), Rn. 899.

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deutsche ordre public die Anerkennung einer solchen „talaq-Scheidung" zwingend aus. 104 Ähnliche Probleme wirft die Privatscheidung nach jüdischem Recht auf. Hier ist die Übergabe des Scheidebriefs („get") durch den Ehemann konstitutiv. 105 Doch kann unter besonderen Umständen auch die Ehefrau auf Scheidung klagen und das Rabbinatsgericht den Ehemann zur Aushändigung des Scheidebriefes zwingen. 106 4. Wenn eine Ehe im Inland, nach verweigerter Anerkennung einer Privatscheidung gegebenenfalls erneut, in Anwendung des von Art. 17 I 1 EGBGB berufenen religiösen Rechts geschieden werden soll, fühlen sich deutsche Gerichte häufig überfordert und versuchen gelegentlich, ihre internationale Zuständigkeit unter Hinweis auf die ihnen angesonnene wesensfremde Tätigkeit zu verneinen. 107 Doch selbst wenn das deutsche Scheidungsurteil im Ausland nicht anerkannt werden sollte, 108 darf man einem Ehegatten mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland den Zugang zu Gericht doch nicht über die von § 606a I 1 Nr. 4 ZPO vorgesehene Fallkonstellation 109 hinaus verweigern. Hier ist das Fingerspitzengefühl des deutschen Familienrichters gefordert, der gegebenenfalls das deutsche Verfahrensrecht und das ausländische Scheidungsstatut vorsichtig anpassen muss.110 Über den ordre public des Art. 6 EGBGB auf deutsches materielles Scheidungsrecht zurückgreifen sollte er nur im äußersten Notfall.

104

BayObLG 30.11.1981, IPRax 1982, 104, 105, mit Anm. Dieter Henrich 94 [Ägypten]; OLG Stuttgart 3.12.1998, IPRax 2000, 427, mit Anm. Thomas Rauscher 391 [Jordanien]; Lüderitz (Anm. 94), 346; Rohe (Anm. 81), 29. 105 Vgl. Scheftelowitz (Anm. 75), 109; RG 16.2.1904, RGZ 57, 250, 253 ff., und 5. Mose 24. 106

Vgl. David Einhorn, Jewish Divorce in the International Arena, in: Liber Amicorum Kurt Siehr, 2000, 135-153 (140, 151 f.); Kurt Siehr, Die Berücksichtigung religiösen Rechts bei gerichtlicher Scheidung jüdischer Ehepaare, in: Festschrift Peter Schlosser, 2005, 877, 885 f., 897. 107 So etwa KG 27.11.1998, IPRax 2000, 126, 127, mit abl. Anm. Christoph Herfarth 101 [Iran], aufgehoben von BGH 6.10.2004, BGHZ 160, 332,339 ff., 347 = FamRZ 2004, 1952, 1954 ff., mit zust. Anm. Dieter Henrich = IPRax 2005, 346, mit Anm. Thomas Rauscher, 313. 108 Wie in Israel die Scheidung von Juden durch staatliche Gerichte, vgl. Einhorn (Anm. 105), 136. 109 Zu ihr vgl. Schack (Anm. 52), Rn. 372 ff. 110

Vgl. Schack (Anm. 52), Rn. 506; ErikJayme, Religiöses Recht vor staatlichen Gerichten, 1999 (Vortrag), 9-12; Siehr (Anm. 106), 880 f.

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III. Sorgerecht Für das Sorgerecht, auch nach einer Scheidung, gilt gemäß Art. 21 EGBGB grundsätzlich das Recht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes. Damit kommt es in Deutschland in der Praxis nur selten zu Kollisionen mit einem religiösen Recht. Eine Ausnahme macht das vorrangige deutsch-iranische Niederlassungsabkommen vom 17.2.1929,111 dessen Art. 8 I I I die Familienrechtsverhältnisse ausschließlich iranischer Beteiligter deren Heimatrecht unterwirft. Auf diese Weise wird islamisches Recht berufen, das die elterliche Sorge nach einer Scheidung allein dem Vater zuweist. In dieser Nichtberücksichtigung des Kindeswohls wird ein Verstoß gegen den deutschen ordre public gesehen.112 Indes kommen solche Fallkonstellationen immer seltener vor, seitdem viele in Deutschland geborene Ausländerkinder automatisch auch die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. 113 Es bleiben Randfragen, etwa ob die Verteilung des Sorgerechts von der Religionszugehörigkeit abhängig gemacht werden darf 114 oder nach deutschem Aufenthaltsrecht (Art. 8 MSA, Art. 111 KSÜ) einer gambischen Mutter die elterliche Sorge entzogen werden darf, wenn sie ihre Tochter nach Gambia bringen möchte, wo ihr die Klitorisbeschneidung droht. 115 Bei genügend starker Inlandsbeziehung verstößt auch das Adoptionsverbot des islamischen Rechts 116 gegen das Kindeswohl und damit gegen den deutschen ordre public, 117

IV. Erbrecht 1. Im Erbrecht scheint die Diskriminierung der Frau im islamischen Recht auf den ersten Blick besonders krass. Die gesetzliche Erbquote der Witwe ist nur halb 111

RGBl. 1930 II, 1006, Text auch in: Erik Jayme/Rainer Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 12. Aufl. 2004, Nr. 23. Zu dessen Fortgeltung BGHZ 160, 332, 337 f. 1.2 BGH 14.10.1992, BGHZ 120, 29, 35 f. = IPRax 1993, 102, mit Anm. Dieter Henrich 81 [Iran], unter Aufhebung von OLG Saarbrücken 3.2.1992, IPRax 1993, 100, 101; Rohe (Anm. 81), 31 m.w.N.. 1.3 §§4 III, 40b StAG, in Kraft seit dem 1.1.2000. 114 Hierin sieht einen ordre public-Verstoß OLG Hamm 8.2.1990, FamRZ 1990, 781, 782 [Jordanien]; a.A. AG Einbeck 8.11.1990, FamRZ 1991, 590, 592 [Syrien]. 115 Der darin liegende Verstoß gegen die Menschenwürde lässt sich mit religiöser Tradition nicht rechtfertigen; OLG Dresden 15.7.2003, FamRZ 2003, 1862, 1863, bestätigt von BGH 15.12.2004, NJW 2005, 672. 116 Hergeleitet aus Sure 33, Vers 37. 117 AG Hagen 14.3.1984, IPRax 1984, 279 [Iran]; vgl. OLG Karlsruhe 25.11.1996, FamRZ 1998, 56, 57 [Marokko].

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so groß wie die des Witwers, Töchter erben nur halb so viel wie Söhne. Während die Literatur hierin allein wegen der geschlechtsbezogenen Differenzierung einen Verstoß gegen den deutschen ordre public sieht, 118 ist die Rechtsprechung sehr viel zurückhaltender. 119 In der Tat darf man nicht auf die isolierte Erbquote sehen, sondern muss die gesamte familienrechtliche Situation in den Blick nehmen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Ehefrau und die Tochter keine Unterhaltspflichten treffen und dass die Witwe zusätzlich durch die einklagbare Morgengabe („mahr") abgesichert ist und bei deutschem Güterrechtsstatut (Art. 15 EGBGB) überdies das güterrechtliche Viertel gemäß § 1371 BGB erhält. Letztlich halte ich für entscheidend, dass ein ordre public- Verstoß generell so lange nicht vorliegen kann, wie die Witwe oder Töchter nicht weniger bekommen als ihnen nach deutschem Pflichtteilsrecht (§ 2303 BGB) zustünde. Denn die Anwendung eines ausländischen Rechts kann nicht gegen den ordre public verstoßen (oben Β. I.), wenn der Erblasser das gleiche Ergebnis durch eine testamentarische Verfügung hätte bewirken können. 2. Eindeutig gegen den ordre public (Art. 3 I I I GG) verstößt dagegen das Erbverbot im islamischen Recht wegen Religionsverschiedenheit. 120 Ein besonders krasser Verstoß gegen die Menschenwürde ist schließlich der bürgerliche Tod als Sanktion für einen Glaubensabfall vom Islam; 121 eine solche Beerbung bei lebendigem Leibe können wir unter keine Umständen hinnehmen.

D. Toleranz oder Integration? Die vielfältigen und oft empörenden Rechtsunterschiede werfen abschließend die Frage auf, wieviel Toleranz sich ein säkularer Rechtsstaat leisten kann. Wie weit darf oder sollte er kollisionsrechtlich nach der Religionszugehörigkeit diffe118 Stephan Lorenz, Islamisches Ehegattenerbrecht und deutscher ordre public, IPRax 1993, 148, 149 f.; Nadjma Yassari, The Application of Iranian Succession Law in German Courts and its Compatibility with German Public Policy, in: Basedow/Yassari (Anm. 81), 35-49 (45 f., 47); IPG 1983 Nr. 32, S. 287, 293 (Göttingen); IPG 1997 Nr. 36, S. 474,479 (Passau); IPG 1998 Nr. 30, S. 442, 456 (Köln) [alle Iran]; Pauli (Anm. 98), 170 f. (nicht bezüglich der Witwe). 119 Einen ordre public-Verstoß verneinen OLG Hamm 29.4.1992, IPRax 1994, 49, 53, mit abl. Anm. Heinrich Dörner, 33 [Iran, Bahai]; LG Hamburg 12.2.1991, IPRspr. 1991 Nr. 142, S. 264, 271. 120 Lorenz (Anm. 118), 149; Pauli (Anm. 98), 178; Yassari (Anm. 118), 48; IPG 1983 Nr. 32, S. 291 f. (Göttingen); IPG 1997 Nr. 36, S. 478 (Passau). 121

Louis Milliot/Jean-Paul Blanc, Introduction à l'étude du droit musulman, 2. Aufl. 1987, 227; Kotzur (Anm. 48), 29.

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renzieren oder aber die Integration in unsere Gesellschaftsordnung forcieren? Das Spannungsverhältnis von Toleranz und Integration ist hochpolitisch122 und soll hier nur aus der Perspektive des Internationalen Privatrechts beleuchtet werden. Zunächst gebietet die in Art. 4 I GG garantierte Religionsfreiheit dem Kollisionsrechtsgesetzgeber nicht, überhaupt religiöses Recht für anwendbar zu erklären. 123 Der Staat darf sich mit keiner Religion identifizieren, keine bevorzugen, doch ein eigenständiges Toleranzgebot enthält unsere Verfassung gerade nicht. 124 Ganz im Gegenteil spricht das Diskriminierungsverbot des Art. 3 I I I 1 GG dafür, den Einfluss religiöser Rechte möglichst zurückzudrängen, zumal wenn es nicht nur um die Selbstverwirklichung eines Einzelnen geht, sondern von ihm abhängige Frauen und Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden (Art. 3 I I 1, 61 GG). Über die Religionsfreiheit darf nicht die für alle geltende staatliche Rechtsordnung ausgehebelt werden. Das säkulare staatliche Recht ist immer auch Schutz vor einer Bevormundung durch nichtstaatliche Rechtsetzung.125 Mit Achtung der „kulturellen Identität" (oben Β. II.) hat es nichts zu tun, wenn die Anwendung religiösen Rechts zur Verfestigung patriarchalischer Herrschaftsstrukturen 126 führt. Wenn in Deutschland lebende Musliminnen diesen Strukturen entfliehen wollen, muss die deutsche Rechtsordnung sie unterstützen und darf sie nicht kollisionsrechtlich durch die Anwendung religiösen Rechts gegenüber anderen in Deutschland lebenden Frauen benachteiligen. In einem säkularen Rechtsstaat werden die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch den demokratisch legitimierten staatlichen Gesetzgeber bestimmt (oben Α. IV. 1.). Dabei wird, solange die Lebensverhältnisse hinreichend homogen sind, Rechtseinheit und damit eine Gleichbehandlung aller Einwohner (Art. 3 I GG) angestrebt. Das spricht kollisionsrechtlich für eine verstärkte Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, die sich im Unterhalts- und im Kindschaftsrecht durchgesetzt hat (Art. 18, 21 EGBGB) und auch im übrigen Familienrecht immer weiter vordringt. 127 Enklaven ausländischen Heimatrechts, wie sie für in Deutschland lebende iranische Familien noch Art. 8 I I I des deutsch-

122

Vgl. die Titelstory im SPIEGEL Nr. 47 vom 15.11.2004, 60 ff., Allahs rechtlose Töchter: Muslimische Frauen in Deutschland. 123 Vgl. Menhofer (Anm. 48), 249. 124

Vgl. Muckel (Anm. 1), 116-120, der den Toleranzgedanken nur als „Abwägungsleitlinie" bei der Herstellung praktischer Konkordanz für brauchbar hält, ebd., 118. 125 Vgl. auch Mankowski (Anm. 65), 287. 126 127

Sehr deutlich Sure 4, Vers 35.

Vgl. Art. 14 I Nr. 2, 19 I 1, 20 EGBGB; Dieter Henrich, Abschied vom Staatsangehörigkeitsprinzip, in: Festschrift Hans Stoll, 2001, 437, 449.

Religion und Internationales Privatrecht

205

iranischen Niederlassungsabkommens vom 17.2.1929 vorsieht, 128 sind heute eher unerwünscht. Solche Insellösungen ausländischer Heimat- und erst recht religiöser Rechte nähren das Wachstum ethnischer Kolonien in deutschen Großstädten. Hier ist das Staatsangehörigkeitsprinzip keineswegs fortschrittlicher Ausdruck der „kulturellen Identität" der in Deutschland lebenden Ausländer, 129 sondern eine höchst problematische „Begünstigung der Assimilationsunwilligen". 130 Zum einen erschwert das Staatsangehörigkeitsprinzip die Integration der assimilationswilligen Ausländer, solange sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben (dann Art. 5 I EGBGB) oder solange man ihnen nicht erlaubt, das Aufenthaltsrecht als ihr Personalstatut zu wählen (oben Β. II.). Zum anderen darf kein demokratischer Rechtsstaat die Entstehung von Parallelgesellschaften auf seinem Territorium dulden. Wir können es nicht hinnehmen, dass in Teilen unserer Gesellschaft unter Berufung auf religiöses Recht allgemein geltende Pflichten umgangen oder gar Grundrechte außer Kraft gesetzt werden. Ein Beispiel für falsch verstandene Toleranz ist die widersprüchliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das ein islamisches Mädchen vom koedukativen Sportunterricht befreit und zugleich eine entsprechende Befreiung eines christlichen Mädchens vom Schwimmunterricht abgelehnt hat. 131 Hier muss man, wie bei der Kopftuchdiskussion, aufpassen, dass nicht unter dem Deckmantel der Toleranz gegenüber religiösen Geboten unerwünschte (und oft verfassungswidrige) Diskriminierungen, insbesondere von Frauen und Mädchen, vertieft werden. Der auch kollisionsrechtlich gebotene Schutz der Schwächeren macht vor religiösem Recht nicht halt; die selbstbestimmte freie Entfaltung und das Kindeswohl stehen nicht zur Disposition eines religiösen Rechts. Über den ordre public (oben Β. I.) muss der Staat nicht nur die überschießende Anwendung religiösen Rechts abwehren, wenn der Betroffene dieser Religion nicht oder nicht mehr angehört; 132 auch gegenüber den Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft darf der Staat zwar nicht deren individuelle oder kollektive Religionsausübung, wohl aber die Rechtsverhältnisse im Zusammenleben eines staatlichen Gemeinwesens regeln, und er muss dies diskriminierungsfrei tun. Zuviel Toleranz gegenüber religiösen Rechtsvorstellungen schadet dabei nicht nur dem Individuum, sondern auch unserer demokratischen Gesellschaft. In einem 128

Siehe Anm. 110; vgl. Hans Theodor Soer gel/Gerhard 1996, vor Art. 3 EGBGB, Rn. 46. 129

Gegen Mansel (Anm. 70), 133.

130

Henrich (Anm. 65), 323.

Kegel, BGB, Bd. 10,12. Aufl.

131 BVerwG 25.8.1993, BVerwGE 94, 82, und vom selben Tage derselbe Senat, DVB1. 1994, 168; vgl. Muckel (Anm. 1), 83 ff. 132 Vgl. Menhofer (Anm. 48), 249 ff.

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Punkt schließlich verbietet sich jede Toleranz: gegenüber der Intoleranz! Die Entwicklung von Parallelgesellschaften, die auf deutschem Territorium einen Gottesstaat errichten wollen, der das Ende jeder religiösen Toleranz bedeuten würde, muss entschieden bekämpft werden. Wir müssen uns bemühen, die in Deutschland lebenden Ausländer durch Sprache und Kultur zu integrieren. Hierzu kann auch das deutsche Internationale Privatrecht einen Beitrag leisten. Das Instrument hierfür ist neben einer verstärkten Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der nur auf den ersten Blick brutal und intolerant wirkende deutsche ordre public (Art. 6 EGBGB). Richtig eingesetzt ist er auch und gerade gegenüber fremdem religiösen Recht eine segensreiche Medizin.

Religion und Recht der Europäischen Union Von Christian Walter Auf den ersten Blick scheint das geltende Recht der Europäischen Union wenig mit Religion zu tun zu haben. Der Textbefund ist eher dürftig. Blättert man die Vertragstexte durch, so findet man zunächst nur einen ausdrücklichen Hinweis auf „Religion" in der Antidiskriminierungsvorschrift des Art. 13 Abs. 1 EG-Vertrag. Um die zweite Vorschrift mit Bezug zu Religionsgemeinschaften zu finden, bedarf es schon eines sehr kundigen Blätterers. Sie versteckt sich in der Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen- und weltanschaulichen Gemeinschaften in der Schlussakte von Amsterdam 1 und lautet: Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.

Schließlich ist im Rahmen des Textbefundes noch auf die - bislang unverbindliche - Charta der Grundrechte der EU hinzuweisen, die das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 10) im Rahmen der Union garantiert, das Elternrecht auf religiöse Kindererziehung schützt (Art. 14 Abs. 3), gleichfalls ein Diskriminierungsverbot enthält (Art. 21) und außerdem zur Achtung der Vielfalt der Religionen verpflichtet. 2 Viel kommt also bei einer Durchsicht der vertraglichen Bestimmungen nicht zustande, und so fragt sich, ob das Thema „Religion und Recht der Europäischen Union" tatsächlich ein Thema ist, das näherer Behandlung lohnt. Auch hier zeigt 1 Ausführlich zu Entstehungsgeschichte und Hintergrund, B. Grzeszick, Die Kirchenerklärung zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) 48 (2003), 284 ff. (285 ff.); H. M. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003,415 ff.; ders., Zwischen Tradition und Transformation - das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zum Europäischen Religionsverfassungsrecht, Zeitschrift für evangelische Ethik 43 (1999), 294 ff. (303 ff.). 2 Ausführlich dazu S. Hölscheidt/E. Mund, Religionen und Kirchen im europäischen Verfassungsverbund, Europarecht (EuR) 2003, 1083 ff. (1087 ff.); H. M. Heinig, Die Religion, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, ZevKR 46 (2001), 440 ff.

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sich aber, wie so oft im Recht der Europäischen Union, dass die wahre Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für einen konkreten Lebenssachverhalt sich nicht allein an den vorhandenen Normen ablesen lässt, sondern erst bei näherer Betrachtung der rechtlichen Praxis sichtbar wird. Anders gewendet: Die Brisanz liegt nicht in den Kompetenzen der Gemeinschaft, sondern in den mittelbaren Folgen ihrer Ausübung auf religionsbezogene Sachverhalte.3 Konkrete Beispiele, an denen sich solche versteckten Wirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsstellung von Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zeigen, sind das Datenschutzrecht,4 das kirchliche Arbeitsrecht 5 und die Anwendung des Europäischen Wettbewerbsrechts auf karitative Einrichtungen. 6 Bevor diesen Fragen näher nachgegangen wird, soll aber zunächst in einem ersten Abschnitt die grundsätzliche Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Bereich der Religion betrachtet werden. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Ausblick auf die Änderungen des unionalen Religionsverfassungsrechts, die sich im Falle des In-KraftTretens des Vertrags über eine Verfassung für Europa ergeben würden.

A. Kompetenzverteilung Die deutsche staatskirchenrechtliche Literatur war in einer ersten Phase stark von dem Gedanken der Abschottung des deutschen Staatskirchenrechts gegenüber dem Europäischen Gemeinschaftsrecht geprägt. Josef Isensee warnte vor der „supranationalen Walze", die über die Besonderheiten des nationalen Staatskirchenrechts hinwegrolle, 7 Axel Freiherr von Campenhausen befürchtete einen

3

C. Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, Juristenzeitung 2003, 978 ff. (982). 4 Ausführliche Darstellungen bei C. Starck, Das deutsche Kirchensteuerrecht und die Europäische Integration, in: Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, 1427 ff. (1432 ff.); G. Robbers, Das Datenschutzrecht und die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Datenschutzrecht und die Kirchen, 1994,33 ff. (42 f.); H. Weber, Geltungsbereiche des primären und sekundären Europarechts für die Kirchen, ZevKR 47 (2002), 221 ff. (230 f.); M. Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, 357 ff. 5 Dazu ausführlich unten B. 6 7

Dazu ausführlich unten C.

J. Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Festschrift für Joseph Listi, 1999, 67 ff. (73).

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„Kahlschlag bewährter Freiheit schützender Institutionen",8 und Christian Hillgruber äußerte Sorge vor „gleichmacherischer Einebnung". Auch wenn es von Anfang an einzelne Stimmen gab, die dazu aufriefen, keine rein defensive Haltung einzunehmen, sondern die eigenen Vorstellungen aktiv und werbend in den supranationalen Rechtssetzungsprozess einzubringen, 9 überwog doch insgesamt diese abwehrende Haltung. Mit ihr ging die Tendenz einher, Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten vor allem unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit der Gemeinschaft zu betrachten. Auch in der jüngeren Generation ist der Abschottungsgedanke nicht gänzlich verschwunden. So wird der Versuch unternommen, den alten Grundsatz des nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet heranzuziehen, um abstrakt Regelungsgrenzen für den Gemeinschaftsgesetzgeber zu formulieren. 10 Grundidee ist, dass die Mitgliedstaaten eine Kompetenz, die sie selbst nicht haben, nicht auf die Gemeinschaft übertragen könnten. Folglich könne die Gemeinschaft dort keine Zuständigkeiten besitzen, wo die Mitgliedstaaten selbst kraft ihres eigenen Verfassungsrechts „schlechterdings" keine Zuständigkeiten hätten. Eine solche schlechterdings fehlende Zuständigkeit wird für den Bereich der so genannten „innerkirchlichen Angelegenheiten" angenommen, welche auf Grund des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts der staatlichen Regelung von vornherein entzogen seien. In dieser Argumentation klingt die überholte Koordinationslehre an, nach der Staat und Kirche zwei gleichberechtigte Mächte seien, die sich auf gleicher Augenhöhe begegnen, und die Kirche über eine eigene, vom Staat nicht abgeleitete öffentliche Gewalt verfüge. 11 Versteht man das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften dagegen nicht als eine Kompetenznorm, die Zuständigkeiten zwischen Staat und Kirchen verteilt, sondern als einen grundrechtlich garantierten Freiraum für die Entfaltung von Eigenverantwortlichkeit, dann wird deutlich, dass es beim Schutz der Entfaltungsfreiheit von Religionsgemeinschaften

8

A. Frhr. v. Campenhausen, Rheinischer Merkur/Christ und Welt, Nr. 44 vom 3. November 1989, zitiert bei A. Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), 250 ff. (282). 9 10 11

C. Hillgruber,

Staat und Religion, Deutsches Verwaltungsblatt 1999, 1155 ff. (1178).

S. Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002, 29 f.

Zur Koordinationslehre etwa S. Grundmann, Staat und Kirche in Bayern, Bayerische Verwaltungsblätter 1962, 33 ff. (33); H. Peters, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 11 (1954), 177 ff. (187); dazu auch die Darstellungen und Bewertungen bei W. Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, 1996, 74 ff.; B. Jeand' Heur/S. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 44 f.; E.-W. Böckenförde, Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Religionsfreiheit, 1990, 113 ff. (119 ff.).

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vor dem Gesetzgeber nicht an einer übertragbaren Hoheitsgewalt fehlt, sondern um die Schranken bei deren Ausübung geht.12 Zudem lässt sich sagen, dass die Argumentation der Rechtsnatur des europäischen Integrationsprozesses nicht gerecht wird. Wollte man nämlich die Gemeinschaftszuständigkeit nur als eine Summe der von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsrechte verstehen, so müsste bei jedem Kompetenzstreit nicht nur der EG-Vertrag herangezogen werden, sondern es bedürfte einer Analyse aller (!) nationalen Verfassungen, um zu ermitteln, ob nach deren Recht die konkret umstrittene Zuständigkeit überhaupt übertragen werden konnte. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in seiner Solange-IEntscheidung die Rechtsprechung des EuGH akzeptiert, nach der „das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt". 13 Der dort akzeptierte Gedanke der „autonomen Rechtsquelle" steht einer Argumentation mit dem Grundsatz des nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet entgegen. Die genannten Überlegungen machen deutlich, dass Lösungen für staatskirchenrechtliche Problemlagen im Einflussbereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts innerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Argumentationsmuster gefunden werden müssen und nicht im Wege der Abgrenzung von Kompetenzen. Um die Aussage an einem konkreten Beispiel zu belegen: Der Sorge um eine der katholischen Kirche europarechtlich aus Gleichheitsgründen aufoktroyierte Priesterin 14 ist nicht auf der Zuständigkeitsebene vorzubeugen, sondern ihr muss im Rahmen des (europäischen!) Grundrechtsschutzes begegnet werden. Dies bedeutet konkret, dass die Gemeinschaft die katholische Kirche nicht zur Frauenordination zwingen kann, weil dies gegen deren - als europäisches Grundrecht garantierte - kooperative Religionsfreiheit verstieße - und nicht, weil es ihr an der Kompetenz fehlt. Insofern ist es auch missverständlich, wenn in der Literatur die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als eine „europäische Verfassungskollisionsnorm" gedeutet wird, 15 denn es geht gerade nicht um eine Kollision von verschiedenen Verfassungsnormen, sondern allein um die Durchsetzung der Religionsfreiheit gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber.

12

Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften (Anm. 1), 392 ff.

13

BVerfGE 37, 271 (277 f.).

14

Dies ist das auf W. Rüfner, Staatskirchenrechtliche Überlegungen zu Status und Finanzierung der Kirchen im vereinten Europa, in: Verfassungsrecht im Wandel - Festschrift zum 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, 1995, 485 ff. (488), zurückgehende Beispiel von Miickl (Anm. 10). 15 W. Bausback, Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, EuR 2000, 261 ff. (273).

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Im Zusammenhang der Kompetenzfragen ist auch die eingangs erwähnte Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag zu sehen. Wie andere völkerrechtliche Erklärungen ist die Kirchenerklärung nicht als solche verbindlich, sondern nach Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention nur bei der Auslegung des Vertrages zu berücksichtigen.16 Die Erklärung bedarf daher einer primärrechtlichen Anbindung, um als Auslegungsinstrument mittelbare Wirkungen entfalten zu können. Vergleichbar dem Charakter einer Staatszielbestimmung im deutschen Verfassungsrecht entfaltet die Erklärung in der rechtspolitischen Auseinandersetzung bei der Schaffung neuen Gemeinschaftsrechts ihre Wirkung. Für die Ausübung der gemeinschaftlichen Kompetenz ist schließlich Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag von Bedeutung, der die Union verpflichtet, die „nationale Identität der Mitgliedstaaten4' zu achten. Religionsverfassungsrechtliche Traditionen der Mitgliedstaaten weisen vielfach enge Bezüge zu dem auf, was man unter ihrer nationalen Identität verstehen kann. Über diesen Ausgangspunkt lässt sich kaum streiten.17 Frankreich, Griechenland und Irland mögen als Beispiele genügen. Mit einer so allgemeinen Aussage ist freilich noch nicht viel gewonnen, denn konkrete Rechtsstreitigkeiten entstehen meist nicht auf der Ebene abstrakter Verfassungsprinzipien, sondern bei der Anwendung des Rechts im Einzelfall. Auch kann man wohl kaum unter den offenen Begriff der „nationalen Identität der Mitgliedstaaten" ein gesamtes Rechtsgebiet subsumieren. Daraus folgt, dass kein Mitgliedstaat unter Berufung auf Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag „sein" Staatskirchenrecht vor Eingriffen schützen kann.18 Vielmehr ist konkret zu fragen, welche einzelnen Rechtssätze in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag fallen. Man wird kaum die besondere Form des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland oder den staatlichen Kirchensteuereinzug (einschließlich des Lohnsteuerabzugsverfahrens) in den Anwendungsbereich bringen können.19 Als identitätsstiftend übrig bleiben allenfalls grundlegende Prinzipien wie das Verbot der Staatskirche, 16

Ganz h.M., siehe statt anderer Jeand'Heur/Korioth (Anm. 11), Rn. 379; M. Baldus, Die Europäische Union und die Kirchen - Juristische Reflexionen über einen ambivalenten Zustand, Revue Hellénique de Droit International 53 (2000), 189 ff. (192 f.), sowie die umfangreichen Nachweise bei Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, (Anm. 1), 419, Anm. 164; tendenziell a.A. Hillgruber (Anm. 9), 1178, mit der Formulierung, dass die Kirchen aufgrund dieser Vorschrift dem „gemeinschaftsrechtlichen Regelungszugriff entzogen" seien. 17 Siehe auch Waldhoff (Anm. 3), 985. 18

Vgl. aber M. Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Festschrift für Joseph Listi, 1999, 29 ff. (36). 19

Zu Recht ablehnend Mückl (Anm. 10), 27; zweifelnd auch Baldus (Anm. 16), 210; anders dagegen die Tendenz bei R. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 3. Aufl. 2000, § 1, Überschrift E (vor Rn. 31).

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die Religions- und Weltanschauungsfreiheit und das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen sowie das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. 20 Da sich diese allgemeinen Strukturprinzipien aber in gleicher Weise auf europäischer Ebene finden, erweist sich der in der deutschen Diskussion über die Wirkungen von Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag im Vordergrund stehende Abschottungsgedanke von vornherein als problematisch. Der vorausgesetzte Konflikt zwischen europäischer und nationaler Identität existiert in dieser Form nicht. 21 Damit lässt sich festhalten, dass Lösungen für Kompetenzkonflikte auf der Ebene des europäischen Rechts in Anwendung allgemeiner Grundsätze zu suchen sind. Zu diesen gehören die Religionsfreiheit (in ihrer individuellen und kooperativen Dimension) als europäisches Grundrecht, das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen und die allgemeinen Kompetenzverteilungsregeln der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Das Staatskirchenrecht erweist sich damit auf europäischer Ebene nicht als ein Sonderrecht, das besonderen Kompetenzverteilungsregeln unterliegt, sondern es ist im Wesentlichen mit den allgemeinen Grundsätzen der Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft, die auch sonst gelten, und unter Heranziehung der Gemeinschaftsgrundrechte zu lösen.

B. Auswirkungen im kirchlichen Arbeitsrecht Das kirchliche Arbeitsrecht gehört seit jeher zu den besonders umstrittenen Bereichen des Staatskirchenrechts. Religiös geprägten Vereinigungen kann es nicht verwehrt sein, besondere Loyalitätsanforderungen für Arbeitnehmer in ihren Einrichtungen aufzustellen und durchzusetzen. Dies tritt aber potentiell in Konflikt mit dem staatlichen Arbeitsrecht, das Diskriminierungen auf Grund der Religionszugehörigkeit jedenfalls grundsätzlich ausschließt. Für diese Kollisionslage bieten sich im Wesentlichen zwei Lösungen an. Vielfach wird - ähnlich wie auch im Bereich des Presserechts - die Lösung über einen so genannten Tendenzschutz gesucht. Danach wird grundsätzlich die religiöse oder weltanschauliche Prägung der betreffenden Arbeitsverhältnisse anerkannt, Umfang und Grenzen dieser Prägung unterliegen jedoch in vollem Umfang der Nachprüfung durch die staatli-

20 21

Waldhoff

(Anm. 3), 985.

Diese Überlegung wird gestützt durch Arbeiten, die den Grundgedanken eines Konflikts zwischen nationaler und europäischer Kultur in Zweifel ziehen und die Wechselwirkungen zwischen beiden betonen. Siehe U. Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), 591 ff. (619 f.); ebenso M Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 157 ff. (164 ff.).

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213

che Gerichtsbarkeit. Diesem Modell folgt etwa die Rechtsprechung in Frankreich. 22 In Deutschland wird dagegen die Entscheidung über die Reichweite der Loyalitätsanforderungen als dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften unterfallend angesehen und ist damit der Überprüfung der staatlichen Gerichte weitgehend entzogen.23 Deshalb bemüht man sich auch in der Terminologie um eine Abgrenzung von Konzeptionen des Tendenzschutzes.24 Dies hat zur Konsequenz, dass auch heute noch die so genannte Anstreicher-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1956 für nicht grundsätzlich überholt angesehen wird. 25 In dieser Entscheidung wurde die Kündigung eines Anstreichers in einem katholischen Krankenhaus für rechtmäßig erachtet, weil dieser eine kirchlich ungültige zweite Ehe geschlossen hatte.26 Schon nach deutschem Recht kann man zweifeln, ob hier nicht stärker als bisher neben dem Selbstbestimmungsrecht als Rechtsposition der Religionsgemeinschaft Grundrechte des betroffenen Arbeitnehmers (Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 GG und Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG) berücksichtigt werden müssten.27 In dem von der staatlichen Rechtsprechung insoweit aus dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht übernommenen Begriff der „kirchlichen Dienstgemeinschaft" gehen derartige Grundrechte und die mit ihnen einhergehenden Unterschiede in den Fallkonstellationen verloren. Dies mag aus der Sicht des kirchlichen Selbstverständnisses verständlich und

22

Vgl. dazu die Grundsatzentscheidung der Cour de Cassation aus dem Jahr 1978 (Cour Cass., Entscheidung vom 19. Mai 1978 - Mme. Roy c. Ass. pour l'éducation populaire Sainte Marthe, Ree. Dalloz 1978, 541 ff., nach der die religiösen Überzeugungen „Grundlage und wesentlicher Bestandteil" des Arbeitsvertrages geworden seien (546); dazu die Anmerkung von Ph. Ardant, Jurisclasseur Périodique (JCP) 1978, 11.19009; siehe auch Cass. Soc., Entscheidung vom 17. April 1991 - P. c./Association Fraternité Saint-Pie Χ, Droit social 1991, 489 f.; JCP 1991, 11.21723 mit Anmerkung A. Sériaux; siehe auch J. Savatier, Le licenciement, à raison des moeurs, d'un salarié d'une association à caractère religieux, Droit social 1991, 485 ff.; aus der Rechtsprechung des Conseil d'Etat etwa CE, Entscheidung vom 20. Juli 1990 - Association familiale de l'externat Saint-Joseph, Droit social 1990, 862; siehe auch A. de Saint Exupéry, La jurisprudence française et le caractère propre de l'enseignement catholique, L'année canonique 37 (1994), 47 ff. (53). 23 Maßgeblich ist nach wie vor BVerfGE 70, 138 (168). 24 W. Rüfner, Individualrechtliche Aspekte des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Zweiter Band, 2. Aufl. 1995,901 ff. (905 f.); G. Müller-Volbehr, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen, 1999, 108. 25 Rüfner (Anm. 24), 907 f. 26 27

BAGE 2, 279.

So B. Rüthers, Wie kirchentreu müssen kirchliche Arbeitnehmer sein?, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1986, 356 ff. (359).

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sogar geboten sein. Problematisch ist jedoch, dass die deutsche Lösung den Umfang des staatlichen Rechtschutzes allein hiervon abhängig macht.28 Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde nun in Art. 13 EG-Vertrag eine Vorschrift geschaffen, die der Gemeinschaft erstmals eine ausdrückliche Zuständigkeit mit Bezug zu Diskriminierung aus Gründen der Religionszugehörigkeit einräumt. 29 Von den beiden in Ausführung dieser Vorschrift erlassenen Richtlinien ist diejenige vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG) 30 von Bedeutung für das kirchliche Arbeitsrecht. Die Kirchen haben schnell erkannt, dass mit der Festlegung eines Europäischen Mindeststandards sehr wahrscheinlich Veränderungen an der bisherigen deutschen Rechtslage verbunden gewesen wären. Erste Entwürfe für die Richtlinie, die stets von „wesentlichen beruflichen Anforderungen" sprachen,31 hätten eine stärkere staatliche Überprüfbarkeit impliziert. Die Anknüpfung an „wesentliche berufliche Anforderungen" hätte den in Deutschland maßgeblichen Gedanken der „kirchlichen Dienstgemeinschaft" überlagert und wohl bestimmte Berufsgruppen (etwa das Hausmeisteroder Reinigungspersonal in kirchlichen Einrichtungen) von den Loyalitätspflichten ausgenommen. Damit wäre ein eigener europäischer Tendenzschutz im kirchlichen Arbeitsrecht begründet worden. Die schließlich angenommene Richtlinie schlägt in Art. 4 nun einen gänzlich anderen Weg ein. Die Vorschrift enthält in Abs. 1 eine allgemeine Tendenzschutzregel und in Abs. 2 einen Bestandsschutz der staatskirchenrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten im Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen fehlt es weitgehend an der Formulierung eines gemeinsamen europäischen Standards und zum anderen werden die den Mitglied-

28

Siehe insofern u.a. die Kritik bei M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, 161 ff.; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften (Anm. 1), 169; M. Dröge, Der religionsverfassungsrechtliche Tendenzschutz im Arbeitsrecht, in: G. Klinkhammer/T. Frick (Hrsg.), Religionen und Recht, 2002, 203 ff. (213 ff.). 29 Ausführlich hierzu H. M. Heinig, Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz, in: A. Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, 215 ff. 30 Amtsblatt (ABl.) 2000 Nr. L 303/16; zu deren allgemeinen Auswirkungen im Arbeitsrecht ein knapper Überblick bei J.-H. Bauer, Europäische Antidiskriminierungsrichtlinien und ihr Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht, NJW 2001, 2672 ff. 31 Der Text der Entwürfe einschließlich Nachweisen zur politischen und wissenschaftlichen Diskussion ist abgedruckt bei Heinig (Anm. 29), 238 f.; siehe auch J. Winter, Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, 893 ff. (897).

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Staaten zugestandenen Regelungsspielräume auf dem Stand des Jahres 2001 eingefroren. Die Struktur der Vorschrift lässt sich dahin zusammenfassen, dass in Abs. 1 ein allgemeiner Tendenzschutz begründet wird, Abs. 2 Satz 1 Ungleichbehandlungen auf Grund der Religions Zugehörigkeit

zulässt und Abs. 2 Satz 3

religiös oder weltanschaulich motivierte Verhaltensanforderungen

ermöglicht. Die

Vorschrift lautet i m Wortlaut: (1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. (2) Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten. Hinsichtlich der Rechtsfolgen ist es wichtig, zu erkennen, dass die in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 enthaltene Einschränkung, nach der die Religion oder Weltanschauung der betreffenden Person nach „der A r t der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation" darstellen muss, sich nur auf die unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Religionszugehörigkeit

bezieht. Die

genannte Einschränkung kommt demnach zur Anwendung, wenn eine unterschiedliche Behandlung mit der Religionszugehörigkeit gerechtfertigt wird. A n dieser Stelle könnten sich Unterschiede zur bisherigen deutschen Rechtsprechung ergeben, die bislang keine vergleichbare Qualifikation kennt. Anders steht es dagegen bei Verhaltensanforderungen,

die i m Ethos der Organisation begründet

sind. Diese bemessen sich allein nach Satz 3. Dort aber ist gerade keine nähere

216

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Qualifikation des betroffenen Personenkreises vorgenommen. 32 Man wird deshalb nach dem Wortlaut der Richtlinie davon ausgehen müssen, dass mögliche Grenzen der Loyalitätsanforderungen ausschließlich den „einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften" entnommen werden können. Dies hat zur Konsequenz, dass die oben beschriebene deutsche Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht weitgehend unbeeinflusst bleiben wird. 33 Für das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Religionsverfassungsrecht kann an dieser Stelle zunächst einmal festgehalten werden, dass der vom Gemeinschaftsgesetzgeber beim kirchlichen Arbeitsrecht gewählte Weg nicht in einer großen „europäischen" Lösung mit einem anhand der Religionsfreiheit entwickelten Tendenzschutz von Arbeitnehmern bei konfessionell gebundenen Arbeitgebern liegt, sondern im Grundsatz föderalistisch bewältigt wird. Die Ausgestaltung des Arbeitsrechts in diesem Bereich bleibt den Mitgliedstaaten weitgehend überlassen. Gleichwohl besteht mit den in der Richtlinie enthaltenen einschränkenden Formulierungen ein europarechtlicher Minimalstandard, der zumindest einen „Rationalisierungsschub" im kirchlichen Arbeitsrecht mit sich bringt. 34 Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die vom Bundesverfassungsgericht bei der Abwägung zwischen den Individualrechten des Arbeitnehmers einerseits und den aus der korporativen Religionsfreiheit fließenden Rechten der kirchlichen Arbeitgeber andererseits vorgenommene starke Betonung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zu Überschreitungen des europarechtlichen Minimalstandards an den äußeren Randbereichen führt. 35 Eine Besonderheit ergibt sich zudem bei so genannten „doppelten Diskriminierungen". Hier schließt Art. 4 Abs. 2 Satz 2 es ausdrücklich aus, den Rechtfertigungsgrund aus Satz 1 für die Ungleichbehandlung aus religiösen Gründen auch auf Diskriminierungen aus anderen Gründen zu erstrecken. Dies kann bei Anforderungen kirchlicher Arbeitgeber hinsichtlich der sexuellen Ausrichtung Konsequenzen haben, denn die Richtlinie verbietet ausdrücklich neben Diskriminierungen aus religiösen Gründen auch eine Diskriminie32

Nicht genau genug insoweit H. Schliemann, Das kirchliche Arbeitsrecht zwischen Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht - Rechtslage und Perspektiven, in: A. Frhr. von Campenhausen (Hrsg.), Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EUGemeinschaft, 2003, 113 ff. (124). 33 So namentlich P. Hanau/G. Thiising, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht, 2001, 33 f.; C. Grabenwarter, Die Kirchen in der Europäischen Union - am Beispiel von Diskriminierungsverboten in Beschäftigung und Beruf, in: C. Grabenwarter/N. Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, 60 ff. (76 f.). 34 H. Reichold, Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht - Auswirkungen der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78/EG auf kirchliche Arbeitsverhältnisse, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 18 (2001), 1054 ff. (1060). 35 Heinig (Anm. 29), 240; ebenso die Einschätzung bei Weber (Anm. 4), 240.

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rung auf Grund der sexuellen Orientierung. Mit der ausdrücklichen Nichtanwendbarkeit des Ausnahmetatbestands in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie auf andere als religiöse Unterscheidungen dürfte deshalb feststehen, dass die sexuelle Orientierung nicht ohne weiteres zu einem Kündigungsgrund gemacht werden kann. Es handelt sich zwar theoretisch um eine nach Art. 4 Abs. 2 Satz 3 zulässige Verhaltensanforderung, damit hier aber eine Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung verbunden ist, greift der Vorbehalt des Art. 4 Abs. 2 Satz 2 ein, der als „Bestimmung dieser Richtlinie im Übrigen" vorgeht. Bei derartigen „doppelten Diskriminierungen" muss deshalb die Lösung anhand der allgemeinen Tendenzschutzregel des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie gesucht werden. Danach hat eine angemessene Berücksichtigung der kirchlichen Arbeitgeberbelange im Wege der Abwägung stattzufinden, ein automatischer Vorrang, wie er nach dem deutschen Recht anerkannt wäre, ist damit aber nicht verbunden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der kirchlichen Rechtspolitik auf europäischer Ebene in erstaunlich großem Umfang gelungen ist, nationale Besonderheiten des Dienst- und Arbeitsrechts in Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu erhalten. Das frühzeitige Engagement der Kirchen für ihre arbeitsrechtlichen Interessen hat sich insofern ganz sicher gelohnt.

C. Karitative Tätigkeit von Religionsgemeinschaften und Europäisches Gemeinschaftsrecht Caritas und Diakonie sind traditionelle Formen christlicher Religionsausübung.36 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt die karitative Tätigkeit von Religionsgemeinschaften eine Form der Religionsausübung dar und unterfällt mithin dem Schutz der Religionsfreiheit. 37 Zugleich kann aber kein Zweifel dran bestehen, dass Religionsgemeinschaften mit ihrer karitativen Betätigung vielfach wirtschaftlich bedeutsame Aktivitäten entfalten. 38 Damit ist zumindest potentiell der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts berührt, denn durch die karitative Tätigkeit von Religionsgemeinschaften können gemein-

36

Zuletzt K.-A. Schwarz, Karitatives Wirken zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, EuR 2002, 192 ff., 194 ff., mit zahlreichen Nachweisen zur religiösen Fundierung im Gebot der Nächstenliebe und zur Geschichte von Caritas und Diakonie. 37 38

BVerfGE 53, 366 (392 f.).

J. Gohde/K. Erdmenger/G. Cless, Diakonie im europäischen Wettbewerb - Über strukturelle Auswirkungen unseres Marktverhaltens in Deutschland und Europa, in: J. Gohde (Hrsg.), Das soziale Europa gestalten. Von der Wirtschaftsunion zur Sozialunion, 2001, 93 ff. (100 f.).

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schaftsrechtlich geschützte Rechte privater Konkurrenten und insgesamt das Europäische Wirtschaftsrecht berührt werden. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass das Gemeinschaftsrecht nicht nur negativ im Sinne einer Beschränkung von Möglichkeiten karitativer Einrichtungen wirkt, die diese nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten haben. Vielmehr lässt sich über eine Berechtigung karitativer Einrichtungen aus den Grundfreiheiten gleichfalls nachdenken. Problematisch erscheint insoweit lediglich, dass Art. 48 Abs. 2 EG-Vertrag Gesellschaften von der Anwendung der Niederlassungsfreiheit ausnimmt, „die keinen Erwerbszweck" verfolgen. Was darunter genau zu verstehen ist, ist umstritten. Während einerseits die Auffassung vertreten wird, „rein karitative Betätigungen" fielen nicht unter die Niederlassungsfreiheit, 39 sprechen die besseren Gründe dafür, mit der Kommission 40 den Begriff Erwerbszweck extensiv im Sinne einer Teilnahme am Wirtschaftsleben zu interpretieren. 41 Ausgeschlossen sind dann lediglich Vereinigungen, die sich in keiner Weise wirtschaftlich betätigen. Es kommt demnach nicht darauf an, ob ein Gewinn erzielt werden soll, sondern allein darauf, ob das Unternehmen in einem Bereich tätig wird, für den es einen Markt gibt. 42 Umgekehrt gilt freilich auch, dass Rechte privater Konkurrenten aus den Grundfreiheiten gleichfalls anerkannt werden müssen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der EuGH zwar grundsätzlich die Möglichkeit der Mitgliedstaaten anerkannt hat, die Durchführung gesundheitsbezogener Leistungen im Rahmen der Sozialhilfe allein auf private Wirtschaftsteilnehmer zu beschränken, die keinen Erwerbszweck verfolgen. 43 Geschieht das, dann folgt grundsätzlich aus dem Charakter der 39 A. Randelzhof er/U. Forsthoff, Kommentar, 27. Lfg. 6/2005.

Art. 48, Rn. 8, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), EU-

40 „Der Begriff „Erwerbszweck" muss extensiv im Sinne einer Teilnahme am Wirtschaftsleben interpretiert werden, wie sie juristischen Personen zuerkannt werden kann, die keine Gesellschaften sind und deren Gegenstand darin besteht, als Haupt- oder Nebenzweck eine normalerweise entgeltliche wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben; damit kämen lediglich Vereinigungen, die sich in keiner Weise wirtschaftlich betätigen, nicht in den Genuss der Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr." (SEK (89) 2187 endg.; abgedruckt in BR-Drs. 33/90, 26 f.; Wiedergabe ohne Anmerkungen; Hervorhebung vom Verfasser). 41 Siehe auch die auf ein vergleichbares Ergebnis hinaus laufende Argumentation mit der Parallele zum europäischen Wettbewerbsrecht bei M. Hartwig, Korporative Religionsfreiheit und soziale Tätigkeit, in: R. Grote/Th. Marauhn (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht - Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001, 509 ff. (535 f.), und Schwarz (Anm. 36), 209. 42 Ähnlich T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 1586. 43

EuGH Slg 1997,1-3395, Rn. 32 und 35 - Sodemare.

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Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote, dass ausländische karitative Anbieter gleichfalls zuzulassen sind, soweit sich nicht aus dem besonderen Gegenstand eine Beschränkung auf Inländer ausnahmsweise rechtfertigen lässt. Soweit dies nicht geschieht, folgt gleichfalls aus dem gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot, dass nationale und Unternehmen aus dem europäischen Ausland gleichermaßen zuzulassen sind. 44 Besonders kritisch werden die Wirkungen des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Erbringung von Sozialleistungen durch kirchliche Wohlfahrtsverbände betrachtet. Seit dem Urteil des EuGH in der Entscheidung Ambulanz Glöckner steht fest, dass das europäische Wettbewerbsrecht grundsätzlich auch auf nichtkommerziell arbeitende Wohlfahrtseinrichtungen Anwendung findet. 45 Geht man von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts aus, so konzentriert sich alles auf die Frage nach der Anwendung der Ausnahmeklausel in Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag. Danach gelten die Wettbewerbsregeln nicht für „Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind", wenn ihre Anwendung die Erfüllung der Aufgabe rechtlich oder tatsächlich behindern würde. Als Maßstab hierfür formuliert der EuGH, dass die Beschränkung des Wettbewerbs erforderlich sein müsse, „um es dem Inhaber eines ausschließlichen Rechts zu ermöglichen, seine im Allgemeininteresse liegende Aufgabe unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen zu erfüllen". 46 Für das in Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag genannte Tatbestandsmerkmal der „Betrauung" verlangt der EuGH einen „Hoheitsakt öffentlicher Gewalt", 47 der freilich entgegen einer weit verbreiteten Meinung 48 eine vertragliche Betrauung durchaus zulässt, solange es sich um eine öffentlich-rechtliche Handlungsform handelt.49 Auch 44

Hartwig (Anm. 41), 533. EuGH Slg. 2001,1-8089, Rn. 19 ff. -Ambulanz Glöckner; Nachweise zur Entwicklung der Rechtsprechung bei M. Kaufmann, Urteilsbesprechung zu EuGH, 25.10.2001, Rs. C-475/99 (Ambulanz Glöckner), Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 2002, 137 ff. (139 f.). 46 EuGH Slg. 2001,1-8089, Rn. 51-Ambulanz Glöckner. 45

47 48

EuGH Slg. 1989, 803, Rn. 55 -Ahmed Saeed Flugreisen.

So Hartwig (Anm. 41), 538; dem folgend Schwarz (Anm. 36), 210; H. Weber, Die karitative Tätigkeit der Kirchen zwischen Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht - Rechtslage und Perspektiven, in: A. Frhr. v. Campenhausen (Hrsg.), Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EU-Gemeinschaft, 2003, 81 ff. (98). 49 Das folgt aus der Überlegung, dass das betraute Unternehmen durch staatliche Entscheidung eine privilegierte Stellung erhält; siehe dazu S. Albin, Daseinsvorsorge und EG-Beihilfenrecht, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 54 (2001), 890 ff. (896), sowie das Werben für eine flexible Handhabung wegen der verschiedenen deutschen Betrauungsmöglichkeiten bei V. Götz, Die Betrauung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 86 Abs. 2 EG) als Akt der öffentlichen Gewalt, in: Staat -

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hinsichtlich des weiteren Merkmals, dass die im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegende Aufgabe „rechtlich oder tatsächlich verhindert" werden muss, verfährt der Gerichtshof neuerdings großzügig. Er verlangt, dass die Erfüllung der Dienstleistung unter „wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen" erfolgen muss.50 Dafür soll es ausreichen, dass die Erfüllung der im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Aufgabe „sachlich oder rechtlich gefährdet würde". Ausdrücklich heißt es an anderer Stelle, dass eine Bedrohung des Überlebens des Unternehmens nicht erforderlich sei.51 Wenngleich man im Ergebnis sicher nicht jede karitative Tätigkeit unter die Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag subsumieren kann, besteht doch Anlass, das Bild vom Menschen als einem „money making animal" zu relativieren, das die Bedrohungsängste gegenüber den gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen auf Caritas und Diakonie prägt. 52 Das Gemeinschaftsrecht hat verschiedene Mechanismen entwickelt, mit denen auch nichtökonomische Erwägungen im Europäischen Wettbewerbsrecht berücksichtigt werden können.

D. Kollisionen zwischen deutschem und europäischem Religionsverfassungsrecht Im Vordergrund der bisherigen Betrachtungen stand das Bemühen, die Interessen und Bedürfnisse von Religionsgemeinschaften möglichst schon bei der Anwendung und Interpretation des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen. Soweit dies nicht gelingt, stellt sich die Frage, nach welchen Regeln mögliche Kollisionen zwischen Europarecht und nationalem Recht aufzulösen sind. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts ist die Frage eindeutig und ohne weitere Probleme mit dem Grundsatz des AnwendungsVorrangs zu beantworten. Lehnt man mit den oben dargelegten Argumenten Versuche ab, das deutsche Staatskirchenrecht insgesamt dem Einflussbereich des Gemeinschaftsrechts zu entziehen,53 so stellt sich die Frage nach anwendbaren Kollisionsnormen aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts. Kirche - Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, 921 ff. (929 ff.); auch die Kommission hält in ihrer Mitteilung zur Daseinsvorsorge eine vertragliche „Betrauung" für möglich (ABl. 2001 Nr. C 17/4, Rn. 22). 50 EuGH Slg. 1993, 1-2533, Rn. 16 - Corbeau ; dazu C. Jung, Art. 86, Rn. 45, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EU/EG-Kommentar, 2. Aufl. 2002. 51 EuGH Slg. 1997,1-5815, Rn. 59-Kommission/Frankreich; Slg. 1997,1-5699, Rn. 43 - Kommission/Niederlande. 52 Hartwig (Anm. 41), 543. 53

Siehe oben A.

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Ein gangbarer und zu annehmbaren Lösungen führender Weg ist derjenige über Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und die Solange-II-Rechtsprechung 54 des Bundesverfassungsgerichts. Versteht man die skizzierten Rechtspositionen von Religionsgemeinschaften im nationalen Verfassungsrecht als Grundrechtspositionen, 55 so fallen sie in den Anwendungsbereich der Rechtsprechung zum begrenzten Überprüfungsumfang des Gemeinschaftsrechts anhand der nationalen Grundrechte, wie er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den genannten Entscheidungen entwickelt wurde. 56 Solange ein dem im Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet ist, findet demnach eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht mehr statt. Es stellt sich aber die Frage, ob dadurch nicht vielleicht vorschnell Bastionen geräumt werden und Änderungen des gewachsenen Staatskirchenrechts ermöglicht werden, deren Reichweite nur schwer abschätzbar erscheint. Dies jedenfalls ist die Sorge, die in der deutschen Staatskirchenrechtslehre vielfach sichtbar wird. Um die Folgen sichtbar zu machen, bietet sich eine hypothetische Betrachtung an, die danach fragt, welches eigentlich das Ergebnis wäre, wenn man das Gemeinschaftsrecht anhand der Dogmatik des deutschen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) messen würde. Das Selbstbestimmungsrecht kennt als - von Anfang an umstrittene - Grenze das „für alle geltende Gesetz". Man kann also die Frage stellen, ob sich das Gemeinschaftsrecht als „für alle geltendes Gesetz" verstehen lässt. Ist das der Fall, dann sind die Veränderungen gering, denn eine entsprechende Regel würde auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht beanstandet. Es würde zu weit gehen, Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 137 Abs. 3 WRV und vor allen Dingen der literarischen Kritik an ihr hier darzustellen. 57 Die überwiegende Meinung in der Literatur vertritt entgegen 54

BVerfGE 73, 339 (387) - Solange II; BVerfGE 89, 155 (175) -Maastricht; bestätigt in BVerfGE 102, 147 (162 ff.) - Bananenmarktordnung; auf Nachweise aus der uferlosen Literatur zu diesem Thema wird bewusst verzichtet. 55 Das ist nicht unumstritten; siehe einerseits BVerfGE 102, 370 (387 und öfter); S. Magen, Zum Verhältnis von Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2001, 888 ff.; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften (Anm. 1), 52 ff. und 118 ff.; C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2005, 16. Kapitel (im Erscheinen); dagegen etwa S. Muckel, Körperschaftsrechte für die Zeugen Jehovas?, Jura 2001,456 ff.; C. Hillgruber, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, NVwZ 2001, 1347 ff. 56 Siehe namentlich Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften (Anm. 1), 435 ff. 57 Es wird insoweit auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen, siehe etwa S. Korioth, Art. 140 GG/137 WRV, Rn. 44 ff., in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-

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dem Bundesverfassungsgericht 58 ein Verständnis von Art. 137 Abs. 3 WRV, dem ein grundrechtliches Abwägungsprogramm zu Grunde liegt, wie es auch zu den Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit in Art. 5 Abs. 2 GG praktiziert wird. 59 Maßgeblich für den Begriff des „für alle geltenden Gesetzes" ist die Überlegung, dass dieses nicht gegen religiöses Denken, Reden oder Handeln als solches gerichtet sein darf, also kein „Sonderrecht" für Religionsgemeinschaften begründen darf. 60 In diesem Modell kommt der staatlichen Entscheidung am Ende des Abwägungsprogramms die Aufgabe zu, einen angemessen Interessenausgleich unter Berücksichtigung aller beteiligten Rechtspositionen zu erreichen. Die Selbstverständnisse der beteiligten Religionsgemeinschaften gehen dabei nur als unverbindliche „Rohdaten" ein; verbindlich ist allein die den Interessenkonflikt ausreichend berücksichtigende staatliche Entscheidung.61 Vor diesem Hintergrund kann man nun die Frage nach der Bedeutung des Gemeinschaftsrechts als Schranke im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV stellen. In der neueren staatskirchenrechtlichen Literatur wird für die Frage, ob eine bestimmte Rechtsnorm als „für alle geltendes Gesetz" qualifiziert werden kann, ein dreistufiges Prüfungsschema vorgeschlagen. 62 Kommentar 45. Lfg. 2/2005; A. Frhr. v. Campenhausen, Art. 137 WRV, Rn. 191ff., in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 4. Auflage 2001; D. Ehlers, Art. 140 GG/137 WRV, Rn. 10 ff., in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2003; M. Morlok, Art. 140 GG/137 WRV, Rn. 53ff., in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2001. 58 Zur sog. „Bereichslehre" des Bundesverfassungsgerichts siehe BVerfGE 72,278 (289 m.w.N.). 59

Siehe bereits M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), 5 ff. (43 ff.); K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, 174 ff.; D. Ehlers, Staatlicher Rechtsschutz gegenüber Religionsgemeinschaften in amts- und dienstrechtlichen Angelegenheiten, ZevKR 27 (1982), 269 ff. (284 f.); ders., Die gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, ZevKR 32 (1987), 158 ff. (169 f.); ders. (Anm. 57), Rn. 11; v. Campenhausen (Anm. 57), Rn. 200 f.; S. Magen, Art. 140 GG, Rn. 41, in: D. C. Umbach/Th. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz - Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Band II, 2003, Rn. 74; Jeand'Heur/Korioth (Anm. 11), Rn. 202 ff.; A. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1994, 242 ff.; Morlok (Anm. 57), Rn. 57 ff.; ausführlich Bock (Anm. 11), 277 ff., 281 f.; ders., Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, 437 f.; zuletzt Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften (Anm. 1), 157 ff. 60 Isak (Anm. 59), 237 f., m.w.N.; ausführlich Bock (Anm. 11), 277 ff.; die Konzeption Bocks aufnehmend und dogmatisch weiter entwickelnd Heinig (Anm. 29), 229 f.; ders., Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften (Anm. 1), 158 ff. 61 Morlok (Anm. 28), 438; ebenso auch die Zusammenfassung der sehr ausführlichen Begründung bei S. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, 121 ff. 62 Siehe nochmals Bock (Anm. 11), 277 ff.

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223

Die erste Stufe enthält ein so genanntes „Verbot des rechtsgutsbezogenen Eingriffs". Da die Gemeinschaft beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts keine Zuständigkeit besitzt, Religionsfragen als solche zu regeln, kann die Wirkung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf religiös geprägte Sachverhalte von vornherein immer nur eine mittelbare sein. Verstöße gegen das Verbot des rechtsgutsbezogenen Eingriffs sind damit ausgeschlossen. Auf der zweiten Prüfungsstufe wird ein „Verbot rechtsgutsbezogener Eingriffsvoraussetzungen und Eingriffsmittel" formuliert. Damit soll vermieden werden, dass auf Tatbestandsebene religionsbezogene Eingriffsvoraussetzungen oder Eingriffsmittel formuliert werden. Würde der Gemeinschaftsgesetzgeber aber auf Tatbestandsebene eine Unterscheidung nach religiösen Inhalten vornehmen, so verstieße er gegen das im Gemeinschaftsgrundrecht der Religionsfreiheit verankerte Neutralitätsgebot und gegen das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen. Verstöße gegen die zweite Prüfungsstufe werden damit schon auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts verhindert. Die auf der dritten Stufe noch geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung findet ebenfalls auf europäischer Ebene statt,63 so dass es durchaus möglich erscheint, europäisches Gemeinschaftsrecht als „für alle geltendes Gesetz" im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV zu verstehen. Die gerade angestellten Überlegungen machen zunächst einmal deutlich, dass es sich bei den Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht um dogmatisch grundsätzlich anders zu bewertende Vorgänge handelt, als diese ohnehin im deutschen Recht bekannt sind. Im Wesentlichen würde eine Verlagerung der Prüfungszuständigkeit für die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die europäische Ebene stattfinden. Dies könnte durchaus die Konsequenz nach sich ziehen, dass das Verhältnis zwischen Schutzbereich und Beschränkungen beim Selbstbestimmungsrecht anders definiert wird, als dies nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen Recht der Fall ist. Hierbei gilt es aber zu berücksichtigen, dass auch in der deutschen Literatur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich als außerordentlich großzügig und weit gehend angesehen wird. 64

63

Allgemein zur Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 35 (2000), 380 ff. 64

Etwa D. Ehlers, Der staatliche Rechtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten, Juristische Schulung 1989,364 ff. (373); ders., Die gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, ZevKR 32 (1987), 158 ff. (162); ebenfalls stärkere Betonung der Schrankenregelung bei Magen (Anm. 59), Rn. 74; M. Heckel, Die staatliche Gerichtsbarkeit in Sachen der Religionsgemeinschaften, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, 213 ff. (229 f.); K. Hesse, Besprechung von Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, ZevKR 38 (1993), 113 ff. (121).

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Als wichtigste Konsequenz ist aus den vorstehenden Überlegungen abzuleiten, dass das Gemeinschaftsrecht in vielen Fällen ohne weiteres die Voraussetzungen erfüllt, die nach deutschem Verfassungsrecht an ein „für alle geltendes Gesetz" gestellt werden, welches das Selbstbestimmungsrecht in zulässiger Weise beschränkt. Nur soweit die nach dem gerade beschriebenen Abwägungsmodell anzustellende Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass es sich bei der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe nicht um ein „für alle geltendes Gesetz" im Sinne des Art. 137 Abs. 3 handelt, liegt überhaupt ein Fall vor, bei dem unter Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Solange-II-Urteil eine Divergenz abgefedert werden muss. So dramatisch wie es auf den ersten Blick scheint, sind die Veränderungen demnach nicht. Die Überlegungen bestätigen also: Der Schutz auf europäischer Ebene ist tatsächlich dem des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbar. Der Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Solange-II-Rechtsprechung auch im Bereich der korporativen Regeln steht nichts entgegen.

E. Ausblick: Kirchen und Religionsgemeinschaften im „Vertrag über eine Verfassung für Europa" Den Abschluss soll - ungeachtet der derzeitigen Ratifikationsprobleme - ein Blick auf den Entwurf eines Vertrages für eine Verfassung für Europa (im Folgenden kurz: Verfassungsvertrag) bilden. Der Verfassungsvertrag würde eine wichtige Änderung gegenüber der geltenden Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften im Recht der Europäischen Union bewirken, denn er würde die Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag zu unmittelbar geltendem Primärrecht erheben. Damit würden sich die eingangs behandelten Kompetenzfragen angesichts von Art. 1-52 Verfassungsvertrag anders darstellen. Es gäbe dann eine verbindliche Bestimmung, mit der das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten ein Stück weit geregelt würde. Sämtliche mit der nur eingeschränkten Rechtsnatur der Amsterdamer Erklärung verbunden Rechtsfragen 65 wären erledigt. Am verbindlichen Rechtscharakter der Norm können keine Zweifel bestehen. Sie brächte in den Absätzen 1 und 2 eine ausdrückliche Anerkennung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Darüber hinaus würde sie in Abs. 3 eine Verpflichtung der Union zum Dialog mit den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften statuieren. Als weiteren rechtspolitischen Vorteil kann man nennen, dass sie von den übrigen zivilgesellschaftlichen Akteu-

65

Siehe dazu nochmals die Nachweise oben in Anm. 16.

Religion und Recht der Europäischen Union

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ren gesondert in einer eigenen Rechtsvorschrift anerkannt und damit ihre besondere Bedeutung gewürdigt würde. 66 Neben derartigen rechtspolitischen Verbesserungen stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Vorschrift bei der Behandlung konkreter Einzelfragen. Mit dem Achtungsgebot und dem Βeeinträchtigungsverbot scheinen klare rechtliche Aussagen verbunden. In der Literatur wird denn auch von einer „struktursichernden Bedeutung" der Vorschrift gesprochen.67 In dieser Struktursicherung lassen sich ganz sicher diejenigen Grundprinzipien wieder finden, die auch auf allgemeiner Ebene im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag als „nationale Identität der Mitgliedstaaten" geschützt werden. 68 Fraglich ist aber, ob und inwieweit mit Art. 1-52 Verfassungsvertrag darüber hinausgehende Aussagen verbunden sind. Nimmt man den Wortlaut der Vorschrift ernst, so scheint sie die Rechtstellung der Religionsgemeinschaften nach dem mitgliedstaatlichen Recht vollständig zu garantieren, insoweit also jene berühmte „Bereichsausnahme" zu enthalten, die immer wieder Gegenstand der Diskussion war. Andererseits kann man kaum annehmen, dass sämtliche einfach-rechtlichen Regelungen des einzelstaatlichen Rechts, aus denen sich der Status der Religionsgemeinschaft zusammensetzt, vor den Einwirkungen des europäischen Rechts geschützt werden sollen. Deshalb wird zurecht gesagt, man könne nicht davon ausgehen, dass mit der Neuregelung sämtliche Berechtigungen, die im deutschen Recht mit dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts verbunden sind, auf alle Zeit von europarechtlichen Einwirkungen ausgenommen sind. 69 Eine „Bereichsausnahme" für ein einzelnes Rechtsgebiet würde sich zudem nur schwer in das bisherige Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum Recht der Mitgliedstaaten fügen. Da es umgekehrt der Neuregelung jeden eigenen Gehalt nähme, wollte man in ihr lediglich den Schutz der organisationsrechtlichen Stellung von Religionsgemeinschaften nach dem Recht der Mitgliedstaaten sehen, wird vorgeschlagen, eine religionsrechtliche Rechtsvorschrift umso eher von dem Beeinträchtigungsverbot des Art. 1-52 Verfassungsvertrag umfasst anzusehende stärker sie Ausdruck der grundsätzlichen Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses in dem jeweiligen 66

Zu dieser Diskussion siehe S. Muckel, Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, DÖV 2005, 191 ff. (196); Η. M. Heinig, Das Religionsverfassungsrecht im Konventsentwurf für einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa", in: H. Kreß (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild, 2004, 169 ff. (182 f.); M. Triebet, Der Kirchenartikel im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, ZevKR 49 (2004), 644 ff. (649). 67 So für die Amsterdamer Erklärung A. Uhle, Staat - Kirche - Kultur, 2004, 153; Grzeszick (Anm. 1), 299; für den Verfassungsvertrag Muckel (Anm. 66), 198. 68 Dazu oben Anm. 17 und den dazugehörenden Text. 69

Muckel (Anm. 66), 199; Heinig (Anm. 66), 182.

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Mitgliedstaat ist. 70 Für diese - stärker an den institutionellen Ausgestaltungen des Staatskirchenrechts orientierte - Betrachtung spricht, dass grundrechtlich gesicherte Positionen der Kirchen und Religionsgemeinschaften auch ohne die neue Vorschrift schon bisher nach europäischem Recht erfasst waren. Die Vorschrift könnte ihren spezifischen Sinngehalt eigentlich nur entfalten, wenn sie darüber hinausgehend andere Aspekte des mitgliedstaatlichen Rechts als schützenswert ansieht. Insofern liegt in ihr eine stärkere Betonung des institutionellen Staatskirchenrechts als dies nach der bisherigen Rechtslage der Fall war. Beim gegenwärtigen Stand der Ratifikationsbemühungen ist das In-Kraft-Treten der neuen Bestimmung zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu Religionsgemeinschaften und zum nationalen Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten alles andere als gewiss. Unabhängig von diesen Schwierigkeiten zeigt sich an der Entstehungsgeschichte der Vorschrift noch einmal deutlich, dass es sich lohnt, rechtzeitig auf europäischer Ebene für die Durchsetzung der eigenen Interessen einzutreten und nicht nach dem Normerlass über Kompetenzfragen zu streiten. Dass in der neuen Regelung eine echte normative Anerkennung der Religionsgemeinschaften und ihrer Rechtstellung nach dem mitgliedstaatlichen Recht liegt, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Ebenso ist eindeutig, dass mit der Dialogverpflichtung in Art. 1-52 Abs. 3 des Verfassungsvertrages und der systematischen Stellung der Vorschrift im Abschnitt über „das demokratische Leben der Union" die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Europa anerkannt wird. Darin liegt ein Erfolg europäischer Verfassungspolitik der Kirchen.

70

Muckel (Anm. 66), 199.

Autorenverzeichnis Priv. Doz. Dr. Heiner Bielefelds

Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin

Prof. Dr. Dr. Christoph Grabenwarter, Verfassungsgerichtshof, Wien

Universität Graz, Richter am Österreichischen

Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, Universität Frankfurt/Main, ehem. Direktor des WaltherSchücking-Instituts für Internationales Recht, Universität Kiel Prof. Dr. Eckart Klein und Bernhard Schäfer, LL.M. (Essex), MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam Prof. Dr. Haimo Schack, LL.M. (Berkeley), Universität Kiel Prof. em. Dr. Heinhard Steiger, LL.M. (Harvard), Universität Gießen Prof. Dr. Christian Walter, Dr. Gerd Westdickenberg, Stuhl, Rom

Universität Münster Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen

Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), Direktor des Walther-SchückingInstituts für Internationales Recht, Universität Kiel