Recht und Religion: Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht [1 ed.] 9783428558896, 9783428158898

Irritation und Irritierbarkeit sozialer Systeme berühren eine offene Flanke der Luhmannschen Systemtheorie. Es fehlt an

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Recht und Religion: Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht [1 ed.]
 9783428558896, 9783428158898

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 97

MARTIN SCHULTE

Recht und Religion Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN SCHULTE

Recht und Religion

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 97

Recht und Religion Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

Von

Martin Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15889-8 (Print) ISBN 978-3-428-15889-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Petra

Vorwort Irritation und Irritierbarkeit sozialer Systeme berühren in gewisser Weise eine offene Flanke der Luhmannschen Systemtheorie. Nicht dass sich Niklas Luhmann damit nicht befasst hätte (siehe nur Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 789 ff.). Woran es aber fehlt, sind Untersuchungen, die sich der Herausforderung stellen, detailliert zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den gekoppelten Funktionssystemen verarbeitet werden. Beschränkt man sich dabei nicht allein auf strukturell gekoppelte Funktionssysteme (Recht und Politik oder Recht und Wirtschaft), sondern richtet den Blick auch auf „nur“ operativ gekoppelte Funktionssysteme, so heißt dies aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts (siehe dazu bereits Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011) sicher nicht zuletzt auch „Recht und Religion“. Erfreulicherweise konnte dabei an Vorstudien aus der Sicht der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Rechtswissenschaft angeknüpft werden (Schulte [Hrsg.], Politik, Religion und Recht, 2017). Daraus hat sich der Versuch entwickelt, in einem zeitlichen Längsschnitt (Gregorianische Revolution, Konfessionsstreit, Religiöse Pluralität) und einem thematischen Querschnitt (Eherecht, Strafrecht, Arbeitsrecht) zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den gekoppelten Funktionssystemen von Recht und Religion, speziell von staatlichem und kirchlichem Recht, verarbeitet werden. Differenz erweist sich dabei als maßgeblicher gesellschaftlicher Treiber der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht. Auch für diese Untersuchung haben sich die wissenschaftsgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung im Vergleich zu den genannten Vorstudien kaum verändert. Allenfalls stellt sich das universitäre Leben unter dem Eindruck der seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts rhythmisch aufeinander folgenden Exzellenzinitiativen, nunmehr der Exzellenzstrategie (?), vielleicht noch etwas ruheloser dar. Umso wichtiger werden „Einsamkeit und Freiheit“ (Schelsky, Einsamkeit und Freiheit,

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Vorwort

1963). Sie habe ich auch in den vergangenen Jahren in regelmäßigen Abständen immer wieder im Umfeld der Katholischen Kirche „Maria Meeresstern“ auf Borkum finden dürfen. Ohne dieses Refugium der Wissenschaft hätte sich der diese Untersuchung tragende Forschungsansatz, zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den Funktionssystemen Recht und Religion verarbeitet werden, vermutlich nicht über so lange Zeit verfolgen lassen. Erneut gibt es Anlass zu vielfältigem Dank. Er gilt zunächst den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls, die mich immer wieder von manchen Mühen der Ebene entlastet haben, um mir den Freiraum zu eröffnen, diese Untersuchung voranzutreiben. In besonderer Weise danke ich Frau Katrin Börner. Sie hat in mühevoller Kleinarbeit aus dem Manuskript heraus das Literaturverzeichnis erstellt. Und schließlich: „Eine soziologische Theorie des Rechts“ durfte 2011 in den ,Schriften zur Rechtstheorie‘ des Duncker & Humblot Verlages Berlin erscheinen. „Politik, Religion und Recht“ konnten 2017 an selber Stelle in den ,Wissenschaftlichen Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte‘ veröffentlicht werden. Für die großzügige Aufnahme auch dieser Untersuchung in die zuletzt genannte Reihe möchte ich dem Inhaber und Geschäftsführer des Verlags Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon, ein weiteres Mal und ganz besonders herzlich danken. In ihm habe ich nun schon seit vielen Jahren „meinen“ Verleger gefunden. Und auch diesmal: Eine Widmung bedarf keiner Worte. Sie versteht sich von selbst. Dresden, im Oktober 2019

Martin Schulte

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Selbst- und Fremdbeschreibung der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Kapitel Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

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§ 1 Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 28 § 2 Beteiligung von Funktions- und Organisationssystemen an der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 § 3 Kopplungen und Irritationen von Politik, Religion und Recht . . . . . . . . 46

2. Kapitel Statik und Dynamik der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

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§ 4 Säkularisierung als Beobachtungskategorie funktionaler Differenzierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 § 5 Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem . . . . . . . . . . . 72 § 6 Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit . . . . . . . . . . . 85 § 7 Ausdifferenzierung der Religionen als Herausforderung des Rechtssystems 98

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Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Detailstudien der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

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§ 8 Eherecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 § 9 Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 § 10 Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Schluss: Selbstirritation der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Einleitung: Selbst- und Fremdbeschreibung der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht Ganz allgemein nach dem Verhältnis von Recht und Religion fragen zu wollen, wäre vermutlich ein zum Scheitern verurteiltes wissenschaftliches Unterfangen. Dafür sind die Problem- und Themenfelder, die Juristen und Theologen gleichermaßen herausfordern, einfach zu vielfältig. Nur einige wenige Beispiele, die ganz bewusst sehr unterschiedliche Fragestellungen aus dem breiten Themenspektrum von Recht und Religion herausgreifen, mögen dies verdeutlichen. Unter den aktuellen Problemstellungen gilt dies zum Beispiel in besonderer Weise für die Frage nach den Menschenrechten. Ganz unabhängig davon, welchen rechtsphilosophischen Begründungsansatz (etwa naturrechtlich oder positivistisch) man dafür wählt, bewegt sich das Thema in historischer wie systematischer Betrachtung auf der Schnittstelle von Recht und Religion und lässt sich deshalb ohne die Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Theologie kaum erschließen.1 In gleicher Weise gilt dies für die ebenso aktuellen Fragen der Rechtsethik, insbesondere aus dem Bereich der Humangenetik. Hier seien diesbezüglich nur die heftigen Kontroversen um Stichtagsregelungen in der Stammzellforschung und in der Gendiagnostik genannt,2 aber auch die Fragen nach der Zulässigkeit menschlicher Eingriffe in die Keimbahn (z. B. mit Hilfe der sog. Crispr-Cas Schere). Und schließlich wird man zu den aktuellen Problemstellungen, die Recht und Religion herausfordern, auch die „Veränderungen in der religiösen Zusammensetzung und in der religiösen 1

Eindrucksvoll zu erkennen bei Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik, 2012, S. 117 ff.; siehe insoweit aber auch Goos, Innere Freiheit. Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs, 2011, passim. 2 Auch dazu Kreß, ebd., S. 246 ff.; vgl. allgemein zur Humangenetik im Spannungsfeld von Recht und Religion auch Hofmann, Recht, Politik und Religion, JZ 2003, 377 ff.

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Aktivität und daraus resultierender Konfliktsituationen in der deutschen Gesellschaft“ rechnen dürfen, die dem 68. Deutschen Juristentag unter dem Titel „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?“ Anlass zu vertiefter rechtspolitischer Auseinandersetzung waren.3 Auf einer ganz anderen, eher grundsätzlich und weniger tagesaktuell angesiedelten Ebene liegen Fragestellungen, wie etwa diejenige nach dem Verhältnis von Recht und Konfession bzw. der Bedeutung von Konfessionalität im Recht,4 die aber dennoch ins Zentrum des Verhältnisses von Recht und Religion gehören. Und genauso wird dies für Forschungsansätze gelten dürfen, die den Versuch unternehmen, „historisch und systematisch grundlegende normative Zusammenhänge von Recht, Religion und humaner Moral in den abendländischen Überlieferungen und Kulturen freizulegen“, um aus dem Blickwinkel einer rechtsgeschichtlich und rechtsethisch interessierten Theologie einen Formenzusammenhang darzustellen, „der zentrale Interdependenzen rechtlicher, religiöser und ethisch-moralischer Rationalitäten verstehen lässt“.5 Angesichts dessen setzt diese Untersuchung deutlich bescheidener an, indem sie sich schwerpunktmäßig der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht widmet. Sie geht davon aus, dass staatliches und kirchliches Recht an einem einheitlichen Rechtsbegriff teilhaben.6 Aus der 3 Eingehend dazu Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, 2012, D 1-D 176. 4 Siehe dazu insb. Cancik/Henne/Simon/Ruppert/Vec (Hrsg.), Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, 2009, passim; Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, passim; Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, 2016, passim; siehe in diesem Zusammenhang aber auch die Spezialstudie von Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, 2008, passim; vgl. dazu auch die Buchbesprechung von Dreier, Rechte Konfession – Konfession im Recht, Archiv für Reformationsgeschichte 101 (2010), 321 ff. m.w.N. 5 Welker, Theologie und Recht, Der Staat 49 (2010), 573, 574. 6 Ebenso Robbers, Warum Kirchenrecht?, ZevKR 49 (2004), 215, 217; grundlegend insoweit nach wie vor Dreier, Ralf, Der Rechtsbegriff des Kirchenrechts in juristisch-rechtstheoretischer Sicht, in: Rau/Reuter/Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. I Zur Theorie des Kirchenrechts, 1997, S. 171 ff.; siehe aber

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Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie Niklas Luhmanns verpflichtet weiß,7 ist dieser durch die Recht/Unrecht-Codierung des Rechtssystems gekennzeichnet. Den Blick auf das Verhältnis von Staat und Kirche zu richten, bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei: einerseits sicherlich eine Perspektivenbegrenzung auf die Rechtsetzung der christlichen Kirchen,8 da im Wesentlichen nur sie eine Organisation des Typs Kirche ausgebildet haben;9 andererseits aber auch eine Perspektivenerweiterung, da mit Staat und Kirche zwei gesellschaftliche Organisationen an der Rechtsetzung beteiligt sind, die sich in besonderer Weise durch ihre „Multireferenz“10 auszeichnen, d. h. die Fähigkeit, sich kommunikativ mit unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft zu orientieren.11 Die Untersuchung stellt sich damit ganz bewusst in das Spannungsfeld von Politik, Religion und Recht. Die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts zu beobachten und zu beschreiben, meint auch in dieser Untersuchung eine Fremdbeschreibung

auch Müller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 12, 15 f. 7 Siehe dazu Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, passim. 8 Und hier noch spezieller diejenige der katholischen und der evangelischen Kirche. 9 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 230. 10 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 273; dies./Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 49; von „Multireferentialität“ und der „Perspektive multipler Programmierung“ spricht in diesem Zusammenhang Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, ebd., S. 170, 171 ff.; vgl. auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, 2003, S. 200. 11 Für Kirche als Organisation wird dies besonders deutlich: Mit der Wahrnehmung ihres am Code Immanenz/Transzendenz orientierten Verkündigungsauftrags erscheint sie als „klassische“ Organisation des Religionssystems. Wenn und soweit sie hingegen als Kirche Recht setzt, wie dies etwa besonders eindrucksvoll die Katholische Kirche mit dem Corpus Iuris Canonici (CIC) getan hat, wird man nicht umhinkönnen, sie als Organisation des Rechtssystems zu betrachten.

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des Rechtssystems als eines sich selbstbeschreibenden Systems.12 Dies setzt erneut Klarheit über die Operationen der Selbst- und Fremdbeschreibung sowie ihre unterschiedlichen Perspektiven voraus. Für das staatliche Recht kann dabei an Vorstudien angeknüpft, für das kirchliche Recht müssen hingegen die Besonderheiten der katholischen und evangelischen Rechtsordnung näher erläutert werden.13 Sowohl für das staatliche wie das kirchliche Recht gilt grundsätzlich, dass es der Rechtspraxis um die praktische Handhabung des Rechts in Alltagssituationen, insb. im Rahmen der praktischen Entscheidungstätigkeit (Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung, aber auch anwaltliche Rechtsberatung) geht. Auf der Grundlage basaler Selbstreferenz14 arbeitend erweist sie sich als Organisation der gerichtlichen und nichtgerichtlichen Arbeitsbereiche des Rechtssystems, aber auch als rechtsgestaltende Interaktion im Rechtssystem.15 Staatskirchen-, Religionsverfassungs- bzw. staatliches Religionsrecht16 begreift sich als „weltliche Rahmenordnung“ für die um den „Wahrheits-, Einheits-, Absolutheits- und Universalitätsanspruch ihrer Botschaft von der Offenbarung Gottes“ konkurrierenden Offenbarungsreligionen.17 Es 12

Siehe dazu schon ausführlich Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 11 ff. 13 Zu den die staatliche Rechtsordnung prägenden Perspektiven der Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Juristischen Methode/Juristischen Methodenlehre sowie Rechtsphilosophie/Rechtstheorie siehe ausführlich ders., ebd., S. 13 f., 15 ff., 18 ff., 23 ff. 14 Siehe dazu Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 600 f. 15 Siehe im Einzelnen Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 14 m.w.N. 16 Zu den hier nicht weiter zu vertiefenden terminologischen und inhaltlichen Differenzen um Staatskirchenrecht, Religionsverfassungsrecht oder staatliches Religionsrecht siehe beispielhaft nur, aber jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., 2017, § 8 Rn. 2 ff.; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2009, § 1 Rn. 1 ff.; Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: Haratsch/Janz/Rademacher/Schmahl/Weiss (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 ff.; vgl. ferner Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“?, AöR 134 (2009), 310 ff.; Heinig/ Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2007. 17 Heckel, ebd., 310, 364; zum Verhältnis von Staat und Kiche siehe aber auch Hense, § 120 Kirche und Staat in Deutschland, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 1830 ff.; Muckel,

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regelt nicht nur die rechtliche Beziehungen von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, sondern auch die Rechtsstellung des Individuums in religiösen Angelegenheiten und bildet auf diese Weise nicht zuletzt die „rechtliche Grundlage für kirchliches Wirken und damit auch für Kirchenrecht i. e.S.“,18 hier speziell dem katholischen und evangelischen Kirchenrecht. Zu seinen Rechtsquellen zählen einerseits das national wie supranational einseitig gesetzte Recht und andererseits das zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften vereinbarte Recht. Auf supranationaler Ebene sind hier vor allem die Religionsfreiheit nach Art. 10 EU-GRCh (i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV) und Art. 6 Abs. 3 EUV (i.V.m. Art. 9 EMRK) sowie der Kirchenartikel in Art. 17 Abs. 1 AEUV zu nennen. Letzterer sieht vor, dass die Europäische Union den Status achtet, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und ihn nicht beeinträchtigt. Dieser Verweis auf das Recht der nationalen Mitgliedstaaten wird für das Grundgesetz durch die zentralen Grundrechtsverbürgungen (Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 7 GG sowie das grundrechtsähnliche Recht in Art. 33 Abs. 3 GG) und die Übernahme der staatskirchenrechtlichen Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136, 137, 138, 139, 141 WRV) aufgegriffen. Das Verfassungsrecht der Länder weist dabei – gewisse Akzentverschiebungen im Bildungswesen einmal außen vorgelassen – keine nennenswerten Unterschiede auf. Unterhalb der Verfassungsebene ergibt sich Staatskirchenrecht schließlich auch noch aus einfachem Bundes- oder Landesrecht. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die Kirchensteuer- und Kirchenaustrittsgesetze der Länder sowie deren Friedhofs- und Bestattungsgesetze. Und schließlich dürfen auch die sog. „Berücksichtigungsklauseln“ im Verwaltungsverfahrensrecht, im Beamtenrecht, im Arbeitsund Sozialrecht sowie im Baurecht nicht übersehen werden.19

§ 116 Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Staat und Kirche, ebd., S. 1769 ff.; Mückl, § 117 Grundmodelle einer möglichen Zuordnung von Kirche und Staat, ebd., S. 1791 ff. 18 de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 8 Rn. 4 a.E. 19 Siehe dazu im Einzelnen dies., ebd., § 9 Rn. 4; Unruh, Religionsverfassungsrecht, § 3 Rn. 62.

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Das zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften vereinbarte Recht nimmt demgegenüber in Deutschland eine durchaus hervorgehobene Stellung ein. Als Vertragsstaatskirchenrecht bezeichnet zählen dazu einerseits die religionsverfassungsrechtlichen Verträge mit dem Heiligen Stuhl (Konkordate) und andererseits die Verträge mit den evangelischen Landeskirchen (Kirchenverträge). Ganz überwiegend ist das Vertragsstaatskirchenrecht auf der Ebene der Länder angesiedelt, vereinzelt macht aber auch der Bund davon Gebrauch.20 Das in dieser Weise näher konkretisierte Staatskirchenrecht bildet – wie gesagt – den „weltlichen Rahmen“, innerhalb dessen Kirche kraft ihrer Selbstbestimmung eigenes Recht, sog. Kirchenrecht, setzt. Dies ist der „Inbegriff jenes Rechts, das die Kirche aufgrund der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung als ihre verbindliche Lebensordnung versteht und entsprechend ihrem Glaubensverständnis in freier Selbstbestimmung ausgestaltet“.21 Soweit es durch die römisch-katholische Kirche gesetzt wird, spricht man vom römisch-katholischen Kirchenrecht, üblicherweise auch „kanonisches Recht“ genannt; evangelisches Kirchenrecht bildet hingegen das von einer evangelischen Kirche gesetzte Recht.22 Kirche regelt durch das Kirchenrecht unter Zugrundelegung ihres Selbstverständnisses ihre eigenen Angelegenheiten. Dazu zählen zunächst einmal die Verfassung der Kirche im weitesten Sinne, die Ordnung der Kirchengemeinden, das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht, die Sakramente, die kirchlichen Amtshandlungen sowie Gottesdienst und Seelsorge. Diese Aufzählung ist aber keineswegs abschließend, weil auch die kirchliche Mitgliedschaft, einschließlich der Rechte und Pflichten, die kirchlichen 20 Zu weiteren Einzelheiten siehe Unruh, ebd., § 3 Rn. 58 ff.; de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 15 Rn. 1 ff.; grundlegend nach wie vor Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965; ders., Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, S. 253 ff. 21 Aymanns, Kirchenrecht, in: Haering/Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts, 2004, Sp. 515; zur Bedeutung des Kirchenrechts siehe insb. Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche, 2010, passim. 22 Schon daraus wird ersichtlich, dass die Unterscheidung von staatlichem und kirchlichem Recht nicht rechtsgegenständlich (über Kirche als Organisation), sondern rechtsetzungsorientiert (über die den Geltungsanspruch begründende Autorität) erfolgt. So Aymanns, ebd.

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Einrichtungen und Werke, das Kirchenvermögen, die Kirchengerichtsbarkeit und vieles mehr zu den „eigenen Angelegenheiten“ rechnen.23 Und nicht zuletzt differiert auch noch zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche das Verständnis darüber, welche Regelungsgegenstände zu den „eigenen Angelegenheiten“ zählen.24 Das katholische Kirchenrecht verkörpert eine äußerst traditionsreiche, in sich geschlossene und umfassende Rechtsmasse, die durch enge Bezüge zur Theologie und zur Rechtswissenschaft gekennzeichnet ist.25 Dementsprechend unterscheidet es zwischen göttlichem (ius divinum) und menschlichem (ius humanum) Recht. Ersteres umfasst – noch einmal getrennt nach Naturrecht (ius divinum naturale) und positivem göttlichen Recht (ius divinum positivum) – alle rechtlichen Regeln, die sich unmittelbar auf göttlichen Willen zurückführen lassen, während letzteres diejenigen rechtlichen Regeln zum Gegenstand hat, die aus dem Rechtsetzungswillen eines menschlichen Gesetzgebers in der Kirche oder aus der gewohnheitsmäßigen Übung der Menschen im Einverständnis des Gesetzgebers resultieren.26 Zwar gehören göttliches und menschliches Recht zu einer Rechtsordnung, doch geht göttliches Recht jeder menschlichen Rechtsetzung vor.27 Dem menschlichen Recht kommt damit letztlich eine dienende Funktion zu, die darin zu sehen ist, göttliches Recht in der Welt umzusetzen.28 Zu den wesentlichen formellen Rechtsquellen des katholischen Kirchenrechts zählen der Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983 (für die Lateinische Kirche) und (für die unierten Ostkirchen) der Codex Cano-

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de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 1 Rn. 6. So kennt das evangelische Kirchenrecht im Gegensatz zur katholischen Kirche weder ein kirchliches Ehe- noch ein kirchliches Strafrecht, vgl. dazu dies., ebd. a.E.; Robbers, Kirchenrecht ( J), in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp.1196, 1197. 25 Siehe dazu de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 16 Rn. 4. 26 Ausführlich dazu dies., ebd., § 16 Rn. 20 ff. m.w.N.; siehe aber auch Aymanns, Kirchenrecht, in: Lexikon des Kirchenrechts, Sp. 515, 516 f. 27 Zum Verhältnis von ius divinum und ius humanum siehe insb. Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts, S. 69 f. 28 de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 16 Rn. 24. 24

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num Ecclesiarum Orientalium (CCEO) von 1990.29 Für die Gesamtkirche ist des Weiteren noch die Apostolische Konstitution über die Römische Kurie „Pastor Bonus“ (AK PastBon) zu nennen. Daneben gibt es aber noch zahlreiche weitere formelle Rechtsquellen im katholischen Kirchenrecht, z. B. die päpstlichen Erlasse, die Konkordate sowie das sog. Partikularkirchenrecht, das von den Diözesanbischöfen, Bischofskonferenzen und Partikularkonzilien erlassen wird.30 Im Gegensatz zum katholischen Kirchenrecht ist das evangelische Kirchenrecht – nicht zuletzt bedingt durch Martin Luthers scharfe Kritik am kanonischen Recht31 – von einer deutlichen Rechtsskepsis geprägt.32 So hat sich eine einheitliche Kodifikation – wie sie das katholische Kirchenrecht vor allem in der Form des CIC kennzeichnet – im evangelischen Kirchenrecht nicht ausprägen können, weil die Normierung der kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen in den Gebieten, in denen sich die Reformation durchzusetzen vermochte, Sache der jeweiligen Landesherren blieb. Erst mit dem Verzicht auf die Integration kirchlicher Ordnung in territorialstaatliches Recht – dem bestimmenden Merkmal des Staatskirchentums – entwickelte sich ein „von der Kirche selbst verantwortetes und allein an kirchlichen Aufgaben orientiertes“ (Partikular)Kirchenrecht. Und noch heute ist das evangelische Kirchenrecht partikulares Kirchenrecht. Deshalb hat zumindest prinzipiell jede der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ihre eigene Rechtsordnung. Allerdings folgen die einzelnen Rechtsordnungen durchaus einheitlichen Traditionen und Grundsätzen, nicht zuletzt auch des staatlichen Rechts, so 29 Siehe zu diesen insb. Schmitz, § 6 Codex Iuris Canonici, in: Haering/Rees/ Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 70 ff.; Potz, § 7 Der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, ebd., S. 101 ff. 30 de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 16 Rn. 26 ff. m.w.N.; siehe aber auch Aymanns, Kirchenrecht, in: Lexikon des Kirchenrechts, Sp. 515, 518, der noch einmal zwischen primärem und sekundärem Recht unterscheidet. Zum letztgenannten Bereich zählt er dabei auch das Recht, „das kirchlichen Körperschaften zu autonomer Gestaltung überlassen ist (z. B. Kapitelsstatuten, Ordenskonstitutionen, Eigenrecht, Vereinssatzungen) und als Recht nicht aus sich heraus, sondern kraft der primären Rechtsordnung verpflichtet.“ 31 Zu den Missverständnissen in der Interpretation der lutherschen Kritik am kanonischen Recht siehe aber Robbers, Kirchenrecht ( J), in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1196. 32 Siehe dazu nur eindrucksvoll und m.w.N. Honecker, Kirchenrecht (Th), in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1201 ff.

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dass von einer übermäßigen Rechtszersplitterung dennoch nicht die Rede sein kann. Zu den jeweiligen Rechtsordnungen der Gliedkirchen treten zudem noch die Rechtsordnungen der EKD selbst und anderer gliedkirchlicher Zusammenschlüsse (z. B. der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen, der Evangelischen Kirche der Union) hinzu, die für zentrale Rechtsgebiete vereinheitlichendes Recht gesetzt haben.33 In durchaus gewollter Nähe zum staatlichen Recht ist das evangelische Kirchenrecht durch eine Normenhierarchie gekennzeichnet, an deren Spitze die Kirchenverfassungen stehen. Es folgen Kirchengesetze und untergesetzliche Rechtsnormen, z. B. Verordnungen und Satzungen.34 Die Kirchenverfassungen regeln die Grundlagen der kirchlichen Organisation. Als evangelisches Kirchengesetz wird „eine von der Synode als dem Gesetzgebungsorgan der gesetzgebenden Körperschaft (EKD, Gliedkirche oder gliedkirchlicher Zusammenschluss) im Gesetzgebungsverfahren erlassene kirchenrechtliche Regelung“ bezeichnet.35 Und auch im Bereich der untergesetzlichen Rechtsnormen ist die Nähe des evangelischen Kirchenrechts zum staatlichen Recht unverkennbar. So wird unter der Verordnung eine von einem Verwaltungsorgan gesetzte Rechtsnorm verstanden und als Satzung die von einem Rechtsträger (z. B. einer Kirchengemeinde), der durch die Kirchenverfassung oder durch Kirchengesetz dazu ermächtigt wurde, autonom geschaffene Rechtsnorm begriffen. Schließlich anerkennt das evangelische Kirchenrecht auch das Gewohnheitsrecht als eigenständige Rechtsquelle. Neben der damit näher umschriebenen Rechtsetzung (insb. von Staatskirchenrecht, Katholischem Kirchenrecht, Evangelischem Kirchenrecht) kommt im Bereich der Rechtspraxis – ungeachtet der deswegen allerdings keineswegs zu vernachlässigenden Rechtsanwendung36 – vor allem der Rechtsprechung, beispielhaft sei an dieser Stelle nur die kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit erwähnt, besondere Bedeutung zu. 33

de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 25 Rn. 1. Dies., ebd., § 25 Rn. 2, 4 ff., dort (Rn. 2) auch zu dem dem staatlichen Recht entlehnten Streit, ob auch Einzelentscheidungen wie kirchliche Verwaltungsakte oder Entscheidungen kirchlicher Gerichte am Rechtsquellencharakter teilhaben. 35 Die Nähe der Definition zum staatlichen Recht ist offensichtlich. Dazu dies., ebd., § 25 Rn. 8 ff. 36 Dazu i.E. dies., ebd., § 19 Rn. 49 ff. 34

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Wie die Rechtsetzung so ist auch die Rechtsprechung im katholischen Kirchenrecht streng hierarchisch organisiert. Gemäß c. 1442 CIC ist der Papst der oberste Richter für den gesamten katholischen Erdkreis. Er übt seine Rechtsprechungsgewalt persönlich, durch von ihm delegierte Richter oder durch die Gerichte des Apostolischen Stuhls aus. Zu letzteren rechnen vor allem die Apostolische Signatur37 und die Römische Rota. Nach c. 1405 § 1 Nr. 4 CIC kann der Papst jederzeit ein anhängiges Verfahren an sich ziehen. Für die Teilkirche ist es gemäß c. 391 § 1 CIC Sache des Diözesanbischofs, diese nach Maßgabe des Rechts mit richterlicher Gewalt zu leiten. Seine Rechtsprechungsgewalt übt auch er persönlich oder nach Maßgabe des Rechts durch den Generalvikar und die Richter aus (c. 391 § 2 CIC). Grundsätzlich ist der Diözesanbischof Richter erster Instanz i.S.v. c. 1419 § 1 CIC. Gericht zweiter Instanz ist dasjenige des zuständigen Metropoliten (c. 1438 CIC) und dritte Instanz ist die Römische Rota. Schließlich ist jeder Diözesanbischof gehalten, einen Gerichtsvikar, d. h. einen Offizial mit ordentlicher richterlicher Gewalt zu bestellen. Mit ihm zusammen bildet er ein Gericht, das Diözesangericht, auch Offizialat genannt (c. 1420 §§ 1 und 2 CIC). Neben diesen Gerichten ist für das Gebiet der Deutschen Bischofskonferenz vor allem auf besondere kirchliche Arbeitsgerichte hinzuweisen, zum einen die erstinstanzlichen Arbeitsgerichte und zum anderen den Arbeitsgerichtshof als Revisionsinstanz. Und unabhängig davon steht es schließlich jedem Gläubigen frei, seine Streit- oder Strafsache38 in jeder Gerichtsinstanz und in jedem Prozessabschnitt dem Heiligen Stuhl zur Entscheidung zu übergeben oder bei ihm einzubringen (c. 1417 CIC). Im Vergleich mit der katholischen Gerichtsbarkeit ist die evangelische Gerichtsbarkeit nicht einheitlich aufgebaut.39 Für unterschiedliche Arten 37 Weitere Entscheidungsdelegationen sind damit nicht ausgeschlossen, wie die von der Kolping Bildungszentren gGmbH ausgelöste Rechtsstreitigkeit um die Geltung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes belegt. In diesem Rechtsstreit entschied nämlich nicht die eigentlich angerufene Apostolische Signatur, sondern der Papst bestellte auf Antrag derselben das „Tribunal Delegatum et a supremo Signaturae Apostolicae Tribunali Constitutum“ zur Entscheidung (Urt. v. 31. 3. 2010, GesR 2010, 497). 38 Streit- und Strafverfahren sind die Verfahrensgegenstände, mit denen sich kirchliche Gerichte nach cc. 1400 und 1401 CIC befassen. Zu weiteren Einzelheiten diesbezüglich de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 19 Rn. 67 ff. 39 Zu den Einzelheiten der Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche siehe dies., ebd., § 41 Rn. 1 ff. m.w.N.

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von Rechtsstreitigkeiten (z. B. im Bereich des Mitarbeitervertretungsrechts, des Disziplinarrechts, des Verfassungs- und Verwaltungsrechts) gibt es auch unterschiedliche Gerichte. Zudem unterscheiden sich die Gerichte in den einzelnen Landeskirchen teilweise noch nach Aufbau, Zuständigkeiten und Verfassung. Allerdings sind seit geraumer Zeit gewisse Vereinheitlichungstendenzen im Bereich der evangelischen Kirche, vor allem auf der Ebene der EKD, erkennbar. Insoweit ist zunächst einmal das Kirchengerichtsgesetz vom 6. 11. 2003 zu nennen, das die Rechtsprechung im Bereich der evangelischen Kirche nunmehr beim Kirchengericht, Kirchengerichtshof und Verfassungsgerichtshof konzentriert.40 Darüber hinaus sind die Vereinheitlichungstendenzen für den Bereich der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit durch das Verwaltungsgerichtsgesetz der EKD vom 10. 11. 2010 vertieft worden. So ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche in der Eingangsinstanz den bei den Landeskirchen, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der EKD eingerichteten Verwaltungsgerichten und – soweit es sich um Streitigkeiten bei der VELKD und ihren Gliedkirchen handelt – in der als Revisionsinstanz ausgestalteten zweiten Instanz dem Verfassungs- und Verwaltungsgericht der VELKD zugewiesen. Nach wie vor recht unterschiedlich stellt sich hingegen die Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit in der evangelischen Kirche dar.41 Verfahrensrechtlich orientiert sich die evangelische Kirche deutlich am staatlichen Recht. Dem staatlichen Recht kommt schließlich – unabhängig von der Einrichtung einer eigenen Gerichtsbarkeit im Bereich der katholischen und evangelischen Kirche – auch insoweit Bedeutung zu, als in Teilgebieten – bei allem staatskirchenrechtlichen Streit darum – eine Zuständigkeit staatlicher Gerichte in kirchlichen Angelegenheiten eröffnet sein kann. Zu denken ist hier beispielsweise an die Teilnahme der Kirchen am allgemeinen Rechtsverkehr, Fragen der res mixtae, den Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter und den Rechtsschutz in Angelegenheiten des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts.42 40 Siehe dazu insb. Schliemann, Die neue Ordnung der Kirchengerichtsbarkeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland, NJW 2005, 392 ff. 41 Dazu de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 41 Rn. 8. 42 Grundlegend dazu nach wie vor Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, 1991, passim; Rüfner, Zuständigkeit staatlicher Gerichte in kirchlichen

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Alles in allem hinterlässt die Rechtspraxis damit im Beziehungsgeflecht von staatlichem und kirchlichem Recht ein äußerst differenziertes und durchaus heterogenes Bild. Dieser Eindruck ist – wie dargestellt – ganz maßgeblich auf die Eigenheiten der kirchlichen Rechtsordnungen im Bereich der katholischen und der evangelischen Kirche zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund nicht unerwartet findet dies im Bereich der Rechtsdogmatik seine Fortsetzung. Dabei wird die klassische Rechtsdogmatik für den hier besonders interessierenden Bereich des Verhältnisses von staatlichem und kirchlichem Recht durch die sog. Staatskirchenrechtslehre repräsentiert. Und den Eigenheiten der kirchlichen Rechtsordnungen tragen mit Blick auf die Rechtsdogmatik die Kanonistik (katholische Kirchenrechtslehre) und die Evangelische Kirchenrechtslehre zusätzlich Rechnung. Sie alle nehmen aber aus der Perspektive der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts am Grundverständnis teil, dass Rechtsdogmatik als Selbstabstraktion die Rechtspraxis reflektiert und im Sinne einer „Konsistenzkontrolle“ die „Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen“ definiert.43 Darüber hinaus wenden sie sich im Sinne des Normierens des Normierens mit rechtspolitischen Vorschlägen zur Fortentwicklung des geltenden Rechts an das organisierte Entscheidungssystem des Rechtssystems, insbesondere an den jeweiligen (staatlichen oder kirchlichen) Gesetzgeber. Die Staatskirchenrechtslehre darf durchaus als eigenständige Disziplin in der Dogmatik des Öffentlichen Rechts bezeichnet werden. Sie weist deutliche Bezüge zum Kirchenrecht, zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht, aber auch zum Völker- und Europarecht sowie zur Rechtsgeschichte auf. Besonderes Interesse hat das Staatskirchenrecht nach dem Ende des 2. Weltkrieges auf sich gezogen.44 Rechtsdogmatisch spiegelt sich die Bandbreite der von der Staatskirchenrechtslehre behandelten Fragen und Problemkreise vor allem im zweibändigen Handbuch des StaatskirAngelegenheiten, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Zweiter Band, 2. Aufl., 1995, § 73, S. 1081 ff. 43 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 18 f. 44 Zu den Entwicklungslinien des Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zur Gegenwart siehe prägnant Hense, Religiöse Pluralität normativ verarbeitet. Zur grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion, Herder Korrespondenz 63 (2009), 354 ff.

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chenrechts der Bundesrepublik Deutschland wider.45 Und bis in die Gegenwart wird die Staatskirchenrechtslehre in besonderer Weise durch die seit 1966 jährlich veranstalteten „Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche“ und die seit 1971 im Verlag Duncker & Humblot (Berlin) erfolgende Herausgabe der „Staatskirchenrechtlichen Abhandlungen“ sowie die Forschungen des „Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands“ (Bonn) und des „Kirchenrechtlichen Instituts der EKD“ (Göttingen) gepflegt. In engem Kontakt mit der Staatskirchenrechtslehre steht für den Bereich des katholischen Kirchenrechts die Kanonistik (katholische Kirchenrechtslehre).46 Als „Wissenschaft vom Kirchenrecht“ befasst sie sich mit „der kirchlichen Gemeinschaftsordnung als einer in ihren Grundzügen auf dem Willen Jesu Christi gegründeten Einrichtung“. Über ihren spezifisch wissenschaftlichen Charakter herrscht Uneinigkeit, die von einem Verständnis als „juristische Disziplin mit juristischer Methode“, als „theologische Disziplin mit theologischer Methode“, als „theologische Disziplin mit juristischer Methode“ bis hin zu einer „theologischen und juristischen Disziplin mit theologischer und juristischer Methode“ reicht.47 Ihrem spezifischen Charakter am nächsten dürfte ein Verständnis kommen, das die Kanonistik als „theologische Disziplin“ begreift, „die gemäß den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse mit juristischer Methode arbeitet.“48 Theologische Disziplin ist die Kanonistik schon ihrer geschichtlichen Herkunft nach, hat sie sich doch aus der Theologie und nicht aus der Rechtswissenschaft heraus entwickelt und verselbständigt.49 Und die spezifische Verbindung von theologischer und juristischer Me45 Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Erster Band 1994, 1150 S., Zweiter Band 1995, 1240 S., (1. Aufl. hrsg. v. Friesenhahn/Scheuner i.V.m. Listl 1974/1975). 46 Siehe zum Folgenden insb. Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 1, 1991, § 5, S. 57 ff.; vgl. aber auch Müller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, S. 12, 18 ff.; Weigand, Kanonistik, in: Lexikon des Kirchenrechts, Sp. 451 ff.; Puza, Katholisches Kirchenrecht, 2. Aufl., 1993, S. 22 ff. 47 Zu den diesbezüglichen Nachweisen siehe Aymans/Mörsdorf, ebd., S. 63; vgl. aber auch zur entsprechenden Debatte um eine „Ent-Theologisierung“ des Kirchenrechts Müller, ebd., S. 12, 25 ff. 48 Aymanns/Mörsdorf, ebd., S. 71. 49 Eingehend dazu dies., ebd., S. 65 ff.

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thode zu einer einheitlichen wissenschaftlichen Methode gelangt vor allem darin zum Ausdruck, dass sie in ihrer Arbeit „den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse“ folgt. Das heißt, dass sie die juristische Methode stets daraufhin überprüft, „ob und inwiefern sie dem theologischen Wesen der Kirche entspricht und ihrem Sendungsauftrag förderlich sein kann.“50 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses unterteilt sich die Kanonistik schließlich in die methodologischen Einzelbereiche der Kirchenrechtsdogmatik (mit der besonderen Aufgabe, „die Kenntnis des geltenden Kirchenrechts und dessen Anwendung im kirchlichen Leben zu vermitteln“) und der kirchlichen Rechtsgeschichte.51 Im Vergleich mit der katholischen Kirchenrechtslehre ist die evangelische Kirchenrechtslehre durch einen deutlich geringeren Grad der fachspezifischen Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Auch sie sieht sich aber – wie die Kanonistik – mit dem Problem konfrontiert, ihren methodologischen Standpunkt zwischen Theologie und Jurisprudenz zu finden. Zum einen lässt sie dabei eine besondere Nähebeziehung zur evangelischen Theologie erkennen, weil sie sich an das gottesdienstliche Handeln und an den diakonischen Dienst der Kirche gegenüber der Welt bindet. Die Theologie vermittele die Grundlagenerkenntnisse, aufgrund derer es der Kirchenrechtslehre erst möglich werde, „die Besonderheiten ihres dienenden Auftrags zu begreifen.“52 Zum anderen wird – ohne Annahme eines Über- oder Unterordnungsverhältnisses – die „ständige Wechselwirkung“ zwischen der Theologie und der Kirchenrechtslehre als „bindende Notwendigkeit“ anerkannt und die evangelische Kirchenrechtslehre letztlich als juristische Disziplin verstanden, weil sich ihre wissenschaftliche Aufgabenstellung mit den sonstigen Rechtsdisziplinen „in gebotener wissenschaftlicher Arbeitsgemeinschaft“ verbinde.53 Ihre Aufgaben sind klar definiert: Sie sammelt, erfasst und systematisiert die im kirchlichen Bereich geltenden Normen. Ihre Erkenntnisse trägt sie im Rahmen ihrer Lehraufgabe an den Juristen und den Theologen heran. Der 50 Dies., ebd., S. 70 f.; siehe dazu auch Weigand, Kanonistik, in: Lexikon des Kirchenrechts, Sp. 451, 467, der die Kanonistik als „Brückenfach“ beschreibt. 51 Dies., ebd., S. 71 ff.; zu weiteren Unterscheidungen auch Puza, Katholisches Kirchenrecht, S. 24. 52 Frost, Zur Methodenproblematik des evangelischen Kirchenrechts, in: ders., Ausgewählte Schriften zum Staats- und Kirchenrecht, hrsg. v. Baldus/Heckel/ Muckel, 2001, S. 260, 265. 53 Ders., ebd., S. 265 f.

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kirchlichen Rechtspraxis dient sie „durch das Aufweisen des historisch und territorial vielschichtigen Normenbereiches im Kirchenrecht und fördert durch dieses Handeln die notwendige Neuformung und Weiterbildung der kirchlichen Ordnung“.54 Lässt man den disziplinären Ausdifferenzierungsgrad einmal beiseite, so wird man insgesamt feststellen dürfen, dass evangelische und katholische Kirchenrechtslehre in ihrem Auftrag und ihrer Zielstellung durchaus übereinstimmen. Zur Kirchenrechtsdogmatik, wie sie in der soeben beschriebenen Weise durch die katholische und evangelische Kirchenrechtslehre repräsentiert wird, tritt für den Bereich des kirchlichen Rechts schließlich die sog. Kirchenrechtstheorie hinzu. Ihr geht es, insoweit durchaus vergleichbar mit der Rechtstheorie des staatlichen Rechtssystems, darum, die Identität des kirchlichen Rechtssystems im Unterschied zu seiner Umwelt begrifflich auszuarbeiten und dabei vor allem Überlegungen zur Legitimation der Geltung kirchlichen Rechts anzustellen. Dem liegt die Unterscheidung von System und Umwelt zugrunde, so dass sich auch in diesem Zusammenhang von Reflexion sprechen lässt.55 Da die Kirchenrechtstheorie eine Theorie über das Kirchenrechtssystem entwickelt, sie sich auf das System bezieht und dessen Standpunkt teilt, kann sie in aller Kürze – wie die Rechtstheorie des staatlichen Rechtssystems – als „Theorie des Systems im System“ bezeichnet werden.56 Auch wenn es derzeit wohl noch an einer vollständig ausgearbeiteten Kirchenrechtstheorie fehlt,57 so sind doch erste Schritte in die Richtung erkennbar, verstärkt reflexiv nach Wesen und Methode des Kirchenrechts und der Kirchenrechtslehre, speziell der Kanonistik, zu fragen. Im We54

Ders., ebd., S. 266. Zu den Statuskennzeichen von Reflexionstheorien siehe insb. Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: de Berg/Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie, 2000, S. 38, 50 ff. 56 Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 419, 422. 57 So jedenfalls Aymanns/Mörsdorf, Kanonisches Recht I, S. 61, 71; weniger zurückhaltend demgegenüber Puza, Katholisches Kirchenrecht, S. 24: „Die Kirchenrechtstheorie – heute auch Theologie des Kirchenrechts – ist Grundlagenwissenschaft.“ (Hervorhebung i. O.); vgl. aber auch Pree, § 5 Theorie des kanonischen Rechts, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 57 ff. 55

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sentlichen geht es dabei um die Grundlegung des Kirchenrechts, den theologischen Nachweis also, „dass und inwiefern legitimerweise das Phänomen ,Recht‘ zur Kirche gehört“. Das bedingt natürlich ein aus der Erfahrung und der Reflexion geprägtes Verständnis vom Wesen des Rechts. Im Gegensatz zum katholischen Kirchenrecht, das über das ius divinum eine gleichsam natürliche Nähebeziehung zu rechtlichen Strukturen aufweist,58 fehlte eine solche dem evangelischen Kirchenrecht über lange Zeit nahezu vollständig.59 Mittlerweile ist aber für beide Kirchen die Kirchenrechtstheorie der Ort geworden, wo eine „philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit den dargebotenen philosophisch-juristischen Vorstellungen vom Wesen des Rechts legitim durchgeführt wird.“60 Dabei lässt sich der Nachweis, dass dem Glauben der Kirche eine rechtliche Dimension wesensimmanent ist, nur theologisch erbringen, allerdings stets einhergehend mit der Beantwortung der Frage, inwiefern das Phänomen Recht zum Glauben der Kirche zählt.61 So mündet die im Rahmen der Kirchenrechtstheorie erfolgende theologische Grundlegung des Kirchenrechts letztlich in eine Theologie des Kirchenrechts.62

58 Siehe dazu insb. Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts, S. 66 ff. m.w.N.; dezidiert in diesem Sinne Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S. 91: „Die katholische Kirche ist eine Rechtskirche“. 59 Stellvertretend dafür sei hier nur Rudolph Sohms Diktum zur Unvereinbarkeit von Kirche und Recht genannt. Siehe dazu Sohm, Kirchenrecht, S. 1: „Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch … Das Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich …“. Dazu eingehend Dreier, Ralf, Der Rechtsbegriff des Kirchenrechts in juristisch-rechtstheoretischer Sicht, in: Rau/Reuter/Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. I Zur Theorie des Kirchenrechts, 1997, S. 171 ff.; Konrad, ebd., S. 220 ff.; Müller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 12, 16 ff.; vgl. ferner Robbers, Kirchenrecht ( J), in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1196, 1199 f. 60 Aymanns/Mörsdorf, Kanonisches Recht I, S. 62; für das evangelische Kirchenrecht sei hier exemplarisch Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S. 420 ff. genannt, während für das katholische Kirchenrecht in jüngerer Zeit vor allem auf Kreß, Ethik der Rechtsordnung, S. 91 ff. hinzuweisen ist. 61 Aymanns/Mörsdorf, ebd. (kursiv i. O.). 62 Dies., ebd.; ebenso Müller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Haering/Rees/ Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, S. 12, 30 f.; Puza, Katholisches Kirchenrecht, S. 24.

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Nachdem damit deutlich geworden sein dürfte, aus welch unterschiedlichen Perspektiven einer soziologischen Theorie des Rechts – und zwar des staatlichen wie des kirchlichen Rechts – die Beobachtung und Beschreibung der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht zu erfolgen hat, soll es nachfolgend zunächst darum gehen, auf systemtheoretischer Grundlage die Bewegungsmechanismen der Evolution des Rechts im Allgemeinen63 und diejenigen von staatlichem und kirchlichem Rechtssystem im Besonderen herauszuarbeiten (1. Kap.). Diese werden sodann in einem zeitlichen Längs- (2. Kap.) und einem thematischen Querschnitt (3. Kap.) am Beispiel der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht verdeutlicht.

63 Siehe dazu bereits Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 91 ff. m.w.N.

1. Kapitel

Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht § 1 Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft Die Frage nach der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht zu stellen, heißt zunächst die Vorfrage zu beantworten, ob eine Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft, vorliegend des Rechtssystems, überhaupt möglich ist. Dahinter verbirgt sich das Problem der „gesellschaftlichen Verschachtelung operativ geschlossener autopoietischer Systeme.“1 Konkret geht es um die Frage, wie ein soziales System in einem anderen Autopoiese auf der Grundlage operativer Geschlossenheit aufbauen kann.2 Funktionale Differenzierung der Gesellschaft dürfte dafür eine unverzichtbare Voraussetzung sein, weil sich erst damit jene Kombination von operativer Geschlossenheit und hoher Eigenkomplexität einstellt, die der Differenzierung evolutionärer Funktionen eine hinreichend stabile Basis liefert. Allerdings ist erst in wenigen Fällen der Versuch unternommen worden, die Begrifflichkeit der Evolutionstheorie konsequent auf die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft zu übertragen. Wissenschaftsgeschichtlich sind diese Bemühungen regelmäßig mit dem „Zusammenbrechen älterer Theorievorstellungen“, insbesondere dem „Zweifel an der immanenten Rationalität des Gegenstandsbereiches“ in

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Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 562. Ich habe dieses Problem deshalb auch als das Matrjoschka-Problem einer systemtheoretisch fundierten Gesellschaftstheorie bezeichnet, s. dazu im Einzelnen schon Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 88 ff. 2 Dazu und zum Folgenden Luhmann, ebd., S. 557 ff.

§ 1 Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft

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Verbindung zu bringen.3 Für das Rechtssystem darf insoweit mit Grund auf das Scheitern naturrechtlicher, analytischer und begriffsjuristischer „Theorie“konzepte verwiesen werden,4 auch wenn die diesbezüglichen Kontroversen in der „Theorie des Systems im System“, d. h. in der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie, scheinbar kein Ende nehmen wollen. Funktionale Differenzierung der Gesellschaft ist es auch, die vor diesem Hintergrund die Beobachtung von Kommunikation über die binäre Codierung funktionsspezifischer Operationen, für das Rechtssystem in Form der Recht/Unrecht-Unterscheidung, ordnet. Strenge Codierung erweist sich als kontingenzförderlich und damit als evolutionsempfindlich. So bieten binäre Codes die schnellste Möglichkeit, um aktuell Komplexität aufzubauen. Sie werden gleichsam zu „Scharnieren, an denen sich die Tore zu Teilsystemevolutionen öffnen“. Repräsentieren Codes spezifische Eigenwerte des Systems, z. B. Recht und Unrecht, so sorgen Programme, z. B. Gesetz, Rechtsverordnung und Satzung, für die notwendige Anpassungsfähigkeit desselben, weil dieses in der Selektion von Programmen durch die Umwelt irritiert werden kann. Erst die Autopoiesis garantiert dann wieder die nötige dynamische Stabilität des Systems. Codierung und Programmierung erweisen sich damit als Resultat und Bedingung der Evolution von Funktionssystemen. Obwohl beide als besonders evolutionsempfindlich gelten dürfen, bedarf es wohl zusätzlich einer spezifischen historischen Ausgangslage, die als take-off eines evolutorischen Sprungs genutzt wird. Für die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht ist dabei vermutlich weit zurückzugehen. Am Anfang war Rom, obwohl wir von Anfang an wissen, dass das Problem des Anfangs ein unlösbares ist und bleibt.5 Es gab die römische Republik und das römische (Privat)Recht. Die wichtigsten Unterscheidungen, mit denen das moderne Privatrecht in seiner tagtäglichen Praxis noch heute arbeitet, z. B. Eigentum und Besitz, Vertrag und Delikt, dingliche und obligatorische Rechte, testamentarische

3 Ders., ebd., S. 557 ff. im Hinblick auf das Wissenschafts- und Wirtschaftssystem. 4 Ders., ebd., S. 561. 5 Dazu ders., ebd., S. 440 f.; Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002, S. 77 f.

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1. Kap.: Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

und gesetzliche Erbfolge usw.,6 verdanken sich dem römischen Recht. Und Rom wurde zur Erfolgsstory. Schon lange nachdem es Rom nicht mehr gab, trat das römische Recht seinen Siegeszug an. Vom 12. Jahrhundert, dem nicht zu Unrecht als „juristischem Jahrhundert“7 bezeichneten, bis zum 20. Jahrhundert stand es im Mittelpunkt universitärer Lehre an den juristischen Fakultäten Europas.8 Geblieben ist die Referenz Rom,9 wenngleich als „Konstruktion der Konstruktion.“10 Die Referenz Rom war auch gut 1000 Jahre später noch wirksam.11 Bis zum 11. Jahrhundert gab es zwar kein selbständiges „System“ des Rechts, zumindest aber waren zahlreiche Rechtsbegriffe und Rechtsregeln aus dem römischen Recht überkommen. Sie fanden sich in den Kanones und Erlassen lokaler Kirchenversammlungen und einzelner Bischöfe, aber auch in einigen königlichen Gesetzen und im Gewohnheitsrecht. Ansonsten gestaltete sich die Abgrenzung des Rechts von anderen Formen sozialer Kontrolle aber als schwierig. Dies vor allem deshalb, weil sich das weltliche Recht noch nicht vom allgemeinen Stammes-, Lokal- und FeudalBrauchtum (auch der königlichen und kaiserlichen Hausgemeinschaften) hatte lösen können. In eben solcher Weise war das kirchliche Recht zu 6

Siehe insoweit am Beispiel der Sicherungsrechte grundlegend Schanbacher, Zu Ursprung und Entwicklung des römischen Pfandrechts, SZ 123 (2006), 49 ff.; ders., Grenzüberschreitende Sicherungen im antiken Rom – ius gentium und lex rei sitae, in: Jung/Baldus (Hrsg.), Differenzierte Integration im Gemeinschaftsprivatrecht, 2007, S. 27 ff. 7 Siehe dazu m.w.N. Berman, Recht und Revolution, S. 199. 8 Siehe für Deutschland noch Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts. Vorlesungen gehalten an der Universität Berlin, mit Vorlesungseinheiten, die heute wohl kaum noch denkbar wären, z. B. „Isolierung“ S. 13 ff., „Abstraktion“ S. 27 ff., „Einfachheit“ S. 45 ff., „Tradition“ S. 57 ff., „Nation“ S. 74 ff., „Freiheit“ S. 95 ff., „Autorität“ S. 112 ff., „Humanität“ S. 128 ff., „Treue“ S. 151 ff., „Sicherheit“ 162 ff. 9 Siehe dazu insb. Fögen, Nach Hause …, Rg 4 (2004), 116 f.; Conte, Archeologia giuridica medievale. Spolia monumentali e reperti istitutzionali nel XII secolo, Rg 4 (2004), 118 ff.; Grünbein, Vom Terror, Rg 4 (2004), 137 ff.; De Giorgi, Rom als Gedächtnis der Evolution, Rg 4 (2004), 142 ff.; Kempe, Untergänge Roms, Rg 5 (2004), 58 ff. 10 Fögen, ebd., 116. 11 Siehe dazu und zum Folgenden eingehend Berman, Recht und Revolution, S. 212 ff., 227 ff., 337 ff., 399 ff., 463 ff., 778 ff.; siehe aber auch ders., Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, 2003, passim.

§ 1 Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft

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weiten Teilen im kirchlichen Leben verstreut. Berufsjuristen, Berufsrichter, Gerichtshierarchien und akademische Rechtsschulen fehlten völlig. Dieses Bild änderte sich vom Ausgang des 11. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts grundlegend. Dem Recht gelang es, sich als Korpus von Rechtsgrundsätzen und Rechtsverfahren zu verselbständigen; erstmals erstarkten kirchliche und weltliche Zentralgewalten; Europa erlebte die Gründung seiner ersten Rechtsschulen.12 All diese Umstände trugen zur „Bildung der modernen westlichen Rechtssysteme“13 bei, als deren erstes sich das Kanonische Recht der römisch-katholischen Kirche herauskristallisierte. Vor seinem Hintergrund und in Konkurrenz zu ihm schufen auch die europäischen Königreiche ihre eigenen weltlichen Rechtsordnungen und die freien Städte Europas gaben sich ihr erstes Stadtrecht. Neben dem sich allmählich formierenden Feudal-, Grundherren-, Handels- und Stadtrecht waren aber auch religiöse Kräfte am Werk. Hier ist ganz maßgeblich die sog. päpstliche Revolution zu nennen, allen voran das Wirken Papst Gregor VII., der 1075 die politische und juristische Oberhoheit des Papsttums über die ganze Kirche, letztlich aber auch in weltlichen Angelegenheiten proklamierte und die Unabhängigkeit des Klerus von weltlicher Kontrolle forderte. Der sich anschließende Investiturstreit zwischen Königtum und Kirche fand mit dem Wormser Konkordat (1122) in einem bis heute fortwirkenden „Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“ sein Ende.14 Ganz unabhängig davon, wie man diese sog. „Gregorianische Revolution“ in ihrer Bedeutung und Reichweite im Einzelnen auch einschätzen mag,15 kann vor ihrem Hintergrund jedenfalls kein Zweifel daran beste-

12 Beispielhaft sei hier die Gründung der Juristischen Fakultät von Bologna genannt, dazu insb. Berman, Recht und Revolution, S. 204 ff. 13 Ders., ebd., S. 193 ff. 14 Zum Ganzen eingehend ders., ebd., S. 193 ff.; siehe aber auch Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 443 Fn. 59, der mit Berman darin den maßgeblichen „take off“ für die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems sieht und ders., ebd., S. 566, unter Hinweis auf die mit dieser Entwicklung verbundenen Anforderungen an „Präzision und Änderbarkeit“ des Rechts; durchaus kritisch demgegenüber Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, Bulletin of Medieval Canon Law 22 (1998), 19 ff. 15 Siehe dazu unten § 5.

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1. Kap.: Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

hen, für das Rechtssystem von einer unverkennbaren Teilsystemevolution ausgehen zu dürfen.16 Ihre Bewegungsmechanismen im Allgemeinen sind Variation, Selektion und Stabilisierung. Sie beziehen sich sämtlich auf das System: Variation auf die Elemente,17 Selektion auf die Struktur18 und Stabilisierung auf die Einheit des Systems.19 Mit Hilfe dieses evolutionstheoretischen Instrumentariums beobachtet man, „welches die Bedingungen der Möglichkeit waren, dass Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden.“20 „Variation eines autopoietischen Elements im Vergleich zum bisherigen Muster der Reproduktion“21 vollzieht sich durch unerwartete, gleichsam überraschende Kommunikation im Rechtssystem, zum Beispiel dann, wenn Umweltereignisse (technische Erfindungen, politische Umstürze etc.) das Rechtssystem irritieren und zur Variation im Recht provozieren. Solche Variation im Recht ist die Grundvoraussetzung aller Evolution, nicht zu prognostizieren, aber zu rekonstruieren.22 „Selektion“ der mit der Variation verbundenen Möglichkeiten der Veränderung im Recht bedeutet, dass aus der Vielzahl der Möglichkeiten eine und eben nicht eine andere ausgewählt und auf der Grundlage der Recht/Unrecht-Unterscheidung markiert wird.23 Selektion ist kontingent, aber nicht beliebig, weil sie an vorangegangene Selektion und damit verbundenen Strukturaufbau gebunden bleibt.

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Sie könnte sogar zu der Vermutung Anlass geben, die gesamte gesellschaftliche Evolution als Resultat von Teilsystemevolutionen zu betrachten, siehe dazu Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 557 ff., der Teilsystemevolutionen in anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft beobachtet und beschreibt. 17 Ders., ebd., 456 – 472. 18 Ders., ebd., 473 – 484. 19 Ders., ebd., 485 – 497. 20 Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 17 (Hervorhebung i.O.). 21 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 242. 22 Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 15. 23 Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung von Variation und Selektion siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 257 „Variation und Selektion lassen sich nicht unterscheiden…“.

§ 1 Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft

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„Stabilisierung“ des Systems erfolgt über die Einfügung des selegierten neuen Elements in die vorhandene Struktur. Für das Rechtssystem wird diese Funktion ganz maßgeblich von der Rechtsdogmatik wahrgenommen.24 Dadurch gelingt es, den Überraschungswert künftiger und ähnlicher Umweltirritationen zu mindern, gleichzeitig aber neue Komplexität aufzubauen. Der evolutorische Prozess ist zunächst am Ende, aber nur um sofort als Anfang neuer Variation und Selektion zu dienen. Im Sinne dynamischer Stabilität geht es also um das Weiterführen der autopoietischen, strukturdeterminierten Reproduktion in geänderter Form.25 Vor diesem Hintergrund werden im Rechtssystem Normativität (Variation), Verfahren (Selektion) und Rechtsdogmatik (Stabilisierung) als Evolutionsmechanismen wirksam und treiben diese unaufhaltsam voran.26 Normen als enttäuschungsfeste, kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen sind dabei für die Evolution des Rechtssystems nachgerade unverzichtbar. Die damit fast zwangsläufig einhergehende Vermehrung wechselseitiger Enttäuschungen und Rechtsstreitigkeiten lässt eine Vielzahl widerstreitender individueller Normprojektionen sichtbar werden. Das Recht mutiert. Wenn Evolution des Rechts Ko-Evolution ist, geht es dabei dann beliebig zu oder wird im Auf- und Abbau von Strukturen des Rechtssystems ein Muster erkennbar? Dem „Entwicklungsdenken“27 als Erklärungsmuster für Veränderungen im Recht hat dabei lange Zeit der „Fort-

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Dazu eingehend ders., ebd., S. 265 ff. Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 16. 26 Siehe dazu eingehend Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, 11, 17 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 261 ff. 27 Für ein solches Verständnis der Rechtsgeschichte siehe insb. auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992; Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1996; Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Aufl. 2005; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2001; Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992; Honsell, Römisches Recht, 5. Aufl. 2002; Kaser/ Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl. 2005; Waldstein/Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005; Andreas Thier, Zürich, danke ich für den Hinweis, dass insoweit aber in der modernen rechtshistorischen Forschung Tendenzen erkennbar werden, die „Entwicklung“ als bestimmendes Erklärungsmuster für Veränderungen im Recht relativieren. Siehe dazu nur Rückert, Wozu Rechtsgeschichte?, Rg 3 (2003), 58, 63. 25

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schrittsglaube“ Pate gestanden.28 Zu einer dezidiert anderen Sicht der Dinge gelangt man, wenn man den „Fortschrittsglauben“ bei der Bewertung von Evolution aufgibt, d. h. Konstruktion und Destruktion von Systemen mit Gleichmut hinnimmt.29 Stattdessen ist dann auf „Komplexität“ umzustellen. „Emergenz“ und „Zufall“ werden zu maßgeblichen Faktoren evolutionären Denkens. Emergenz meint das „Benutzen oder Ausnutzen der Vergangenheit (in Form vorhandener Elemente), markiert jedoch zugleich den Bruch mit der Vergangenheit durch das Entstehen einer neuen Eigenschaft, die nicht in den ursprünglichen Elementen enthalten und nicht auf sie zurückzuführen ist.“ Es geht um eine „Momentaufnahme, um die Rekonstruktion einer Situation in der systemeigenen Evolution“, in der irgendwo, irgendwann und irgendwie z. B. der Vertragsgedanke,30 der Schutz privaten Eigentums31 oder der Gedanke der Wissenschaftsfreiheit32 entstand. Aber nicht jeder Gedanke gelangt zur Entstehung und nicht jedes Ereignis realisiert sich; hier kommt der Zufall33 ins Spiel. Zufall – verstanden als „differenztheoretischer Grenzbegriff“ – ist „eine Form des Zusammenhangs von System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle, der ,Systematisierung‘) durch das System entzieht“. Es stellt die Fähigkeit desselben dar, „Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Au28 Siehe dazu insb. Koselleck, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Brunner/Conze/ders., Bd. 2, 1975, S. 351 ff.; ders., ,Fortschritt‘ und ,Niedergang‘ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, 2006, S. 159 ff.; Ritter, Fortschritt, in: ders. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 1032 ff. 29 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 428. 30 Dazu Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, Rg 6 (2005), 84 ff., wo es dem Untertitel zufolge um die „Emergenz des synallagmatischen Vertrags“ geht. 31 Dazu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 266 f. 32 Dazu Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2005), 110, 114 ff. m.w.N. 33 Siehe dazu und zum Folgenden insb. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 448 ff.; Aschke, Kommunikation, Koordination und soziales System, 2002, S. 111 ff.; Kuchler, Das Problem des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie, Soziale Systeme 9 (2003), 27, 29 f.; Stichweh, Selbstorganisation und die Entstehung nationaler Rechtssysteme (17.–19. Jahrhundert), RJ 9 (1990), 254, 262 ff.; Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 159; dies., Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 17 f.

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topoiesis) produziert und koordiniert werden können“.34 Aus der Sicht des Rechts sind deshalb etwa politische Umstürze, wirtschaftliche Zusammenbrüche oder technische Neuheiten schlicht „Gefahren, Chancen, Gelegenheiten“, auf die das Rechtssystem in seiner Kommunikation reagieren kann, aber nicht muss. Keineswegs nimmt das Rechtssystem nämlich alles, was in seiner Umwelt geschieht, gleichermaßen wichtig. Vieles „da draußen“ wird vom Recht schlicht ignoriert.35 Umweltanstöße dieser Art – also Zufälle – treffen dabei stets auf ein bereits evoluierendes System und werden von diesem unter Ausnutzung seiner Autopoiesis umgearbeitet. Strukturelle Kopplungen sozialer Systeme gestatten es dann, die vom System wahrgenommenen Irritationen zu kanalisieren.36 Damit dürften die Bewegungsmechanismen der (Teilsystem)Evolution des Rechts im Allgemeinen in ihren Grundzügen noch einmal knapp zusammengefasst umrissen sein,37 so dass wir nachfolgend unser besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht zu richten vermögen.

§ 2 Beteiligung von Funktions- und Organisationssystemen an der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht Was die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht anbelangt, so gestaltet sich die Ausgangslage äußerst komplex, vor allem aber theoretisch weitgehend unerforscht. An ihr sind zunächst einmal gleich drei Funktionssysteme der Gesellschaft (Politik, Religion und Recht) maßgeblich beteiligt. Mit Staat und Kirche, die sich bei oberflächlicher Betrachtung als Organisationssysteme von Politik und Religion einordnen ließen, ist zwei gesellschaftlichen Organisationen die Rechtsetzung übertragen, die sich – wie bereits erwähnt – in besonderer Weise durch ihre „Multireferenz“38 auszeichnen, d. h. die Fähigkeit, sich kommunikativ mit 34

Luhmann, ebd., S. 449 f. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 159. 36 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 285. 37 Zu Einzelheiten siehe Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 84 ff. 38 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 273; dies./Wehrsig, Zur komplementären 35

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unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft zu orientieren. So weit, so gut. Aber bei näherer Betrachtung lassen sich gleich auf Anhieb eine Reihe von bislang unbearbeiteten Forschungsfragen ausmachen: Wie darf man sich die Funktionsweise der Organisationssysteme Staat und Kirche, vor allem in Funktionssystemen, speziell dem Rechtssystem, vorstellen? Haben wir es mit Irritation zu tun und was kennzeichnet diese, und zwar zwischen Funktionssystemen, zwischen Organisationssystemen und vielleicht sogar zwischen Funktions- und Organisationssystemen? 39 Gibt es Kopplungen zwischen den Funktionssystemen Politik, Religion und Recht? Gegebenenfalls, handelt es sich dabei um operative oder strukturelle Kopplungen? Welche Bedeutung kommt insoweit dem über Art. 140 Grundgesetz – sprich der Verfassung als struktureller Kopplung von Recht und Politik – garantierten Staatskirchenrecht zu? Erscheint eine strukturelle Kopplung der Funktionssysteme Politik, Religion und Recht vielleicht auch über Organisation, also Staat und Kirche als Organisationssystemen, denkbar? Die Liste offener Forschungsfragen zur Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht ist schon damit beachtlich, vermutlich aber noch nicht einmal vollständig. Wir müssen uns ihnen deshalb nachfolgend in detaillierter und strukturierter Vorgehensweise widmen. Für das Verhältnis von Funktions- und Organisationssystemen ist ganz allgemein von einem „Komplementärverhältnis“ auszugehen. Aber auch für das Verhältnis von Politik, Religion und Recht zu „ihren“ Organisationen, namentlich Staat und Kirche, dürfte diese Charakterisierung – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – zutreffend sein.40 Dabei ist zunächst in Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 49; von „Multireferentialität“ und der „Perspektive multipler Programmierung“ spricht in diesem Zusammenhang Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, ebd., S. 170, 171 ff.; vgl. auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, 2003, S. 200. 39 Siehe dazu auch die Suchbewegung bei Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, 2018, S. 115 f., 123. 40 Ausdrücklich in diesem Sinne, und zwar allgemein und mit Blick auf das Religionssystem, Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 234 ff.; nicht weit davon entfernt erscheint mir das Verständnis von Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organi-

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Erinnerung zu rufen, dass nur Organisationen als Sozialsysteme in der Lage sind, mit Systemen ihrer Umwelt zu kommunizieren. Funktionssystemen fehlt genau diese Kommunikationsfähigkeit.41 Dies bedeutet für unseren Zusammenhang, dass Politik, Religion und Recht nicht als Einheit nach außen kommunizieren können. Dazu bedarf es vielmehr in ihren Funktionssystemen der Bildung von Organisationen, z. B. von Staat, Kirche und Gerichten. Sie statten die Funktionssysteme erst mit externer Kommunikationsfähigkeit aus. Am Beispiel des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche zeigt sich dies etwa darin, dass die Bundesregierung (für das Politiksystem) durch die Justizministerin ihre Forderung nach rascher Aufklärung durch ein unabhängiges kriminologisches Forschungsinstitut formuliert und die Deutsche Bischofskonferenz (für das Religionssystem) darauf – operativ geschlossen – mit der Beauftragung eines solchen Instituts reagiert, ggfl. dann aber auch wiederum autonom darüber entscheidet, den erteilten Untersuchungsauftrag angesichts einer grundlegenden und nachhaltigen Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zu kündigen. Und dies kann dann u. U. sogar dazu führen, dass die Gerichte (für das Rechtssystem) über eine von der Deutschen Bischofskonferenz verlangte Unterlassungserklärung gegenüber dem Leiter des Forschungsinstituts entscheiden müssen, zukünftig nicht mehr zu behaupten, die Katholische Kirche wolle Forschungsergebnisse zensieren. Ganz wichtig dürfte vor diesem Hintergrund aber die weitere Feststellung sein, mit dem dargestellten Zusammenspiel der einzelnen Organisationssysteme nicht die Vorstellung zu verbinden, es handele sich bei den genannten Organisationen (Staat, Kirche, Gerichte) etwa um „SubSubsysteme“ von Politik, Religion und Recht. Eine solche theoretische Zuordnung von Organisationssystemen „zu“ Funktionssystemen ist nämlich mit den Grundannahmen der Systemtheorie, sprich operativer Geschlossenheit und Autonomie der Systeme, nicht vereinbar. Soziale

sation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 41 ff., 42, die von einem Verhältnis „vertikaler doppelter Kontingenz“ sprechen und in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es um ein „Verhältnis unterschiedlicher Ebenen“ geht, „die zur eigenen Systembildung wechselseitig auf die Strukturen der jeweils anderen Ebene angewiesen sind.“ 41 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 842 f.

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Systeme vermögen nur sich selbst, nicht aber ihre Umwelt festzulegen.42 Dies schließt eine beobachtungstheoretische Formulierung des Zuordnungsproblems der Gestalt allerdings nicht aus, dass sich Systeme im operativen Vollzug ihrer Autopoiesis beobachtend auf sich selbst und ihre Umwelt beziehen.43 Würde man von daher grundsätzlich fehlgehen in der Annahme, dass die genannten Organisationen in die jeweiligen Funktionssysteme „eingeschlossen“ seien,44 so zeichnen sie sich stattdessen durch ihre bereits erwähnte Fähigkeit zur „Multireferenz“45 aus. Diese gestattet es ihnen, sich kommunikativ mit unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft zu orientieren. So kann etwa Kirche als Organisation das Thema des Kirchenaustritts aus theologischer Perspektive (als Organisation des Religionssystems) diskutieren, mit Blick auf das staatliche und kirchliche Recht (als Organisation des Rechtssystems) vor Gericht darüber streiten46 und nicht zuletzt im politischen Meinungskampf um die Rechtfertigung von Staatsleistungen (als Organisation des Politiksystems) dazu Stellung beziehen.47 Dass Organisationen nicht auf eine einzige Referenz (zu einem Funktionssystem) festgelegt sind, beweist auch das Beispiel der öffentlichen Verwaltungen, die sich sowohl als Organisationen des Rechts als auch der Politik begreifen lassen. Auf der 42 Tacke, Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung von Organisationen. Zum theoretischen Problem und empirischen Wert von Organisationstypologien, in: dies. (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 141, 149. 43 Dies., ebd. 44 So zutreffend Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 42. 45 Zum Folgenden siehe insb. Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, ebd., S. 170, 171 ff.; vgl. aber auch Lieckweg/Wehrsig, ebd., S. 43, 49; Schlamelcher, Religiöse Organisation, in: Pollack/Krech/Müller/Hero (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, 2018, S. 489, 500 f., der von der „Polykontexturalität von Organisationen“ spricht. 46 Das Paradebeispiel dafür bildet der sog. Fall Zapp mit den Entscheidungen des VG Freiburg v. 15. 7. 2009 – 2 K 1746/08 –, des VGH Baden-Württemberg v. 4. 5. 2010 – 1 S 1953/09 – und des BVerwG v. 26. 9. 2012 – 6 C 7.12 –. 47 Siehe dazu umfassend Güthoff/Haering/Pree (Hrsg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, 2011, passim.

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anderen Seite heißt dies nun aber wiederum nicht, deswegen im Verhältnis von Organisationen und Funktionssystemen bestimmte „Prioritäten der Programmierung“ verkennen zu müssen.48 So sind Gerichte eben typischerweise (als Organisationen des Rechtssystems), Regierungen (als Organisationen des Politiksystems) und Universitäten (als Organisationen des Wissenschaftssystems) durch eine Primärorientierung ihrer organisatorischen Entscheidungsprogrammierungen gekennzeichnet. Dessen ungeachtet entscheiden Organisationen aber eben im Vollzug ihrer Autopoiesis, ob sie diesen oder jenen Gesichtspunkt als externe Referenz berücksichtigen.49 Neben diesen eher systematisch ausgerichteten Überlegungen zum Verhältnis von Funktions- und Organisationssystemen müssen wir aber aus der Perspektive eines an der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft orientierten Beobachtungs- und Beschreibungsansatzes unser Augenmerk vor allem auf den funktionalen Beitrag von Organisationssystemen („in“ und zwischen Funktionssystemen) richten. Organisationen erweisen sich dabei zunächst einmal als Schrittmacher der gesellschaftlichen Evolution.50 Sie produzieren nämlich fortlaufend Konflikte, die auf der Ebene der Funktionssysteme Widersprüche generieren. Diese Widersprüche in der Selbst- und Fremdbeschreibung können von den Funktionssystemen nicht als Konflikt kommuniziert werden, da sie – wie bereits erwähnt – zu solcher Kommunikation nicht fähig sind. Hier kommen Organisationen (aber auch Interaktionen) ins Spiel.51 Sie stellen sich mit ihren Entscheidungsstrukturen den gesellschaftlichen Funktionssystemen für Programmänderungen zur Verfügung und machen gerade damit Konflikte entscheidbar. Wirklich nachhaltig wird die Pro48

Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 170, 171. 49 Zu den mit dem Auswechseln dieser Bezüge in einer kommunikativen Episode verbundenen Problemen, insb. dem Vorwurf gesellschaftlicher Entdifferenzierung, siehe eingehend ders., ebd., S. 177 ff. 50 Zum Folgenden ausführlich Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 50 ff., 56, 58. 51 Dazu dies., ebd., S. 50 ff., die Konflikte in und zwischen Organisationen unterscheiden.

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grammänderung der Funktionssysteme allerdings erst dann, wenn es dazu kommt, dass andere Organisationen aufgrund der wechselseitigen Beobachtungsverhältnisse auf diese Veränderungen Bezug nehmen. Diese Reflexivität der Veränderungsprozesse in den Funktionssystemen macht deutlich, dass wir es letztlich mit einer „laufenden Selbstirritation der Funktionssysteme“ zu tun haben. Organisationen sorgen damit innerhalb der Funktionssysteme für Stabilität (insb. durch die Entscheidung von Konflikten), lösen aber zugleich an anderer Stelle Irritationen aus und bearbeiten diese. Hierin ist ein wichtiger innovativer52 Beitrag zu sehen, den sie zur Steigerung der evolutionären Dynamik moderner Gesellschaften leisten. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem soeben angesprochenen Entscheidungsbezug steht eine weitere wichtige Funktion von Organisationen in und zwischen Funktionssystemen. Ich denke dabei an das Merkmal der Interdependenz, das mit Blick auf das Rechtssystem, dessen relevante Ereignisse Entscheidungen sind, auf genau diese zu beziehen ist.53 Organisationen, die sich gerade durch die Operation der Entscheidung von anderen autopoietischen Systemen unterscheiden, kommt dabei gleich eine doppelte Funktion zu. Zum einen erweisen sie sich als die „wesentlichen Träger von Interdependenzunterbrechungen“,54 zum anderen sind sie an der Rückseite von Interdependenzunterbrechung, nämlich der Strukturierung und Herstellung von Interdependenz zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen maßgeblich beteiligt.55 Bevor wir uns dem zuwenden, bedarf es allerdings einer Konkretisierung und Operationalisierung des Begriffs der Interdependenz. Wenn Interdependenz nicht heißen soll, dass einfach alles mit allem zusammenhängt,56 dann wird man diese als Systemvariable begreifen müssen, „deren jeweiliger Wert sich aus dem Zusammenhang mit den 52

Darauf weisen dies., ebd., S. 54 ff. ausdrücklich hin. Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 241, 252. 54 Ders., Organisation und Entscheidung, 2000, S. 395. 55 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 237 ff. 56 Zu den Unzulänglichkeiten einer solchen Begriffsbestimmung Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 241, 251 f. m.w.N. 53

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Werten anderer Variabler ergibt, sich also Beschränkungen der Kompatibilität mit anderen Systemerfordernissen fügen muss“.57 Für das ganz maßgeblich durch seinen Entscheidungsbezug geprägte Rechtssystem bedeutet dies, das Ausmaß erforderlicher Interdependenz – verstanden als selektive Festlegung einer Entscheidung, die eine andere nach sich zieht58 – immer auch mit Blick auf die sonstigen Systemerfordernisse zu bestimmen und vor allem zu begrenzen. Die Erscheinungsformen „limitierter Interdependenz“59 sind dabei durchaus vielgestaltig. In zeitlicher Hinsicht sind hier zuerst einmal und sicher nur beispielhaft die im geltenden Recht selbst angelegten juristischen Argumentationstopoi der Rechtskraft und der Verjährung zu nennen.60 Darüber hinaus kommt aber vor allem der Rechtsdogmatik mit ihrer primären Orientierung am entscheidungserheblichen Fall besondere Bedeutung zu.61 Eine ihrer wichtigen Aufgaben liegt darin, zentrale Leitbegriffe und Leitstrukturen des Rechts ausgehend vom jeweiligen Einzelfall62 zu thematisieren und zu konkretisieren. Man denke insoweit nur für das Zivilrecht an den Begriff der unerlaubten Handlung, für das Strafrecht an denjenigen des Verschuldens und für das Öffentliche Recht an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. Des Weiteren sind hier die von ihr „an Fallentscheidungen gewonnenen kategorialen Abstraktionen der Rechtsinstitute und -begriffe selbst“ zu nennen, wodurch Entscheidungen gegeneinander isoliert und Interdependenzen auf wenige, überschaubare Aspekte begrenzt werden.63 Der solchermaßen konkretisierte und operationalisierte Begriff der Interdependenz erlaubt es nun, dass wir uns nachfolgend der Funktion von Organisationen als wesentlichen Trägern von Interdependenzunterbre57

Ders., ebd., S. 252. Ders., ebd.; zum allgemein-systemtheoretischen und kybernetischen Hintergrund der Begriffsbestimmung siehe Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 232 ff. m.w.N. 59 Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 241, 258. 60 Ders., ebd., S. 254, der dort in einem weiterem Kontext auch die präjudizielle Wirkung von Entscheidungen erwähnt. 61 Dazu und zum Folgenden ders., ebd., S. 253 ff. 62 Zur damit per se verbundenen „Reduktion von Interdependenzen“ ders., ebd., S. 256. 63 Ders., ebd., S. 256 f. (Hervorhebung i. O.), dort auch Näheres zur vergleichbaren Funktion des Rechtssatzes als Konditionalprogramm (S. 257 f.). 58

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chungen, dem sog. loose coupling64, etwas näher zuwenden.65 Diese Funktionszuschreibung ist zunächst einmal ganz maßgeblich mit der Emergenz der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne verbunden.66 Sie ist durch einen besonderen Grad an struktureller Komplexität gekennzeichnet, der Organisationen als Interdependenzunterbrechungen geradezu erfordert. Hintergrund dafür ist, dass sich die einzelnen Funktionssysteme in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in einem spezifischen Wechselseitigkeitsverhältnis zueinander befinden. Und zwar steigert funktionale Differenzierung „wechselseitige Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme miteinander, also zugleich; denn jedes Funktionssystem ist in der Erfüllung der eigenen Funktion autonom, aber zugleich davon abhängig, dass die anderen Funktionssysteme ihre jeweilige Funktion auf adäquatem Leistungsniveau erfüllen.“67 Dieses strukturelle Wechselseitigkeitsverhältnis verhindert aber, dass funktionale Differenzierung die notwendigen Interdependenzunterbrechungen selbst leistet, die erforderlich sind, um unkontrollierbare, nicht lokalisierbare Irritationen, die ständig auf das System einwirken, zu unterbinden.68 Und genau an dieser Stelle kommt das loose coupling von Organisationen ins Spiel, das komplexen Systemen die Möglichkeit eröffnet, ihre eigene Irritabilität zu steigern, gleichzeitig aber ihre eigene Stabilität zu wahren.69 Sichtbar wird damit ein Beziehungs64 Ders., Organisation und Entscheidung, S. 394; siehe dazu auch Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 157 f. 65 Dazu und zum Folgenden eingehend Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 232 ff.; Luhmann, ebd., S. 394 ff. 66 Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Differenzierungsform und Interdependenzunterbrechung siehe Drepper, ebd., S. 235, dort insb. mit Blick auf segmentäre Differenzierung; Luhmann, ebd., S. 396, dort insb. mit Blick auf segmentäre und stratifikatorische Differenzierung. 67 Luhmann, ebd. (Hervorhebung i. O.). 68 Ders., Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/ Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195; siehe auch mit Blick auf das Rechtssystem ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 359 f.: „Entscheidungen in einem Subkomplex dürfen nur in wenigen Hinsichten auf andere durchschlagen, so wie umgekehrt die notwendige Information über das Recht bei allen Entscheidungen in Schranken gehalten werden muss, weil man anders nicht für unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten bereithalten könnte.“ 69 Genau das meint ders., Organisation und Entscheidung, S. 396: „ … eben deshalb muss die Gesellschaft über funktionale Differenzierung hinausgehen und

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geflecht von Funktions- und Organisationssystem, in dem das Entstehen von Organisationen „zur Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme gegen die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierung der Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweilige Umwelt“ beiträgt.70 Organisationen sind nun aber – wie bereits erwähnt – nicht nur an der Interdependenzunterbrechung, sondern auch an deren Rückseite, nämlich der Interdependenzherstellung in und zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen beteiligt.71 Im Sinne strukturierter Interdependenz wirken sie daran mit, dass trotz operativer Geschlossenheit und klarer Systemgrenzen kommunikative Zusammenhänge in und zwischen Funktionssystemen möglich werden und bleiben.72 Konkret ist damit vor allem ihre Beteiligung an der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen angesprochen. Sicherlich geht man dabei nicht fehl, wenn die gesellschaftliche Funktion von Organisationen insoweit zunächst einmal als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ beschrieben wird.73 Allerdings lässt sich die Trennschärfe in der Beobachtung und Beschreibung dadurch deutlich optimieren, dass zwischen Organisation als Voraussetzung für strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung unterschieden wird.74 Organisation als Voraussetzung struktureller Kopplung thematisiert einen Zusammenhang, der sich nicht speziell auf eine bestimmte strukturelle Kopplung, z. B. die Verfassung im Verhältnis von Recht und Politik, ein anderes Prinzip der Systembildung verwenden, um sich mit Ultrastabilität und mit hinreichender lokaler Fähigkeit der Absorption von Irritationen zu versorgen, nämlich Organisation.“ 70 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 846 f.; zur Bedeutung von Organisationen als „Muster der teilsystemischen Binnendifferenzierung“ in den Funktionssystemen der Gesellschaft siehe auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 235. 71 Zum Folgenden schon Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 158 ff. 72 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 237. 73 So Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195. 74 In diesem Sinne der Vorschlag von Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 ff.

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bezieht. Vielmehr geht es um eine allgemeine Voraussetzung der Art, dass strukturelle Kopplungen „in der notwendigen Komplexität und Differenziertheit kaum möglich [wären], wenn es nicht Organisationen gäbe, die Informationen raffen und Kommunikationen bündeln können und so dafür sorgen können, dass die durch strukturelle Kopplungen erzeugte Dauerirritation der Funktionssysteme in anschlussfähige Kommunikation umgesetzt wird“.75 Durch ihre Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit, die allen Organisationen eigen ist, ermöglichen sie die „Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeit der Funktionssysteme“ in dem Sinne, dass die Trennung der Funktionssysteme verstärkt und zugleich der Kontakt zur Umwelt hergestellt wird. In dieser von Turbulenz bestimmten Umwelt garantieren Organisationen den Funktionssystemen untereinander stabile und spezifische Beziehungen.76 Während Organisation grundsätzlich als Voraussetzung für strukturelle Kopplung begriffen werden kann, erweist sie sich nur selten als strukturelle Kopplung. Diese verlangt nämlich, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt.“ Außerdem müssen Organisationen, die selbst strukturelle Kopplung von Funktionssystemen sein sollen, die Lösung für die Selbstreferenzprobleme der gekoppelten Systeme darstellen. Das bedeutet, dass sie kein „Zwischen“ den Funktionssystemen sein dürfen; vielmehr müssen sie von den gekoppelten Systemen gleichermaßen, aber in ganz spezifischer Weise beansprucht werden. Und das trifft eben wirklich nur auf ganz singuläre Organisationen zu (z. B. Universitäten).77 Schließlich tritt Organisation noch als Vermittler struktureller Kopplung in Erscheinung. Diese Funktion der Organisation in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist klar und deutlich von derjenigen als Voraussetzung struktureller Kopplung zu unterscheiden. Im Gegensatz zu ihr geht es bei der Funktion von Organisation als Vermittler struktureller Kopplung um Organisationen, die sich auf eine ganz bestimmte strukturelle Kopplung von Funktionssystemen und ihre spezifische Umsetzung beziehen oder als Träger dieser konkreten strukturellen Kopplung iden75

Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 400. Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 f. 77 Dies., ebd., 276 ff., dort auch zur näheren Begründung, warum Universitäten diesem Anspruch gerecht werden. 76

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tifiziert werden können.78 Sie müssen die Realisierung der strukturellen Kopplung ermöglichen, indem sie diese tragen und innergesellschaftlich als ihr Adressat fungieren.79 Diese Funktionen, die Organisationen bei der Interdependenzunterbrechung, aber auch bei der Interdependenzherstellung in und zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen wahrnehmen, konnten an anderer Stelle bereits am Beispiel der Beurteilung des Kirchenaustritts im staatlichen und kirchlichen Recht exemplarisch verdeutlicht werden.80 Staat und Kirche haben sich dabei als klassische Organisationssysteme erwiesen, die maßgeblich an der Interdependenzunterbrechung und Interdependenzherstellung im Verhältnis von Politik, Religion und Recht beteiligt sind.81 78

Dies., ebd., 278. Als Beispiel dafür kann im Verhältnis von Recht und Politik das Bundesverfassungsgericht dienen; siehe dazu näher Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 161 f. 80 Siehe dazu eingehend Schulte, Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht. Dargestellt am Beispiel des Kirchenaustritts, in: ders., Politik, Religion und Recht, 2017, S. 211 ff.; siehe dazu aber aus historischer Perspektive vor allem Schmal, Das staatliche Kirchenaustrittsrecht in seiner historischen Entwicklung, 2013, passim; vgl. ferner Güthoff/Haering/Pree (Hrsg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, 2011, passim. 81 Ein weiteres Beispiel könnte das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. 2. 2014 – BVerwG 2 C 19.12 – BVerwGE 149, 139 ff. zur Fürsorgepflicht im Kirchenbeamtenverhältnis sein. Zur Reichweite des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgesellschaften gem. Art 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV heißt es dort: „Das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV schließt nicht bereits den Zugang zu den staatlichen Gerichten aus, sondern bestimmt Umfang und Intensität der Prüfung des Aktes der Religionsgesellschaft durch das staatliche Gericht. … Das staatliche Gericht ist dabei auf die Prüfung beschränkt, ob der Kläger durch eine Maßnahme seiner Religionsgesellschaft in einer subjektiven Rechtsposition verletzt ist, die ihm das staatliche Recht verleiht. Dies ist der Fall, wenn kirchliches Recht oder dessen fallbezogene Anwendung gegen eine staatliche Rechtsposition verstößt, die auch von der Religionsgesellschaft zu beachten ist. Die staatlichen Gerichte haben bei dieser Prüfung von demjenigen Verständnis des kirchlichen Rechts auszugehen, das die zuständigen kirchlichen Organe, insbesondere die kirchlichen Gerichte, vertreten. Die staatlichen Gerichte sind nur dann befugt, das autonom gesetzte Recht der Religionsgesellschaft auszulegen und anzuwenden, wenn und soweit die Religionsgesellschaft selbst diese Möglichkeit eröffnet.“ und „Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistet mit Rücksicht auf das zwingende Erfordernis des friedlichen Zusammenlebens von Staat und 79

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Und dennoch besteht Anlass zur Vertiefung: Was kennzeichnet Irritation zwischen Funktionssystemen (insb. Politik, Religion und Recht), zwischen Organisationssystemen (insb. Staat und Kirche) und zwischen Funktions- und Organisationssystemen? Welche Kopplungen (operativ und/oder strukturell) zwischen den Funktionssystemen Politik, Religion und Recht (ggfl. auch über Organisationssysteme, z. B. Staat und Kirche) gibt es und wie lassen sie sich begreifen? Mit dem Versuch einer Antwort auf diese Fragen wollen wir nachfolgend noch eingehender und detaillierter der Bewegungsdynamik der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht auf den Grund gehen.

§ 3 Kopplungen und Irritationen von Politik, Religion und Recht Wir müssen davon ausgehen, dass es einem System grundsätzlich Schwierigkeiten bereitet, seine Beziehungen zur Umwelt zu gestalten, und zwar weil es bekanntlich keinen Kontakt zur Umwelt zu halten und nur über eigenes Referieren zu verfügen vermag.82 Auf das damit verbundene Problem antwortet aus systemtheoretischer Perspektive primär die Theoriefigur der strukturellen Kopplung. Und dies nicht nur für die gesellschaftsexternen, sondern ebenso für die gesellschaftsinternen Beziehungen.83 Damit ist auch im Verhältnis von Politik, Religion und Recht zunächst nach etwaigen strukturellen Kopplungen dieser gesellschaftlichen Funktionssysteme zu fragen.

Kirche nicht nur das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Religionsgesellschaft, sondern auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter. Ein Gesetz, das der Staat zum Schutz eines derart gewichtigen Rechtsgutes erlassen hat und das deshalb auch dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Schranken ziehen kann, trifft auf eine eben solche Schranke, nämlich auf die materielle Wertentscheidung des Grundgesetzes für die besondere Eigenständigkeit der Religionsgesellschaften gegenüber dem Staat. Dieser Wechselwirkung (!, Hinzufügung des Verf.) von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck ist durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen, wobei dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen ist.“ 82 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 100. 83 Ders., ebd., S. 779.

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Strukturelle Kopplung sozialer Systeme bedeutet dabei, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt“. Die unterschiedlichen Formen struktureller Kopplung „beschränken mithin und erleichtern dadurch Einflüsse der Umwelt auf das System.“84 Für die beteiligten Funktionssysteme stellen sie sich als Lösung ihres Selbstreferenzproblems dar, da sie Verlässlichkeiten in der Umwelt erzeugen, ohne die operative Schließung der Systeme in Frage zu stellen. So entsteht ein komplexes Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit der Funktionssysteme.85 Im Verhältnis von Recht und Politik kommen dabei vor allem Staat und Verfassung als strukturelle Kopplungen ins Spiel.86 Beide haben sich mitnichten als ephemere Erscheinungen erwiesen; sie bleiben vielmehr zentral. Und damit soll gar nicht verkannt werden, dass sich das Verständnis von Staatlichkeit im Wandel befindet und sich die Verfassung als Leitbild und Grundordnung des Staates seit geraumer Zeit ganz unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen (z. B. Globale Zivilverfassungen) ausgesetzt sieht.87 Aber spätestens die Krim-Krise des Jahres 2014 und die sich anschließende Föderalisierung der Ukraine sowie vor allem die seit 2015 zu beobachtenden, von einer Völkerwanderung zumindest nicht weit entfernten Migrationsbewegungen nach Europa haben doch all diejenigen eines Besseren belehrt, die den Nationalstaat bereits überwunden gesehen und „Transnationalisierung“ zum politischen Zauberwort erkoren haben.88 Für die Wissenschaft gilt durchaus Vergleichbares, z. B. mit Blick auf die Forschungen des SFB 597 „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen, die bisweilen vorschnell „Transformationen des Staates“89, ein „Regieren jenseits des Nationalstaates“90 sowie „Recht und 84

Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 441 (Hervorhebungen i. O.). Zur Theoriestelle der strukturellen Kopplung siehe grundsätzlich ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92 ff., 776 ff. 86 Siehe zum Folgenden ausführlicher schon Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 150 ff. 87 Dazu eingehend ders., Staatlichkeit im Wandel. Zur unendlichen Geschichte vom Streit um das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, 2017, S. 18 ff. 88 Siehe dazu nur Hank, Welches Europa wollen wir, FAS Nr. 19 v. 11. 5. 2014, S. 19, 20 unter Hinweis auf Jürgen Habermas, der „Transnationalisierung“ zum Kampfbegriff für ein künftiges Europa ausgerufen habe; aus staats- und verfassungstheoretischer Sicht dem Zauber offensichtlich erlegen Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 2013, passim. 89 Leibfried/Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates, 2006, passim. 85

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Politik in der transnationalen Konstellation“91 glaubten ausmachen zu können.92 Demnach können Staat und Verfassung auch weiterhin im Grundsatz als strukturelle Kopplung von Recht und Politik begriffen werden. Gestützt auf die semantische Vorstellung der Einheit von Recht, Politik und Gesellschaft entsteht der Staat im Laufe des 16. Jahrhunderts als Träger der strukturellen Kopplung von politischem System und Rechtssystem. Wirklich wahrzunehmen vermag er diese Funktion aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der evolutionären Errungenschaft des Entparadoxierungskonzepts der Verfassung.93 Sie beschafft politische Lösungen für das Selbstreferenzproblem des Rechts und rechtliche Lösungen für das Selbstreferenzproblem der Politik.94 Für das Rechtssystem ist die Verfassung bis heute zentrales Leitbild und oberste rechtliche Grundordnung des Staates,95 für das politische System ist sie ein Instrument der Politik, sei es instrumentellen oder symbolischen politischen Handelns. Die operative Geschlossenheit von Recht und Politik garantiert dabei die Kompatibilität dieser beiden Funktionen der Verfassung, weil der Zustand des jeweiligen Funktionssystems nur über seine eigenen Operationen Veränderungen unterworfen ist. Andererseits nimmt die wechselseitige Irritabilität von Recht und Politik zu.96 Das Rechtssystem erhält mehr Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Rechtsform zu verarbeiten, d. h. politische Maßnahmen zum Ausgangspunkt systeminterner, eigener Operationen zu machen. Und der Politik eröffnen sich ver90

Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 2. Aufl., 1998, passim. Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, passim. 92 Auch dazu eingehend Schulte, Staatlichkeit im Wandel. Zur unendlichen Geschichte vom Streit um das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, 2017, S. 11 ff. 93 Siehe dazu Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176 ff., 185. 94 Dazu und zum Folgenden ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 470 ff., 478 ff.; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 390 ff. 95 Eindrucksvoll entfaltet bei Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 15. 96 Zur wechselseitigen Irritabilität von Recht und Politik unter der Verfassung siehe Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176, 204 mit dem Hinweis, dass daraus die berühmt-berüchtigten „Fälle“ des Rechtssystems entstehen. 91

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stärkt Möglichkeiten, das Recht zur Politikumsetzung zu benutzen, d. h. mit eigenen kommunikativen Operationen an juristische Entscheidungen (z. B. des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung) anzuknüpfen. Recht und Politik entwerfen über den „Ausschließungs-/Einschließungseffekt des Kopplungsmechanismus“ ihre eigene Geschichte, die eben nur aufgrund der Kopplung zu erklären ist.97 Im verfassungsgeprägten Staat treffen sich demnach laufend Recht und Politik. In ganz besonderer Weise scheinen daran Verfassungsgerichte beteiligt zu sein. Vor dem Hintergrund der bereits dargestellten gesellschaftlichen Funktion von Organisationen ist insoweit allerdings darauf hinzuweisen, dass sie nicht etwa als, sondern bloß als Vermittler struktureller Kopplung98 von Recht und Politik durch die Verfassung begriffen werden können.99 Sie ermöglichen nämlich „lediglich“ die Realisierung der strukturellen Kopplung, indem sie diese tragen und innergesellschaftlich als Adressat fungieren.100 Im Verhältnis von Politik und Religion ist eine strukturelle Kopplung im dargestellten Sinne auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Allerdings könnte man auf den Gedanken kommen, dass es sich bei Verbänden (z. B. Wirtschaftsverbänden) grundsätzlich um strukturelle Kopplungen handelt.101 Davon ausgehend kämen dann im Verhältnis von Politik und 97

Unter Bezugnahme auf Humberto Maturana spricht Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 495; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 391; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 862 insoweit von „structural drift“ bzw. „koordinierten Strukturentwicklungen“. 98 Siehe dazu eingehend Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 278 ff. 99 So zu Recht dies., ebd., 278, die allerdings zu Unrecht Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 398 unterstellt, dies anders zu sehen. Dort heißt es nämlich nur: „Besondere Aufmerksamkeit verdienen schließlich besondere, gleichsam extravagante Organisationen, in denen das Problem der strukturellen Kopplung in konzentrierter Form zum Ausdruck kommt. Das sind Verfassungsgerichte und Zentralbanken – jeweils unter der Voraussetzung politischer Unabhängigkeit … Sie bilden … die Spitzenorganisation eines der gekoppelten Systeme, nämlich des Rechtssystems bzw. des Wirtschaftssystems.“ Dem lässt sich m. E. gerade nicht entnehmen, dass Luhmann Verfassungsgerichte als strukturelle Kopplungen bezeichnet. 100 Siehe dazu am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts im Einzelnen Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 161 ff. 101 In diesem Sinne Brodocz, Strukturelle Kopplung durch Verbände, Soziale Systeme 2 (1996), 361 ff. für Umweltverbände einerseits sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände andererseits.

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Religion möglicherweise Caritas und Diakonie als maßgebliche Sozialverbände der beiden christlichen Kirchen in Deutschland für die strukturelle Kopplung dieser Funktionssysteme in Betracht. Ausgangspunkt einer solchen Annahme müsste der Gedanke sein, dass funktionale Differenzierung der Gesellschaft ihre Funktionssysteme dazu zwingt, „herausgehobene und zuverlässige Beziehungen zu anderen Funktionssystemen zu unterhalten.“ Organisationen selbst könnten diese Beziehungen darstellen, indem sie das Problem lösen, „wie Funktionssysteme in turbulenten Umwelten stabile Beziehungen zu ausgewählten Funktionssystemen zuverlässig unterhalten können.“102 Auch im Verhältnis von Politik und Religion ist allerdings an Caritas und Diakonie als Organisationen die bekannte „Gretchenfrage“ zu richten, ob sie „eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Religionssystems und zugleich eine religiöse Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems“ darstellen.103 Genau dies ist aber nachhaltig zu bezweifeln, geht es doch letztlich eher darum, dass Caritas und Diakonie als „Repräsentantenorganisationen“ zwischen den Leistungserwartungen von Politik und Religion auf dem Gebiet der Sozialfürsorge vermitteln.104 Strukturelle Kopplungen hingegen vermitteln nicht zwischen Funktionssystemen, sondern verkörpern Einrichtungen, „die anzeigen, dass sich jeweils das eine der gekoppelten Systeme in seinen Strukturen auf das andere System verlässt und umgekehrt.“105 Es bleibt demnach dabei: Organisationen als strukturelle Kopplung „müssten die Lösung für die Selbstreferenzprobleme der gekoppelten Systeme sein und sie dürfen kein ,Zwischen‘ den Systemen sein, sondern müssten von beiden Systemen gleichermaßen, aber auf je eigene Weise in Anspruch genommen werden“.106 Diesem Theoriedesign des Begriffs der strukturellen Kopplung werden Caritas und Diakonie nicht gerecht.

102 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 276 f. 103 So für das Verhältnis von Recht und Politik auf den Punkt gebracht bei Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176, 202. 104 Diese „Vermittlungsfunktion“ thematisiert ausdrücklich Brodocz, Strukturelle Kopplung durch Verbände, Soziale Systeme 2 (1996), 361, 370. 105 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 277 (Hervorhebung des Verf.). 106 Dies., ebd., 278.

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Sind sonstige strukturelle Kopplungen im Verhältnis von Politik und Religion nicht ersichtlich, so könnte es vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen, insb. zur strukturellen Kopplung von Recht und Politik, jedoch naheliegen, über Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRVeine strukturelle Kopplung von Recht und Religion anzunehmen. Mit der Inkorporation des Art. 137 Abs. 3 WRV als vollgültiges Verfassungsrecht garantiert Art. 140 GG – die religionsverfassungsrechtliche Grundnorm des Grundgesetzes107 – jeder Religionsgesellschaft, dass sie ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet. In der Gestalt eines „säkularen Rahmenrechts“ für alle Religionen und Religionsgemeinschaften108 wird damit ein Verfassungskonsens formuliert, der sein Fundament in der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche findet. Zugleich ist das Verhältnis aber „auf friedliche Koexistenz, Kooperation und Koordination beider Seiten angelegt und basiert auf einer gemeinsam festgehaltenen und für beide Seiten verbindlichen und anerkennbaren objektiven Wertordnung.“109 Könnte sich darin vielleicht das widerspiegeln, was strukturelle Kopplungen ausmacht, nämlich, dass sich jeweils das eine der gekoppelten Systeme in seinen Strukturen auf das andere System verlässt und umgekehrt? So naheliegend dieser Gedanke vor dem Hintergrund der „strukturellen“ Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche auf den ersten Blick erscheinen mag, so zweifelhaft erweist er sich doch bei näherer Betrachtung. Sollte die Verfassung nicht nur Recht und Politik, sondern auch Recht und Religion strukturell koppeln, so müsste sie eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des Religionssystems und zugleich eine religiöse Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechts sein. Man wird dies nur schwerlich annehmen können. Im Gegensatz zum politischen System ist das Religionssystem nämlich nicht derart zwingend auf das Recht, speziell die Verfassung, angewiesen, um in der Fremdbeobachtung seiner Selbstbeschreibung als autonomes und operativ geschlossenes 107 Zum Streit um die Begriffe „Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“ siehe z. B. von Campenhausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 6. Aufl., 2010, Art. 140 Rn. 12 ff. m.w.N. 108 Dies., ebd., Art. 140 Rn. 8 unter Verweis auf die Begriffsbildung durch Martin Heckel. 109 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Hopfauf, GG Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl., 2011, Art. 140 Rn. 2.

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System wahrgenommen zu werden.110 Demgegenüber sieht sich das politische System bei der Kommunikation seiner Entscheidungen über weite Strecken mit der Recht/Unrecht-Unterscheidung in der Form eines ReEntry der Differenz von Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit konfrontiert. Vergleichbares gilt auch umgekehrt. Gerade über die Verfassung gewinnt das Rechtssystem in spezifischer Weise die Möglichkeit, politische Entscheidungen in Rechtsform zu verarbeiten.111 Und dennoch wird deshalb im Verhältnis von Recht und Religion die Frage einer Kopplung der Funktionssysteme keineswegs bedeutungslos. Vielmehr könnte sich Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV – gleichsam auf der strukturellen Kopplung von Recht und Politik aufsetzend – als Einbruchstelle einer operativen Kopplung von Recht und Religion erweisen. Festzuhalten bleibt aber zunächst: Es gibt Funktionssysteme, nicht zuletzt auch das Religionssystem, die keine oder kaum strukturelle(n) Kopplungen ausgebildet haben.112 Ihnen fehlt es damit an der für das Zusammenspiel von Autopoiese und struktureller Kopplung (der Funktionssysteme) typischen „koordinierten Strukturentwicklung“ bzw. „structural drift“, die solchermaßen gekoppelte Funktionssysteme in einen spezifischen Zustand überführt und sie ihre eigene Geschichte in einer Weise erinnern lässt, die eben nur aufgrund der strukturellen Kopplung verständlich wird.113 Auch wenn demnach primär die Theoriefigur der strukturellen Kopplung auf das Problem antwortet, dass es einem System grundsätzlich Schwierigkeiten bereitet, seine Beziehungen zur Umwelt zu gestalten, so schließt dies Umweltkontakte im Wege operativer Kopplungen von Politik, Religion und Recht jedenfalls nicht von vornherein aus. Allerdings muss das Verhältnis von struktureller und operativer Kopplung nach wie vor als weitgehend ungeklärt und diffus bezeichnet werden.114 110 Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstbeschreibung des Religionssystems siehe eingehend Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 320 ff. 111 In diesem Sinne auch ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 471. 112 Ebenso Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 787. 113 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 495; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 391; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 787, 862. 114 In diesem Sinne bereits Schemann, Strukturelle Kopplung. Zur Festlegung und normativen Bindung offener Möglichkeiten sozialen Handelns, in: Krawietz/ Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, 1992, S. 215, 224.

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Operative Kopplungen finden ihre Grundlage in der Gleichzeitigkeit von System und Umwelt. Diese ermöglicht eine momenthafte, sich auf Ereignislänge vollziehende Kopplung von Operationen des Systems mit solchen, die das System der Umwelt zurechnet.115 Demgegenüber ist von strukturellen Kopplungen auszugehen, „wenn ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt.“116 Schon dies verdeutlicht, dass strukturelle Kopplungen (dauerhaft, strukturell) nicht durch operative Kopplungen (momenthaft, auf Ereignislänge) zu ersetzen sind. Vielmehr wird man annehmen dürfen, dass letztere grundsätzlich erstere voraussetzen. Dann aber verdichten und aktualisieren sie im Sinne einer Ergänzung struktureller Kopplungen „die wechselseitigen Irritationen und erlauben so schnellere und besser abgestimmte Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen“.117 Niklas Luhmann hat diese Zusammenhänge am Beispiel der „Verhandlungssysteme“ im Umfeld des politischen Systems verdeutlicht.118 Solche Verhandlungssysteme führen nach seiner Ansicht durch Interaktionen Organisationen zusammen, die Interessen aus verschiedenen Funktionssystemen vertreten. Exemplarisch erscheinen ihm dafür die „Konversationszirkel“ der pharmazeutischen Industrie, die Fragen des Rechts (insb. des Patentrechts), der Wissenschaft (insb. nach entsprechenden Forschungsmöglichkeiten) und der Wirtschaft (insb. der spezifischen Unternehmensinteressen) behandeln. Nachfolgend soll dieses Zusammenspiel von strukturellen und operativen Kopplungen am Beispiel von Politik, Religion und Recht veranschaulicht werden. Als Grundlage dafür dient die – bereits erläuterte – strukturelle Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung. Dabei kommt der religionsverfassungsrechtlichen Grundnorm des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV die Funktion einer „Einbruchstelle“ für operative Kopplungen von Politik, Religion und Recht zu. Ein Beispiel dafür ist der (wieder einmal hochaktuelle) Streit um die Frage, ob es den Kirchen gestattet ist, bei der Ausgestaltung ihrer Ar115

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 440 f.; vgl. auch Schemann, ebd., 225, dessen Einordnung als „Leistungsbeziehung nach dem Input/Output-Schema“ Luhmann allerdings im Nachhinein wohl aufgegeben hat. Siehe dazu nur ders., ebd., S. 442 m. Fn. 5. 116 Luhmann, ebd., S. 441. 117 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 788. 118 Zum Folgenden ders., ebd.

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beitsbeziehungen den Verkündigungsauftrag und das Leitbild einer kirchlichen Dienstgemeinschaft geltend zu machen, dem einzelnen Arbeitnehmer deswegen besondere Loyalitätspflichten aufzuerlegen und auch für das kollektive Arbeitsrecht (unter Ausschluss von Tarifsystem und Arbeitskampfrecht) eine eigene Regelung, den sog. Dritten Weg, vorzusehen.119 Seit Jahrzehnten verläuft dabei aus ganz unterschiedlichen Anlässen die Frontlinie der Auseinandersetzungen von Staat und Kirche, aber auch der entsprechenden Mitarbeiter- und Arbeitnehmerverbände als maßgeblichen Organisationssystemen, entlang des Begriffs der „Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ in Art. 137 Abs. 3 WRV und des damit verbundenen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Exemplarisch seien insoweit nur der Beschluss einer „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 20. 6. 2011120, die „Kundgebung der 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 4. Tagung ,Zehn Forderungen zur solidarischen Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts‘“ v. 9. 11. 2011121, die „Magdeburger Erklärung der ZentralKODA zur aktuellen Diskussion über den Dritten Weg der Kirchen im Arbeitsrechtsregelungsverfahren“ v. 10. 11. 2011122 und die „Position der BAG-MAV zur Mitbestimmung innerhalb des Selbstbestimmungsrechts der katholischen Kirche im Arbeitsrecht“123 genannt. Aber nicht nur Politik und Religion, sondern auch das Rechtssystem hat sich stets maßgeblich an dieser Diskussion beteiligt. Hier sind natürlich aus der Sicht der Rechtspraxis zunächst die diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu nennen.124 Nicht selten dadurch angeregt, aber bisweilen auch schon im Vorfeld verbandlich (z. B. gewerkschaftlich)

119 Siehe dazu Schlink, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, JZ 2013, 209, 212 m.w.N. in Fn. 17. 120 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Kirchliches Arbeitsrecht (Die deutschen Bischöfe Nr. 95), Bonn 2011, S. 20 ff.; aktualisiert mit Datum vom 27. 4. 2015. 121 Veröffentlicht in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), hrsg. v. Kämper/Thönnes, S. 203 f. 122 Veröffentlicht ebd., S. 205 f. 123 Veröffentlicht ebd., S. 207 f. 124 Siehe nur BVerfGE 42, 312; 46, 73; 53, 366; 57, 220; 66, 1; 70, 138; 72, 278.

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beauftragt125, gehören in diesen Zusammenhang ebenso die zahlreichen einschlägigen Stellungnahmen in der Rechtsdogmatik.126 Vor dem Hintergrund einer sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor weiter säkularisierenden Gesellschaft ist dabei sogar – ausgehend von der Verfassungsbeschwerde zweier Gewerkschaften betreffend die Zulässigkeit der Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen des Arbeitskampfes in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen127 – der Rechtsdogmatik und dem Bundesverfassungsgericht ein „usurpatorisches“ Verständnis des Begriffs der „Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ vorgeworfen und sein Ende gefordert worden.128 Obwohl das Bundesverfassungsgericht die eine Verfassungsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung angenommen und die andere als unzulässig verworfen hat,129 darf mit Grund vermutet werden, dass die Streitigkeiten um die Auslegung des Begriffs der „Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ damit kein Ende finden werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass jeder neue Streit „ereignishaft“ für Staat und Kirche, gesellschaftliche Gruppen und Verbände, Rechtspraxis und Rechtsdogmatik Anlass zur operativen Kopplung von Politik, Religion und Recht sein wird.130 Als ein weiteres Beispiel operativer Kopplungen von gleich vier Funktionssystemen (Politik, Religion, Recht und Wissenschaft) lassen sich organisationsrechtliche Fragen der Theologie nennen. Erneut dient die strukturelle Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung als 125

Beispielhaft dafür Schlink, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, JZ 2013, 209. 126 Zu den entsprechenden Nachweisen siehe nur de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 11 Rn. 1 ff. 127 Es handelte sich um die Verfahren BVerfG, 2 BvR 2274/13 und BVerfG, 2 BvR 2292/13. 128 Schlink, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, JZ 2013, 209 ff. 129 Siehe dazu den Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 9. 2015 und den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 7. 2015, NJW 2016, 229 ff. 130 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 137, 273 ff.) über die Verfassungsbeschwerde einer katholischen Krankenhausträgergesellschaft gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen, durch die die Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung eines Chefarztes wegen Verstoßes gegen besondere Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer (Eingehung einer zweiten, nach Maßstäben der römisch-katholischen Kirche ungültigen Ehe) festgestellt wurde, markiert ein weiteres solches „Ereignis“.

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Grundlage. Und wiederum ist es die religionsverfassungsrechtliche Grundnorm des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV, die sich in der Form des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts als „Einbruchstelle“ für die operativen Kopplungen von Politik, Religion, Recht und Wissenschaft erweist.131 So kommt dem Staat einerseits mit seiner Entscheidung, die Theologie in den universitären Fächerkanon aufzunehmen, faktisch maßgeblicher Einfluss bei der Berufung von Wissenschaftlern zu, die aus einer glaubensgeprägten Haltung heraus über Glaubensinhalte nachdenken und Glaubenssätze weiterentwickeln. Andererseits bildet er damit Lehrpersonen aus, deren Religionsunterricht später zwar formal in staatlicher Hand liegt, material aber maßgeblich von den Religionsgesellschaften bestimmt wird. Daraus resultieren für diese rechtliche Zustimmungserfordernisse, soweit Fakultätsentscheidungen religiöse Relevanz besitzen (z. B. für den Erlass von Prüfungsordnungen, für die Mitwirkung an Prüfungsverfahren, für die bekenntnismäßigen Anforderungen an Habilitationen und Berufungen).132 Auch dieses Beispiel verdeutlicht damit noch einmal das Zusammenspiel von strukturellen und operativen Kopplungen im Verhältnis von Politik, Religion und Recht. Dabei führen strukturelle Kopplungen zu einer „Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen.“ Operative Kopplungen hingegen „verdichten und aktualisieren die wechselseitigen Irritationen und erlauben so schnellere und besser abgestimmte Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen.“133 Damit werden Irritation und Irritierbarkeit sozialer Systeme, auch im Verhältnis von Politik, Religion und Recht, unmittelbar zum Thema. Hintergrund dafür ist, dass sich Irritation und Irritierbarkeit als Konsequenz funktionaler Differenzierung der Gesellschaft erweisen.134 Diese steigert die Irritierbarkeit der Gesellschaft, d. h. deren Fähigkeit, auf Umweltveränderungen rasch zu reagieren. Und zwar deshalb, weil Systemdifferenzierung unterschiedliche Erwartungshorizonte und unter131 Siehe zum Folgenden im Einzelnen Classen, Organisationsrechtliche Fragen der Theologie, JZ 2014, 111, 115 f. 132 Was die besondere – rechtliche – Brisanz im Hinblick auf die Organisation islamischer Theologie an Universitäten anbelangt, siehe ders., ebd., 116 m.w.N. 133 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 779 und 788. 134 Zum Folgenden ders., ebd., S. 789 ff.

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schiedliche Zeitspannen erzeugt, innerhalb derer Systemgeschichte zum Thema wird, sowie unterschiedliche Rhythmen und Frequenzen möglicher Wiederholbarkeit generiert. Allerdings geht dies mit einem weitgehenden Verzicht auf Koordination der Irritationen einher. Einer solchen bedarf es aber angesichts des nachfolgend dargestellten Zusammenhangs von Autopoiesis (operativer Schließung) und struktureller Kopplung von System und Umwelt auch gar nicht. Irritationen der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch „die“ Umwelt gibt es nicht. Der Begriff bezieht sich nämlich nicht auf die allgemeine System/Umwelt-Differenz, sondern allein auf System-zu-System-Beziehungen.135 Von Irritation – besser gesagt von Selbstirritation der Gesellschaft – kann deshalb auch nur mit „Systemindex“ gesprochen werden. Umwelteinwirkungen dieser Art vermögen das System nicht zu determinieren, denn jede Determination des Systems kann nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen erzeugt werden und bleibt dabei an die systemeigenen Strukturen gebunden. Von daher erweist sich Irritation als Systemzustand, „der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offen lässt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder ob das System sich darauf verlässt, dass die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie ein nur einmaliges Ereignis war. Im Offenhalten beider Möglichkeiten liegt eine Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich eine Garantie seiner Evolutionsfähigkeit.“136 Irritation und strukturelle Kopplung stehen dabei in einem besonderen Sachzusammenhang. Sie bedingen einander wechselseitig.137 Auf Grund ihrer strukturellen Kopplung vermögen die daran beteiligten Systeme unterschiedlich schnell auf Irritationen zu reagieren. Wie schnell diese Reaktionsprozesse verlaufen, hängt nicht zuletzt von den Systemstrukturen und der ihnen eigenen Systemgeschichte ab. Zu dieser gehören gegebenenfalls auch operative Kopplungen, die – wie bereits dargelegt – die wechselseitigen Irritationen verdichten und aktualisieren. Damit tra135 Ders., ebd., S. 791 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich deshalb auch „die in einer Gesellschaft wahrnehmbaren Irritationen mit den Formen der Systemdifferenzierung ändern.“ 136 Ders., ebd., S. 790 (Hervorhebung i. O.). 137 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 442.

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gen sie zur schnelleren, besser abgestimmten Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen bei und erhöhen so das Resonanztempo der gekoppelten Systeme.138 Schon diese wenigen Überlegungen zur Irritation und Irritierbarkeit sozialer Systeme lassen erkennen, dass keinesfalls die Rede davon sein kann, Niklas Luhmann habe sich in seinen Arbeiten der Theoriefigur der Irritation nicht eingehender gewidmet. Und dennoch könnte thematisch in gewisser Weise eine offene Flanke der Luhmannschen Systemtheorie berührt sein. Woran es nämlich fehlt, sind Untersuchungen, die sich der Problematik zuwenden, detailliert zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den gekoppelten Funktionssystemen verarbeitet werden. Und dabei wird man sich vermutlich nicht auf strukturell gekoppelte Funktionssysteme beschränken dürfen, sondern den Blick auch auf operativ gekoppelte Funktionssysteme richten müssen. Aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts hieße dies dann nicht nur Recht und Politik oder Recht und Wirtschaft, sondern eben auch Recht und Religion. Nachfolgend sollen deshalb zunächst die Wechselwirkungen von Politik, Religion und Recht – aus systemtheoretischer Perspektive eben die Irritationen – in einem zeitlichen Längsschnitt analysiert werden (2. Kap.). Daran anschließend werden die Irritationen zwischen Politik, Religion und Recht im Wege eines thematischen Querschnitts, der ausgewählte Bereiche des kirchlichen Organisations- und Personenrechts umfassen soll, eingehend untersucht (3. Kap.).

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Ders., ebd., S. 443.

2. Kapitel

Statik und Dynamik der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht Zwei kurze Bemerkungen seien den nachfolgenden Überlegungen vorangestellt: Sie fühlen sich auch mit Blick auf die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht der Differenzierungstheorie verpflichtet und setzen deshalb in einem „historisch-prozessualen Langfristsinne“ konsequent differenzierungstheoretisch an. Dabei geht es nicht um einen gerichteten oder gar finalisierten Differenzierungsprozess, sondern um verschiedene diskontinuierliche Strukturbildungen, die es Politik, Religion und Recht gestatten, deutlicher unterscheidbar zu werden.1 Von daher ist „Entwicklungsgeschichte“2 nicht zu erwarten. Vielmehr geht es um die mehr oder wenige zufällige Emergenz von Ereignissen, die gleichsam als take-off eines evolutorischen Sprungs genutzt werden können.3

1 Ganz im Sinne von Tyrell, Katholische Weltkirche und Religionsfreiheit. Christentumsgeschichtliche und differenzierungstheoretische Überlegungen, in: Gabriel/Spieß/Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, 2010, S. 197, 199. 2 Zur Kritik eines Denkens in Entwicklungslinien siehe schon Schulte, Wandel der Handlungsformen der Verwaltung und der Handlungsformenlehre in der Informationsgesellschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 333, 342 f.; ders., Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 86 m.w.N.; mit Blick auf den DeterminismusVorwurf kritisch auch Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 15 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, S. 39 f. 3 Siehe in diesem Sinne bspw. schon Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 443 Fn. 59, der in der sog. Gregorianischen Revolution – gemeinsam mit Berman, Recht und Revolution, S. 193 ff. – den maßgeblichen take-off für die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems sieht.

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§ 4 Säkularisierung als Beobachtungskategorie funktionaler Differenzierung der Gesellschaft Mit Ernst-Wolfgang Böckenförde ließe sich dabei zweifellos der Säkularisierungsgedanke als ein solcher evolutorischer Sprung betrachten, dessen take-off vornehmlich im Zusammenhang mit den religiösen Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts verortet wird, aber wohl nicht ohne seine Vorgeschichte im ausgehenden 11. Jahrhundert gedacht werden kann: „Die prinzipielle Säkularisation, die jene Trennung von Religion und Politik, … , erst ermöglichte und sie zugleich in eine historische Kontinuität hineinstellte, liegt dem weit voraus. Sie muss im Investiturstreit (1057 – 1122) gesucht werden, jener von päpstlicher wie von kaiserlicher Seite mit äußerster Entschiedenheit geführten geistig-politischen Auseinandersetzung um die Ordnungsform der abendländischen Christenheit. In ihr wurde die alte religiös-politische Einheitswelt des orbis christianus in ihren Fundamenten erschüttert und die Unterscheidung und Trennung von ,geistlich‘ und ,weltlich‘, seither ein Grundthema der europäischen Geschichte, geboren.“4 Gerade dass der Säkularisierungsgedanke aber seit dem Hochmittelalter zu einem solchen „Grundthema“ wurde, macht die wissenschaftliche Arbeit mit ihm, nicht zuletzt auch seine Verwendbarkeit in einem differenzierungstheoretischen Kontext, besonders schwierig. Diese Schwierigkeiten nehmen bereits in der Begriffsbildung und der Begriffsunterscheidung ihren Ausgangspunkt. Schon seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also bereits mehr als ein halbes Jahrhundert lang, wird um den Begriff der Säkularisierung intensiv gerungen.5 Mitt4 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, 2007, S. 43, 46 f. 5 Aus dem mittlerweile nahezu unüberschaubaren Schrifttum zur Säkularisierung sei an dieser Stelle und unter den Vorzeichen dieser Untersuchung nur auf folgende grundlegende Stellungnahmen hingewiesen: Blickle/Schlögl (Hrsg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, 2005, passim; Böckenförde, Der säkularisierte Staat, ebd., passim; Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, 2012, S. 27 ff.; Dalferth, Säkularisierung, Säkularität, Säkularismus. Orientierung in einem unübersichtlichen Feld am Leitfaden der Frage nach dem Geist der Reformation, in: Dalferth (Hrsg.), Reformation und Säkularisierung. Zur Kontroverse um die Genese der Moderne aus dem Geist der Reformation, 2017, S. 1 ff.; Dreier, Säkularisierung und Sakralität, 2013, S. 12 ff.; ders., Staat ohne

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lerweile lässt sich mit Grund von einer wohl noch lange nicht abgeschlossenen „Säkularisierungsdebatte“6 sprechen. Sie wird dezidiert interdisziplinär geführt, insbesondere in der Religionswissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und Philosophie, aber auch in der Politikwissenschaft und nicht zuletzt schließlich in der Rechtswissenschaft.7 Einigkeit herrscht weitgehend noch darüber, dass Säkularisierung eine „ausgesprochen vieldeutige Kategorie“8 ist. In der Sache nicht anders gemeint, nur anders ausgedrückt, ist deshalb auch von der „Ambivalenz Gott. Religion in der säkularen Moderne, 2018, S. 19 ff.; Gabriel, Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie, in: ders./Horn (Hrsg.), Säkularität und Moderne, 2016, S. 78 ff.; ders./Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung, 2012, passim; Heckel, Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, in: Schlaich (Hrsg.), Martin Heckel. Gesammelte Schriften, Band II, 1989, S. 773 – 911; Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 2. Aufl. 1975, passim; Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 278 ff.; Marramao, Säkularisierung, in: Ritter/ Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, 1992, Sp. 1133 ff. m.w.N. (Sp. 1156 – 1161); Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/ Bock/Ehrenpreis, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit, 2008, passim; Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos, 2003, passim; ders., Säkularisierung, in: ders./Krech/Müller/Hero (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, 2018, S. 303 ff.; Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750 – 1850, 2013, S. 437 ff.; Schmidt/Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung, 2014, passim; Strätz/Zabel, Säkularisation, Säkularisierung, in: Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 5, 1994, S. 789 ff.; Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 2009, passim; Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 444 ff. Und damit ist die ebenso unüberschaubare internationale Diskussion um den Begriff der Säkularisierung noch gar nicht nachgezeichnet. Siehe dazu insb. Zachhuber, Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: von Braun/Gräb/ders. (Hrsg.), Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, 2007, S. 11 ff. m. w.N. 6 In diesem Sinne ausdrücklich Breuer, ebd., S. 30; Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis, ebd., S. 21; Tyrell, ebd., 444; Zachhuber, ebd., S. 11. 7 Für die rechtswissenschaftliche Debatte siehe aus staatskirchenrechtlicher Sicht nur Heckel, Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, in: Schlaich (Hrsg.), Martin Heckel. Gesammelte Schriften, Band II, 1989, S. 773 ff. und aus verfassungsrechtlicher Sicht z. B. Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 153 ff.; vgl. auch Dreier, Säkularisierung des Staates am Beispiel der Religionsfreiheit, Rg 19 (2011), 72 ff. 8 Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 445.

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des Begriffs“9 bzw. der „Sinnvarianz von Säkularisierung“10 die Rede. Genau darin erschöpft sich dann aber auch schon die Übereinstimmung. Will man nämlich angesichts dieses Befundes nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten, d. h. dem Begriff der Säkularisierung schlechterdings jede theoretische Relevanz absprechen, und stattdessen vielmehr grundsätzlich am Säkularisierungsparadigma festhalten,11 so ist es unbedingt notwendig, die verschiedenen Dimensionen von Säkularisierung auseinander zu halten.12 Dabei werden ganz unterschiedliche Begriffskonzepte und Begriffszugänge sichtbar.13 So kann man z. B. religionssoziologisch gleichsam genealogisch vorgehen und die Anfänge der Säkularisierungsdebatte mit der Entstehung der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin in Verbindung bringen.14 Dann führt der Weg über die Begriffskonzepte von Max Weber, Ernst Troeltsch, Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Larry Shiner, Karel Dobbelaere, Niklas Luhmann, José Casanova bis hin zu Detlef Pollack.15 Allerdings 9

Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit, S. 23. 10 Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 12. 11 Zur Kritik am Säkularisierungsparadigma siehe hier nur Gabriel/Gärtner/ Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung, 2012; Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, APuZ 52 (2008), 9, 11 ff.; Zachhuber, Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: von Braun/ Gräb/ders. (Hrsg.), Säkularisierung, 2007, S. 11, 22 ff. 12 Siehe dazu eingehend Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, S. 27 ff. 13 Wir beschränken uns dabei nachfolgend auf den Begriff der Säkularisierung, von dem derjenige der Säkularisation zu unterscheiden ist. Letzterer wird in der wissenschaftlichen Debatte zunehmend mit Grund auf den „Übertritt eines Ordensgeistlichen in den Stand eines weltlichen Priesters“ sowie den „Rechts- oder Unrechtsakt der Enteignung von Kirchengut und der Beendigung kirchlicher Herrschaft, z. B. im Gefolge der Reformation und des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803“ beschränkt. In diesem Sinne Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 13 m.w.N.; Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis, Säkularisierungen in der frühen Neuzeit, S. 10 m. Fn. 2; grundlegend insb. Strätz/ Zabel, Säkularisation, Säkularisierung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 5, 1994, S. 789 ff. 14 In diesem Sinne Pohlig u. a., ebd., S. 21 ff. 15 Zu den Begriffskonzepten dieser siehe eingehend dies., ebd.; vgl. aber auch Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt, S. 439 ff., der zwischen normativen (Borutta, Koschorke u. a.), empirischen (Casanova) und konstruktivistischen (Luhmann) Konzepten unterscheidet.

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wird man einem solchen Vorgehen natürlich immer eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl ihrer Protagonisten vorwerfen können. Zudem fehlt ihm jeder Versuch eines analytisch strukturierenden Zugriffs.16 Hält man einen solchen jedoch mit Grund für geboten, so bietet es sich möglicherweise an, zwischen der individuellen und der sozialstrukturellen Dimension von Säkularisierung zu unterscheiden.17 Mit der individuellen Dimension von Säkularisierung werden üblicherweise Phänomene wie ein Rückzug der Religion ins Private, ein Rückgang der Mitgliederzahl christlicher Kirchen oder eine geringere Beteiligung der Gläubigen an kirchlicher Religiösität umschrieben.18 Charles Taylor hat diese Entwicklungen mit seinen drei Bedeutungen von Säkularität konzeptionell reflektiert.19 Demnach sei die Religion in den frühen Gesellschaften praktisch „überall“ gewesen, während sie oder ihr Fehlen heute weitgehend Privatsache sei. In ihrer ersten Bedeutung werde Säkularität dabei durch die „Bezugnahme auf das Öffentliche“ beschrieben. In dieser Öffentlichkeit gebe es keinen Gott mehr und es fehle an Hinweisen auf letzte Realitätsgründe. Die zweite Bedeutung von Säkularität bestehe darin, „dass der religiöse Glaube und das Praktizieren der Religion dahinschwinden; dass sich die Menschen von Gott abwenden und nicht mehr in die Kirche gehen.“ In diesem Sinne seien mittlerweile die meisten Staaten Westeuropas säkular geworden. Die Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Bedeutung von Säkularität werde schließlich durch die dritte Bedeutung hergestellt, bei der es um die Bedingungen des Glaubens gehe. Säkularität in diesem Sinne bedeute, „dass man sich von einer Gesellschaft entfernt, in der der Glaube an Gott unangefochten ist, ja außer Frage steht, und dass man zu einer Gesellschaft 16 In diesem Sinne aber nach wie vor beispielhaft und grundlegend Marramao, Säkularisierung, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, 1992, Sp. 1133 ff. 17 Siehe dazu insb. Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, S. 28 ff. und passim, der sich ausdrücklich auf die Arbeiten von Karel Dobbelaere stützt, siehe insb. Dobbelaere, Secularization: An Analysis at three levels, 2002, passim. 18 Siehe z. B. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 13 ff., der dies allerdings als „sozialwissenschaftliche“ Säkularisierung bezeichnet und davon die „staatsrechtliche“ Säkularisierung, sprich die „prinzipielle Trennung von Staat und Kirche, den Prozess der Durchsetzung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die Abkoppelung der Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens“ abgrenzt. 19 Zum Folgenden eingehend Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 11 ff.

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übergeht, in der dieser Glaube eine von mehreren Optionen neben anderen darstellt, …“. Taylors Reflektionen zur Säkularität gipfeln in der Feststellung: „Der Glaube an Gott ist heute keine unabdingbare Voraussetzung mehr. Es gibt Alternativen.“ Dabei schlägt er mit seinen gesellschaftsbezogenen Überlegungen zur dritten Bedeutung von Säkularität schon den Bogen zur sozialstrukturellen Dimension von Säkularisierung. Sie richtet ihr Augenmerk vornehmlich auf die Religion im Verhältnis zu ihrer innergesellschaftlichen Umwelt. In spezifischer Weise gelangt dies etwa bei Karel Dobbelaere zum Ausdruck, wenn er feststellt: „sub-systems are developed that perform different functions and are structurally different. Religion becomes one sub-system alongside other institutions and loses its overarching claim.“20 Auf dieser Grundlage springen dann sog. „Funktionsverluste“ von Religion förmlich ins Auge, z. B. solche, die sie im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses auf dem Gebiet der Erziehung oder der Wissenschaft erlitten hat.21 Dabei sind es die Umweltsysteme, die Säkularisierungsprozesse durchlaufen, indem sie sich von kirchlicher Kontrolle oder religiöser Selbstdeutung befreien. Säkularisierung wird zum „Differenz- und Diskontinuitätsbegriff, der die Gesellschaft und ihren Wandel von der Religion her ,negativ‘ beschreibt“.22 Dass mit der so beschriebenen sozialstrukturellen Dimension von Säkularisierung bereits eine argumentative Brücke zu einem konsequent differenzierungstheoretischen Begriffsverständnis geschlagen wird, dürfte unmittelbar ersichtlich sein. Die Einzelheiten eines solchen Verständnisses von Säkularisierung, das den nachfolgenden Überlegungen durchgehend zugrunde liegen soll, sind deshalb an dieser Stelle näher zu erläutern.23 Auch ein differenzierungstheoretischer Zugang zum Begriff der Säkularisierung leugnet selbstverständlich nicht die mit ihm verbundenen 20

Dobbelaere, Secularization, S. 24. Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 446; Vergleichbares wird etwa für die klassische, Generationen verbindende Großfamilie thematisiert, die im Zeichen der modernen „Patchwork-Family“ mehr und mehr ihrer angestammten Funktion verlustig gehe; zum „Funktionsverlust“ des Rechtssystems siehe schon Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 41 ff. 22 Tyrell, ebd. 23 Grundlegend dafür Luhmann, Funktion der Religion, 2. Aufl., 1990, S. 225 ff.; ders., Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, 1993, S. 259 ff.; ders., Die Religion der Gesellschaft, S. 278 ff. 21

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Schwierigkeiten im Theoriedesign. Allerdings sieht er vor dem Hintergrund einschneidender historischer Ereignisse und ihrer Wirkungen genauso wenig die Möglichkeit, schlechterdings auf den Begriff zu verzichten: „Gravierende Veränderungen, die um 1800 offen zutage treten, lassen sich schwerlich bestreiten. So wandert mit der Französischen Revolution die Intoleranz aus der Religion in die Politik ein. Und die Funktion der religiösen Symbolisierung wird von der Ästhetik übernommen, zumindest mitgetragen. Zumindest für die Zeit der Romantik kann man Säkularisierung daher auch als ,displacement‘ auffassen, als Verschiebung religiös getönter Erwartungen in außerreligiöse, in weltliche Bereiche. Wollte man auf einen Begriff für so radikale Änderungen verzichten, würde das ein Vakuum, eine Theorielücke erzeugen, für deren Ausfüllung keine Kandidaturen gemeldet sind.“24 Stattdessen setzt er konsequent am Zusammenhang von Säkularisierung und gesellschaftlicher Differenzierung an. Das heißt zunächst einmal, die sozialstrukturelle Umstellung der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung ernst zu nehmen.25 War das Mittelalter nämlich über weite Strecken noch nach ungleichen Schichten hierarchisch geordnet, so setzt spätestens mit dem Hochmittelalter eine Umstellung der Gesellschaft auf im Range grundsätzlich gleich gewichtige soziale Funktionsbereiche (Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft etc.) ein.26 Im Rahmen dessen findet sich nicht zuletzt auch Religion als nur noch ein Funktionsbereich neben anderen wieder, wobei es zur Besonderheit des Säkularisierungsparadigmas zählt, dass man sich eigentlich nicht für die Religion selbst interessiert, sondern aus ihrer Sicht auf die „Welt“ schaut. Damit geraten die gesellschaftlichen Umweltsysteme der Religion in den Blick und „Säkularisierung – als Säkularisierung des Staates, der (modernen) Wissenschaft, der Kunst usw. – meint dann die Reduktion (legitimer) kirchlicher Kontrolle und religiöskultureller Bestimmtheit dieser Systeme …“.27 Diesem „religiös-reduk-

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Ders., Die Religion der Gesellschaft, S. 281 f. Grundlegend insoweit ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 595 ff. 26 Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, S. 28 f.; siehe dazu aber auch die Kritik von Oexle, Luhmanns Mittelalter, RJ 10 (1991), 53 ff. und die Antwort darauf von Luhmann, Mein „Mittelalter“, RJ 10 (1991), 66 ff. 27 Tyrell, Säkularisierung – eine Skizze deutscher Debatten seit der Nachkriegszeit, in: Hainz/Pickel/Pollack/Libiszowska-Zoltkowska/Firlit (Hrsg.), Zwi25

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tiven Aspekt“ der Ausdifferenzierung des modernen Staates, sprich seiner gesellschaftlichen Funktionssysteme, entspricht deren „,fremdreferentiellreligiös‘ nicht mehr beeinträchtigte, ungestörte Autonomie“.28 Im „historisch-prozessualen Langfristsinne“ scheint Religion übrigens an dieser sozialstrukturellen Umstellung der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung in besonders prominenter Weise beteiligt gewesen zu sein. So wird mit Grund davon ausgegangen, dass sie „mit einem beträchtlichen Vorlauf an funktionaler Ausdifferenzierung in die neuere Geschichte hinein“ gehe und bei der dann endgültig im Hochmittelalter einsetzenden Umstellung der Gesamtgesellschaft auf funktionale Differenzierung eine besondere Rolle spiele.29 Als evolutionär vielleicht erstes Funktionssystem der Gesellschaft, dem bewusst wurde, dass seine Weltdeutung nur eine neben vielen anderen darstellt, ließ sich die Summe der Alternativen besonders prägnant in dem einen Begriff der Säkularisierung zusammenfassen. Im Grunde aber verbirgt sich hinter diesem einen speziell auf das Religionssystem zugeschnittenen Begriff ein „viel allgemeinerer Vorgang“, der ganz generell Ausdruck funktionaler Differenzierung ist. Die anderen Sozialsysteme wurden aber terminologisch gezwungen, eigene, spezifische Begriffe für diesen Vorgang auszubilden. Religion war vor diesem Hintergrund möglicherweise wirklich „die erste Tochter der Moderne“, die „begreifen lernen musste, dass sich die Welt ,polykontextural‘ beschreiben lässt“.30 schen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiösität in Deutschland und Polen im Vergleich, 2014, S. 51, 58. 28 Ders., ebd. 29 Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, 1993, S. 259, 270 ff. m.w.N.; zu den daraus resultierenden Folgen für das Religionssystem siehe Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 447 f., besonders prägnant 448: „M. E. lässt sich die Geschichte des Christentums im Zuge der sich durchsetzenden funktionalen Differenzierung – seit den religiösen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit und vollends in den letzten Jahrzehnten – wenigstens teilweise beschreiben als Abnutzung, als Zurücknahme und schubweises Unplausibelwerden seiner Höchstrelevanzansprüche.“ 30 Zum Ganzen Hahn, Religiöser Wandel in der deutschen Gegenwartsgesellschaft – Kontroversen um seine religionssoziologische Interpretation, in: Koenig/ Willaime (Hrsg.), Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, 2008, S. 239, 259, der zu Recht darauf hinweist, dass letztlich auch die „Ökonomisierung des Rechts“ bzw. die „Verrechtlichung, Politisierung oder Moralisierung der

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Mit der Annahme, dass Säkularisierung eigentlich kein spezifischer, nur auf das Religionssystem zugeschnittener Begriff ist, sondern sich vielmehr als generelle Ausprägung funktionaler Differenzierung der Gesellschaft erweist, hängt auch zusammen, wie er im Differenzierungskontext Verwendung findet. Säkularisierung wird nämlich zum Beobachtungsbegriff.31 Dieser ist auf eine polykontextural beobachtbare Welt zugeschnitten und genau deshalb auch beobachterrelativ formuliert. Säkularisierung meint in diesem Sinne „eine Beschreibung der anderen Seite der gesellschaftlichen Form der Religion, … die Beschreibung ihrer innergesellschaftlichen Umwelt“.32 Es geht mithin um eine „Beschreibung durch einen bestimmten Beobachter, nämlich die Religion: oder genauer: um eine Beschreibung der Beschreibung der gesellschaftlichen Umwelt durch diesen und keinen anderen Beobachter“.33 Auf diese Weise wird in der Umwelt der Religion ein fehlender religiöser Bezug festgestellt; eine Feststellung, die allerdings aus nicht-religiöser Perspektive ohne Bedeutung ist: „Ein System, das in der Umwelt des Religionssystems operiert, ist für sich selbst nicht dadurch bestimmt, dass es die Umwelt der Religion ist, in der es die eigenen Operationen durchführt und beobachtet.“34 Ein solchermaßen verstandener Begriff der Säkularisierung zeitigt auch Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Religion in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verloren habe. Diese vielerorts anzutreffende Hypothese findet in einem beobachterrelativen Säkularisierungsverständnis jedenfalls keine Unterstützung. Stattdessen wird Religion in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ein Ort zugewiesen, an dem religiöse Probleme eine eigenständige, autonome Behandlung Wirtschaft“ nur Erscheinungsformen dieses viel allgemeineren Gedankens der Säkularisierung sind. 31 Siehe dazu insb. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 282 ff.; vgl. aber auch Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, S. 29 f.; Hahn, ebd., S. 256 ff., 257, der dort von der „,Rettung‘ des Begriffs“ spricht; Tyrell, Säkularisierung – eine Skizze deutscher Debatten seit der Nachkriegszeit, in: Hainz/Pickel/ Pollack/Libiszowska-Zoltkowska/Firlit (Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiösität in Deutschland und Polen im Vergleich, 2014, S. 51, 59, demzufolge es um Umwelt- und Differenzbeobachtungen „aus der ,Optik der Religion selbst‘ (Kieserling)“ geht. 32 Luhmann, ebd., S. 282. 33 Ders., ebd., S. 282 f. 34 Ders., ebd., S. 283 (Hervorhebung i.O.); ebenso Breuer, Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, S. 29 f.

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erfahren; für Politik, Wirtschaft oder Recht hingegen stellen sich diese als Probleme ihrer Umwelt dar. An Stelle der Frage nach dem Bedeutungsverlust von Religion wird die Aufmerksamkeit damit vielmehr darauf gerichtet, „mit welchen semantischen Formen und mit welcher Disposition über Inklusion oder Exklusion von Mitgliedern die Religion auf die Voraussetzung einer säkularisierten Gesellschaft reagiert“.35 Von daher liegt es tatsächlich fern, „die Gesellschaft“ kurzerhand als säkularisiert zu bezeichnen, nur „aus selektiv-religiöser Sicht (und mit einer Vorgeschichte im Sinn)“ erscheint dies plausibel.36 Säkularisierung folglich als Beobachtungskategorie funktionaler Differenzierung der Gesellschaft zu begreifen, prägt auch das weitere Vorgehen im Rahmen dieser Untersuchung. Entgegen aktuellen, vermeintlich „modernen“ Forschungen, die ihr Augenmerk ganz überwiegend auf den Stellenwert von Religion in der „Moderne“ richten,37 soll auch nachfolgend konsequent differenzierungstheoretisch angesetzt werden. Deshalb wird es darum gehen, „die einzelnen Funktionssysteme (und deren spezifische „Modernitäten“) gegenüber der Religion je gesondert in Stellung zu bringen … und nach „neuartigen ,intersystemischen Irritationen‘ Ausschau zu halten“.38 Man kann dann bspw. nach (moderner) Wissenschaft und Religion oder auch nach (kapitalistischer) Wirtschaft und Religion fragen, vor allem aber gerät der Zusammenhang von Politik und Religion sowie – im spezifischen Kontext dieser Untersuchung – das Verhältnis von Recht und Religion in den Blick. Das Verhältnis von Politik und Religion ist im Gegensatz zu dem von Recht und Religion seit geraumer Zeit zentraler Gegenstand wissen35

Luhmann, ebd., S. 284 f. So ausdrücklich Tyrell, Säkularisierung – eine Skizze deutscher Debatten seit der Nachkriegszeit, in: Hainz/Pickel/Pollack/Libiszowska-Zoltkowska/Firlit (Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiösität in Deutschland und Polen im Vergleich, 2014, S. 51, 59; ebenso Hahn, Religiöser Wandel in der deutschen Gegenwartsgesellschaft – Kontroversen um seine religionssoziologische Interpretation, in: Koenig/Willaime (Hrsg.), Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, 2008, S. 239, 257 f. 37 Paradigmatisch für solch entdifferenzierende Einheitsrede Willems/Pollack/ Basu/Gutmann/Spohn (Hrsg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, 2013, passim. 38 Im Anschluss an Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 449. 36

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schaftlicher und öffentlicher Aufmerksamkeit.39 In der Wissenschaft wird die Debatte dabei ganz zweifellos von den internationalen und interdisziplinären Forschungen dominiert, die seit 2007 im Rahmen des Münsteraner DFG-Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ unternommen werden.40 Dort haben nicht zuletzt dezidiert differenzierungstheoretische Zugänge zum Problem der Säkularisierung, wie sie im Folgenden auch für das Verhältnis von Recht und Religion fruchtbar gemacht werden sollen, ihren Platz gefunden.41 Für das Verhältnis von Politik und Religion wird dabei ganz überwiegend im Hochmittelalter, vor allem im Investiturstreit, der „Anfang der okzidentalen Differenzierungs- und Säkularisierungsgeschichte“ im Sinne eines ausdrücklichen Trennungsschubes gesehen.42 Gleiches gilt, ohne dass dies in breiterem Umfang näher thematisiert würde,43 für das Verhältnis von Recht und Religion. Allerdings ist dieser Ansatz keineswegs unumstritten. Mit Grund wird nämlich nach dem „Vorher“ und dem „Nachher“

39 Zur gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema haben insbesondere die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 in den USA beigetragen. 40 Siehe insb. Gabriel/Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, passim; Pollack/Steckel/Althoff, Differenzierung von Religion und Politik im Mittelalter. Beiträge der Arbeitsplattform ,Differenzierung und Entdifferenzierung‘ im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, FMSt 47 (2013), 273 ff.; vgl. aber auch Graf/Meier (Hrsg.), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, 2013, passim. 41 Siehe insb. die Beiträge von Pollack, Differenzierung und Entdifferenzierung als modernisierungstheoretische Interpretationskategorien, in: Gabriel/Gärtner/ Pollack, ebd., S. 545 ff.; Joas, Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung, ebd., S. 603 ff.; Tyrell, Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, ebd., S. 39 ff.; vgl. aber auch Pollack, Die Genese der westlichen Moderne. Religiöse Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, FMSt 47 (2013), 273 ff.; Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne, ebd., 307 ff.; Althoff, Differenzierung zwischen Kirche und Königtum im Mittelalter. Ein Kommentar zum Beitrag Detlef Pollacks, ebd., 353 ff.; Pollack, Replik auf die Beiträge von Sita Steckel und Gerd Althoff, ebd., 369 ff. 42 Siehe dazu Tyrell, ebd., S. 39, 47 ff. m.w.N., u. a. auf Harold J. Berman und Ernst-Wolfgang Böckenförde. 43 Eine Ausnahme bildet insoweit Berman, Recht und Revolution, S. 144 ff.

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gefragt.44 Wenn der Anfang der Säkularisierungsgeschichte im Investiturstreit gesehen werden „muss“,45 so heißt dies implizit (für das „Vorher“), das erste Jahrtausend der Geschichte des Christentums im Hinblick auf Differenzierung und Säkularisierung vernachlässigen zu können. Aber wird man dies wirklich annehmen dürfen? Und was das „Nachher“ anbelangt, so ist dies die Frage nach „den ,weiterwirkenden‘ Kontinuitäten (und Kausalitäten), die vom Investiturstreit ihren Ausgang nehmen.“ Zugleich verbindet sich damit die Frage „nach einer historischen Weichenstellung, die mit dem Investiturstreit selektiv-stabil auf den ,okzidentalen Sonderweg‘ und damit in Richtung ,Moderne‘ führt.“ An dieser Stelle seien mit aller gebotenen Vorsicht erste Antworten formuliert.46 Für die Frage nach dem „Vorher“ wird man auf die Vorgeschichte jedes „Anfangs“47 verweisen müssen. Ohne nämlich die historische Zäsur des Investiturstreits leugnen zu wollen, bleibt auch er in die differenzierungsträchtige Evolution eingebunden, die diesem Ereignis des späten 11. Jahrhunderts vorausgeht. Und insoweit ist der Geschichte des Christentums von „Anfang“ an die Differenz von religiös und politisch bzw. geistlich und weltlich keineswegs unbekannt.48 Nur beispielhaft sind 44 Zum Folgenden siehe i.E. Tyrell, Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Gabriel/Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 39, 48 ff. 45 So Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, 2007, S. 43, 46. 46 Die Vorläufigkeit dieser Antworten wird nicht zuletzt dokumentiert durch Pollack/Steckel/Althoff, Differenzierung von Religion und Politik im Mittelalter. Beiträge der Arbeitsplattform ,Differenzierung und Entdifferenzierung‘ im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, FMSt 47 (2013), 273 ff. 47 Zum Problem des Anfangs als solchem siehe schon Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 11. 48 Siehe dazu und zum Folgenden ausführlich Tyrell, Katholische Weltkirche und Religionsfreiheit. Christentumsgeschichtliche und differenzierungstheoretische Überlegungen, in: Gabriel/Spieß/Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, 2010, S. 197, 212 ff.; ders., Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Gabriel/Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 39, 49 ff.; vgl. aber auch Luhmann, Die Ausdifferen-

§ 4 Säkularisierung als Beobachtungskategorie

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hier die Worte Jesu zu nennen, wonach sein Reich nicht von dieser Welt sei oder man dem Kaiser geben möge, was des Kaisers und Gott, was Gottes sei.49 Gleiches gilt aber in der Folgezeit mit Blick auf die religiös-politischen Verhältnisse der Spätantike, nicht zuletzt auch im Umfeld des Mailänder Edikts von 313.50 Im Ergebnis darf – ungeachtet der unbestrittenen Bedeutung des Investiturstreits – für die Frage nach dem „Vorher“, sprich dem „Anfang“ der Säkularisierungsgeschichte, das erste Jahrtausend der Christentumsgeschichte nicht einfach ausgeblendet werden. Damit bleibt noch die Frage nach dem „Nachher“, sprich dem „okzidentalen Sonderweg“ der Differenzierung von Politik und Religion. Soweit diesbezüglich der Vorwurf des „Eurozentrismus“ erhoben wird,51 ist dieser grundsätzlich gar nicht zu bestreiten. Ganz im Gegenteil: die Ausdifferenzierung von Politik und Religion ist vermutlich nur vor dem Hintergrund des „okzidentalen Sonderwegs“ zu verstehen, sie gehört praktisch „der Geschichte spezifisch des ,lateinischen Christentums‘ an“. Selbstverständlich entbindet dies aber nicht von der Notwendigkeit, den differenzierungstheoretischen „Eurozentrismus“ stets „reflexiv unter Kontrolle zu halten“.52 Alles in allem wird man folglich auch weiterhin mit gutem Grund davon ausgehen dürfen, den „Anfang“ der okzidentalen Differenzierungszierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, 1993, S. 259, 270 m.w.N. 49 Ausdrücklich in diesem Sinne Blickle/Schlögl, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, 2005, S. 11, 14: „Weil Christi Reich nicht von dieser Welt ist, darf das Christentum weder in seiner Dogmatik noch in seinem religiösen Vollzug auf unmittelbare Wirkung in der Welt setzen.“ 50 Dazu eingehend und m.w.N. Tyrell, Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Gabriel/Gärtner/ Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 39, 49 ff. 51 Casanova, Public Religions Revisited, in: Große Kracht/Spieß (Hrsg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, 2008, S. 313, 316 ff. 52 In diesem Sinne ausdrücklich Tyrell, Katholische Weltkirche und Religionsfreiheit. Christentumsgeschichtliche und differenzierungstheoretische Überlegungen, in: Gabriel/Spieß/Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, 2010, S. 197, 200, der aus der eurozentrischen Not in einem religionsvergleichenden Sinne eine Tugend machen möchte.

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und Säkularisierungsgeschichte im Investiturstreit zu sehen. Und dies nicht etwa nur im Verhältnis von Politik und Religion. Nichts Anderes dürfte für das Verhältnis von Recht und Religion gelten, wird doch im Investiturstreit gerade die Keimzelle des differenzierungstheoretischen Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem gesehen. Er könnte sich im zuvor bereits bezeichneten Sinne als erster take off eines evolutionären Sprungs in der Differenzierungs- und Säkularisierungsgeschichte von Recht und Religion erweisen,53 an den sich dann mit der Konfessionalisierung des Rechtssystems im 15. und 16. Jahrhundert sowie seiner religiösen Pluralisierung im 20. und 21. Jahrhundert möglicherweise weitere jumps in der durch „intersystemische Irritationen“54 geprägten Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht anschließen. Aber der Reihe nach und damit zunächst zum Investiturstreit, mit dem noch immer im Anschluss an Harold J. Berman die „Anfänge der funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung“ in Europa,55 insbesondere die Herausbildung moderner Rechtssysteme,56 in Verbindung gebracht werden.

§ 5 Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem An Harold J. Bermans „Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition“ (1983) scheiden sich bis heute die Geister. Die einen sehen in seiner Untersuchung geradezu eine Pionierleistung für das Verständnis der modernen Rechtsentwicklung: „Die Kanonistik und den modernen Prozess der Rechtsentwicklung solcherart in einen sachlichen Zusammenhang zu stellen, wäre außerhalb eines Kreises von Spezialisten vor zwanzig Jahren möglicherweise noch als überraschend und absolut innovativ empfunden worden, kann aber spätestens seit dem aufsehenerregenden Buch von Harold Berman über ,Recht und Revolution‘ kaum 53 Marie Theres Fögen hätte vielleicht von einer „wunderlichen Eskapade“ in der Evolution des Rechts gesprochen, siehe dazu Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 19. 54 Tyrell, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428, 449. 55 Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, 4. Aufl., 2011, S. 61 ff., 64 ff. mit der zentralen Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Funktionen. 56 Berman, Recht und Revolution, S. 193 ff.

§ 5 Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem

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mehr als besonders originell gelten. Vertritt dieser doch auf breiter Quellengrundlage die These, dass mit der umfassenden Rechtsetzungstätigkeit der Juristenpäpste ein einheitlicher, umfassender und für die weitere Rechtsentwicklung in Europa konstitutiver Rechtskomplex geschaffen wurde, und zwar geschaffen von einer bürokratisch durchorganisierten, zentralisierten und hierarchisch strukturierten Anstalt, die Züge des modernen Staates weit vor dessen Entstehen trägt – ihn also in gewisser Weise vorwegnimmt.“57 Die anderen sehen in der Studie eine heute weitgehend überholte Modernisierungserzählung: „Äußerst populär wurde aber auch das Buch ,Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition‘, das der amerikanische Rechtshistoriker Harold J. Berman erst 1983 vorlegte. Er rezipierte vor allem die historische Erzählung Ullmanns vom Wachstum der päpstlichen Herrschaft, aber auch Southern und Strayer, und setzte aus ihren differenzierten Ergebnissen ein Narrativ der gregorianischen ,Revolution‘ des Rechts zusammen. Er sah wie Böckenförde und die älteren Historiker den Streit zwischen Papst und Kaiser als produktive Freisetzung von geistlich und weltlich. Er machte jedoch vor allem das Papsttum zum Ausgangspunkt für eine Modernisierungserzählung, nach der ein neues, wissenschaftlicheres Recht auf Initiative des Papsttums in ganz Europa implementiert worden sei. Seine inhaltlich heute überholte und oft fehlerhafte Darstellung scheint besonders innerhalb der Rechtswissenschaft rezipiert worden zu sein.“58 An dieser Stelle besteht weder Anlass noch Notwendigkeit, über die Bedeutung der Untersuchung Harold Bermans für die Beobachtung und Beschreibung der Evolution des Rechts in Europa letztverbindlich zu entscheiden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass mit seiner Thematisierung des Investiturstreits offensichtlich ein zentraler Konflikt beschrieben wird, der wohl heute und auch in Zukunft aus einer differenzierungstheoretischen Analyse nicht mehr wird hinweggedacht werden können, ohne im Sinne einer „allgemeinen Evolutionsmechanik“ für Krisen, Konflikte, Strukturbrüche, Herrschaftsspannungen usw. blind zu wer-

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Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, JZ 2002, 1, 2. 58 Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne. Eine Debatte zu mittelalterlicher Religion und moderner Differenzierungstheorie, FMSt 47 (2013), 307, 323 f.

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den.59 Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis von Recht und Religion, weil der Wandel dieser Beziehung im Hochmittelalter – noch mehr als das Verhältnis von Religion und Politik – nach wie vor terra incognita darstellt.60 Ob nun „Wendezeit“61 oder „Papstrevolution“62 oder vielleicht doch nur „Kirchenreform“,63 möglicherweise aber auch nichts von alldem,64 eines steht jedenfalls fest: Der Investiturstreit markiert im Sinne George Spencer-Browns65 eine Unterscheidung, und zwar in dem Sinne, dass er den Dualismus von Geistlich und Weltlich im Rechtssystem weiterführt. Die Zweiheit von Geistlich und Weltlich hatte zu diesem Zeitpunkt schon – selbstverständlich nur mit Blick auf das lateinische Christentum – einen weiten, durchaus wechselhaften Weg zurückgelegt. So war die christliche Kirche der Frühzeit – ihrer Selbstbeschreibung folgend – eine „Gemeinschaft von Heiligen und Brüdern (und nicht: ,von dieser Welt‘)“.66 Explizit wieder aufgenommen wird die Dualsemantik gegen 59 Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, ZfS 7(1978), 175, 182. 60 Insoweit wird vor allem der Frage nachzugehen sein, ob bei der Differenzierung von Recht und Religion möglicherweise ganz andere Mechanismen am Werk waren als im Falle des Verhältnisses von Religion und Politik. In diese Richtung geht die Vermutung von Pollack, Die Genese der westlichen Moderne. Religiöse Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, FMSt 47 (2013), 273, 303; vgl. auch allgemein ders., Protestantismus und Moderne, in: Di Fabio/Schilling (Hrsg.), Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, 2017, S. 81, 88 ff. 61 Hartmann, Der Investiturstreit, 3. Aufl., 2007, S. XI. 62 Berman, Recht und Revolution, S. 144 ff., 193 ff. 63 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 443 f. Fn. 59. 64 Pollack, Replik auf die Beiträge von Sita Steckel und Gerd Althoff, FMSt 47 (2013), 369, 373 f. hält die Frage nach dem Charakter der mit der Gregorianischen Reform einsetzenden kirchenpolitischen Veränderungen für „offen“. 65 Und zwar als „draw a distinction“ im Sinne von Spencer-Brown, Laws of Form, 1997. 66 Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 30; differenzierungstheoretisch durchaus treffend deshalb Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, S. 93: „Jemehr nämlich der Bereich des Heils sich zusammenschloß zur organisierten Einheit, um so stärker schloß auch umgekehrt für die mit dem Heil und dem Gottesreich beschäftigte Phantasie sich das übrige Leben zusammen im Begriff der Welt.“

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Ende des 5. Jahrhunderts, indem der Bischof von Rom Kaiser und Papst, König und Priester im Sinne einer „Zweiheit der Arbeitsteiligkeit und Funktionstrennung“ als „zwei Gewalten“ begreift.67 Daran vermochte wenig später die karolingische „renovatio imperii“ anzuknüpfen, der zufolge die päpstliche Oberhoheit für die Kirche des Reiches anerkannt und zur Geltung gebracht wurde, so dass das Papsttum im Karolingerreich gleichsam die zweite Spitze, diejenige geistlicher Art, bildete. Und nach dem Niedergang des karolingischen Reiches griff schließlich im 10. Jahrhundert eine ottonische Spielart den Gedanken der „renovatio imperii“ auf. Doch auch ihr ging es nicht um die Entgegensetzung von Geistlich und Weltlich, sondern „Herrscher und Staat, Bischof und Kirchenvolk verstanden sich als geschlossenes ,corpus christianum‘, und nur innerhalb dessen bildeten König und Bischof zwei Gewalten“.68 Den Dualismus von Geistlich und Weltlich kontinuierlich auf Einheit hin zu denken, fand mit dem Investiturstreit ein jähes Ende. Der „Konflikt“ innerhalb der societas christiana brach die lange Zeit gelebte Einheitsvorstellung von Reich und Kirche (bis hin zum „Reichskirchensystem“ in ottonischer Zeit) im Sinne der Scheidung von Geistlich und Weltlich auf.69 An die Stelle von Einheit trat nunmehr Differenz. Papst Gregor VII. hat die Unterscheidung klar markiert: Ohne der Königsgewalt ihre Funktion grundsätzlich streitig machen zu wollen, unterstellt er sie seiner (richterlichen) Aufsicht, betont ihre der römischen Kirche dienende Funktion und verlangt von ihr absoluten Gehorsam. Es geht eben um (Ober)Herrschaft der Kirche hier und Gehorsam der Welt dort. Ein Verständnis mit weitreichenden Folgen: Bischöfe und Könige werden zur Rechtfertigung nach Rom einbestellt, eine mögliche Suspendierung vom Amt ein- und auch die Exkommunikation nicht ausgeschlossen.70 Mit der „gregorianischen“ Differenzierung geht auch eine Veränderung in der Semantik innergesellschaftlicher Selbstbeschreibung und Selbstunterscheidung der Kirche einher. Zum einen ist hier die „immer be67

Hecke/Tyrell, ebd. Zum Ganzen ausführlich Angenendt, Das Frühmittelalter: Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 1990, S. 292 ff., 317 ff. 69 Siehe dazu ausführlich Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, 2007, S. 43, 47 ff. 70 Eingehend dazu, insb. zu den biblischen Grundlagen dieses Geltungsanspruchs Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“, 2013, S. 39 ff., 43 ff. 68

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wusstere Differenzierung von Klerus und Laien, von geistlicher und weltlicher Gewalt“ zu nennen.71 Die „Libertas ecclesiae“72, die nicht zuletzt mit der Bekämpfung der Simonie den innerkirchlichen Einfluss der Laien zurückdrängen will, setzt die Unterscheidung von Klerikern und Laien denknotwendig voraus. Auch der Kampf gegen die Priesterehen lässt sich ohne Bezugnahme auf das „Andere“ des geistlichen Standes, seine „Reinheit“, nicht führen und arbeitet deshalb ebenfalls mit dem Dualismus von Geistlich und Weltlich. Und schließlich führt auch im Konflikt mit dem König kein Weg daran vorbei, diesen als Laien zu bezeichnen.73 Zum anderen liegt der Unterscheidung von Klerikern und Laien der strukturelle semantische Dualismus von Kirche und Welt zugrunde. Nach langen Zeiten „Welt-Kirchlicher Annäherung“ steht der Investiturstreit letztlich für die Entscheidung der Kirche (und zwar nur dieser), Kaiser und König wieder auf die Seite der „Welt“ zu drängen. Dabei referiert sie mit der „Welt“ als „heil-loser Welt“ auf eine nicht weiter differenzierte, residuale Umwelt.74 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Dualismus von Geistlich und Weltlich liegt es natürlich nahe, auch im Hinblick auf seine Weiterführung im Rechtssystem an Papst Gregor VII. und seine „gregorianische Reform“ anzuknüpfen. Harold Berman hat dies ausdrücklich getan, indem er als Ergebnis der „päpstlichen Revolution“ nicht nur die 71 Schieffer, Papst Gregor VII. Kirchenreform und Investiturstreit, 2010, S. 101; zu den Einzelheiten der Unterscheidung von Klerus und Laien siehe insb. Berman, Recht und Revolution, S. 181 ff. 72 Grundlegend dazu nach wie vor Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, 1996 (Nachdruck der 1. Aufl. 1936), passim. 73 Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 34. 74 Tyrell, Katholische Weltkirche und Religionsfreiheit. Christentumsgeschichtliche und differenzierungstheoretische Überlegungen, in: Gabriel/Spieß/ Winkler (Hrsg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, 2010, S. 197, 235 f.; ders., Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Gabriel/ Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 39, 66 f., der übrigens mit Grund darauf hinweist, dass sich diese Unterscheidung in auffälliger Nähe zur Luhmannschen System/Umwelt-Differenz bewegt, indem diese von der religiösen Sphäre her semantisch explizit gemacht wird.

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Entstehung des modernen westlichen Staates, sondern auch die Entstehung moderner westlicher Rechtssysteme sieht und als deren erstes das moderne System des kanonischen Rechts begreift: „Im Gefolge der päpstlichen Revolution entstanden ein neues System des kanonischen Rechts und neue säkulare Rechtssysteme, dazu eine Klasse von Fachjuristen und Richtern, Hierarchien von Gerichten, Rechtsschulen, juristische Abhandlungen und eine Vorstellung vom Recht als einem selbständigen, einheitlichen, sich entwickelnden System von Grundsätzen und Verfahrensweisen.“75 Ohne den beachtlichen Anteil von Papst Gregor VII. an dieser Entwicklung in Abrede stellen zu wollen,76 darf aber wohl mit Grund bezweifelt werden, dass der „Verrechtlichungsschub“77, den das späte Hochmittelalter ganz unzweifelhaft erfuhr, in unmittelbarer Verbindung mit ihm und dem durch ihn maßgeblich vom Zaune gebrochenen Investiturstreit stand.78 So verfolgte die gregorianische Kirchenreform sicherlich den Zweck einer Rückbesinnung auf das tradierte Kirchenrecht und zweifellos hatte Papst Gregor VII. daran besonderes persönliches Interesse, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass er schon früh eine „Sammlung der Rechtstitel der römischen Bischöfe“ in Auftrag gab. Auch gehen zahlreiche systematische Aufbereitungen von Kanones und Dekretalen unmittelbar auf ihn zurück.79 Dem steht aber auf der anderen Seite ge75

Berman, Recht und Revolution, S. 193 ff., 195. Das verkennt auch Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, Bulletin of Medieval Canon Law 22 (1998), 19, 24 nicht. 77 Siehe dazu Pollack, Die Genese der westlichen Moderne. Religiöse Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, FMSt 47 (2013), 273, 289 m.w.N.; Stolleis, Reformation und Verrechtlichung am Beispiel der Reichspublizistik, in: Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 53, 55 f. 78 Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, Bulletin of Medieval Canon Law 22 (1998), 19, 29 f.; vgl. auch Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 40 f.; ferner Jansen, Rechtswissenschaft und Rechtssystem. Sieben Thesen zur Positivierung des Rechts und zur Differenzierung von Recht und Rechtswissenschaft, 2018, S. 9, der nicht bestreiten möchte, „dass die Hildebrandschen Reformen einen Prozess der Verrechtlichung der Römischen Kirche in Gang setzten.“ 79 Schieffer, ebd.; siehe vor allem auch Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, 1973, S. 175, 199 ff. 76

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genüber, dass man Papst Gregor VII. wohl kaum zu den „Juristenpäpsten“ wird zählen können.80 Zudem ist er im Rechtsgedächtnis der Kirche nicht wirklich wirkungsmächtig geworden.81 So hat er etwa mit den Formulierungen seiner Briefe „nur spärlichen Eingang in die Tradition der kanonistischen Quellen gefunden“.82 Insgesamt verbleibt ein eher ambivalenter Eindruck von seinem Wirken und Werk. Vermutlich geht man aber nicht fehl darin, seine nachhaltige Wirkung eher auf religiösem denn rechtlichem Terrain zu sehen. Insoweit ist mit Grund vor allem „die rapide Zuspitzung des Kirchenrechts auf den römischen Primat als tragenden Grund, die Etablierung zentraler Synoden der lateinischen Gesamtkirche, die Intensivierung des päpstlichen Legatenverkehrs und die Entstehung kurialer Behörden“ genannt worden.83 Deshalb dürfte die Annahme, ihm sei die Entwicklung des kanonischen Rechts als „erstem modernen westlichen Rechtssystem“ und die konzeptionelle Durchformung der Kirche „zum Vorbild des säkularen Rechtsstaats der Moderne“ zu verdanken,84 seine Bedeutung doch wohl eher überstrapazieren.85 Als sachgerechter könnte sich vielmehr die Einschätzung erweisen, dass sein besonderes Verdienst darin zu sehen ist, das ekklesiologische Geheimnis gehütet und bewahrt zu haben, welches den Reformkanonisten und Papst Gregor VII. gleichermaßen zu eigen war, nämlich die Überzeugung, „eine heilswirksame Lebensform innerhalb der Gesamtkirche nur in Übereinstimmung mit der römischen Kirche“ zu finden.86 Und schon das wäre nicht eben wenig. 80 Nach Ansicht von Fuhrmann, ebd., S. 197 beginnt die Reihe der „Juristenpäpste“ vielmehr erst mit Papst Alexander III. (1159 – 1181). 81 Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 41. 82 Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, Bulletin of Medieval Canon Law 22 (1998), 19, 30 m.w.N.; ders., Papst Gregor VII. Kirchenreform und Investiturstreit, 2010, S. 101. 83 Ders., Papst Gregor VII., ebd. 84 Berman, Recht und Revolution, S. 193 ff., 327. 85 Für Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, Bulletin of Medieval Canon Law 22 (1998), 19, 30 liegt diese Vorstellung gar „vollends außerhalb seines Horizonts“. 86 In diesem Sinne Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, 1973, S. 175, 185 ff., 201 f.

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Wenngleich Papst Gregor VII. (1073 – 1085) deshalb wohl nicht unmittelbar mit dem Verrechtlichungsschub des 12. Jh. in Verbindung zu bringen ist, so bereitete er doch durch die Erschließung der kirchlichen Rechtsquellen und ihre systematische Ordnung, die letztlich in das Dekret Gratians87 (um 1140) mündeten, gleichsam den Boden,88 auf dem dann die „Juristenpäpste“, insb. Alexander III. (1159 – 1181), Urban III. (1185 – 1187), Gregor VIII. (1187), Clemens III. (1187 – 1191), Cölestin III. (1191 – 1198) und Innozenz III. (1198 – 1216) 89, aufzubauen vermochten. Unter ihrer Führung machte sich die Kirche daran, „sich selbst wie auch die Welt durch das Recht zu reformieren“,90 nicht zuletzt dadurch, indem sie sich selbst immer stärker auf eine dezidiert rechtliche Grundlage stellte und zudem selbst Recht setzte.91 Oder um es mit Harold Berman zu sagen: „Sie etablierte sich als ein sichtbares, körperschaftliches, juristisches Gebilde, unabhängig von kaiserlichen, königlichen, feudalen und städtischen Mächten. Es wurden selbständige Rechtskorpora formuliert, zunächst innerhalb der Kirche und später innerhalb der verschiedenen weltlichen Sozialgebilde, teils um deren Zusammenhalt zu fördern, teils um sie zu reformieren, teils um zwischen allen ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.“92 Auf der anderen Seite soll damit aber keineswegs verkannt werden, dass es deutlich zu kurz greifen würde, den 87 Zur Verbreitung des Decretum Gratiani in Deutschland siehe insb. Landau, Die Anfänge der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland im 12. Jahrhundert und im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, in: Chiesa Diritto e ordinamento della ,Societas Christiana‘ nei secoli XI e XII, Miscelleanea del Centro di Studi Medioevali XI, 1986, S. 272 ff. 88 Zu dieser Grundlagenarbeit durch Papst Gregor VII. siehe insb. Berman, Recht und Revolution, S. 142 f. 89 Siehe dazu im Einzelnen Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, 1973, S. 175, 197. 90 Berman, Recht und Revolution, S. 142. 91 Pollack, Die Genese der westlichen Moderne. Religiöse Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, FMSt 47 (2013), 273, 289. 92 Berman, Recht und Revolution, S. 142; ebenso mit Blick auf die Amtszeit von Innozenz III. Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innozenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik, 1954, S. 182, wonach sich die Kirche unter der Führung des Papsttums immer fester zu einer Körperschaft zusammenschloss, „zu einer selbständigen Gemeinschaft mit eigenem Recht, eigener streng hierarchisch gestaffelter Gliederung, eigenem religiös-übernatürlichem Wesen und Ziel.“

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Verrechtlichungsschub des 12. Jh. allein als Ergebnis von Konflikten zwischen Papsttum und weltlicher Gewalt zu begreifen.93 Politische Konflikte im Innern mittelalterlicher Herrschaftskomplexe dürfen vielmehr ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie die tieferliegenden historischen Wurzeln solcher Verrechtlichungsprozesse, die vor allem in ungeschriebenen „Spielregeln“ und informellen Mechanismen der Konfliktlösung zu finden sind.94 Das heißt: es geht unter Differenzierungsvorzeichen stets um die Interaktion und Irritation im Verhältnis von Politik, Religion und Recht, also darum, Politik, Religion und Recht „gemeinsam und aufeinander bezogen“ in den Blick zunehmen.95 Dies gilt es auch zu beachten, wenn wir abschließend aus differenzierungstheoretischer Perspektive den Blick auf das „Ergebnis“ des Verrechtlichungsprozesses im 12. Jh. richten, die Entstehung des Kanonischen Rechts. Zwei Differenzierungsvorgänge sind dabei von besonderer Bedeutung: zum einen die Unterscheidung des Kanonischem Rechts und der Kanonistik von der Theologie, zum anderen die Unterscheidung von Römischem und Kanonischem Recht als Subsystemen des Rechtssystems. Im Anschluss an den Kirchenrechtshistoriker Rudolf Sohm galt lange Zeit, dass das „altkatholische“ Kirchenrecht vor dem 12. Jahrhundert im Wesentlichen „sakramentaler, spiritueller und theologischer Natur“ gewesen sei. Erst nach dem Decretum Gratiani habe es sich zu einem wirklichen Recht im modernen Sinne entwickelt.96 Allerdings ist diese weitreichende These angesichts der unbestreitbaren Existenz zahlreicher kirchlicher Gesetze und Ordnungen vor dem 11. Jh., die vielfältigste Beziehungen innerhalb und außerhalb der Kirche (nicht zuletzt zur 93 Darauf weist mit Grund Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne. Eine Debatte zu mittelalterlicher Religion und moderner Differenzierungstheorie, FMSt 47 (2013), 307, 335 hin. 94 Dies., ebd. m.w.N. Grundlegend zu diesen ungeschriebenen Spielregeln und informellen Mechanismen der Konfliktlösung Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 2. Aufl. 2014, S. 282 ff., 361 ff.; Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, 2001, passim. 95 Und deshalb z. B. nicht: Politik und Religion versus Recht und Religion. Siehe dazu insb. Tyrell, Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Gabriel/Gärtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 39, 43. 96 Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, 1967, S. 536 ff., 548 ff.

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weltlichen Gewalt) normativ regelten,97 verständlicherweise nicht ohne Widerspruch und Kritik geblieben.98 Sie verkenne die „Verflochtenheit“ der spirituellen und der materiellen, organisatorischen Seite der Kirche, die so alt sei wie die Kirche selbst und auf ihrer Doppelnatur als geistlicher Gemeinschaft und organisierter Gesellschaft beruhe; das Recht der Frühkirche sei durch ein sakramentales und ein juristisches Element geprägt gewesen.99 Beides wird man nicht gänzlich bestreiten können, doch dürfte aus differenzierungstheoretischer Perspektive maßgeblicher sein, dass es bis zur Mitte des 12. Jh. „kein System des kirchlichen Rechts“ gab, „keinen selbständigen, einheitlichen, sich entwickelnden Korpus kirchlicher Rechtsgrundsätze und –verfahren, der sich deutlich von Liturgie und Theologie abgehoben hätte“.100 Vielmehr erreichte das Kanonische Recht erst zu diesem Zeitpunkt durch deutliche Unterscheidbarkeit im Sinne von gesellschaftlicher Subsystembildung (Römisches Recht versus Kanonisches Recht) „stabilisierte Distanz“101 zur Theologie.102 97

Darauf verweist auch Helmholz, Kanonisches Recht und europäische Rechtskultur, 2013, S. 3 f. m.w.N. 98 Siehe dazu Berman, Recht und Revolution, S. 331 f. 99 Ders., ebd., S. 331 m. Fn. 7 unter Verweis auf Kuttner, Some Considerations on the role of Secular Law and Institutions in the History of Canon Law, Vortrag auf der Conference on Law and the Humanities des American Council of Learned Societies vom 12.-13. 4. 1950 in Dumbarton Oaks, S. 356, dort allerdings ohne konkrete Nachweisführung; siehe statt dessen aber unmittelbar Kuttner, Some Considerations on the role of Secular Law and Institutions in the History of Canon Law, in: ders., Studies in the History of Medieval Canon Law, 1990, VI, 351, 356 f.: „When Sohm failed to see the operation of the ,legal‘ element in the earlier canon law, this is due in part to his denial of the basic dualism, i. e. of the existence of a sacramental and a jurisdictional aspect in the law of the primitive and the ancient church.“ 100 Berman, ebd., S. 332. 101 Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 44; in diesem Sinne mit Blick auf die Lehre auch Weber, Rechtssoziologie, 1960, S. 236: „Im Mittelalter sonderte dann die abendländische Universitätsbildung den Lehrbetrieb der Theologie auf der einen Seite und den des weltlichen Rechts auf der anderen Seite von der kanonischen Rechtslehre und hemmte so die Entstehung theokratischer Mischbildungen, wie sie überall sonst eingetreten sind.“ 102 Siehe dazu erneut Hecke/Tyrell, ebd., S. 9, 60, die in diesem Zusammenhang mit Grund auf die Durchsetzung des Strafrechts in der Kanonistik verweisen, was die Unterscheidung von Sünde und Delikt verlangte; vgl. aber auch Helmholz, Kanonisches Recht und europäische Rechtskultur, S. 7, dem zufolge die Kanonisten

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2. Kap.: Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht

Zweierlei Recht, einerseits Staatliches und andererseits Kirchliches Recht, Römisches Recht hier und Kanonisches Recht dort, aber ein Rechtsbegriff und ein Recht gleichen Ranges; das ist der andere Differenzierungsvorgang, der als „Ergebnis“ des Verrechtlichungsprozesses im 12. Jh. ausdrücklich festzuhalten und zu beschreiben bleibt. Das Kanonische Recht103 ist – wie bereits erwähnt – nicht ohne seine juristischen Vorläufer, die Kanonessammlungen, zu denken. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive muss aber auf grundlegende Unterschiede hingewiesen werden.104 So zeichnete sich das Kanonische Recht – im Vergleich zu den Kanonessammlungen – methodisch durch einen völlig neuen, auf die dialektische Methode gestützten, analytischen Zugriff auf die autoritativen Texte aus, der diese aufnahm, gliederte und zerlegte, um sie sie sodann in einer Synthese zu bündeln. In seinem Geltungsanspruch war das Kanonische Recht – verglichen mit den Kanonessammlungen – deutlich umfassender. Während sie nur partielle Regelungen trafen und ihr innerer Aufbau nicht selten dem Zufallsprinzip folgte, war es der Anspruch des Kanonischen Rechts, „das Leben der Kirche allumfassend zu regeln, und zu diesem Zweck wollte es die autoritativen Texte, die Normen, in einer für den Gebrauch geeigneten Form präsentieren, indem es sie nach grundlegenden Bereichen einteilte.“ Und schließlich war auch der ins Auge gefasste geographische Anwendungsbereich des Kanonischen Rechts erheblich umfangreicher als derjenige der Kanonessammlungen. Das Decretum Gratiani markiert in diesem Zusammenhang zweifellos

zwar häufig dieselben Probleme wie die mittelalterlichen Theologen behandelten, „aber sie nahmen sie unter einem anderen Blickwinkel wahr, und fühlten sich frei, ihre eigenen Antworten zu bestimmten Problemen zu formulieren“. 103 Grundlegend dazu Hecke, Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des römisch-katholischen Kirchenrechts, 2017, passim, mit dem aus differenzierungstheoretischer Perspektive überzeugenden Ergebnis, dass „sich das kanonische Recht unter dem Gesichtspunkt seiner Rechtsbildung von einem vormals umfassenden Gesellschaftsrecht zu einem gegenwärtig nur noch engeren Organisationsrecht, unter dem Gesichtspunkt seiner Rechtsstruktur von einem ehemals typischen, in mancher Hinsicht geradezu ,prototypischen‘ Gesellschaftsrecht zu einem heutzutage untypischen Organisationsrecht gewandelt“ hat (S. 103, Hervorhebung i. O.; ausführlich S. 21 ff., 63 ff.). 104 Zum Folgenden insb. Helmholz, Kanonisches Recht und europäische Rechtskultur, S. 5 ff.

§ 5 Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem

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eine wichtige Differenz auf dem Weg des klassischen kanonischen Rechts zu einem „gesamteuropäischen Rechtssystem“.105 Das Kanonische Recht entwickelte sich aber nicht allein in Unterscheidung von den früheren (kirchlichen) Kanonessammlungen, sondern vor allem aus seiner Beziehung zum (staatlichen) Römischen Recht.106 So sehr sich staatliches und kirchliches Recht dabei auch auf den unterschiedlichsten Rechtsgebieten irritierten (z. B. im Staatsrecht, Völkerrecht, Strafrecht, Verfahrensrecht, Eherecht),107 so wenig darf mit Blick auf ihren Geltungsgrund das Spezifische ihres okzidentalen Sonderweges im abendländischen Europa übersehen werden. Weder war das Kanonische Recht dem weltlichen (römischen) Recht untergeordnet, noch ließ sich seine Geltung auf einen Anerkennungsakt einer höchsten weltlichen Autorität zurückführen. Es legitimierte sich vielmehr einzig und allein aus der „unumstrittenen Herrschaftsautorität der katholischen Kirche“.108 Aber nicht nur im Geltungsgrund unterschieden sich staatliches und kirchliches Recht. Auch strukturell und konzeptionell ist auf eine wesentliche Differenz aufmerksam zu machen. Das Römische Recht verstand sich nämlich als ein in die Zukunft hinein verfasstes Idealrecht, „eine geschriebene Verkörperung der Vernunft, ratio scripta, deren Grundsätze alle Rechtsvorschriften überhaupt in der Kirche wie der weltlichen Politik bestimmen sollten“.109 Kurz gesagt: es galt als abgeschlossen und unveränderlich, lediglich der Auslegung bedürftig! 110 Demgegenüber erscheint 105

Ders., ebd., S. 6 spricht vom „Wendepunkt“ im Verhältnis zu den früheren Kanonessammlungen. 106 Zum Verhältnis von Römischem und Kanonischem Recht siehe insb. Ladeur, Der Anfang des westlichen Rechts. Die Christianisierung der römischen Rechtskultur und die Entstehung des universalen Rechts, 2018, S. 120 ff. 107 Siehe dazu ausführlich Landau, Der Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, 1991, S. 39, 47 ff.; Wolter, Ius canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre in der neueren Privatrechtsgeschichte, 1975, passim. 108 Landau, ebd., S. 39; siehe in diesem Zusammenhang auch die Parallele in der Rechtslehre, dazu Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, 1962, S. 22: „Legistik und Kanonistik waren zunächst an den Hochschulen als zwei verschiedene ,iurisprudentiae provinciae‘ getrennt.“ 109 Berman, Recht und Revolution, S. 338. 110 Ders., ebd., S. 340.

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das Kanonische Recht als ein zwar tradiertes, aber in stetiger Entwicklung und Fortbildung begriffenes positives Recht der Kirche (Klerikerrecht), dessen zentraler Textcorpus, das Corpus Iuris Canonici, „ständig ergänzt und verändert wurde, und zwar in einem engen, in vielerlei Hinsicht noch keineswegs voll erfassten Wechselspiel von Fallentscheidung, Gesetzgebung und wissenschaftlicher Interpretation sowie verallgemeinernder Begriffsbildung“.111 Ungeachtet dieser strukturellen Differenzen zwischen staatlichem und kirchlichem Recht fehlte es aber – wie bereits erwähnt – nicht an vielfältiger wechselseitiger Irritation. So wurde das Römische Recht zwar vom Kanonischen Recht nachhaltig genutzt und rezipiert, bis es schließlich im 13. Jh. ausdrücklich als „subsidiäre und konfirmative Rechtsquelle“ anerkannt wurde; aber nicht selten griff die päpstliche Gesetzgebung auch – für den Fall der Kollision sogar derogativ – in das Römische Recht ein.112 Von daher geht man sicherlich nicht fehl in der Annahme, dem Kanonischen Recht mit Max Weber eine „mindestens graduelle Sonderstellung“ gegenüber allen anderen „heiligen Rechten“ beizumessen. Ihm zufolge war es „in beträchtlichen Partien wesentlich rationaler und formal juristisch entwickelter als die anderen heiligen Rechte“. Wie kaum eine andere religiöse Gemeinschaft habe die „okzidentale Kirche den Weg der Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten“. Das Kanonische Recht sei „geradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität“ geworden.113 Auch Harold Berman bestätigt diese „Sonderstellung“ des 111 Landau, Der Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, 1991, S. 39, 41; zum Kanonischen Recht ebenso umfassend wie detailliert ders., Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1967 bis 2006 mit Addenda des Autors und Register versehen, 2013, passim. 112 Zum Dualismus von kanonischem und römischem Recht eingehend Hecke/ Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 52 ff. 113 Weber, Rechtssoziologie, 1960, S. 236 ff., 237, der zur Begründung auf den „rationalen ,Anstalts‘-Charakter der katholischen Kirche“ verweist; siehe dazu auch Treiber, Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre, 2017, S. 112 ff., 115; vgl. ferner Reuter, Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld, 2014, S. 60 f., die einen „bedeutenden Rationalitätsvorsprung“ des Kanonischen Rechts gegenüber dem weltlichen Recht ausmacht.

§ 6 Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit

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Kanonischen Rechts, indem er seine „Dynamik“ als System, seine „Bewegung von der Vergangenheit in die Zukunft“ und damit seine ausdrückliche „Zeitdimension“ als wesentliche Eigenschaft moderner westlicher Rechtssysteme hervorhebt.114 Das Kanonische Recht lässt sich deshalb wohl als einer, wenn nicht gar der Motor einer gesamteuropäischen Rechtsentwicklung begreifen, an deren vorläufigem Ende im Hochmittelalter die Differenz von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem steht.115 Und selbst die Tatsache, dass diese Differenz im Spätmittelalter mit dem ius utrumque und dem ius commune zumindest zeitweise wieder etwas hinter dem Rechtseinheitsgedanken zurücktritt116, vermag nichts daran zu ändern, im Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem den maßgeblichen take off einer Ausdifferenzierung des Rechtssystems117 zu sehen, die letztlich sogar kennzeichnend für das Recht der Moderne geworden ist. Kurzum: Ein erster evolutorischer Sprung im Verhältnis von Politik, Religion und Recht!

§ 6 Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit Und wieder ist es ein „Streit“, der im Nachgang zum Investiturstreit des 12. und 13. Jahrhunderts einen gewichtigen Beitrag zur weiteren Ausdifferenzierung des Rechtssystems leistet, diesmal der Streit der christli-

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Berman, Recht und Revolution, S. 341. Nach Ansicht von Reuter, Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, S. 60 war das Kanonische Recht für die weitere Rechtsentwicklung in Europa von „konstitutiver Bedeutung“; für Hecke, Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des römisch-katholischen Kirchenrechts, 2017, S. 3 wurde mit dem kanonischen Recht „eine wesentliche Grundlage der europäischen Rechtskultur“ gelegt. 116 Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, S. 22 ff. 117 So bereits Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 443 Fn. 59, der diese Entwicklung im Anschluss an Harold Berman allerdings im Wesentlichen auf die Kirchenreform des 11. Jh. zurückführt und damit dem für die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht bedeutsamen Verrechtlichungsprozess im 12. Jh. nicht hinreichend gerecht wird. 115

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chen Konfessionen im 16. und 17. Jahrhundert.118 Auch wenn sich natürlich aus heutiger Sicht nicht ohne Grund die Frage stellen lässt, ob mit einer „identitätsstiftenden Differenz der Konfessionskulturen unserer europäischen Gesellschaften“ vor dem Hintergrund „scharfer Identitätszäune“ zwischen Christen, Areligiösen und muslimischen Gemeinschaften eigentlich überhaupt noch ein gesellschaftsrelevantes Problem bezeichnet wird, so darf die „unbestreitbare historische Relevanz konfessioneller Differenz für das Verständnis von Staat, Recht und Gesellschaft“ dennoch nicht übersehen werden.119 Vielmehr gilt es den „Streit“ der Konfessionen, ihre konfessionelle „Differenz“, letztlich den religiösen und politischen „Konflikt“ des 16. Jahrhunderts differenzierungstheoretisch aufzuarbeiten und fruchtbar zu machen.120 Ist doch aus system- und differenzierungstheoretischer Perspektive zu Recht schon früh darauf hingewiesen worden, dass es ein „deutliches Defizit an historisch-empirischen Untersuchungen“ gibt, „die einzelne ,erfolgreiche‘ oder ,gescheiterte‘ Differenzierungsprozesse des Näheren analysieren“. Allzu leicht würden stattdessen Differenzierung und Modernisierung im Sinne einer „allgemeinen Evolutionsmechanik“ begriffen, die für Krisen und Konflikte, Strukturbrüche und Herrschaftsspannungen, Streite und Differenzen usw. blind mache.121 118

Siehe dazu insb. Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, 2016, passim; vgl. aber auch schon Cancik/Henne/Simon/Ruppert/Vec (Hrsg.), Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, 2009, passim; vgl. ferner vor allem Berman, Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, 2003, passim; Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, 2008, passim; Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, 2014, passim; von Friedeburg/Schmoeckel (Hrsg.), Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert. West- und mitteleuropäische Entwicklungen, 2015, passim; Schönberger, Etappen des deutschen Religionsrechts von der Reformation bis heute, ZevKR 62 (2017), 333 ff. 119 Gephart, Sphärendifferenzierung von Staat und Kirche im Kampf der Konfessionskulturen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, 2006, S. 5. 120 Grundlegend dazu bereits Tyrell, Konflikt als Interaktion, in: ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, 2008, S. 17 ff. 121 Ders., Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, ZfSoz 7 (1978), 175, 182.

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Deshalb bleibe „die Ausarbeitung … von Verlaufsmodellen von Differenzierungsprozessen im Kontext der Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung ein vorrangiges theoretisches Desiderat“.122 Mit speziellem Blick auf die Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit möchten dem die nachfolgenden Ausführungen zumindest ein wenig abhelfen. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive erweist sich aber schon die Begriffsbildung und Begriffsklärung im Zusammenhang des Konfessionsstreits als nicht unproblematisch. Was bedeutet der Begriff der „Konfession“? Wie ist er vom Begriff der „Konfessionalität“ abzugrenzen? Und in welchem Verhältnis stehen dazu die Begriffe der „Konfessionskultur“ und der „Konfessionsgesellschaften“? Schließlich: Kann man eigentlich ganz grundsätzlich von einer „Konfessionalisierung“, z. B. von Kirche, Staat und Gesellschaft, sprechen? Am einfachsten gestaltet sich dabei noch die nähere Konturierung der Begriffe „Konfession“ und „Konfessionalität“.123 So werden mit dem Begriff der „Konfession“ üblicherweise „die regelmäßig korporativ organisierten christlichen Glaubensgemeinschaften bezeichnet, die sich durch ein spezifisches Bekenntnis, die confessio, identifizieren lassen“. Vor diesem Hintergrund wird „Konfessionalität“ dann „als die Summe von Wertvorstellungen und Weltdeutungen“ beschrieben, „die ihre Wurzeln in der confessio haben, im Bekenntnis zu den Glaubensgrundsätzen einer christlichen Glaubensgemeinschaft“.124 Sie soll auch den kulturgeschichtlich geprägten Begriff der „Konfessionskultur“ mitumfassen, der „konfessionsspezifische Deutungsmuster der Lebenswelt“ und die damit im Zusammenhang stehenden „Ordnungsideen für Gesellschaft, Wirtschaft und politische Herrschaft“ zum Gegenstand hat.125 Ein solches 122

Ders., ebd. Hier kann nicht zuletzt auf grundlegende Untersuchungen von Oberdorfer, Konfession, RGG, Bd. 4, 2001, Sp. 1546 f. und Ratschow, Konfession/Konfessionalität, TRE, Bd. XIX, 1990, S. 419 ff. zurückgegriffen werden. 124 Beispielhaft in diesem Sinne Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17 m.w.N. (Hervorhebung i. O.). 125 Ders., ebd.; zum Begriff der „Konfessionsgesellschaften“, der „kirchliches und religiöses Leben in spezifischen sozialen und politischen Erfahrungs- und Handlungsräumen“ thematisiert, und seiner Beziehung zum Begriff der „Konfessionskultur“ siehe insb. Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850. Kon123

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Verständnis von „Konfessionskultur“ steht zugleich für den Brückenschlag zum ebenso geläufigen wie umstrittenen Großparadigma der „Konfessionalisierung“ von Kirche, Staat und Gesellschaft. Tatsächlich dürfte es wohl nur wenige vergleichbare wissenschaftliche Großkonzepte geben, denen ein solches Ausmaß an Zustimmung wie Ablehnung gleichermaßen zuteil geworden ist. „Konfessionalisierung“ meint dabei in seiner Selbstbeschreibung einen „gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, der in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenläufiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates, mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft, die anders als die mittelalterliche Gesellschaft nicht personal-fragmentiert, sondern institutionellflächenmäßig organisiert war, sowie parallel zur Entstehung des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte“.126 Langfristig wird die „Konfessionalisierung“ damit zu den „Antriebselementen jenes frühneuzeitlichen Transformationsprozesses“ gerechnet, „der die ständische Welt Alteuropas umformte in die moderne demokratische Industriegesellschaft“.127 Einen fessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Bd. 1, 2015, S. 12 ff.; vgl. aber auch zum Begriff der Konfessionskultur Wolgast, Konfession als Mittel der Grenzbestimmung in der Frühen Neuzeit, in: ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte, 2016, S. 125, 143 f. m.w.N. 126 Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Reinhard/ders. (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung, 1995, 1, 4; die Debatte um den Begriff der „Konfessionalisierung“ kann und muss an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit nachgezeichnet werden. Hier sei nur verwiesen auf Ehrenpreis/Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, 2. Aufl., 2008, passim; Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850, Bd. 1 und 2, passim; Schilling, Die Konfessionalisierung des lateinischen Christentums und das Werden des frühmodernen Europa – Modernisierung durch Differenzierung, Integration und Abgrenzung, in: Schröder/Zachhuber (Hrsg.), Was hat uns das Christentum gebracht. Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden, 2003, S. 97 ff.; Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), 226 ff.; Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, in: Bahlcke/Strohmeyer (Hrsg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, 1999, S. 63 ff.; Reinhard, „Konfessionalisierung“ auf dem Prüfstand, ebd., S. 79 ff.; Zwierlein, ,Konfessionalisierung‘ europäisch, global als epistemischer Prozess, in: Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 1 ff. 127 Schilling, in: Reinhard/ders., ebd.

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solch grundlegenden und umfassenden Anspruch zu formulieren, heißt – wie gesagt – in der Sache zwangsläufig Zustimmung128 und Kritik129 auf sich zu ziehen. Ungeachtet dessen wird man aber aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive vor allem methodisch bezweifeln dürfen, ob das Konzept einer Konfessionalisierung der Politik, des Rechts, der Gesellschaft, des Staates, der Kirche usw. wirklich weiterführt. Zielführender könnte es möglicherweise sein, die Konfessionalisierungsforschung in einem der von ihr geltend gemachten „Impulse“ beim Wort zu nehmen und sich historischen Sachanalysen zur „Interferenz von kirchlich-religiösen mit rechtlichen und institutionellen Strukturen und Entwicklungen“ zuzuwenden.130 Dies träfe sich nicht zuletzt mit dem hier formulierten Anspruch, dem deutlichen Defizit an historisch-empirischen Untersuchungen erfolgreicher oder gescheiterter Differenzierungsprozesse im Konfessionsstreit131 zumindest ein wenig zu begegnen. „Konfessionalisierung“ – differenzierungstheoretisch betrachtet132 – heißt zunächst an der Differenz von Religion(ssystem) und Konfession anzusetzen. Über die Unterscheidung von (Funktions-)System, also Religion, und Organisation, also katholischer oder evangelischer Kirche, als 128 Siehe zustimmend z. B. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, JZ 2002, 1, 7 ff. insb. im Hinblick auf die Staatsentwicklung; deutlich zurückhaltender demgegenüber Stolleis, ,Konfessionalisierung‘ oder ,Säkularisierung‘ bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. v. Ruppert/Vec, 2011, S. 241 ff. 129 Siehe z. B. die Einwände von Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850, Bd. 1, S. 7 ff., 9 ff. m.w.N. 130 Unter Rückgriff auf Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Reinhard/ders. (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung, S. 1, 9; siehe in diesem Zusammenhang auch Wolgast, Konfession als Mittel der Grenzbestimmung in der Frühen Neuzeit, in: ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte, 2016, S. 125, 131 f. zur Konfession als rechtsveränderndem Faktor. 131 Siehe dazu auch Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 18, der Konfessionalität ausdrücklich als „Differenz von Weltdeutungen und Wertvorstellungen, die ihren Ursprung in der Verschiedenheit der Glaubensinhalte hat“, deutet (Hervorhebung i. O.). 132 Zum Folgenden siehe insb. Schlögl, Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann. Zum schwierigen (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Systemtheorie, Soziale Systeme 7 (2001), 23, 39 ff.

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Sondertypus sozialer Systembildung kann dabei ihre Rekonstruktion und wechselseitige Zuordnung erfolgen. Allerdings bleibt zu beachten, dass Organisation in Funktionssystemen vorkommen kann, aber nicht muss. Religiöse Organisation tritt nämlich nicht notwendigerweise stets als Kirche in Erscheinung.133 Jedenfalls für das 16./17. Jahrhundert wird eine solche Rekonstruktion von „Konfessionalisierung“ aber den unterschiedlichen Formen der konfessionellen Organisationsbildung, sprich katholisch und evangelisch, durchaus gerecht.134 Und dennoch handelt es sich insgesamt um einen höchst „unwahrscheinlichen Vorgang in der Evolution von Religion“, weil Konfessionsbildung eben nur eine unter zahlreichen Möglichkeiten der Systembildung darstellt. Dies hat entscheidende methodologische Konsequenzen, denn es geht dann von der Fragestellung her vor allem um die „historischen Bedingungen für Selektion und Restabilisierung in der Ausdifferenzierung von Sonderkommunikationen …, die sich nach und nach … als Konfessionen identifizieren konnten“.135 Wird „Konfessionalisierung“ – wie soeben dargestellt – differenzierungstheoretisch über das Religionssystem rekonstruiert, so lässt sich damit auch ein Bezug zum Gesellschaftssystem als solchem, aber ebenso zu den anderen Subsystemen der Gesellschaft, z. B. dem Rechtssystem, herstellen. Die „Interferenzen“ von kirchlich-religiösem mit rechtlichen und institutionellen Strukturen und Entwicklungen, welche die Konfessionalisierungsforschung thematisiert, sind aus systemtheoretischer Perspektive nichts anderes als die Irritationen von Politik, Religion und Recht. Allerdings mit dem überaus relevanten Unterschied, dass Umweltein133 Darauf weist Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 230 ausdrücklich hin: „Allerdings wäre zu beachten, dass keineswegs alle, ja eigentlich nur die christlichen Religionen eine Organisation des Typs Kirche ausgebildet haben. Andere begnügen sich mit Schulen bzw. Versammlungen für Textexegese (Synagogen), andere mit Tempeln oder mit Klöstern, von denen gerade nicht erwartet wird, dass alle Glaubenden Mitglieder dieser Organisationen sind. Man muss also mehr, als es der Begriff der Kirche erlauben würde, auf die Vielgestaltigkeit des Vorkommens von Organisationen im weltgesellschaftlichen Religionssystem achten.“ 134 Zudem berücksichtigt sie, dass sich die Organisationssysteme wechselseitig irritieren, weil sie sich als Alternative im Religionssystem wahrnehmen. 135 Schlögl, Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann. Zum schwierigen (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Systemtheorie, Soziale Systeme 7 (2001), 23, 40.

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wirkungen, wie zum Beispiel konfessionelle Sonderkommunikationen im Religionssystem, das Rechtssystem nicht zu determinieren vermögen, weil jede Determination des Systems nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen erzeugt werden kann und dabei an die systemeigenen Strukturen gebunden bleibt.136 Ob, und wenn ja, wie das Rechtssystem auf die Irritation durch konfessionelle Sonderkommunikationen im Religionssystem reagiert hat, soll Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen sein. Erneut ist dabei „Entwicklungsgeschichte“ nicht zu erwarten. Wissenschaftlichen Erklärungsansätzen, die von einer „langgestreckten historischen Entwicklungsdynamik“ ausgehen, wonach einer „Phase ausgeprägter Konfessionalisierung von Recht und entstehender Staatlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert“ eine „Entwicklung zunehmender Dekonfessionalisierung“ im 17. und 18. Jahrhundert folgte und sich daran seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine im Prinzip bis heute wirksame „Tendenz zur Konstitutionalisierung von Konfessionalität“ anschloss,137 wird man mit großer Skepsis begegnen müssen. Sie unterstellen letztlich Kausalitäten, wo es eigentlich um die mehr oder weniger zufällige Emergenz von Ereignissen geht. Die Ereignisse als solche aber bleiben selbstverständlich hochbedeutsam und verdienen gerade im Hinblick auf die Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit besondere Aufmerksamkeit. Zu diesen bemerkenswerten Ereignissen zählt zweifellos ein grundlegender Vorgang territorialer Differenzierung,138 der etwa in der Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzt. Gemeint ist die „Entstehung eines neuen

136 Das verkennt z. B. Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 18, 19, der im Verhältnis von Konfessionalität und Recht eine „konfessionsspezifische Prägung von Rechtsbildung, Rechtswissen und Rechtsanwendung“ bzw. „konfessionelle Einflüsse“ auf das Recht, auch das weltliche Recht (z. B. mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz für das Staats- und Europarecht) annimmt. 137 In diesem Sinne ausdrücklich ders., ebd., S. 17, 19, 20 ff. (Hervorhebung i. O.). 138 So ausdrücklich für den Konfessionsstreit Dreier, Staatsbildung als Vorgang der Konfessionalisierung, Merkur 64 (2010), 429, 431; zur territorialen Differenzierung als Erscheinungsform interner Differenzierung siehe auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 222.

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Rechtsnormtypus in Gestalt der landesherrlichen Kirchenordnungen“.139 Sie beschränkten sich nicht etwa – wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre – auf die Organisation und Verwaltung der durch die Beseitigung der amtskirchlichen Strukturen römisch-katholischer Provenienz entstandenen neuen ekklesialen Strukturen, sondern griffen weit darüber hinaus, indem sie auch die normativ verbindliche Interpretation der Bekenntnisse, der Liturgie, des Eherechts usw. zum Gegenstand hatten. Darin wird eine deutliche „Tendenz zur Verdichtung und Rationalisierung hoheitlicher Herrschaft“ sichtbar.140 Sie findet ihren Ausdruck vor allem in einem Vorgang umfassender „Verrechtlichung“141 durch eine fast flächendeckende Reichs- und Territorialgesetzgebung. Das Land wird geradezu „überschwemmt“ von Landesordnungen (Hofgerichts- und Oberhofordnungen, Hofratsordnungen, Hofkammerordnungen, Regimentsordnungen, Policeyordnungen) und diesbezüglichen permanenten „RechtsReformationen“142, die letztlich sämtliche Lebensbereiche des Gemein139 Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 21; vgl. auch Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 2010, S. 84 f.; Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, 2001, S. 140 ff.; Stolleis, Reformation und Verrechtlichung am Beispiel der Reichspublizistik, in: Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 53, 58; Wolgast, Konfession als Mittel der Grenzbestimmung in der Frühen Neuzeit, in: ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte, 2016, S. 125, 137 ff. 140 Thier, ebd. 141 Grundlegend dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 bis 1800, 1988, S. 127 ff. mit zahlreichen Nachweisen; ders., Reformation und Verrechtlichung am Beispiel der Reichspublizistik, in: Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 53, 56 ff. 142 Eindrucksvoll geschildert von dems., ebd., S. 131: „ … Mark Brandenburg (Constitutio Joachimica 1527, Policeyordnungen 1518, 1541, 1550, Münzordnung 1540), Bayern (Landrecht 1518, Gerichtsordnung 1520, Policeyordnung 1553, Münzordnung 1534), Hessen (Hofgerichtsordnung 1500, 1527, Policeyordnungen 1500, 1524, 1526, 1534, 1537, 1539, 1543, 1545, Münzordnungen 1556, 1560), und Württemberg (Hofgerichtsordnungen 1475, 1514, 1557, Landrecht 1554, Landesordnungen 1495, 1549, 1552, Münzordnung 1559)“; ebenso Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, JZ 2002, 1, 10 m.w.N.; Thier, Konfessionalität und Recht: Historische

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wesens durchdringen. Diese Verdichtung politischer Herrschaft infolge territorialer Ausdifferenzierung verstärkt sich sogar noch im Nachgang zum Augsburger Religionsfrieden von 1555, indem sie auch auf das Reichs(verfassungs)recht ausgreift. Mit dem sog. ius reformandi,143 d. h. der „Kompetenz der Reichsstände, also der territorialen Obrigkeiten, verbindlich über die Konfession in ihrem Herrschaftsgebiet zu bestimmen“,144 wird konfessionelle Übereinstimmung bzw. konfessionelle Differenz zum maßgeblichen Abgrenzungskriterium für territoriale Herrschaft und Staatlichkeit.145 Dass mit dieser Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit auch eine Ausdifferenzierung des politischen Systems im Sinne eines Ausbaus von Staatlichkeit auf der Ebene der Territorien einherging,146 ist als historisches Ereignis gar nicht zu bestreiten. Auf einem ganz anderen Blatt steht allerdings, ob sich tatsächlich ein Bedingungszusammenhang zwischen Konfessionalisierung und Staatsbildung herstellen lässt. Ganz in diese Richtung weist, wenn man von einer „grundlegenden Allianz der Konfessionalisierung mit der frühmodernen Staatsbildung“ ausgeht und dem Konfessionalisierungsprozess einen „erheblichen Wachstumsschub moderner Staatlichkeit“ attestiert.147 Allerdings finden Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 21. 143 Dazu eingehend Schneider, Ius reformandi, passim m.w.N. insb. auf die grundlegenden Forschungen Martin Heckels. 144 Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 23 unter Hinweis auf die berühmte „cuius regio eius religio“-Formel der zeitgenössischen Rechtswissenschaft; siehe dazu auch Hillgruber, Die lutherische Reformation und der Staat, 2017, S. 77, 79 ff. 145 Zur individualrechtlichen Facette dieser Entwicklung Thier, ebd., S. 23 f. m.w.N.; zum Zusammenhang von Territorialisierung und Konfessionalisierung siehe aus differenzierungstheoretischer Perspektive Hecke, Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des römisch-katholischen Kirchenrechts, S. 43. 146 Zum Zusammenhang von Politik und Staat siehe insb. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 189 ff. 147 In diesem Sinne ausdrücklich Dreier, Staatsbildung als Vorgang der Konfessionalisierung, Merkur 64 (2010), 429, 432 im Anschluss an die Forschungen von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling; vgl. auch bereits ders., Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, JZ 2002, 1, 8 ff. und insb. ders., Zur Bedeutung der Reformation bei der Formierung des säkularen Staates, in: Reichel/Solms/Zowislo (Hrsg.), Reformation und Politik. Europäische

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sich im Hinblick auf einen unmittelbaren Wirkungszusammenhang von Konfessionalisierung und Staatsbildung auch Erklärungsansätze, die von deutlich größerer Zurückhaltung, aber deswegen nicht minder großer Überzeugungskraft geprägt sind.148 Dabei wird zugestanden, dass konfessionelle Übereinstimmung der Durchsetzung des absolutistischen Staates zweifellos günstig war, aber nicht dazu führen sollte, die unterstützende Wirkung der Konfessionalisierung mit dem Vorgang der Staatsbildung selbst zu verwechseln.149 Und dies vor allem deshalb, weil letzterer einen weit hinter das 16. und 17. Jahrhundert zurückreichenden „Vorgang der Umschichtung öffentlicher Herrschaftsverhältnisse“ darstellt. Konfessionalisierung erscheint dann insgesamt als ein „historisch begrenztes Phänomen“ im Umgang mit konfessioneller Differenz.150 Mit der Staatsbildung steht sie „nicht in einem genuinen kausalen Zusammenhang“, sondern allenfalls vollziehen sich Konfessionalisierung und Staatsbildung „in gewisser historischer Parallele und gegenseitiger Unterstützung“.151 Differenzierungstheoretisch lassen sich diese Vorgänge durchaus als Ausdruck wechselseitiger Irritation von Religion (Konfessionalisierung) und Politik (Staatsbildung) deuten, die beide Funktionssysteme im rekursiven Netzwerk ihrer eigenen autopoietischen Operationen zur evolutionären Fortentwicklung genutzt haben. Dass sich Recht und Politik im Konfessionsstreit offensichtlich durch das Religionssystem haben irritieren lassen, wird schließlich auch am

Wege von der Vormoderne bis heute, 2015, S. 301 ff.; vgl. dazu auch Hillgruber, Die lutherische Reformation und der Staat, S. 76, der die Konfessionalisierung als „Kennzeichen des frühneuzeitlichen souveränen Staates“ betrachtet. 148 Erfreulich differenzierend z. B. Stolleis, ,Konfessionalisierung‘ oder ,Säkularisierung‘ bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. v. Ruppert/Vec, 2011, S. 241 ff., der bei Strohm, Die produktive Kraft konfessioneller Konkurrenz für die Rechtsentwicklung, in: ders. (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 131, 161 ausdrückliche Unterstützung findet. 149 Dazu und zum Folgenden Stolleis, ebd. 150 Siehe dazu auch Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 22 m. Fn. 31. 151 So ausdrücklich Stolleis, ,Konfessionalisierung‘ oder ,Säkularisierung‘ bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hrsg. v. Ruppert/Vec, 2011, S. 241, 259.

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Beispiel der zeitgenössischen Rechtswissenschaft ersichtlich.152 Aber auch diesbezüglich gilt es, sich – wie soeben schon im Verhältnis von Religion (Konfessionalisierung) und Politik (Staatsbildung) erläutert – vor allzu konkreten, direkten, gleichsam eindimensionalen Verknüpfungen oder Kausalitäten zu hüten.153 „Monokausale Erklärungen“, die Zusammenhänge mit sonstigen kulturellen Faktoren, politischen Entwicklungen oder ökonomischen Interessen ignorieren, führen nicht wirklich weiter. Oder um es noch pointierter zu sagen: „All diese Beobachtungen stehen unter dem Vorbehalt, dass es unmöglich ist, aus einer bestimmten theologischen bzw. konfessionellen Grundentscheidung sachnotwendig eine politische oder juristische Konsequenz folgen zu lassen.“154 Nicht ohne Grund ist dann allenfalls von weltanschaulich-konfessionellen Aspekten im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit155 die Rede. Gleichwohl lassen sich aber jedenfalls einige „tendenzielle Feststellungen“ treffen, die signifikante Parallelitäten in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft aufgreifen.156 In ganz besonderer Weise gilt dies für die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Öffentlichen Rechts, das um 1600 geradezu explosionsartig entsteht157 und sich maßgeblich der Beteiligung reformierter Juristen verdankt.158 So wird gerade von protestantischer Seite immer wieder die 152 Grundlegend nach wie vor die Forschungen von Christoph Strohm, z. B. Strohm, Calvinismus und Recht, passim; ders., Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen, Rg 15 (2009), 14 ff.; ders., Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen, in: ders./de Wall (Hrsg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, 2009, S. 1 ff.; siehe dazu auch Dreier, Rechte Konfession – Konfession im Recht. Rezension zu Strohm, Calvinismus und Recht, Archiv für Reformationsgeschichte 101 (2010), 321 ff. 153 Zutreffend Dreier, ebd., 323. 154 Strohm, Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen, Rg 15 (2009), 14, 29; ders., Reformation und Recht, in: Di Fabio/Schilling (Hrsg.), Weltwirkung der Reformation, 2017, S. 170, 171 ff. 155 So der Untertitel von ders., Calvinismus und Recht. 156 Ders., Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen, Rg 15 (2009), 14, 29. 157 Siehe dazu aber auch Wyduckel, Ius Publicum. Grundlagen und Entwicklung des Öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1984, passim, der zeitlich deutlich früher ansetzt. 158 Nach wie vor grundlegend dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 –

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Unterscheidung von weltlichem und geistigem Regime betont. Ganz überwiegend waren es protestantische Juristen, die sich zentral der Edition und Kommentierung mittelalterlicher Rechtsquellen widmeten und dezidiert das Eigenrecht der weltlichen Obrigkeit gegenüber kirchlicher, insb. päpstlicher Vorherrschaft verteidigten.159 Besonders anschaulich wird dies etwa am Beispiel der Interpretationsgeschichte des Digestentitels „de iurisdictione“, dessen Auslegung und Kommentierung als entscheidender Schritt hin zur Etablierung der Disziplin des öffentlichen Rechts begriffen wird.160 Während katholische Juristen hinsichtlich dieser Quelle, die Fragen der politischen Gewalt thematisiert, noch lange Zeit einer eher traditionellen, am Römischen Recht (und unter Einbeziehung des Kanonischen Rechts) orientierten Interpretation zuneigten, akzentuierten protestantische Juristen immer häufiger die Verfassungswirklichkeit des Reiches und die Rolle des Reichskammergerichts. Ihre umfangreichen Darstellungen entwickelten sich allmählich zu Gesamtdarstellungen des ius publicum.161 Nimmt man schließlich noch die Repräsentanz der neuen Disziplin des Öffentlichen Rechts in der Forschung und Lehre an juristischen Fakultäten hinzu, so wird ersichtlich, dass es sich auch dabei im Wesentlichen um eine protestantische Angelegenheit handelte.162 Mit der durch den Konfessionsstreit erfolgten Neubestimmung des Verhältnisses von Geistlichem und Weltlichem vollzog sich damit zugleich im

1800, 1988, S. 126 ff., 141 ff.; zu den Zentren reformierter Jurisprudenz im Reich siehe insb. Strohm, Calvinismus und Recht, S. 39 ff. m.w.N.; vgl. aber auch Schmoeckel, Das Recht der Reformation, S. 16 ff. 159 Strohm, ebd., S. 320 ff. 160 Ders., ebd., S. 340. 161 Ders., ebd., S. 347. 162 In diesem Sinne ausdrücklich Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, 1988, S. 248, der mit zahlreichen Beispielen darauf hinweist, dass die kontinuierliche Vermittlung des Öffentlichen Rechts auf katholischen Universitäten erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zum Teil sogar noch später, einsetzte; ders., Reformation und Verrechtlichung am Beispiel der Reichspublizistik, in: Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017, S. 53, 64 ff.; siehe dazu auch Strohm, Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen, Rg 15 (2009), 14, 30 ff.; ders., Reformation und Recht, in: Di Fabio/Schilling (Hrsg.), Weltwirkung der Reformation, 2017, S. 170, 176, 178 ff.

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Rechts(wissenschafts)system ein evolutionärer Differenzierungsschub (und zwar zwischen öffentlichem und privatem Recht).163 Ob sich ein derartiger evolutionärer Differenzierungsschub im Religions- und Rechtssystem deutlich später auch mit Blick auf die konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausmachen lässt, muss abschließend mit Grund bezweifelt werden. Zwar ist zur Kennzeichnung der konfessionellen Unterschiede zwischen 1800 und etwa 1970 von einem „Zweiten Konfessionellen Zeitalter“ die Rede gewesen,164 doch dürfte eine solche „Epochensignatur“ letztlich wohl zu weit greifen.165 Dabei soll gar nicht übersehen werden, dass das Verfassungsrecht zu Beginn des 19. Jahrhunderts „zum allgemein anerkannten Regelungstypus für Anordnungen über die Beziehungen des Staates zu den Konfessionen und ihrer Beziehungen zueinander“ wurde, so dass durchaus berechtigt von einer „Konstitutionalisierung von Konfessionalität“ die 163 Nicht mehr und nicht weniger! Deshalb sollte man auch nicht, wie Dreier, Rechte Konfession – Konfession im Recht. Rezension zu Strohm, Calvinismus und Recht, Archiv für Reformationsgeschichte 101 (2010), 321, 332 f. dies versucht, nach nicht zu belegenden Kausalitäten suchen. Siehe insoweit vor allem seine letztlich fehlgehenden Fragen: „Wo und wie treibt der Calvinismus als Glaubenslehre bestimmte Rechtsgehalte oder Rechtsverständnisse gleichsam organisch oder gar zwangsläufig aus sich heraus bzw. umgekehrt: Bei welchen substanziellen Rechtsinhalten, dogmatischen Rechtsfiguren, bestimmten Rechtsinterpretationen lässt sich eigentlich eine wirkliche ,Verursachung‘ oder ,Generierung‘ durch den Calvinismus nahelegen, also eine Rückführung auf diesen (und eben nicht kontingente andere Faktoren) plausibel machen – und wo lagen sozusagen nur letztlich zufällige Kongruenzen (seien sie individual-biographischer oder gesamtgeistesgeschichtlicher Art) vor, die über die zwingende systematische Verknüpfung gerade nichts auszusagen vermögen.“ Überzeugend demgegenüber Strohm, Calvinismus und Recht, S. 79 f. m. Fn. 145, der sich im Hinblick auf das Werk von Hugo Donellus (1527 – 1591) eher zurückhaltend auf „intensive Wechselwirkungen“ zurückzieht. Aus der Perspektive der Differenzierungstheorie wäre hier wohl von Irritationen zu reden. 164 Siehe insb. Blaschke, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, 2002, passim; vgl. auch ders., Juristen im zweiten konfessionellen Zeitalter, in: Cancik/Henne/Simon/Ruppert/Vec (Hrsg.), Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 1 ff. 165 Kritisch insb. Kretschmann/Pahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, HZ 276 (2003), 369 ff.; Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 549 ff.

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Rede ist.166 Schon aus theologischer, aber auch aus historischer Perspektive ist allerdings mit guten, hier nicht weiter zu vertiefenden Gründen in Frage gestellt worden, dass die konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts mit denen des 15. und 16. Jahrhunderts vergleichbar seien.167 Vor allem aber wird man aus einer dieser Untersuchung zugrunde liegenden differenzierungstheoretischen Perspektive nachhaltige Zweifel an der These vom „Zweiten Konfessionellen Zeitalter“ geltend machen müssen. Letztlich fehlt es unter Berücksichtigung von „vorher“ und „nachher“ an der grundlegenden erkenntnistheoretischen Unterscheidung, die George Spencer-Brown mit seinem mittlerweile legendären „draw a distinction“ eindeutig markiert hat.168 Die konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben wohl „nur“ eine schon vorgefundene Differenz vertieft und diese allenfalls neu akzentuiert. Für die Annahme eines weiteren evolutorischen Sprungs im Verhältnis von Politik, Religion und Recht dürfte dies kaum ausreichen.

§ 7 Ausdifferenzierung der Religionen als Herausforderung des Rechtssystems Sehr naheliegend erscheint ein solcher evolutorischer Sprung im Verhältnis von Politik, Religion und Recht hingegen für die Debatte, die seit dem Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Stichwort der „religiösen Vielfalt“ bzw. „religiösen Pluralität“169 geführt 166 Thier, Konfessionalität und Recht: Historische Beobachtungen und konzeptionelle Überlegungen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 17, 31 f. 167 Siehe dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen überaus instruktiv Kretschmann/Pahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, HZ 276 (2003), 369 ff.; Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 549 ff. 168 Spencer-Brown, Laws of Form, 1994. 169 Siehe dazu aus dem stetig wachsenden Schrifttum grundlegend Willems/ Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, passim; vgl. aber auch insb. Bochinger, Ist religiöse Vielfalt etwas Gutes? Pluralismus und Pluralität in der Religionswissenschaft, in: Alternative Voices. A Plurality Approach for Religious Studies. Essays in Honour of Ulrich Berner, edited by Adogame/Echtler/Freiberger, 2013, S. 285 ff.; ders., Neue

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wird.170 Stellt man nämlich auch in diesem Zusammenhang auf die einen Unterschied markierende erkenntnistheoretische Unterscheidung von „vorher“ und „nachher“ ab, so lässt sich – wie nachfolgend im Einzelnen zu zeigen sein wird – eine eindeutige Differenz – im Sinne von „draw a distinction“ – beobachten und beschreiben. Vielfalt ist zunächst einmal ein in mancherlei Hinsicht positiv konnotierter Begriff.171 Wir erfreuen uns an der Landschaftsvielfalt, genießen im guten Restaurant die Geschmacksvielfalt und staunen nicht selten über die Sprachenvielfalt der Welt. Andererseits lässt uns Vielfalt aber manches Mal auch ratlos zurück oder wird gar zur Herausforderung. Ersteres darf möglicherweise die vielbeschworene „Vielfalt der Moderne“172 für sich beanspruchen. Letzteres gilt zweifellos für die hier relevante religiöse Vielfalt mit Blick auf das Rechtssystem. Ohne Anspruch auf VollstänReligiösitäten zwischen Säkularisierung und spiritueller Vielfalt. Religion(en) in moderner Gesellschaft, Freiburger Universitätsblätter 52 (2013), 83 ff.; Hense, Religiöse Pluralität normativ verarbeitet. Zur grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion, Herder Korrespondenz 63 (2009), 354 ff.; de Wall, Religiöse Vielfalt in Deutschland – Konsequenzen für das staatliche Recht, in: Rees/Müller/Ohly/ Haering (Hrsg.), Religiöse Vielfalt. Herausforderungen für das Recht, 2019, S. 7 ff.; Liedhegener, Pluralisierung, in: Pollack/Krech/Müller/Hero (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, 2018, S. 347 ff.; Lübbe, Freiheit und Pluralisierung der Religion, in: Nissing (Hrsg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 119 ff.; Müller, Religiöse Vielfalt – Herausforderungen aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts, in: Rees/Müller/Ohly/Haering (Hrsg.), Religiöse Vielfalt. Herausforderungen für das Recht, 2019, S. 19 ff.; siehe ferner Krause, Religion und die Vielfalt der Moderne. Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, 2012, passim; Wolf/Koenig (Hrsg.), Religion und Gesellschaft, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 53/2013, passim. 170 Teilweise ist im Zusammenhang mit dem Begriff der „religiösen Vielfalt“ bzw. der „religiösen Pluralität“ auch von „Multireligiösität“ (Hense), von einer „Heterogenisierung des religiösen Feldes“ (Bochinger), von einer „Pluralisierung der Religion“ (Lübbe) oder von einem „religionspolitischen Multikulturalismus“ ( Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2016) die Rede. 171 Zum Begriff der „Vielfalt“ allgemein, seiner Genealogie, seiner Semantik in sozialwissenschaftlichen Theorien, zu Orten der Vielfalt und zu den Perspektiven der Forschung über Vielfalt siehe insb. Salzbrunn, Vielfalt/Diversität, 2014, passim; siehe aber auch speziell Schorkopf, Staat und Diversität, 2017, passim. 172 Siehe nur paradigmatisch Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, 2000, passim und in unserem Zusammenhang vor allem Krause, Religion und die Vielfalt der Moderne. Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, 2012, passim.

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digkeit seien an dieser Stelle nur der Ruf des Muezzin, das Schächten von Tieren, die Beschneidung von Jungen, das Kreuz in der Schule, das Kopftuch im Unterricht, das Tragen der Burka usw. usw. genannt. All diese Erscheinungsformen religiöser Vielfalt irritieren das Rechtssystem in hohem Maße. Sich diesem Phänomen aus differenzierungstheoretischer Perspektive zu nähern, muss zunächst einmal heißen, sich der begrifflichen und historisch-empirischen Grundlagen religiöser Vielfalt zu vergewissern. Mit dem Begriff der religiösen Vielfalt wird ein Vorgang der Ausdifferenzierung des Religionssystems beschrieben.173 Ausdifferenzierung meint dabei nicht nur die Entstehung eines sozialen Systems, sondern kann sich auch innerhalb bereits bestehender Systeme ereignen. In diesem Fall spricht man von Systemdifferenzierung oder – noch genauer – von interner Differenzierung.174 Es geht letztlich um „rekursive Systembildung“, d. h. die „Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes Resultat“.175 Kennzeichnend dafür ist, dass das System, in dem weitere Systeme entstehen, durch eine weitere Unterscheidung von Teilsystem und Umwelt rekonstruiert wird. Betrachtet man das ganze vom Teilsystem aus, so erweist sich der Rest des umfassenden Systems als Umwelt und das Gesamtsystem als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Auf diese Weise generiert Systemdifferenzierung systeminterne Umwelten. Anders ausgedrückt geht es um ein weiteres Beispiel für einen re-entry der „Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, in das System“.176 Das hat aber – dies sei ausdrücklich hervorgehoben – nichts mit Dekomposition, also der Zerlegung eines Systems in zwei ähnliche, jedoch voneinander verschiedene Teile zu tun, die aber ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit weiterhin gut erkennen 173

Zur Ausdifferenzierung der Religionen siehe auch Reder, Säkularisierung und Weltgesellschaft, in: Schmidt/Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2014, S. 343, 345 ff.; vgl. ferner allgemein Schneider, Religion und funktionale Differenzierung, in: Schwinn/Kroneberg/ Greve (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, 2011, S. 181 ff. 174 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 597; ähnlich Stichweh, Differenzierung und Entdifferenzierung. Zur Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2014, 8, 13 f. der von Innendifferenzierung spricht. 175 Luhmann, ebd. 176 Ders., ebd.

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lassen. Vielmehr multipliziert sich durch Systemdifferenzierung das System in sich selbst, und zwar durch immer neue, so vorher nicht bekannte Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System.177 Übertragen auf unseren Zusammenhang bedeutet dies: Wie sich beispielsweise für das Rechtssystem kirchliches und staatliches Recht178 oder für den Sport Leichtathletik, Schwimmen, Fußball und viele andere Sportarten179 unterscheiden lassen, so erfährt auch das Religionssystem eine Binnendifferenzierung in verschiedene Subsysteme, indem es durch das Nebeneinander der großen Weltreligionen von Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, aber auch durch neue Religionen wie die Bahai, die Yoruba Religion Nigerias oder amerikanischindianische Religionen (z. B. der Navajos) und andere mehr gekennzeichnet ist.180 Gerade letzteres lässt sich als Neuentstehung von Systemen begreifen, mit denen neue, bislang unbekannte Unterscheidungen und Sinnbestimmungen im Religionssystem verbunden sind. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass es eine derartige Ausdifferenzierung des Religionssystems nicht bereits früher gegeben hat. Sie ist keineswegs neu, neu ist allerdings die ungeheure Dynamik und Intensität dieses Ausdifferenzierungsprozesses in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Ein Blick in die europäische Religionsgeschichte lässt unschwer erkennen, dass religiöse Vielfalt kein Novum derselben darstellt.181 Vielmehr findet sie sich schon in der Antike, dann aber insbesondere im vor177 Ders., ebd., S. 598; Stichweh, Differenzierung und Entdifferenzierung. Zur Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2014, 8, 15. 178 Für das Recht siehe insb. Hecke/Tyrell, Religion, Politik und Recht. Die „päpstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 9, 13 f. 179 Für den Sport siehe insoweit ausdrücklich Stichweh, Differenzierung und Entdifferenzierung. Zur Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2014, 8, 14. 180 Dazu insb. ders., Religion als globale Kategorie, Merkur 69 (2015), 43, 49 f.; vgl. aber auch Schuppert, Governance of Diversity. Zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität in säkularen Gesellschaften, 2017, S. 107 ff. 181 Zum Folgenden ausführlich und m.w.N. Gärtner, Zur Pluralisierung religiöser Identität(en), in: Willems/Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, S. 553, 557 ff.

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nehmlich christlich geprägten Mittelalter.182 Schon zu dieser Zeit führen zahlreiche Ordensgründungen und das Aufkommen häretischer Bewegungen zu einer ersten deutlichen Ausdifferenzierung der christlichen Kirchen. Im Zuge der Konfessionalisierung setzt sich diese Tendenz mit der Herausbildung der katholischen, lutherischen und calvinistischen Konfession fort. Und selbst diese erfahren seit dem 17. Jahrhundert noch einmal interne Differenzierungen, die unterschiedliche Identitätsmuster und regionale Prägungen (z. B. in Deutschland) hervorbringen. Neben dieser internen Ausdifferenzierung tragen dann seit dem 16. Jahrhundert mystisch-spirituelle Sekten oder Gruppen und pietistische Erweckungsbewegungen zur religiösen Vielfalt bei. Mitte des 19. Jahrhunderts treten schließlich christliche Sekten und Freikirchen hinzu, die das Erscheinungsbild religiöser Vielfalt vervollständigen. Die beschriebene Ausdifferenzierung der christlichen Kirchen und Gruppen ist aber nur die eine Seite der Medaille; auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass in Europa seit dem Mittelalter auch nichtchristliche religiöse Minderheiten (z. B. Juden, Muslime) und gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegenkichliche, atheistische Bewegungen das Bild bestimmen. Wenn man vor diesem Hintergrund wahrlich nicht davon sprechen kann, dass die Ausdifferenzierung des Religionssystems völlig neu sei, so lässt sich dies mit Blick auf die Dynamik und Intensität des Ausdifferenzierungsprozesses in Deutschland und Europa für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aber schon behaupten.183 Zu den christlichen „(Volks) Kirchen“ (24,5 Millionen Katholiken, 24 Millionen Protestanten), die seit geraumer Zeit kontinuierlich Mitglieder verlieren, den Freikirchen (ca. 1 Million Angehörige) und Sekten sind kleinere christliche Gemeinschaften hinzugetreten, die sich von den „großen“ Mutterkirchen abgespaltet haben. Innerhalb des Protestantismus haben pentekostale bzw. 182 Gerster/Reuter/Willems, Ordnungen religiöser Pluralität. Eine Einleitung, in: Willems/Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, S. 9. 183 Auch dazu ausführlich und eingehend Gärtner, Zur Pluralisierung religiöser Identität(en), in: Willems/Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, S. 553, 560 f.; siehe aber ferner Bochinger, Neue Religiösitäten zwischen Säkularisierung und spiritueller Vielfalt. Religion(en) in moderner Gesellschaft, Freiburger Universitätsblätter 52 (2013), 83, 87; vgl. auch Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, 2016, S. 15, 88 ff.

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pfingstlerische Christen längst die Zahl der Lutheraner und der Mitglieder reformierter Kirchen überrundet. Dazu kommen in Deutschland etwa 1,8 Millionen Mitglieder orthodoxer und sog. orientalischer Kirchen, welche mittlerweile die drittgrößte christliche Kirche bilden.184 Vor allem aber jenseits des Christentums zeichnen sich in Deutschland tiefgreifende Veränderungen religiöser Vielfalt ab. Dies verdeutlichen ca. 4 Millionen Muslime, 300.000 Buddhisten, 200.000 Juden, 100.000 Hindus und eine nicht näher zu beziffernde, aber nicht unbeträchtliche Zahl von Anhängern weiterer kleiner Religionsgemeinschaften (neureligiöse und synkretistische Gemeinschaften und Bewegungen).185 Und schließlich darf eine Gruppe nicht vergessen werden, die gleichsam größte „Konfession“, nämlich ca. 26 Millionen Konfessionslose.186 Angesichts dessen lässt sich historisch-empirisch wohl kaum bestreiten, dass die Dynamik und Intensität religiöser Vielfalt seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein für Deutschland und Europa einen evolutorischen Sprung markiert. Er hat erwartungsgemäß ganz unterschiedliche Beobachtungs- und Beschreibungsansätze zu Tage gefördert. Der wohl prominenteste und zweifellos naheliegendste Erklärungsversuch dürfte vermutlich darin zu sehen sein, religiöse Vielfalt mit der sog. „Vielfalt der Moderne“ in Verbindung zu bringen.187 Dieser Beschreibungsansatz ist maßgeblich mit dem Namen des israelischen Soziologen Shmuel N. Eisenstadt verbunden. Hier ist nicht der 184 Über Einzelheiten dieser Entwicklungen berichtet regelmäßig der Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst e.V. unter www.remid.de. 185 Siehe auch dazu www.remid.de. 186 Für Detailstudien zur Entwicklung religiöser Vielfalt in Deutschland, insb. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe vor allem Großbölting, Warum sich die deutsche Gesellschaft mit religiöser Vielfalt so schwer tut – eine (zeit-)historische Erkundung, in: Willems/Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, S. 245, 248 ff.; siehe aber auch Gärtner, Zur Pluralisierung religiöser Identität(en), in: Willems/Reuter/ Gerster, ebd., S. 553, 561 ff.; vgl. ferner zur pluralen Welt der/des Nicht-Religiösen Schuppert, Governance of Diversity, S. 112 ff. 187 Siehe dazu bereits oben Fn. 170 m.w.N.; vgl. aber ferner Gabriel/Horn (Hrsg.), Säkularität und Moderne, 2016, passim; Willems/Pollack/Basu/Gutmann/ Spohn (Hrsg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, 2013, passim; Wolf/Koenig (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 53/2013, passim.

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Ort, um sein Konzept der „Multiple Modernities“ im Einzelnen zu entfalten.188 Dennoch sei an dieser Stelle zumindest in den Grundzügen dargestellt, wie sich religiöse Vielfalt in seinen Beschreibungsansatz der „Vielfalt der Moderne“ integrieren lässt. Seinen Ausgangspunkt findet das Eisenstadtsche Konzept einer „Vielfalt der Moderne“ darin, sich als ausdrücklicher Gegenentwurf zu den klassischen Modernisierungstheorien zu verstehen.189 Während letztere durch die streng dualistisch verstandene Differenz von traditionalen und modernen Gesellschaften, einschließlich der Inkompatibilität von Tradition und Moderne, geprägt sind, bestimmt für Eisenstadt der Gedanke der Heterodoxität seine Konzeption der Moderne. Bei ihm wird der Modernebegriff multipliziert und für Pluralität und Diversität geöffnet.190 Als historischer Hintergrund seiner „Vielfalt der Moderne“ dienen ihm die Achsenzeitkulturen. Zu dieser Zeit, für ihn191 von 500 vor Christus bis ins 1. Jahrtausend nach Christus bzw. bis zur Entstehung des Islam, erfolgt nach Ansicht Eisenstadts die maßgebliche Weichenstellung zur heutigen Moderne, insbesondere durch die Unterscheidung von transzendenter und weltlicher Ordnung.192 Dieser dezidiert religionssoziologische Zugang eröffnet ihm gleichsam mühelos

188 Siehe dazu im Einzelnen vor allem Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, 2000, passim; vgl. aber auch im Überblick Knöbl, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, 2001, S. 221 ff.; ders., Confronting World/Global History with Eisenstadt’s Civilizational Analysis. Promises and Problems, in: Kedar/ Silber/Klein-Oron (Hrsg.), Dynamics of Continuity, Patterns of Change. Between World History and Comparative Historical Sociology. In memory of Shmuel Noah Eisenstadt, 2017, S. 46 ff.; Krause, Religion und die Vielfalt der Moderne, S. 273 ff.; Winandy, Multiple Modernities (Eisenstadt), in: Schmidt/Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2014, S. 164 ff. m.w.N. 189 Zu einem Überblick über die unterschiedlichen Modernisierungstheorien siehe insb. Pollack, Modernisierungstheorie – revisited: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften, ZfS 2016, 219 ff. 190 In diesem Sinne Hense, Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und der Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion. Anmerkungen aus europäisch-rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 115, 122 ff. m.w.N. 191 Auf den Unterschied zur Achsenzeitkonzeption Karl Jaspers verweist ders., ebd., 130 m. Fn. 82. 192 Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, S. 9 ff.; siehe dazu auch Winandy, Multiple Modernities (Eisenstadt), in: Schmidt/Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2014, S. 164, 166 ff.

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die Verankerung der Religion(en) in der Moderne.193 Eisenstadt sieht eine Konnexität von Moderne und Religion, misst dieser in der Gegenwart sogar einen größeren Stellenwert bei, geht aber zugleich von einer „umfassenden Umbildung der religiösen Dimension“ aus.194 Das religiöse Feld sei nämlich keine „monolithische Struktur“,195 sondern vielmehr durch eine weitreichende „Re-Konstituierung der religiösen Komponenten in den umfassenden kulturellen und institutionellen Formationen“ gekennzeichnet.196 Dies geht für Eisenstadt so weit, dass letztlich sogar fundamentalistische religiöse Bewegungen als zutiefst modernes Phänomen begriffen werden.197 Damit wird religiöse Vielfalt – in ihrer ganzen Breite – zum integralen Bestandteil einer „Vielfalt der Moderne“, die sich zweifellos nicht ohne Grund als Spannungsgeschichte weltlicher und religiöser Lebensordnungen beschreiben lässt.198 So scheinbar bruchlos, um nicht zu sagen nahtlos, das Konzept einer „Vielfalt der Moderne“ aktuelle Erscheinungsformen religiöser Vielfalt zu integrieren vermag und so sehr es im soziologischen, theologischen, historischen und literaturwissenschaftlichen Schrifttum, deutlich zurückhaltender allerdings in der Rechtswissenschaft, auch rezipiert wird,199 sieht es sich dennoch einer Vielzahl konzeptioneller Anfragen ausgesetzt. 193

Eingehend dazu Eisenstadt, Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung und kultureller Transformation, in: Willems/ Pollack/Basu/Gutmann/Spohn (Hrsg.), Moderne und Religion, S. 355 ff. 194 Ders., Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Schwinn (Hrsg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, 2006, S. 37, 49 m.w.N. 195 Hense, Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und der Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion. Anmerkungen aus europäisch-rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 115, 138. 196 Eisenstadt, Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung und kultureller Transformation, in: Willems/Pollack/Basu/Gutmann/Spohn (Hrsg.), Moderne und Religion, S. 355, 357. 197 Ders., ebd., S. 361. 198 So Hübinger, Erfahrung und Erforschung der „Säkularisierung“, in: ders., Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, 2016, S. 77, 85, 91 und im Anschluss daran Hense, Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und der Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion. Anmerkungen aus europäisch-rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 115, 162. 199 Siehe dazu mit umfassenden Nachweisen Hense, ebd., S. 119 ff.

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Was heißt eigentlich „Moderne“? Was ist überhaupt „modern“ an der „Moderne“? Wie unterscheidet sich die „Frühmoderne“ von der „Moderne“ und diese wiederum von der „Postmoderne“? Ein wahrlich schillernder „Passepartoutbegriff“200, der reichlich begriffsgeschichtliche Mehrdeutigkeiten offenbart201 und für den mittlerweile selbst in der Soziologie konstatiert wird, dass „immer unklarer wird, was man eigentlich unter ,Moderne‘ oder ,Modernen‘ zu verstehen habe“.202 Ihren Gipfel erreicht diese Kritik ohne Zweifel, wenn – schon ein wenig polemisch – gefragt wird, „wieviel ,Modernen‘ es denn bitteschön sein dürfen. Eine, drei, 15, 200?“203 Aber nicht nur begrifflich-terminologisch bleiben Anfragen an das Konzept einer „Vielfalt der Moderne“. So wird darüber hinaus nicht ohne Grund darauf hingewiesen, dass die „ergebnisoffene Konzeptionalisierung“ des Projekts der Moderne letztlich ein „Spiel ohne Grenzen“ eröffne, bei dem sich insbesondere die Frage nach den Konturen und Grenzen des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt der Moderne stelle. Des Weiteren unterschätze der Eisenstadtsche Ansatz möglicherweise auch die Bedeutung der Nationalstaaten und des Freiheitsgedankens für die Moderne. Und schließlich vernachlässige er bei durchaus berechtigter Akzentuierung der Pluralität der Ordnungen doch ein wenig zu sehr die notwendige „Ordnung der Ordnungen“.204 200

So ders., ebd., S. 122, 141 unter Verweis auf Umberto Eco. Siehe dazu insb. Gumbrecht, Modern. Modernität, Moderne, in: Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 93 ff. 202 So ausdrücklich Knöbl, Die neuere Globalgeschichte, Max Weber und das Konzept der „multiple modernities“, in: Schwinn/Albert (Hrsg.), Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen, 2016, S. 401, 412; vgl. aber auch den Versuch von Herms, Die Moderne im Licht des reformatorischen Erbes, in: Dalferth (Hrsg.), Reformation und Säkularisierung. Zur Kontroverse um die Genese der Moderne aus dem Geist der Reformation, 2017, S. 175 ff. 203 Knöbl, ebd., S. 414. 204 Zu alldem siehe Hense, Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und der Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion. Anmerkungen aus europäisch-rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 115, 143, 144, 162 f.; zur notwendigen „Ordnung der Ordnungen“ siehe insb. Willems/Reuter/Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016, passim. 201

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Die Kritik am Eisenstadtschen Konzept einer „Vielfalt der Moderne“ ließe sich zweifellos in vielerlei Hinsicht fortsetzen, sie sei im vorliegenden Zusammenhang aber lediglich noch um einen – aus differenzierungstheoretischer Perspektive allerdings gewichtigen, um nicht zu sagen, ausschlaggebenden – Gesichtspunkt ergänzt.205 Der Begriff der Moderne arbeitet mit einem Differenzverhältnis zur Vergangenheit, d. h. er identifiziert sich in der Zeitdimension. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, weil jedes autopoietische System nur durch ständigen Rückgriff auf die eigene Vergangenheit eine eigene Identität aufzubauen vermag. Dies geschieht aber nicht durch Identifikation (für die sog. Moderne z. B. durch die Beachtung allgemein anerkannter Vernunftprinzipien), sondern durch Desidentifikation, d. h. durch Differenz.206 Mit den Worten Niklas Luhmanns: „Ob wir wollen oder nicht: wir sind nicht mehr, was wir waren, und wir werden nicht mehr sein, was wir sind. Das ruiniert dann alle Merkmale der Modernität, denn auch für sie gilt: Die Modernitätsmerkmale von heute sind nicht die von gestern und auch nicht die von morgen, und eben darin liegt ihre Modernität… Es geht vielmehr um ein ständiges Erzeugen von Anderssein.“207 Vor diesem Hintergrund steht der Begriff der Moderne dann nicht für Differenzierung, sondern eher für Entdifferenzierung. So naheliegend und verlockend es deshalb auch erscheinen mag, religiöse Vielfalt mit einer „Vielfalt der Moderne“ in Verbindung zu bringen, soll es im Folgenden dennoch darum gehen, sich dem Phänomen religiöser Vielfalt aus differenzierungstheoretischer Perspektive zu nähern.208 Dies 205 Zum Folgenden siehe insb. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, 1992, S. 14 ff. 206 In diesem Sinne auch ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 743. 207 Ders., Beobachtungen der Moderne, S. 15. 208 Für einen differenzierungstheoretischen Zugang zum Religionssystem siehe allgemein insb. Schneider, Religion und funktionale Differenzierung, in: Schwinn/ Kroneberg/Greve (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, 2011, S.181 ff.; Möllers, Grenzen der Ausdifferenzierung. Zur Verfassungstheorie der Religion in der Demokratie, ZevKR 59 (2014), 115 ff.; vgl. ferner zur Differenzierungstheorie allgemein Stichweh, Differenzierung und Entdifferenzierung. Zur Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2014, 8 ff.; Pollack, Modernisierungstheorie – revisited: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften, Zeitschrift für Soziologie 2016, 219 ff.; ganz anders – nämlich akteurtheoretisch – hingegen der Ansatz von Schuppert, Governance of Diversity, S. 131 ff.

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muss zweierlei bedeuten: zum einen, im Sinne funktionaler Differenzierung der Gesellschaft eine konsequente Orientierung an der Funktion von Religion als einem Funktionssystem der Gesellschaft; zum anderen die Notwendigkeit, Gesellschaft stets als Weltgesellschaft zu verstehen. Religiöse Vielfalt weltgesellschaftlich zu denken, heißt dabei zu aller erst, sich von der lange herrschenden Vorstellung zu lösen, dass es ein Glaubenssystem gab oder gibt, das den Namen Religion verdient. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert wird Religion nämlich pluralisiert.209 Heute haben wir es, wie bereits erwähnt, weltweit betrachtet mit einer kaum noch überschaubaren Vielfalt von Religionen zu tun, auch wenn bisweilen noch immer der „Kanon der Weltreligionen“ (Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus) die Debatte beherrscht. Religion ist endgültig zu einer globalen Kategorie geworden.210 Religiöse Vielfalt in der Weltgesellschaft ist durch segmentäre, häufig auch regionale Differenzierung gekennzeichnet ist.211 Sie erscheint im Sinne einer Chiffre als „Mehrheit von nichtintegrierten Selbstbeschreibungen“, die aber im Hinblick auf Codierung, Funktion und Abgrenzbarkeit gegenüber nichtreligiöser Kommunikation übereinstimmen.212 Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Transfermechanismen, den Strukturmustern und den Organisationsformen von Religion zu.213 Als Transfermechanismen des (globalen) Religionssystems sind Mission, Migration, Mobilität und Mediatisierung zu nennen. Vor dem Hintergrund weltweit tätiger Missionsgesellschaften der christlichen 209 Stichweh, Religion als globale Kategorie, Merkur 69 (2015), 43, 45, 47, der dies auf Europas Ausgreifen in alle anderen Weltregionen (mittels Kolonialisierung, Handel, Mission sowie der Ausbreitung von Bildung und Gelehrsamkeit) zurückführt. 210 Siehe dazu auch Beyer, What counts as Religion in Global Society? From Practice to Theory, in: ders., Religion im Prozess der Globalisierung, 2001, S. 125 ff. 211 Stichweh, Religion als globale Kategorie, Merkur 69 (2015), 45 f.; siehe auch Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 346 mit dem Hinweis auf eine „zunehmende Artenvielfalt von Religionen“ (z. B. die New Age-Bewegung, den MariaLionza-Kult, die Tenri-Sekte, Esoterikzirkel oder auch Re-Inkarnationsvorstellungen). 212 Luhmann, ebd. 213 Siehe zum Folgenden Stichweh, Religion als globale Kategorie, Merkur 69 (2015), 43, 50 ff.

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Kirchen entfaltet christliche Mission vor allem im 19. Jahrhundert ganz außerordentliche Wirkung, während aktuell evangelikale und charismatische Glaubensbewegungen zu den stark expandierenden Religionen der Gegenwart zählen. Dass Migration zum globalen Transfer von Religion beiträgt, muss angesichts der durch politische Verfolgung, Armut oder Umweltkatastrophen verursachten (Völker)Wanderungsbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus der sog. Dritten Welt nach Europa wohl nicht näher hervorgehoben werden.214 Mobilität beschreibt demgegenüber den Umstand, dass sich Personen aus den verschiedensten Gründen (beruflich oder familiär bedingt, Freizeitverhalten etc.) für gewisse Zeit an wechselnden Orten aufhalten und dort gesammelte (auch religiöse) Erfahrungen an den Ort ihres dauerhaften Aufenthalts mitbringen. Mediatisierung hingegen akzentuiert den globalen Transfer von Religion über ganz unterschiedliche soziale Kommunikationsmedien. Neben diese globalen Transfermechanismen von Religion treten ferner gesellschaftliche Strukturmuster, die zur Intensivierung des Phänomens religiöser Vielfalt in der Weltgesellschaft maßgeblich beitragen.215 Religion ist längst nicht mehr das „Bindemittel von sozialen Gemeinschaften“, sondern ist zu einer individuellen Entscheidung geworden, weshalb nicht ohne Grund von einer „engen Kopplung von Religiösität und Individualität“ die Rede ist. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Religion als individueller Entscheidung hat sich eine strikte Trennung von Wissenschaft und Religion sowie Theologie und Religion durchgesetzt. Sie führt dazu, dass Religion als hochindividuelles „System von beliefs“ begriffen wird, das sich deutlich von „knowledge“ unterscheidet. Und außerdem darf die strukturelle Nähe von Religion und Moral nicht übersehen werden. Ihre schwierige Unterscheidbarkeit in Form einer „eigentümlichen Gemengelage“ hängt vor allem damit zusammen, dass sich Moral weltgesellschaftlich nie zu einem Funktionssystem ausdifferenziert hat. Und schließlich dürfen neben den Transfermechanismen und den Strukturmustern die ganz unterschiedlichen Organisationsformen von Religion im weltgesellschaftlichen Maßstab nicht übersehen werden. 214

Siehe dazu nur Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, 2016. 215 Auch zum Folgenden eingehend Stichweh, Religion als globale Kategorie, Merkur 69 (2015), 43, 51 f.

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Organisationsformen des Typus „Kirche“, wie sie die christlichen Religionsgesellschaften kennzeichnen, sind weltgesellschaftlich betrachtet eher eine Seltenheit. Ihnen stehen Religionen gegenüber, die sich mit „Schulen“, „Synagogen“, „Tempeln“ oder „Klöstern“ begnügen. Dabei wird auch gar nicht erwartet, dass alle Glaubenden Mitglieder dieser Organisationen sind. Religiöser Vielfalt in der Weltgesellschaft entspricht damit auch eine Vielfalt der religiösen Organisationsformen.216 Auf der Grundlage dieser differenzierungstheoretischen Annäherung an das Phänomen der religiösen Vielfalt lässt sich nunmehr dieser Vorgang der Ausdifferenzierung des Religionssystems auch in seinem Verhältnis zum Rechtssystem näher beobachten und beschreiben. Wir können dazu auf unsere grundsätzlichen Überlegungen zu den Kopplungen und Irritationen von Politik, Religion und Recht zurückgreifen.217 Auch wenn das Religionssystem zu den Funktionssystemen zählt, die keine oder kaum strukturelle Kopplungen ausgebildet haben, schließt dies Umweltkontakte im Verhältnis von Religion und Recht nicht von vornherein aus. Vielmehr kommen operative Kopplungen in Betracht, die eine momenthafte, sich auf Ereignislänge vollziehende Kopplung von Operationen des Religionssystems mit solchen Systemen ermöglichen, die das Religionssystem der Umwelt zurechnet. Operative Kopplungen „verdichten und aktualisieren die wechselseitigen Irritationen und erlauben so schnellere und besser abgestimmte Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen“.218 Damit werden Irritation und Irritierbarkeit sozialer Systeme auch im Verhältnis von Religion und Recht zum Thema. Sie erweisen sich als Konsequenz funktionaler Differenzierung der Gesellschaft. Durch diese wird ihre Irritierbarkeit, d. h. die Fähigkeit auf Umweltveränderungen rasch zu reagieren, gesteigert. Irritationen der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch „die“ Umwelt gibt es allerdings nicht. Der Begriff bezieht sich nämlich nicht auf die allgemeine System/Umwelt-Differenz,

216 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 230; instruktiv vor allem auch Tyrell, Religion – Organisationen und Institutionen, in: Schäfers/Stagl (Hrsg.), Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozess. Festschrift für Wolfgang Lipp, 2005, S. 25 ff. 217 Siehe dazu bereits oben 1. Kap., § 3. 218 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 779 und 788; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 443 mit dem Hinweis, dass operative Kopplungen das „Resonanztempo der gekoppelten Systeme“ erhöhen.

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sondern allein auf System-zu-System-Beziehungen.219 Von Irritation – besser gesagt von Selbstirritation der Gesellschaft – kann deshalb auch nur mit „Systemindex“ gesprochen werden. Umwelteinwirkungen dieser Art vermögen das System nicht zu determinieren, denn jede Determination des Systems kann nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen erzeugt werden und bleibt dabei an die systemeigenen Strukturen gebunden. Von daher erweist sich Irritation als Systemzustand, „der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offenlässt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder ob das System sich darauf verlässt, dass die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie ein nur einmaliges Ereignis war. Im Offenhalten beider Möglichkeiten liegt eine Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich eine Garantie seiner Evolutionsfähigkeit.“220 Wie dieser differenzierungstheoretische Zusammenhang gerade im Verhältnis von Religion und Recht zum Thema wird, verdeutlichen besonders anschaulich zahlreiche Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur normativen Verarbeitung religiöser Vielfalt.221 Ihren Ausgangspunkt finden diese in der sog. Bahá’í-Entscheidung aus dem Jahre 1991, in der es um die Frage ging, inwieweit es Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet, bei der Auslegung und Anwendung vereinsrechtlicher Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Eigenart eines religiösen Vereins zu berücksichtigen, der sich – wie die Bahá’í – als Teilgliederung einer Religionsgemeinschaft – des schiitischen Islam – versteht und or219

Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 791. Ders., ebd., S. 790 (Hervorhebung i. O.). 221 Siehe dazu aus rechtsdogmatischer Perspektive vor allem Augsberg/Korioth, The Interplay Between State Law and Religious Law in Germany, in: Bottoni/ Cristofori/Ferrari (Ed.), Religious Rules, State Law, and Normative Pluralism – A Comparative Overview, 2016, S. 175 ff.; Hense, Religiöse Pluralität normativ verarbeitet. Zur grundgesetzlichen Ordnung von Staat und Religion. Herder Korrespondenz 63 (2009), 354 ff.; Waldhoff, Heilserwartungen an Recht und Verfassung – Bemerkungen zum Verhältnis Recht – Religion, in: Ebner/Kraneis/ Minkner/Neuefeind/Wolff (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung, 2014, S. 229 ff.; siehe auch – im Hinblick auf eine syrisch-orthodoxe Gemeinde – Jacobs, Mor Gabriel und die gestärkte Bedeutung des Kirchenrechts im weltlichen Rechtskreis – Zu einem aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, KuR 2017, 26 ff. 220

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ganisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit unmissverständlich festgestellt, dass allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, für diese und ihre Mitglieder die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 nicht rechtfertigten. Vielmehr müsse es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußeren Erscheinungsbild um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln.222 Ihre Fortsetzung fanden die Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur religiösen Vielfalt mit dem Kruzifix-Beschluss aus dem Jahre 1995, in dem das Gericht feststellte, dass das Anbringen eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstößt. § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach in den öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen war, wurde deshalb für unvereinbar mit Art. 4 Abs. 1 GG und nichtig erklärt.223 In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 2002 musste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen muslimischen Metzgers befassen, der Tiere ohne Betäubung schlachten (schächten) wollte, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung den Genuss von Fleisch geschächteter Tiere zu ermöglichen. Im Lichte von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG war dabei nach Ansicht des Gerichts § 4a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2, 2. Alternative des Tierschutzgesetzes so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnahmeregelung für das Schächten erhalten können.224 Aus dem Jahr 2002 stammt auch die Osho-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Äußerungen der Bundesregierung über die Bewegung des Rajneesh Chandra Mohan und die ihr angehörenden Gemeinschaften ging. Sie bezeichnete diese u. a. als „Jugendsekten“ sowie „pseudoreligiöse und Psycho-Gruppen“. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war teilweise erfolgreich. Art. 4 Abs. 1 GG biete zwar keinen Schutz dagegen, dass sich der Staat und seine Organe mit den Trägern dieses Grundrechts 222 Siehe dazu BVerfGE 83, 341 ff.; vgl. auch Neureither, Leitentscheidungen zum Religionsverfassungsrecht, 2015, S. 300 ff. 223 BVerfGE 93, 1 ff.; vgl. auch Neureither, ebd., S. 319 ff. 224 BVerfGE 104, 337; vgl. auch Neureither, ebd., S. 380 ff.

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sowie ihren Zielen und Aktivitäten öffentlich – auch kritisch – auseinandersetzen. Dabei sei allerdings das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates zu wahren und mit Zurückhaltung vorzugehen. Diffamierende, diskriminierende oder verfälschende Darstellungen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft seien dem Staat untersagt. Deshalb war nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Bundesregierung die Bezeichnungen „Sekte“, „Jugendreligion“, „Jugendsekte“ und „Psychosekte“ verwendete, wohl aber, dass sie dabei die Attribute „destruktiv“ und „pseudoreligiös“ hinzufügte.225 Schließlich gehören in die Reihe der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur religiösen Vielfalt zweifellos die diversen Kopftuch-Entscheidungen aus den Jahren 2003, 2015 und 2017. Nachdem das Gericht im Jahr 2003 für das Land Baden-Württemberg festgestellt hatte, dass das Kopftuchverbot in Schule und Unterricht im geltenden Recht keine Rechtsgrundlage finde, vielmehr der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein müsse,226 wurde dann im Jahr 2015 vom Gericht entschieden, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht vereinbar sei. Deshalb sei eine dahingehende Vorschrift des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes verfassungskonform so einzuschränken, dass von einer äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausgehen müsse, um ein Kopftuchverbot zu rechtfertigen.227 Im Jahr 2017 war dann als vorläufiger Höhepunkt in Sachen Kopftuchverbot vom Bundesverfassungsgericht darüber zu befinden, ob die an eine aus religiösen Gründen Kopftuch tragende Rechtsreferendarin gerichtete Untersagung, mit Kopftuch während der Ausbildung im Gerichtssaal auf der Richterbank zu sitzen, Sitzungsleitungen oder Beweisaufnahmen durchzuführen, Sitzungsvertretungen für 225

BVerfGE 105, 279 ff.; vgl. auch Neureither, ebd., S. 398 ff. BVerfGE 108, 282 ff.; vgl. auch Neureither, ebd., S. 429 ff. 227 BVerfGE 138, 296 ff.; siehe dazu auch Klein, Schleierhaftes vom EuGH? Wie zwei Urteile die Kopftuchdebatte in Deutschland beeinflussen, NVwZ 2017, 920 ff. 226

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die Staatsanwaltschaft zu übernehmen oder während der Ausbildung in der Verwaltungsstation einen Anhörungsausschuss zu leiten, als verfassungskonform zu bewerten sei. Der gegen die Untersagungsverfügung gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde abgelehnt. In der Hauptsacheentscheidung sei vielmehr zu klären, ob und unter welchen Umständen das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal, im Rahmen der Sitzungsleitung oder Beweisaufnahme, der Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft oder bei der Leitung des Anhörungsausschusses die Neutralitätspflicht, die Unabhängigkeit der Justiz und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verfahrensbeteiligten berührt und inwieweit dies hinzunehmen sei, weil der positiven Glaubensund Bekenntnisfreiheit und der Berufsfreiheit der Rechtsreferendarin Rechnung getragen werden müsse.228 Schon diese wenigen ausgewählten Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur normativen Verarbeitung religiöser Vielfalt können gleichsam stellvertretend für die laufenden Irritationen im Verhältnis von Politik, Religion und Recht stehen. Auf der Grundlage der strukturellen Kopplung von Politik und Recht durch die Verfassung dient dabei das Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG – wie dargestellt – als Einbruchstelle für operative Kopplungen im Verhältnis von Religion und Recht. Es verdichtet und aktualisiert nämlich die wechselseitigen Irritationen, indem es die unterschiedlichen Erscheinungsformen religiöser Vielfalt durch den Filter der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit laufen lässt. Entscheidend ist aber, dass die Umwelteinwirkungen die beteiligten Systeme nicht zu determinieren vermögen. Diese befinden vielmehr im Netzwerk ihrer eigenen Operationen und gebunden an ihre systemeigenen Strukturen darüber, ob und wie auf die Irritation zu reagieren ist. Recht und Religion werden lediglich zur Fortsetzung ihrer systemeigenen autopoietischen Operationen angeregt und bewahren sich so ihre Evolutionsfähigkeit. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Ausdifferenzierung der Religionen zu Ende des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts markiert differenzierungstheoretisch eine deutliche Unterscheidung im Sinne von George Spencer-Browns „draw a distinction“. Die Erscheinungsformen dieses Vorgangs der Ausdifferenzierung des Religionssystems 228 BVerfG, Beschluss vom 27. 6. 2017 – 2 BvR 1333/17 – , NVwZ 2017, 1128 ff.

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fordern das Rechtssystem nachhaltig und tiefgehend heraus. Über das Grundrecht der Religionsfreiheit werden Religion und Recht operativ gekoppelt. Ihre wechselseitigen Irritationen leisten einen wichtigen Beitrag zur Evolution des Religions- und Rechtssystems. Dies lässt es gerechtfertigt erscheinen, in der beschriebenen Ausdifferenzierung der Religionen einen evolutorischen Sprung zu sehen. Nachdem wir damit gleichsam in einem zeitlichen Längsschnitt die Statik und Dynamik der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht zumindest in ihren Grundstrukturen vermessen haben, sollen nachfolgend Detailstudien auf ausgewählten Untersuchungsfeldern des Personen- und Organisationsrechts der christlichen Kirchen die KoEvolution von staatlichem und kirchlichem Recht inhaltlich vertiefen. Das Eherecht erscheint dabei als Untersuchungsgegenstand geradezu prädestiniert zu sein, weil es im Hinblick auf seine Regelungen durch Staat und Kirche praktisch für den ganzen hier zugrunde gelegten zeitlichen Längsschnitt Relevanz entfaltet und – wie sogleich zu zeigen sein wird – durch besondere Irritierbarkeit gekennzeichnet ist.

3. Kapitel

Detailstudien der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht § 8 Eherecht Das frühe Christentum kannte weder eine systematische Ehetheologie noch ein kodifiziertes Eherecht. Man war einzig und allein auf das Neue Testament verwiesen, wobei es den Theologen und Juristen oblag, aus dessen allgemeinen Prinzipien konkrete Verhaltensregeln zu entwickeln.1 Diese glaubensgeprägten Verhaltenspflichten standen für sich, unabhängig von den Geboten des weltlichen Rechts. An eine Konkurrenz von kirchlichen und weltlichen Geboten, die Anlass zur Irritation hätte bieten können, war unter diesen Umständen nicht zu denken. Die Kirche respektierte vielmehr das Eherecht der Rechtsgemeinschaft, in der die Christen lebten. Deren Kompetenz zur Rechtsgestaltung der Ehe wurde von der Kirche nicht in Frage gestellt. Von daher ist – unabhängig von vermehrten sittlichen Anforderungen an die Ehe – davon auszugehen, dass die Ehe im frühen Christentum noch kein eigenständiges Rechtsverhältnis kirchlichen Rechts darstellte.2 Dies änderte sich erst mit der Ausbreitung der Kirche im germanisch geprägten Rechtskreis. Dort fand sie ein Eherecht vor, dass sie nachhaltig irritierte und zu eigenen Reformbestrebungen anregte. Im Hinblick auf das Eheschließungsrecht zielten diese vor allem auf die Durchsetzung des römischrechtlichen Grundsatzes „consensus facit nuptias“; was die kirchlichen Ehehindernisse anbelangte, so ging es insbesondere um diejenigen der Verwandtschaft und Schwägerschaft sowie um die Durch1

Witte, Vom Sakrament zum Vertrag. Ehe, Religion und Recht in der abendländischen Tradition, 2008, S. 31 ff. 2 Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 789.

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setzung der Unauflöslichkeit der Ehe.3 Zwar waren die dahingehenden Bemühungen der Kirche alles in allem nicht ohne Erfolg, beschränkten sich aber doch im Wesentlichen auf eine „geistige Beeinflussung der weltlichen Ordnungsmacht“.4 Im frühen Mittelalter änderte die Kirche dann den Kurs zur Durchsetzung ihrer Ehevorstellungen. Weltlichem Eherecht, das ihren theologischen Vorstellungen von der Ehe widersprach, wurde ohne Rücksicht auf die politischen Ordnungsmächte jegliche Rechtsgeltung und Rechtsverbindlichkeit abgesprochen.5 Dazu berief sie sich auf den Rechtstitel des göttlichen Rechts (Ius divinum),6 das als operative Kopplung von Recht und Religion diente. Soweit dieses die unwandelbaren Grundstrukturen der Kirche enthielt, die ihre Wesensidentität ausmachen und sich aus der Bibel, insbesondere dem Neuen Testament, bestimmen, besaß es nach kirchlicher Auffassung Geltungsvorrang gegenüber jedwedem menschlichen Gesetz (lex mundana). Nachdem dann auch noch das römischrechtliche Konsensprinzip („consensus facit nuptias“) als Erscheinungsform göttlichen Rechts proklamiert wurde, war damit die weitgehende Bedeutungslosigkeit des weltlichen Eherechts, sei es germanischen oder römischen Ursprungs, besiegelt. Theologisch vollendet wurde diese Entwicklung eigentlich durch die Sakramentenlehre des 12. und 13. Jahrhunderts, welche die Ehe den Sakramenten des Neuen Testaments zuordnete.7 Aber selbst dabei blieb die Kirche nicht stehen. Sie erstreckte vielmehr den Geltungsanspruch des göttlichen Rechts auf den „Gesamtbereich des kanonischen Rechts, das heißt auch auf dasjenige Kirchen3 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, 1967, S. 15 f. 4 Ders., ebd., S. 17. 5 Dazu und zum Folgenden ders., ebd., S. 17 ff. 6 Zum Rechtscharakter des Ius divinum siehe insb. Aymanns, Ius divinum – ius humanum, in: Lexikon für Theologie und Kirche (hrsg. v. Kasper u. a.), 3. Aufl., 5. Bd., 1996, Sp. 697 ff.; ders., in: Haering/Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts, 2004, Sp. 436 f.; Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche, S. 66 ff.; Robbers, Ius divinum, in: Evangelisches Staatslexikon, hrsg. v. Heun/ Honecker/Morlok/Wieland, 2006, Sp. 1067 ff. 7 Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 792; Witte, Vom Sakrament zum Vertrag. Ehe, Religion und Recht in der abendländischen Tradition, S. 38 ff.

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3. Kap.: Detailstudien der Ko-Evolution

recht, das seine Verbindlichkeit erst menschlich-kirchlicher Rechtsschöpfung verdankt“.8 Letztlich gelang es ihr auf diese Weise mit dem Ius divinum als operativer Kopplung von Religion und Recht das gesamte kanonische Eherecht für die Sozialgestalt der Ehe verbindlich zu machen und die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Eherecht zu beanspruchen.9 Daran änderte sich im Verlauf des Mittelalters nur wenig. Erst mit dem Beginn der Neuzeit sahen sich die verschiedenen Einzelstaaten im Kontext ihres Strebens nach politisch-rechtlicher Souveränität veranlasst, auch hinsichtlich der Gestaltungsbefugnisse im Eherecht eine Kompetenzrevision in Angriff zu nehmen. Ihre theoriegeschichtliche Grundlage finden diese Bestrebungen übrigens in der mittelalterlichen katholischen Kirchenrechtslehre. Namentlich stehen sich hier Thomas von Aquin auf der einen Seite sowie Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua auf der anderen Seite gegenüber. Die thomistische Ehelehre10 setzt dabei an einer sich im Institut der Ehe treffenden Differenzierung der Ordnungsbereiche an. Maßgeblich wird insoweit, dass die Ehe ( jedenfalls auch) einen Ordnungsbezug zur soziopolitischen Gemeinschaft besitzt. Von daher resultiert dann sowohl eine Gestaltungskompetenz der Kirche (auch sie ist Gemeinschaft) als auch des Staates. Er muss die Rechtsgestalt der Ehe regeln können, um sie dem bonum politicum anzupassen. Da aber zum Beispiel die Ehehindernisse notwendigerweise auch das Sakrament der Ehe berühren, bedarf es insoweit der Mitwirkung der Kirche, weil hier ihr Ordnungsbereich tangiert wird. Im Ergebnis kommt die thomistische Ehelehre damit zu einem Nebeneinander von staatlicher und kirchlicher Ehegesetzgebungskompetenz, allerdings mit der Maßgabe, dass erstere sich letzterer unterzuordnen habe. Demgegenüber gelangen Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis.11 Auf der Grundlage einer gegen die Jurisdiktionsgewalt der Kirche gerichteten Rechtslehre gehen sie von einer nahezu unbeschränkten staatlichen Gesetzgebungskompetenz für das Eherecht aus. Zur Begründung setzen beide 8 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 21. 9 Ders., ebd., S. 32. 10 Dazu eingehend ders., ebd., S. 34 ff. m.w.N. 11 Dazu eingehend ders., ebd., S. 40 ff. m.w.N.

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nicht am Wesen der Ehe oder einer spezifischen Eigengesetzlichkeit des Eherechts an, vielmehr entwickeln sie eine allgemeine Rechtslehre, „welche alle der menschlichen Ordnungsgewalt unterliegenden Materien der Kompetenz der politischen Gemeinschaft zuweist, mögen sie ,geistlicher‘ oder ,weltlicher‘ Natur sein“.12 In einem solchen System kann es keinen Platz für eine Gestaltungshoheit der Kirche über die dem weltlichen Bereich zugehörenden Eheangelegenheiten geben. Oder anders ausgedrückt: „Der Staat ist Herr über die Ehe, schon weil er auch Herr über die Kirche ist, soweit es eine menschliche Gesetzgebung über die Kirche … geben kann.“13 Damit standen den Kompetenzlehren der Neuzeit grundsätzlich zwei Theoriestränge zur Begründung der staatlichen Gesetzgebungskompetenz für das Eherecht zur Verfügung. Ungeachtet aller Vermischungen und Vermengungen ist letztlich aber im Wesentlichen nur die thomistische Ehelehre mit ihrer Begründung der staatlichen Gesetzgebungskompetenz aus der sozialen, sprich weltlichen, Funktion der Ehe heraus für die weitere Entwicklung maßgeblich geworden. Diese war vor allem von einem bereits ausführlich dargestellten evolutorischen Sprung gekennzeichnet, der Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit.14 Ganz ohne Zweifel irritierte die Reformation (auch) das kanonistische Eherecht grundlegend und nachhaltig.15 Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie der katholischen Kirche ganz grundsätzlich die Befugnis absprach, über natürliche und biblische Eheverbote hinaus weitere Ehehindernisse zu errichten. Der Katholizismus wiederum nahm dies systemimmanent zum Anlass, sich auf dem Konzil von Trient und im Nachgang zu ihm mit der menschlichen Rechtsgewalt in Eheangelegenheiten zu befassen. Prägend wirkte dabei die auf thomistischer Grundlage entwickelte Kompetenzlehre der Spätscholastik, die dem Staat in Eheangelegenheiten zwar die Gesetzgebungskompetenz zugestand, 12 Hier wird übrigens der Zusammenhang von einer Theorie umfassender staatlicher Rechtshoheit und den Souveränitätslehren der Neuzeit besonders deutlich. 13 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 52. 14 Siehe dazu oben 2. Kap., § 6. 15 Übrigens nicht nur in Deutschland. Siehe dazu Cranmer, Wie die Reformation das kirchliche und weltliche Recht in Großbritannien prägte, ZevKR 63 (2018), 131, 144 f.

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diese aber der kirchlichen Oberhoheit unterwarf. Auf diese Weise blieb die Unantastbarkeit des kanonischen Eherechts als dem Staat vorgegebener Rechtsordnung erhalten.16 Mit der Reformation, insbesondere der mit ihr verbundenen Leugnung der Sakramentsnatur der Ehe, stellte sich die Kompetenzfrage im Eherecht andererseits – jedenfalls in den protestantischen Territorien – ganz neu.17 War die Ehe nämlich ein rein soziales Konstrukt ohne geistliche Rechtsnatur, so lag es eigentlich auf der Hand, sie – in den Schranken des Naturrechts bzw. des Ius divinum – weltlicher Regelungskompetenz zu unterwerfen. Es sollte jedoch anders kommen. Das neue Eherecht der Reformation findet sich in den protestantischen Ländern und Städten in den Kirchenordnungen und kirchlichen Gesetzen der zum Kirchenregiment gelangten protestantischen Obrigkeit wieder, ohne dass es allerdings zu einer umfassenden Kodifikation des Eherechts gekommen wäre. Inhaltlich anknüpfen ließ sich deshalb nur am tradierten kanonischen oder römischen Eherecht. Diese unterschieden sich aber in ihrer Konzeption derart grundlegend, dass sich die protestantische Rechtslehre für eine der beiden Rechtsquellen entscheiden musste. Auch insoweit hätte es eigentlich nahegelegen, für das weltliche (römische) Eherecht zu plädieren, wenn die Ehe schon als rein soziales Konstrukt ohne geistliche Rechtsnatur begriffen wird. Überraschenderweise entschied sich die protestantische Rechtslehre aber ein weiteres Mal für das kirchliche Recht, und zwar in der Form einer Restauration des kanonischen Rechts. Seine Bedeutung für das protestantische Eherecht sollte allerdings auch nicht überbewertet werden. In vielerlei Hinsicht sah sich das protestantische Eherecht durch das kanonische Eherecht irritiert. Beispielhaft zu nennen sind hier nur die mit dem kanonischen Eherecht verbundene Sakramentsnatur der Ehe, das Ehehindernisrecht und die gänzliche Unauflöslichkeit der Ehe. Sie regten das protestantische Eherecht zur Fortsetzung seiner eigenen autopoietischen Operationen an. Auf diese Weise entwickelte sich ein durchaus eigenständiges Rechtssystem, welches das kanonische Eherecht zwar grundsätzlich aufnahm, aber ganz erheblich modifizierte. 16 Ausführlich dazu und zu weiteren katholischen Lehren der Neuzeit zum Eherecht Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 60 ff., 70 ff., 93 ff. 17 Auch dazu näher und ins Detail gehend ders., ebd., S. 104 ff.

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Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts ging die protestantische Eherechtslehre dann aber mehr und mehr auf Distanz zum kanonischen Recht. Ein weiteres Mal wurde die Verweltlichung der Ehe als Gegenstand der irdischen Rechtsordnung gefordert. Ursächlich dafür waren weniger die Rückbesinnung auf die reformatorischen Grundlagen des Eherechts oder der Einfluss des römischen Rechts als vielmehr die im 17. Jahrhundert aufgekommene Naturrechtslehre. Namentlich durch Hugo Grotius wurde die natürliche Rechtsgestalt der Ehe herausgearbeitet. Nicht die christliche Ehe, sondern die Ehe im Allgemeinen stand für ihn im Zentrum seiner Überlegungen. Eine „geistliche“ oder „kirchliche“ Rechtsnatur vermochte er naturrechtlich nicht zu erkennen. Auf diese Weise entstand ein „natürliches Privatrecht für die Ehe“. Parallel zur wachsenden Ablehnung eines geistlichen Ehebegriffs verlor das kanonische (Ehe)Recht mehr und mehr an Bedeutung. Diese Entwicklung wurde durch die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Kodifikationsbewegung noch weiter vorangetrieben. Das Eherecht wird Bestandteil des bürgerlichen Rechts. Ein erstes Beispiel dafür ist zwar schon der Corpus Iuris Friedericianum von 1749, der allerdings noch nicht in der ganzen preußischen Monarchie Geltung erlangte. Für die weitere Zukunft prägend wurde dann vielmehr die erste normative Ausgestaltung des Eherechts in einer Gesamtordnung des bürgerlichen Rechts, wie sie sich im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (ALR II. Teil, 1. Titel Von der Ehe) fand. Die Ehe war zu einer „Institution der profanen Rechtsordnung“ geworden.18 Ihren vorläufigen Abschluss fand die „Säkularisierung der protestantischen Eherechtsdoktrin“ schließlich durch die Ausdehnung der staatlichen Gesetzgebungskompetenz auf den Eheschließungsvorgang. Der sog. Kulturkampf zwischen Staat und Kirche in der Mitte des 19. Jahrhunderts – eine heute weitgehend in Vergessenheit geratene Irritation von Politik und Religion (speziell der katholischen Kirche) unvorstellbaren Ausmaßes – bewog den Staat dazu, mit der Einführung eines Personenstandsgesetzes (1875) die sog. Ziviltrauung vorzusehen. Die Ehe kam danach allein durch die erklärte Übereinstimmung der Verlobten und die darauf folgende bestätigende Erklärung des Standesbeamten zustande.19 18

Im Einzelnen dazu ders., ebd., S. 125 ff., 127 f., 136, 224. Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 796; siehe auch Bosch, Staatliches und kirchliches 19

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Gleichzeitig wurde das sog. Verbot der kirchlichen Voraustrauung, d. h. das Verbot, vor der standesamtlichen Eheschließung religiöse Trauzeremonien zu vollziehen, gesetzlich verankert. Ungeachtet erheblicher Irritation auf Seiten der der katholischen Kirche nahestehenden Zentrumspartei wurde dieser Rechtszustand mit dem BGB (1900) grundsätzlich perpetuiert.20 Während sich die endgültige Ausdehnung der staatlichen Gesetzgebungskompetenz auf das Eherecht für die protestantische Kirche als weitgehend unproblematisch erwies, weil sie kein eigenständiges, vom Staat unabhängiges Eherecht entwickelt hatte, war dies für die katholische Kirche ganz anders. Schon der universalkirchliche Anspruch des katholischen Kirchenrechts gestattete es ihr kaum, für einen bestimmten nationalkirchlichen Bereich auf den kirchlichen Regelungsanspruch zu verzichten. Sie hielt deshalb auch weiterhin an ihrem Maßstab für die Kompetenzverteilung von Staat und Kirche im Eherecht fest: Dem Staat oblag es lediglich, die sog. „effectus civiles“ der Ehe zu regeln; der Kirche hingegen stand die Gesetzgebung über das Eheband zu.21 In der Konsequenz stellten sich die Ehe nach staatlichem Recht und die Ehe nach kirchlichem Recht als selbständig zu beurteilende Rechtsverhältnisse dar.22 Eherecht – in Harmonie oder im Konflikt?, 1988, S. 16; vgl. ferner Coing, Die Auseinandersetzung um kirchliches und staatliches Eherecht im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Dilcher/Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht: Beiträge zum Problem der Säkularisation, 1984, S. 360 ff. 20 Zumindest sah sich der staatliche Gesetzgeber aber bemüßigt, nicht den Ausspruch des Standesbeamten, sondern die von den Verlobten vor dem Standesbeamten erklärte Willensübereinstimmung als ehebegründenden Vorgang anzusehen. So Pirson, ebd., S. 797 f. 21 Siehe noch heute Can. 1059 CIC: „Die Ehe von Katholiken, auch wenn nur ein Partner katholisch ist, richtet sich nicht allein nach dem göttlichen, sondern auch nach dem kirchlichen Recht, unbeschadet der Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen dieser Ehe.“; der staatliche Gesetzgeber sieht dies übrigens nicht grundsätzlich anders, wie § 1588 BGB belegt: „Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts nicht berührt.“ 22 Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 798 m.w.N., dort auch dazu, dass die Ehe im kirchlichen Rechtssinne durchaus auch für die Rechtsbeziehungen nach staatlichem Recht relevant werden kann, wenn z. B. vertragliche Vereinbarungen einen direkten oder indirekten Bezug auf eine Ehe nach kirchlichem Recht haben. Siehe in diesem Zusammenhang insb. das arbeitsrechtlich bedeutsame sog. Chefarzt-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 137, 273 ff.

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An diesem Rechtszustand, speziell der Beibehaltung der Ziviltrauung und dem korrespondierenden Verbot der kirchlichen Voraustrauung, änderte sich bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts kaum etwas.23 Deshalb konnte das Bundesverfassungsgericht unter der Geltung des Grundgesetzes auch schon früh (1971) in seinen Worten festhalten, dass sich die Ehe als Institution der profanen Rechtsordnung darstellt: „Demgemäß liegt der Verfassung das Bild der ,verweltlichten‘ bürgerlichrechtlichen Ehe zugrunde …24 Das heißt: der Staat darf die Eheschließungsfreiheit nicht allein aufgrund einer ,uralten kultischen Regel‘ beschränken, sondern die Beschränkung muss sich aus dem Bild der heutigen verweltlichten Ehe ergeben oder mit diesem vereinbar sein.“25 Dessen ungeachtet hat die katholische Kirche weiterhin an ihrem Eheverständnis festgehalten: Die Ehe ist nicht nur Institution und Vertrag, sondern Sakrament (Can. 1055 CIC).26 Die Ehevoraussetzungen, die Form der kirchlichen Eheschließung, die kirchenrechtliche Auflösung der Ehe sowie die Rechte und Pflichten aus der Ehe regelt umfassend der Corpus Iuris Canonici.27 Und da aus einer gültigen Ehe zwischen den Ehegatten ein Band entsteht, „das seiner Natur nach lebenslang und ausschließlich ist“ (Can. 1134 CIC), kann es keine Ehescheidung geben. Vor diesem Hintergrund ließe sich – zweifellos etwas überspitzt formuliert – davon sprechen, dass Staat und (katholische) Kirche jedenfalls mit Blick auf das Eherecht gleichsam in Parallelgesellschaften leben. Über 23

Eine wichtige Ausnahme enthält aber Art. 26 des Reichskonkordats zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl vom 20. 7. 1933, wonach im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder eines „schweren sittlichen Notstandes“ die kirchliche Einsegnung der Ehe vor der Ziviltrauung vorgenommen werden darf. Zur Entwicklung des staatlichen und kirchlichen Eherechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein siehe insb. Bosch, Staatliches und kirchliches Eherecht – in Harmonie oder im Konflikt?, S. 17 ff. 24 BVerfGE 31, 58, 83; 53, 224, 245. 25 BVerfGE 36, 146, 163; ebenso Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 799: „Das staatliche Eherecht der Gegenwart erweist sich als ,verweltlichtes‘ Eherecht.“ 26 § 1. Der Ehebund, durch den Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben. 27 Canones 1073 ff., 1108 ff., 1134 ff., 1141 ff. CIC

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lange Zeit hat dieses Nebeneinander von staatlichem und kirchlichem Eherecht kaum schwerwiegendere Irritationen ausgelöst. Angesichts der unterschiedlichen Regelungszwecke war das Verhältnis von wechselseitiger Tolerierung geprägt.28 In jüngerer Zeit deuten allerdings verschiedene Entwicklungen im staatlichen Eherecht in eine andere Richtung. Schon wird vermutet, dass sich in ihrem Gefolge – anders als bisher – „das staatliche und kirchliche Eheverständnis weiter auseinanderentwickeln wird“.29 Zu denken ist hier vor allem an die Reform des Personenstandsrechts sowie die familienrechtliche Annäherung von Ehe und nichtehelichen Lebensgemeinschaften bis hin zur sog. „Ehe für alle“. Zu Beginn dieses Jahrhunderts machte sich der staatliche Gesetzgeber unter dem Eindruck der Digitalisierung der Gesellschaft auch auf den Weg einer Reform des Personenstandsrechts. In erster Linie ging es ihm dabei um die Neuordnung der Datenerfassung durch die Einführung elektronischer Personenstandsregister. Mehr beiläufig und fast unbemerkt stellte er in einem Atemzug – gleichsam als Nebenprodukt seiner Bemühungen – das Verbot der kirchlichen Voraustrauung zur Disposition: „Eine Vorschrift zur Konkurrenz von staatlicher Eheschließung und religiöser Trauung, wie sie nach geltendem Recht in den §§ 67 und 67a PStG getroffen ist, wird für entbehrlich gehalten und ist daher im Entwurf nicht mehr vorgesehen. Die ursprünglich zur Durchsetzung der 1876 eingeführten obligatorischen Zivilehe und zur Sicherung ihres zeitlichen Vorrangs gegenüber der kirchlichen Trauung mit einer Strafvorschrift (heute: Ordnungswidrigkeit) versehene Regelung hat heute – zumindest im Verhältnis zu den beiden großen Kirchen – keine praktische Bedeutung mehr. Die eindeutige Aussage der Eheschließungsvorschrift in § 1310 BGB lässt keinen Zweifel daran, dass nur die standesamtliche Eheschließung eine Ehe im Rechtssinne begründen kann …“.30 Ein mehr als 130 Jahre währendes, noch aus der Zeit des Kulturkampfes von Staat und Kirche stammendes, verfassungsrechtlich mehr als bedenkliches Verbot (der kirchlichen Vor28 Wenn man – wie die katholische Kirche – ohnehin von der Unauflöslichkeit der Ehe ausgeht und an ihr auch konsequent festhält, muss einen z. B. die Reform des staatlichen Ehescheidungsrechts im Jahre 1977 mit dem Übergang vom Schuldzum Zerrüttungsprinzip nicht nachhaltig irritieren. 29 Ausdrücklich in diesem Sinne Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 23. 30 BT-Drucks. 16/1831, S. 33.

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austrauung) wurde damit durch einen Federstrich des Gesetzgebers obsolet.31 Dass dies das Rechtssystem der katholischen und evangelischen Kirche irritieren musste, dürfte niemanden wirklich überraschen. Umso interessanter aber, wie das kirchliche Rechtssystem diese Irritation systemimmanent verarbeitete. Die evangelischen Landeskirchen haben fast zeitgleich mit den Reformbestrebungen des staatlichen Gesetzgebers eine sog. gutachtliche Äußerung zum Thema „Soll es künftig kirchlich geschlossene Ehen geben, die nicht zugleich Ehen im bürgerlich-rechtlichen Sinne sind? Zum evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung“ in Auftrag gegeben.32 Erwartungsgemäß hat man sich dabei dafür entschieden, dass es auch nach dem Wegfall des staatlichen Verbots der kirchlichen Voraustrauung in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche keine rein kirchlich geschlossenen Ehen geben soll. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die Trauung ohne vorangegangene standesamtliche Eheschließung nicht dem evangelischen Verständnis entspreche. Gegenstand der Trauung sei das Versprechen einer bestimmten gemeinsamen Lebenspraxis, die sich anhand theologisch begründeter, in evangelisch verantworteter Weise aus der Bibel gewonnener Kriterien bestimme und bemesse. Und solange das staatliche Eherecht die Verwirklichung dieser Kriterien ermögliche, sei kein Grund ersichtlich, um von der in der lutherischen Zwei-RegimentenTheologie angelegten Funktionsteilung zwischen Staat und Kirche abzuweichen.33 Interessanterweise hat man aber in die gutachtliche Äußerung zumindest einen rechtlichen Vorbehalt aufgenommen, der weiterreichende Irritationen gleichsam antizipiert. So heißt es in der Stellungnahme aus31 Zur Reformdiskussion im Einzelnen siehe Bier, Kirchliche Ehen ohne Trauschein, Herder Korrespondenz 62 (2008), 638 ff. 32 Das Ergebnis liegt vor unter Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Soll es künftig kirchlich geschlossene Ehen geben, die nicht zugleich Ehen im bürgerlich-rechtlichen Sinne sind? Zum evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung. Eine gutachtliche Äußerung, EKD-Texte 101, 2009, passim. 33 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, ebd., S. 18; weitergehend plädiert Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 41 ff., der Mitglied der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der gutachtlichen Äußerung war, rechtspolitisch mit guten Gründen dafür, das Verbot der religiösen Voraustrauung in ein System der fakultativen Zivilehe zu überführen.

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drücklich, dass die zuvor benannten Aussagen künftig nur unter dem Vorbehalt der Änderung der rechtlichen Verhältnisse getroffen werden könnten. Ganz konkret wird dabei auf die „partielle Annäherung von Ehe einerseits und nichtehelichen Lebensgemeinschaften und weiteren Formen des Zusammenlebens andererseits im staatlichen Recht“ Bezug genommen. Diese sei aber noch nicht so weit vorangeschritten, dass letztere „in ihren Grundtypen nach gegenwärtigem Stand de jure ein Verbindlichkeitsäquivalent“ darstellten. Gegenwärtig habe die Zivilehe jedenfalls nicht aufgehört, wegen des von ihr gewährleisteten größtmöglichen Schutzes „Leitbild für alle anderen Lebensformen“ zu bleiben.34 Hier wird die Irritation des kirchlichen Rechtssystems durch die staatliche Entscheidung zur Einführung eines Lebenspartnerschaftsgesetzes bereits ansatzweise verarbeitet, ohne aber die viel tiefergehende Irritation durch die sog. „Ehe für alle“ schon absehen zu können. Hierauf wird sogleich noch zurückzukommen sein. Für die katholische Kirche ging mit der Streichung des Verbots der kirchlichen Voraustrauung gleichsam ein Herzenswunsch in Erfüllung. Aus ihrer Sicht wurde ein schmerzlicher, noch aus der Zeit des bismarckschen Kulturkampfes herrührender Eingriff in die Religionsfreiheit endlich beseitigt. Eine systemimmanente Reaktion des kirchlichen Rechtssystems ließ deshalb auch nicht lange auf sich warten. Mit Wirkung vom 1. Januar 2009 setzte die Deutsche Bischofskonferenz eine „Ordnung für kirchliche Trauungen bei fehlender Zivileheschließung“ in Kraft. Auch danach soll allerdings eine kirchliche Trauung ohne vorhergehende Zivileheschließung nur im Ausnahmefall erfolgen, wenn eine standesamtliche Eheschließung für die Brautleute unzumutbar ist. Auf jeden Fall ist bei fehlender Zivileheschließung immer das Nihil obstat des Ortsordinarius einzuholen.35 Mag deshalb auch die Irritationsverarbeitung durch das kirchliche Recht mehr symbolischer Natur gewesen sein, so lässt sie dennoch den zu keinem Zeitpunkt aufgegebenen Gestaltungsanspruch der katholischen Kirche für das Eherecht deutlich werden. Im Vergleich zur soeben dargestellten Reform des Personenstandsrechts war die von staatlicher Seite zu Beginn dieses Jahrhunderts deutlich forcierte familienrechtliche Annäherung von Ehe und nichtehelichen Lebensgemeinschaften eine wesentlich tiefergehende Irritation im Span34 35

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, ebd. KABl. 2009, 14.

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nungsverhältnis von kirchlichem und staatlichem Eherecht.36 Ausgangspunkt dieser Entwicklung war das zum 1. August 2001 in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz des Bundes, dessen Ziel es war, die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare abzubauen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihrer Partnerschaft einen rechtlichen Rahmen zu verleihen. Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft wurde dabei ein familienrechtliches Institut für eine auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft mit zahlreichen Rechtsfolgen (gemeinsame Namensführung, gegenseitige Unterhaltspflichten und -rechte wie bei Eheleuten, gesetzliches Erbrecht, Zeugnisverweigerungsrechte, Einbeziehung des Lebenspartners in die Kranken- und Pflegeversicherung etc.) geschaffen. Von Anfang an reagierten die Evangelische Kirche Deutschlands und die Katholische Kirche höchst unterschiedlich auf diese Irritation des staatlichen Rechtssystems. Auch EKD-Orientierungshilfen37 und zahlreiche Empfehlungen änderten nichts daran, dass die evangelischen Landeskirchen im Hinblick auf den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und eingetragenen Lebenspartnerschaften ein eher heterogenes Bild vermitteln. Grundsätzlich wird allgemein mehr Gleichstellung für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften befürwortet; wie weit diese allerdings im Einzelnen gehen soll, wird von Landeskirche zu Landeskirche höchst unterschiedlich beurteilt.38 Demgegenüber hat es die katholische Kirche in dieser Frage an Klarheit nicht mangeln lassen. Schon früh und immer wieder hat sie in ihren Stellungnahmen zum Lebenspartnerschaftsgesetz (z. B. vom 16. März 2000, 29. September 2000 und 17. Juli 2002) darauf hingewiesen, dass „eine Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe ein reduziertes Eheverständnis zum Ausdruck bringt und zur Norm erhebt“. Damit komme es letztlich zu einer „Entkoppelung der Rechtsinstitute Ehe und Familie“, die der besonderen Bedeutung von Ehe und 36 Siehe dazu auch Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 25 ff.; vgl. ferner Höppler, Nichteheliche Lebensgemeinschaften als Problem für das staatliche und kirchliche Recht, 1999. 37 Zum Beispiel die EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“. 38 Eindrucksvoll nachgezeichnet unter https://www.evangelisch.de/inhalte/ 111225/20-11-2014/segnung-homosexueller-bunt-wie-ein-regenbogen.

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Familie für die Gesellschaft nicht gerecht werde.39 Und sie hat ihr Eheverständnis auch konsequenterweise normativ umgesetzt. Beispielhaft dafür sei hier nur ihre „Erklärung zur Unvereinbarkeit von Lebenspartnerschaften nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz mit den Loyalitätsobliegenheiten nach der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ vom 24. Juni 2002 genannt. Darin stellt sie fest, dass das Lebenspartnerschaftsgesetz der Auffassung über Ehe und Familie, wie sie die katholische Kirche lehrt, widerspricht. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, gleich ob sie der katholischen Kirche angehören oder nicht, die eine solche Lebenspartnerschaft eingehen, würden damit gegen die für sie geltenden Loyalitätsobliegenheiten verstoßen und hätten die daraus resultierenden Rechtsfolgen zu tragen.40 Alles in allem wird man aber sowohl mit Blick auf die Position der evangelischen Landeskirchen als auch derjenigen der katholischen Kirche feststellen dürfen, dass die „Schnittmenge zwischen dem staatlichen Eherecht und traditionellen kirchlichen Vorstellungen zur Ehe erkennbar kleiner“ wird.41 Diese Tendenz ist im Nachgang zu den gegen das Lebenspartnerschaftsgesetz eingereichten Normenkontrollanträgen der Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 sogar noch verstärkt worden. So heißt es im 3. Leitsatz der Entscheidung in kaum zu übertreffender Deutlichkeit: „Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen durch ein Institut, das sich an

39 Sogar der Vatikan hat die Notwendigkeit einer Stellungnahme in dieser Frage gesehen. Siehe dazu die „Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen“ der Kongregation für die Glaubenslehre. 40 DBK, Dokument der deutschen Bischöfe vom 1. September 2002, Jahrgang 146, Art. 143. 41 So zu Recht Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 27.

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Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können.“42 Ungeachtet des Umstandes, dass die katholische Kirche diese Entscheidung sofort zum Anlass genommen hat, darauf hinzuweisen, dass damit der qualitative Unterschied zwischen der Ehe und anderen Lebensgemeinschaften „verschwimme“ und einer Verkennung der herausragenden Bedeutung der Ehe Vorschub geleistet werde,43 hat das Bundesverfassungsgericht einige Zeit später dann noch einmal nachgelegt. In der sog. Transsexuellen-Entscheidung verlangt es, unter besonderen Umständen eine gültige Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern rechtlich zu ermöglichen. Dabei ging es um einen verheirateten Transsexuellen, der sich nach der Heirat einer geschlechtsumwandelnden Operation unterziehen wollte. Hier ließ das Bundesverfassungsgericht in einer Gesamtabwägung das objektiv-rechtliche Strukturmerkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner hinter dem subjekt-rechtlichen Bestandsschutz der Ehe zurücktreten.44 Damit verblasste das Ehekonstitutivum der Verschiedengeschlechtlichkeit ein weiteres Mal.45 Vollends aufgegeben wurde dieses Eheverständnis schließlich durch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20. Juli 2017.46 Es sieht die sog. „Ehe für alle“ vor, indem § 1353 Abs. 1 BGB wie folgt neu gefasst wurde: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“ Für die bisherige eingetragene Lebenspartnerschaft sieht ein neu eingefügter § 20a des Lebenspartnerschaftsgesetzes vor: „Eine Lebenspartnerschaft wird in eine Ehe umgewandelt, wenn zwei Lebenspartnerinnen oder Lebenspartner gegenseitig persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, miteinander eine Ehe auf Lebenszeit führen zu wollen.“ 42 BVerfGE, 105, 313 ff.; siehe dazu schon eingehend Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und Eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014, S. 85 ff. m.w.N. 43 DBK, Pressemitteilung des Vorsitzenden, Kardinal Karl Lehmann, vom 17. 7. 2002. 44 BVerfGE 121, 175 ff. 45 So zu Recht erneut Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 27. 46 BGBl. 2017 I, 2787 f.

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Dieser lange vorbereitete, dann aber überraschend schnell vollzogene grundlegende Wandel des Eheverständnisses im staatlichen Recht hat das kirchliche Rechtssystem erwartungsgemäß nachhaltig irritiert, wobei die systemimmanenten Reaktionen im evangelischen und katholischen Kirchenrecht – vielleicht ebenso erwartungsgemäß – ganz unterschiedlich ausfielen. So heißt es durchaus mit Grund, dass der Umgang der evangelischen Landeskirchen mit der gleichgeschlechtlichen Ehe „bunt wie ein Regenbogen“ erscheine.47 Etwas verkürzt lassen sich im Wesentlichen drei Modelle unterscheiden: In zahlreichen Landeskirchen wird die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare der Trauung (fast) gleichgestellt. So hat die Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am 28. April 2018 ein Kirchengesetz zur Änderung der sog. Lebensordnung auf den Weg gebracht, wonach die Bezeichnung „Trauung“ künftig für alle vom Standesamt beurkundeten Lebensbündnisse gelten soll. In der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck ist die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare aufgrund einer von der Landessynode am 27. April 2018 beschlossenen Änderung ihres Traugesetzes in einem öffentlichen Gottesdienst möglich. Grundvoraussetzung für einen solchen „kirchlichen Segnungsgottesdienst anlässlich einer Eheschließung“ ist allerdings weiterhin eine staatliche Eheschließung. Die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland sieht schon seit Januar 2016 die völlige Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und verheirateten Paaren vor. Auch die Evangelische Landeskirche in Baden bekennt sich zur „Gleichwertigkeit gleichgeschlechtlicher Liebe, Sexualität und Partnerschaft“ mit der Konsequenz, dass sich gleichgeschlechtliche Paare in einem öffentlichen Gottesdienst trauen lassen können. In der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-Schlesische Oberlausitz werden Gottesdienste zur Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren bereits seit Juli 2016 den Traugottesdiensten für Ehepaare liturgisch und rechtlich gleichgestellt. Auch für die Nordkirche gilt, dass Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare in öffentlichen Gottesdiensten stattfinden. Die Evangelische Kirche der Pfalz gestattet zwar keine Traugottesdienste, aber eine Gottesdienst-Begleitung für Paare, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder Ehe leben. Sie 47 Dazu und zum Folgenden siehe insb. http://www.evangelisch.de/print/ 111225.

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können sich kirchenrechtlich verbindlich segnen lassen, was sie einer Eheschließung faktisch gleichstellt, ohne dass die beiden Sachverhalte auch begrifflich als Trauung gleichgesetzt werden. Und die Evangelischreformierte Kirche schließlich hat auf ihrer Synode im November 2017 sogar eine eigene Trauordnung für schwule und lesbische Paare beschlossen. Das zweite Modell im Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Ehe sieht eine Segnung im öffentlichen Gottesdienst vor. So verfährt z. B. die bayerische evangelische Landeskirche, die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, die Lippische Landeskirche, die Evangelische Landeskirche Mitteldeutschlands und die Evangelische Landeskirche Anhalts. In der bayerischen evangelischen Landeskirche wird aber für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare nicht der Begriff der Trauung verwendet. Auch die Bayerische Landeskirche betont, dass die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare von der Trauung zwischen Mann und Frau unterscheidbar sein müsse. Die evangelische Kirche von Westfalen differenziert sogar noch weitergehend, indem der Segnungsgottesdienst für gleichgeschlechtliche Paare typische Elemente einer Trauung enthalten soll, aber keine Amtshandlung sei und nicht Trauung heißen dürfe. Das dritte in den evangelischen Landeskirchen anzutreffende Modell des Umgangs mit gleichgeschlechtlichen Paaren geht von einer Segnung mit Betonung des Unterschieds aus. So hat die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens im Oktober 2016 beschlossen, dass „Segnungen von Paaren in Eingetragener Lebenspartnerschaft im Einzelfall auch im Gottesdienst möglich sind“, aber diese gottesdienstliche Segnungshandlung nicht als Trauung verstanden werden dürfe. In der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Oldenburg sind solche Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare sogar schon seit 2004 möglich, allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: zum einen müsse deutlich werden, dass zwei Menschen Segen zugesprochen, nicht aber ihre Partnerschaft gesegnet werde; zum anderen müsse jegliche Verwechselbarkeit mit der Trauung von Mann und Frau ausgeschlossen werden. Noch distanzierter gestaltet sich der Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren in der Württembergischen Landeskirche, der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe. Erstere verweigert eine öffentliche Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und sieht lediglich eine seelsorgerische Begleitung vor. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig spricht von

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einem „Akt der Seelsorge als nicht-öffentlichem Event“, das nicht mit einer Trauung verwechselbar sein dürfe. Letztere – die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe – lässt Segnungen im persönlichen Rahmen zu, aber nicht als öffentlicher Gottesdienst mit Glockengeläut. Nimmt man dies alles zusammen, so dürfte der bereits erwähnte Eindruck, dass der Umgang der evangelischen Landeskirchen mit gleichgeschlechtlichen Paaren so „bunt wie ein Regenbogen“ sei, kaum täuschen. Weniger wohlwollend könnte man wohl auch von einem ziemlich irritierenden normativen Flickenteppich sprechen. Demgegenüber hat die katholische Kirche – fast möchte man sagen – wie üblich auf die Irritation durch das staatliche Rechtssystem reagiert. Gleichsam im Sinne eines „no order from noise“48 hält sie beharrlich an ihrem, letztlich bis ins Mittelalter zurückreichenden Eheverständnis fest. Auch wenn dem Begriff der Ehe nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das Bild der „verweltlichten bürgerlichen Ehe“ zugrunde liege, zähle es zu den unantastbaren Strukturmerkmalen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, dass die Ehepartner verschiedengeschlechtlich sind. Wesensmerkmal der Ehe sei zudem ihr „prinzipielles Angelegtsein auf die Familie“. Zwar könne in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft in lobenswerter Weise Verantwortung füreinander übernommen werden, doch fehle es der Partnerschaft an der „natürlichen Offenheit für Nachwuchs“, auf den die Gesellschaft aber angewiesen sei.49 Aus diesen beiden Gründen hat sich die katholische Kirche schlicht dazu entschieden, das veränderte Eheverständnis im staatlichen Rechtssystem als Irritation zu begreifen, die aber keine Strukturveränderung im kirchlichen Rechtssystem erfordert. Zwar wird man nicht annehmen dürfen, dass sich das kirchliche Rechtssystem darauf verlässt, die Irritation werde als ein nur 48

In Umkehrung des bekannten, auf Heinz von Foerster zurückgehenden Selbstorganisationsprinzips der „order from noise“. 49 Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe zu drei Gesetzentwürfen zum Recht gleichgeschlechtlicher Partnerschaften vom 23. 9. 2015, S. 3 ff.; zumindest bemerkenswert in diesem Zusammenhang auch Zumbült, „Ehe für alle“ und „Drittes Geschlecht“ – (k)ein Thema für die kirchenrechtliche Praxis?, KuR 24 (2018), 66, 78, der die gleichgeschlechtliche Eheschließung in die Nähe eines kirchenrechtlichen „Wahndelikts“ rückt; grundsätzlich zum Verständnis von Ehe und Familie aus Sicht der katholischen Kirche Ohly, Ehe und Familie. Kennzeichen eines katholischen Profils in religiös pluraler Gesellschaft, in: Rees/ Müller/Ohly/Haering (Hrsg.), Religiöse Vielfalt. Herausforderungen für das Recht, 2019, S. 117 ff.

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einmaliges Ereignis mit der Zeit von selbst verschwinden, aber auch das Unterlassen einer Strukturänderung lässt sich zumindest grundsätzlich als Ausdruck der Evolutionsfähigkeit des (Rechts)Systems begreifen. Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass sich mit der Einführung der sog. „Ehe für alle“ das Eheverständnis im staatlichen und im kirchlichen Rechtssystem nunmehr vollständig auseinanderentwickelt haben,50 und dies – wenn auch mit unterschiedlicher Reaktion – wohl aus der Perspektive beider christlichen Kirchen. Als Resümee bleibt: Die Gemeinsamkeiten von Staat und Kirche im Eherecht scheinen weitgehend aufgebraucht zu sein.51 Mit Blick auf den zentralen Forschungsgegenstand dieser Untersuchung, die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht, hat sich damit alles in allem die bereits geäußerte Vermutung bestätigt, dass im Personenrecht der christlichen Kirchen das Eherecht in unterschiedlichster Weise und auf unterschiedlichsten Gebieten52 seit dem Mittelalter und bis in die Gegenwart durch besondere Irritierbarkeit gekennzeichnet ist. Nachfolgend soll dieser Eindruck – erneut mit Blick auf das Personenrecht der christlichen Kirchen – am Beispiel des kirchlichen Strafrechts erhärtet werden.

§ 9 Strafrecht Wie das kirchliche Eherecht reicht auch das kirchliche Strafrecht in seinen Wurzeln bis ins frühe Christentum zurück. Als Ausgangspunkt 50 Ebenso Bier, Kirchliche Ehen ohne Trauschein, Herder Korrespondenz 62 (2008), 638, 640, der konstatiert: „Staatliches und kirchliches Eherecht stehen nach dem Wegfall des Verbots (der sog. kirchlichen Voraustrauung, Hinzufügung des Verf.) gänzlich unverbunden nebeneinander.“; vgl. dazu auch schon Pirson, Das Auseinandertreten von kirchlichem und staatlichem Eheverständnis, in: Puza/ Kustermann (Hrsg.), Beginn und Ende der Ehe. Aktuelle Tendenzen in Kirchenund Zivilrecht, 1994, S. 99 ff. 51 Deshalb plädiert Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 41 ff. auch mit Grund für die Einführung des Systems der sog. fakultativen Zivilehe. 52 Siehe dazu schon Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, 2. Aufl., 1994, § 28, S. 787, 804 ff. „Kollisionsbereiche von staatlichem und kirchlichem Recht in der Gegenwart“.

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desselben wird allgemein an Matthäus 18, 15 – 18 des Neuen Testaments angeknüpft.53 Dem kirchlichen Strafrecht kamen dabei für die Kirche als Organisation zwei Funktionen zu: zum einen sollte es das „Funktionieren des Gemeinschaftslebens“, zum anderen die „Heiligkeit und Heilsfunktion“ der Kirche sichern. Einen festen Kanon kirchlicher Straftaten gab es nicht und wie selbstverständlich bediente sich die Kirche des Staates als Vollzugshelfer bei der Vollstreckung der von ihren Gerichten gefällten Strafurteile.54 Noch bewegten sich Staat und Kirche im Strafrecht offensichtlich in großer Einigkeit und weitgehend synchron.55 Das änderte sich, als ab dem 4. Jahrhundert zunehmend germanische Rechtselemente das kirchliche Strafrecht irritierten. Zunächst stellte sich der Staat zwar weiterhin bereitwillig als Vollzugshelfer für das kirchliche Strafrecht zur Verfügung, doch schon ab dem 6. Jahrhundert bemühte sich die Kirche darum, die staatliche Gerichtsbarkeit (über den Klerus) deutlich zurückzudrängen. Mehr und mehr gewann das kirchliche Strafrecht in den folgenden Jahrhunderten unter sich ständig verändernden Bedingungen von Politik und Religion an Eigenständigkeit und

53 „Wenn dein Bruder – und das gilt entsprechend für die Schwester – ein Unrecht begangen hat, dann geh hin und stell ihn unter vier Augen zur Rede. Wenn er mit sich reden lässt, hast du ihn zurückgewonnen. Wenn er aber nicht auf dich hört, dann geh wieder hin, diesmal mit ein oder zwei anderen; denn jede Sache soll ja aufgrund der Aussagen von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Wenn er immer noch nicht hören will, dann bring die Angelegenheit vor die Gemeinde. Wenn er nicht einmal auf die Gemeinde hört, dann behandle ihn wie einen Ungläubigen oder Betrüger. Ich versichere euch: Was ihr hier auf der Erde für verbindlich erklären werdet, das wird auch vor Gott verbindlich sein; und was ihr hier für nicht verbindlich erklären werdet, das wird auch vor Gott nicht verbindlich sein.“ 54 Rees, Evolution im Strafrecht der römisch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 165, 166, 170 f. 55 Ganz allgemein zur Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Strafrecht siehe Eser, Strafrecht in Staat und Kirche. Einige vergleichende Beobachtungen, in: Schwab/Giesen/Listl/Strätz (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, 1989, S. 493 ff.; vgl. ferner in historischer Perspektive recht kurz Müller, Religion und Strafrecht – Christliche Einflüsse auf Normenbestand, Dogmatik und Argumentationsstrukturen des deutschen Strafrechts, 2008, S. 4 ff.

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Autonomie.56 In gewissem Sinne lässt sich dabei durchaus von einem evolutorischen Reifungsprozess reden. Dieser findet im hohen Mittelalter mit dem klassischen kanonischen Strafrecht, insbesondere in seiner durch das Decretum Gratiani (1125 bis 1140) und die Dekretalensammlung Gregor IX. (1234) vermittelten Form, seinen ersten Abschluss. Kennzeichnend dafür sind vor allem die präzise Ausdifferenzierung kirchlicher Strafen (excommunicatio maior, excommunicatio minor, Interdikt, Degradation, Deposition, Suspension) und die Bemühungen um die konkrete Ausgestaltung des kirchlichen Strafverfahrens.57 Noch nie zuvor hatte das kirchliche Strafrecht eine solch gründliche Durchformung gefunden, die die Kanonistik deshalb auch nachhaltig irritierte und zur vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihm anregte.58 In der Folgezeit erfuhr das kirchliche Strafrecht für lange Zeit kaum grundlegende Veränderungen. Anderes gilt es hingegen für das staatliche Strafrecht zu berichten. Mit der peinlichen Halsgerichtsordnung, der „Constitio Criminalis Carolina“ Karls V. (1532), entsteht in der frühen Neuzeit das erste Reichsstrafgesetzbuch, wenn auch nur mit subsidiärer Geltung im Heiligen Römischen Reich. Insbesondere mit der Reforma56

Ausführlich dazu Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte, 1993, S. 124 ff.; ders., Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: Haering/Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015, § 105, S. 1569 ff.; ders., Straftat und Strafe, ebd., § 106, S. 1591 ff.; ders., Einzelne Straftaten, ebd., § 107, S. 1615 ff.; ders., Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 23 ff.; Sebott, Das Kirchliche Strafrecht. Kommentar zu den Kanones 1311 – 1399 des Codex Iuris Canonici, 1992, passim; de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., 2017, § 22, S. 236 ff.; vgl. ferner Ling, Zum gegenwärtigen kirchlichen Strafrecht, JZ 2004, 596 ff. 57 Grundlegend dazu Rees, Die Strafgewalt der Kirche, S. 130 ff. und vor allem Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, 2006, S. 234 ff. 58 Soweit es dazu überhaupt noch eines Nachweises bedarf, siehe nur Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregor IX. Systematisch dargestellt auf Grund der handschriftlichen Quellen, 1935; eingehend und instruktiv dazu Hense, Kanonistik und Strafrecht: Anmerkungen zu einer Verhältnisbestimmung mit Blick auf Stephan Kuttners Klassiker „Kanonistische Schuldlehre“ (1935), in: Beckmann/Duttge/Gärditz/Hillgruber/Windhöfel (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Herbert Tröndle, i. E.

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tion kommt es dann von Seiten des Staates zu einer weiteren deutlichen Relativierung der kirchlichen Strafgerichtsbarkeit. So konnte etwa der Staat den kirchlichen Richter zur Aufhebung eines Urteils zwingen, das aus staatlicher Sicht ungerecht erschien. Zudem verzichtete die Kirche auf Strafen rein weltlichen Charakters.59 Der Gedanke der Kodifikation eines öffentlichen (staatlichen) Strafrechts wird schließlich mit dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 wieder aufgegriffen. Dieses mündete 1870 in das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, das 1871 zum „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ führte. Etwa zur selben Zeit macht sich die katholische Kirche auf den Weg zur Vorbereitung des Ersten Vatikanischen Konzils (1869). Dabei wurde auch der Wunsch zahlreicher Bischöfe vernehmlich, das kirchliche Strafrecht zeitgemäß zu vereinfachen. Dem sollte die von Pius IX. verantwortete Konstitution „Apostolicae Sedis“ (1869) Rechnung tragen. Sie vermochte dies aber allenfalls höchst ansatzweise.60 Auch das Erste Vatikanische Konzil selbst brachte insoweit keinen wirklichen Durchbruch. Dies blieb mit einigem zeitlichen Abstand Pius X. vorbehalten, der 1904 den Auftrag zu einer kompletten Neukodifikation des kirchlichen Rechts erteilte. Dieser wurde durch den Codex Iuris Canonici vom 27. Mai 1917 erfüllt. Ein wirkliches System des kirchlichen Strafrechts ist durch den Codex Iuris Canonici von 1917 hingegen nicht entstanden. Sein Beitrag zur Evolution des kirchlichen Strafrechts lag vielmehr in der Zusammenfassung und Neuordnung des damals geltenden, ziemlich unübersichtlich verstreuten Rechtsstoffes.61 Konzeptionell hat sich der CIC 1917 offensichtlich von den staatlichen Strafgesetzbüchern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltig irritieren lassen. Fast schimmert schon das Modell eines Allgemeinen und Besonderen Teils des staatlichen Strafrechts durch, wenn sich der erste und zweite Teil des CIC 1917 mit dem Begriff der Straftat, der Einteilung der verschiedenen Straftaten, der Zurechenbarkeit, der Schuld, den rechtlichen Folgen einer Straftat, der Tatteilnahme und dem Versuch einer Straftat sowie der Lehre von den Strafen 59 Siehe dazu insb. Rees, Die Strafgewalt der Kirche, S. 146 ff.; vgl. auch ders., Evolution im Strafrecht der römisch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 165, 185 f. 60 Speziell zur „Apostolicae Sedis“ siehe ders., Die Strafgewalt der Kirche, S. 150 ff. 61 Ders., ebd., S. 173 m.w.N.

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und Strafarten befassen, während sich der dritte Teil des CIC 1917 in neun Titeln den einzelnen Straftaten und ihrer Bestrafung widmet. Und dennoch wies der CIC 1917 wohl solche Defizite auf, dass schon unmittelbar bei seinem Erlass der Ruf nach einer Reform der Reform laut wurde.62 Diese ließ dann aber doch immerhin bis zum 25. Januar 1959 auf sich warten – einem mit gerade einmal etwas mehr als vierzig Jahren in der Zeitrechnung der katholischen Kirche fast atemraubend kurzen Zeitraum. An diesem Tag kündigte Johannes XXIII. neben einem ökumenischen Konzil auch eine Anpassung des CIC 1917 an die „Gegebenheiten der heutigen Zeit“ an. Von dieser grundlegenden Reform des CIC 1917, die einer besonderen Codex-Reformkommission übertragen wurde, profitierte auch das kirchliche Strafrecht, selbst wenn es zweifellos nicht zum Schwerpunkt der Reformbestrebungen zählte. So erfuhr das kirchliche Strafrecht insbesondere durch den Leitsatz 9 des von der Codex-Reformkommission verabschiedeten Dokuments „Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant“ eine deutliche Aufwertung, indem ausdrücklich festgestellt wurde, dass der Kirche als einer in dieser Welt existierenden vollkommenen Gesellschaft (societas perfecta) die Strafgewalt nicht abgesprochen werden könne. Gleichzeitig wurde aber auch eine deutliche Reduzierung der Strafen gefordert. Mehr als zwanzig Jahre Reformkommissionsarbeit auf den Gebieten des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts63 sollten dann noch vergehen, bis 1983 schließlich der reformierte und nach wie vor gültige Codex Iuris Canonici in Kraft treten konnte. Die schon angesprochene, im CIC 1917 bereits strukturell angelegte Zweiteilung des kirchlichen Strafrechts in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil ist im CIC 1983 beibehalten worden. Auch die von der Codex-Reformkommission geforderte deutliche Reduzierung der strafrechtlichen Normen ist realisiert worden. Während das staatliche Strafrecht zur selben Zeit immer neue Strafrechtsnormen schuf, schmolz der strafrechtliche Normenbestand von 101 Canones im CIC 1917 auf 36 Canones im CIC 1983 zusammen. 62

Ders., ebd., S. 324 m.w.N. in Fn. 3 verweist in diesem Zusammenhang auf die von Pietro Gasparri, dem geistigen Vater des CIC 1917, angedeutete Möglichkeit eines „Codex repetitae praelectionis“. 63 Zu den Reformbestrebungen im Einzelnen siehe die „Schema documenti quo disciplina sanctionum seu poenarum in Ecclesia Latina denuo ordinatur“ (1973) und „Schema canonum de modo procedendi pro tutela iurium seu de processibus (1976); dazu eingehend ders., ebd., S. 334 ff. m.w.N.

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Aber nicht nur von der Struktur und vom Umfang her betrachtet, auch inhaltlich hat sich das kirchliche Strafrecht im CIC 1983 seinen Selbststand gegenüber dem staatlichen Strafrecht bewahrt. So wird deutlich Distanz gegenüber dem Modell der staatlichen Strafgewalt gewahrt, wenn Can. 1311 es als das angeborene und eigene Recht der Kirche bezeichnet, straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen. Gleiches gilt für die im CIC 1917 noch vorhandene,64 im CIC 1983 aber aufgegebene Möglichkeit, bei der Verfolgung kirchlicher Straftaten staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und auch der Verzicht des kirchlichen Strafrechts im CIC 1983 auf rein weltliche Strafen unterstreicht schließlich noch einmal den aus eigenem Recht hergeleiteten kirchlichen Strafanspruch. Andererseits belegt Can. 1321 § 2 CIC 1983 aber auch, dass sich das kirchliche Strafrecht offensichtlich vom staatlichen Strafrecht hat irritieren lassen. So heißt es in der Vorschrift: „Von einer durch Gesetz oder Verwaltungsbefehl festgesetzten Strafe wird betroffen, wer das Gesetz oder den Verwaltungsbefehl überlegt verletzt hat; wer dies aber aus Unterlassung der gebotenen Sorgfalt getan hat, wird nicht bestraft, es sei denn, das Gesetz oder der Verwaltungsbefehl sehen anderes vor.“ Damit wird das staatliche Legalitätsprinzip auch im kirchlichen Strafrecht zur Anwendung gebracht, gleichzeitig aber mit der regelmäßigen Beschränkung des kirchlichen Strafanspruchs auf Vorsatzstraftaten Distanz gegenüber dem staatlichen Strafrecht gewahrt, dass durch einen Bedeutungszuwachs der Fahrlässigkeitsstraftaten gekennzeichnet ist. Ohne an dieser Stelle auf inhaltliche Einzelheiten des kirchlichen Strafrechts im VI. Buch des CIC 1983 eingehen zu müssen, darf insgesamt wohl mit Grund festgestellt werden, dass das Normengefüge in Wissenschaft und Praxis äußerst kontroverse Aufnahme gefunden hat. Für die einen ist der kirchliche Gesetzgeber seiner Aufgabe, im Strafrecht „die rechte Mitte zwischen starrem Traditionalismus und leichtfertigem Progressismus“ zu finden, gerecht geworden. Ein funktionierendes Strafrecht müsse sich den sich stets wandelnden Verhältnissen anpassen, was dem kirchlichen Gesetzgeber gelungen sei. Demzufolge sei das Strafrecht des CIC 1983 die „zeitgemäße und ekklesiologisch legitimierte Fortentwicklung und damit eine weitere Stufe in der Entwicklung des kanonischen Rechts“.65 Für die anderen bewegt sich das kirchliche Strafrecht – 64 65

Can. 2198 CIC 1917. So ausdrücklich Rees, Die Strafgewalt der Kirche, S. 491 f.

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der Gegensatz könnte kaum größer sein – irgendwo „zwischen Straffung und Verstümmelung“66 oder sei nur noch ein „Schatten seiner selbst“.67 Ein wirklich neues Konzept, das dem Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils entspreche und den tatsächlichen Gegebenheiten des kirchlichen Lebens und Dienstes Rechnung trage, sei nicht gelungen. Vielmehr handele es sich letztlich beim Strafrecht des CIC 1983 mehr oder weniger nur um eine „Zusammenstutzung des bisherigen Normenkomplexes“.68 Auch wird eine „gewisse ekklesiologische Konzeptionslosigkeit“ gerügt69 und schließlich sogar in Frage gestellt, ob dem kirchlichen Strafrecht im CIC 1983 überhaupt „eine praktikable Zukunft“ beschieden sei.70 Man wird die Kontroverse, ob der Codex-Reformkommission mit dem VI. Buch über die „Strafbestimmungen in der Kirche“ im CIC 1983 nun wirklich ein großer Wurf gelungen ist, gar nicht entscheiden müssen. Eines aber dürfte feststehen: nach dem II. Vatikanischen Konzil hat das Strafrecht in der Kirche „eher ein Schattendasein“ geführt.71 Vermutlich wäre es sogar keine Fehleinschätzung, zu behaupten, dass es in der kirchlichen Praxis schlicht und ergreifend nicht angewendet wurde72 und auch in der 66 Pulte, Vaticanum II und Strafrechtsreform – Was war und was die Väter wollten, in: ders. (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 167, 179 ff. 67 May, Kirchenrechtsquellen I, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 19, 2000, S. 1 ff. 68 Paarhammer, Das spezielle Strafrecht des CIC, in: Lüdicke/Paarhammer/ Binder (Hrsg.), Recht im Dienste des Menschen. Eine Festgabe. Hugo Schwendenwein zum 60. Geburtstag, 1986, S. 403, 404. 69 Müller, Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici von 1983?, in: Im Gespräch mit dem dreieinen Gott. Elemente einer trinitarischen Theologie. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wilhelm Breuning, hrsg. v. Böhnke/ Heinz, 1985, S. 481, 489. 70 Aymanns, Einführung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche, in: Theologisches Jahrbuch 1984, 1984, S. 275. 71 So Graulich, Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 11. 72 Siehe dazu Benedikt VI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit, 2010, S. 42 f. „Dazu hat mir der Erzbischof von Dublin etwas sehr Interessantes gesagt. Er sagte, dass das kirchliche Strafrecht bis in die späten 50er Jahre hinein funktioniert hat; es war zwar nicht vollkommen – vieles ist daran zu kritisieren –, aber immerhin: Es wurde angewandt. Doch seit Mitte der 60er Jahre

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Kanonistik nicht gerade hoch im Kurs stand.73 Dafür mag die nach dem II. Vatikanischen Konzil um sich greifende „Rechtsverdrossenheit“ ursächlich gewesen sein,74 an der Tatsache selbst ändert dies hingegen nichts. Geändert hat sich an diesem Befund erst etwas nach der Aufdeckung erster Fälle sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche im Jahre 2010. Mittlerweile ist daraus ein Missbrauchsskandal geworden, der letztlich beide christlichen Kirchen betrifft und größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Für unseren Forschungsgegenstand, die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht, ist er von besonderer Relevanz, weil sich zunächst einmal sowohl das weltliche Strafrecht als auch das kirchliche Strafrecht mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung befassen. Aber nicht nur das: staatliches und kirchliches Strafrecht haben im Nachgang zur Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der Rechtsdogmatik (Strafrechtslehre, Kanonistik) und Rechtspraxis (Strafrechtsgesetzgebung, Kirchliche Rechtsetzung) eine Resonanz entfaltet, die das Thema des Umgangs mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Staat und Kirche als geradezu prädestiniert erscheinen lässt, um an diesem Beispiel die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht nachzuzeichnen. Dabei sei allerdings vorab noch einmal kurz unser Forschungsansatz vergegenwärtigt. Er unterscheidet sich ganz grundsätzlich von der klassischen Kontroverse, die unter den Vorzeichen von Modernität und Säkularität um das Verhältnis von weltlich und geistlich oder staatlichem und kirchlichem Recht geführt wird. Sie kreist um zwei fast gleichermaßen wirkungsmächtige Pole: „Eine Gruppe betont in höherem Maße die Kontinuitätslinien bzw. Interdependenzen zwischen kirchlichem und weltlichem Rechtskreis, während die andere – nicht selten mit der philosophischen Referenz Hans Blumenberg – die ,Legitimität der Neuzeit‘ profiliert und stärker das disruptive Moment herausstellt, bei dem die ursprünglichen kirchlichen Rechtskonzepte nicht in weltlich-rechtliche wurde es einfach nicht mehr angewandt. Es herrschte das Bewusstsein, die Kirche dürfe nicht Rechtskirche, sondern müsse Liebeskirche sein; sie dürfe nicht strafen.“ 73 In diesem Sinne auch Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 23. 74 So Graulich, Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 11.

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Ordnungskonfigurationen transformiert, sondern vielmehr durch diese substituiert worden seien.“75 Diesem Dualismus von Transformation und Substitution setzen wir den Gedanken der Irritation entgegen. Irritationen ereignen sich ständig im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander, in unserem Kontext im Verhältnis von Politik, Religion und Recht. Sie vermögen aber die beteiligten Funktionssysteme nicht zu determinieren.76 Diese befinden vielmehr im Netzwerk ihrer eigenen Operationen und gebunden an ihre systemeigenen Strukturen darüber, ob und wie auf die Irritation zu reagieren ist. Recht und Religion werden lediglich zur Fortsetzung ihrer systemeigenen autopoietischen Operationen angeregt und bewahren sich so ihre Evolutionsfähigkeit. Zu dieser Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht nunmehr im Einzelnen am Beispiel des schon angesprochenen Missbrauchsskandals der katholischen Kirche.77 Staatliches und kirchliches Strafrecht befassen sich gleichermaßen mit dem Sexualstrafrecht. Dabei übernahm erstaunlicherweise bis zum Hochmittelalter das kirchliche Recht die Sanktionierung abweichenden Sexualverhaltens. Erst danach bildete sich allmählich ein staatliches Se-

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So treffend Hense, Kanonistik und Strafrecht: Anmerkungen zu einer Verhältnisbestimmung mit Blick auf Stephan Kuttners Klassiker „Kanonistische Schuldlehre“ (1935), in: Beckmann/Duttge/Gärditz/Hillgruber/Windhöfel (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Herbert Tröndle, i. E., I. 76 Siehe demgegenüber Gutmann, Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 295 ff. 77 Dass sich die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht am Beispiel des Missbrauchsskandals der Katholischen Kirche am besten nachzeichnen lässt, bedeutet nicht, dass es nicht noch andere geeignete Beispiele gibt. Zu nennen wäre hier z. B. vor dem Hintergrund der Angriffe auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahre 2015 und zuvor auf die dänische Zeitung Jyllands-Posten wegen des Abdrucks von Mohemmed-Karikaturen die Kontroverse um das Blasphemieverbot. Siehe dazu aus historischer Perspektive Schwerhoff, Ein Zusammenprall der Kulturen?, FAZ v. 11. 2. 2019, Nr. 35, S. 8 und unter dem Gesichtspunkt der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht Bingener/Bubrowski, Der lange Schatten des Blasphemieverbots, FAZ v. 16. 1. 2015, Nr. 13, S. 10; Schmidthäuser, Die Gotteslästerung im Wandel der Zeit, ZjS 2018, 403 ff., 549 ff.; Mückl, Blasphemie aus der Sicht des Christentums, in: Rees/Müller/Ohly/ Haering (Hrsg.), Religiöse Vielfalt. Herausforderungen für das Recht, 2019, S. 91 ff.

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xualstrafrecht heraus.78 Der Schutz Minderjähriger gegen Missbrauch in Abhängigkeitsverhältnissen findet sich erstmalig, allerdings noch höchst ansatzweise, im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794. Daran änderte sich auch mit dem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 relativ wenig. Vielmehr intensiviert sich die Diskussion um ein eigenständiges Sexualstrafrecht letztlich erst in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Einen wirklichen Schritt nach vorne unternahm dabei das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973, das einen eigenen Abschnitt „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ ins Strafgesetzbuch einführte. In ihm ist auch zum ersten Mal eine wirkliche Ausdifferenzierung einzelner Tatbestände zum Schutz Minderjähriger vor Missbrauch zu finden. In der Form, in der wir heute eine Sanktionierung von „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ kennen, sollte es jedoch noch bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dauern, bevor insoweit grundlegende Fortschritte zu verzeichnen waren.79 Mit der Jahrtausendwende verfiel der Strafgesetzgeber sodann mehr und mehr einem Reformaktivismus, wobei die Bewertung dieser zahlreichen Reformen in der Strafrechtswissenschaft durchaus schwankt. Die einen sehen die Liberalisierung des Sexualstrafrechts, vor allem durch das 4. Strafrechtsänderungsgesetz von 1973, nach wie vor gewahrt, die anderen befürchten eine zunehmende Paternalisierung des Sexualverhaltens. Allgemein ist aber in den letzten zwei Jahrzehnten im Hinblick auf den „Kampf“ gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern (insb. gegen Kinderpornographie) eine rege gesetzgeberische Aktivität festzuhalten. Inwieweit dies auch mit der Gelegenheit zur rechtspolitischen Profilierung zusammenhängen mag, kann hier dahingestellt bleiben.80 Im Strafrecht der katholischen Kirche hat es nicht an Normen gefehlt, die den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker unter Strafe stellen. So sieht schon Canon 2359 § 2 CIC 1917 – etwas frei übersetzt – vor, dass ein Kleriker, der sich mit Minderjährigen unter 16 Jahren schwer versündigt, suspendiert, als infam erklärt, jedes Amtes, jedes Benefiziums, jeder Dignität und überhaupt jeder Anstellung enthoben und in schweren 78 Siehe dazu Hörnle, Vorbemerkungen zu den §§ 174 ff., in: Leipziger Kommentar zum Strafrecht, 12. Aufl., 2010, Vor § 174 Rn. 1. 79 Siehe dazu eingehend dies., ebd., Rn. 12 ff. m.w.N. auf die einzelnen Gesetzgebungsreformen. 80 So angedeutet durch dies., ebd., Rn. 26 m.w.N. in Fn. 49.

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Fällen mit Dienstenthebung bestraft werden soll.81 Ähnlich formuliert auch Canon 1395 § 2 CIC 1983: „Ein Kleriker, der sich auf andere Weise gegen das sechste Gebot des Dekalogs verfehlt hat, soll, wenn nämlich er die Straftat mit Gewalt, durch Drohungen, öffentlich oder an einem Minderjährigen unter sechzehn Jahren begangen hat, mit gerechten Strafen belegt werden, gegebenenfalls die Entlassung aus dem Klerikerstand nicht ausgenommen.“ Auf diese Norm hat auch Papst Johannes Paul II. mit seinem Motu Proprio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“ (SST) aus dem Jahr 2001 ausdrücklich Bezug genommen, indem er den sexuellen Missbrauch eines Minderjährigen unter achtzehn Jahren in die Liste der der Glaubenskongregation zur Behandlung vorbehaltenen Straftaten aufnahm.82 Und sogar die Deutsche Bischofskonferenz erließ schon im Jahre 2002 (!) Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.83 Ausweislich des Vorworts zu diesen Leitlinien waren den deutschen Bischöfen bereits zum damaligen Zeitpunkt Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche bekannt; man räumte ein, nicht richtig reagiert zu haben, und sich auf den Weg der Aufarbeitung dieser Fälle machen zu wollen.84 Offensichtlich hat es demnach nicht am Normenbestand gefehlt, um gegen sexuellen Missbrauch durch Geistliche vorzugehen. Das Problem dürfte vielmehr der mangelnde Vollzug des geltenden kirchlichen Strafrechts gewesen sein. Unter dem Eindruck des kaum vorstellbaren Umfangs und der Reichweite des im Jahre 2010 aufgedeckten Missbrauchs in der katholi81 Canon 2359 § 2 in lateinischer Sprache formuliert wie folgt: „Si delictum admiserint contra sextum decalogi praeceptum cum minoribus infra aetatem sexdecim annorum, vel adulterium, stuprum, bestialitatem, sodomiam, lenocinium, incestum cum consanguineis aut affinibus in primo gradu exercuerint, suspendantur, infames declarentur, quolibet officio, beneficio, dignitate, munere, si quod habeant, priventur, et in casibus gravioribus deponantur.“ 82 Siehe dazu insb. Rees, Sexuelle Übergriffe durch Kleriker. Die Rechte von Opfern und Tätern gemäß dem Strafrecht der römisch-katholischen Kirche und neuere Entwicklungen, in: Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte, 2011, S. 287, 302 ff. 83 Zur Reaktion der Bischofskonferenzen weltweit siehe ders., ebd., S. 306 ff. 84 Ders., ebd., S. 287 ff.; Lüdicke, Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger. Eine Problemanzeige, in: Haering/Hirnsperger/Katzinger/ Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag, 2012, S. 619 ff.

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schen Kirche hat der kirchenstrafrechtliche Normenbestand sodann eine bis dahin unbekannte beachtliche Ausweitung und Vertiefung erfahren. Dabei treten – im Einzelnen sogleich darzustellende – nachhaltige Irritationen des kirchlichen Strafrechtssystems durch das staatliche Strafrecht zu Tage. Nur wenige Monate nach Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche bat Papst Benedikt XVI. im Juni 2010 die betroffenen Opfer um Vergebung und versprach, alles zu tun, um solchen Missbrauch zukünftig auszuschließen.85 Auch die Deutsche Bischofskonferenz schloss sich dem inhaltlich vollumfänglich an und bekräftigte dabei, keinen Rechtsraum losgelöst vom staatlichen Recht zu beanspruchen. Die Bundesjustizministerin nahm dies zum Anlass, eine Anzeigepflicht bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs zu fordern. Dies wurde von den deutschen Bischöfen allerdings zurückgewiesen, da eine solche Anzeigepflicht nicht im Interesse der Opfer liegen könne. Sie würde vielmehr für die Opfer die Schwelle erhöhen, sich zu melden.86 Normativ traten noch im Jahre 2010 die von der Kongregation für die Glaubenslehre erlassenen „Veränderungen in den Normae de gravioribus delictis die der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehalten sind“ (Normae 2010) in Kraft. Sie wurden erstmals sogar amtlich und öffentlich promulgiert. Während die Normae 2001 im Abschnitt „Straftat gegen die Sitten“ nur einen Straftatbestand kannten,87 nehmen die Normae 2010 eine deutliche Erweiterung und Modifizierung vor. So gehören gemäß Art. 6 § 1 Normae 2010 zu den der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehaltenen schwerwiegenderen Vergehen gegen die Sitten: 1. Die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das sechste Gebot mit einem Minderjährigen unter achtzehn Jahren; bezüglich dieser Straftat wird dem Minderjährigen eine Person gleichgestellt, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist, 2. Der Erwerb, die Aufbewahrung und die Verbreitung pornographischer Bilder von Minderjährigen unter vierzehn Jahren in jedweder Form und mit jedwedem Mittel durch einen Kleriker 85 Dazu m.w.N. Rees, Sexuelle Übergriffe durch Kleriker. Die Rechte von Opfern und Tätern gemäß dem Strafrecht der römisch-katholischen Kirche und neuere Entwicklungen, in: Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte, 2011, S. 287, 312 m. Fn. 113. 86 Dazu wiederum m.w.N. ders., ebd., S. 314 f. m. Fn. 122 – 124. 87 Er betraf einen Teil des Canon 1395 § 2 CIC 1983, der sich zum sexuellen Missbrauch verhielt.

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in übler Absicht.88 Gemäß § 2 der Vorschrift soll ein Kleriker, der die Straftaten nach § 1 begangen hat, je nach Schwere des Verbrechens bestraft werden, die Entlassung oder Absetzung nicht ausgeschlossen. Des Weiteren unterliegt nach Art. 7 § 1 Normae 2010 – unbeschadet des Rechts der Kongregation für die Glaubenslehre, von der Verjährung in einzelnen Fällen zu derogieren – die strafrechtliche Verfolgung der Straftaten, die der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehalten sind, einer Verjährungsfrist von zwanzig Jahren.89 Und schließlich muss der Ordinarius oder Hierarch, wann immer er eine mindestens wahrscheinliche Nachricht über eine schwerwiegendere Straftat erhält, nach Durchführung einer Voruntersuchung die Kongregation für die Glaubenslehre darüber informieren (Art. 16 Satz 1 Normae 2010). Die Kongregation für die Glaubenslehre weist sodann nach dem Studium der Angelegenheit den Bischof an, wie weiter zu verfahren ist. Eine Anzeigepflicht gegenüber staatlichen Stellen findet sich aber auch weiterhin nicht in den Normae 2010. Zur Umsetzung der Normae 2010 auf der Ebene der Bischofskonferenzen hat die Kongregation für die Glaubenslehre ein „Rundschreiben, um den Bischofskonferenzen zu helfen, Leitlinien für die Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker zu erstellen (Mai 2011)“ an die einzelnen Bischofskonferenzen gerichtet. Darin wird auch die „Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden“ in Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger thematisiert. Die Kongregation für die Glaubenslehre erkennt insoweit ausdrücklich an, dass der sexuelle Missbrauch Minderjähriger nicht nur eine Straftat nach kanonischem Recht, sondern auch ein Verbrechen darstellt, das staatlicherseits verfolgt wird. Es sei wichtig, mit den staatlichen Behörden unter Beachtung der jeweiligen Kompetenzen zusammenzuarbeiten. Insbesondere seien die staatlichen Rechtsvorschriften bezüglich einer Anzeigepflicht für solche Verbrechen immer zu beachten. Allerdings dürfe das Forum internum des Bußsakraments nicht verletzt werden. Entsprechendes Partikularrecht auf der Ebene der Bischofskonferenzen ist nach Auffassung der Kongregation 88

Insoweit hat sich der kirchliche Strafgesetzgeber offensichtlich vom § 184 b StGB irritieren lassen. 89 Zum Zusammenspiel von staatlichem und kirchlichem Recht am Beispiel der Verjährung siehe instruktiv Ling, Rettungsversuche. Zum Einfluss des weltlichen auf das kirchliche Strafrecht durch die Anwendung der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 147, 161 ff., 164 ff.

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für die Glaubenslehre als Ergänzung, nicht aber als Ersatz der universalkirchlichen Gesetzgebung zu verstehen. In Umsetzung dieses Rundschreibens hat die Deutsche Bischofskonferenz im September 2013 „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ erlassen. Darin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Leitlinien sowohl die Bestimmungen des kirchlichen Rechts wie auch des weltlichen Rechts berücksichtigen. Für den Begriff des sexuellen Missbrauchs beziehen sie sich „sowohl auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt sowie weitere sexualbezogene Straftaten des Strafgesetzbuchs (StGB) als auch auf solche nach can. 1395 § 2 CIC in Verbindung mit Art. 6 § 1 SST, nach can. 1387 CIC in Verbindung mit Art. 4 § 1 n.4 SSTwie auch nach can. 1378 § 1 CIC in Verbindung mit Art. 4 § 1 n.1 SST, soweit sie an Minderjährigen oder Personen begangen werden, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist (Art. 6 § 1 n.1 SST)“.90 Offensichtlich lag angesichts „der weitgehend unbrauchbaren Tatbestandsbestimmung nach kirchlichem Recht (c. 1395 § 2 CIC, Art. 6 § 1 n.1 SST)“ eine Übertragung des Begriffsgefüges zum sexuellen Missbrauch im staatlichen Strafrecht nahe.91 Andererseits fällt aber im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz auch eine deutliche Diskrepanz zwischen dem staatlichen und kirchlichen Strafrecht auf. Während für das staatliche Strafrecht die sexuelle Selbstbestimmung den Schutzbereich der Sexualdelikte darstellt (bei Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit einer ungestörten Persönlichkeitsentwicklung auch im sexuellen Bereich), geht es dem kirchlichen Strafrecht um Straftaten gegen besondere, aus dem Klerikerstand erwachsende Verpflichtungen. 90

DBK, Aufklärung und Vorbeugung – Dokumente zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, 2. Aufl., 2014, S. 16, 19 (Leitlinie Nr. 2); kritisch dazu Hallermann, Präzisierung und Erleichterung? Die Überarbeitung der Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der DBK, KuR 2013, 178 ff.; ders., Kunst kommt von Können. Betrachtungen zur Gesetzgebungskunst am Beispiel der Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, AfkKR 182 (2013), 386 ff. 91 So ausdrücklich Ling, Rettungsversuche. Zum Einfluss des weltlichen auf das kirchliche Strafrecht durch die Anwendung der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 147, 149.

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Diesbezüglich ist mit Grund festgestellt worden, „dass das kanonische Recht die Perspektive des Opfers, für das die Missbrauchstat eine Verletzung seiner sexuellen Integrität und seiner Personenwürde bedeutet, nicht kennt“.92 Es bleibt insoweit abzuwarten, ob diese Erkenntnis zumindest mittel- und langfristig zu einer Korrektur der Einordnung der Sexualdelikte auf dem Gebiet des kanonischen Rechts führen wird. Gegenwärtig wird man jedenfalls den Vorwurf, dass die Perspektive des kirchlichen Strafrechts mehr der „Imageschutz der Kirche“ als der Rechtsschutz der Betroffenen sei, nicht für gänzlich abwegig halten dürfen.93 Mit der ebenfalls im September 2013 verabschiedeten „Rahmenordnung – Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ haben die o.g. Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch weitere Konkretisierung erfahren. Die Rahmenordnung dient dazu, eine abgestimmte Vorgehensweise im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz zu gewährleisten. Zugleich soll sie Grundlage für die von den Diözesanbischöfen für ihre jeweilige Diözese zu erlassenden Regelungen sein. Inhaltlich deckt sich die Rahmenordnung mit den Leitlinien; ausdrücklich wird in ihr darauf hingewiesen, dass die „Bestimmungen sowohl des kirchlichen wie auch des weltlichen Rechts“ zum Umgang mit sexuellem Missbrauch Anwendung finden.94 Schließlich ist im Januar 2014 zur Umsetzung der Rahmenordnung und zur Etablierung von institutionellen Schutzkonzepten in den unterschiedlichen kirchlichen Einrichtungen noch eine umfängliche „Handreichung zur Rahmenordnung – Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ ergangen.95 Nimmt man dies alles zusammen, so wird man nicht behaupten können, dass es im diözesanen Partikularrecht ein Defizit im 92 Ders., ebd., S. 152 m. Fn. 16; eingehend dazu Pulte, Strafanspruch des Staates – Strafanspruch der Kirche. Der juristische Umgang mit den delicta graviora. Rechtsdogmatische Anmerkungen, in: Hallermann/Meckel/Pfannkuche/ ders. (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch, 2012, S. 39, 55 ff., 56. 93 Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht, MThZ 62 (2011), 33, 45. 94 DBK, Aufklärung und Vorbeugung – Dokumente zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, 2. Aufl., 2014, S. 34 ff. 95 DBK, ebd., S. 44 – 81.

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Normenbestand zum Umgang mit sexuellem Missbrauch gibt. Entscheidend dürfte vielmehr sein, ob das geltende Recht auch innerkirchlich vollzogen wird. Auch wenn sich dazu gegenwärtig noch keine verbindliche Aussage treffen lässt, wird man doch jedenfalls feststellen dürfen, dass die Bemühungen um den Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche sowohl auf Seiten des Staates als auch der Kirche keineswegs nachgelassen haben. Hier sind zunächst zwei weitere päpstliche Gesetze zu nennen, die Papst Franziskus zum Umgang mit sexuellem Missbrauch erlassen hat. Zum einen geht es um ein Motu Proprio zur Strafrechtsreform, mit dem der Vatikan seine Strafgesetze an internationales Recht anpasst. Insbesondere werden Kinderprostitution, der Verkauf von Kindern, die Anstiftung zu und Ausübung von sexueller Gewalt, Sex mit Minderjährigen sowie die Produktion und Sammlung kinderpornographischen Materials neu ins Strafgesetzbuch aufgenommen und künftig schärfer geahndet.96 Zum anderen ist hier das Motu Proprio „Come una madre amorevole“ ( Juni 2016) von Papst Franziskus zu nennen, das seine Sensibilität für die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden und die Beachtung der staatlichen Rechtsvorschriften bezüglich einer Anzeigepflicht der Ortsbischöfe im Falle des Bekanntwerdens von Fällen sexuellen Missbrauchs belegt. Darin wird Ortsbischöfen, die sich der Vertuschung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung schuldig machen, die Amtsenthebung angedroht. Zuvor war von Papst Franziskus bereits im Juni 2015 eine eigene Gerichtssektion errichtet worden, die sich ausdrücklich mit dem strafrechtlichen Fehlverhalten von Bischöfen im Hinblick auf den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch durch Priester befasst.97 In die Reihe dieser institutionellen Maßnahmen zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche fügt sich schließlich nahtlos ein, dass erst jüngst aus dem Kreis der Deutschen Bischofskonferenz die Forderung nach einem zentralen Gerichtshof bzw. interdiözesanen Strafgerichtskammern für die Verfolgung von Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs erhoben worden ist.98 96

Bremer, „Vatikan passt Strafgesetze an internationales Recht an“, FAZ v. 17. 7. 2013, Nr. 163, S. 5. 97 de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., 2018, § 23 Rn. 13, S. 241. 98 Deckers, „Bischöfe wollen Missbrauch weiter aufarbeiten. Einheitliche Aktenführung, neue Strafgerichtskammern, Keine Fristen zur Umsetzung“, FAZ v. 21. 11. 2018, Nr. 271, S. 1.

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Obwohl damit gezeigt werden konnte, dass der kirchenstrafrechtliche Normenbestand vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche bereits beachtliche Ausweitung und Vertiefung erfahren hat, dürfte es damit wohl trotzdem noch nicht sein Bewenden haben.99 So ist zu vernehmen, dass in den kommenden Jahren die strafrechtlichen Bestimmungen des CIC 1983 grundlegend überarbeitet werden sollen.100 Hintergrund dafür dürfte u. a. sein, dass die erheblichen Unbestimmtheiten in den strafrechtlichen Tatbeständen des kanonischen Rechts zumindest gegenwärtig offensichtlich immer wieder den Rückgriff auf das staatliche Recht erforderlich machen, um rechtssichere Maßstäbe für die Anwendung des kanonischen Strafrechts zu gewinnen.101 Die kirchliche Rechtsetzung begebe sich damit einer Profilierungschance und verharre in der „Abhängigkeit vom weltlichen Recht“.102 Auch wenn von einer „Abhängigkeit“ des kirchlichen Rechts vom staatlichen Recht wohl schon methodisch nicht wirklich die Rede sein kann, mag die Irritation durch das staatliche Strafrecht für die kirchenrechtliche Praxis möglicherweise den Vorzug haben, „die Ergebnisse der Entwicklung des weltlichen Strafrechts in einer vernünftigen Weise zu adaptieren, solange nicht ein einheitliches kirchliches Strafrecht für eine ausreichende Fallzahl sorgt, um eine kirchliche Rechtsprechung auf ein hinreichend breites Fundament zu stellen“.103 Insgesamt wird aber vom kirchlichen Gesetzgeber 99 In diesem Sinne de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., 2018, § 23 Rn. 13 a.E., S. 241, die in alldem keinen „Schlusspunkt in der rechtlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals“ sehen. 100 Dies., ebd.; mit dem vom Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte auf den Weg gebrachten neuen Entwurf des sechsten Buches des CIC (Schema recognitionis Libri VI Codicis Iuri Canonici) ist damit bereits ein Anfang gemacht, abgedruckt in lateinischer Originalsprache bei Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 209 ff. 101 Ling, Rettungsversuche. Zum Einfluss des weltlichen auf das kirchliche Strafrecht durch die Anwendung der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 147, 153 ff., 156 bezeichnet dies ausdrücklich als „Notlösung“. 102 Ders., ebd., S. 156, dort mit dem weiteren Hinweis, dass sich die kirchliche Rechtsetzung damit zusätzlich in den nach wie vor das staatliche Strafrecht beherrschenden Streit zwischen „neopaternalistischem Absicherungsprimat“ und einer seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fortgeschriebenen Tendenz der „weitgehenden Liberalisierung“ des Sexualstrafrechts stelle. 103 Ders., ebd., S. 156 f.

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gefordert, vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes die unter Strafe gestellten Tathandlungen möglichst präzise zu bestimmen. Insoweit sei eine Bezugnahme auf das staatliche Sexualstrafrecht, insbesondere den § 184 h StGB, durchaus empfehlenswert, weil der kirchliche Gesetzgeber dann autonom entscheiden könne, „was nach seiner Auffassung hinreichend oder aber im Gegenteil nicht mehr hinreichend ist, um den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs noch zu erfüllen“.104 Es bleibt letztlich abzuwarten, ob sich der kirchliche Gesetzgeber mit der von ihm geplanten grundlegenden Reform des kirchlichen Strafrechts diesen Aufgaben wirklich stellen wird.105 Wollte man aber an dieser Stelle die dargestellte bisherige Evolution von staatlichem und kirchlichem (Straf )Recht resümierend zusammenfassen, so ließe sich dies wohl nicht besser als mit den Worten des Doyens der kirchlichen Strafrechtswissenschaft tun: „So hat die Kirche im Lauf der Geschichte ihr Strafrecht immer wieder den veränderten Zeitumständen angepasst. Manche Elemente sind seit den Anfängen der Kirche die gleichen geblieben. Es hat Phasen der Anpassung an das weltliche Recht und der starken Kooperation mit der weltlichen Macht gegeben. Andererseits hat sich die Kirche immer wieder auf ihr Proprium besonnen. Strenge und Milde haben sich abgewechselt. So scheint die geplante Strafrechtsreform – trotz des Hinweises auf Milde, die dem kirchlichen Strafrecht bzw. dem kirchlichen Richter zu Eigen sein muss – in Richtung einer Verschärfung des bisherigen kirchlichen Strafrechts zu gehen.“106 Nachdem damit ein weiteres Mal mit Blick auf den zentralen Forschungsgegenstand dieser Untersuchung, die Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht, die Hypothese belegt werden konnte, dass im Personenrecht der christlichen Kirchen auch das Strafrecht durch besondere Irritierbarkeit gekennzeichnet ist, soll abschließend dieser Ein104 Ders., ebd., S. 157 ff. unter Bezugnahme auf „§ 184 g StGB“, dessen Inhalt sich heute in § 184 h StGB wiederfindet. 105 Siehe dazu auch – gleichsam in einer retrospektiven Langzeitbetrachtung – durchaus kritisch Pulte, Vaticanum II und Strafrechtsreform – Was war und was die Väter wollten, in: ders., Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, 2017, S. 167 ff. 106 Rees, Evolution im Strafrecht der römisch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform, in: Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht, 2017, S. 165, 208 f.

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druck – diesmal mit Blick auf das kirchliche Organisationsrecht – am Beispiel des ebenfalls sich hoher Aktualität erfreuenden kirchlichen Arbeitsrechts untermauert werden.

§ 10 Arbeitsrecht Für das Personenrecht der christlichen Kirchen, speziell das kirchliche Eherecht und das kirchliche Strafrecht, konnten bereits erhebliche Irritationen in der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht nachgewiesen werden. Verglichen damit übertreffen die Irritationen im Organisationsrecht der christlichen Kirchen, speziell im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht, diese aber um ein Vielfaches. In wohl kaum einem anderen Rechtsgebiet sind sie seit langem von solcher Virulenz und Intensität.107 Dazu trägt, wie sogleich zu zeigen sein wird, sicher nicht zuletzt bei, dass sich im Arbeitsrecht nicht nur staatliche und kirchliche Rechtsetzung irritieren, sondern der Rechtsprechung, sei es der Arbeitsgerichtsbarkeit, der Verfassungsgerichtsbarkeit oder sogar der europäischen Gerichtsbarkeit, besondere Bedeutung zukommt. Die Geschichte des (kirchlichen) Arbeitsrechts ist eine relativ kurze und eine relativ moderne. Lässt man die Frühgeschichte des Arbeitsrechts (Römisches Recht, Germanisch-deutsches Recht), deren Bedeutung keineswegs in Abrede gestellt werden soll,108 nämlich einmal beiseite, so sind die Anfänge der historischen Entwicklung des klassischen Arbeitsrechts nach allgemeiner Überzeugung erst im 19. Jahrhundert zu verorten.109 Triebfeder der Entwicklung des Arbeitsrechts war die schon zu Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende und im 19. Jahrhundert an enormer Dynamik gewinnende Industrialisierung des Wirtschaftslebens und die damit einhergehende „soziale Frage“, d. h. die Frage nach den politischen, 107 Deshalb bietet sich auch das Arbeitsrecht als Untersuchungsgegenstand noch mehr an als z. B. das Bildungsrecht oder das Stiftungsrecht, die ebenfalls in Betracht kämen. 108 Siehe dazu insb. Kamanabrou, Arbeitsrecht, 2017, Rn. 24 ff.; Waltermann, Arbeitsrecht, 18. Aufl., 2016, Rn. 24 ff. 109 Ausführlich dazu Dütz/Thüsing, Arbeitsrecht, 23. Aufl., 2018, Rn. 8; Kamanabrou, ebd., Rn. 28 ff.; Ricardi/Bayreuther, Kollektives Arbeitsrecht, 3. Aufl., 2016, Rn. 6 ff.; Waltermann, ebd., Rn. 27 ff.; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 7. Aufl., 2015, § 3 Rn. 2 ff.

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wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängiger Arbeit in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Industriegesellschaft.110 Als erste staatliche Maßnahme wird in diesem Zusammenhang zumeist das sog. Preußische Regulativ von 1839 genannt, das sich mit der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken befasste.111 Davon ausgehend nahm eine umfangreiche staatliche Arbeitsschutzgesetzgebung rasch an Fahrt auf. Hinzu trat das unter Bismarck in den 1880er Jahren ein- und bis heute fortgeführte Sozialversicherungswesen. Und schließlich ist an dieser Stelle die massenhafte Solidarisierung der Arbeiterschaft zu nennen, die in der bis in die Gegenwart reichenden Gewerkschaftsbewegung ihren unmittelbaren Ausdruck fand. Zur wesentlichen Ausweitung und Vertiefung des Arbeitsrechts, bisweilen ist sogar von der Grundsteinlegung des heutigen Arbeitsrechts die Rede,112 trug dann die Zeit der Weimarer Republik bei. Erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die auch am Arbeitsrecht nicht folgenlos vorüberging,113 konnte dieses (in beiden Teilen Deutschlands114) an die Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen115 und sich in der Folgezeit äußerst dynamisch fortentwickeln. Heute zählt das Arbeitsrecht sicher nicht nur angesichts umfassender Normsetzungsaktivitäten des staatlichen Gesetzgebers, sondern vor allem auch wegen einer dieses Rechtsgebiet ganz besonders prägenden Rechtsprechung (des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte) zu den Rechtsmaterien des Bürgerlichen Rechts, die in ständiger Bewegung sind und – gerade auch durch das Recht der Europäischen Union – stets aufs Neue herausgefordert werden.116 Verglichen mit dieser schon relativ kurzen Geschichte des klassischen Arbeitsrechts fällt diejenige des kirchlichen Arbeitsrechts noch kürzer 110

Siehe dazu ausführlich Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, Bürgerwelt und starker Staat, 6. Aufl., 1993, S. 178 ff., 219 ff. 111 Kamanabrou, Arbeitsrecht, Rn. 32. 112 So ausdrücklich dies., ebd., Rn. 41; siehe aber auch Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 34 ff.; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, § 3 Rn. 12 ff. 113 Auch dazu Kamanabrou, Arbeitsrecht, Rn. 52 ff. 114 Zum Arbeitsrecht der ehemaligen DDR dies., ebd., Rn. 64 ff.; Kapischke, Kirchenarbeitsrecht in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR, ZevKR 56 (2011), 306 ff. 115 Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 40. 116 Siehe dazu nur ders., ebd., Rn. 42 f.

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aus.117 Zum Zeitpunkt der Entstehung des klassischen Arbeitsrechts Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nämlich einfach noch kein Bedürfnis für ein eigenständiges kirchliches Arbeitsrecht, weil die christlichen Kirchen damals nur sehr wenige Bedienstete in privatrechtlichen Dienst- und Arbeitsverhältnissen beschäftigten. Zaghafte Ansätze kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen in einigen katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen entwickelten sich erst in der Weimarer Republik. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die auch das kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik beseitigte, machte aber dieser Entwicklung ein jähes Ende. Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts änderte sich dies grundlegend. Ursächlich dafür war die enorme Ausweitung kirchlicher Aufgaben (insb. im Bereich der Wohlfahrtspflege) bei gleichzeitiger erheblicher finanzieller Unterstützung durch den Staat. Dies führte dazu, dass die Zahl der kirchlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 1950 und 1970 kontinuierlich zunahm.118 Damit einher gingen allerdings auch vermehrte Auseinandersetzungen um die Arbeitsrechtsregelungen im kirchlichen Bereich. Sie brachten es mit sich, dass schon 1973 die vom Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) berufene Arbeitsrechtliche Kommission ihre Beratungen zur Ausgestaltung des künftigen kirchlichen Arbeitsrechts aufnahm. Als deren Ergebnis beschloss der Rat der EKD im Jahre 1976 die „Richtlinie gemäß Art. 9 Buchstabe b der Grundordnung für ein Kirchengesetz über das Verfahren zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter im kirchlichen Dienst“. Auch die katholische Kirche, die deutlich weniger als die evangelische Kirche von den Auseinandersetzungen um die Regelung des kirchlichen Arbeitsrechts betroffen war, zog normativ schon bald nach, indem die Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands im Jahre 1977 die „Ordnung zur Regelung der Mitwirkung der kirchlichen Mitarbeiter bei der Aufstellung von Normen für das Arbeitsvertragsrecht im kirchlichen Bereich“ verabschiedete.119 Damit war für beide christli-

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Zum Folgenden ausführlich Hammer, Kirchliches Arbeitsrecht. Handbuch, 2002, S. 166 ff. 118 Zur Entwicklung der Arbeitnehmerzahlen im kirchlichen Dienst von 1950 bis 1970 siehe ders., ebd., S. 168. 119 Im Einzelnen zur Entwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts in den christlichen Kirchen bis in die 70er Jahre ders., ebd., S. 168 ff.

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chen Kirchen der Grundstein für die Entwicklung des gegenwärtigen kirchlichen Arbeitsrechts gelegt.120 Insoweit wird üblicherweise zwischen dem Individualarbeitsrecht und dem kollektiven Arbeitsrecht unterschieden. Deshalb soll auch für die nachfolgende Darstellung der mannigfaltigen Irritationen im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht von dieser Unterscheidung ausgegangen werden. Für das Individualarbeitsrecht stehen dabei die Fragen der Eignungsanforderungen und der Loyalitätspflichten kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vordergrund der Analyse. Demgegenüber sind für das kollektive Arbeitsrecht die Fragen des Arbeitskampfrechts und der sog. „Dritte Weg“ zur Setzung von Arbeitsrechtsregeln bestimmend. Alle zuvor genannten Fragen stehen aber – ungeachtet ihrer besonderen Aktualität und Prominenz – trotzdem nur gleichsam exemplarisch für das an Irritationen reiche Beziehungsgefüge von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht.121 Mit Blick auf das Individualarbeitsrecht regelt das autonome Recht der beiden christlichen Kirchen in Deutschland die Fragen der Eignungsanforderungen und der Loyalitätspflichten kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitestgehend gleichsinnig.122 Dies dürfte seinen tieferen Grund darin finden, dass Katholische und Evangelische Kirche ein im

120 Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, 2019, S. 25 f. will von einem katholischen oder evangelischen Arbeitsrecht nicht sprechen, allenfalls von einem „kirchenspezifischen Arbeitsrecht“. Zur Begründung verweist er darauf, dass es „keine umfassenden eigenständigen katholischen und evangelischen Arbeitsrechtskodifikationen“ gebe. Des Weiteren ermangele es beiden Kirchen an einer „einheitlichen kirchlichen Arbeitsrechtssammlung“. 121 So ließe sich z. B. mit Blick auf das kollektive Arbeitsrecht sicher auch noch das Mitarbeitervertretungsrecht als Beispiel für Irritationen im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht thematisieren. Im Vergleich zu den zuvor genannten Fragestellungen wird das Mitarbeitervertretungsrecht aber ausdrücklich als eine „Oase der Ruhe“ bezeichnet. So dezidiert Joussen, Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), hrsg. v. Kämper u. Thönnes, S. 53, 54. 122 Siehe zum Folgenden ausführlich und eingehend Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 42 ff.; vgl. auch Schäfer, Kirchliches Arbeitsrecht im Wandel. Entwicklung und Perspektiven kirchlicher Loyalitätspflichten, 2017, passim.

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Wesentlichen gleichgerichtetes Verständnis des Begriffs der „Dienstgemeinschaft“123 als Strukturprinzip des kirchlichen Arbeitsrechts besitzen. Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Katholische Kirche ist die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ vom 27. 4. 2015. Für die Evangelische Kirche fehlt es zwar an einer einheitlichen Rechtsgrundlage, aber zumindest kann die unter dem 9. 12. 2016 neu gefasste „Richtlinie des Rates über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“124 als Orientierung dienen, auch wenn die Gliedkirchen der EKD nicht unmittelbar an sie gebunden sind.125 So erwartet die Katholische Kirche gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GrO ganz allgemein von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, „dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten“. In § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 der EKD-RL heißt es dem entsprechend: „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernehmen in ihrem Aufgabenbereich Mitverantwortung für die glaubwürdige Erfüllung kirchlicher und diakonischer Aufgaben. Sie haben sich daher gegenüber der evangelischen Kirche loyal zu verhalten.“ Im Einzelnen werden diese abstrakt definierten Loyalitätspflichten sodann im Art. 5 Abs. 2 GrO durch eine Aufzählung exemplarischer Verstöße konkretisiert. Ohne einen solchen beispielhaften Katalog von Loyalitätsverstößen gilt 123 Zum Begriff der Dienstgemeinschaft siehe im Einzelnen Herbolsheimer, ebd., S. 28 ff. m.w.N.; Sperber, Kirchenrechtliches Arbeitsrecht. Regelungen zu Loyalitätsobliegenheiten und Mitarbeitervertretungen und ihre Folgen in der staatlichen Rechtsordnung, 2019, S. 30 ff.; siehe aber auch Kostka, Von der Überzeugungs- zur biblisch geprägten Handlungsgemeinschaft. Gemeinsames caritatives Handeln als Basis der Dienstgemeinschaft, in: Reichold (Hrsg.), Loyalität und Konfessionsbindung in der Dienstgemeinschaft. Wege zu einer glaubwürdigen Unternehmenskultur in katholischen Einrichtungen, 2018, S. 13 ff. 124 Neufassung der Richtlinie des Rates über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 1. Juli 2005, ABl. EKD 2005, 413; zur Neufassung der Richtlinie siehe insb. Schliemann, Die EKD-Loyalitätsrichtlinie vom 9. Dezember 2016 zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Reichold (Hrsg.), Loyalität und Konfessionsbindung in der Dienstgemeinschaft. Wege zu einer glaubwürdigen Unternehmenskultur in katholischen Einrichtungen, 2018, S. 33 ff. 125 Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 41 m.w.N. in Fn. 75 betrachtet die EKD-RL als „allgemeines Recht“, da die meisten Landeskirchen der EKD die Bestimmungen der Richtlinie übernommen oder gleichlautende eigene Regelungen erlassen hätten.

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für die Evangelische Kirche über § 5 EKD-RL bzw. entsprechende landeskirchliche Vorschriften im Grunde nichts anderes. Stets geht es darum, kirchenfeindliches Verhalten unbedingt zu unterlassen und die kirchliche Glaubensordnung zu respektieren, kurz gesagt: es wird verlangt, sich innerhalb wie außerhalb des kirchlichen Dienstes entsprechend den kirchlichen Moralnormen zu verhalten. Hinsichtlich des Umfangs der Loyalitätspflichten wird aber in beiden Kirchen näher zwischen katholischen bzw. evangelischen Mitarbeitern, solchen mit besonderen Aufgaben, nichtkatholischen bzw. nichtevangelischen, aber christlichen Mitarbeitern und nichtchristlichen Mitarbeitern unterschieden. Für katholische Mitarbeiter gilt – wie bereits dargestellt – eine umfassende Bindung an die katholische Glaubenslehre. Dem durchaus entsprechend sieht § 2 Abs. 1 und 2 EKD-RL vor, dass der Dienst der Kirche durch den Auftrag bestimmt ist, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Alle Frauen und Männer, die in Anstellungsverhältnissen in Kirche und Diakonie tätig sind, haben deshalb dazu beizutragen, dass dieser Auftrag erfüllt werden kann. Soweit katholische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine besondere Aufgabe erfüllen, z. B. im pastoralen und katechetischen Dienst, oder soweit sie aufgrund einer Missio canonica oder einer sonstigen schriftlich erteilten bischöflichen Beauftragung tätig sind, ist ihr persönliches Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre erforderlich (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 GrO). Inhaltlich übereinstimmend damit sah § 4 Abs. 2 Satz 2 EKD-RL a. F. (1. 7. 2005) noch vor, dass von evangelischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in der Verkündigung, Seelsorge, Unterweisung oder Leitung tätig waren, eine inner- und außerdienstliche Lebensführung erwartet werde, die der übernommenen Verantwortung entsprach. In der EKD-RL n. F. (9. 12. 2016) ist diese Unterscheidung aufgegeben worden. Nunmehr sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtet, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung ihres jeweiligen Dienstes nicht beeinträchtigt wird (§ 4 Abs. 2 EKD-RL). Von nichtkatholischen christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet die Katholische Kirche, dass sie die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen (Art. 4 Abs. 2 GrO). Für die Evangelische Kirche hieß es

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in der EKD-RL a. F. (§ 4 Abs. 3) fast identisch, dass von christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet werde, dass sie Schrift und Bekenntnis achten und für die christliche Prägung ihrer Einrichtung eintreten. An diese Stelle ist nunmehr – deutlich enger – getreten, dass Christinnen und Christen für die evangelische Prägung der Dienststelle oder Einrichtung einzutreten haben (§ 4 Abs. 1 Satz 3 EKD-RL n. F.). Wie zu erwarten, gelten in beiden Kirchen für nichtchristliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich reduzierte Loyalitätsanforderungen. So heißt es in der Grundordnung der Katholischen Kirche: Nichtchristliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen bereit sein, die ihnen in einer kirchlichen Einrichtung zu übertragenden Aufgaben im Sinne der Kirche zu erfüllen (Art. 4 Abs. 3 GrO). Für die Evangelische Kirche bestimmte § 4 Abs. 4 der EKD-RL a. F. fast gleichsinnig, dass nichtchristliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den kirchlichen Auftrag zu beachten und die ihnen übertragenen Aufgaben im Sinne der Kirche zu erfüllen haben. Demgegenüber heißt es nun in § 4 Abs. 1 Satz 4 EKD-RL n. F. relativ unscharf: Nicht-Christinnen und Nicht-Christen haben die evangelische Prägung (der Dienststelle oder Einrichtung, Hinzufügung des Verf.) zu achten. Die in dieser Weise umschriebenen Loyalitätspflichten für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst der beiden christlichen Kirchen haben weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit Bewerbern für den kirchlichen Dienst, aber auch für etwaige Kündigungsmöglichkeiten der Dienstgeber im Falle eines Loyalitätsverstoßes.126 So hat etwa der kirchliche Dienstgeber nach Art. 3 Abs. 5 GrO vor Abschluss des Arbeitsvertrages über die geltenden Loyalitätsobliegenheiten (Art. 4) aufzuklären und sich zu vergewissern, dass die Bewerberinnen oder Bewerber diese Loyalitätsobliegenheiten erfüllen. Daraus resultiert ein erweitertes Frage- und Prüfungsrecht des Dienstgebers, das z. B. Fragen zum religiösen Verständnis und zur Religionszugehörigkeit gestattet. Ein anderes Beispiel bilden „verkündigungsnahe“ Tätigkeiten, etwa „pastorale und katechetische sowie in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben“. Gemäß Art. 3 Abs. 2 GrO dürfen sie nur Personen übertragen werden, die der katholischen Kirche angehören.

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Näher dazu ders., ebd., S. 42 ff.

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Dass die Einhaltung der dargestellten Loyalitätspflichten nicht nur für die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses von Bedeutung ist, sondern dagegen gerichtete Verstöße auch kündigungsrechtlich Relevanz entfalten können, belegt beispielhaft Art. 5 Abs. 1 GrO. Erfüllt danach nämlich eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Beschäftigungsanforderungen nicht mehr, so muss der Dienstgeber durch Beratung versuchen, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter diesen Mangel auf Dauer beseitigt. Dabei ist zu prüfen, ob schon ein solch klärendes Gespräch oder eine Abmahnung, ein formeller Verweis oder eine andere Maßnahme (z. B. Versetzung, Änderungskündigung) geeignet sind, dem Obliegenheitsverstoß zu begegnen. Als ultima ratio kommt die Kündigung in Betracht. Ganz ähnlich regelt dies § 5 Abs. 1 EKD-RL, indem nämlich der Anstellungsträger durch Beratung und Gespräch darauf hinwirken soll, den Mangel (dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter eine in der EKD-RL genannte Anforderung an die Mitarbeit im kirchlichen oder diakonischen Dienst nicht mehr erfüllt) zu beseitigen. Auch für den evangelischen Dienstgeber ist nur als letzte Maßnahme nach Abwägung der Umstände des Einzelfalls eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund möglich, wenn der Mangel nicht auf andere Weise (z. B. Versetzung, Abmahnung, ordentliche Kündigung) behoben werden kann. Insgesamt lehnen sich damit übrigens beide kirchlichen Rechtsordnungen ersichtlich an dem aus dem staatlichen Verfassungsrecht herzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an.127 Lange Zeit stand das kirchliche Recht mit seinen soeben dargestellten arbeitsrechtlichen Loyalitätsanforderungen für sich alleine. Das staatliche Recht schwieg insoweit ganz weitgehend.128 Dies hat sich aber mit der verpflichtenden Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (2006) grundlegend geändert. Es bezieht sich nicht nur auf staatliche Arbeitgeber, sondern erfasst von seinem Regelungsanspruch her auch die kirchlichen Dienstgeber. 127

Besonders sichtbar wird dies in den Verfahrensvorschriften des Art. 5 Abs. 3 und 4 GrO. 128 Natürlich unterfielen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beiden christlichen Kirchen aber dennoch dem staatlichen Kündigungsschutzrecht. Die diesbezüglichen Regelungen des BGB (§§ 620 f.) und des Kündigungsschutzgesetzes zählen insoweit zu den das kirchliche Selbstbestimmungsrecht begrenzenden, für alle geltenden Gesetzen.

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Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG). Dem dient ein allgemeines Benachteiligungsverbot (§ 7 AGG), von dem § 9 AGG allerdings zugunsten der Religionsgemeinschaften eine wichtige Ausnahme macht: So ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (Abs. 1). Des Weiteren berührt das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung nicht das Recht der in Abs. 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können (Abs. 2). Diese Vorschriften des staatlichen Antidiskriminierungsrechts haben in beiden christlichen Kirchen zu tiefgreifenden und nachhaltigen Irritationen beim Umgang mit den Eignungsanforderungen von Bewerbern für den kirchlichen Dienst und den Loyalitätspflichten kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geführt. Das staatliche Recht wiederum hat sich davon irritieren lassen, was in einer geradezu bemerkenswerten Zahl von diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs seinen sichtbaren Ausdruck findet. Die Verarbeitung dieser Irritationen durch das staatliche Rechtssystem kann hier nur beispielhaft und auf die wesentlichen Irritationen reduziert dargestellt werden. Für die Katholische Kirche steht dabei gleichsam stellvertretend der sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“, für die Evangelische Kirche der sog. „Fall Egenberger“.129 129 Zu beiden Fällen siehe Greiner, Kirchliche Loyalitätsobliegenheiten nach dem „IR“-Urteil des EuGH, NZA 2018, 1289 ff.; ders., Neuordnung des Kirchenarbeitsrechts durch den EuGH? Die Rechtssache Egenberger, jm 2018, 233 ff.;

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Der sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“ reicht mittlerweile mehr als zehn Jahre zurück. Streitgegenständlich geht es um die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung eines Chefarztes (Kläger) in einem katholischen Krankenhaus in Düsseldorf. Nachdem sich seine erste Ehefrau im Jahre 2005 von ihm getrennt hatte, lebte er mit seiner jetzigen Frau von 2006 bis 2008 unverheiratet zusammen. Dies war dem katholischen Träger des Krankenhauses (Beklagter) seit Herbst 2006 bekannt. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau Anfang 2008 heiratete der Kläger im August 2008 seine jetzige Frau standesamtlich. Nach eingehenden Erörterungen und Beratungen zwischen den Parteien und nach Anhörung der Mitarbeitervertretung wurde dem Kläger im März 2009 fristgerecht zum 30. September 2009 gekündigt. Nach Auffassung der Beklagten ist die Kündigung sozial gerechtfertigt. Der Kläger sei eine ungültige Ehe im Sinne des katholischen Kirchenrechts eingegangen und habe dadurch in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis verstoßen. Er sei als leitender Mitarbeiter im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GrO anzusehen. Gemäß Art. 5 Abs. 2 GrO könne der Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültigen Ehe als schwerwiegender Loyalitätsverstoß eine Kündigung rechtfertigen. Nach Art. 5 Abs. Satz 1 GrO sei die Weiterbeschäftigung ausgeschlossen, wenn der Loyalitätsverstoß – wie vorliegend – von leitend tätigen Mitarbeitern begangen werde. Dagegen hat der Kläger Kündigungsschutzklage erhoben. Nach seiner Auffassung ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt. Die erneute Heirat stelle keinen Kündigungsgrund dar. Er sei als Chefarzt weder leitender Angestellter noch Träger der kirchlichen Verkündigung im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GrO. Die KündiHense, Diskriminierungsverbot und Arbeitsrecht: Das deutsche Staatskirchenrecht zwischen europäischen Irritationen und Verwerfungen?, in: Katholische Akademie Schwerte (Hrsg.), 2. Juristentag im Erzbistum Paderborn, 2009, S. 37 ff.; Hammer, Ein Kompendium des Staatskirchenrechts und des kirchlichen Arbeitsrechts von höchster Stelle – der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Düsseldorfer Chefarzt-Fall vom 22. 10. 2014, KuR 20 (2014), 145 ff.; Joussen, Arbeitsrechtliche Anforderungen an die Mitarbeit in Kirche und Diakonie – Das Kriterium der Kirchenzugehörigkeit, ZevKR 60 (2015), 63 ff.; Neureither, Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer – Neue Variationen eines alten Themas, NVwZ 2015, 493 ff.; Suttorp/Braun, Europäisierung des kirchlichen Arbeitsrechts? Anmerkung zu den EuGH-Entscheidungen Egenberger und Chefarzt, KuR 24 (2018), 270 ff.; Thüsing/Mathy, Wichtige Fragen der Loyalität, Herder Korrespondenz 72 (2018), 27 ff.; siehe ferner allgemein zu den religionsgemeinschaftlichen Loyalitätsobliegenheiten Sperber, Kirchenrechtliches Arbeitsrecht, S. 341 ff.

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gung verstoße zudem gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da die Beklagte andere geschiedene und wiederverheiratete Chefärzte durchaus eingestellt oder weiterbeschäftigt habe. Die Beklagte habe ihr Kündigungsrecht überdies verwirkt. Er habe sich nicht kirchenfeindlich verhalten. Die Trennung sei nicht öffentlich geworden und habe auch bei der Belegschaft kein Ärgernis erregt. Höchstrichterlich musste sich das Bundesarbeitsgericht erstmalig im Jahre 2011 mit diesem Fall befassen. Es hielt die Kündigung für sozial ungerechtfertigt im Sinne des § 1 Kündigungsschutzgesetzes (KSchG). Der Kläger habe sich durch die Wiederverheiratung in Widerspruch zu den berechtigten Loyalitätserwartungen der Beklagten gesetzt. Zwar sei die Kündigung nicht schon wegen Verstoßes gegen §§ 1 KSchG, 1, 7 AGG sozial ungerechtfertigt, denn die Beklagte sei zu der in der Kündigung liegenden unterschiedlichen Behandlung wegen der Religion an sich nach § 9 Abs. 2 AGG berechtigt gewesen. Aber die Abwägung der beiderseitigen Interessen lasse die Weiterbeschäftigung des Klägers zumutbar erscheinen und führe deshalb zur Sozialwidrigkeit der Kündigung.130 Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Sie war damit erfolgreich, weil das Urteil des Bundesarbeitsgerichts nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV verstößt. Die bei der Anwendung des § 1 Abs. 2 KSchG vorgenommene Interessenabwägung trage nämlich dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht der Beschwerdeführerin nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung. So habe das Bundesarbeitsgericht eine „eigenständige Bewertung religiös vorgeprägter Sachverhalte vorgenommen und seine eigene Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit und des Gewichtes eines Verstoßes hiergegen an die Stelle der kirchlichen Einschätzung gesetzt, obschon diese anerkannten kirchlichen Maßstäben entspreche und nicht mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch stehe. Dadurch habe es die Unwirksamkeit der Kündigung mit einem vermeintlich leichteren Gewicht der Rechtsposition der Beschwerdeführerin begründet – deren Bestimmung jedoch allein Sache der katholischen Kirche gewesen sei – statt ein besonders hohes Gewicht der Gegenposition des Klägers des Ausgangsverfahrens in die Abwägung einzubringen“. Das Urteil des 130

BAG, Urt. v. 8. 9. 2011 – 2 AZR 543/10 –, NZA 2012, 443.

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3. Kap.: Detailstudien der Ko-Evolution

Bundesarbeitsgerichts sei deswegen aufzuheben und an dieses zurückzuverweisen gewesen.131 Dies hat das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 28. Juli 2016 zum Anlass genommen, den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung folgender Fragen zu ersuchen: „1. Ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) dahin auszulegen, dass die Kirche für eine Organisation wie die Beklagte des vorliegenden Rechtsstreits verbindlich bestimmen kann, bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Arbeitnehmern zu unterscheiden, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören? 2. Sofern die erste Frage verneint wird: a) … b) Welche Anforderungen gelten gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der RL 2000/78/ EG für ein an die Arbeitnehmer einer Kirche oder einer der dort genannten anderen Organisationen gerichtetes Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten im Sinne des Ethos der Organisation?“132 Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat sodann mit Urteil vom 11. September 2018 die gestellten Vorlagefragen dahingehend beantwortet, dass Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG so auszulegen sei, dass „zum einen eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht und die eine in Form einer privatrechtlichen Kapitalgesellschaft gegründete Klinik betreibt, nicht beschließen kann, an ihre leitend tätigen Beschäftigten je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedliche Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne dieses Ethos zu stellen, ohne dass dieser Beschluss gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein kann, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie genannten Kriterien erfüllt sind, und zum anderen bei Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne des genannten Ethos eine Ungleichbehandlung zwischen Beschäftigten in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Kon131

BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 2014 – 2 BvR 661/12 –, NZA 2014, 1387. BAG, Vorlagebeschluss (EuGH) v. 28. 7. 2016 – 2 AZR 746/14 (A) –, NZA 2017, 388. 132

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fessionslosigkeit nur dann mit der Richtlinie im Einklang steht, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, was das nationale Gericht zu prüfen hat.“133 Das Bundesarbeitsgericht hat schließlich im Anschluss an die Antworten des Europäischen Gerichtshofs auf die benannten Vorlagefragen entschieden, dass die Kündigung der Beklagten weder durch Gründe im Verhalten noch in der Person des Klägers im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG bedingt sei. Nach Ansicht des Gerichts fehlt es „an einem kündigungsrelevanten Verstoß des Klägers gegen eine vertragliche Loyalitätspflicht. Die Loyalitätserwartung, den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten, stellt … keine berechtigte Anforderung der Beklagten an die persönliche Eignung des Klägers dar. Die Vereinbarung im Dienstvertrag der Parteien, mit der Art. 4 Abs. 1 sowie Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 GrO 1993 in Bezug genommen werden, war jedenfalls im Zeitpunkt der streitbefangenen Kündigung gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit danach … bei Abteilungsärzten der Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültigen Ehe einen Loyalitätsverstoß darstellt, der grundsätzlich eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt. Ebenso gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam ist § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Dienstvertrags, soweit danach das Leben in kirchlich ungültiger Ehe einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellt. Es handelt sich um Beschäftigungs- und Entlassungsbedingungen iSd. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG, die den Kläger gem. § 7 Abs. 1 iVm. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG unmittelbar wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligen, ohne dass dies nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt ist.“134 Letzteres folge aus einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG, jedenfalls aber aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Die Loyalitätspflicht, keine nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültige Ehe zu schließen, stelle im Hinblick auf die Art der Tätigkeiten des Klägers und die Umstände ihrer Ausübung 133 134

EuGH, Urt. v. 11. 9. 2018 – Rs C-68/17 –, NJW 2018, 3086. BAG, Urt. v. 20. 2. 2019 – 2 AZR 746/14 –, BeckRS 2019, 10529.

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keine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“135 dar. Die Rechtsstreitigkeit ist damit tatsächlich an ihr Ende gelangt, denn der katholische Krankenhausträger hat nach langer und ausführlicher Beratung entschieden, gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht erneut vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass im Gefolge dieses Rechtsstreits durchaus eine „Irritationsverarbeitung“ stattgefunden hat. So würde der sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“ heute wohl nicht mehr in dieser Weise auftauchen. Im Jahre 2015 hat nämlich die Deutsche Bischofskonferenz die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse dahingehend geändert, dass der kirchenrechtlich unzulässige Abschluss einer Zivilehe zwar nach wie vor bei katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß darstellt, er aber nur zur Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen führen kann, „wenn diese Handlung nach den konkreten Umständen objektiv geeignet ist, ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beeinträchtigen; …“ (Art. 5 Abs. 2 Nr. 2 c). Der Irritationen deshalb auch nach Beendigung des Rechtsstreits kein Ende! Dies gilt auch für den – diesmal die Evangelische Kirche Deutschlands betreffenden – sog. „Fall Egenberger“. Er weist inhaltlich deutliche Parallelen zum sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“ auf. Im Einzelnen geht es darum, dass das Evangelische Werk – die Beklagte – im November 2012 eine befristete Referentenstelle für ein Projekt ausschrieb, das die Erstellung des Parallelberichts zum Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von rassischer Diskriminierung zum Gegenstand hatte. Nach der Stellenausschreibung umfasste das Aufgabengebiet die Begleitung des Prozesses zur Staatenberichterstattung zum genannten Übereinkommen in Bezug auf die Zeit von 2012 bis 2014, die Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht sowie von Stellungnahmen und Fachbeiträgen, die projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen sowie die Mitarbeit in Gremien, die Information und Koordination des Meinungsbildungsprozesses im Ver135 In diesem Sinne ausdrücklich EuGH, Urt. v. 11. 9. 2018 – Rs C-68/17 –, NJW 2018, 3086.

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bandsbereich sowie die Organisation, Verwaltung und Sachberichterstattung zum Arbeitsbereich. In der Stellenausschreibung wurden auch die von den Bewerbern zu erfüllenden Voraussetzungen genannt, von denen eine lautete: „Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie ihre Konfession im Lebenslauf an.“ Frau Egenberger – die Klägerin –, die keiner Konfession angehört, bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle. Obwohl ihre Bewerbung nach einer ersten Bewerbungssichtung des Evangelischen Werkes noch im Auswahlverfahren verblieben war, wurde sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Der letztlich eingestellte Bewerber hatte zu seiner Konfessionszugehörigkeit angegeben, er sei ein ,in der Berliner Landeskirche sozialisierter evangelischer Christ‘. In der Annahme, ihre Bewerbung sei wegen ihrer Konfessionslosigkeit abgelehnt worden, erhob Frau Egenberger arbeitsgerichtliche Entschädigungs- und Schadenersatzklage nach § 15 AGG. Sie machte geltend, die aus der fraglichen Stellenausschreibung hervorgehende Berücksichtigung der Religion im Bewerbungsverfahren sei nicht mit dem Diskriminierungsverbot des AGG – in unionsrechtskonformer Auslegung – vereinbar. § 9 Abs. 1 AGG könne die Benachteiligung, die sie erlitten habe, nicht rechtfertigen. Das Bundesarbeitsgericht wurde höchstrichterlich erstmals im Jahre 2016 mit dem sog. „Fall Egenberger“ befasst und legte dem Europäischen Gerichtshof inhaltlich mit dem soeben dargestellten sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“ praktisch übereinstimmende Fragen zur Beantwortung vor. Fast gleichlautend entschied deshalb auch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs, Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG sei dahingehend auszulegen, „dass für den Fall, dass eine Kirche oder andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, zur Begründung einer Handlung oder Entscheidung wie der Ablehnung einer Bewerbung auf eine bei ihr zu besetzende Stelle geltend macht, die Religion sei nach der Art der betreffenden Tätigkeiten oder den vorgesehenen Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation, ein solches Vorbringen gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können muss, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Kriterien im konkreten Fall erfüllt sind.“ Außerdem sei die Richtlinien-

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bestimmung so zu verstehen, „dass es sich bei der dort genannten wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderung um eine Anforderung handelt, die notwendig und angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation aufgrund der Art der in Rede stehenden beruflichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung objektiv geboten ist und keine sachfremden Erwägungen ohne Bezug zu diesem Ethos oder dem Recht dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie umfassen darf. Die Anforderung muss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.“136 Das Bundesarbeitsgericht hat sodann auf der Grundlage und vor dem Hintergrund dieser Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs festgestellt, dass die Klägerin im Bewerbungsverfahren wegen der Religion benachteiligt und diese Benachteiligung auch nicht nach § 9 Abs. 1 AGG ausnahmsweise gerechtfertigt sei. Die Religion könne angesichts des Ethos der Religionsgemeinschaft zwar grundsätzlich nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ darstellen, aber im konkreten Streitfall bestünden schon erhebliche Zweifel an der Wesentlichkeit der beruflichen Anforderung. Jedenfalls aber sei die berufliche Anforderung nicht gerechtfertigt, weil keine wahrscheinliche und erhebliche Gefahr bestanden habe, dass es zu einer Beeinträchtigung des Ethos der Beklagten kommen würde. Ausschlaggebend dafür sei, dass der jeweilige Stelleninhaber/die jeweilige Stelleninhaberin der Stellenausschreibung zufolge in einen internen Meinungsbildungsprozess beim Beklagten eingebunden war und deshalb in Fragen, die das Ethos des Beklagten betrafen, nicht unabhängig handeln konnte.137 Der sog. „Fall Egenberger“ ist aber – im Gegensatz zum sog. „Düsseldorfer Chefarzt-Fall“ – noch nicht zum Abschluss gelangt. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche hat unlängst Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie trägt vor, in ihrem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht verletzt zu sein. Außerdem würden „die aufeinander bezogenen Urteile des BAG und des EuGH die vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber, mit Blick auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV sogar die vom Verfassungsgeber gesetzte Kompe-

136 137

EuGH, Urt. v. 17. 4. 2018 – Rs C-414/16 –, NZA 2018, 569. BAG, Urt. v. 25. 10. 2018 – 8 AZR 501/14 –, NZA 2019, 455.

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tenzordnung missachten und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Kern beeinträchtigen.“138 Also: Der Irritationen kein Ende! Dies gilt aber nicht nur für das Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts. Auch die zweite Säule des Arbeitsrechts, das kollektive Arbeitsrecht, ist nachhaltig von derartigen Irritationen betroffen. Sie verbinden sich typischerweise mit den Stichworten „Arbeitsrechtsregelungsverfahren“, „Arbeitskampfrecht“ und dem sog. „Dritten Weg“.139 Nur im Ausgangspunkt stimmen dabei die katholische und die evangelische Rechtsordnung im Verhältnis zum staatlichen Recht überein. In der Ausgestaltung im Einzelnen offenbaren sich durchaus fundamentale Unterschiede. Übereinstimmung herrscht im Hinblick auf das Koalitionsrecht. Das in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Recht, wonach für jedermann und für alle Berufe gewährleistet ist, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden (Satz 1), und die Anordnung, dass Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig sind (Satz 2), wird von beiden christlichen Kirchen anerkannt. Art. 6 Abs. 1 GrO bestätigt dies ausdrücklich: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des kirchlichen Dienstes können sich in Ausübung ihrer Koalitionsfreiheit als kirchliche Arbeitnehmer zur Beeinflussung der Gestaltung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Vereinigungen (Koalitionen) zusammenschließen, diesen beitreten und sich in ihnen betätigen.140

138 Müller, Das erste Karlsruher Nein?, FAZ v. 2. 5. 2019, Nr. 101, S. 8; siehe dazu thematisch auch Heinig, Europäische Richtertheologie, FAZ v. 25. 4. 2019, Nr. 96, S. 6; Walter, Das Selbstbestimmungsrecht der Religionen in die Zeit stellen, FAZ v. 4. 7. 2019, Nr. 152, S. 6. 139 Siehe dazu eingehend Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 51 ff. m.w.N.; zum sog. „Dritten Weg“ speziell Groeger, Kirchliche Dienstvereinbarungen im Spiegel säkularer Rechtsprechung des BAG – der Dritte Weg als archimedischer Punkt des kirchlichen Arbeitsrechts?, KuR 20 (2014), 196 ff.; Hammer, Kirchliches Arbeitsrecht. S. 166 ff.; Hense, Dem Dritten Weg schlägt nicht die Stunde, neue caritas 2013, 18 ff.; Joussen, Das neue Arbeitsrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland, ZevKR 59 (2014), 50 ff. 140 Allerdings mit der Einschränkung, dass die Koalitionsfreiheit die Vertreter der Koalition nicht von der Pflicht entbindet, das verfassungsmäßige Selbstbestimmungsrecht der Kirche zur Gestaltung der sozialen Ordnung ihres Dienstes zu

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Schon beim Tarifrecht finden aber sowohl im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Recht als auch im Verhältnis der Rechtsordnungen von Katholischer und Evangelischer Kirche zueinander die Übereinstimmungen ihr Ende. Beide Kirchen lehnen zwar auch noch gemeinsam das Tarifvertragssystem für ihre Arbeitsrechtsverhältnisse ab, weil die von ihnen praktizierte „Dienstgemeinschaft“ mit den Methoden des Arbeitskampfes (Streik, Aussperrung) unvereinbar sei. Aber bei der Ausgestaltung des von beiden Kirchen favorisierten sog. „Dritten Weges“ scheiden sich dann die Geister. Seine Rechtsgrundlage findet sich für beide christlichen Kirchen allein in ihrem autonomen Recht. Für die Katholische Kirche ist insoweit Art. 7 GrO einschlägig, der die Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen regelt. Das darin verankerte Arbeitsrechtsregelungsverfahren wird vornehmlich von den sog. arbeitsrechtlichen Kommissionen geprägt. Art. 7 GrO formuliert dabei aber nur die wesentlichen Grundsätze des sog. „Dritten Weges“.141 Das Nähere, insbesondere die jeweiligen Zuständigkeiten, regeln die einschlägigen Ordnungen (Art. 7 Abs. 1 Satz 4 GrO). In Vollzug dieser Vorschrift hat der Verband der Diözesen Deutschlands ein „duales System“142 von Kommissionen zur Ordnung des diözesanen Arbeitsrechts (KODA) entwickelt. Auf diözesaner Ebene regeln entweder die Bistümer durch eine eigene KODA (sog. Bistums-KODA) oder durch eine Regional-KODA, die für mehrere Bistümer gilt, das Arbeitsrechtsregelungsverfahren;143 auf überdiözesaner Ebene kommt eine sog. ZentralKODA zum Tragen, die aber für alle Diözesen Deutschlands nur über bestimmte Fragen (z. B. die Ausfüllung von Öffnungsklauseln in staatlichen Gesetzen, Fassung von Einbeziehungsabreden für Arbeitsverträge hinsichtlich der Loyalitätsobliegenheiten, kirchenspezifische Regelungen) entscheiden darf. Darüber hinaus wird die diözesane Regelungsebene achten und die Eigenart des kirchlichen Dienstes zu respektieren (Art. 6 Abs. 4 GrO). 141 Siehe z. B. Art. 7 Abs. 2 GrO: „Wegen der Einheit des kirchlichen Dienstes und der Dienstgemeinschaft als Strukturprinzip des kirchlichen Arbeitsrechts schließen kirchliche Dienstgeber keine Tarifverträge mit Gewerkschaften ab. Streik und Aussperrung scheiden ebenfalls aus.“ 142 Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 56 f. 143 Zur Rechtslage in den einzelnen katholischen Bistümern siehe ders., ebd., S. 57 m. Fn. 140.

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zusätzlich noch durch die sog. Rahmen-KODA-Ordnung flankiert, deren Gegenstand die Beratung und Beschlussfassung von Rechtsnormen über Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen ist, allerdings nur solange und soweit die Zentral-KODA von ihrer Regelungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht hat oder macht. Letztlich besitzt die RahmenKODA-Ordnung damit nur Empfehlungs- und Orientierungscharakter. Demgegenüber fehlt es in der Evangelischen Kirche an einem einheitlichen Regelungswerk zum kollektiven Arbeitsrecht. Der schon dargestellten EKD-RL über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie sind zum kollektiven Arbeitsrecht überhaupt keine Aussagen zu entnehmen. Zumindest existiert aber für die eigenen Beschäftigten der EKD seit 1988 (zuletzt geändert 2014) ein sog. Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland. Diesem Vorbild sind die meisten evangelischen Landeskirchen gefolgt und haben entsprechende Landeskirchengesetze erlassen.144 Was nun aber die Ausgestaltung des Arbeitsrechtsregelungsverfahrens anbelangt, so treten die bereits angesprochenen fundamentalen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen von Katholischer und Evangelischer Kirche offen zu Tage. In seinen Grundzügen wird das Arbeitsrechtsregelungsverfahren in der Katholischen Kirche durch die §§ 19, 20, 24 und 26 Rahmen-KODAOrdnung bestimmt. Die sog. arbeitsrechtlichen Kommissionen treten bei Bedarf zusammen und beraten über neue Regelungsnormen (§§ 19 Abs. 1, 3 Abs. 1 Rahmen-KODA-Ordnung). Seit dem Jahre 2014 werden in diese übrigens auch Mitglieder von Gewerkschaften entsandt (§§ 6 Abs. 2, 9 Rahmen-KODA-Ordnung).145 Beschlüsse der sog. arbeitsrechtlichen Kommissionen bedürfen zu ihrer Wirksamkeit allerdings der In-Kraft-Setzung durch den jeweiligen Diözesanbischof (§ 20 Abs. 5 144 Siehe dazu im Einzelnen Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche. Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, 6. Aufl., 2012, § 14, S. 220 ff. 145 Insoweit hat eine weitere Irritation des Bundesarbeitsgerichts, seine Urteile zum Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen (BAG, Urt. v. 20. 11. 2012 – 1 AZR 611/11 –, NZA 2013, 437; BAG, Urt. v. 20. 11. 2012 – 1 AZR 179/11 –, NZA 2013, 448), ihre autonome Umsetzung im katholischen Arbeitsrecht gefunden. Zur Umsetzung im evangelischen Arbeitsrecht siehe § 4 Abs. 1 Nr. 3 Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (ARRGEKD).

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Rahmen-KODA-Ordnung), dem damit ein Letztentscheidungsrecht zukommt.146 Ganz anders gestaltet sich demgegenüber das Arbeitsrechtsregelungsverfahren in der Evangelischen Kirche. Es ist ganz wesentlich vom Grundsatz räumlicher Trennung geprägt, weshalb prinzipiell jede Landeskirche für ihren „Hoheitsbereich“ eigenständige Regelungen trifft. Richtlinien der EKD als „Zentralinstanz“, z. B. die Richtlinie für ein Kirchengesetz über das Verfahren zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, haben lediglich empfehlenden Charakter. So haben sich etwa einige Landeskirchen – entgegen der EKD-RL – ganz bewusst nicht für den sog. „Dritten Weg“, sondern für unterschiedliche Varianten des sog. „Zweiten Weges“ entschieden.147 Beispielhaft seien hier nur – ohne ins Detail gehen zu können148 – die Nordelbische Kirche, die Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, die Landeskirche Hessen und Nassau, die Landeskirche KurhessenWaldeck sowie die Landeskirchen Hannover, Braunschweig und Oldenburg genannt. Die übrigen Landeskirchen folgen – wenn auch mit weiteren Unterschieden im Detail149 – dem auch von der EKD empfohlenen sog. „Dritten Weg“, d. h. die Arbeitsrechtsregelungsverfahren liegen in den Händen der sog. arbeitsrechtlichen Kommissionen. Im Unterschied zur Katholischen Kirche kommt dabei übrigens den Bischöfen der Landeskirchen nicht etwa ein Letztentscheidungsrecht zu, sondern im Streitfall obliegt dies sog. Schlichtungsausschüssen. Insgesamt wird man deshalb nicht ohne Grund feststellen dürfen, dass das Arbeitsrechtsregelungsverfahren in der Evangelischen Kirche normativ einem bunten Flickenteppich gleicht. Ein Befund, der allerdings nicht wirklich überrascht, wenn wir unseren Blick noch einmal kurz auf das kirchliche Eherecht der Evangelischen Kirche, speziell mit Blick auf die sog. „Ehe für alle“, zurückrichten.150

146 Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 63 sieht darin eine „Kombination aus Elementen des ,Ersten‘ und ,Zweiten Weges‘“; vgl. dazu auch Hammer, Kirchliches Arbeitsrecht, S. 187. 147 Siehe dazu eingehend Herbolsheimer, ebd., S. 65 ff. 148 Siehe dazu ders., ebd. 149 Dazu erneut ders., ebd., S. 67 ff. 150 Siehe dazu oben § 8 a. E.

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Unsere Anfangsvermutung hat sich damit alles in allem bestätigt. In wohl kaum einem anderen Rechtsgebiet sind die Irritationen von staatlichem und kirchlichem Recht von solcher Virulenz und Aktualität wie im Arbeitsrecht. Es dürfte nicht zu weit gehen, im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht (aber auch im Verhältnis von katholischem und evangelischem Arbeitsrecht) von einer Dauerirritation zu sprechen. In welche Richtung sich die beteiligten Systeme entwickeln werden, ist dabei nicht vorherzusagen. Es mögen Strukturen geändert und Lernprozesse eingeleitet werden, es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Irritation mit der Zeit von selbst verschwindet. Die weitere Entwicklung von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht bleibt evolutionär offen.151

151 Zu möglichen Perspektiven der Entwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts höchst instruktiv Hense, Warum sich das kirchliche Arbeitsrecht ändern muß, Herder Korrespondenz 73 (2019), 42 ff.; ders., Vom personen- zum institutionenorientierten Verständnis kirchlichen Arbeitsrechts? Einige Anmerkungen zu diesem Ansatz und seinem denkbaren theoretischen Rahmen, in: Thüsing (Hrsg.), Festschrift für Norbert Feldhoff, 2019 (i. E.), S. 247 ff.; siehe aber auch Beer, Vom personen- zum institutionenorientierten Ansatz. Der Beitrag der Grundordnung zu Profildiskussion, Führungs- und Unternehmenskultur in kirchlichen Einrichtungen, in: Reichold (Hrsg.), Führungskultur und Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen, 2017, S. 63 ff.; Hense, Zum Schluss: Nichts Abschließendes!, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik/Institut für Rechtspolitik (Hrsg.), Bitburger Gespräche. Jahrbuch 2017, 2018, S. 147 ff.; Joussen, Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), hrsg. v. Kämper u. Thönnes, S. 53 ff.

Schluss: Selbstirritation der Gesellschaft Irritation und Irritierbarkeit sind das Ergebnis funktionaler Differenzierung der Gesellschaft. Funktionale Differenzierung steigert die Irritierbarkeit der Gesellschaft, mithin ihrer Fähigkeit, auf Umweltveränderungen rasch zu reagieren. Irritationen der gesellschaftlichen Funktionssysteme durch „die“ Umwelt gibt es nicht. Von Irritation – besser gesagt von Selbstirritation der Gesellschaft – kann nur mit „Systemindex“ gesprochen werden. Deshalb Recht und Religion und vor allem staatliches Recht und kirchliches Recht.1 Vor diesem Hintergrund wurde der Versuch unternommen, in einem zeitlichen Längs- und einem thematischen Querschnitt detailliert zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den gekoppelten Funktionssystemen verarbeitet werden. In der Längsschnittperspektive war Entwicklungsgeschichte dabei nicht zu erwarten. Vielmehr ging es um die mehr oder weniger zufällige Emergenz von Ereignissen, die gleichsam als take-off eines evolutorischen Sprungs genutzt werden konnten. Ein erster solcher Sprung fand sich in der sog. Gregorianischen Revolution des 11. bis 13. Jahrhunderts. In dieser Zeit gelang es dem Recht, sich als Korpus von Rechtsgrundsätzen und Rechtsverfahren zu verselbständigen; erstmals erstarkten kirchliche und weltliche Zentralgewalten; Europa erlebte die Gründung seiner ersten Rechtsschulen. All diese Umstände trugen zur „Bildung der modernen westlichen Rechtssysteme“2 bei, als deren erstes sich das Kanonische Recht der römisch-katholischen Kirche herauskristallisierte. Vor seinem Hintergrund und in Konkurrenz zu ihm schufen auch die europäischen Königreiche ihre eigenen weltlichen Rechtsordnungen. Im sog. Investiturstreit zwischen Königtum und Kirche sowie dem diesen beendenden

1 2

Dazu Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 789 ff. Berman, Recht und Revolution, S. 193 ff.

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Wormser Konkordat (1122) bildete sich der bis heute fortwirkende „Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“3 heraus. Der nächste evolutorische Sprung ließ sich in der Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit des 16. und 17. Jahrhunderts ausmachen. Die „unbestreitbare historische Relevanz konfessioneller Differenz für das Verständnis von Staat, Recht und Gesellschaft“4 konnte differenzierungstheoretisch herausgearbeitet werden. Konfessionalisierung steht dabei paradigmatisch für „Krisen und Konflikte, Strukturbrüche und Herrschaftsspannungen, Streite und Differenzen“, die für Differenzierungsprozesse im Kontext der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung höchst bedeutsam sind.5 Dies konnte auch für die Ausdifferenzierung des Rechtssystems im Konfessionsstreit nachgewiesen werden. Gleichsam auf der Hand lag der (vorläufig?) letzte evolutorische Sprung, die seit dem Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Stichwort der „religiösen Vielfalt“ bzw. „religiösen Pluralität“ geführte Debatte. Die wichtigsten Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur normativen Verarbeitung religiöser Vielfalt stehen gleichsam stellvertretend für laufende und nachhaltige Irritationen im Verhältnis von Politik, Religion und Recht. Über das Grundrecht der Religionsfreiheit werden Religion und Recht operativ gekoppelt. Ihre wechselseitigen Irritationen leisten einen nicht hinwegzudenkenden Beitrag zur Evolution des Religions- und Rechtssystems. In einem thematischen Querschnitt konnte die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht durch Detailstudien auf ausgewählten Untersuchungsfeldern des Personen- und Organisationsrechts der christlichen Kirchen in Deutschland vertieft werden. Der Untersuchungsgegenstand des Eherechts erwies sich dafür als geradezu prädestiniert, weil es im Hinblick auf seine Regelungen durch Staat und Kirche praktisch für den gesamten vorliegend zugrunde gelegten Längsschnitt 3

Ders., ebd. Gephart, Sphärendifferenzierung von Staat und Kirche im Kampf der Konfessionskulturen, in: Waldhoff (Hrsg.), Recht und Konfession – Konfessionalität im Recht?, S. 5. 5 Zu Recht als Desiderat angemahnt von Tyrell, Konflikt als Interaktion, in: ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, S. 17 ff.; ders., Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, ZfSoz 7 (1978), 175, 182. 4

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Relevanz entfaltete und sich durch besondere Irritierbarkeit auszeichnete. Während Staat und (katholische) Kirche mit Blick auf das Eherecht über lange Zeit ohne schwerwiegendere Irritationen gleichsam in Parallelgesellschaften lebten, scheint sich dies in jüngerer Zeit grundlegend zu ändern. Die Reform des Personenstandsrechts und die familienrechtliche Annäherung von Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft bis hin zur sog. „Ehe für alle“ lassen durchaus den Schluss zu, dass sich „das staatliche und kirchliche Eheverständnis weiter auseinanderentwickeln wird“.6 Ein weiteres Untersuchungsfeld des kirchlichen Personenrechts bildete das Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Strafrecht. Mit dem CIC 1983 bewahrte sich das kirchliche Strafrecht nicht nur von seiner Struktur her, sondern auch inhaltlich seinen Selbststand gegenüber dem staatlichen Strafrecht. Insgesamt hat das Strafrecht in der Kirche aber seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts „eher ein Schattendasein“ geführt.7 Es wurde in der kirchlichen Praxis schlicht und ergreifend nicht angewendet8 und stand auch in der Kanonistik nicht gerade hoch im Kurs.9 An diesem Befund hat sich erst etwas nach der Aufdeckung des letztlich beide christlichen Kirchen betreffenden Missbrauchsskandals geändert. Diesbezüglich hätte die Irritation des kirchlichen Strafrechtssystems durch das staatliche Strafrecht kaum intensiver und umfassender sein können. Schließlich hat sich die Untersuchung für den Bereich des Organisationsrechts der beiden christlichen Kirchen dem Arbeitsrecht zugewendet. In wohl kaum einem anderen Rechtsgebiet sind die Irritationen seit langem von solcher Virulenz und Aktualität. Ursächlich dafür dürfte sein, dass sich im Arbeitsrecht nicht nur staatliche und kirchliche Rechtsetzung irritieren, sondern der Rechtsprechung, sei es der Arbeitsgerichtsbarkeit, 6

Ausdrücklich in diesem Sinne Heinig, Neuere Entwicklungen im Eherecht an der Schnittfläche von staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung, ZevKR 55 (2010), 20, 23; ebenso Bier, Kirchliche Ehen ohne Trauschein, Herder Korrespondenz 62 (2008), 638, 640. 7 So Graulich, Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, S. 11. 8 Siehe dazu Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit, S. 42 f. 9 In diesem Sinne Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung, S. 23.

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der Verfassungsgerichtsbarkeit oder sogar der europäischen Gerichtsbarkeit, besondere Bedeutung zukommt. Im Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Arbeitsrecht (aber auch von katholischem und evangelischem Arbeitsrecht) ist von einer Dauerirritation auszugehen. Alles in allem haben sich damit auch im Verhältnis von Recht und Religion, und speziell dem Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Recht, die Bewegungsgesetze funktionaler Differenzierung der Gesellschaft bestätigt. Differenz, Streit und Konflikt haben die Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht vorangetrieben. Die gegenseitige Irritation der Funktionssysteme Politik, Religion und Recht ist in Selbstirritation der Gesellschaft umgeschlagen.10

10 In diesem Sinne für Funktionssysteme im allgemeinen schon Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 795.

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Sachwortverzeichnis Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 158 f. Arbeitsrechtsregelungsverfahren 169 f. Düsseldorfer Chefarzt-Fall 160 ff. Egenberger-Fall 164 ff. Ehe für alle 129 ff. – in den evangelischen Landeskirchen 130 ff. – in der katholischen Kirche 132 f. Ehe(rechts)lehre – Ausdifferenzierung im Konfessionsstreit 119 ff. – des Bundesverfassungsgerichts 123 – katholische 123 – protestantische 121 – thomistische 118 – von Ockham und von Padua 118 f. Funktionssysteme der Gesellschaft – Operative Kopplungen 52 ff. – Selbstirritation der 40 – Strukturelle Kopplungen 46 ff. – Verhältnis zu Organisationssystemen 36 ff., 39 ff. Gesellschaft – Funktionale Differenzierung der 28 ff., 66 – Irritation und Irritierbarkeit 56 ff., 110 f., 114 f., 141 – Selbstirritation der 172 ff. Gregorianische Reform 76 ff.

Individualarbeitsrecht – Eignungsanforderungen 154 ff. – Loyalitätspflichten 154 ff. Interdependenz 40 ff. Interdependenzherstellung 43 ff. Interdependenzunterbrechung 40 ff. Investiturstreit 69 ff., 73 ff. Kanonisches Recht 31, 80 ff., 120 f. – Sonderstellung 84 f. – und Kanonessammlungen 82 f. – und Römisches Recht 83 f. Kanonistik 23 f., 72 Kirchenaustritt 45 Kirchenordnungen 91 ff. Kirchenrecht – evangelisches 18 f. – katholisches 16 f. – Rechtsprechung im 19 ff. – Verrechtlichungsschub im 12. Jh. 79 f. Kirchliches Recht – Arbeitsrecht 151 ff. – Eherecht 116 ff. – Fremdbeschreibung von 11 ff. – Selbstbeschreibung von 11 ff. – Strafrecht 133 ff. – Verhältnis zum staatlichen Recht 72 ff. Kollektives Arbeitsrecht – Arbeitskampfrecht 167 – Sog. „Dritter Weg“ 168 ff. Konfessionalisierung – der Rechtswissenschaft 94 ff.

Sachwortverzeichnis – differenzierungstheoretisch betrachtet 89 ff. – und Staatsbildung 93 f. Konfessionalität im Recht 12, 87 ff. Konfessionsstreit 86 ff. Lebenspartnerschaft 127 ff. Normae 2010 – Bedeutung 144 ff. – Umsetzung auf der Ebene der Bischofskonferenzen 145 f. – Umsetzung auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz 146 ff. Organisation – als strukturelle Kopplung 44 – als Vermittler struktureller Kopplung 44 f. – als Voraussetzung für strukturelle Kopplung 43 f. – loose coupling 42 – Multireferenz von 13, 35 f., 38 Personenstandsrecht 124 ff. Politik und Religion – Bedeutung des Investiturstreits 69 ff. – (strukturelle) Kopplung 49 ff. Recht und Politik 47 ff. Rechtsdogmatik 22 ff. Rechtspraxis 14 ff. Rechtssystem – Ausdifferenzierung im Konfessionsstreit 85 ff., 119 ff. – Dualismus von weltlichem und kirchlichem 72 ff. – Herausforderung durch Ausdifferenzierung der Religionen 98 ff., 110 ff.

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– Irritation durch konfessionelle Sonderkommunikation 91 ff. Rechtstheorie 25 f. Religiöse Vielfalt 100 ff. – aus differenzierungstheoretischer Perspektive 107 ff. – normative Verarbeitung 111 ff. Religionsverfassungsrecht 14 f. Säkularisierung – als Beobachtungskategorie 60 ff., 67 f. – Begriff 60 ff. – differenzierungstheoretischer Zugang 64 ff. – Dimensionen von 62 ff. Staatliches Recht – Arbeitsrecht 151 ff. – Eherecht 116 ff. – Fremdbeschreibung von 11 ff. – Selbstbeschreibung von 11 ff. – Strafrecht 133 ff. Staatskirchenrechtslehre 22 f. Strafrecht – Kritik des kirchlichen Strafrechts 138 f. – Reform des kirchlichen Strafrechts 137 ff., 142 ff., 149 f. – Reform des staatlichen Strafrechts 142 – Selbststand des kirchlichen Strafrechts 138 – und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche 140 ff. Vertragsstaatskirchenrecht 16 Vielfalt der Moderne 103 ff. Ziviltrauung 121 f., 124 Zweites Konfessionelles Zeitalter 97 f.