Gender und Internationales Recht [1 ed.] 9783428526260, 9783428126262

Genderfragen spielen im deutschen völkerrechtlichen Schrifttum bislang keine große Rolle. Hinzu kommt, dass in Deutschla

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Gender und Internationales Recht [1 ed.]
 9783428526260, 9783428126262

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Band 166

Gender und Internationales Recht Herausgegeben von

Andreas Zimmermann und Thomas Giegerich unter Mitwirkung von

Ursula E. Heinz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS ZIMMERMANN / THOMAS GIEGERICH (Hrsg.)

Gender und Internationales Recht

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, T h o m a s G i e g e r i c h und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 166

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague

Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Gender und Internationales Recht Herausgegeben von

Andreas Zimmermann und Thomas Giegerich unter Mitwirkung von

Ursula E. Heinz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-12626-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einführung Andreas Zimmermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frauen im Völkerrecht – von Bertha von Suttner bis zur Gegenwart Martina Haedrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Völkerrechtliche Fragen der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht Karin Oellers-Frahm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Wiederentdeckung des „Dritten Geschlechts “ – Homosexualität im Völker- und Europarecht Dagmar Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der EuGH als Motor für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Europa? Christine Langenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und sein Vertragsausschuss nach 25 Jahren – Bilanz und Ausblick Hanna Beate Schöpp-Schilling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht Stefanie Schmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Völkerrecht im Gender-Fokus Anne Peters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung Von Andreas Zimmermann Spätestens seit der Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) „Women and peace and security“, welche unter anderem zur Beteiligung und Berücksichtigung von Frauen und Fraueninteressen bei der Vermeidung, aber auch bei der Bewältigung völkerrechtlich relevanter Konflikte auffordert, ist es zu einer stärkeren Inblicknahme genderspezifischer Aspekte auch im allgemeinen Völkerrecht gekommen. Dessen ungeachtet spielen solche Fragen und Fragestellungen zumindest im deutschsprachigen völkerrechtlichen Schrifttum, von wenigen Ausnahmen abgesehen,1 so gut wie keine Rolle. Jedenfalls insoweit scheint es (zumindest noch) nicht zu einem gender mainstreaming gekommen zu sein. Hinzu kommt der Umstand, dass in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil der Frauen an den in Praxis und Lehre tätigen Völkerrechtlern nach wie vor gering ist, obwohl er in den letzten Jahren, anders als etwa der Anteil von Professorinnen und Professoren, die nicht aus einem akademisch geprägten Elternhaus stammen, deutlich gestiegen ist. Beide Umstände legten es nahe, sich im Rahmen der seit 2002 mittlerweile fast schon Tradition gewordenen völkerrechtlichen Vortragsreihen am Kieler WaltherSchücking-Institut2 einmal mit der Bedeutung der Gender-Problematik für das Völker- aber auch für das Europarecht zu beschäftigen. Dementsprechend beruhen die Beiträge für den vorliegenden Sammelband auf Vorträgen, die im Rahmen der Vortragsreihe „Gender und Internationales Recht“ im Wintersemester 2005/2006 sowie im Sommersemester 2006 am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht der Christian Albrechts-Universität Kiel gehalten wurden. Dabei sollte 1 Vgl. etwa B. Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht – Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, 2006; vgl. ferner aber auch bereits den – wohl allerdings nicht zufälligerweise englischsprachigen und von einer US-Amerikanerin stammenden – Beitrag von B. Hernandez-Truyol, Crossing Borderlands of Inequality with International Legal Methodologies – The Promise of Multiple Feminisms, German Yearbook of International Law, vol. 44, 2001, 113 ff. 2 Vgl. dazu im Einzelnen A. Zimmermann, Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit, 2004; R. Hofmann/A. Zimmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa – Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, 2005, sowie A. Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006.

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Andreas Zimmermann

gerade auch versucht werden, Kolleginnen als Referenten zu gewinnen – nicht weil es sich um ein typisches Frauenthema handelt, sondern weil auch der studentischen Öffentlichkeit gezeigt werden sollte, dass sich mittlerweile durchaus auch Frauen unter den ausgewiesenen deutschen Völkerrechtlern befinden. Absicht der Veranstalter war es dabei nicht zuletzt auch, klären zu lassen, inwieweit es in der Tat auch im materiellen Völkerrecht zu einem gender mainstreaming in dem Sinne gekommen ist, dass sich Frauenbelange und genderbezogene Ansätze inzwischen auch bei der Auslegung und Anwendung bestehender oder der Schaffung neuer Völkerrechtsnormen konkret nachweisen lassen. Ein besonderer Dank gilt dabei dem Schleswig-Holsteinischen Ministerium für Bildung und Frauen, welches die Durchführung der Vortragsreihe mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung überhaupt erst ermöglicht hat. Seit seiner Entstehung war das Völkerrecht traditionell fast nur reine „Männersache“. Schon früher gab es jedoch Ausnahmen, auch wenn dies vielleicht nicht so bekannt sein mag. Vor diesem Hintergrund unternimmt es der Beitrag von Martina Haedrich, exemplarisch an drei Beispielen – Bertha von Suttner, Elisabeth Mann Borghese und Rosalyn Higgins – nachzuzeichnen, welche Frauen es in Vergangenheit und Zukunft geschafft haben, sich in der Männerdomäne Völkerrecht Gehör zu verschaffen, und was ihr jeweiliges völkerrechtliches Werk jeweils ausmacht. Karin Oellers-Frahm wendet sich sodann einer Frage zu, die auf den ersten Blick eher trocken erscheinen mag, deren Brisanz sich auf den zweiten Blick hin aber sofort erkennen lässt, wenn man sich etwa die nach wie vor bestehende Praxis mancher arabischer Staaten vor Augen hält, zum einen ausländischen Ehefrauen mit der Heirat die Staatsangehörigkeit des Ehemannes zu verleihen mit der Folge, dass der andere, ursprüngliche Heimatstaat möglicherweise keinen diplomatischen Schutz mehr für die Frau ausüben darf, und zum anderen die Staatsangehörigkeit ius sanguinis nach wie vor nur an den Vater anzuknüpfen mit der Folge, dass bei gemischtnationalen Ehen das Kind eine andere Staatsangehörigkeit besitzt als die Mutter. Nicht ohne Grund haben die Herausgeber im Titel dieses Bandes den Begriff „Gender“ benutzt, der ja nicht nur an die Frage nach dem „biologischen“ Geschlecht anknüpft, sondern auch an die Zuschreibung sozialer Rollen – ein Umstand, der durch die auf den ersten Blick kryptische rechtswahrende Formulierung in Art. 7 Abs. 3 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes eher bestätigt als in Frage gestellt wird.3 Dementsprechend passt sich denn auch der Beitrag von Dagmar Richter, der sich mit Fragen des Schutzes und der Gleichberechtigung 3 Die Norm lautet in der deutschen Übersetzung: „Im Sinne dieses Statuts bezieht sich der Ausdruck ‚Geschlecht‘ auf beide Geschlechter, das männliche und das weibliche, im gesellschaftlichen Zusammenhang. Er hat keine andere als die vorgenannte Bedeutung.“

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von Homosexuellen im Völker- und Europarecht beschäftigt, in den Rahmen des vorliegenden Bandes ein. Gleichberechtigung in der Bundeswehr, Quote, Kündigungsschutz bei Schwangerschaft – die Liste der Fragen, denen sich der Europäische Gerichtshof im Bereich der Gleichbehandlung von Mann und Frau bisher gewidmet hat, ließe sich noch lange fortsetzen. Damit ist, wie der Beitrag von Christine Langenfeld eindrucksvoll belegt, der Europäische Gerichtshof nicht nur als immer wieder vielbeschworener Motor der Integration, sondern auch als Motor der Gleichberechtigung tätig geworden und hat zugleich auch die Rechtslage in Deutschland maßgeblich mit geprägt. Hanna Beate Schöpp-Schilling, bereits seit langen Jahren Mitglied des Überwachungsausschusses nach dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), ist die wohl beste Kennerin dieses Übereinkommens und zeigt in ihrem Beitrag den besonderen, querschnittartigen Charakter des Übereinkommens auf, das es von anderen, themenzentrierten Menschenrechtschutzverträgen unterscheidet. Vielleicht mit derjenige Bereich, in dem das Völkerrecht in den letzten zehn bis zwanzig Jahren am stärksten frauenrelevanten Belangen Genüge getan hat, bildet das humanitäre Völkerrecht und das damit eng verknüpfte Völkerstrafrecht. Dies gilt namentlich für den Schutz vor sexueller Gewalt im Kontext bewaffneter Konflikte. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es zu begrüßen, dass Stefanie Schmahl vorliegend untersucht, welche (besondere?) Stellung Frauen im humanitären Völkerrecht innehaben und welches Frauenbild die entsprechenden Normen abbilden. Der Beitrag von Anne Peters schließlich erläutert umfassend die verschiedenen feministischen Ansätze zur Analyse des Völkerrechts, hinterfragt deren Berechtigung und beurteilt praktische Erfolge der feministischen Kritik an der bestehenden normativen Ordnung des Völkerrechts und bildet damit aus gutem Grunde den Schlusspunkt für den vorliegenden Band. Alles in allem zeigt die Bandbreite der vorliegenden Beiträge, dass das, was man früher landläufig als „Frauenthemen“ oder die „Genderfrage“ bezeichnet haben mag, inzwischen in immer stärkeren Bereichen an Relevanz gewonnen hat – vielleicht trägt der vorliegende Band mit dazu bei, dass diese Entwicklung weiter voranschreitet.

Frauen im Völkerrecht – von Bertha von Suttner bis zur Gegenwart Von Martina Haedrich

Einleitung Bedeutende Namen in der Völkerrechtswissenschaft sind zumeist nicht nur mit besonderen wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch mit besonderen Aktivitäten verbunden. Bei Rosalyn Higgins ist es die Propagierung des Völkerrechts als Prozess und ihre Tätigkeit als erste Richterin am Internationalen Gerichtshof, bei Elisabeth Mann Borgese die Konzipierung einer Friedensordnung der Meere und die Schaffung eines Internationalen Ozeaninstituts auf Malta und bei Bertha von Suttner das Hineintragen des Pazifismus in das Völkerrecht und die Gründung von Friedensgesellschaften. Rosalyn Higgins repräsentiert die Völkerrechtlerin unserer Zeit, die mit der klassischen juristischen Ausbildung zum Völkerrecht gekommen ist. Elisabeth Mann Borgese ist ohne juristisches Studium zu einer anerkannten Völkerrechtlerin auf dem Gebiet des Seerechts geworden. Bertha von Suttner, auch ohne juristische Ausbildung, behielt immer eine Distanz zum Völkerrecht. Gleichwohl hat sie das Völkerrecht wesentlich beeinflusst und den Wandel vom Kriegs- zum Friedensvölkerrecht befördert. Gegenstand der Untersuchung sind allgemeine und spezifische Beiträge von Frauen für das Völkerrecht. Im Vordergrund stehen also nicht Frauenbiografien, sondern besondere Beiträge von Frauen zum Völkerrecht.1

I. Bertha von Suttner Bertha von Suttner wurde 1843 in Prag geboren. Sie erlernte Fremdsprachen, Klavier und Gesang und verdiente sich, nachdem sie eine Zeit lang als Gouvernante tätig war, mit dem Schreiben Geld. Da war sie bereits dreißig Jahre alt. In 1 So auch Thilo Rensmann (zu Eleanor Roosevelt), Der Beitrag Eleanor Roosevelts zur Fortentwicklung des Völkerrechts, in: Beate Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht. Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, 2006, 129 ff.

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Martina Haedrich

die Zeit ihrer ersten Schreibversuche fällt auch eine Bewerbung als Sekretärin für Alfred Nobel, einem Industriellen, dem Erfinder des Dynamits und Stifter des Friedensnobelpreises. Die Stelle als seine Sekretärin nahm sie letztlich nicht an und lehnte auch seinen Heiratsantrag ab. Schließlich heiratete Bertha von Suttner ihre Jugendliebe, Arthur von Suttner, der, wie sie, schriftstellerisch tätig war.2 Die Themen, denen sie sich zuwandte, waren solche von Krieg und Frieden, vor allem in Romanen und Erzählungen verarbeitet und, soweit es sich um Romane handelte, zumeist verbunden mit Darstellungen zur gleichberechtigten Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Frau, die stets friedliebend war, brachte den Mann in langen Dialogen dazu, Kriegsgegner zu werden. Beides war neu zu jener Zeit: Eine Frau überzeugt einen Mann zu neuem Denken, das traditionelle Bahnen verlässt, und es erfolgt eine Erziehung zur Friedensliebe.

1. Die Widerlegung des Kriegsprinzips Zu den Konstanten politischen Denkens der Zeit, in der Bertha von Suttner lebte und agierte, gehörte die Auffassung, dass Krieg unabdingbar und gottgegeben ist und dass dieser dem Fortschritt und der Erneuerung der Gesellschaft sowie der Dezimierung der sich sonst zu schnell vermehrenden Menschheit dient. Diese Auffassungen griff Bertha von Suttner an, stellte die vermeintliche Gesetzmäßigkeit von Kriegen in Frage und stellte sich damit mutig und kampfentschlossen gegen die öffentliche Meinung. In ihrem ersten Roman „Inventarium einer Seele“ setzte sie, anders als in ihren späteren Romanen, auf Abschreckung als Mittel zu einer friedlichen Welt, eine These, die mit der Entwicklung der ersten Massenvernichtungswaffen im Zusammenhang steht. Diese Auffassung, die sich in dem Buch in der Äußerung artikulierte, dass auch zu hoffen steht, dass „… einst die Erfindung von immer gewaltigeren Zerstörungsmaschinen, welche endlich im Stande wären … ganze Armeen auf einmal zu vernichten, dadurch die ganze Strategie aufheben und das Kriegführen überhaupt zur Unmöglichkeit machen werde“,3 war stark beeinflusst von Alfred Nobel, mit dem sie in ständigem Briefwechsel stand. Er propagierte die These der Abschreckung, dass nämlich die Erfindung immer gefährlicherer Kampfmittel das Kriegführen unmöglich mache. Eine weitere Theorie, die Darwinsche Evolutionstheorie, wendete sie ungebrochen auf die geistige Entwicklung des Menschen an und sah in einem „Edelmenschen“ das 2

Siehe die Biographie von Brigitte Hamann, Bertha von Suttner. Ein Leben für den Frieden, 1991, sowie Sandra Hedinger, Frauen über Krieg und Frieden, 2000, zu Bertha von Suttner, 58–101, und ferner Christian Götz, Die Rebellin Bertha von Suttner. Botschaften für unsere Zeit, 1996. 3 Bertha von Suttner, Inventarium einer Seele, 1883, 108.

Frauen im Völkerrecht – von Bertha von Suttner bis zur Gegenwart

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Resultat der Evolution. So wendet sie sich in „Inventarium einer Seele“ auch gegen die Auffassung, dass der Krieg in der Natur des Menschen liege, und ging von einem bloßen Wortmissverständnis aus, wonach nicht Krieg, sondern Kampf das Gesetz sei. Danach sind die Kampfwerkzeuge der Menschen nicht Kanonen, sondern solche der Geister, der Schönheit und der Geschicklichkeit. Daraus erwuchs für sie eine Gesetzmäßigkeit einer sich mehr und mehr befestigenden Humanität gegen die Barbarei und zwar in Gestalt eines allmählichen Ausrottens der kriegführenden Stämme durch friedliebende Nationen.4 Solche Kämpfe hätten ein Aussterben des Völkerhasses durch Umsichgreifen kosmopolitischer Ideen und die Erringung des ewigen Friedens zur Folge.5 Diese Gedanken stießen in ihrer Zeit, die geprägt war von einer Glorifizierung von Kriegen und Kriegshelden, freilich auf wenig Resonanz. Die Befassung mit dem Thema Krieg und Frieden durch Bertha von Suttner war von Anfang an von der Frage begleitet, wie die Forderungen nach einer friedlichen Welt in die Realität umgesetzt werden können. In einem Gespräch im Hause des französischen Schriftstellers Alphonse Daudet hörte sie erstmals von der Existenz einer Friedensbewegung und sah dadurch ihre Idee der Völkerjustiz und den Kampf um die Abschaffung des Krieges Gestalt annehmen. Sie ergänzte sogleich ihr Buch, diesmal ein Sachbuch „Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen unserer Zeit“, das ihr gerade als Korrekturfahne vorlag, um ein Zusatzkapitel über die Friedensbewegung. In diesem Buch setzt sie sich mit dem Diktum „si vis pacem, para bellum“ auseinander, sprach von einem „altrömischen Idiotensatz“ und davon, dass das alte aus der Untermenschlichkeit überkommene Kriegsprinzip in ein dem neuen Geist huldigendes Phrasengewand gekleidet sei.6 In dem Buch ging sie auf die Breitenwirkung von Massenvernichtungswaffen und die dadurch entstandene neue Qualität von Kriegen ein, die nicht mehr nur auf die kriegführenden Heere beschränkt sind. In dieser Schrift verarbeitet sie auch die von Alfred Nobel erlangten Erkenntnisse über die Wirkung von Sprengstoffen und Massenvernichtungswaffen, wendet sich aber nun von seiner die Kriege vermeintlich verhindernden Abschreckungstheorie ab und geht im Gegenteil davon aus, dass die Kriegslust gerade Abschreckung verhindert. Sie hebt das Resultat mit Massenvernichtungswaffen geführter Kriege hervor, nämlich dass es keine Sieger oder Besiegte gibt, sondern ganze Völker vernichtet werden. Damit hat Bertha von Suttner die neue Qualität dieser Kriege mit neuen Waffen erkannt und deren

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von Suttner (Anm. 3), 101–102. von Suttner (Anm. 3), 102. 6 Bertha von Suttner, Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit, 1888, 308. 5

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Konsequenzen beschrieben. Früher als viele andere hat sie gesehen, dass ein Weltkrieg bevorstand.7 Neben der völkerrechtlich interessanten Auseinandersetzung mit der Abschreckungstheorie und der Wirkung von Massenvernichtungswaffen betonte sie auch, dass es nicht darum geht, Kriege zu humanisieren, sondern zu verhindern. Sie stellte ihre Friedensidee über die Idee, durch Kriege Verwundete zu heilen, und fragte: „Was ist die Fahne des Roten Kreuzes gegen die weiße Fahne des Friedens? Von einer Anzahl Verwundeter einen kleinen Bruchteil heilen, das ist der Ersteren möglich – aber den Krieg selber aufheben, das vermag die Zweite.“8 Damit brachte sie hier und zu verschiedenen anderen Anlässen die mehr oder minder versteckte Kritik zum Ausdruck, dass das von Henri Dunant gegründete Rote Kreuz lediglich die Leiden mildern, aber nicht vermeiden hilft. Das Buch Maschinenzeitalter schrieb Bertha von Suttner unter dem Pseudonym „Jemand“, weil sie befürchtete, dass ihr ein weiblicher Autorenname die gewünschte Leserschaft versagen würde. Das Buch stieß tatsächlich auf einen großen Leserkreis und auf breite Resonanz unter Politikern und Militärs. Darin sah Bertha von Suttner den Beweis, dass es keine spezifisch weibliche Art zu denken und zu schreiben gibt.

2. „Die Waffen nieder!“ – Ein Antikriegsroman Ihr berühmtestes Werk „Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte“ erschien im Jahre 1889. Es handelt sich um einen Roman mit autobiografischen Zügen. Diesmal wollte Bertha von Suttner ein breites Publikum, vornehmlich Frauen und junge Menschen, erreichen. Der Roman erzählt über eine Adelige (Martha), deren Schicksal durch Krieg geprägt war. Weite Passagen widmet sie auch dem Gedanken, wie Fortschritt für oder gegen die Menschen angewandt wird.9 Außerdem wendet sie sich gegen jede Rechtfertigung von Rüstungskampagnen, die zwangsläufig in eine Rüstungsspirale münden. Den Begriff Rüstungsspirale verwendet Bertha von Suttner freilich noch nicht, sie benutzt dafür den Ausdruck vom „zweistimmigen Wechselgesang“ und kleidet den Zwang zum Hochrüsten in einen Vers:

7 In dieser Auffassung war sie sich mit Johann von Bloch einig, einem russischen Industriellen und Pazifisten, der starken Einfluss auf Nikolaus II ausübte. Er schrieb das Buch „Der Zukunftskrieg, vom technischen und politischen Standpunkt aus betrachtet“, 1892. 8 von Suttner (Anm. 6), 323. 9 Bertha von Suttner, Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, 1889, 136.

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Meine Rüstung ist die defensive, Deine Rüstung ist die offensive, Ich muss rüsten, weil du rüstest, Weil du rüstest, rüste ich, Also rüsten wir, Rüsten wir nur immer zu.10 Der Romanheld (Tilling) erkennt diesen Teufelskreis und will nun den Kampf gegen den Krieg aufnehmen. Dazu gründet er eine Friedensarmee, die ohne militärische Waffen auskommt, aber im Besitz von anderen, nämlich geistigen und moralischen Waffen, dem Rechtsgedanken und der Menschenliebe, ist. Die Resonanz auf das Buch war überwältigend. „Die Waffen nieder!“ hatte die Wirkung eines Aufrufs zum Aufbruch. Dieses Thema, die wachsende Bedrohung ganzer Völker, empfanden viele und in allen Bevölkerungsschichten. Antworten, dieser Bedrohung zu entgehen, gab es wenige in dieser Zeit. Das Buch aber bot solche Antworten. Damit erklärt sich die Wirkung, die es erzeugte. Außerdem war das Buch aufrüttelnd geschrieben, die Grausamkeit der neuen Waffen und Sprengstoffe wird analysiert und es wird eine Alternative angeboten, die Schaffung einer Friedensarmee, die mit friedlichen Mitteln um eine bessere Gesellschaft kämpft. Mit dem Ruhm, der Bertha von Suttner mit diesem Werk zuteil wurde, verband sich eine wachsende Korrespondenz mit Gleichgesinnten. Durch den sich schnell vergrößernden Kreis von Kriegsgegnern und Friedensfreunden wuchs Bertha von Suttner in ihre zweite große Aufgabe, die Organisation einer Friedensbewegung, hinein. Bei einem Aufenthalt in Venedig 1890/91 regte sie die Gründung der Friedensgesellschaft Venedig an. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Vertreter der „Interparlamentarischen Konferenz“ kennen, die pazifistisch gesinnte Parlamentarier verschiedener Länder in sich vereinigte. Auch die Gründung der „Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde“ geht weithin auf die Initiative Bertha von Suttners zurück. Sie wurde zu ihrer Präsidentin gewählt, eine Funktion, die sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1914 wahrnahm. Eine der Höhepunkte in ihrem Wirken als Mitglied der Friedensbewegung war zweifellos ihre Delegierung als offizielle Vertreterin Österreich-Ungarns zur „Dritten Weltfriedenskonferenz“ im Jahre 1891 in Rom. Als einzige Frau hielt sie dort eine öffentliche Rede. Auf dem vierten Weltfriedenskongress in Bern propagierte sie die Gründung eines europäischen Staatenbundes, zu dessen Verbreitung ein „internationales Friedensbüro“ in Bern führte. Dem Büro stand Bertha von Suttner als Vizepräsidentin vor. Schließ-

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von Suttner (Anm. 9), 248.

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lich engagierte sie sich zusammen mit Alfred H. Fried für eine deutsche Friedensgesellschaft, die 1892 gegründet wurde.11 Mit dem Ziel, die Aktivitäten der Friedensgesellschaft auch publik zu machen, gründete Bertha von Suttner im selben Jahr eine pazifistische Zeitschrift mit dem inzwischen schon zum Programm gewordenen Titel ihres 1889 erschienenen Buches „Die Waffen nieder!“. Es war die erste deutsche pazifistische Zeitschrift und sie begriff sich als Medium der Friedensbewegung. Alfred H. Fried, der Mitstreiter Bertha von Suttners aus Wien, übernahm die Redaktion. Die in dem ersten Leitartikel zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, dass sich die Besten der Nation zu vereinigen beginnen und sich die Fürsten und Völker zu treffen beginnen, erfüllte sich nicht.12 1899 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein und eine neue pazifistische Zeitschrift, die „Friedens-Warte – Wochenschrift für internationale Verständigung“ wurde gegründet. Alfred H. Fried übernahm die Herausgeberschaft und Redaktion. Die Friedens-Warte zielte nicht mehr allein auf die Friedensgesellschaften, sondern sprach ganz ausdrücklich die Öffentlichkeit an. Zum Ausgangspunkt wurde die Erste Haager Friedenskonferenz genommen, mit der nach Auffassung Frieds die Friedensbewegung in ein neues Stadium getreten war.13

3. Die Erste Haager Friedenskonferenz Die Erste Haager Friedenskonferenz, eine Staatenkonferenz, an der zahlreiche Friedensgesellschaften beteiligt waren, fand 1899 statt.14 Bertha von Suttner war als einzige Frau, wenn auch ohne Rederecht, zugelassen und empfand dies als „Ausnahmegunst“.15 Ihr besonderes Interesse fand die Sitzung der dritten Kommission, deren Gegenstand sie als zentral betrachtete. Die dritte Kommission beschäftigte sich mit der friedlichen Schlichtung internationaler Konflikte, goss diese in eine Konvention zur friedlichen Streitschlichtung und schuf die Grundlage für internationale Schiedsgerichte und Vermittlerdienste zur Streitbeilegung.16 Damit wurde eine Verrechtlichung ziviler Konfliktregelung eingeleitet. Dieses für das Völkerrecht nicht hoch genug einzuschätzende Ergebnis der schrittweisen Ausge11

Friedrich-Karl Scheer, Die Deutsche Friedensgesellschaft 1892–1933, Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, 1981, 168. 12 P. P. der Verlagshandlung zur Monatsschrift „Die Waffen nieder!“ I (1892), No. 1, 40. 13 Alfred H. Fried, Eine neue Friedenszeitschrift!, in: Die Waffen nieder! VIII (1899), No. 12, 440. 14 Karl-Heinz Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, 229 ff. 15 Bertha von Suttner, Die Haager Friedenskonferenz, Tagebuchblätter, 1900, 14. 16 Alfred H. Fried, Handbuch der Friedensbewegungen, Teil 1, 2. Aufl. 1911, 134 ff.

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staltung des Instrumentariums der friedlichen Streitbeilegung und der Institutionalisierung einer internationalen Gerichtsbarkeit wurde von der Pazifistin Bertha von Suttner insofern relativiert, als sie die zögerliche Haltung der Staaten, diese Vorhaben auch in die Tat umzusetzen, kritisierte. Das heißt, der für die völkerrechtliche Rechtsbildung und Rechtsentwicklung so entscheidende Umstand, dass die Konferenz der Ausgangspunkt für neue Institute des Völkerrechts war, wurde in den Augen Bertha von Suttners durch den mangelnden Staatenwillen zur Umsetzung geschmälert. Treffend wurde die Haltung der Staaten auf der Konferenz von dem Völkerrechtler Adolf Zorn eingeschätzt: Die Teilnehmer haben sich nicht dazu „verleiten lassen, eine zu weit gehende Humanisierung der kriegsrechtlichen Bestimmungen auf Kosten ihrer Durchführbarkeit in der Praxis zu versuchen“.17 So wurde die Schiedsgerichtsbarkeit durch Rußland, Amerika und England zwar beantragt und unter anderem von Frankreich unterstützt, aber Deutschland, ÖsterreichUngarn, Rumänien und die Türkei versuchten, eine solche zu verhindern. Bertha von Suttner litt sehr darunter, dass sie während der Konferenz von den Völkerrechtsprofessoren nicht ernst genommen wurde, und noch Jahre später äußerte sie sich erbost über das Auftreten insbesondere deutscher Professoren, die in der Auseinandersetzung mit Karl Freiherr von Stengel während der Ersten Haager Konferenz kulminierten.18 Auch viele Jahre später äußerte sie sich Fried gegenüber sehr enttäuscht über die Haltung der Völkerrechtler zum Pazifismus und zur Friedensbewegung auf der Friedenskonferenz. Später noch zeigt sie sich immer wieder enttäuscht über die distanzierte und ablehnende Haltung von Völkerrechtlern gegenüber Pazifismus und Friedensbewegung: „Das so genannte ‚Völkerrecht‘ – trockene Juristerei – passt nicht in die Friedensbewegung, ungefähr sowenig wie das Rote Kreuz“.19 Die Friedensideen der Pazifisten wurden in der Tat von der Völkerrechtswissenschaft jener Zeit kaum mehr aufgenommen. Für die Völkerrechtswissenschaft waren vielmehr Kriegsverherrlichung und die Beschreibung des Krieges als unabdingbaren Bestandteil der Weltordnung vorherrschend. Das in den Jahren 1885–1889 in vier Bänden und einem Indexband erschienene Handbuch des Völkerrechts von F. von Holtzendorff, in dem verschiedene Völkerrechtler zu Wort kamen, mag dafür als Beispiel dienen.20 17

A. Zorn, Das Kriegsrecht zu Lande in seiner neusten Gestaltung. Eine kritische Untersuchung, 1906, 19. 18 Tagebuch Bertha von Suttners, Archiv der Vereinten Nationen, Collection SuttnerFried. Aufzeichnung vom 5.1.1902, zitiert nach Hamann (Anm. 2), 264. 19 Briefe Bertha von Suttners an Alfred H. Fried, Archiv der Vereinten Nationen, Collection Suttner-Fried, 19.2.1912, zitiert nach Hamann (Anm. 2), 265. 20 F. von Holtzendorff unter Mitarbeit von A. von Blumerincq, E. Caratheodory, O. Dambach, K. Gareis, F. H. Geffcken, L. Geßner, H. Lammasch, C. Lueder, F. Meili, W. v. Melle, A. Rivier und F. Stork, 1885–1889.

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Im Jahre 1907 wurde die Zweite Haager Friedenskonferenz einberufen, doch der Verlauf um die Ergebnisse war enttäuschend.21 Die Abrüstungsfrage wurde diesmal auf Betreiben Deutschlands und dem von Deutschland abhängigen Österreich-Ungarn gar nicht debattiert, sondern nur durch eine nichts sagende Resolution abgewürgt. Der Grund für das mangelnde Interesse an einer Abrüstungsdiskussion waren die Kriegsvorbereitungen europäischer Staaten. Bertha von Suttner stellte in dieser Zeit ein Fortschreiten des Auseinanderdriftens der Pazifisten und der Regierungen fest. Ihren Standpunkt, Kriege nicht durch Abschreckung, sondern durch Völkerverständigung, Verflechtung zwischen den Nationen, Verhinderung von Kriegsursachen und durch völkerrechtliche Verträge herzustellen, verbreitete sie auch nach der Jahrhundertwende noch weithin im Alleingang.22 Trotz aller Rückschläge hat Bertha von Suttner mit ihrem Friedensengagement nicht nachgelassen, das im Jahre 1905 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises gekrönt wurde. In ihrem Vortrag vor dem Nobel-Komitee des Storthing zu Christiania vom 18. April 1906,23 den sie der Friedensbewegung gewidmet hatte, sah sie in dieser „mehr ein Symptom als die Ursache der sich vollziehenden Wandlung“ und erkannte einen „Prozess der Internationalisierung, der Solidarisierung der Welt“.24 Sie war „von der Notwendigkeit und der Segensfülle eines gesicherten juridischen Friedenszustandes zwischen den Völkern“25 überzeugt. Ihre Hoffnungen richteten sich auf Staatsoberhäupter, die sich zum Ideal der Friedensbewegung bekannten, und nannte u.a. den britischen Premierminister Henry Campbell-Bannerman, der den Buren Autonomie einräumte, den französischen Senator Paul d’ Estournelles de Constant, der sich für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich einsetzte, und den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, der es für eine Pflicht aller Regierungen hielt „die Zeit näher zu bringen, wo das Schwert nicht mehr Schiedsrichter zwischen den Völkern wäre“.26 In diesen Aktivitäten und Aussagen sah Bertha von Suttner eine auf den Weltfrieden verpflichtete Außenpolitik. Unter Berufung auf Roosevelt sah sie Chancen in einer Neuordnung, die sich erstrecken sollte auf „1. Schiedsgerichtsverträge, 2. Eine Friedensunion zwischen den Staaten“ und „3. Eine internationale Institution, kraft deren das Recht zwischen den Völkern ausgeübt werden könnte … und dadurch die Abschaffung der Notwendigkeit, zum Kriege Zuflucht 21 Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, 1987, 136 f. 22 Bertha von Suttner, Stimmen und Gestalten, 1908, 136. 23 Abgedr. in Beatrix Kempf, Bertha von Suttner. Schriftstellerin – Politikerin – Pazifistin, 1987, 213 ff. 24 Kempf (Anm. 23), 217. 25 Kempf (Anm. 23), 216. 26 Kempf (Anm. 23), 218.

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zu nehmen,“ erreichen würde.27 Diese Visionen verstellten nicht den kritischen Blick Bertha von Suttners, die die Gefahren eines nahenden Weltkrieges erblickte. Sie nutzte die Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises auch dazu, das Programm der Zweiten Haager Konferenz mit den Tagesordnungspunkten über die Gesetze und Gebräuche des Krieges, Beschießung von Häfen, Städten und Dörfern, Legung von Minen u.s.w. als die Aufrechterhaltung der herrschenden Kriegsordnung zu kritisieren und der Konferenz vorzuwerfen, dass deren Anhänger diese noch „auf dem eigensten Terrain der Friedensbewegung zwar modifizieren, aber aufrechterhalten wollten“.28 Bertha von Suttner litt darunter, mit anzusehen, wie die Kriegspropaganda erfolgreich alle Schichten ergriff. Sie hoffte auf die Wirkung einer Antikriegspropaganda durch einen neuen Friedenskongress. Doch ihre Kräfte verließen sie zusehends. Sie starb im Juni 1914 und erlebte damit den Ersten Weltkrieg nicht mehr. Der von Bertha von Suttner noch vorbereitete Friedenskongress fand nicht mehr statt und die Friedens-Warte musste im April 1915 – vorübergehend – ihr Erscheinen einstellen.29

4. Die Würdigung Bertha von Suttners durch Walther Schücking Anlässlich des Todes Bertha von Suttners widmete ihr die Friedens-Warte eine Gedenkausgabe, in der ihr herausragender Beitrag bei der Entstehung der Friedensbewegung aufgezeigt wurde. Alfred H. Fried bezeichnete ihren Ruf „Die Waffen nieder!“ und die Veröffentlichung des gleichnamigen Buches als Wendepunkt der Friedensbewegung, in dem der Pazifismus von der Utopie zur Wissenschaft und Realpolitik hinübergeleitet wurde.30 Walther Schücking würdigte Bertha von Suttner in diesem Heft mit einem Beitrag unter dem Titel „Bertha von Suttner und die Wissenschaft vom Völkerrecht“ als große Pazifistin und hob die Bedeutung ihres Wirkens für die Friedensbewegung heraus.31 Von besonderem Interesse ist der Aufsatz deshalb, weil Schücking die Bedeutung der Friedensideen und der Friedensbewegung für das Völkerrecht hervorgehoben hat – eine für Völkerrechtler jener Zeit völlig neue 27

Kempf (Anm. 23), 218–19. Kempf (Anm. 23), 220. 29 Zur Geschichte der Friedens-Warte Daniel Porsch, Die Friedens-Warte zwischen Friedensbewegung und Wissenschaft, Die Friedens-Warte 74 (1999), 39 ff. 30 Alfred H. Fried, Bertha von Suttner, Die Friedens-Warte XVI (1914), 242. 31 Walther Schücking, Bertha von Suttner und die Wissenschaft vom Völkerrecht, Die Friedens-Warte XVI (1914), 252 ff. 28

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Sichtweise. Ideen vom Frieden und nicht von der bloßen Einhegung des Krieges und von der Kraft der Massen und nicht nur der Rolle der Eliten in der Gesellschaft wurden für das Völkerrecht fruchtbar gemacht. Schücking beklagte in seinem Beitrag, dass es „immer noch Juristen in Deutschland (gibt), die bei der Überschrift dieses Artikels das Haupt schütteln werden“. Er bezeichnete diese Völkerrechtler als „Fachgelehrte“ und bezweifelte, dass deren Wissenschaft ertragreich sein kann, denn diese „Leute wissen gar nichts von den lebendigen Kräften der Friedensbewegung“, und er prognostizierte, dass diese Rechtslehrer, „die mit dem tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem modernen Völkerrecht und der Friedensbewegung ganz unbekannt geblieben, heute im Aussterben oder, was noch besser, im Umlernen begriffen (sind)“. Hierzu hat, so Schücking, Bertha von Suttner einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet.32 Bertha von Suttner hat mit ihrem Gedankengut zum Pazifismus und ihrem Engagement für die Friedensbewegung dem Völkerrecht dieser Zeit eine neue Richtung gegeben. Das klassische Völkerrecht, vom Grundsatz des ius ad bellum beherrscht, bot keinen Raum für Friedensideen, denn nicht der Frieden, sondern der siegreiche Krieg waren das Ziel. Die Ideen des Pazifismus und die Kraft der Friedensbewegung, beides von Bertha von Suttner entscheidend geprägt, haben die Erste Haager Konferenz beeinflusst, die als Beginn einer internationalen Friedensordnung bezeichnet werden kann.

II. Elisabeth Mann Borgese Elisabeth Mann Borgese, Jahrgang 1918, ist die jüngste Tochter von Thomas Mann. Sie emigrierte mit den Eltern 1933 in die Schweiz und dann in die USA. Sie starb im Februar 2002. Am Konservatorium in Zürich erhielt sie eine Ausbildung als Pianistin, arbeitete aber nicht in diesem Beruf, sondern war in ihren späteren Lebensjahren als Politologin an mehreren Wissenschaftsinstituten und schließlich als Professorin für Politikwissenschaft und internationales Seerecht an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Dalhousie Universität, Halifax, Kanada tätig. Das Professorenamt übernahm sie 62jährig im Jahre 1980. Sie ist einziges weibliches Gründungsmitglied des Club of Rome (1970) gewesen, war an der Ausarbeitung der Seerechtskonvention als Teilnehmerin der Seerechtskonferenz für Österreich beteiligt und gründete 1972 das Internationale Ozean-Institut auf Malta, eine renommierte wissenschaftliche Einrichtung, die inzwischen weltweit regionale Zentren unterhält. Ihrem Gründungskonzept entsprechend führt das Institut politik-

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Schücking (Anm. 31), 253.

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wissenschaftliche Forschungen durch, bietet Trainingsprogramme an und hält Konferenzen ab.

1. Das Meer – gemeinsames Erbe der Menschheit Ihrer Biographie ist zu entnehmen, dass sich die Liebe zum Meer auf die enge Beziehung des Vaters zum Meer gründet. Diese emotionale Bindung verband sie mit naturwissenschaftlichem und politischem Interesse.33 Elisabeth Mann Borgese bezeichnete sich selbst als Ozeanologin und umreißt damit am besten ihre Beschäftigung mit ökologischen, ökonomischen, technologischen, politischen und völkerrechtlichen Aspekten der Ozeane. Mit diesem breiten Ansatz ist sie erfolgreich aus der monodisziplinären Denkweise ausgebrochen. Sie hat die Ozeane ganzheitlich und, hier sei ein Begriff aus der Biologie erlaubt, systemisch erfasst. Es waren stets und vor allem die Schnittstellen von sozialen und naturwissenschaftlichen Aspekten, die ihr Interesse fanden. So veröffentlichte sie im Jahre 1962, bevor ihre eigentliche Beschäftigung mit den Ozeanen begann, das Buch mit dem provokanten und wohl in Anspielung auf Darwins Evolutionstheorie gewählten Titel „Ascent of Woman“.34 In diesem Buch äußert Elisabeth Mann Borgese Gedanken zur Gruppenbildung. Diese gründen sich auf Beobachtungen der Tierwelt, die sie auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Hier zieht sie aus der Existenz von Gruppen und der darin entstehenden Kräfte, die sowohl bei den Insektenvölkern als auch bei den Säugetieren immer von den Weibchen mobilisiert werden, Schlussfolgerungen für das Leben der Menschen. Das Streben zur Gruppenbildung, also zum Kollektiv, und das Kollektivdenken stellen sich für sie als etwas ausgesprochen Weibliches dar, das die heutige pluralistische Gesellschaft befördere und, so ihre Prognose, an Bedeutung gewönne. Diese Gedanken münden in die Aussage, dass sich unsere Utopia als Weltstaat und föderalistische Weltrepublik präsentieren wird.35 Die Idee einer föderalistischen Weltrepublik ließ sie nie wieder los. Elisabeth Mann Borgese beschreibt, dass sie in den 60er Jahren den Entschluss gefasst hat, sich dem Schutz der Meere zu verschreiben.36 Sie betrachtete die Meere als „großes Laboratorium“, in dem eine neue Weltordnung geschaffen 33

Nikolaus Gelpke, Porträt: Botschafterin der Ozeane, Elisabeth Mann Borgese, Gründerin des International Ocean Institute – Kämpferin für die Meere aus Leidenschaft, in: mare No. 1, April/Mai 1967, 3. 34 Elisabeth Mann Borgese, Ascent of Woman, 1963. 35 Mann Borgese (Anm. 34), 45 ff. 36 Elisabeth Mann Borgese, Bericht an den Club of Rome, in: Mit den Meeren leben. Über den Umgang mit den Ozeanen als globaler Ressource, 1999, 7.

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werden kann, weil das Meer uns zwingt, anders zu denken und zu handeln.37 Mit ihren Gedanken zur Freiheit der Meere knüpft sie an das inzwischen allgemein anerkannte rechtspolitische Konzept des common heritage of mankind, des gemeinsamen Erbes der Menschheit, an, das auf den maltesischen Botschafter Arvid Pardo zurückgeht, der im Jahre 1967 in einer Rede vor den Vereinten Nationen diesen Gedanken vorstellte, und das als Beginn eines neuen Seerechts in die Geschichte eingegangen ist.38 Pardo belegte, dass das „Doppelprinzip“ des Seerechts, das einmal die Ausdehnung der Staatensouveränität über die Meere und die Freiheit der Meere zum Gegenstand hat, aktuelle und neue Probleme lösen könne. Denn die Ausdehnung der Souveränität und damit der Hoheitsgebiete führt zu neuen Konflikten und die unbegrenzte Nutzung ohne Reglements führt zur Vernichtung der lebenden Ressourcen und zur Zerstörung der Ökologie der Meere. Deshalb forderte Pardo einen übergreifenden über die beiden Grundsätze hinausgehenden Grundsatz des gemeinsamen Erbes der Menschheit, auf dessen Grundlage alle vom Meer profitieren und das im Interesse der gesamten Menschheit verwaltet, für friedliche Zwecke genutzt und für künftige Generationen bewahrt werden soll. Dieser Grundsatz hat in der Seerechtskonvention von 1982 Aufnahme gefunden. Elisabeth Mann Borgese, die sich mit Arvid Pardo und seinen Auffassungen eng verbunden gefühlt hat, sah in diesem Konzept den Gedanken einer neuen Staats- und Wirtschaftsordnung angelegt, der sich in der Zielstellung verdichtet, das Gesamtwohl in den Vordergrund zu stellen, das Vorsorge- und das Nachhaltigkeitsprinzip umzusetzen39 und den erweiterten Sicherheitsbegriff, der nicht nur militärische, sondern auch soziale und ökologische Sicherheit umfasst, zu verwirklichen.40

2. Souveränität und Partizipation Elisabeth Mann Borgese war stets eine Kämpferin für friedliche Meere, wobei Frieden hier als Einklang zu verstehen ist. Ihre Gedanken sind die einer Visionärin. In der Hoffnung auf die Kraft des Grundsatzes des gemeinsamen Erbes der Menschheit sah sie Möglichkeiten zur Beseitigung des Konfliktpotentials, das sich mit dem Streben nach Inanspruchnahme der Meere ergab. Sie belegt, dass mit der damals kurz vor dem Abschluss stehenden Seerechtskonvention ein Übergang von einem Laissez-faire-System, auf der „Freiheit der Meere“ begründet, zu einem 37

Mann Borgese (Anm. 36), 8. UN Doc. A/C. 1PV. 1515 und 1516. 39 Elisabeth Mann Borgese/Krishan Saigal, Managerial Implications of Sustainable Development in the Ocean, Ocean Yearbook 12 (1996), 1 ff. 40 Mann Borgese (Anm. 36), 27. 38

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regulierten Managementsystem vollzogen wird, das neue Formen der Zusammenarbeit erfordert.41 Bis dahin war die Hohe See ein souveränitätsfreier Raum. Das sich hinter dem Grundsatz, die Hohe See als souveränitätsfreien Raum zu begreifen, verbergende Prinzip ging davon aus, dass das Meer so groß sei, dass es, vergleichbar mit der Luft, durch niemanden zueignen gemacht werden könne, es also frei ist.42 Mit der Seerechtskonvention von 1982 wurde die Souveränität insoweit ausgedehnt, als in den Anschlusszonen den Staaten solche Rechte eingeräumt wurden, wie sie im Küstenmeer bis zum Abschluss der Seerechtskonvention galten – ohne jedoch die übliche freie Nutzung der Hohen See einzuschränken. Elisabeth Mann Borgese kämpfte unermüdlich gegen die überlieferten, aber längst widerlegten Auffassungen über die Unerschöpflichkeit der Fischbestände und die unerschöpfliche Aufnahmefähigkeit von Abfall und sie belegte, dass die modernen Technologien zur Überfischung und zu einer gefährlichen Verschmutzung der Meere geführt haben.43 Mit der Seerechtskonvention sieht sie die Zeit für die Umsetzung der Idee eines regulierten Managementsystems auf den Meeren gekommen und erfasst die Souveränität als einen „organischen Integrationsbegriff“, wonach Teil und Ganzes gemeinsam wachsen. Dies mündet dann in die Auffassung, dass die Souveränität gestärkt und nicht, wie oft angenommen, reduziert oder geschwächt werden muss, um neuen Formen der Kooperation gerecht zu werden: „Die Entwicklung der internationalen Gemeinschaft (des Ganzen) fördert die Entwicklung der nationalen Gemeinschaft (des Teiles)“. Der Begriff Souveränität erweitert sich auf diese Weise um die Dimension der Partizipation. Mit anderen Worten: die Souveränität erfährt durch Partizipation eine Stärkung. Zur Ausübung der Souveränität müssen alle Staaten an den Beschlüssen teilnehmen und diese für ihre Bereiche umsetzen.44 Die Aufgabe zur Umsetzung des Grundsatzes des gemeinsamen Erbes der Menschheit wird konsequent auch im Hinblick auf die verschiedenen an der Umsetzung beteiligten Akteure auf den Weltmeeren gesehen. Das sind neben den 41 Elisabeth Mann Borgese, Die Seewirtschaft. Von Jäger- und Sammlerwirtschaft zu Algenbau und Seeviehzucht, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Die Plünderung der Meere, 1981, 114 ff., 127–128. Drastischer formuliert dies Graf Vitzthum in der Einleitung dieses von ihm herausgegebenen Buches. Er sprach von neo-kolonialistischen Meeres- und Meeresbodennahmen und von der ungleichen Verhandlungsmacht der Unersättlichen und Zukurzgekommenen, deren Absichten und Belange sich auf dem Interessenschauplatz der See kreuzen, 13. 42 Diese Auffassung begründete Hugo Grotius in seinem berühmten Werk Mare Liberum, 1609. 43 Elisabeth Mann Borgese, Gemeinsames Erbe der Menschheit, in: mare No. 5, Dezember 1997/Januar 1998, 35. 44 Elisabeth Mann Borgese, Das Drama der Meere, 1977, 231.

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Fischern, Schiffern, Meeresarchitekten, Küstenzonenplanern und -entwicklern auch die Krieger.45 In den Kriegern sieht sie jene, die sich dieser internationalen Ordnung am schärfsten widersetzen werden, aber auch, dass eine Reduzierung des Rüstungswettlaufs dadurch ermöglicht werden kann, dass militärische Aktivitäten von bestimmten Meereszonen ausgeschlossen bleiben und Friedenszonen geschaffen werden.46 Einen Beitrag, das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit auch Realität werden zu lassen, sah sie in den von ihr geschaffenen Ozean-Instituten als einen neuen Typus internationaler Organisationen, teils politischen, teils ökonomischen, teils wissenschaftlichen Charakters. Elisabeth Mann Borgese dienten die Meere als Medium, eine gerechte Weltordnung zu schaffen, in der auf Gegenseitigkeit gerichtete Verantwortung der Industrienationen und der Entwicklungsländer zum Tragen kommt. Diese Auffassungen ließ Elisabeth Mann Borgese in ihre Thesen zum Umgang mit der Umwelt und den Ozeanen einmünden. Man wird ihrem interdisziplinären Ansatz wohl am besten gerecht, wenn man diese Gedanken als Konzeption einer Ordnungspolitik begreift. Es sind philosophische, ethische und rechtliche Vorstellungen, die sie zu einem Ganzen zusammenfügt. Ein zentraler Punkt ist, dass sich eine politische Kultur des Denkens und Handelns zu entwickeln beginnt, die von sozialer, ökologischer und politischer Verantwortung getragen ist.

3. Pacem in Maribus Eine zweite völkerrechtlich besonders interessante These Elisabeth Mann Borgeses zur Souveränität ist jene zum Wandel der Souveränität, die darin kulminiert, dass sich die Souveränität von einem einheitlichen zu einem vielschichtigen Begriff entwickelt hat, der sich im Inneren durch die Demokratie und im Außenverhältnis durch ein dichter werdendes Geflecht internationaler Verträge auflöst.47 Anknüpfend an diese allgemeine Aussage nimmt sie Bezug zu den Ozeanen und sieht in der Seerechtskonvention ein Instrument, das die Souveränität begrenzt, verwandelt und überschreitet.48 Die Begrenzung der Souveränität bezieht sie insbesondere auf die friedliche Streitbeilegung, die Zusammenarbeit in Angelegenheiten des Umweltschutzes, die Ressourcenbewirtschaftung oder den Technologietransfer. Die Verwandlung der Souveränität sieht sie, indem die Seerechtskonvention den Souveränitätsbegriff in ausschließliche Hoheitsrechte, ausschließliche Rechte 45 46 47 48

Mann Borgese (Anm. 44), 235 ff. Mann Borgese (Anm. 44), 238. Mann Borgese (Anm. 44), 174. Mann Borgese (Anm. 44), 176.

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und Hoheitsgewalt und Kontrolle bzw. gemeinsame Hoheitsbefugnisse zerlegt. Das Hinausgehen über die Souveränität wird schließlich mit der Anwendung des Konzepts des gemeinsamen Erbes der Menschheit erklärt.49 Es ist der von Elisabeth Mann Borgese praktizierte Ansatz, verschiedene Gebiete in ein Thema, das des Pacem in Maribus zu bündeln und durch eigene Visionen fruchtbar zu machen, der ihr Lebenswerk bestimmt. In ihren Arbeiten verweist sie stets darauf, dass Erkenntnisse über die Abwehr neuer Bedrohungen existieren, dass Schifffahrtsstraßen, Sicherheitszonen und Regelungen des Verkehrsaufkommens auf Hoher See eingerichtet werden, Radar- und Satellitentechnologie Schiffe überall überwachen können – mit anderen Worten, dass die technischen Voraussetzungen, Regeln und Institutionen existieren, aber dass sowohl politischer Wille und wirtschaftliches Interesse vielerorts fehlen, um diese Möglichkeiten zu nutzen und die Bestimmungen einzuhalten. So erklärt es sich, dass sie ihre Arbeit gerade darauf konzentrierte, die Erkenntnisse umzusetzen. Ihre Mitwirkung im Club of Rome war Ausdruck des unermüdlichen Strebens der Umsetzung ihrer Visionen für eine bessere Welt und ihres Engagements, Institutionen zu schaffen, die ihre Ideen Wirklichkeit werden lassen. Das International Ocean Institute auf Malta, dessen Gründung auf ihre Initiative zurückgeht, und ihr Leitspruch Pacem in Maribus stehen dafür wie ein Fanal.

III. Rosalyn Higgins Rosalyn Higgins, geboren am 2. Juni 1937 in London, ist die erste Richterin am Internationalen Gerichtshof, dem sie seit 1995 angehört und zu dessen Präsidentin sie im Jahre 2006 gewählt wurde. Nach dem Jurastudium in Cambridge und Yale erkannte sie früh ihre Liebe zum Völkerrecht und war u.a. an der Brookings Institution in Washington D.C. und dem Royal Institute of International Affairs tätig. 1978 erhielt sie eine Professur für Völkerrecht an der Universität Kent in Canterbury und 1981 eine solche an der Universität von London, die sie bis zum Jahre 1995, dem Jahr, in dem sie am Internationalen Gerichtshof das Richteramt übernahm, innehatte. 1986 wurde sie zur Queen’s Counsel berufen und 1989 wurde sie Vorstandsmitglied der Inner Temple Society. Außerdem trägt sie die hohe Auszeichnung der „Dame Commander of the British Empire“. Von 1984 bis 1995 war Rosalyn Higgins Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Konvention für politische und Bürgerrechte. Erwähnenswert ist auch, dass Rosalyn Higgins vor ihrer Tätigkeit beim Internationalen Gerichtshof vor verschiedenen englischen

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Mann Borgese (Anm. 44), 177.

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Gerichten, vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sowie vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg aufgetreten ist.

1. Die Dialektik von Völkerrecht und Politik Hervorhebenswert an Rosalyn Higgins wissenschaftlicher Arbeit ist, dass sie sich vor allem grundsätzlichen Themen des Völkerrechts zuwendet und – das kann als das Spezifische ihrer Methode und Herangehensweise an die Materie des Völkerrechts bezeichnet werden – dass sie das Prozesshafte, das Werden und Wachsen des Rechts im Allgemeinen oder einer speziellen Norm im Besonderen anhand politischer Entwicklungen nachspürt.50 Sie sah auch schon früh in den Resolutionen der Generalversammlung einen Ausdruck der Staatenpraxis. Dies fand sie darin begründet, dass sich die Vereinten Nationen im Hinblick auf die Zahl ihrer Mitglieder seit 1955 durch Dekolonisierung und Aufnahme der neu gebildeten Staaten auf eine universelle Institution hin entwickelte. Unter diesem Aspekt hielt sie die Entscheidungen eines solchen Gremiums für die Ausprägung des Völkerrechts und deren weitere Verfestigung für besonders bedeutsam.51 Besonders augenfällig spiegelt das Buch „Problems and Process: International Law and How We Use It“ ihre Auffassung zur Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen wider, das eine Anfang der 90er Jahre an der Haager Akademie für Völkerrecht gehaltene Vorlesungsreihe zum Inhalt hat.52 Das Buch enthält rechtliche Reflexionen des Völkerrechtsprozesses nach dem Wegfall des OstWest-Konfliktes und hat solche grundlegenden Gegenstände zum Inhalt, wie das Vertrags- und Gewohnheitsrecht, das Selbstbestimmungsrecht, den Menschenrechtsschutz und das Gewaltverbot. Besonders liegt ihr daran, das Verständnis von Völkerrecht in der Weise zu entwickeln, dass seine Gegenstände in die politischen Prozesse einzuordnen sind, und schließlich zu belegen, wie diese Prozesse die Regelungen und Vereinbarungen zum Völkerrecht prägen. Die Verbindung zwischen Recht und Politik – rsp. zwischen Völkerrecht und Außenpolitik – spielt in ihren Schriften eine dominierende Rolle. Rosalyn Higgins sieht das Völkerrecht nicht in erster Linie als bloße Ableitung vorangegangener völkerrechtlicher Entscheidungen oder Regelungen, sondern vor allem als Umsetzung politischer 50

Genannt seien einige ihrer wichtigsten Publikationen: Rosalyn Higgins, The Development of International Law through the Political Organs of The United Nations, 1963; dies., Conflict of Interests: International Law in a Divided World, 1965; dies., Problems and Process: International Law and How We Use It, 1994. 51 Higgins, Development (Anm. 50), 2. 52 Higgins, Problems and Process (Anm. 50). Siehe zu diesem Anliegen insbesondere die Einleitung, VI.

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Prozesse in Recht als einen politisch geprägten Rechtsbildungsprozess (decisionmaking process). Für sie nehmen neu entstehende Normen vergangene rechtliche und politische Entwicklungen in sich auf und sind unter den aktuellen Bedingungen und den erwarteten Ergebnissen zu betrachten. Mit anderen Worten, sie sind in ihre Zeit, in der sie entstanden sind, und in die Zeit, in der sie angewendet werden sollen, einzuordnen. Wie in einem Prisma findet diese Sichtweise vor allem in dem erwähnten Buch „Problems and Process: International Law and How We Use It“ Widerspiegelung. Sie stellt also, um das noch einmal zu betonen, den großen Zusammenhang zwischen Recht und Politik dar und zeigt auf, dass das Völkerrecht nicht ohne politische und soziale Konsequenzen zu sehen ist.53 Diese komplexe Sichtweise durchzieht das ganze Buch und zeigt, dass Entscheidungen stets auch als politisch zu betrachten sind und das Völkerrecht nicht neutral sein kann.54 Unter anderem verdeutlicht Rosalyn Higgins diesen Aspekt – Beispiele finden sich in jedem Kapitel des Buches – an der Rolle des Gewohnheitsrechts in den internationalen Beziehungen und betont, dass Gewohnheitsrecht seine Bedeutung verlieren kann, wenn keine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung dieser Normen besteht. Deshalb ist ein Bedarf zur weiteren Anerkennung völkerrechtlicher Normen erforderlich, auf deren Grundlage die Normen angewendet und stetig präzisiert werden müssen. Eine solche Präzisierung erachtete sie – schon Anfang der 90er Jahre – für das Gewaltverbot und das Recht auf Selbstbestimmung als notwendig. So forderte sie eine Veränderung völkerrechtlicher Normen, wenn sie dem gesellschaftlichen Interesse nicht mehr entsprechen, und sieht Art. 2 Ziff. 4 und Art. 51 UN-Charta als derartige veränderungsbedürftige Normen an.55

2. Das Wirken am Internationalen Gerichtshof Auch im Wirken Rosalyn Higgins als Richterin am Internationalen Gerichtshof kommt ihre Sichtweise, Politik und Recht in einen engen Kontext zu stellen, zum Tragen. Dies sei an zwei Sondervoten demonstriert. Das erste betrifft das Gutachten zur Frage der Rechtmäßigkeit der Drohung oder Anwendung von Atomwaffen56 und das zweite das Gutachten zum israelischen Sperrzaun und der Frage der

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Higgins, Problems and Process (Anm. 50), 96 ff. Higgins, Problems and Process (Anm. 50), 267. 55 Higgins, Problems and Process (Anm. 50), 241 und 244. 56 Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 8.7.1996, Diss. Op. Higgins, ICJ Reports 1996, 583 ff. 54

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Generalversammlung nach den rechtlichen Konsequenzen des Baus des Zauns und die rechtliche Bewertung der Besetzung der palästinensischen Gebiete.57 In ihrem Sondervotum zu dem Gutachten zur Rechtmäßigkeit der Drohung oder Anwendung von Atomwaffen stützt Rosalyn Higgins ihre Bewertung nicht allein auf Verbotsnormen, sondern sie nimmt als Bewertungsmaßstab das gesamte System der Völkerrechtsnormen und die politische Situation, in der die Normen wirken. Sie kritisiert die Mehrheitsmeinung der Richter, die sich darauf beschränkt, die von einigen Staaten verfolgte Politik der nuklearen Abschreckung inhaltlich wiederzugeben, ohne dem eine klare rechtliche Bewertung folgen zu lassen. Rosalyn Higgins spricht sich in ihrem Sondervotum klar für die Zulässigkeit der nuklearen Abschreckung aus und kritisiert die Unentschlossenheit und Uneindeutigkeit im Gutachten zu dieser Frage, die zu einem non liquet geführt hat.58 Im Sondervotum zum Gutachten zum israelischen Sperrzaun hält sie einige Ausführungen des Gerichts für unzureichend begründet und für teilweise falsch – so z.B. zum Selbstverteidigungsrecht. Der Internationale Gerichtshof hat ein Selbstverteidigungsrecht Israels bereits daran scheitern lassen, dass die abzuwehrenden terroristischen Handlungen keinem fremdem Staat zurechenbar seien – und dies, obgleich die Anschläge des 11. September 2001 durch den Sicherheitsrat gerade ohne Zurechnung zu einem Staat als das Selbstverteidigungsrecht bedingende Akte gewertet worden sind. Rosalyn Higgins verweist auf die Terrorakte, die von palästinensischen Terroristen ausgehen und macht ihren Standpunkt zur Mitverantwortung Palästinas für die Gesamtsituation deutlich. Hier kommt wieder ihr Denkansatz zum Tragen, den politischen Kontext der juristischen Sachverhalte in den Vordergrund zu stellen, ohne den, so Higgins, eine Bewertung nicht möglich ist. Dabei betont sie klar die Illegalität der Situation durch Israel, d.h. dass nicht gewaltsame Maßnahmen, wie der Zaunbau, nicht unter das Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta fallen oder mindestens nach den Maßgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gerechtfertigt sind. Sie hebt aber ebenfalls deutlich hervor, dass sich auch besetzte Entitäten an die Regeln des Völkerrechts zu halten haben und dieses vom Gericht festzustellen ist. Da sie den Gegenstand des Gutachtens als Streit zwischen Israel und Palästina begreift, müssen nach ihrer Auffassung auch die Verantwortlichkeiten beider Akteure gleichermaßen herausgestellt und untersucht werden. So bedauert sie die verpasste Chance, im Gutachten festzustellen, dass nicht nur die Besetzer Zivilisten uneingeschränkt zu schützen haben, sondern ebenso jene, die sich von der Besetzung zu befreien suchen.59 In 57 Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Gutachten vom 9.7.2004, Diss. Op. Higgins, ICJ Reports 2004, 207 ff. 58 Threat or Use of Nuclear Weapons (Anm. 56), 589 ff., para. 27–32. 59 Construction of a Wall (Anm. 57), 212, para. 19.

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diesen Zusammenhang ist auch ihre Aussage zu stellen, dass ein Staat das Recht zur Verteidigung seiner Bürger nicht dadurch verlieren darf, dass die Angriffe ihren Ursprung im besetzten Gebiet haben. Palästina soll nicht als internationale Rechtspersönlichkeit vom humanitären Völkerrecht und der Parteienstellung vor dem Internationalen Gerichtshof profitieren können, ohne ebenfalls als internationale Rechtspersönlichkeit an das Verbot bewaffneter Übergriffe auf andere gebunden zu sein.60 Für Rosalyn Higgins ist es wichtig, einen politischen Standpunkt bei der Beurteilung rechtlicher Fragen einzunehmen. Ihre Haltung als Richterin am Internationalen Gerichtshof wie auch ihre wissenschaftliche Arbeit zeigen eine enge Verknüpfung zwischen Recht und Politik und eine Schwerpunktsetzung auf die politischen Entscheidungsprozesse und nicht auf die Normen. Nach ihrer Auffassung bestimmen politische Entscheidungen die Völkerrechtsentwicklung, die Politik gibt diesen Prozess vor.61

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Construction of a Wall (Anm. 57), 215, para. 34. All das weist sie als eine Vertreterin der New Haven School aus. Rosalyn Higgins, McDougal as Teacher, Mentor and Friend (Testimonial to Late Yale Law School Professor Myres McDougal), Yale Law Journal 108 (1999), 57 ff. 61

Völkerrechtliche Fragen der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht Von Karin Oellers-Frahm

A. Einführung Nur selten macht man sich Gedanken über seine Staatsangehörigkeit oder darüber, ob man vielleicht auch eine andere haben könnte. Diese Frage kann relevant werden bzw. stellt sich oft erstmals, wenn man beabsichtigt, einen Ausländer zu heiraten. Korrekterweise muss ich hinzufügen, dass ich das Wort Ausländer für die meisten Staaten inzwischen auch durch „Ausländerin“ ergänzen kann, und damit komme ich dann auch zum eigentlichen Thema, das für viele Staaten kein großes Problem – mehr – aufwirft, aber eben nicht für alle. Denn der Gedanke, für den durchaus vieles spricht, dass Familienmitglieder die gleiche Staatsangehörigkeit haben sollten, um Loyalitätskonkurrenzen innerhalb einer Familie zu vermeiden, hat in aller Regel zu der in früheren Zeiten nahe liegenden Lösung geführt, dass die Frau bei der Heirat die Staatsangehörigkeit ihres Mannes annehmen musste und dass, selbst wenn einmal eine andere Regel bestand oder gar doppelte Staatsangehörigkeit zulässig war, die Kinder jedenfalls die Staatsangehörigkeit des Vaters erhielten. Wer also unter seinen Vorfahren auch Träger einer anderen Staatsangehörigkeit hat, kann nun darüber nachdenken, ob er, bei einer anderen Regel der Weitergabe der Staatsangehörigkeit, vielleicht heute Staatsbürger eines anderen Staates sein könnte. Diese wenigen einführenden Bemerkungen legen natürlich die Frage nahe, was das mit Völkerrecht zu tun hat, denn die Regelung der Staatsangehörigkeit ist eine ureigene Domäne des nationalen Rechts.1 Das ist natürlich richtig, und der Titel meines Vortrags ist von den Veranstaltern, wie nicht anders zu erwarten, problembewusst und lösungsorientiert formuliert worden, denn Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts können im Völkerrecht insbesondere unter dem Aspekt der

1 Siehe Internationaler Gerichtshof, Nottebohm (Liechtenstein v. Guatemala), ICJ Reports 1955, 4 ff., wo festgestellt wird: „International law leaves it to each State to lay down the rules governing the grant of nationality“, 23.

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Gleichberechtigung bzw. im größeren Rahmen der Menschenrechte thematisiert und reguliert werden.

B. Historischer Kontext Der Gedanke, bei der Staatsangehörigkeit den Frauen dieselben Rechte zuzugestehen wie den Männern, wurde schon – oder sollte man doch sagen „erst“? – 1922 in der International Law Association (ILA) aufgeworfen. Die ILA verabschiedete eine Resolution mit dem Inhalt, dass es „wünschenswert wäre, durch Vertrag einheitlich die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen zu regeln und dabei den Frauen, so weit wie möglich, das Recht einzuräumen, selbst ihre Staatsangehörigkeit zu wählen“.2 Das Thema wurde 1923 in der ILA erneut unter dem Aspekt der Gleichheit von Mann und Frau aufgeworfen, geriet dann aber wieder in den Hintergrund, da andere als wichtiger eingestufte Themen aufkamen. Die ILA griff das Thema dann etwa 70 Jahre später, nämlich 1992, wieder auf, und im Jahr 2000 wurden in London ein Bericht und eine Resolution hierzu angenommen.3 In der übrigen Völkerrechtswissenschaft blieb die Gleichberechtigung der Frau im Staatsangehörigkeitsrecht eher ein Stiefkind, auch wenn einige Organisationen sich ihrer annahmen und auch ein nicht unbeachtlicher Fortschritt in internationalen Instrumenten zu verzeichnen ist. Aber auch heute noch gibt es diskriminierende Staatsangehörigkeitsgesetze, nicht nur in eher „exotischen“ Staaten, sondern z.B. auch in den USA, wobei, und das sollte man auch erwähnen, nicht immer die Frauen diejenigen sind, die ungleich behandelt werden. In den USA z.B. ist es für einen amerikanischen Vater schwieriger als für eine amerikanische Mutter, seinen im Ausland geborenen Kindern die amerikanische Staatsangehörigkeit zu vermitteln, wenn der andere Elternteil nicht US Bürger ist und die Eltern nicht verheiratet sind. Hier spielt natürlich die Nachweisbarkeit der Elternschaft eine Rolle, die bei der Frau naturgemäß leichter zu erbringen ist.4 In dem konkreten Fall ging es um die Beziehungen zwischen Eltern und Kind, und der Supreme Court war mehrheitlich der Meinung, dass in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt war, weil Mütter immer eine engere Bindung zu ihren Kindern hätten. Vier Richter dissentierten, weil sie die Argumentation, dass die Mutter 2

ILA, 31st Conference Report, 1922, 257. ILA 69 Conference Report London 2000, 248–304. 4 Entscheidungen des US Supreme Court in Nguyen v. Immigration and Naturalization Service, 121 S.Ct. 2053 (2001), und Miller v. Albright, 523 U.S. 420 (1998). Hierzu insgesamt K. Knop/C. Chinkin, Remembering Chrystal Macmillan: Women’s Equality and Nationality in International Law, Michigan Journal of International Law 22 (2000/2001), 523 ff., 528. 3

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unweigerlich eine enge Beziehung zu dem Kind aufbaut, für ein „sexual stereotyp“ hielten. Die Tatsache, dass die Mutter das Kind zur Welt bringt, garantiere nicht, dass sich auch eine enge Beziehung zwischen ihr und dem Kind entwickelt, da dieses von ihr aus verschiedensten Gründen getrennt werden kann. Ein anderes Beispiel für die Folgen diskriminierenden Staatsangehörigkeitsrechts belegt, dass manche Berühmtheiten als Aushängeschild für andere Staaten genutzt werden könnten, wenn die Staatsangehörigkeit der Kinder nicht auf diskriminierender Grundlage verliehen worden wäre. So könnte der weltbekannte Golfer Tiger Woods, amerikanischer Staatsbürger, auch Thailands internationales Image im Golfsport verbessern, da seine Mutter Thailänderin ist. Allerdings hat er bisher die Angebote, die Staatsangehörigkeit Thailands anzunehmen, abgelehnt. Das Thema der Gleichberechtigung, und das heißt der Gleichberechtigung der Frau, in Fragen der Staatsangehörigkeit wurde in den 90er Jahren durch eine Reihe von Entscheidungen wieder in den Vordergrund gerückt, die ich ganz kurz erwähnen möchte, da sie insbesondere auch durch ihre unterschiedlichen Ergebnisse die Probleme, die es hier zu berücksichtigen gilt, demonstrieren. Die das allgemeine Interesse wieder auslösende Entscheidung war nicht etwa eine Entscheidung des US Supreme Court oder des Bundesverfassungsgerichts, sondern ein Urteil des High Court von Botswana aus dem Jahr 19915 und dem folgend ein Urteil des Court of Appeal von Botswana von 1992,6 in denen Völkerrecht herangezogen wurde, um das botswanische Staatsangehörigkeitsrecht für verfassungswidrig zu erklären, weil es auf Grund des Geschlechts diskriminierte. Die botswanischen Staatsangehörigkeitsregeln waren in der Tat erschreckend. Die Klägerin, Unity Dow, hatte die Staatsangehörigkeit von Botswana; sie war mit einem US Bürger verheiratet. Obwohl sie in Botswana geboren war, die Familie in Botswana lebte und auch ihre Kinder dort geboren waren und aufwuchsen, konnte Unity Dow als verheiratete Frau ihren Kindern nicht ihre Staatsangehörigkeit weitergeben. Anders herum, wenn der Vater Botswaner ist und mit einer Ausländerin verheiratet ist, werden die Kinder automatisch Staatsangehörige von Botswana. So aber hatten die Kinder nur eine Aufenthaltserlaubnis, die an die des Vaters gebunden war, die jeweils nur für 2 Jahre gewährt wurde; auch konnten die Kinder nur auf den Pass ihres Vaters reisen, also niemals mit der Mutter allein. Zudem konnten ihre Kinder als Ausländer keine finanzielle Unterstützung für ihre Universitätsausbildung erhalten etc. Die von Unity Dow geltend gemachte Verletzung des Rechts auf Nichtdiskriminierung auf Grund des Geschlechts wurde von 5 Unity Dow v. Attorney General of Botswana, 1991, Law Reports Commonwealth (Const.), 574 (Bots. H.Ct.). 6 Unity Dow v. Attorney General of Botswana, 1992, Law Reports Commonwealth (Const.), 623 (Bots. C.A.).

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den Gerichten anerkannt mit Blick auf die Konvention über die Abschaffung jeder Form der Diskriminierung der Frau, die Afrikanische Charta der Rechte des Menschen und der Völker sowie andere internationale Instrumente. Dieses erfreuliche Urteil beeinflusste auch andere Gerichte, wie z.B. den Supreme Court von Zimbabwe,7 den Supreme Court von Sri Lanka,8 sogar den kanadischen Supreme Court,9 die alle zugunsten der Aufhebung der Diskriminierung der Frau im Staatsangehörigkeitsrecht entschieden, während andere Gerichte bedauerlicherweise Diskriminierungen aufrechterhielten,10 so z.B. der Supreme Court von Bangladesh und der High Court Pakistans. In den „frauenfreundlichen“ Entscheidungen spielte jeweils Art. 9 der Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau von 1979 (Frauenrechtskonvention/CEDAW) eine bedeutende Rolle, wonach den Frauen die gleichen Rechte wie Männern hinsichtlich des Erwerbs, des Wechsels oder der Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gewährt werden sollen. Dies gilt insbesondere für den Fall der Eheschließung mit einem Ausländer und die Weitergabe der Staatsangehörigkeit an die Kinder; allerdings sind Vorbehalte zu dieser Bestimmung zulässig und werden auch gemacht (von 180 Mitgliedstaaten haben 12 spezifisch zu Art. 9 Vorbehalte gemacht). Auf die Konvention komme ich noch zurück.

C. Staatsangehörigkeitsrecht und Völkerrecht I. Zuständigkeit zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts Wie eingangs schon erwähnt, ist das Staatsangehörigkeitsrecht Gegenstand nationaler Regelung. Staaten sind frei, den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu regeln. Die Staatsangehörigkeit vermittelt dem Individuum bestimmte Rechte und Pflichten innerhalb eines Staates, in dem die Bürger durch die gleiche Staatsangehörigkeit in kultureller und sozialer Identität verbunden sind 7 Rattigan v. Chief Immigration Officer, Zimbabwe 1995 (2) SA 182 (Zimb.), und Salem v. Chief Immigration Officer, Zimbabwe 1995 (4) SA 80 (Zimb.), und Kohlhaas v. Chief Immigration Officer, Zimbabwe 1998 (6) BCLR 757 (Zimb.), sowie Hambley v. Chief Immigration Officer 1999 (9) BCLR 966 (Zimb.); siehe hierzu Knop/Chinkin (Anm. 4), 532 ff. 8 Fischer v. Controller of Immigration and Emigration, Sri Lanka Sup. Ct. 1999, Commonwealth Human Rights Law Digest 2 (2000), 346. 9 Benner v. Canada (Secretary of State), 1997, 1 S.C.R., 358. 10 Supreme Court Bangladesh, Malkani v. Secretary of the Ministry of Home Affairs of Bangladesh, Bangl. Sup. Ct., High Ct. Div. Dhaka 1997, sowie High Court Pakistan, Sharifan v. Federation of Pakistan, 50 All Pak. Legal Decisions (Lahore), 59 High Ct. 1997.

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oder sein sollen. Die Staatsangehörigkeit erlaubt die aktive Teilnahme am politischen Leben des Staates: Wahlrecht und andere politische Rechte sind in der Regel Staatsbürgern vorbehalten; ebenso die Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes. Ausländer genießen allerdings im fremden Staat bestimmte grundlegende Menschenrechte, die sich aus ihrem Aufenthalt im fremden Staat ergeben. Und so ist es der Stärkung der Menschenrechte und der wachsenden Rolle, die sie im Völkerrecht spielen, zuzuschreiben, dass Nicht-Staatsangehörige zunehmend Rechte in fremden Staaten genießen, insbesondere in Europa. In anderen Gegenden der Welt gibt es hier noch Defizite, aber wie die genannten Fälle zeigen, ist die Entwicklung unaufhaltsam und zeigt ihre Wirkung insbesondere in den grundlegenden Rechten, wie dem des Diskriminierungsverbots.

II. Grundsätze des Erwerbs der Staatsangehörigkeit Auf Detailfragen der Staatsangehörigkeit oder auch Probleme der Staatenlosigkeit kann und muss ich hier nicht eingehen. Erwähnt werden muss jedoch kurz, wie Staatsangehörigkeit erworben werden kann. Hier gibt es verschiedene Grundregeln; die beiden wichtigsten sind der Erwerb durch Abstammung, ius sanguinis, oder der Erwerb der Staatsangehörigkeit des Geburtsortes, ius soli. Im letzteren Fall ist die Staatsangehörigkeit klar, im ersten erwachsen Probleme, wenn die Eltern nicht die gleiche Staatsangehörigkeit haben. Daneben kann Staatsangehörigkeit z.B. durch Einbürgerung oder auch Adoption erworben werden; hier sind die Gesetze des Staates ausschlaggebend, insbesondere die, die das Einwanderungsrecht regeln. Diese Art des Erwerbs der Staatsangehörigkeit und die jeweilige staatliche Regelung ist jedoch auch einer der Ausgangspunkte für Probleme der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht, denn traditionell war im Fall der Heirat mit einem Ausländer für die Frau mit der Hochzeit einerseits der Zuzug in den Heimatstaat des Ehemannes verbunden und zudem der Erwerb seiner Staatsangehörigkeit, der meist mit dem Verlust der eigenen Staatsangehörigkeit verbunden war. Dies stand fraglos im Zusammenhang mit der Stellung der verheirateten Frau ganz allgemein, die auch erst auf Grund der Durchsetzung des Prinzips der Gleichberechtigung eine Besserung erfuhr. Die Regelung der Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau spiegelte also insgesamt die Stellung der Frau in der Ehe wider und verdeutlicht damit zugleich, weshalb das Problem der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht in aller Regel ein Problem der Diskriminierung der Frau war, das allerdings nicht auf die Frau beschränkt war, sondern sich auf die Kinder fortsetzte, wie der genannte Fall Unity Dow sehr deutlich macht. Natürlich haben im Laufe der Jahre viele Staaten diese Gesetze geändert, insbesondere westliche Staaten, in denen die Gleichberechtigung zum Grundrechtsstandard gehört. Die

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Frage, die in diesem Zusammenhang jedoch von Bedeutung ist und die hier zu behandeln ist, geht dahin, ob das Völkerrecht als solches Regeln enthält, die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen, ob also das Völkerrecht einen Standard vorgibt, der diesen Problemkreis für alle Staaten verbindlich regelt. Dies kann nur der Fall sein, wenn das Völkerrecht entsprechende gewohnheitsrechtliche Regeln enthält oder gar ius cogens.

III. Völkerrechtliche Regeln Wie schon betont, hat das Völkerrecht Fragen der Staatsangehörigkeit als solcher nie geregelt. Denn auch das nahezu weltweit befolgte Prinzip, dass die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen der des Mannes folgt, war nie als ein Satz des Völkergewohnheitsrechts zu verstehen, sondern allenfalls als ein allgemeines Rechtsprinzip gemäß Art. 38 Abs. 1 c) des IGH-Statuts.11 Die Staatsangehörigkeit war immer Teil des „domaine réservé“, der die ausschließlich nationale Kompetenz umschreibt, der aber immer enger wird, weil das Völkerrecht auch Bereiche berührt oder gar übernimmt, die Jahrhunderte lang in die nationale Zuständigkeit fielen. Bei der Staatsangehörigkeit waren die Menschenrechte, wie in zahlreichen anderen Bereichen, das wesentliche Einfallstor für die Beschränkung nationaler Kompetenzen durch das Völkerrecht. Dabei ging es zum einen um die Gleichberechtigung der Frau, zum anderen um die Rechte des Kindes. Allerdings war der Auslöser der Beschäftigung auch des Völkerrechts mit Fragen der Staatsangehörigkeit das Problem der Staatenlosigkeit und der doppelten Staatsangehörigkeit, die aus widersprüchlichen Staatsangehörigkeitsgesetzen folgten. Wenn eine Frau durch Heirat mit einem Ausländer ihre Staatsangehörigkeit automatisch verliert und die des Mannes erhält, später aber die Ehe geschieden wird und das Gesetz damit den Verlust der Staatsangehörigkeit verknüpft, ein Wiederaufleben der ursprünglichen Staatsangehörigkeit aber auch nicht vorgesehen ist, so ist der unerfreuliche Zustand der Staatenlosigkeit erreicht. Andererseits kann die lange Zeit als äußerst unerwünscht angesehene und bekämpfte Doppelstaatsangehörigkeit eintreten,12 wenn zwar durch Heirat die Staatsangehörigkeit 11

Siehe Studie der Vereinten Nationen, UN Department of Economic and Social Affairs, Convention on the Nationality of Married Women: Historical Background and Commentary, UN Doc. E/CN.6/389, 1962, 3. 12 In der Frage der Doppelstaatsangehörigkeit zeichnet sich inzwischen in Folge der Europäischen Konvention über Staatsangehörigkeit eine neue Entwicklung ab, die gerade für Ehen zwischen verschiedenen Staatsangehörigen Doppelstaatsangehörigkeit zulässt, aber auch durch erleichterte Einbürgerung die einheitliche Staatsangehörigkeit aller Familienmitglieder ermöglichen soll; siehe ILA Report 2000, 282.

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des Mannes erworben wird, die ursprüngliche Staatsangehörigkeit aber nicht verloren geht. Derartige Konflikte aufgrund nationaler Gesetze gibt es auch heute noch, und einige Staaten berufen sich noch heute ausdrücklich auf mögliche Staatenlosigkeit, um ihren Vorbehalt zu Art. 9 der Frauenkonvention zu rechtfertigen.13

1. Vertragsrecht a) Verträge zur Regelung von Staatsangehörigkeitsproblemen Dem Problem der Staatsangehörigkeitskonflikte versuchte man zunächst durch vertragliche Regelung beizukommen. Einschlägig ist hier vor allem die „Haager Konvention über gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen“ von 1930,14 die erstmals auch den Aspekt der Gleichberechtigung aufgreift, indem sie in Art. 10 bestimmt, dass die Änderung der Staatsangehörigkeit des Ehemannes während der Ehe ohne die Zustimmung der Frau nicht auch dazu führen darf, die Staatsangehörigkeit der Frau zu ändern. Im Übrigen aber lag dieser Konvention im Wesentlichen der Gedanke der Vermeidung der Staatenlosigkeit oder Mehrstaatigkeit zugrunde, wie Art. 8 der Konvention belegt, der die Tatsache, dass eine Frau durch Heirat mit einem Ausländer ihre Staatsangehörigkeit verliert, nicht kritisiert, sondern nur fordert, dass dies nur dann geschehen darf, wenn sie damit die Staatsangehörigkeit ihres Mannes erwirbt. Der Grundgedanke, der hier zuerst Niederschlag fand, war, dass zwar jeder Staat das Recht hat, die Staatsangehörigkeit nach seinen eigenen Gesetzen festzulegen, dass aber jeder Mensch ein Recht auf Staatsangehörigkeit hat. Diese Grundsätze finden sich in späteren völkerrechtlichen Instrumenten und Verträgen wieder und werden darin fortentwickelt, so z.B. in Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und in späteren Konventionen, wie der Konvention über die Verminderung der Staatenlo13

So z.B. Die Erklärung der Türkei und Marokkos Vorbehalt; siehe dazu näher Knop/ Chinkin (Anm. 4), 564. 14 LNTS 179, 89; siehe hierzu Report Committee on Feminism and International Law, ILA 69th Conference, Report 2000, 248 ff., 276 f. Gleichzeitig mit der Konvention wurde das „Sonderprotokoll betreffend Staatenlosigkeit“ und das „Protokoll betreffend einen gewissen Fall von Staatenlosigkeit“ verabschiedet. Letzteres bestimmt in Art. 1, dass ein Kind eines staatenlosen Vaters die Staatsangehörigkeit seines Geburtsstaates erhalten soll, wenn seine Mutter diese besitzt. Alle drei Instrumente wurden nur von wenigen Staaten ratifiziert; das Sonderprotokoll trat sogar nie in Kraft. Siehe hierzu B. Knocke, Das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit als Schranke für die Regelung des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts, 2005, 174 ff.

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sigkeit von 1961,15 der Konvention zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung von 196616 und dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997.17 Art. 4 des Europäischen Übereinkommens statuiert die inzwischen als allgemein gültig anerkannten Prinzipien, die die Staaten bei der ihnen nach wie vor zustehenden Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen befolgen sollen, nämlich: jedermann hat ein Recht auf Staatsangehörigkeit; Staatenlosigkeit ist zu vermeiden; niemand darf willkürlich seiner Staatsangehörigkeit beraubt werden; weder Heirat noch die Auflösung der Ehe oder auch der Wechsel der Staatsangehörigkeit eines Ehepartners während der Ehe berührt automatisch die Staatsangehörigkeit des anderen Ehepartners. Dass das Recht auf eine Staatsangehörigkeit als Gewohnheitsrecht angesehen werden kann, wurde lange bezweifelt, obwohl allgemein zumindest eine gewohnheitsrechtliche Bestrebung zur Vermeidung der Staatenlosigkeit anerkannt wurde.18 Ob diese subtile Unterscheidung überhaupt sinnvoll war, kann man bezweifeln. Heute jedenfalls ist das Recht auf Staatsangehörigkeit anerkannt und wird sogar als Menschenrecht angesehen.19

b) Vertragliche Regelungen mit Blick auf die Gleichberechtigung Während der erste Ansatz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit für Frauen infolge ihrer Heirat mit einem Ausländer somit die Vermeidung möglicher Staatenlosigkeit bzw. Doppelstaatsangehörigkeit war, kam mit dem Erstarken der Menschenrechte, insbesondere dem Gleichheitssatz, die Gleichberechtigung als völkerrechtliche Vorgabe auch für die staatliche Gesetzgebung in Staatsangehörigkeitsfragen ins Spiel. Der Gleichheitssatz ist inzwischen allgemein als Völkergewohnheitsrecht anerkannt und daher von allen Staaten bei ihrer Gesetzgebung, nicht nur im Bereich der Staatsangehörigkeit, zu berücksichtigen. Aber auch hier war Ausgangspunkt der Entwicklung das Vertragsrecht, das als Grundlage des Entstehens des relevanten Völkergewohnheitsrechts anzusehen ist und aus dem sich zudem der Inhalt des Gleichheitssatzes im Bereich der Staatsangehörigkeit herauskristallisieren lässt. Daher muss an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die wichtigsten einschlägigen Verträge gegeben werden, wobei zu unterscheiden ist zwischen Verträgen, die speziell Fragen der Gleichberechtigung 15

UNTS Bd. 989, 175; BGBl. 1977 II, 598. UNTS Bd. 660, 295; BGBl. 1969 II, 962. 17 Siehe hierzu K. Hailbronner, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, 182–183. 18 ILA Report 2000, 277. 19 Siehe hierzu J. M. M. Chan, The Right to Nationality as Human Right, Human Rights Law Journal (HRLJ) 12 (1991), 2 ff. 16

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mit Bezug zum Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und solchen, die allgemein die Gleichberechtigung betreffen oder aber andere Rechte, die für die Staatsangehörigkeit relevant sind.20

aa) Verträge zu Fragen der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht Der Gedanke, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung auch für Fragen der Staatsangehörigkeit instrumentalisiert werden kann, wurde bereits Ende der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts von der Interamerikanischen Frauenkommission aufgenommen und mündete 1933 in den Entwurf des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen, das allerdings erst 1958 in Kraft trat. Art. 1 dieses Übereinkommens enthält für die Vertragsparteien folgende Verpflichtung: „There will be no distinction based on sex as regards nationality, in their legislation or their practice“.21 Dieses Übereinkommen enthält jedoch weder eine Regel über die Weitergabe der Staatsangehörigkeit einer verheirateten Frau an ihre Kinder noch über das Recht eines ausländischen Ehemannes zur vereinfachten Einbürgerung, wenn solche Verfahren für verheiratete Frauen vorgesehen sind. Eher im Gegenteil bestimmt das Übereinkommen nämlich in Art. 3 wiederum nur, dass die ausländische Frau eines Staatsangehörigen auf Antrag die Staatsangehörigkeit ihres Mannes in einem vereinfachten Verfahren erlangen kann. Dem liegt der althergebrachte Gedanke zugrunde, dass die Frau sich nach dem Mann richten wird. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 verbietet nicht nur die Diskriminierung u.a. auf Grund des Geschlechts, sondern proklamiert ein Recht auf Staatsangehörigkeit, woraus man durchaus das Verbot der Diskriminierung in Fragen der Staatsangehörigkeit entnehmen kann. Deutlicher ist die 1967 im Rahmen der Vereinten Nationen verabschiedete Deklaration über den Ausschluss der Diskriminierung der Frau,22 in der ganz allgemein Grundsätze über die Gleichheit der Geschlechter niedergelegt sind. In Bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht bestimmt Art. 5, dass die Frau im Hinblick auf den Erwerb, den Wechsel oder die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit über die gleichen Rechte verfügt wie der Mann und dass die Eheschließung mit einem Ausländer nicht automatisch die Staatsangehörigkeit der Frau ändert. 20

Für einen Überblick über die einschlägigen Verträge siehe R. Donner, The Regulation of Nationality in International Law, 2nd ed. 1994, 183 ff. 21 Abgedruckt in American Journal of International Law 28 (1934), Suppl., 61. 22 Abgedruckt in W. Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht. Die Einwirkung des Völkerrechts auf das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, Anhang 2 C.

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Eine ähnliche Regelung enthält die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) von 1969, die den Gleichheitssatz in Art. 1 Abs. 1, Art. 17 Abs. 4 und Art. 24 enthält, und das Recht auf eine Staatsangehörigkeit in Art. 20. In einem Gutachten hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sich 1984 zu diesen Bestimmungen geäußert, die im Hinblick auf einen Entwurf Costa Ricas über eine Verfassungsänderung des Staatsangehörigkeitsrechts zu prüfen waren.23 Costa Rica wollte u.a. eine Bestimmung in die Verfassung aufnehmen, wonach eine ausländische Frau bei der Heirat mit einem Costa Ricaner erleichtert eingebürgert werden konnte, wenn sie einen entsprechenden Wunsch äußerte. Die Einbürgerung konnte aber erst zwei Jahre nach der Eheschließung und nach ebenfalls zwei Jahren Aufenthalt in Costa Rica erfolgen. Eine entsprechende erleichtere Einbürgerung für Männer, die eine Costa Ricanerin heiraten, war nicht vorgesehen. Der Gerichtshof sah darin einen Verstoß gegen die Konvention, Art. 17 Abs. 4, Gleichberechtigung der Ehegatten, und Art. 24, Gleichheit vor dem Gesetz. Das Recht auf Staatsangehörigkeit, Art. 20, sei ebenfalls indirekt betroffen, weil ausländische Frauen, die mit einem Costa Ricaner verheiratet sind, erst nach zweijähriger Ehe und Aufenthalt in Costa Rica die Costa Ricanische Staatsangehörigkeit erlangen können. Wenn also nach dem Heimatrecht der Frau ihre Staatsangehörigkeit bei Heirat mit einem Ausländer verloren geht, wären diese Frauen zwei Jahre lang staatenlos. Diese Frist konnte sich auch aus unterschiedlichen Gründen noch verlängern, z.B. wegen eines zwischenzeitlichen längeren Auslandsaufenthalts des Ehepaares. Einen Verstoß gegen das Recht auf Staatsangehörigkeit konnte der interamerikanische Gerichtshof allerdings nicht feststellen, weil die Staatenlosigkeit der Frau nicht durch das neue Verfassungsgesetz Costa Ricas bewirkt wurde, sondern durch das Recht des Heimatstaates der Frau.24 Die Unzulänglichkeiten dieser Instrumente führten dann zu der weiter gehenden Regelung in dem Übereinkommen zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979.25 Art. 9 dieses Übereinkommens verdient zitiert zu werden: Die Vertragsstaaten gewähren Frauen die gleichen Rechte wie Männern hinsichtlich des Erwerbs, des Wechsels oder der Beibehaltung der Staatsangehörigkeit. Insbesondere stellen die Vertragsstaaten sicher, dass weder durch Eheschließung mit einem Ausländer, noch durch Wechsel der Staatsangehörigkeit des Ehemannes im Laufe der Ehe ohne weiteres sich die Staatsangehörigkeit der Frau ändert, diese staatenlos wird oder ihr die Staatsangehörigkeit ihres Mannes aufgezwungen wird.

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Amendments to the naturalization provisions of the Constitution of Costa Rica, Advisory Opinion, 19 January 1984, abgedruckt in HRLJ 5 (1984), 161 ff. 24 Proposed Amendments to the Naturalization Provisions of the Constitution of Costa Rica, Advisory Opinion of January 19, 1984, No. OC-4/84, abgedruckt in HRLJ 5 (1984), 30 ff.; siehe dazu auch Donner (Anm. 20), 231 ff. 25 UNTS Bd. 1249, 13; BGBl. 1985 II, 648.

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Die Vertragsstaaten gewähren Frauen die gleichen Rechte wie Männern im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit ihrer Kinder.

Diese Vorschrift ähnelt der in der Konvention über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen insoweit, als das Prinzip der Unabhängigkeit der Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau gewährleistet wird. Auch werden Frauen in Art. 9 Abs. 1 vor Staatenlosigkeit und aufgezwungener Staatsangehörigkeit geschützt. Neu in Art. 9 ist aber die Bestimmung in Absatz 2, der die Gleichheit der verheirateten Frau auch in der 2. Generation sicherstellt, nämlich bezüglich der Weitergabe der Staatsangehörigkeit an die Kinder. Erwähnenswert ist zudem, dass die Allgemeine Empfehlung zu Art. 9, 15 und 16 der Frauenkonvention die Gleichstellung von de facto Lebensgemeinschaften mit Ehen nahe legt, so dass z.B. unverheiratete, aber in einer Partnerschaft lebende Wanderarbeiterinnen auch das Recht auf Nachzug ihrer Partner und Kinder haben.26

bb) Verträge, die allgemein den Gleichheitssatz beinhalten Alle Menschenrechtsinstrumente enthalten das Recht auf Gleichheit bzw. Nichtdiskriminierung, das auch im Bereich der Staatsangehörigkeitsregeln eingewendet werden kann, selbst wenn es nicht speziell in diesen Zusammenhang gestellt ist.27 Das setzt jedoch voraus, dass der Gleichheitssatz ganz allgemein verbürgt ist und nicht nur im Zusammenhang mit einem bestimmten in dem Instrument niedergelegten Recht, wie z.B. Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der das Diskriminierungsverbot auf die in der Konvention verbürgten Rechte und Freiheiten beschränkt bzw. bis April 2005 beschränkte. Anders hingegen Art. 26 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der ein ganz allgemeines Diskriminierungsverbot enthält28 und dem nun das 12. Zusatzprotokoll (ZP) zur EMRK folgt, das ebenfalls Diskriminierung ganz allgemein mit Bezug auf jedes gesetzlich gewährte Recht verbietet.29 Damit wird auch der Be26

Siehe hierzu ILA Report 2000, 286. Zu den wesentlichen Instrumenten zählen: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte; die Europäische Menschenrechtskonvention; die Afrikanische Charta über die Rechte des Menschen und der Völker; die Rassendiskriminierungskonvention; die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975; die Amerikanische Menschenrechtskonvention. 28 In seinem „General Comment on Equality of Rights Between Men and Women“ von 2000 hat der Menschenrechtsausschuss die Staatsangehörigkeit als einen Bereich genannt, in dem Art. 26 die Gleichheit gewährleistet; General Comment Nr. 28, UN Doc. CCPR/C/ 21/rev.1/Add.10, 2000. 29 Text des Protokolls in European Treaty Series (ETS) Nr. 177; das Protokoll ist am 1. April 2005 in Kraft getreten. 27

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reich der Staatsangehörigkeit einbezogen, der vorher im Rahmen der EMRK nur wenig ausgebaut war. Nur das 4. ZP enthält einige Rechte mit Bezug auf die Staatsangehörigkeit, die aber nicht die Gleichstellung im Staatsangehörigkeitsrecht betreffen.30 Zusätzlich zu dem allgemeinen Diskriminierungsverbot in Art. 26 enthält der Pakt über bürgerliche und politische Rechte in Art. 23, der den Schutz der Familie betrifft, in Absatz 4 eine Vorschrift, die ausdrücklich die gleichen Rechte und Pflichten für Ehegatten bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe fordert. In dem General Comment on Equality von 200031 hat der Menschenrechtsausschuss die in Art. 2 und 3 genannten Verpflichtungen der Staaten, Diskriminierung zu unterbinden, ausdrücklich auf Art. 23 Abs. 4 des Paktes bezogen, was bedeutet, dass die Ehe nicht zu geschlechtsspezifischer Diskriminierung führen darf. Zugleich wird in dem Kommentar verdeutlicht, dass im Bereich des Schutzes der Familie auch andere Formen des Zusammenlebens akzeptiert werden müssten, wie das Zusammenleben ohne Trauschein und das von Singles mit Kindern, und dass Frauen auch in diesem Kontext Gleichbehandlung zu gewähren ist. Art. 18 Abs. 3 der Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker von 1981 koppelt das Diskriminierungsverbot an den Schutz der Familie. Allerdings ist Art. 18 Abs. 3 so zu verstehen, dass er die Frauenrechtskonvention inkorporiert, da er ein Diskriminierungsverbot gegen Frauen niederlegt und den Schutz der Rechte der Frauen und Kinder einschließt, „wie sie in internationalen Erklärungen und Übereinkommen niedergelegt sind“. Aber nicht primär auf diese speziellen Rechte der Frau bzw. der Kinder stützte der Botswana Court of Appeal seine Entscheidung von 1992 im Fall Unity Dow, sondern er stützte sich vor allem auf das Freizügigkeitsrecht der Frau und Mutter, weil Kinder eines nicht-botswanischen Vaters Ausländer in Botswana sind und ihnen daher die Wiedereinreise oder der Aufenthalt in Botswana verwehrt werden konnte. Aufgrund der Verbindung zwischen Mutter und Kind stellt die Möglichkeit, diese Kinder aus Botswana auszuschließen, einen Eingriff in das Freizügigkeitsrecht der Mutter dar.32

2. Gewohnheitsrecht Der natürlich nicht vollständige Überblick über die einschlägigen Verträge legt nun die Frage nahe, ob sich hieraus Gewohnheitsrecht entwickelt hat und wenn ja, 30 Art. 3 des 4. ZP verbietet die Ausweisung eigener Staatsangehöriger und Art. 5 des 4. ZP verbietet die Kollektivausweisung. 31 Vgl. Anm. 28, 25 und 27. 32 Unity Dow v. Attorney General of Botswana, Law Rep. Commonwealth (Const.) 1992, 623 (Bots.C.A.).

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mit welchem Inhalt. Man kann sicher sagen, dass es eine Regel des Gewohnheitsrechts gibt, wonach jeder Mensch ein Recht auf Staatsangehörigkeit hat, dass aber nicht unbedingt auch ein Mechanismus zur Durchsetzung dieses Rechts besteht und dass auch kein Recht auf eine bestimmte Staatsangehörigkeit besteht. Andererseits verlangt das Völkerrecht, dass Staatenlosigkeit vermieden wird, und zeigt einen Trend dahingehend, dass die Forderung, Doppelstaatsangehörigkeit zu vermeiden, gelockert wird, insbesondere mit Blick auf Eheschließungen zwischen Ausländern. Als Gewohnheitsrecht, das alle Staaten bindet, kann man aber insoweit wohl nur das Recht auf Staatsangehörigkeit ansehen, das nicht auf dem Gedanken der Gleichberechtigung beruht und insofern die Behandlung der Frau allenfalls marginal betrifft. Daher ist für die Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht von wesentlich größerer Bedeutung die Tatsache, dass die Gleichbehandlung bzw. das Verbot der Diskriminierung, das, in einer Vielzahl von Menschenrechtsinstrumenten, in die alle Staaten eingebunden sind, niedergelegt ist, inzwischen ohne jeden Zweifel als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist. Damit ist auch die Gleichbehandlung in Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts völkerrechtlich geboten. Das bedeutet, dass die Durchsetzung dieses Rechts auch innerstaatlichen Gerichten obliegt, so dass das Fehlen internationaler Durchsetzungsinstanzen durch nationale Durchsetzungsmechanismen kompensiert werden kann. Allerdings ist hierzu erforderlich, dass nationale Richter die völkerrechtlichen Regeln kennen und anwenden, wie das die Obergerichte von Botswana im Fall Unity Dow vorbildhaft getan haben. Die Geltung des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbots auch in Fragen der Staatsangehörigkeit hat dann aber auch konsequenter Weise zur Folge, dass die Vermittlung der Staatsangehörigkeit an die Kinder ebenfalls durch beide Elternteile erfolgt. Damit ist Art. 9 Abs. 2 der Frauenrechtskonvention heute als Ausdruck einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel zu verstehen. In dieser Vorschrift werden die Vertragsstaaten verpflichtet, „Frauen die gleichen Rechte wie Männern im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit ihrer Kinder“ zu gewähren. Auch wenn bezüglich der Weitergabe der Staatsangehörigkeit an die Kinder durch die Mutter Ausgangspunkt der internationalen Regelungen allein das Bestreben war, Staatenlosigkeit zu verhindern, nicht der Gedanke der Gleichberechtigung, so wird heute die gleiche Wirkung über das Gleichstellungsgebot erreicht. Das bedeutet, dass die Vermittlung der Staatsangehörigkeit über die Mutter nicht nur dann erfolgen kann, wenn dem Kind andernfalls Staatenlosigkeit droht, wie dies zunächst im „Protocol Relating to a Certain Case of Statelessness“ von 193033 niedergelegt war. Spätere Instrumente beschränken sich sogar nur ganz allgemein darauf, dem Kind ein Recht auf Staatsangehörigkeit zu gewähren, ohne Regelung 33

LNTS 179, 115.

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der Vermittlung der Staatsangehörigkeit, so z.B. der Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der in Art. 24 Abs. 3 das Recht jedes Kindes auf eine Staatsangehörigkeit niederlegt; ebenso die „Konvention über die Rechte des Kindes“ in Art. 7 Abs. 1,34 und Art. 6 Abs. 3 der „African Charter on the Right and Welfare of the Child” von 1999,35 und die „Europäische Konvention über die Ausübung der Rechte des Kindes“ von 1996,36 in der es allerdings nur um die Wahrnehmung der dem Kind zustehenden Rechte geht.

IV. Folgen des völkerrechtlichen Gleichheitsgebots im Staatsangehörigkeitsrecht Die Gleichstellung der Frau auch im Staatsangehörigkeitsrecht auf der Grundlage des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbots ist ganz ohne Frage zu begrüßen; aber wie so vieles hat auch dieser Fortschritt nicht nur positive Folgen. Die unvermeidbare Konsequenz des Diskriminierungsverbots auch im Staatsangehörigkeitsrecht ist nämlich, wie schon mehrfach erwähnt, die Zunahme der Mehrstaatigkeit. Während seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Vermeidung der Mehrstaatigkeit angestrebt wurde und zahlreiche Verträge zur Vermeidung der Mehrstaatigkeit abgeschlossen wurden,37 hat sich im Laufe der Zeit durch die Erkenntnis, dass dies insbesondere im Bereich des Ehe- und Familienrechts nur im Wege der Diskriminierung meist der Frau durchsetzbar ist, eine neue Entwicklung angebahnt, wonach Mehrstaatigkeit wieder „salonfähig“ wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet die Konvention des Europarates über die „Reduction of Cases of Multiple Nationality and Military Obligation in Cases of Multiple Nationality“ von 1963,38 deren spätere Änderungen in den Zusatzprotokollen diese Entwicklung widerspiegelt. Während die Konvention in der Fassung von 1963 als Ziel noch deutlich die Vermeidung der Mehrstaatigkeit anstrebte (Art. 1), allerdings der Verzicht auf eine von zwei Staatsangehörigkeiten geschlechtsneutral definiert wurde („a person“), und dies in dem Protokoll von 1977 noch bestärkt wurde, brachte das 34

UNTS 1577, 3. Abgedruckt in African Yearbook of International Law 1 (1993), 295. 36 ETS Nr. 160. 37 Siehe z.B. Hague Convention on Conflict of Nationality Laws von 1930, LNTS 179, 89. In der Präambel zu dieser Konvention heißt es: „Being convinced that it is in the general interest of the international community to secure that all its members should recognize that every person should have a nationality and should have one nationality only; recognizing accordingly that the ideal towards which the efforts of humanity should be directed in this domain is the abolition of all cases both of statelessness and of double nationality …“ (Hervorhebung durch Verf.). 38 ETS Nr. 43. 35

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Zweite Zusatzprotokoll von 199339 eine grundlegende Änderung, indem es – entsprechend dem allgemeinen Trend – doppelte Staatsangehörigkeit in zwei speziellen Fällen sogar für erstrebenswert ansieht, nämlich im Bereich von Wanderarbeitern, insbesondere denen der zweiten Generation, die sich dauerhaft in einem Staat des Europarates niedergelassen haben, und zum anderen mit Bezug auf die einheitliche Staatsangehörigkeit innerhalb einer Familie. Art. 1 Abs. 6 der Konvention sieht in der Fassung von 1993 vor, dass die Vertragsparteien bei Heirat zwischen Personen mit verschiedener Staatsangehörigkeit eine Regelung vorsehen sollten, die es ermöglicht, dass derjenige Ehepartner, der freiwillig die Staatsangehörigkeit des anderen annehmen will, seine eigene Staatsangehörigkeit behalten kann. Dies war in Art. 1 der ursprünglichen Fassung von 1963 ausdrücklich untersagt. Auch Kinder sollen die Staatsangehörigkeit beider Eltern behalten dürfen.40 Eine ähnliche Regelung findet sich nun in dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997. Gemäß Art. 6 Abs. 5 soll Ehegatten und Kindern von Staatsangehörigen die Einbürgerung erleichtert werden, wobei nach Art. 7 damit nicht der Verlust der anderen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes verknüpft werden darf, und Art. 14 bestimmt ausdrücklich, dass ein Vertragsstaat „Kindern, die bei der Geburt ohne weiteres verschiedene Staatsangehörigkeiten erworben haben, die Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeiten“ gestattet werden soll und dass seinen Staatsangehörigen der Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit gestattet sein soll, „wenn diese durch Eheschließung ohne weiteres erworben wird“. Nur die Akzeptanz von Mehrstaatigkeit verbunden mit erleichterter Einbürgerung für Ehegatten ist geeignet, dem Erfordernis der Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht Rechnung zu tragen. Allerdings bleibt die Zuständigkeit zur Regelung im Detail den Staaten vorbehalten, so dass z.B. Optionsmöglichkeiten oder -pflichten vorgesehen werden können, um Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Hier ist das Völkerrecht an seiner Grenze angelangt, wie schon die Präambel zum Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit anerkennt, in der der Wunsch ausgedrückt wird, bei Staatsangehörigkeitsangelegenheiten eine Diskriminierung zu vermeiden, zugleich aber auf die unterschiedliche Haltung der Staaten zur Frage der Mehrstaatigkeit verwiesen wird sowie auf die Tatsache, dass es jedem Staat freisteht zu entscheiden, welche Folgen er in seinem innerstaatlichen Recht an die Tatsache knüpft, dass ein Staatsangehöriger eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt oder besitzt.

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ETS Nr. 149. Siehe hierzu Donner (Anm. 20), 212 ff. Das Protokoll ist allerdings nur von Frankreich, Italien und den Niederlanden ratifiziert worden. 40

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Karin Oellers-Frahm

D. Schlussbemerkung Der sicher nicht abwegige Gedanke, dass die Mitglieder einer Familie, wenigstens der Kernfamilie, die gleiche Staatsangehörigkeit haben sollten, um Loyalitätskonflikte zu vermeiden, insbesondere im Bereich der Wehrpflicht und bei Ausübung der politischen Rechte, stößt bei der praktischen Umsetzung im Falle der Eheschließung zwischen Personen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit auf Probleme. Dass diese traditionell in der Art gelöst wurden, dass die Frau bei der Heirat in aller Regel ihre Staatsangehörigkeit verlor und die des Mannes annehmen musste, entsprach dem allgemeinen Status der Frau seit Jahrhunderten. Damit wurden klare Regeln geschaffen, wenn auch auf Kosten eines der Ehepartner. Diese Lösung setzte sich dann natürlich fort auf die Kinder, die ihre Staatsangehörigkeit in all den Staaten, in denen das ius sanguinis gilt, über ihren Vater erhielten. Zu welchen absurden Ergebnissen das führen kann, belegt sehr eindrucksvoll der Fall Unity Dow. Erste Änderungen dieser Situation beruhten nicht auf dem Gedanken der Gleichberechtigung, sondern auf dem der Vermeidung von Staatenlosigkeit bzw. Mehrstaatigkeit. Erst langsam, mit dem Erstarken der Position des Menschen, des Individuums, im Völkerrecht, mit der Anerkennung der Menschenrechte, zunächst in völkerrechtlichen Verträgen und Erklärungen, die dann weitgehend zu Völkergewohnheitsrecht erstarkten, konnte der Grundsatz der Gleichberechtigung allgemeine Gültigkeit erreichen und alle Bereiche des Lebens durchdringen, und damit auch das Staatsangehörigkeitsrecht. Dies brachte aber als unvermeidbare Folge Mehrstaatigkeit innerhalb der Familie mit sich, mit den oben erwähnten unerfreulichen Folgen möglicher Loyalitätskonflikte. Die Lösung dieser Konflikte ist nicht über das Völkerrecht möglich: Dieses fordert nur, dass auch in Fragen der Staatsangehörigkeit keine Diskriminierung geschieht. Den „Schwarzen Peter“ haben jetzt die Staaten, denn sie müssen die Quadratur des Kreises schaffen, indem sie, ohne zu diskriminieren, dem berechtigten Ziel nach einheitlicher Staatsangehörigkeit der Familie näher kommen. Dies kann geschehen, indem sie Regeln aufstellen, die die alten Grundsätze des „genuine link“ wirksam machen, insbesondere bei Ausübung der politischen Rechte. Am einfachsten ist aber die Lösung, nach der nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne eine Option für eine der Staatsangehörigkeiten gefordert wird, insbesondere für Kinder und insbesondere mit Blick auf die Wahrnehmung der Wehrpflicht. Die Optionslösung, die für den Staat am einfachsten ist, weil sie nichts vorschreibt, was gleichheitswidrig ist, ist allerdings nach meiner Meinung dann der Test dafür, wie weit der Gleichheitssatz in den zwischenmenschlichen Beziehungen anerkannt wird, und ich fürchte sehr, dass faktisch dann häufig die einst in staatlichen Gesetzen verfügte Diskriminierung der Frau auf der innerfamiliären Ebene fortgesetzt wird.

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Die Gleichberechtigung im Staatsangehörigkeitsrecht, die bedauerlicherweise wenig Aufmerksamkeit in der völkerrechtlichen Wissenschaft findet, stellt sich somit als ein Gebiet dar, in dem ohne Frage über das Völkerrecht bedeutende Fortschritte erreicht wurden, in dem aber wegen der Grenzen, die dem Völkerrecht innewohnen, neue Probleme erwachsen, die dann auf einer Ebene liegen, die sich der öffentlichen Kontrolle weitgehend entziehen und an die Hoffnung appellieren, dass Gleichberechtigung in den Köpfen aller Menschen verankert ist und auch gelebt wird. Gerade das aber, so zeigt der Blick in manche archaische Strukturen, ist eine Illusion. Dennoch sollte dies nicht daran hindern, die im Völkerrecht erreichten Schritte zu begrüßen, denn der Fall Unity Dow zeigt immerhin, dass staatliche Gerichte in diesem Kontext eine sehr positive Rolle spielen können, nicht nur, um staatliche Gesetze am Völkerrecht zu messen, sondern auch, um die grundlegenden Rechte des Einzelnen, hier meist der Frau, im innerstaatlichen Recht zu garantieren.

Die Wiederentdeckung des „Dritten Geschlechts“ – Homosexualität im Völker- und Europarecht Von Dagmar Richter Am Anfang gab es dreierlei Geschlechter von Menschen, nicht nur zwei wie heute, ein männliches und ein weibliches, sondern dazu noch ein drittes, das gemeinsam zu diesen beiden gehörte; sein Name ist noch geblieben, während es selbst verschwunden ist. Das androgyne war dieses eine, das es damals noch gab, und Gestalt und Name waren aus den beiden anderen, dem männlichen und dem weiblichen, zusammengesetzt; jetzt aber besteht es nur noch als Name, und der ist ein Schimpfwort. Aristophanes in: Platon, Symposion, 189 d5–e5

A. Einführung Die Existenz nur zweier Geschlechter, des weiblichen und des männlichen, gilt als eine feststehende Tatsache. Doch schon in der Antike ist die Vorstellung von einem „dritten Geschlecht“ nachweisbar.1 Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychobiologie geben ihr Auftrieb und könnten dabei auch die rechtliche Bedeutung des Begriffes „Geschlecht“ in ihrem Kern erschüttern. Dabei soll hier das Völkerrecht im Mittelpunkt stehen, in das die anglo-amerikanische Sprache mit ihrer Unterscheidung zwischen dem Geschlecht im biologisch-physischen Sinne („sex“) und dem Geschlecht im sozial-kulturellen Sinne bzw. als Rollenzuschreibung („gender“) schon längst eine mehrschichtige Betrachtung eingeführt hat. Lässt sich Homosexualität in das bestehende dual-bipolare Schema (biologisches Geschlecht und Geschlechterrolle, jeweils weiblich und männlich) einordnen oder 1

Das Platon-Zitat (oben) entstammt: Platon, Klassische Dialoge, übertragen von R. Rufener, dtv 1975, 130. Der Begriff soll nach 1820 vom schweizerischen Kaufmann Heinrich Hoeßli in die neuere öffentliche Debatte eingeführt worden sein. Dazu G. Feustel, Die Geschichte der Homosexualität, 2003, 92 ff. Zur späteren Rezeption M. Hirschfeld, Berlins Drittes Geschlecht, 1905.

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nur in einen besonderen Status wie die im jüngeren Völkerrecht auftretende Kategorie der „sexuellen Orientierung“? Gibt es, in den Begriffen des Völkerrechts, mehr als zwei Geschlechter oder gar „sexuelle Minderheiten“? Die folgende Studie soll den derzeitigen Stand des Völker- und Europarechts klären, indem sie auch diese grundlegenden Fragen im Blick behält.

I. Homosexualität – Variante oder Abweichung? Das Zusammenleben zweier Menschen müsste man bei unbefangener Betrachtung für eine Privatsache halten. Sie ist es aber ebenso wenig wie die Ehe. Kaum ist eine zweite Person beteiligt, deren Persönlichkeitssphäre berührt wird, besteht jener hinreichende Sozialbezug, der selbst in einer freiheitlichen Ordnung den Zugriff des Gesetzgebers eröffnen soll.2 Es leuchtet ohne weiteres ein, dass der Rechtsstatus als Partner in Fragen der gesetzlichen Erbfolge, Adoption von Kindern, Mieterrechten, Versicherungsprivilegien usw. nach staatlicher Regelung verlangt; doch unterscheiden die allermeisten Rechtsordnungen dabei zwischen der gleichgeschlechtlichen und der verschiedengeschlechtlichen Partnerschaft so als ob dies keiner Frage unterläge. Allein die heterosexuelle (in den meisten Staaten: monogame) Beziehung hat sich im Laufe der Jahrtausende als Idealtypus einer reproduktiven Lebenspartnerschaft etabliert; nur ihr haben kirchliches und später weltliches Recht eine feste Form gegeben. Homosexualität bedroht nicht eigentlich das gefestigte Muster von Ehe und Familie,3 sondern dessen Allgemeingültigkeit. Grundlegend hierfür ist eine Sexualmoral, die, indem sie sich auf die Lebensform der überwältigenden Mehrheit beruft, in feste Vorstellungen von Normalität und Abweichung geronnen ist. Was „normal“ ist, kann aber nicht Gegenstand einer ungerechtfertigten Privilegierung gegenüber dem Nicht-Normalen sein, so wie die Unterbindung des Abnormen keine Diskriminierung sein kann. Der Vorwurf der Diskriminierung läuft also, wo Normalitätsvorstellungen den Maßstab setzen, schon im Ansatz leer. Aus diesem Grunde kommt es für das Thema auch in rechtlicher Hinsicht darauf an, ob wir es mit natürlichem oder aber abweichendem, krankhaftem Verhalten zu tun haben. Jedes Bemühen um Genauigkeit muss Zweifel an der vertrauten Überzeugung erwecken, dass das mehrheitliche Paarbildungsverhalten allein der Natur des Menschen entspricht: Nachweislich kommt die (exklusive) Homosexualität nur bei

2

Dazu mit Bezug auf homosexuelle Betätigung BVerfGE 6, 389 (433 f.). Zur Frage, ob Personen zur Homosexualität verleitet werden können („Rekrutierungsthese“), noch unten A. II. 3

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einer sehr kleinen Minderheit von Menschen vor;4 doch stellt die Behauptung einer Abweichung, d.h. einer abnormen, widernatürlichen Veranlagung,5 nur eine Bewertung dieses statistischen Befunds dar. Zudem legt schon die Eigenart der Materie eine lediglich „soziale Konstruktion“ des Normverhaltens nahe: Wenn schon die gewöhnliche Form menschlicher Triebhaftigkeit als animalische, kulturell zu bändigende Kraft erscheint, – wie ungleich erschreckender müssen dann ihre ungewöhnliche Formen sein, für die infolge genereller Ablehnung keine mäßigende Verhaltensleitkultur zur Verfügung steht? An den seinerzeit geläufigen Normalitätsvorstellungen zweifelte schon Sigmund Freud, als er vermutete, dass alle Menschen eine bisexuelle Grundanlage hätten, welche erst durch familiäre Einflüsse in die eine oder andere Richtung gelenkt würde.6 Obwohl diese These neuesten Erkenntnissen nicht mehr standhält, konnte doch inzwischen nachgewiesen werden, dass zumindest vorübergehend homosexuelle Verhaltensweisen gerade unter Jugendlichen sehr verbreitet sind.7 Heute ist nicht nur geklärt, dass jede menschliche Gesellschaft, also nicht nur die „sittenlose“ oder im Untergang begriffene, einen gewissen Anteil an Homosexuellen hat, sondern dasselbe auch für etliche Tierarten (insbes. Bonobos, Schwäne,

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Q. Rahman/G.D. Wilson, Born gay? The psychobiology of human sexual orientation, Personality and Individual Differences 34 (2003), 1337 (1339), verweisen auf zahlreiche Studien aus den 90er Jahren, wonach 2–5 % der Männer ausschließlich homosexuell sind, aber nur 1–2 % der Frauen (m.N.). 5 Dazu V. Sommer, Wider die Natur? Homosexualität und Evolution, 1990. 6 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905. Dazu M. Dannecker/A. Katzenbach (Hrsg.), 100 Jahre Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, – Aktualität und Anspruch, 2005. 7 Bahnbrechend waren insoweit die Erhebungen von A. C. Kinsey/W. B. Pomeroy/C. E. Martin, Sexual behaviour in the human male, 1948, und A. C. Kinsey/W. B. Pomeroy/C. E. Martin/P. H. Gebhard, Sexual behaviour in the human female 1953, die einerseits als überholt gelten, andererseits aber immer wieder neue Verifizierungsversuche veranlassen. Inzwischen wird auch das Internet eingesetzt, um die Verbreitung der verschiedenen Neigungen zu ergründen. So will der Psychologe R. Epstein mithilfe von Internetbefragungen (www.mysexualorientation.com) festgestellt haben, dass ein erheblicher Unterschied zwischen der tatsächlichen und der wahrgenommenen sexuellen Orientierung bestehe und mehr als 90 % der Menschen gewisse bisexuelle Neigungen hätten. Diese Ergebnisse müssen allerdings mit größter Vorsicht bewertet werden, da im Internet ausgegebene Fragebögen zur sexuellen Orientierung in erster Linie Menschen ansprechen, die Ungewissheit auf diesem Feld verspüren. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass die hierdurch bewirkte Verzerrung das tatsächliche Verhältnis zwischen „eindeutig homosexuell“, „eindeutig heterosexuell“ und „bisexuell“ sogar umkehren könnte.

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Pinguine) gilt.8 Dies sollte uns (Heterosexuelle und Homosexuelle) aber nicht kränken, sondern an eine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Phänomens denken lassen: Gerade weil Homosexualität nicht zum Opfer der Evolution geworden ist, muss ihr zumindest geringfügiges Auftreten in menschlichen und tierischen Populationen vorteilhaft sein. Eine naheliegende Erklärung hierfür ist, dass homosexuelle Wesen Allianzen innerhalb der Geschlechter fördern und insbesondere im männlichen Teil der Population das Ausmaß aggressiver Rivalität einschließlich des Infantizids senken.9 Demnach hat Homosexualität den Zweck, Lebewesen mit einem besonderen Sozialverhalten als Bindeglieder zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht zu schaffen. Sie ist, gerade in kleinen Dosen, nützliche Variante und keine defizitäre Abweichung von der Norm.10

II. Erkenntnisse der Forschung Welche Gründe für die Entstehung von Homosexualität verantwortlich sind, weiß man bis heute noch nicht genau. Insbesondere ließ sich die von Dean Hamer 1993 vorgestellte These vom „Schwulen-Gen“ auf dem X-Chromosom11 in einer Nachuntersuchung an eineiigen Zwillingen nicht bestätigen. Allerdings legen statistische Erhebungen zum Vorkommen von Homosexualität in Familien genetische Faktoren durchaus nahe. Heute geht man davon aus, dass die Neigung auf einem ganzen Bündel von hirnphysiologischen, hormonellen und genetischen Faktoren beruht.12 Eine besondere Bedeutung sollen dabei hormonelle Einflüsse während der Schwangerschaft haben, mit deren Auswirkungen sich sogar einige somatische Eigenheiten erklären lassen, die bei homosexuellen Menschen häufiger als bei heterosexuellen vorkommen sollen.13 Für ca. 15–30 % der homosexuellen Männer wurde darüber hinaus ein Zusammenhang mit der Geschwisterfolge 8 Eingehend M. Diamond, Homosexuality and bisexuality in different populations, in: Archives of Sexual Behaviour 22 (1993), 291 ff. 9 Rahman/Wilson (Anm. 4), 1343 ff. Siehe auch Sommer (Anm. 5). 10 Darüber hinaus halten Rahman/Wilson (Anm. 4), 1372, auch eine individuelle Nützlichkeit für möglich, die wegen gesellschaftlicher Vorurteile allerdings bislang nur beschränkt zur Geltung komme. 11 D. H. Hamer/S. Hu/V. L. Magnuson/N. Hu/A. M. L. Pattatucci, A linkage between DNA markers on the X chromosome and male sexual orientation, Science 22 (1993), 321 ff. 12 Eingehend zum „‚package‘ of traits“ Rahman/Wilson (Anm. 4), insbes. 1371. 13 Q. Rahman/G. D. Wilson, Sexual Orientation and the 2nd to 4th Finger Length Ratio: Evidence for Organising Effects of Sex Hormones or Developmental Instability?, Psychoneuroendocrinology 28 (2003), 288 ff. Siehe auch dies. (Anm. 4), 1350 (bez. LinkshänderEigenschaft und bestimmte Fingerlänge-Proportionen).

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ermittelt, wonach nachfolgende Brüder zunehmend mehr weibliche Eigenschaften zeigten (fraternal birth order effect).14 Die Einflüsse sind insgesamt so vielschichtig, dass einige Autoren davon ausgehen, dass ein Zusammentreffen vieler relevanter Faktoren Homosexualität, deren Fehlen bei Männern übermäßige Maskulinität und deren teilweises Vorhandensein Männer mit hoher Sensibilität, Empathie und anderen „weiblichen“ Eigenschaften hervorbringen soll.15 Entsprechendes gilt mit umgekehrten Vorzeichen für Frauen, wobei die weibliche Homosexualität aber als sehr viel unklarer und wohl auch unerforschter gilt. Welchen Einfluss soziale und familiäre Faktoren daneben noch haben, ist stark umstritten. In der jüngeren Forschung wird vor allem betont, dass homosexuelle Menschen wie heterosexuelle „in erster Linie als Individuen“ zu betrachten sind; dem entsprechend müssen Rollenzuweisungen, wie die eines eher „aktiven“ oder eher „passiven“ Partners als ebenso problematisch wie im Falle verschiedengeschlechtlicher Paare erscheinen. Insgesamt bestätigen die bisherigen Erkenntnisse jedoch die Annahme, dass eine bestimmte Gemengelage von Faktoren zur Homosexualität führen kann, eine andere wiederum zur Hetero- oder Bi-Sexualität einer Person, so als ob es sich um Varianten einer jeweils möglichen Entwicklung handelt. Man könnte auch von einer (Gender-)Skala zwischen „sehr männlich“ und „sehr weiblich“ sprechen, an deren beiden Enden besonders maskuline Männer bzw. besonders feminine Frauen stünden, auf der sich im übrigen jedoch die Angehörigen beider Geschlechter auch abwechselnd wiederfinden würden. Selbst wenn eine umfassende Erklärung der Ursachen noch aussteht, besteht in Wissenschaftlerkreisen doch heute Einigkeit darüber, dass der These von der pathologischen Abweichung vom Normalverhalten jede Basis fehlt. Alle führenden Organisationen im Bereich der seelischen Gesundheit (u.a. WHO, American Psychological Association) haben daher die Homosexualität unter Abwendung von ihren früheren Irrtümern zu einer „normalen Form der menschlichen Sexualität“ erklärt.16 Die wichtigste Konsequenz ist, dass man die früher üblichen Therapie14

Dies wird evolutionstheoretisch mit dem Vorteil erklärt, Rivalitäten unter Brüdern zu mindern, biologisch mit der sogenannten Immunisierungshypothese, wonach der Organismus einiger Mütter bei jedem nachfolgenden männlichen Fötus stärker gegen männliche Antigene immunisiert sei. Eingehend R. Blanchard, Quantitative and theoretical analyses of the relation between older brothers and homosexuality in men, Journal of Theoretical Biology 230 (2004), 173 ff. 15 In diese Richtung E. M. Miller, Homosexuality, Birth Order, and Evolution: Toward an Equilibrium Reproductive Economics of Homosexuality, Archives of Sexual Behavior 29 (2000), 1 ff. 16 Siehe etwa American Psychological Association, Promotion and Protection of Human Rights, Written Statement submitted to the United Nations Economic and Social Council (Commission on Human Rights), Dokument E/CN.4/2004/NGO/259 vom

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versuche zur Umwandlung der sexuellen Ausrichtung („Konversionstherapien“) als unethisch ansehen muss, zumal deren Wirksamkeit nicht erwiesen ist. Trotzdem gibt es immer noch Staaten wie z.B. Abu Dhabi, die homosexuelle Verhaltensweisen nicht nur mit Strafe bedrohen, sondern die verurteilten (männlichen) Homosexuellen auch mit Testosteron zwangsbehandeln lassen.17 Nachweislich falsch ist nach heutigen Erkenntnissen die früher herrschende Meinung, wonach erwachsene Homosexuelle Jugendliche männlichen Geschlechts in ihrer „normalen“ Entwicklung stören oder für die Homosexualität gewinnen könnten („Rekrutierungsthese“). Denn die sexuelle Orientierung entsteht in aller Regel noch vor der Pubertät.18 Allerdings belegt die Statistik, dass homosexuelle Männer wie auch Frauen weit weniger Nachwuchs als heterosexuelle haben. Doch haben homosexuelle Männer noch viel weniger Nachwuchs als homosexuelle Frauen.19 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die historische Unterscheidung zwischen dem strafbaren homosexuellen Verkehr zwischen Männern und dem straflosen homosexuellen Verkehr zwischen Frauen, die sich zumindest im Kontext des Jugendschutzes noch bis in die neueste Zeit hinein in manchen Staaten erhalten hat:20 Sie beruhte auf einer zutreffenden Beobachtung, deren Ursachen aber falsch eingeschätzt waren. Auch in den Sozial- und Erziehungswissenschaften haben sich neue Erkenntnisse durchgesetzt.21 Zwar kann das Feld noch nicht als hinreichend erforscht bezeichnet werden, weil die heutige Elterngeneration aus Menschen besteht, die sich i.d.R. erst spät im Leben „outen“ konnten, sich also überaus lange an die Verhaltensmuster der Mehrheit angepasst haben.22 Als sicher gilt jedoch, dass das bloße Zusammenleben mit homosexuellen Eltern keine Homosexualität bei Kin24.3.2004. Diese Vereinigung änderte ihre vormalige Praxis 1994, andere wie z.B. die American Psychiatric Association schon in den siebziger Jahren. Die WHO strich die Homosexualität am 17.5.1990 von der Liste der „mental disorders“. 17 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 279 vom 30.11.2005, 6 („Homosexuelle in Abu Dhabi verhaftet“). 18 Siehe dazu EGMR No. 39392/98, 39829/98 (2003), § 30 – L. and V. v. Austria, unter Hinweis auf eine Sachverständigenanhörung im österreichischen Parlament vom 10.10.1995. Dazu noch unten D. II. 1. b). 19 Rahman/Wilson (Anm. 4), 1346 m.w.N. 20 Siehe zu Deutschland BVerfGE 6, 389 ff. Zu Österreich noch unten D. II. 1. b). Zur historischen Entwicklung unten B. I. 21 Eingehend W. E. Fthenakis, Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften und kindliche Entwicklung, in: J. Basedow/K. J. Hopt/H. Kötz/P. Dopffel (Hrsg.), Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, 2000, 351 ff. 22 Vgl. N. Dethloff, Same-Sex Parents in a Comparative Perspective, International Law FORUM du droit international 7 (2005), 195 (201).

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dern auslösen kann. Dafür sind die Hinweise auf genetische und hormonelle Faktoren bei der Entstehung von Homosexualität23 zu stark. Auch gibt es keinen belastbaren Beweis dafür, dass Kinder, die durch homosexuelle Eltern aufgezogen werden, irgendeinen sonstigen Schaden erleiden. Zwar macht es einen Unterschied, ob ein Kind in einer „traditionellen Familie“ oder bei einem homosexuellen Paar aufwächst. Nicht weniger bedeutsam ist aber, ob ein Kind mit einem ausgeglichenen oder eher instabilen Elternpaar in familiärer Gemeinschaft lebt. Soweit überhaupt Unterschiede wie z.B. die Abschwächung rollenspezifischen Verhaltens bei abweichendem Geschlecht des Kindes festgestellt wurden, können diese nicht ohne weiteres als Nachteil bewertet werden.24 Was in der Tat bleibt, sind gesellschaftliche Vorurteile, die das Kindeswohl gefährden könnten. Doch gilt auch hier die Grundregel, dass der Staat sich Vorurteile nicht selbst zu Eigen machen darf, indem er an sie anknüpft, sondern ihnen im Gegenteil entgegentreten muss.25 Was dem einzelnen Kind dabei am meisten dient, sei es dem leiblichen, sei es einem zu adoptierenden, hängt auch hier von den Umständen des Einzelfalls ab.26

III. Homosexualität und Heterosexualität als sexuelle Orientierungen Im Recht haben sich die neueren Erkenntnisse in der Kreation eines gemeinsamen Oberbegriffs niedergeschlagen: Wir sprechen von „sexueller Orientierung“ als Form der Ausrichtung der emotionalen und sexuellen Bedürfnisse einer Person – entweder in die hetero- oder die homosexuelle Richtung. Der Begriff ist insoweit unzutreffend, als er nicht nur das Element des Suchens, sondern auch die Möglichkeit einer Auswahl impliziert, wogegen Erkenntnisse über genetische Disposition, hormonelle und andere Einflüsse deutlich sprechen. Rechtlich wird er unangemessen gebraucht, indem man ihn dazu benutzt, Probleme im Zusammenhang mit der Homosexualität gesondert zu behandeln. Vom somit fragwürdigen Begriff der „sexuellen Orientierung“ unterscheidet man den Rechtsbegriff der „Geschlechtsidentität“ (gender identity), worunter man die innerlich gefühlte Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht versteht. In

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Ebd. Ebd. 25 Siehe zu dieser Regel noch unten D. II. 2. Siehe aber auch C. I. 3. (Stigmatisierung). 26 In diesem Sinne weist Dethloff (Anm. 22), 198 f., überzeugend darauf hin, dass es ein wesentlicher Unterschied ist, ob ein Kind etwa auf der Basis medizinisch assistierter Reproduktion in eine homosexuelle Partnerschaft hineingeboren wird oder von einem der Partner entweder als kleines oder aber schon älteres Kind mitgebracht wird. 24

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diesen Bereich fällt nach herkömmlichem Verständnis die Transsexualität.27 Beide Kategorien bezeichnen mögliche Merkmale der Diskriminierung. Zum Teil wird die Geschlechtsidentität auch als Unterform der sexuellen Orientierung, zum Teil aber auch als Oberbegriff für Transsexualität und sexuelle Orientierung28 verstanden. Dies hängt oft davon ab, ob die Norm, welche Diskriminierungen verbietet, als verpönte Kriterien der Anknüpfung nicht nur das Merkmal „Geschlecht“, sondern auch das Merkmal „sexuelle Orientierung“ – oder aber gerade nicht – enthält.

B. Homosexualität in der Staatenpraxis I. Historische Erfahrungen Die historischen Erkenntnisse zur Verfolgung Homosexueller sind für die völkerrechtliche Fragestellung von großer Bedeutung, weil sie Auskunft darüber geben, ob das Verhalten der Staaten eher kulturell bedingt ist oder aber mit Entwicklungsetappen der Zivilisationsgeschichte zusammenhängt, die sich in den einzelnen Gesellschaften nur zeitversetzt wiederholen. Die Weltgeschichte weist abwechselnde Phasen der Duldung und Verfolgung homosexueller Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft auf.29 Antike Gesellschaften duldeten Beziehungen älterer Personen zu wesentlich jüngeren desselben Geschlechts nicht nur in Zeiten des Verfalls, sondern gerade auch in Blütezeiten, weil man sie als förderliche Durchgangsphase im individuellen Reifeprozess betrachtete. Erst allmählich, infolge kriegerischer Ereignisse mit hohen Menschenverlusten, aber auch einer stärkeren Organisation der öffentlichen Angelegenheiten, verstärkte sich in Griechenland schon im 3. Jahrhundert v. Chr. die Befürchtung, eine auch nur zeitweise ausgelebte Homosexualität könne der Ehe- und Zeugungsfeindlichkeit Vorschub leisten.30 Weil sich die von Männern dominierte Gesellschaft aber völlig sicher war, Frauen selbst nach Phasen der „Abirrung“ wieder in 27

Siehe zu beiden Begriffen etwa Human Rights Watch, Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and All Forms of Discrimination, Written Statement submitted to the United Nations Economic and Social Council (Commission on Human Rights), Dokument E/CN.4/2004/NGO/232 vom 11.3.2004. Speziell zur Rechtsprechung im Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention unten Anm. 115. 28 So etwa Th. Giegerich, Juristenzeitung (JZ) 1998, 726 mit Anm. 1 (Anmerkung zum EuGH-Urteil Grant). 29 Eingehend G. Bleibtreu-Ehrenberg, Homosexualität: Die Geschichte eines Vorurteils, 2. Aufl. 1981. 30 Feustel (Anm. 1), 11 ff., insbes. 18.

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eine heterosexuelle Beziehung einbinden zu können, schien in ihrem Falle der Fortpflanzungserfolg nicht gefährdet.31 Dementsprechend richteten sich die Bemühungen um Verdrängung auch nicht gegen die weibliche Homosexualität.32 Dasselbe Unterscheidungsmuster begegnet uns bis heute noch in jenen Rechtsordnungen, welche die homosexuelle Betätigung nur bestrafen, wenn Männer daran beteiligt sind.33 Wo immer diese traditionelle Unterscheidung auftritt, ist sie Indiz für eine besonders schwache soziale Stellung der Frau. Das sich schon abzeichnende Ziel, die Homosexualität aus der Gesellschaft auszumerzen, wurde von den großen monotheistischen Religionen aufgegriffen. Ihnen gilt homosexuelles Verhalten als sündhaft, weil sich allein durch die Vereinigung von Mann und Frau34 der göttliche Schöpfungsakt (Schöpfung Evas aus dem Fleische Adams) wiederholen und damit der Urzustand perpetuieren ließen.35 Damit knüpfen sie an das uralte Menschheitsbedürfnis, sich im Einklang mit dem göttlichen Schöpfungsgedanken und damit der ewigen Weltenordnung zu befinden, an. Die so fundierte Verwerfung der Homosexualität hat sich im Alten Testament besonders drastisch niedergeschlagen, wo der homosexuelle Verkehr der Unzucht mit Tieren (!) gleichgestellt wird.36 Entsprechend interpretierten jüdische Schriftgelehrte schon im 1. Jahrhundert n. Chr. den Untergang von Sodom als Strafe für beide „Sünden“, obwohl die alttestamentarische Quelle37 in diesem Zusammenhang nichts über die Art der Verfehlung sagt.38 Dennoch ging die so 31

Vgl. Feustel (Anm. 1), 14 ff., insbes. 15. Legendäres Beispiel: Sapphos Frauengemeinschaft auf der Insel Lesbos. 33 Siehe unten D. II. 1. b). 34 Heilige Schrift (nach der Übersetzung M. Luthers in der Neufassung von 1975), Altes Testament, 1. Mose 2, 24: „[…] und sie werden sein ein Fleisch“. 35 Vgl. Feustel (Anm. 1), 30 ff. Siehe zum Standpunkt der Katholischen Kirche noch unten E. III. 1. mit Anm. 179. 36 3. Mose 18, 22 (betreffend „geschlechtliche Verirrungen“): „Du sollst nicht bei einem Manne liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel. Du sollst auch bei keinem Tier liegen, daß Du an ihm unrein werdest. Und keine Frau soll mit einem Tier Umgang haben; es ist ein schändlicher Frevel.“ Siehe ferner 3. Mose 20, 13–16 (Strafbestimmungen), wonach der homosexuelle Verkehr wie der Verkehr mit Tieren als „Blutschuld“ mit dem Tode aller Beteiligten zu ahnden war. Das Neue Testament führt homosexuellen Verkehr im Paulus-Brief an die christliche Gemeinde in Rom (Römer 1, 26 f.) als Beispiel für die „Gottlosigkeit der Heiden“ auf: „Darum hat sie Gott schändlichen Leidenschaften preisgegeben; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen vertauscht. Ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt. Männer haben mit Männern Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen.“ 37 Heilige Schrift, Altes Testament, 1. Mose 19. 38 Feustel (Anm. 1), 32. 32

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gefasste Legende in das Christentum ein, das sich von Rom aus in Europa verbreitete. Mit seiner Einführung durch Kaiser Konstantin 337 wurde die männliche Homosexualität zur Gefahr für das Gemeinwesen erklärt, indem man wiederum auf Sodom verwies.39 „Sodom und Gomorra“ dienten schließlich auch dem Islam als abschreckendes Beispiel, das Verfolgung legitimierte.40 Seither bürgerte sich weltweit der Begriff der „Sodomie“ ein, der mithilfe der ihm beigegebenen Doppelbedeutung den homosexuellen Menschen in die Nähe des unzivilisierten Tieres rückte. Während des 12. Jahrhunderts begannen kirchliche Autoren wie insbesondere Thomas von Aquin die Homosexualität als widernatürliches Verhalten zu brandmarken.41 Dies zielte vor allem auf die Situation in den sich ausbreitenden Klöstern, deren gleichgeschlechtliche Gemeinschaften entsprechend Geneigten besonders anziehend erscheinen mussten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum die weibliche Homosexualität nun wieder stärker in das Blickfeld geriet. Besonders gefährlich wurde die Lage allerdings erst zu Zeiten der Hexenverfolgung, als Not und Mangel die Aufrechterhaltung bestimmter Funktionen der Frau für die Allgemeinheit erforderten, weshalb ihr gerade die unabhängigen, widersetzlichen, und mächtigen, insbesondere heilkundigen Frauen zum Opfer fielen.42 So gesehen könnte die Regel, wonach die weibliche Homosexualität straflos bleibt, wenn die gesellschaftliche Rolle der Frau völlig untergeordnet ist, auch in ihrer umgekehrten Version gelten, wonach die Verfolgungsgefahr für Frauen steigt, wenn deren Position als zu stark oder unangepasst empfunden wird. Obwohl die Constitutio 39

Siehe auch den Erlass 141 des Kaisers Justinian von 544 an die Einwohner von Konstantinopel (zitiert nach Feustel [Anm. 1], 34): „Vielmehr wollen wir uns der schlechten Begierden und Handlungen enthalten. [...] Wir meinen diejenigen, die Männer mit Männern Widerwärtiges treiben. Denn wir wissen aus der Heiligen Schrift, wie Gott die Einwohner von Sodom wegen dieser sexuellen Ausschweifung bestraft hat, so dass die Umgebung der Stadt noch heute vom Feuer gesengt ist.“ 40 Im Koran findet sich nahezu dieselbe Sodom-Lot-Geschichte wie in 1. Mose 13, 13; 18, 20. Siehe u.a. Sure 7, Verse 81 ff. (Koran nach der Übertragung von L. Ullmann, 1959 ff.): „Erinnert euch auch des Lot. Als dieser zu seinem Volk sagte: „Wollt ihr denn solche Schandtaten begehen, für die ihr bei keinem Geschöpf ein Beispiel findet? Wollt ihr denn in lüsterner Begier, mit Hintansetzung der Weiber, nur zu Männern kommen? Wahrlich, ihr seid zügellose Menschen.“ Sein Volk aber gab keine andere Antwort, als dass es sagte: „Jagd sie aus der Stadt, weil sie Menschen sind, welche sich rein erhalten wollen.“ Und wir erretteten ihn und seine Familie [...]. Sodann ließen wir einen Stein- und Schwefelregen über sie kommen. Siehe, so war das Ende dieser Frevler.“ Ähnlich 26:160 ff., 27:54 ff., 29:28 ff. 41 Eingehend J. Boswell, Christianity, Social Tolerance and Homosexuality, 1980. 42 Vgl. J. Ahrendt-Schulte, Hexenprozesse, in U. Gerhardt (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997, 199 (205, 211 ff.).

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Criminalis Carolina von 1532 die Strafverfolgung tendenziell zivilisierte, griff sie doch die alte Tradition auf, die „widernatürliche Unzucht“ gemeinsam mit der Unzucht mit Tieren für Angehörige beiderlei Geschlechts mit dem Feuertod zu bedrohen.43 Im Laufe der Zeit und der zunehmenden Aufklärung verschwindet die Todesstrafe, so etwa im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten.44 Doch wurde die „wickedness not to be named“ z.B. in den nordamerikanischen Kolonien noch lange unnachgiebig bestraft.45 Hier lebten Gesellschaften, die sich in großem Maße aus Flüchtlingen rekrutierten, die ihre Heimat wegen religiöser Verfolgung verlassen hatten. Sie waren auf schnelles Wachstum angewiesen und wie jede Diaspora-Gesellschaft geneigt, mithilfe einer besonders strikten Sittenordnung nach Halt in ihrer neuen Lebenswelt zu suchen. Andererseits entfiel in einigen wenigen Ländern, so zuerst in Frankreich mit Einführung des Code pénal von 1810, aber auch im Königreich Bayern mit Einführung des StGB von 1813, die Strafdrohung ganz, sofern die gleichgeschlechtliche Betätigung weder die öffentliche Ordnung noch die Rechte Dritter gefährdete,46 also privat und unsichtbar blieb. Diese Entwicklung kann allerdings nur als zeitweilige Gegenströmung und noch nicht als endgültige Kehrtwendung bezeichnet werden, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebte die Strafbarkeit, z.B. im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1874,47 wieder auf. Erneut wurden gleichgeschlechtliche Handlungen der Unzucht mit Tieren gleichgestellt. Doch beschränkten sich die Tatbestände nun i.d.R., außer in Österreich, auf Männer.48

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Art. 116 CCC: „Item so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten.“ Zitiert nach: G. Radbruch/ A. Kaufmann (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Reclam 1978. 44 § 1069 II 20 Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten (ALR 1794): „Sodomiterey und andre dergleichen unnatürlichen Sünden, welche wegen ihrer Abscheulichkeit hier nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung des Andenkens.“ 45 Eingehend J. N. Katz, Gay American history: Lesbians and gay men in the USA, 1976. 46 Siehe BVerfGE 6, 389 (391 f.). 47 § 175 StGB 1874 lautete (entsprechend bereits das StGB für den Norddeutschen Bund und das StGB für die Preußischen Staaten): „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ 48 Feustel (Anm. 1), 112.

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Wesentlich zur Abschwächung des religiös motivierten Verfolgungsdrucks beigetragen haben vor allem jene Mediziner, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die These von der krankhaften Veranlagung aufbrachten.49 Diese These, die im Laufe der Zeit selbst zum Problem wurde, erwies sich zunächst als vorteilhaft, weil sie auch die staatliche Strafverfolgung infrage stellte. Wissenschaftlich war sie gleichwohl fragwürdig, weil die damaligen Forscher von der Homosexualität ihrer Probanden wussten, ihre Ergebnisse also nicht frei von Vorurteilen gewannen. Zudem berücksichtigten sie ganz selbstverständlich nur Personen, die sich in psychiatrischer Behandlung befanden, also nicht repräsentativ für „normale Homosexuelle“ waren. Der dagegen gerichtete Versuch Einzelner, die These vom Dritten Geschlecht zu etablieren,50 scheiterte und blieb nur als Idee noch erhalten. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden homosexuelle Männer im Anschluss an die Strafverbüßung aufgrund des 1935 verschärften § 175 RStGB zur „Besserung“ und „Umerziehung“ in Konzentrationslager eingewiesen, wo sie neben den jüdischen und den politischen Häftlingen sowie den Kriminellen eine eigene Gruppe der Ausgegrenzten bildeten. Dagegen blieben die Frauen straffrei, weil sie aufgrund ihrer „weniger maßgebenden Stellung in staatlichen und öffentlichen Ämtern“ für weniger leicht erpressbar und „erfahrungsgemäß“ auch nicht für immer als „Zeugungsfaktoren“ verloren galten.51 Tatsächlich hat aber nicht nur die untergeordnete Stellung der Frau, sondern auch der betont männerbündische Charakter des Systems eine tragende Rolle gespielt.52 Die Verfolgung stellt sich hier als eine Überreaktion auf Gefährdungen dar, die gerade Männern infolge einer überzeichneten Männerrolle drohten. Der dahinter stehende gedankliche Ansatz lebte noch bis zur Abschaffung der Strafbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1969 fort. Man erkennt ihn insbesondere in der „Homosexuellen“Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957 wieder, in der mit äußerster Anstrengung begründet wurde, warum die Strafbarkeit nur der Männer, aber nicht der Frauen mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar gewesen sei.53 Die Geschichte belegt nach allem, dass Entwicklungsfortschritte der Menschheit aus anfänglicher Toleranz heraus zunächst zu einer Jahrhunderte langen Verfolgung führten. Dahinter standen vor allem bevölkerungspolitische Erwägungen, 49

Statt vieler R. von Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, 1886. Siehe Anm. 1. 51 Feustel (Anm. 1), 138. Die Erpressbarkeit war in der Tat eine der gewichtigsten Nebenfolgen der Strafbarkeit nach § 175 StGB während der Kaiserzeit gewesen. Dazu ders., 126 f. 52 Dazu (am Beispiel der SA) A. Pretzel, Homophobie und Männerbund, Plädoyer für einen Perspektivenwechsel, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 1034 ff. 53 BVerfGE 6, 389 ff. 50

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die seit dem Aufkommen monotheistischer Religionen auch religiös untermauert wurden; spezielle Gründe wie der Erhalt der Funktionstüchtigkeit gleichgeschlechtlicher Klostergemeinschaften oder männerbündischer Systeme, welche durch Homosexualität besonders gefährdet schienen, traten zeitweise verschärfend hinzu. Dabei zeigt sich auch ein Zusammenhang zwischen der Verfolgungsintensität und der Stellung der Geschlechter: Je schwächer die Stellung der Frau, umso weniger wahrscheinlich ist die Strafbarkeit der weiblichen Homosexualität. Auch das jeweilige Maß an Veränderung und Verunsicherung von Gesellschaften spielt eine Rolle. Je schärfer, etwa in Umbruchs-, Kriegszeiten oder in der „Diaspora“, die Rollentrennung der Geschlechter ausgeprägt ist, umso schlechter fügt sich der homosexuelle Mensch in die ihm aufgrund seiner äußerlichen Merkmale zugedachten Rolle ein und umso wahrscheinlicher wird seine Verfolgung. Schließlich belegt die jüngste Entwicklung, dass die Ausgrenzung Homosexueller in dem Grade abnimmt, in dem die Bedeutung des Individuums wächst. Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der so genannten „LifestyleHeterosexualität“,54 d.h. der individuell gewählten, nicht mehr durch Stamm und Familie vermittelten Partnerschaft, und einer zunehmenden Toleranz gegenüber homosexuellen Lebensformen. Umgekehrt schwindet diese Toleranz auch wieder, wenn beim „Zusammenprall der Kulturen“ eingewanderte Gruppen den oft nur überdeckten Ressentiments der einheimischen Bevölkerung wieder neuen Auftrieb geben.55

II. Die gegenwärtige Staatenpraxis In den Rechtsordnungen der heutigen Staaten finden wir extrem unterschiedliche Reaktionen auf das Phänomen. Auf der einen Seite steht die krasse Ablehnung, d.h. die Bestrafung. Dabei sprechen die Strafbestimmungen homosexuelle Handlungen aber zumeist nicht offen an, sondern verwenden Begriffe wie „unzüchtige“, „unnatürliche“56 oder „ausschweifende“57 Verhaltensweisen. Fehlt eine entspre-

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Der Begriff geht auf S. de Beauvoir, L’Invitée, 1943, zurück. Dazu. E. Heinze, Sexual Orientation and International Law: A Study in the Manufacture of Cross-cultural „Sensitivity“, Michigan Journal of International Law 22 (2001), 282 (303) mit Anm. 115. 55 Dazu Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Int. Ausgabe Nr. 68 vom 22.3.2006, 7 („Multikulturelle Realitäten in den Niederlanden – Homosexualität ist keine Selbstverständlichkeit mehr“). 56 Heinze (Anm. 54), 306–307, verweist z.B. auf Strafbestimmungen von Kenia, Singapur und Moçambique (mit näheren Angaben). In Indien stellt ein kolonialzeitliches Sodomie-Gesetz von 1860 den „Geschlechtsverkehr gegen die Ordnung der Natur“ unter

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chend ausdrückliche Einschränkung, erfasst dies wie in vielen islamischen Staaten ohne weiteres auch einverständliches Handeln unter Erwachsenen in privaten Räumen. Verfolgt werden in der Regel nur männliche Homosexuelle, wie es aus der geschichtlichen Entwicklung auch jüdischer oder christlicher Gesellschaften bekannt ist.58 Oft werden an den Strafausspruch Auflagen zum Zwecke der „Umerziehung“ geknüpft.59 Auf der anderen Seite kennen zunehmend mehr Staaten ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.60 Schon daraus haben aktivistische Gerichte gelegentlich weitreichende Folgerungen gezogen. So stellte z.B. das südafrikanische Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes fest, welches nur verheirateten (heterosexuellen) Paaren und Einzelpersonen die Adoption eines Kindes erlaubte.61 Inzwischen haben mehr als vierzig Staaten Partnerschaftsgesetze erlassen, die wie zuerst Dänemark (1989)62 neben der Ehe eine mit Rechten und Pflichten verbundene besondere Form der registrierten Partnerschaft (dualistisches System) vorsehen.63 Ganz wenige Staaten Strafe, welches inzwischen das Oberste Gericht beschäftigt. Dazu FAZ Nr. 92 vom 21.4.2005, 42 („Indisches Gesetz gegen Homosexualität angefochten“). 57 In Ägypten bedroht ein Gesetz aus dem Jahre 1961 „Ausschweifung oder Prostitution“ (debauchery or prostitution) mit Strafe, sofern sie gewohnheitsmäßig ausgeübt wird, ferner ist die Förderung der „Ausschweifung“ (debauchery) strafbar. Zum Text der Norm und zur Anwendungspraxis noch unten C. I. 2. Siehe zur ägyptischen Rechtslage auch die Stellungnahme der International Federation of Human Rights Leagues (FIDH, [Nichtregierungsorganisation mit „speziellem Konsultativstatus“ bei den Vereinten Nationen]), E/CN.4/2004/NGO/163 vom 10.3.2004 (sub IV.). 58 Siehe zuvor B. I. 59 Siehe Heinze (Anm. 54), 307, zu Moçambique: 3 Jahre Gefängnis und harte Arbeit. 60 Ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Schutz gegen die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gewähren u.a. die Verfassungen der Schweiz (Art. 8 Abs. 2 BV [Verbot der Diskriminierung aufgrund der „Lebensform“]. Dazu BGE 126 II 425 [433]; B. Waldmann, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, 667 ff.) und Südafrikas (Art. 9 Abs. 3 Constitution of South Africa). Siehe auch Commission on Human Rights, 59th session, Summary Record of the 13th Meeting (24 March 2003), E/CN.4/2003/SR.13 vom 1.4.2003, § 66. 61 Dethloff (Anm. 22), 197, weist die Entscheidung des südafrikanischen Verfassungsgerichts von 2002 in der Sache Du Toit and Another v. Minister for Welfare and Population Development and Others nach. 62 Low om registreret partnerskab (Gesetz über die registrierte Partnerschaft) no. 372 vom 7.6.1989. 63 Einen Überblick gibt I. Curry-Sumner, Uniform Patterns Regarding Same-Sex Relationships, International Law FORUM du droit international 7 (2005), 186–194. Siehe auch R. Wintemute/M. Andemæs (Hrsg.), Legal Recognition of Same-sex Partnerships, A

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wie zuerst die Niederlande (2001),64 aber auch Kanada (Bundesstaat und etliche Provinzen), der US-Bundesstaat Massachusetts, Belgien65 sowie Spanien (ohne Autonomías)66 haben sich für ein monistisches System entschieden, das die Ehe als einheitliche Institution für gleichgeschlechtliche Paare öffnet und in diesem Falle auch regelmäßig ein Adoptionsrecht beinhaltet.67 Die überwiegend meisten Staaten vermeiden jedoch explizite Regelungen und überlassen das Problem der Rechtsprechung. Von einer einheitlichen Staatenpraxis im Umgang mit der Homosexualität kann somit noch keine Rede sein. Doch gibt es innerhalb der Völkergemeinschaft eine zeitversetzt gleichgerichtete Entwicklung. Sie verläuft von der Abschaffung vormaliger Bestrafung über den Schutz gegen Diskriminierung bis hin zur Anerkennung einer besonderen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und reicht sogar bis zur Öffnung der traditionellen Ehe. Dabei erscheinen die beiden letztgenannten Optionen als geradezu notwendige Konsequenz aus der Erkenntnis, dass sich die These vom unnatürlichen Verhalten nicht mehr aufrechterhalten lässt. Allerdings dürfte die Aufrechterhaltung einer Unterscheidung zwischen Ehe und Partnerschaft davon abhängen, ob die Ehe zwischen Mann und Frau auch in Zukunft als eine Study of National, European and International Law, 2001; K. Boele-Woelki/A. Fuchs (Hrsg.), Legal Recognition of Same-Sex Couples in Europe (European Family Law Series, vol. 1), 2003; Bericht der (Europarats-)Commission des migrations, des réfugiés et de la démographie vom 25.2.2000, Doc. 8654, zur „Situation des gays et des lesbiennes et de leurs partenaires en matière d’asile et d’immigration dans les États membres du Conseil de l’Europe“ vom 25.2.2000. Speziell zu Deutschland: Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft vom 16.2.2001 (BGBl. I 266; überarbeitete Fassung vom 15.12.2004, BGBl. I 3396). Zu Frankreich: Loi no 99–944 du 15 novembre 1999 relative au pacte civil de solidarité, Journal officiel no. 265 du 16 novembre 1999, 16959. Zum britischen Civil Partnership Act von 2004, das am 5.12.2005 in Kraft trat und die „Civil Partnership“ mit eheähnlichem Status, aber ohne Adoptionsrecht ausstattet: NZZ, Int. Ausgabe Nr. 285 vom 6.12.2005, 7 („‚Homo-Ehen‘ jetzt auch in Großbritannien“). 64 Hier wurden am 1.4.2001 im Amsterdamer Stadthaus die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen. Siehe NZZ, Int. Ausgabe Nr. 68 vom 22.3.2006, 7. 65 Siehe Curry-Sumner (Anm. 63), insbes. 190 f. 66 Ley 13/2005 de 1 julio 2005 por la que se modifica el Código Civil en materia de derecho a contraer matrimonio, BOE No. 153. Gegen dieses Gesetz hat die spanische Volkspartei Anfang Oktober 2005 das Verfassungsgericht angerufen. Vorgetragen wurde, dass das neue Adoptionsrecht und auch die Verwendung des Begriffes der Ehe im fraglichen Gesetz die verfassungsrechtlich geschützte Institution der Ehe (Art. 32 span. Verf.) schädige. Siehe FAZ Nr. 230 vom 4.10.2005, 14 („Volkspartei geht gegen Homo-Ehe an“). 67 Eingehend Dethloff (Anm. 22), 195 ff. Die Autorin weist darauf hin, dass sich auch im dualistischen System der registrierten Partnerschaft das Adoptionsrecht oft noch in späteren Reformschritten durchsetzt, 197 m.N.

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Einrichtung angesehen werden kann, in der typischerweise Kinder aufgezogen werden, während dies zugleich in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften typischerweise nicht der Fall sein dürfte. Sollte diese tatsächliche Basis der Unterscheidung jedoch wegfallen, könnte die Verweisung gleichgeschlechtlicher Paare auf eine eingetragene Partnerschaft nur noch mithilfe der Formel „separate but equal“ begründet werden, – die schon in anderen Zusammenhängen kein Erfolgsmodell gewesen ist.68

C. Universelles Völkerrecht I. Die Lage homosexueller Menschen im Fokus der Vereinten Nationen 1. Willkürliche Tötung Während es in einigen Staaten darum geht, ob homosexuelle Partner in der Hinterbliebenenversorgung den Ehepartnern gleichzustellen sind, kann die betreffende Veranlagung in anderen Staaten lebensgefährlich werden. Das dokumentieren vor allem die Berichte von UN-Spezialberichterstattern zum Thema „extralegale, Massen- oder willkürliche Exekutionen“.69 Die inzwischen durch den Menschenrechtsrat (Human Rights Council) ersetzte UN-Menschenrechtskommission (Human Rights Commission)70 in Genf hatte in Dutzenden von Resolutionen und Stellungnahmen unermüdlich an die Staaten appelliert, das natürliche Recht jedes Menschen auf Leben zu schützen. Sie gebrauchte dabei die immer gleiche Formel, wonach „alle Tötungen, die aus diskriminatorischen Gründen einschließlich der sexuellen Orientierung begangen werden“, (all killings committed for any discriminatory reason, including sexual orientation), prompt und gründlich zu untersuchen und die Täter zu verfolgen seien, und zwar auch dann, wenn dies im Affekt oder im Namen der Ehre geschehe.71 Dies zielte vor allem auf solche Staaten, in denen 68 Siehe im Zusammenhang der Rassentrennung in den USA die Entscheidung des US Supreme Court im Fall Brown v. Board of Education, 347 US 483 (1954), unter Abwendung von u.a. Plessy v. Ferguson, 163 US 537 (1896). 69 Siehe etwa General Assembly, Special Rapporteur of the Commission on Human Rights on extrajudicial, summary or arbitrary executions (Ms. Jahangir), Dokument A/57/ 138 vom 2.7.2002, §§ 37 ff. 70 Siehe noch unten C. II. mit Anm. 87. 71 Zumeist findet sich in den Beschlüssen betreffend „summary or arbitrary executions“ die Formulierung: „Reaffirms the obligation of States to protect the inherent right to life of all persons under their jurisdiction and calls upon States concerned to investigate promptly and thoroughly all cases of killings, including those committed in the name of passion or

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wie z.B. in Brasilien Homosexuelle zum Freiwild für die Verlierer der Gesellschaft, also Opfer nichtstaatlicher Verfolgung geworden sind. Ein neuerer Ansatz, in diesen Standardtext neben der sexuellen Orientierung auch die geschlechtliche Identität aufzunehmen, konnte sich nicht behaupten,72 was darauf hindeutet, dass die Transsexuellen-Problematik auf der universellen Ebene auf noch größere Vorbehalte als die der sexuellen Orientierung stößt.

2. Willkürliche Verhaftung (Kriminalisierung): Der Queen Boat-Fall (2002) Die Arbeitsgruppe der früheren UN-Menschenrechtskommission, die sich mit willkürlicher Verhaftung befasste (Working Group on Arbitrary Detention), hatte die Verhaftung aufgrund von Homosexualität in ihrer Berichtstätigkeit als eigenständigen Problembereich behandelt.73 Auslöser hierfür war der ägyptische Queen Boat-Fall, der über 50 Männer betraf, die im Mai 2001 in Kairo unter dem Vorwurf der gewohnheitsmäßigen Ausschweifung (debauchery) bzw. des Schürens von Unfrieden als Gruppenzweck verhaftet und von denen schließlich 23 verurteilt worden waren.74 Nach Prüfung des ihr förmlich mitgeteilten Falles gelangte die Working Group im Juni 2002 zu dem Schluss, dass die Beschuldigten Opfer einer willkürlichen Inhaftierung geworden seien und Ägypten gegen Art. 2 I und 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), aber auch in the name of honour, all killings committed for any discriminatory reason, including sexual orientation; […].“ Siehe i.e. (die vormalige) Commission on Human Rights, Dokument E/CN.4/2002/L.51 vom 16.4.2002 (3 sub 6); E/CN.4/2003/L.57/Rev.1 vom 22.4.2003 (3 sub 5); E/CN.4/2004/L.56/Rev.1 vom 16.4.2004 (3 sub 6); E/CN.4/2005/L.47/Rev.1 vom 15.4.2005 (3 sub 5). Entsprechend Resolution 2005/34 der Commission on Human Rights betreffend „extrajudicial, summary or arbitrary executions“ vom 19.4.2005, E/2005/ 23 und E/CN.4/2005/134 (133 sub 5). 72 Siehe einerseits Commission on Human Rights, Dokument E/CN.4/2005/L.47 vom 13.4.2005 (3 sub 5), und andererseits E/CN.4/2005/L.47/Rev.1 vom 15.4.2005 (3 sub 5). 73 Auch zum Folgenden: Report of the Working Group on Arbitrary Detention, Dokument E/CN.4/2003/8 vom 16.12.2002, §§ 68–70, 76. 74 Art. 9 (c) des ägyptischen Gesetzes Nr. 10 von 1961 zur Verhinderung der Prostitution lautet (in englischer Übersetzung): „Anyone who habitually engages in debauchery or prostitution is liable to a penalty of three months to three years’ imprisonment and/or a fine of LE 25–300.“ Ferner stellte Art. 98 I des ägyptischen Strafgesetzbuches die Ausnutzung der Religion zur Beeinträchtigung des sozialen Friedens unter Strafe. Davon waren in der Rechtspraxis auch Personen betroffen, die „homosexuelle Beziehungen zu einem grundlegenden Prinzip ihrer Gruppe machten, um soziale Spannungen (dissensions) zu erzeugen“. (Quelle: Working Group [Anm. 73], §§ 14, 24).

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gegen Art. 2 I der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstoßen habe.75 Sie warf dabei zwar ausdrücklich die Frage auf, ob der in diesen Bestimmungen genannte Begriff des Geschlechts auch die sexuelle Orientierung erfasse, legte sich aber nicht fest.

3. Stigmatisierung und Medienfreiheit Stigmatisierung liegt vor, wenn schon das Tragen eines bestimmten Merkmals bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als negativ gilt. Diese negative Wirkung lässt sich durch den ständigen Gebrauch im Zusammenhang mit negativen Einzelfällen und -erscheinungen immer weiter verstärken, bis es sich schließlich so weit verselbständigt, dass missliebige Personen aller Art mit Gruppenmerkmalen der verpönten Gruppe belegt werden. Im Falle der Homosexualität bedeutet das, dass eine Person durch die Bezeichnung als „homosexuell“ diffamiert werden kann. Eine solche Praxis stellte der Spezielle Berichterstatter der früheren Menschenrechtskommission z.B. in Kolumbien fest, wo politische Gegner als „Homosexuelle“ bezeichnet wurden, um die Angst der dortigen Bevölkerung vor der Ausbreitung von AIDS durch Homosexuelle auszunutzen.76 Der Spezielle Berichterstatter forderte die Regierung Kolumbiens auf, dieser Stigmatisierung entschieden entgegenzutreten, weil es sich „per se“ um eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung handele, welche eine Spirale von Gewalt und Ressentiment antreibe.77 Dabei zeigte er den Zusammenhang zwischen den hier wirksamen „patterns of discrimination“ (Sexuelle Diskriminierung und AIDSPandemie) und Verletzungen der Meinungsfreiheit auf: Gerade dort, wo Homosexuellenverbände wie z.B. in Kolumbien keine Möglichkeit hätten, ihr Anliegen in den Medien vorzustellen, weil man dies aufgrund einer prüde-traditionellen Haltung unterbinde, gediehen das Vorurteil und auf diesem Boden die so gefährliche Stigmatisierung. Daraus darf allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass die Medien ohne jede Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht betroffener Individuen berichten bzw. enthüllen dürften.78 75

Working Group on Arbitrary Detention, Opinion no. 7/2002 vom 21.6.2002, Dokument E/CN.4/2003/8/Add. 1 vom 24.1.2003, 68 ff. 76 Report of the Special Rapporteur on the Right to Freedom of Opinion and Expression, Ambeyi Ligabo, Dokument E/CN.4/2005/64/Add. 3 (Addendum „Mission to Colombia“) vom 26.11.2004, §§ 75–77, 92. 77 Ibid., § 96. 78 Ein solcher Fall ereignete sich Anfang 2006 in Kamerun, wo eine Tageszeitung mit der Titelseite „Exklusiv: die komplette Liste aller Homosexuellen in Kamerun“ (teilweise mit Bild) ihre Auflage verzwanzigfachen konnte. Dazu NZZ, Int. Ausg. Nr. 103 vom 5.5.2006, 31.

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II. Der Entwurf einer „Resolution über Menschenrechte und sexuelle Orientierung“ Wie stark die unterschiedlichen Kulturen oder – nach anderer Sichtweise – die verschiedenen Entwicklungszustände der Staaten auf der weltweiten Ebene aufeinander prallen, zeigen die Bemühungen, in der vormaligen UN-Menschenrechtskommission eine „Resolution über Menschenrechte und sexuelle Orientierung“ durchzusetzen. Brasilien, das selbst ein Problem im Bereich der nichtstaatlichen Verfolgung Homosexueller hatte, legte im Frühjahr 2003 (59. Tagung) einen Resolutionsentwurf vor, der von allen „westlichen“ Mitgliedern (Belgien, Kanada, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und Tschechien) unterstützt wurde. Er lautet in seinen wichtigsten Passagen: Die Menschenrechtskommission [...] 1. drückt ihre tiefe Sorge über das Auftreten von Menschenrechtsverletzungen in der Welt gegen Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus; 2. betont, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten das Geburtsrecht aller menschlichen Wesen sind, dass die universelle Natur dieser Rechte und Freiheiten außer Frage steht und dass der Genuss solcher Rechte und Freiheiten in keiner Weise aufgrund der sexuellen Orientierung behindert werden darf; 3. ruft die Staaten dazu auf, die Menschenrechte aller Personen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung zu fördern und zu schützen; 4. nimmt die Aufmerksamkeit zur Kenntnis, welche Menschenrechtsverletzungen aufgrund der sexuellen Orientierung im Rahmen der speziellen Verfahren in den Berichten an die Menschenrechtskommission geschenkt wurde, ebenso im Rahmen der vertraglichen Überwachungsgremien, und ermutigt alle Beteiligten an Spezialverfahren der Kommission, im Rahmen ihres Mandats dem Thema die nötige Aufmerksamkeit zu schenken; 5. ersucht den UN-Hochkommissar für Menschenrechte, auf die Verletzung von Menschenrechten aufgrund der sexuellen Orientierung die nötige Aufmerksamkeit zu richten; 6. entscheidet, die Erwägung der Angelegenheit bei ihrer 60. Tagung unter derselben Agenda fortzusetzen.“79 79 Commission on Human Rights, 59th session, Draft Resolution on Human Rights and Sexual Orientation, Dokument E/CN.4/2003/L.92 vom 17.4.2003. Deutsche Übersetzung durch Verf.

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Dazu formulierten Ägypten,80 Libyen,81 Malaysia,82 Pakistan83 und SaudiArabien84 Änderungsanträge, die trotz aller Unterschiede im Detail in einem übereinstimmten: Sie strichen ausnahmslose sämtliche Erwähnungen des Begriffes „sexuelle Orientierung“ und ersetzten sie durch unverfängliche Formulierungen über das Recht jeder Person auf den Genuss der allgemeinen Menschenrechte. Darüber hinaus forderten die genannten Staaten ausdrückliche Hinweise auf den Respekt vor anderen Kulturen, Saudi-Arabien sogar auf die Verpflichtungen Einzelner gegenüber der Gemeinschaft. Ferner verlangten sie Hinweise auf die Bedeutung der Familie und der Moral. Die islamischen Staaten stellten sich insbesondere auf den Standpunkt, dass der Resolutionsentwurf neue Rechte einführen wolle, die bislang in keiner bestehenden Konvention verankert seien, weshalb der Menschenrechtsausschuss den Gegenstand auch gar nicht hätte behandeln dürfen.85 Dagegen wandten die Vertreter „westlicher“ Staaten ein, dass kein menschenrechtliches Thema außerhalb der Kompetenzen der Menschenrechtskommission liegen könne. Die Gegensätze waren unüberbrückbar, weil für manche Staaten ein unüberwindliches Problem schon darin bestand, das Kind auch nur beim Namen zu nennen. Obwohl Brasilien den Antrag bei der 60. Tagung der Menschenrechtskommission 2004 erneut einbrachte, musste es ihn auf Druck der Organisation Islamischer Staaten, die von Pakistan vertreten wurde, aber auch des Heiligen Stuhls letztlich zurückziehen.86 Es waren nicht zuletzt solche Erfahrungen, die innerhalb der Vereinten Nationen die Überzeugung reifen ließen, dass die alte Menschenrechtskommission durch einen neuartig zu bestellenden Menschenrechtsrat abgelöst werden musste.87 80

Dokument E/CN.4/2003/L.108 vom 22.4.2003. Dokument E/CN.4/2003/L.109 vom 22.4.2003. 82 Dokument E/CN.4/2003/L.110 vom 22.4.2003. 83 Dokument E/CN.4/2003/L.107 vom 22.4.2003. 84 Dokument E/CN.4/2003/L.106 vom 22.4.2003. 85 Auch zum Folgenden: United Nations Economic and Social Council (Commission on Human Rights), 59. Tagung (Sitzung vom 24.4.2003), Dokument E/CN.4/2003/SR.61 vom 26.5.2003, §§ 58 ff., insbesondere § 60; sowie 59. Tagung (Sitzung vom 25.4.2003), Dokument E/CN.4/2003/SR.63 vom 26.5.2003, §§ 83 ff., insbesondere § 89: „That was a question that had no place in the Commission.“ 86 So S. Sterr, Menschenrechtskommission 2004: 60. Tagung, in: Vereinte Nationen 3/ 2005, 101 (102). 87 Die Schaffung des Menschenrechtsrats wurde am 15.3.2006 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit den Stimmen von 170 der 191 Mitgliedstaaten (ablehnend u.a. die USA) beschlossen. Dazu UN-Generalsekretär K. Annan, Dieser Rat sollte erfolgreich sein, in: FAZ Nr. 68 vom 21.3.2006, 10. Siehe auch G. Baum, Die letzte Entschei81

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III. Die Spruchpraxis des Menschenrechtskomitees zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte Die erheblichen Meinungsunterschiede in den politischen Gremien der Vereinten Nationen spiegeln sich nicht unbedingt in den Entscheidungen des Menschenrechtskomitees (Human Rights Committee), dem Spruchorgan nach dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, wider. Vielmehr hat sich dieses durch spektakuläre Bewertungen zeitweise zu einem Motor der Rechtsentwicklung entwickelt. Das ist umso bemerkenswerter, als seine Entscheidungen, die auf „Mitteilung“ (communication) hin ergehen, nicht einmal für den betroffenen Vertragsstaat bindend sind. Sie prägen dennoch die Auslegung des Paktes und wirken mit gerichtsähnlicher Objektivität und Unabhängigkeit politisch auf die Vertragsstaaten ein.88

1. Hertzberg et al. v. Finnland (1982) Im Fall Hertzberg et al. v. Finnland (1982) waren Journalisten wegen der öffentlichen Förderung unzüchtigen Verhaltens zwischen Angehörigen desselben Geschlechts bestraft worden, weil sie das Thema Homosexualität in den staatlichen Medien anders als ablehnend behandelt hatten. Stein des Anstoßes waren Sendungen des Jahres 1976 über die Identitätsfindung junger Homosexueller bzw. die Diskriminierung Homosexueller auf dem Arbeitsmarkt. Die Fernsehleute beriefen sich auf die Meinungsfreiheit nach Art. 19 Abs. 2 IPBPR, die finnische Regierung dagegen auf den Schutz der „öffentlichen Sittlichkeit“ (Art. 19 Abs. 3 lit. b IPBPR). In diesem Fall betonte das Komitee noch, dass es keinen universellen gemeinsamen Standard der öffentlichen Moral gäbe. Deshalb könne die Bewertung des finnischen Gesetzgebers auch nicht beanstandet werden. Radio und TV seien keine „angemessenen Foren, um Themen im Zusammenhang mit Homosexualität zu diskutieren“. Das Programm könne zu homosexuellem Verhalten ermuntern; jedenfalls seien nachteilige Wirkungen auf Minderjährige nicht auszuschließen. Somit habe Finnland die Meinungsfreiheit nicht verletzt. Allein das Komiteemitglied Opsahl vertrat schon damals in einem Sondervotum die Auffassung, dass die öffentliche Moral doch ein schwankender Begriff sei, der nicht dazu dienen dürfe, Vorurteile oder Intoleranz zu perpetuieren. Insgesamt zeigt die Entscheidung jedoch, wie stark die offenen Begriffe („Moral“, „Sittlichkeit“ o.ä.) in den Recht-

dung liegt beim Sicherheitsrat, in: FAZ Nr. 69 vom 22.3.2006, 10. Inzwischen sind die Mitglieder des Rates (u.a. Deutschland) gewählt. 88 Vgl. M. Nowak, CCPR Commentary, 1993, Art. 5 Rn. 33 ff.

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fertigungsklauseln den Spielraum für restriktive staatliche Regelungen erweitern können, solange ein darüber hinaus gehender Standard noch nicht feststellbar ist.

2. Toonen v. Australia (1994) Mehr als zehn Jahre später, 1994, urteilte das Komitee ganz anders, obwohl von einem inzwischen weltweit veränderten Standard keine Rede sein konnte. Im vielzitierten Fall Toonen89 ging es um einen bekennenden Homosexuellen im australischen Bundesstaat Tasmanien, der die „Tasmanian Gay Law Reform Group“ leitete. Er wehrte sich mit einer Mitteilung zum Menschenrechtskomitee dagegen, dass das tasmanische Strafgesetzbuch zwei Vorschriften enthielt, die den „unnatürlichen Geschlechtsverkehr“ bzw. „unzüchtige Handlungen zwischen männlichen Personen“ unter Strafe stellten, und zwar selbst dann, wenn dies einvernehmlich unter Erwachsenen in der privaten Wohnung geschah. Er hielt sich dadurch in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 17 und 26 IPBPR verletzt. Das Menschenrechtskomitee musste zuerst klären, ob Toonen überhaupt „Opfer“ einer Paktverletzung sein konnte, weil die fraglichen Strafbestimmungen in jüngerer Zeit gar nicht mehr angewandt worden waren. Es bejahte dies, weil Toonen unter einer ständigen Strafdrohung leben musste, deren Fortbestehen Auswirkungen auf die Behördenpraxis und die öffentliche Meinung gehabt habe. Somit stellte sich die Frage, ob in der Fortexistenz nicht mehr angewandter Strafbestimmungen eine „willkürliche“ Beeinträchtigung der Privatsphäre i.S.v. Art. 17 IPBPR liegen konnte. Maßstab für diese Prüfung waren die Grundsätze, die das Komitee schon im General Comment 16 (32) zu Art. 17 fixiert hatte. Danach müssen Eingriffe in die Privatsphäre auf einem Gesetz beruhen, mit dem Ziel und Zweck des Paktes vereinbar und in jeder Hinsicht verhältnismäßig sein. Australien selbst räumte die Verletzung unumwunden ein, weil es offenbar auf das Eingreifen einer internationalen Instanz hoffte, um auf den Bundesstaat Tasmanien einzuwirken. Das tasmanische Gesetz sollte erstens der AIDS-Bekämpfung und zweitens der öffentlichen Moral dienen. Doch beide Gesetzeszwecke fanden vor dem Komitee keine Gnade: Als Anti-AIDS-Strategie sei das tasmanische Strafrecht geradezu kontraproduktiv, weil es die Risikopersonen in den Untergrund treibe. Aber auch der Schutz der öffentlichen Moral könne nicht als rein innerstaatliche Angelegen89

Communication No. 488/1992 (CCPR/C/50/D/488/1992) – Toonen v. Australia (31.3.1994), abgedruckt in: United Nations High Commissioner for Human Rights, International Covenant on Civil and Political Rights, Selected Decisions of the Human Rights Committee under the Optional Protocol, vol. 5 (47th to 55th session), 2005, 133 ff.

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heit betrachtet werden, denn sonst würde Art. 17 IPBPR völlig in das Belieben der Vertragsparteien gestellt. Wenn die umstrittenen Vorschriften wie hier gar nicht mehr angewandt würden, zeige dies überdeutlich, dass ihre Fortexistenz nicht notwendig, die beständige Strafdrohung demnach nicht verhältnismäßig sei. Neben der hier bejahten Verletzung von Art. 17 IPBPR wurde die auch noch mögliche Verletzung von Art. 26 IPBPR (Verbot der Diskriminierung) nicht mehr geprüft. Dagegen zog das Komitee wegen der Rechtsfolgen der Verletzung von Art. 17 aber noch Art. 2 III lit. a IPBPR heran. Danach müssen die Vertragsstaaten für eine wirksame Beschwerdemöglichkeit inklusive Abhilfe im Falle der Verletzung sorgen. Hieraus leitete das Komitee ab, dass der Verletzerstaat Australien die Aufhebung der tasmanischen Strafbestimmungen bewirken musste. In diesen Zusammenhang fällt die wichtigste Aussage der Entscheidung, dass nämlich die sexuelle Orientierung kein Unterfall des „sonstigen Status“ sei, sondern unter den Begriff des „Geschlechts“ i.S.v. Art. 2 I IPBPR falle. Damit wich das Komitee zwar von der Praxis anderer Spruchkörper, insbesondere der Rechtsprechung der Straßburger Organe ab, hielt sich aber im Rahmen einer zu Beginn der 90er Jahre von der Menschenrechtskommission vertretenen und in den Vereinten Nationen durchaus verbreiteten Auffassung.90

3. Juliet Joslin et al. v. New Zealand (2002) Ms. Joslin und Ms. Rowan, die in lesbischer Beziehung lebten und gemeinsam Kinder aus früheren Ehen großzogen, begehrten vergeblich vom neuseeländischen Staat, die Ehe zu schließen. Auch ihre Mitteilung an das Menschenrechtskomitee hatte keinen Erfolg, weil dieses die Anwendbarkeit von Art. 23 Abs. 2 IPBPR (Recht auf Eheschließung) auf diesen Fall verneinte: Wie sich aus dem Wortlaut der Norm ergebe, handele es sich im Unterschied zu allen anderen Garantien ausdrücklich um ein „Recht von Mann und Frau“.91 Eine entsprechende Zurückhaltung kennzeichnet auch die Spruchpraxis der europäischen Menschenrechtsorgane zu Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).92

90

Kritisch L.R. Helfer/A. M. Miller, Sexual Orientation and Human Rights: Toward a United States and Transnational Jurisprudence, Harvard Human Rights Journal 9 (1996), 61 (74 ff.). Zur abweichenden Rechtsprechung der Straßburger Organe C. III. 4.; D. I.; D. II. 1. b); F. III. 1. 91 Communication No. 902/1999 – Joslin v. New Zealand, abgedruckt in: General Assembly, 57th session, Report of the Human Rights Committee, vol. II, suppl. No. 40 (A/57/ 40), 214 ff. 92 Siehe unten D. I.

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4. Young v. Australia (2003) Im Fall Young v. Australia93 ging es um die Gewährung einer Pension für die Lebenspartner von Veteranen. Edward Young hatte 38 Jahre lang mit einem Veteranen zusammengelebt und diesen in seinen letzten Lebensjahren gepflegt. Nachdem er gestorben war, beantragte er in der Eigenschaft als „Mitglieds eines Paares“ (member of a couple) eine Pension, die ihm aber versagt wurde, weil er mit dem Verstorbenen weder legal verheiratet war noch mit diesem als einer Person „des anderen Geschlechts“ (person of the opposite sex) zusammengelebt hatte, wie es das Gesetz des australischen Bundesstaates New South Wales eindeutig verlangte. Die Erfolglosigkeit des Antrags war angesichts des Gesetzeswortlauts so klar, dass das Komitee in diesem Fall sogar vom Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs absah. In der Sache stellte das Komitee fest, dass das Gesetz die Gewährung der Pension nicht nur auf Ehepaare beschränkte (die daran anknüpfende Differenzierung hätte es akzeptiert), sondern sie auch nichtverheirateten Paaren zugute kommen ließ, sofern die Partner verschiedenen Geschlechtern angehörten. Damit beruhte die Verweigerung der Pension im Falle von Herrn Young allein auf dessen Homosexualität. Obwohl das Ergebnis der Entscheidung somit klar war, kam es in diesem Fall zu einer interessanten Abweichung von der früheren Rechtsprechung: Während dasselbe Komitee im Fall Toonen94 noch die Auffassung vertreten hatte, die sexuelle Orientierung falle unter den Begriff des „Geschlechts“, stellt es in Young nur noch fest, dass Art. 26 IPBPR auch die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung erfasse, ohne das Differenzierungskriterium jedoch zu bezeichnen.95 Dies kann man als einen vorsichtigen Rückzug von der früheren, gewagteren Position deuten. Immerhin leitete das Komitee aber auch in Young aus Art. 2 IPBPR noch die Verpflichtung des Verletzerstaates ab, nicht nur effektive Beschwerdemittel im innerstaatlichen Recht vorzusehen, sondern nötigenfalls auch durch Gesetzesänderung Sorge dafür zu tragen, dass sich Verletzungen vergleichbarer Art in Zukunft nicht wiederholten.

93

Communication No. 941/2000 – Young v. Australia (6.8.2003), abgedruckt in: General Assembly, 58th session, Report of the Human Rights Committee, vol. II, suppl. No. 40 (A/58/40), 231 ff. 94 Siehe oben C. III. 2. 95 Human Rights Committee (Anm. 93), § 104: „The Committee recalls its earlier jurisprudence that the prohibition against discrimination under article 26 comprises also discrimination based on sexual orientation“.

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IV. Die Verpflichtungen nach dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Im Bereich der sozialen Rechte hat sich vor allem Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) als Ansatzpunkt für die Berücksichtigung der Homosexualität erwiesen. Danach erkennen die Vertragsstaaten „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an“. Gemeint ist damit nicht nur ein Recht, gesund zu sein (und es auch zu bleiben), sondern auch das Recht, die selbstbestimmte Kontrolle über die eigene Gesundheit zu behalten, was u.a. die sexuelle und die reproduktive Selbstbestimmung beinhaltet.96 Darüber hinaus enthält auch der IPWSKR in Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 ein Diskriminierungsverbot, das es in Verbindung mit Art. 12 IPWSKR verbietet, beim Zugang zum individuell höchstmöglichen Maß an Gesundheit anhand verpönter Kriterien zu differenzieren. Zu diesen Kriterien zählt nach Auffassung des Committee on Economic, Social and Cultural Rights gerade auch die sexuelle Orientierung.97 Allerdings richten sich alle genannten Bestimmungen des IPWSKR ausdrücklich an die Vertragsstaaten, so dass sich Einzelne vor innerstaatlichen Behörden und Gerichten in aller Regel nicht unmittelbar auf sie berufen können. Anderes kommt lediglich ausnahmsweise in Betracht, wenn ein Staat z.B. der Zielsetzung einer Bestimmung des IPWSKR so klar entgegenhandelt, dass der Norminhalt (z.B. von Art. 12 IPWSKR) auch in bezug auf eine Einzelfallanwendung als hinreichend klar und bestimmt („selfexecuting“) gelten kann.

V. Das Verbot der „Diskriminierung aufgrund HIV-Status“ und das „Recht auf Outing“ nach der Kinderschutzkonvention

Auch das Komitee über die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) hat sich zur Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung geäußert.98 Spektakulär ist jedoch seine darüber hinausgehende Entscheidung, auch den AIDS/HIV-Status des Kindes oder seiner Eltern als „sonstigen Status“ i.S.v.

96

Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment No. 14: The Right to the Highest Attainable Standard of Health (Art. 12). E/C.12/2000/4 vom 11.8.2000, § 8. 97 Ibid., § 18. 98 Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 3: HIV/AIDS and the Rights of the Children, CRC/GC/2003/3 vom 17.3.2003, § 8.

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Art. 2 der Kinderschutzkonvention (KK) anzuerkennen.99 Die Garantien aus Art. 2 KK könnten nämlich nur dann umfassend umgesetzt werden, wenn das innerstaatliche Recht die Diskriminierung aufgrund eines tatsächlichen oder vermuteten HIV-Status ausdrücklich verbiete.100 Beides steht nur in einem kleineren Teil der Fälle in einem unmittelbaren Zusammenhang und spielt auch eine jeweils unabhängige Rolle. Doch wo immer Homosexualität und AIDS zusammentreffen, können Betroffene nicht frei von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung leben, wenn die Diskriminierung auf den AIDS-Status als alternatives Anknüpfungsmerkmal ausweichen kann. Das Komitee hält die Vertragsstaaten der Kinderschutzkonvention daher folgerichtig für verpflichtet, Diskriminierungen gegenüber Mitgliedern dieser Gruppe zu unterlassen bzw. mit allen geeigneten Mitteln zu unterbinden. Eine vergleichbare Spruchpraxis zugunsten Erwachsener, etwa auf der Basis anderer Menschenrechtsschutz-Instrumente, welche die Diskriminierung aufgrund des „sonstigen Status“ verbieten (z.B. Art. 2 Abs. 1 IPBPR, Art. 2 Abs. 2 IPWSKR), gibt es derzeit nicht; sie liegt jedoch aus denselben Gründen nahe. Im Bereich der Kinderschutzkonvention stellt sich die besondere Frage, ob zu den garantierten Rechten auch ein Recht jugendlicher Personen zählt, sich ohne Nachteile schon frühzeitig zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen. Man könnte insoweit von einem „Recht auf Outing“ sprechen, hinter dem nicht etwa nur ein Lifestyle-Interesse, sondern das fundamentale Interesse homosexueller Menschen an einer ihnen angemessenen psychosozialen Entwicklung steht. Ein solches Recht könnte man aus der auch dem Kind zustehenden Meinungsfreiheit (Art. 12 f. KK) i.V.m. dem Diskriminierungsverbot (Art. 2 KK), aber auch aus dem Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (Art. 24 KK) oder dem Recht auf Privatleben (Art. 16 KK) ableiten. Doch muss bei der Kinderschutzkonvention wiederum beachtet werden, dass sich die allermeisten Bestimmungen nur an die Vertragsstaaten richten, Einzelne sich also i.d.R. nicht unmittelbar auf sie berufen können.

VI. Abschiebungsschutz nach der Anti-Folter-Konvention: K.S.Y. v. the Netherlands (2003) Homosexualität kann in Einzelfällen auch das Folterverbot berühren, das in allen Menschenrechtskonventionen und insbesondere auch im Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung 99 100

Ibid., § 9. Ibid., § 40 (c).

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oder Strafe von 1984 enthalten ist: Im Fall Khaliollah Soorani Yancheshmeh v. the Netherlands (2003)101 war der Antrag eines Iraners auf Anerkennung als Flüchtling in den Niederlanden abgelehnt worden. K. S. Y. war homosexuell und hatte in Holland einen früheren Partner im Affekt getötet. Daraufhin hatte ihn das niederländische Justizministerium zur unerwünschten Person erklärt. Seine Rechtsmittel gegen die Ablehnung des Asyls wie auch gegen die Erklärung hatten keinen Erfolg. Schließlich erhob er Beschwerde zum Anti-Folter-Komitee, dem er vortrug, dass seine Abschiebung in den Iran ihn allein deshalb der Gefahr der Folter aussetze, weil er homosexuell sei. Auf jeden Fall seien homosexuelle Aktivitäten nach iranischem Recht strafbar.102 Dem Anti-Folter-Komitee stellte sich in diesem Fall die Frage, ob die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Iran Art. 3 Abs. 1 der Anti-Folter-Konvention (Non-Refoulement-Verbot) verletzte.103 Dabei bewertete es die Verfolgungsgefahr anhand aller erheblichen Umstände des Einzelfalls, wobei sich auch hier die Frage stellte, ob es in dem betreffenden Land ein „consistent pattern of gross, flagrant or mass violations of human rights“ gibt, ob also die Menschenrechte regelmäßig, im großen Maßstab, flagrant oder massenweise verletzt wurden. Liegt ein solches Muster vor, genügt dies nach Ansicht des Komitees allerdings nicht, um die Verletzung von Art. 3 zu begründen. Vielmehr müssen zusätzliche Indizien belegen, dass auch gerade der betreffenden Person Gefahr droht. Umgekehrt könne sich aber aus den Umständen des Einzelfalles wiederum ergeben, dass individuelle Verfolgung drohe, obwohl das beschriebene Muster fehle. Entscheidend ist für das Komitee also, ob konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass gerade der Beschwerdeführer gefährdet ist. Das konnte das Komitee im vorliegenden Fall nicht erkennen, wobei es in seiner abschließenden „Mitteilung“ u.a. feststellte, dass es „gegenwärtig keine

101

Committee against Torture, Communication No. 190/2001 (K.S.Y. v. the Netherlands), Decision of 15 May 2003, CAT/C/30/D/190/2001. 102 Der Beschwerdeführer bezog sich u.a. auf einen Bericht des speziellen Beauftragten des UN-Menschenrechtsausschusses für Iran (UN Special Representative of the Commission on Human Rights on Iran) von 1999, der unter Berufung auf iranische Pressequellen Fälle aufgeführt hatte, in denen Homosexuelle wegen der Erregung öffentlichen Ärgernisses oder der „öffentlichen Moral“ teilweise zu 18 Monaten Gefängnis und mehr als 200 Peitschenhieben verurteilt worden waren. Siehe zur früheren Verfolgung (Todesstrafe gegen Homosexuelle) im Iran BVerwG JZ 1988, 709 ff. (mit Anm. O. Kimminich). Ausführliche Wiedergabe der damaligen iranischen Strafbestimmungen (in deutscher Übersetzung) in: VGH Kassel Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1987, 24 (25 f.). 103 Die Bestimmung lautet: „Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, daß sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden.“

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aktive Verfolgungspolitik bei Homosexualitätsvorwürfen im Iran“ gäbe.104 Am effektiven Schutz der Einzelperson ist dieser Maßstab nicht orientiert.

VII. Flüchtlingsrecht: Homosexuelle als „Angehörige einer besonderen sozialen Gruppe“? Im Arbeitsbereich des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge ist anerkannt, dass die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung in den Anwendungsbereich von Art. 1 A Ziff. 2 (Flüchtlingsbegriff) und Art. 33 Abs. 1 (Non Refoulement) der Flüchtlingskonvention von 1951 sowie des Protokolls über den Flüchtlingsstatus von 1967 fallen kann.105 Anders als z.B. im deutschen Recht ist im Völkerrecht aber nicht ohne weiteres anerkannt, dass die Verfolgung wegen homosexueller Aktivitäten ein Fall der „politischen“ Verfolgung ist.106 Deshalb rückt hier die Frage in den Mittelpunkt, ob Homosexuelle beiderlei Geschlechts als „Angehörige einer besonderen sozialen Gruppe“ („members of a particular social group“) i.S.d. genannten Bestimmungen angesehen werden können.107 Für eine solche Auslegung spricht, dass das Kriterium „soziale Gruppe“ seinem Wortlaut nach auf Homosexuelle bezogen werden kann, da diese innerhalb der Gesellschaft als besondere Gruppe wahrgenommen werden. Es gibt andererseits keinen klaren Hinweis darauf, dass das Kriterium etwa auf soziale Schichten im klassenkämpferischen Sinne beschränkt sein sollte, zumal eine Verfolgung der Armen durch die Wohlhabenden mit Gefahr für Leib und Leben weder der Interessenlage der Beteiligten noch der weltgeschichtlichen Erfahrung entspricht. Entscheidend ist aber, dass sich gesellschaftliche Ressentiments, hier von Seiten der heterosexuel104

Committee against Torture (Anm. 101), § 7.4.: „The Committee also notes from different and reliable sources that there currently is no active policy of prosecution of charges of homosexuality in Iran.“ 105 UNHCR, Guidelines on international Protection: gender-related persecution within the context of article 1 A (2) of the 1951 Convention and its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, Doc. HCR/GIP/02/01 vom 7.5.2002, insbes. §17 („Persecution on account of one’s sexual orientation”). 106 Zur insoweit weiteren Bedeutung des Begriffs des „politisch Verfolgte[n]“ i.S.v. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention BVerwG JZ 1988, 709 ff. (mit Anm. Kimminich); ebenso schon VGH Kassel InfAuslR 1987, 24 ff. (mit Anm. U. Ventzke). 107 Siehe etwa Special Rapporteur on Violence Against Women, its Causes and Consequences (E/CN.4/1999/68 vom 10.3.1999 und E/CN.4/2003/75); mit Bezug darauf gegenüber der Menschenrechtskommission: Canadian HIV/AIDS Legal Network (NGO mit speziellem Konsultativstatus), E/CN.4/2005/NGO/143 vom 1.3.2005, § 12. Klar bejahend auch VGH Kassel InfAuslR 1987, 24 (28); zustimmend Ventzke (Anm. 106), 29.

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len Mehrheit, gegen jedes Individuum richten können, das mit der Gruppe der Homosexuellen identifiziert wird, unabhängig davon wie es sich tatsächlich verhält, und gerade aus dieser Stigmatisierung108 heraus eine Verfolgungssituation entstehen kann. Ein solcher Befund liegt nicht nur innerhalb des Schutzzweckes der Norm, sondern ist in jeder Hinsicht mit dem Begriff der sozialen Gruppe gemeint, ohne dass es darauf ankommt, auf welchen Motiven die soziale Ausgrenzung beruht.

D. Regionales (europäisches) Völkerrecht I. Maßstäbe der EMRK 1. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens Ansatzpunkt für die Rechtsprechung der Straßburger Konventionsorgane zum Thema Homosexualität109 ist in erster Linie Art. 8 EMRK, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert und Einschränkungen davon abhängig macht, dass sie auf Gesetz beruhen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig sind. Mögliches Schutzgut für Einschränkungen ist neben der Sicherheit und Ordnung, dem Landeswohl, der Gesundheit und der Rechte anderer auch die „Moral“. Doch obwohl sich unterschiedliche Vorstellungen in den Konventionsstaaten gerade in diesem Begriff Geltung verschaffen können, spielt er in der Anwendungspraxis der Konventionsorgane keine entscheidende Rolle.110 Während die sexuelle Orientierung als intimster Teil des „Privatlebens“ i.S.v. Art. 8 EMRK111 besonderen Schutz verdient, ist noch nicht abschließend geklärt, ob und wieweit die Beziehung zwischen gleichgeschlechtlichen Personen auch dem Recht auf Achtung des „Familienlebens“ unterfallen könnte.112 Dies lehnte die

108

Siehe oben C. I. 3. Einen Überblick zur älteren Konventionspraxis gibt P. van Dijk, The Treatment of Homosexuals under the European Convention on Human Rights, in: K. Waaldijk/A. Clapham (eds.), Homosexuality: A European Community Issue, Essays on Lesbian and Gay Rights in European Law and Policy, 1993, 179 ff. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane ist abrufbar unter HUDOC bei www.echr.coe.int/ECHR. 110 Siehe nachfolgend unter II. 111 Siehe etwa EGMR, Rep. 1999-VI, § 71 m.w.N. – Smith and Grady. 112 Eingehend F. Ringel, Vie privée? Vie familiale? Les difficultés d’application de l’article 8 de la Convention européenne des droits de l’homme à l’homosexualité et au transsexualisme, Revue de la Recherche juridique (R.R.J.) 1999-4, 1949 ff. 109

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frühere Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) kategorisch ab,113 wodurch sie den Beziehungscharakter bzw. die kollektive Dimension der homosexuellen Beziehung im bewussten Unterschied zur Ehe ignorierte. Der Gerichtshof (EGMR) stellte immerhin klar, dass der Begriff des Familienlebens keine „legitime“ Familie voraussetze, sondern z.B. auch die uneheliche Mutter mit ihrem Kind erfasse.114 Darüber hinaus erkannte er in Transsexuellen-Fällen an, dass der Schutz des Familienlebens sich nicht auf die Familie beschränke, die auf eine traditionelle Ehe gegründet ist, sondern sich auch auf „andere De-facto-Beziehungen“ erstrecke.115 Dennoch hat auch der EGMR sich klar gegen die Aufnahme homosexueller Beziehungen in den Familienbegriff ausgesprochen116 und vermeidet im Übrigen, selbst wenn der Schutz der Familie zweifelsfrei einschlägig ist, wenn es etwa um die Beziehung einer homosexuellen Person zu eigenen Kindern geht, jede Präzisierung innerhalb von Art. 8 EMRK.117

2. Diskriminierungsverbot Neben und oft auch im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK ist Art. 14 EMRK von Bedeutung, der jede Diskriminierung im Anwendungsbereich eines anderen Konventionsrechts verbietet, welches im Anwendungsbereich berührt, aber nicht verletzt sein muss.118 Dieses Verbot ist nicht auf einen Katalog bestimmter Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht, Religion o.ä. beschränkt, sondern enthält auch die offene Kategorie des „sonstigen Status“.119 Dabei ist unstreitig, dass sowohl die

113

Siehe etwa EKMR No. 28318/95, Decisions and Reports (DR) 85-B, 149 – Röösli v. Germany (1996); No. 15666/89 – Kerkhoven, Hinke and Hinke v. the Netherlands (19.5.1992). 114 EGMR A 31, § 31 – Marckx v. Belgium (1979). 115 Siehe etwa EGMR, Rep. 1997-II, § 36 – X, Y, Z v. the United Kingdom (betreffend einen von einer Frau zum Mann gewandelten Transsexuellen, der Beziehungen zu einer Frau aufgenommen hatte). 116 EGMR, Rep. 2001-VI – Mata Estevez v. Spain. 117 Siehe etwa EGMR, No. 33290/96 – Salgueiro da Silva Mouta (1999). Dazu noch unten D. I. 3. Zum Teil ist insoweit auch von einem „kombinierten“ Schutzbereich die Rede: Schweizerisches Bundesgericht, BGE 126 II 425, 431, mit Bezugnahme auf S. Breitenmoser u.a. (m.N.). 118 Siehe zum „akzessorischen” Charakter des Art. 14 EGMR A 70, § 43 – van der Mussele (1983), m.w.N. 119 Ebenso schon Art. 2 § 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die als Vorbild für Art. 14 EMRK diente.

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sexuelle Orientierung als auch die Transsexualität120 im Zweifel unter diesen Begriff fallen. Dennoch vermeidet der EGMR eine ausdrückliche Einordnung, indem er meist nur ausführt, dass die Diskriminierungskriterien nicht abschließend seien, wie schon der Wortlaut des Art. 14 EMRK („insbesondere“) zeige.121 Gerade daraus kann man allerdings schließen, dass er Homosexualität nicht unter den Begriff des „Geschlechts“ fassen möchte. Die Rechtsprechung des EGMR untersucht in Diskriminierungsfällen in erster Linie, ob eine unterschiedliche Behandlung vorliegt. Dabei fragt sie, ob sich z.B. ein homosexuelles Paar und ein heterosexuelles Paar in einer „analogen Situation“122 befinden und dennoch ungleich behandelt werden. Ist dies der Fall, liegt eine Ungleichbehandlung vor, die durch „objektive und vernünftige Gründe“ gerechtfertigt sein muss. Unsachlich oder unvernünftig ist die Differenzierung immer dann, wenn sie kein „legitimes Ziel“ verfolgt oder unverhältnismäßig im Hinblick auf den erstrebten Zweck ist. Dabei gesteht das Konventionssystem den Staaten eine „gewissen Beurteilungsspielraum“ zu. Knüpft die Ungleichbehandlung jedoch an biologische Unterschiede an, müssen zwingende Gründe für die unterschiedliche Behandlung sprechen.123 Diese Verschärfung kann nach herkömmlicher Auffassung in unserem Zusammenhang nur bedeutsam werden, wenn männliche Homosexuelle anders als weibliche Homosexuelle behandelt werden. Sonst knüpft die unterschiedliche Behandlung nämlich nur an die sexuelle Ausrichtung, nicht aber unmittelbar an das Geschlecht an. Stellt der EGMR im Einzelfall fest, dass ein einzelnes Konventionsrecht verletzt ist, prüft er in aller Regel nicht mehr, ob dieses Recht auch noch i.V.m. Art. 14 EMRK verletzt wurde.124 Inzwischen kennt das System auch ein selbständiges Diskriminierungsverbot, das in Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK vom 4. November 2000 verankert ist, aber nur von wenigen Staaten (u.a. nicht von Deutschland) ratifiziert

120 Siehe etwa EGMR A 106 – Rees (1986); A 232-C – B v. France (1992); A 184 – Cossey (1990); Rep. 1997-II – X, Y, Z v. the United Kingdom; Rep. 1998-V – Sheffield and Horsham; EGMR No. 28957/95 – Christine Goodwin (2002; deutsche Übersetzung in: Neue Juristische Wochenschrift [NJW]-RR 2004, 289 ff.). 121 Siehe etwa EGMR, No. 33290/96, § 28 – Salgueiro da Silva Mouta (1999); No. 36515/97, § 32 – Fretté (2002). 122 Dazu EGMR A 70, § 70 – van der Mussele (1983); A 87, § 35 ff. – Rasmussen (1984). 123 Siehe z.B. EGMR A 291-B, § 24 – Karlheinz Schmidt (1994); Reports 1997-I, § 39 – van Raalte (1997). 124 Ständige Praxis. Siehe, auch zu Ausnahmen, D. König/A. Peters, Das Diskriminierungsverbot, in: R. Grote/Th. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 21, Rn. 199.

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worden und nur für diese im April 2005 in Kraft getreten ist.125 Art. 1 ZP 12 verbietet nun zwar jede Diskriminierung in bezug auf ein „gesetzlich niedergelegtes Recht“, das also die innerstaatliche Rechtsordnung gewährt, lässt aber jeden Hinweis auf die sexuelle Orientierung vermissen. Stattdessen ist auch hier nur vom „Geschlecht“ und vom „sonstigen Status“ die Rede, welche wie im Rahmen des Art. 14 EMRK durch die Formulierung „insbesondere“ in einen nicht abschließenden Kriterienkatalog eingeordnet sind. Die neue Regelung knüpft damit äußerlich ganz an das traditionelle Konzept an; jedoch wird die „sexuelle Orientierung“ im Erläuterungsbericht erwähnt.

3. Eheschließung Art. 12 EMRK, der das Recht auf Eheschließung gewährt, wurde bislang nur auf die Ehe zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern angewendet.126 Das entspricht der Spruchpraxis des Menschenrechtskomitees zu Art. 23 Abs. 2 IPBPR,127 wobei allerdings dort von einem „Recht von Mann und Frau“ die Rede ist, während die EMRK „Männer[n] und Frauen“ das Recht verleiht, „eine Ehe einzugehen“, also offener für eine erweiternde Auslegung wäre. Immerhin hat der Gerichtshof in einem Transsexuellenfall festgestellt, dass die Voraussetzung der Verschiedengeschlechtlichkeit nicht nur biologisch interpretiert werden dürfe, weshalb ein absolutes Verbot zulasten einer in ihrem Geschlecht umgewandelten Person, eine Person ihres früheren Geschlechts zu heiraten, Art. 12 EMRK verletzt.128 Allerdings geht es hier gerade nicht um den Wunsch, einen gleichgeschlechtlichen Partner zu ehelichen, sondern darum, dass die Behörde eine Geschlechtsumwandlung, welche die Verschiedengeschlechtlichkeit des heiratswilligen Paares ja gerade begründen soll, ohne vernünftigen Grund ignoriert.

II. Die Rechtsprechung der Konventionsorgane Die Rechtsprechung der Straßburger Konventionsorgane begann nach anfänglicher Zurückhaltung einen neuen Kurs einzuschlagen, als der Gerichtshof 1981 125

Siehe zum Text des Zusatzprotokolls wie auch zum Stand der Ratifikationen die Internetseite des Europarats: http://conventions.coe.int/Treaty/. 126 Siehe EGMR A 106, § 49 – Rees (1986); A 184, § 43 – Cossey (1990); EKMR No. 14753/89 – C. and L. M. v. the United Kingdom (1989). 127 Siehe oben C. III. 3. 128 EGMR No. 28957/95, § 100 – Christine Goodwin (2002; deutsche Übersetzung in: NJW-RR 2004, 289ff.); siehe auch EGMR No. 25680/94, § 80 – I. v. the United Kingdom (11.7.2002).

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die Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens verwarf bzw. im Verhältnis zu Minderjährigen auf das Nötigste beschränkte. Es folgten Entscheidungen zur Stellung Homosexueller in den Streitkräften (1999), zum Kindschafts- und Adoptionsrecht (1999 und 2002) sowie zum Mietrecht (2003).

1. Die Eindämmung der Strafbarkeit: Dudgeon (1981), Norris (1988), Modinos (1993), L. and V. (2002), Wolfmeyer (2005) u.a. a) Bestrafung der einverständlichen Homosexualität unter Erwachsenen Dass die Strafbarkeit der einverständlichen Homosexualität unter Erwachsenen auch in Europa noch lange Zeit gang und gäbe war, zeigt der Klassikerfall Dudgeon (1981).129 In ihm ging es um ein nordirisches Gesetz von 1861, das nur homosexuelle Handlungen unter Männern mit Strafe bedrohte. Mr. Dudgeon wurde zwar nicht verurteilt, aber Untersuchungsmaßnahmen ausgesetzt. Wie der Australier Toonen130 lebte er unter einer latenten Strafdrohung. In diesem Falle bejahte der EGMR noch gegen Widerstände in den eigenen Reihen131 eine „in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats“ veränderte Sexualmoral und -gesetzgebung, die ihn zu dem Schluss führte, dass die Kriminalstrafe kein zum Schutz der Moral mehr erforderlicher Eingriff in das Recht auf Privatsphäre (Art. 8 EMRK) sein könne.132 Es fehle an einem „pressing social need“, weil auch gänzlich private

129 EGMR A 45 – Dudgeon (EuGRZ 1983, 488). Siehe auch A 59 – Dudgeon (Entschädigung). 130 Siehe oben C. III. 2. 131 Siehe die Dissenting Opinions zweier Richter zu Dudgeon (Anm. 129): „A distinction must be drawn between homosexuals who are such because of some kind of [...] pathological constitution judged to be incurable, and those whose tendency comes from a lack of normal sexual development […] [S]o far as the incurable category is concerned, the activities must be regarded as abnormalities […]“ (Richter Walsh, ibid. § 13); sowie: „While considering the respect due to the private life of a homosexual […] respect is also due to the people […] who are completely against unnatural immoral practices.“ (Richter Zekia, ibid. § 3). 132 EGMR – Dudgeon (Anm. 129), § 60: „… [T]here is now a better understanding, and in consequence an increased tolerance, of homosexual behaviour to the extent that in the great majority of the member States of the Council of Europe it is no longer considered to be necessary or appropriate to treat homosexual practices of the kind now in question as in themselves a matter to which the sanctions of the criminal law should be applied; the Court cannot overlook the marked changes which have occurred in this regard in the domestic law of the member States.”

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Handlungen kriminalisiert würden, von denen die Öffentlichkeit, wären nicht Zufall oder Denunziation im Spiel gewesen, nichts bemerkt hätte. Ähnlich verhielt es sich im Fall Norris v. Irland (1988):133 David Norris, bekennender Aktivist des Irish Gay Movement, war von ähnlichen Strafbestimmungen der Republik Irland betroffen. Der einzige Unterschied zum Fall Dudgeon bestand darin, dass gegen Norris nicht einmal polizeiliche Untersuchungen eingeleitet worden waren. Im Gegenteil soll die Polizei freundlich und mitfühlend auf ihn eingegangen sein, als er sie selbst informierte und dabei auch von seinen psychischen Belastungen sprach. Erneut stellte der EGMR klar, dass keine zwingende Notwendigkeit für die Kriminalisierung bestünde und allein die generelle Kriminalisierung einverständlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen Art. 8 EMRK verletze. Dasselbe wiederholte sich in Modinos v. Zypern (1993).134

b) Bestrafung der einverständlichen Homosexualität unter Beteiligung Minderjähriger Wie im heterosexuellen Bereich stellt sich auch bei homosexuellen Verhaltensweisen die Frage, inwieweit das Recht Minderjährige besonders schützen muss. Ist es aber auch gerechtfertigt, im Falle homosexueller Beziehungen mit Minderjährigen schärfere Strafbestimmungen als im Falle heterosexueller Beziehungen vorzusehen? Solche Fälle kann die Straßburger Rechtsprechung nicht allein anhand des Art. 8 EMRK, sondern nur anhand von Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK entscheiden, weil hier allein die Diskriminierung zwischen der Gruppe der Homosexuellen und der Gruppe der Heterosexuellen infrage steht. Im Fall Sutherland v. the United Kingdom (1997)135 lag der vormaligen Europäischen Kommission für Menschenrechte die Frage vor, ob das britische Recht ein höheres Mindestalter für einvernehmliche homosexuelle als für heterosexuelle Handlungen vorsehen durfte. Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte sich die Kommission in X v. the United Kingdom136 noch der Auffassung angeschlossen, speziell junge Männer könnten in den Jahren vor der Volljährigkeit Opfer sozialen Druckes werden und in ihrer psychischen Entwicklung Schaden nehmen. Die Kommission ließ ausdrücklich offen, ob es sich um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder aber des sonstigen Status handelte, und stellte nur fest, dass ein Siebzehnjähriger, der sexuelle Beziehungen mit einem anderen Mann aufnehmen wollte, 133 134 135 136

EGMR A 142. EGMR A 259. EKMR No. 25186/94 (1.7.1997). EKMR No. 7215/75, DR 19, 66.

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jedenfalls in einer vergleichbaren Situation („relevantly similar situation“) wie ein Siebzehnjähriger sei, der solche Beziehungen mit einer Freundin beginnen wollte. Deshalb war die Differenzierung in dem Sinne rechtfertigungsbedürftig, dass ein angemessenes Verhältnis zwischen Zweck und Mittel bestehen musste. Während die Staaten dabei aber üblicherweise einen großen Ermessensspielraum besitzen, erkannte die Kommission hier nur einen „relativ engen Spielraum“ an, weil es sich um eine höchst intime Angelegenheit handelte. Entscheidend war letztlich, dass neuere medizinisch-psychologische Erkenntnisse die These von der besonderen Gefährdung bzw. gar „Rekrutierbarkeit“ junger Männer nicht mehr stützten, sondern im Gegenteil sogar positive Effekte nahelegten. Das Argument, die Bevölkerung verlange eine klare Missbilligung homosexuellen Verhaltens bei jungen Männern, wies die Kommission als völlig unhaltbar zurück. Sie erkannte keinerlei vernünftigen Grund für die Differenzierung und hielt daher Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK für verletzt. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs wurde vor allem durch jüngere Beschwerdefälle gegen Österreich geprägt, wo bis August 2002 Art. 209 öStGB (Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Minderjährigen) galt: „Eine Person männlichen Geschlechts, die nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahres mit einer jugendlichen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Opfer diese Vorschrift wurden u.a. die Herren G. L. und A. V. Beiden hatte man, zum Teil mithilfe der Auswertung von Tagebüchern, nachgewiesen, dass sie jeweils Verkehr mit männlichen Minderjährigen hatten. Der eine wurde zu elf Monaten Haft auf Bewährung, der andere zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. An der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift bestanden in Österreich schon lange Zweifel, obwohl es der österreichische Verfassungsgerichtshof noch 1989 für wissenschaftlich erwiesen hielt, dass homosexueller Einfluss heranwachsende junge Männer deutlich mehr gefährde als heranwachsende junge Frauen. Diese sogenannte „Rekrutierungstheorie“, wonach nur männliche Jugendliche zur Homosexualität verleitet werden könnten, verlor aber auch in Österreich zunehmend an Boden. In der praktischen Rechtsanwendung führte Art. 209 öStGB vor allem gegenüber jugendlichen Paaren zu eigenartigen Ergebnissen: Sobald der erste von ihnen 18 Jahre wurde, machte nur dieser sich strafbar; sobald der zweite ebenfalls 18 Jahre wurde, entfiel die Strafbarkeit wieder. Speziell im Falle von L. and V. (2003)137 verhielt es sich so, dass beide schon nicht mehr unter Bewährung standen, als der österreichische Verfassungsgerichts137

EGMR, No. 39392/98 und 39829/98 (2003).

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hof Art. 209 öStGB für verfassungswidrig erklärte. Dass sie in keiner Weise rehabilitiert wurden, hielt der EGMR für unzureichend, weil allein die Aufhebung einer nachteiligen Regelung den Opferstatus nicht entfallen lässt. Der EGMR konnte auch keinen vernünftigen Grund für die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen erkennen. Er stellte vielmehr fest, dass allein die negativen Einstellungen bzw. das Vorurteil der heterosexuellen Mehrheit gegenüber der homosexuellen Minderheit, die Art. 209 zum Ausdruck gebracht habe, keine Rechtfertigung darstellen könnten. Weil die österreichische Regierung überhaupt keine „überzeugenden und gewichtigen Gründe“ nennen konnte, bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK. Er gewährte darüber hinaus auch eine Entschädigung für Nichtvermögensschaden in Höhe von je 15.000 Euro, weil die Beschwerdeführer durch die Strafverfahren schwer gedemütigt worden waren und man mit äußerst nachteiligen Konsequenzen ihr Intimleben in der Öffentlichkeit ausgebreitet hatte. Im jüngsten Fall, Wolfmeyer v. Austria (2005), war der Beschwerdeführer nur noch in erster Instanz verurteilt, in der zweiten aber wegen der zwischenzeitigen Rechtsänderung freigesprochen worden. Trotzdem sollten seine Verteidigungskosten nur bis zur Höhe von knapp 1.100 Euro erstattet werden. Der EGMR sprach in diesem Fall neben der Entschädigung von 15.000 Euro Nichtvermögensschaden in Höhe von 10.000 Euro zu. Etwas anders gelagert war der Fall S. L. v. Austria (2003).138 Beschwerdeführer war hier ein Minderjähriger, der sich durch den inzwischen aufgehobenen Art. 209 öStGB in seiner sexuellen Entwicklung beeinträchtigt fühlte. Er habe nicht seiner Neigung gemäß gerade mit älteren Partnern verkehren können, weil er diese der Gefahr der Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Auch dieser Form der Beeinträchtigung verschloss sich der EGMR nicht und sprach sogar einen Nichtvermögensschaden in Höhe von 5.000 Euro zu.139

2. Streitkräfte: Smith and Grady (1999), Lustig-Prean and Beckett (1999) Im September 1999 entschied der EGMR mehrere Fälle, in denen es um die Verfolgung Homosexueller in den britischen Streitkräften ging. Neben dem Fall

138

EGMR, No. 45330/99 (2003). Dagegen regte sich allerdings der Widerstand von zwei dissentierenden Mitgliedern des EGMR, die eine Entschädigung wegen der Bereitschaft Österreichs, das Gesetz zu beseitigen und mit Blick auf die „Natur“ der Verletzung für unangebracht hielten. (EGMR, ibid. [im Anschluss an die Entscheidung]). 139

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Smith and Grady140 ist der Fall Lustig-Prean and Beckett v. the United Kingdom (1999)141 zu nennen, der hier exemplarisch herausgegriffen werden soll. Lustig-Prean und Beckett waren seit 12 bzw. 22 Jahren Berufssoldaten bei der Royal Navy und hatten dort ausgezeichnete Laufbahnbeurteilungen erhalten. Dass Mr. Lustig-Prean und Mr. Beckett homosexuell waren, erfuhren die Militärbehörden erst durch gezielte Hinweise. Beide wurden zum Objekt scheußlicher Investigationen der Militärpolizei, wobei man sie in peinlichster Weise verhörte und ihre Sachen durchsuchte. Anschließend entließ man sie mit der Begründung, ihr geheimes Leben als Homosexuelle in den Streitkräften könne sie anfällig für Erpressungen machen, so dass sie zum schwachen Glied („weak link“) in der Kette würden.142 Grundlage für diese Maßnahme waren die „Guidelines on Homosexuality“: Homosexualität, ob männlich oder weiblich, wird als unvereinbar mit dem Dienst in den Streitkräften betrachtet. Grund hierfür sind nicht nur die engen physischen Kontakte, mit bzw. in denen das Personal oft leben und arbeiten muss, sondern auch, dass homosexuelles Verhalten oft eine Übertretung verursachen, Beziehungen polarisieren oder Disziplinlosigkeit herbeiführen kann und als Konsequenz die Moral und Schlagkraft der Einheit beschädigt. Wenn Einzelne zugeben, dass sie, während sie dienen, homosexuell sind und ihr Führungsoffizier urteilt, dass dieses Bekenntnis wohlbegründet ist, werden sie aufgefordert, den Dienst zu quittieren.143

Im Rahmen der Prüfung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) räumte der EGMR ein, dass es ein legitimes Ziel sei, Moral und Schlagkräftigkeit der Truppe zu verteidigen. Allerdings zweifelte er daran, dass die Gefährdung auch dann noch fortbestehen kann, wenn es schon zum „Outing“ der Soldaten gekommen ist. Entscheidend war jedoch die Frage, ob das Vorgehen gegen die beiden „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ war. Da es sich hier um ein Eindringen in den intimsten Bereich des Privatlebens handelte, verlangte der EGMR „besonders schwerwiegende Gründe“ (particularly serious reasons) für die Entlas140

EGMR, Rep. 1999-VI – Smith and Grady (deutsche Übersetzung in NJW 2000, 2089 ff.). Speziell zur Entschädigung in diesem Fall: EGMR, Rep. 1999-VI (deutsche Übersetzung in NJW 2001, 809 ff.). Siehe auch EGMR No. 48535/99 – Beck, Copp and Bazeley v. UK (22.10.2002). 141 EGMR Nos. 31417/96 und 32377/96 (1999). Dazu R. Schmidt-Radefeldt, Streitkräfte und Homosexualität, Neue Zeitschrift für Wehrrecht 2000, 141 ff. (m.N. auch zur deutschen Rechtsprechung). 142 Vgl. zu Deutschland die sogenannte „Wörner/Kießling-Affaire“ (Sept. 1983 bis Febr. 1984). Dazu FAZ Nr. 250 vom 27.10.2005, 8 (mit Auszügen aus H. Kohl, Erinnerungen 1982–1990, 2005.): „Wörner hatte sich zum Handeln gezwungen gesehen, weil scheinbar glaubhafte Informationen über Kießlings Homosexualität den General als Sicherheitsrisiko erscheinen ließen.“ 143 Übertragung ins Deutsche durch Verf.

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sung.144 Das gelte umso mehr, weil es Berufssoldaten regelmäßig schwer falle, ihre im Dienst erworbenen Qualifikationen auch im zivilen Bereich zu verwerten. Hinzu kam, dass die Politik keine Rücksicht auf den Einzelfall genommen hatte, die Unabhängigkeit der Militärpolizei infrage stand und den „Delinquenten“ mitgeteilt worden war, man wisse noch weit weniger diskrete Mittel der Verfahrensführung anzuwenden, wenn sie nicht kooperierten und nicht alle peinlichen Fragen genau beantworteten. An dieser Stelle bewegte sich der Fall schon nahe am Verbot der erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, das als Vorstufe zum Folterverbot gelten kann. Nachdem die britische Regierung nur zwei Fälle finden konnte, in denen die Homosexualität überhaupt einmal Probleme in den Streitkräften verursacht haben könnte, gab sie eine Umfrage in den Streitkräften in Auftrag, die erwartungsgemäß das gesamte Arsenal der Vorurteile von offener Feindseligkeit bis hin zu vagen Mutmaßungen zum Vorschein brachte. Dazu stellte der EGMR kühl fest, dass es keinen konkreten Beweis für eine Schwächung der Moral der Truppe durch Homosexuelle gäbe und die Bedenken gegenüber Homosexuellen in den Streitkräften völlig vergleichbar denjenigen seien, die man früher gegenüber Farbigen und Frauen in den Streitkräften gehegt habe. Diese Vorurteile hätten jedoch durch Aufklärungskampagnen und klare Verhaltensregeln wirksam bekämpft werden können. Weil die britische Regierung nicht darlegen könne, dass entsprechende Versuche im Falle von Homosexuellen keinen Erfolg gehabt hätten, fehle es an hinreichend gewichtigen Gründen für die Entlassung. So wurde im Ergebnis eine Verletzung von Art. 8 EMRK bejaht, weil keine Schutzmaßnahmen (Vorurteilsbekämpfungsmaßnahmen) zugunsten der homosexuellen Soldaten ergriffen worden waren. In der Literatur wurde angemerkt, dass sich das Urteil nur auf die Entlassung aus dem Dienst in den Streitkräften („Kündigungsfälle“) beziehe und mit Blick auf die frühere Straßburger Rechtsprechung zum (nicht gewährleisteten) Zugang zum öffentlichen Dienst nicht ohne weiteres auch auf „Bewerbungsfälle“ übertragen werden könne.145 Allerdings hat sich diese Rechtsprechung inzwischen in einem wichtigen Punkt weiterentwickelt. So stellte der EGMR z.B. im Fall Thlimmenos fest, dass sich aus der EMRK zwar kein Recht auf Zugang zum öffentlichen Dienst ergebe, ist dieser aber nach innerstaatlichem Recht eröffnet, darf der Zugang nicht allein wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft verweigert werden; das System der EMRK knüpft hier also an die innerstaatliche

144

EGMR (Anm. 141), § 82. Schmidt-Radefeldt (Anm. 141), 146 m.w.N., insbes. zum Fall Glasenapp and Kosiek v. Germany (1986). 145

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Rechtsordnung an.146 So wie der Gerichtshof in Thlimmenos Art. 9 (Glaubensfreiheit) i.V.m. Art. 14 EMRK heranzog, würde er hier Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK heranziehen – es sei denn, der Staat könnte tatsächlich glaubhaft machen, dass übergeordnete Sicherheitsbedürfnisse die Abweisung homosexueller Bewerber(innen) erforderten.

3. Kindschafts- und Adoptionsrecht: Salgueiro da Silva Mouta (1999) und Fretté (2002) Der Fall Salgueiro da Silva Mouta147 betraf einen portugiesischen Vater, der mit seiner Frau eine kleine Tochter von kaum drei Jahren hatte, sich jedoch von dieser Frau trennte, um fortan mit einem Mann zusammenzuleben. Obwohl das Familiengericht dem Vater Umgangsrechte mit dem Kinde eingeräumt hatte, verhielt sich die Mutter extrem unkooperativ und vereitelte den Umgang fast völlig. Laut psychologischem Gutachten ging der Vater liebevoll mit dem Kind um, setzte ihm aber auch Grenzen, während die Mutter sich eher schwankend zeigte und von Seiten der Großmutter zusätzlich religiöser Fanatismus auf das Kind einwirkte. Unter diesen Umständen übertrug die erste Gerichtsinstanz zunächst dem Vater das Sorgerecht. Das Lissaboner Appellationsgericht entschied jedoch mit folgender Begründung für die Mutter: Die Tatsache, dass der Kindesvater, der sich mit seiner Homosexualität arrangiert hat, mit einem anderen Mann zusammenleben will, ist eine Realität, die man akzeptieren muss. Es ist allgemein bekannt, dass die Gesellschaft solche Situationen mehr und mehr akzeptiert. Dennoch kann man nicht behaupten, dass eine solche Umgebung die gesündeste und bekömmlichste für die psychologische, soziale und mentale Entwicklung eines Kindes ist, insbesondere wenn man vom dominierenden Rollenmodell ausgeht [...]. Das Kind sollte in einer familiären Umgebung, einer traditionellen portugiesischen Familie, leben, welches das Lebensarrangement seines Vaters sicherlich nicht ist, seitdem dieser mit einem andern Mann zusammenlebt als seien sie Mann und Frau. Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu befinden, ob Homosexualität eine Krankheit ist oder nur eine sexuelle Orientierung hin zu Personen desselben Geschlechts. In beiden Fällen ist sie eine Abnormität und Kinder sollten nicht im Schatten abnormer Situationen aufwachsen; so sind nun einmal die Diktate der menschlichen Natur, und erinnern wir uns, dass es der Beschwerdeführer selbst war, der dies anerkannte, als er in seinem ursprünglichen Antrag vom 5. Juli 1990 ausführte, dass er definitiv die eheliche Wohnung verlassen habe, um mit einem männlichen Freund zu leben – eine Entscheidung, die nach allgemeinen Maßstäben nicht normal ist.148

Diese Entscheidung bewertete der EGMR mit Urteil vom Dezember 1999 als einen Verstoß gegen Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK: Weil das portugiesische Gericht 146 EGMR Rep. 2000-IV, § 41. Siehe zu diesem Mechanismus auch den folgenden Fall Fretté. 147 EGMR, No. 33290/96 (1999). 148 Übersetzung ins Deutsche durch Verf.

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dem Beschwerdeführer das Sorgerecht wegen dessen Homosexualität vorenthalten habe, beruhe die Ungleichbehandlung beider Eltern nicht auf objektiven und vernünftigen Gründen. Der EGMR formulierte: Die Diskriminierung des Beschwerdeführers aufgrund seiner sexuellen Orientierung sei „nicht akzeptabel unter der Konvention“. Damit war ohne weiteres klar, dass die Maßnahme nicht verhältnismäßig sein konnte, ohne dass es noch auf das mit ihr verfolgte Ziel ankam oder schwierige Erörterungen zum mutmaßlichen Kindeswohl erforderlich wurden.149 Hier nimmt die Rechtsprechung also an, dass nachteilige Entscheidungen, die allein an die Homosexualität anknüpfen, schlechterdings konventionswidrig sind. Im Fall Fretté v. France (2002)150 hatten französische Behörden einem homosexuellen Mann die Adoption eines Kindes versagt, obwohl er persönlichcharakterlich als durchaus geeignet galt, jedoch allein lebte. Sein Problem war im Grunde nur die Homosexualität, verbunden mit der Gewissheit, dass er nie mit einer Frau in traditioneller Weise zusammenleben würde. Der EGMR hielt in diesem Fall Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK für anwendbar, obwohl die Konvention unbestrittenermaßen kein Recht auf Adoption eines Kindes verleiht und der Schutz der Familie nach Art. 8 EMRK die Familie voraussetzt, nicht aber selbst ein Recht zur Gründung einer Familie verleiht.151 Hier verlieh allerdings das innerstaatliche Recht die begehrte Position, zumindest grundsätzlich, so dass sie nach ständiger Rechtsprechung des EGMR jedenfalls nicht mehr aus diskriminatorischen Gründen verweigert werden durfte.152 Obwohl die Homosexualität des Bewerbers nicht ausdrücklich als Hinderungsgrund genannt worden war, entnahm der EGMR doch aus den Begleitumständen des Falles, dass dies der entscheidende Faktor gewesen war. Deshalb bejahte er die Anwendbarkeit des Art. 8 EMRK, legte sich dabei aber weder auf den Schutz des Privatlebens noch der Familie fest.153 Im Ergebnis verneinte er den Verstoß gegen Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK dennoch, weil die Vertragsstaaten einen Ermessensspielraum besäßen, der umso größer sei, je uneinheitlicher das Recht in den einzelnen Staaten ausfalle. Adoption bedeute, einem Kind eine Familie zu verschaffen, nicht jedoch eine Familie mit einem Kind auszustatten. Solange die Experten sich noch uneinig seien, ob ein Kind Schaden erleide, wenn es in einer homosexuellen Beziehung aufwachse, sei die Ablehnung jedenfalls nicht als unver149

Ähnlich in Bezug auf die Religionszugehörigkeit EGMR A 255-C – Hoffmann v. Austria (1993). 150 EGMR, No. 36515/97. 151 Ibid., § 32 m.w.N. 152 Siehe zu diesem Mechanismus bereits oben (D. II. 2.) zum Fall Thlimmenos. 153 Siehe insbes. EGMR (Anm. 150), § 32: Einerseits bekräftigt der EGMR, dass die EMRK kein Recht auf Schaffung einer Familie verleihe; andererseits setzt er sich mit der Formulierung „However, French domestic law [...] authorises all single persons [...]“ möglicherweise auch darüber hinweg.

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hältnismäßig zu beanstanden. Die Entscheidung zeigt, dass der EGMR hier nicht etwa einen Beweis für die mangelnde Tauglichkeit Homosexueller im Bereich der Kindererziehung, sondern umgekehrt den Beweis für deren Unbedenklichkeit verlangt und (vorsorglich) restriktive Regelungen der Konventionsstaaten im Ausmaß verbleibender Ungewissheit passieren lässt.

4. Mietrecht: Karner (2003) Im Fall Karner v. Austria (2003)154 ging es um eine Bestimmung des österreichischen Mietrechtsgesetzes, wonach beim Tode des Partners auch der „Lebensgefährte“ in das Mietverhältnis eintreten durfte. Als Lebensgefährte ist im Gesetz bezeichnet, wer mit dem Mieter mindestens drei Jahre lang wie ein Ehepaar einen gemeinsamen Haushalt geführt habe. Siegmund Karner hatte seiner Meinung nach so mit Herrn W. zusammengelebt, wurde jedoch nicht als Lebensgefährte anerkannt. Der Oberste Gerichtshof der Republik Österreich für Zivilsachen gab im Streit um die Fortsetzung des Mietverhältnisses 1996 dem Vermieter Recht, und zwar allein deshalb, weil der Begriff des „Lebensgefährten“ zur Zeit der Entstehung des Gesetzes (1974) nach der Vorstellung des Gesetzgebers noch nicht Personen desselben Geschlechts umfasst habe. Ziel der Norm sei daher allein der Schutz der „traditionellen Familie“. Das Verfahren vor dem EGMR war schon deshalb interessant, weil Siegmund Karner 2000 verstorben war, ohne dass irgendeine andere Person (Erbe) in das Straßburger Verfahren eintreten wollte. Gemäß Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK setzt der Gerichtshof die Prüfung einer Beschwerde immer dann fort, „wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert“. Anders als sonst stellte er hier erstmals die Frage, ob nicht die „moralische Dimension“ der Menschenrechtsfälle eine Fortsetzung nahe lege. Denn die „Mission“ der Konvention liege gerade auch darin, die menschenrechtliche Rechtsprechung in der Gemeinschaft der Konventionsstaaten zu verbreiten, also auch gemeinsame Standards zu formulieren. Im vorliegenden Fall habe vor allem die Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen gezeigt, dass es sich um eine „wichtige Frage von allgemeinem Interesse“ handele. In der Sache prüfte der EGMR das Recht auf Achtung der Wohnung aus Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK. Dass Herr Karner allein aufgrund seiner sexuellen Orientie154

EGMR No. 40016/98. Dazu Ph. Frumer, La discrimination fondée sur l’orientation sexuelle dans les relations de partenariat ou de cohabitation: une question d’intérêt général devant la Cour européenne des droits de l’homme – l’arrêt Karner c. l’Autriche du 24 juillet 2003, Revue trimestrielle des droits de l’homme, 59/2004, 663 ff.

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rung unterschiedlich behandelt worden war, sei nicht anders zu bewerten als die unterschiedliche Behandlung allein aufgrund des Geschlechts. Also müsse der Staat sehr wichtige Gründe für die Versagung des Mietrechts gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnern nennen können. Der Schutz der traditionellen Familie sei anerkennenswert, jedoch so abstrakt, dass er für sich genommen nicht genüge. Es müsse darüber hinaus gezeigt werden können, dass es für den Schutz der traditionellen Familie auch notwendig sei, bestimmte Gruppen auszuschließen. Da Österreich dies natürlich nicht zeigen konnte, lag eine Verletzung vor. Die Entscheidung ist insofern bedeutsam, als hier, anders als in den Adoptionsfällen, die Notwendigkeit eines Ausschlusses Homosexueller von bestimmten Vergünstigungen belegt werden muss. Damit ist ein Obsiegen der Beschwerdeführer in praktisch allen Fällen vorprogrammiert. Eine Konsequenz dieser Entscheidung war, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof inzwischen auch in anderem Zusammenhang von seiner Rechtsprechung abrückte, wonach die gesetzliche Privilegierung nur von andersgeschlechtlichen Partnern als unbedenklich galt: Im Jahre 2005 veranlasste er den Gesetzgeber dazu, die Gleichbehandlung homosexueller Partner auch in der Sozialversicherung herzustellen.155

5. Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen für gleichgeschlechtliche Lebenspartner In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte die vormalige Kommission wiederholt entschieden, dass die Aufenthaltsberechtigung eines gleichgeschlechtlichen ausländischen Lebenspartners versagt werden darf, selbst wenn sie im Falle des verschiedenen Geschlechts gewährt worden wäre.156 Probleme ergeben sich hier schon bei der Anwendung des Art. 8 EMRK, denn diese Bestimmung verleiht nur das Recht, ein Privatleben zusammen mit einem Lebenspartner zu haben, nicht jedoch darauf, auch den Ort des Zusammenlebens frei zu wählen bzw. gemeinsam in das Land seiner Wahl zu ziehen.157 Anderes gilt nur ausnahmsweise, wenn ein „Familienleben“ anders nicht geführt werden kann. Dies beschränkt sich aber derzeit noch auf Ehepartner und nächste Angehörige. Demnach spielt es gerade hier eine entscheidende Rolle, ob homosexuelle Partner wie derzeit nur als notwendiger Be155

Zum Urteil des österreichischen Verfassungsgerichts vom 10.11.2005 NZZ, Int. Ausgabe Nr. 265 vom 12./13.11.2005, 4 („Erfolg für Österreichs Homosexuelle“). 156 Siehe etwa EKMR No. 12513/86 – W. J. and D. P. v. the United Kingdom (1987); No. 14753/89 – C. and L. M. v. the United Kingdom (1989). 157 Siehe etwa EKMR Report, DR 78-A, §§ 184 ff. – East African Asians v. the United Kingdom (HRLJ 1994, 215 ff.). Eingehend zur Problematik Schweizerisches Bundesgericht, Urt. vom 25.8.2000, BGE 126 II 425, m.w.N.

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standteil eines zu zweit geführten Privatlebens (Schutz des Privatlebens) oder aber als Familienangehörige (Schutz der Familie) angesehen werden. Allerdings kann erwartet werden, dass die Rechtsprechung des EGMR in Zukunft zumindest danach unterscheiden wird, ob das innerstaatliche Recht gleichgeschlechtliche Partnerschaften der Ehe gleichstellt und auch im konkreten Fall eine entsprechend formalisierte Partnerschaft vorliegt. Unter diesen Umständen würde der Einschätzungsspielraum des betreffenden Konventionsstaats jedenfalls nicht unzulässig verkürzt.

6. Demonstrationsverbote aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Moral Vor allen in den osteuropäischen Staaten hat es in der Vergangenheit heftige Auseinandersetzungen um Demonstrationsverbote gegeben, die Behörden und Gerichte in bezug auf Homosexuellen-Versammlungen und -märsche durch die Innenstädte verfügt haben.158 Gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK sind Einschränkungen der Versammlungsfreiheit u.a. aus Gründen der „Moral“ möglich; es wäre allerdings mit Blick auf die Rechtsentwicklung der letzten Jahre ein Wertungswiderspruch, schon den Gegenstand der Demonstration als moralverletzend zu bewerten. In jedem Falle müssen Einschränkungen jedoch gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Dafür genügen, wie auch die Straßburger Rechtsprechung in den Streitkräfte-Fällen zeigt, bloße Vorurteile in der Gesellschaft gegen die geplante Versammlung nicht. Beruft sich ein Staat dennoch auf sie, muss er zeigen können, dass trotz ernsthafter Bemühungen um ihren Abbau eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht, die nicht anders als durch ein Verbot der Demonstration, also auch nicht durch Polizeischutz, beseitigt werden kann.

7. Körperverletzende Praktiken: Laskey, Jaggard and Brown (1995) Eine heikle Frage ist es, ob und wieweit auch körperverletzende bzw. sadomasochistische Praktiken dem Privatsphärenschutz (Art. 8 EMRK) unterfallen und ob sich der Staat in diesem Falle auch über Einwilligungen in die Körperverletzung hinwegsetzen, also zum Mittel der Bestrafung greifen darf. Im Fall Laskey, Jaggard and Brown (1995)159 bejahte der EGMR zwar die Anwendbarkeit der Konvention, hielt die Bestrafung jedoch zum Schutz der Gesundheit für gerechtfertigt. 158 Siehe etwa zum Verbot der in Warschau geplanten „Parade der Gleichheit“ (Parada Równosci) FAZ Nr. 133 vom 11.6.2005, 5 („Homosexuellen-Demonstration verboten“). 159 EGMR Rep. 1997-I – Laskey, Jaggard and Brown v. United Kingdom.

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Die nahe liegende Möglichkeit, die Bestrafung daneben auch noch mit der Aufrechterhaltung der „Moral“ zu begründen, ließ er in auffälliger Weise offen: Er betonte wohl das Recht der Konventionsstaaten zur moralisch motivierten Restriktion, zog die Moral aber gerade nicht in erster Linie heran.

E. Europäisches Gemeinschaftsrecht I. Die ungewöhnliche sexuelle Orientierung als Gegenstand des Gemeinschaftsrechts In das Gemeinschaftsrecht160 hat die Problematik der ungewöhnlichen sexuellen Orientierung erst spät Eingang gefunden. Dies erklärt sich damit, dass das herkömmliche Europarecht kein umfassendes Verbot der Diskriminierung (etwa beim Genuss der Grundfreiheiten) kannte, sondern neben der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit zunächst nur die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts berücksichtigte.161 Dies war wiederum dadurch bedingt, dass diese Form der Diskriminierung gut die Hälfte der Bevölkerung betraf, also gerade hier binnenmarktrelevante Probleme in einem spürbaren Ausmaß zu besorgen waren. Mit zunehmender Integration erlangte das Thema Homosexualität jedoch in den 90er Jahren die Aufmerksamkeit der Gemeinschaftsorgane.162 Seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 ermächtigt der neue Art. 13 EGV den Gemeinschaftsgesetzgeber im Anwendungsbereich des Vertrages dazu, weitere Formen von Diskriminierung zu bekämpfen, wobei nun auch ausdrücklich die „sexuelle Ausrichtung“ genannt ist. Jegliches Sekundärrecht, das inzwischen auf dieser Grundlage erlassen wurde und ein Diskriminierungsverbot enthält, bezieht das Kriterium ganz selbstverständlich als Teil des gemeinschaftsrechtlichen Katalogs der „verpönten“ Kriterien mit ein. Steht innerstaatliches Recht im unauflöslichen Widerspruch mit einem gemeinschaftsrechtlichen Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung, geht das Gemeinschaftsrecht vor; innerstaatli160 Eingehend A. Weyenbergh/S. Carstocea (eds.), The gays’ and lesbians’ rights in an enlarged European Union, 2006; I. Canor, Equality for Lesbians and Gay Men in the European Community Legal Order – ‚they shall be male and female‘, Maastricht Journal of European and Comparative Law 7 (2000), 273 ff. m.w.N. 161 Dazu noch Waaldijk/ Clapham (Anm. 109); T. Connor, Community Discrimination Law: No Right to Equal Treatment in Employment in Respect of Same Sex Partner?, European Law Review 23 (1998), 378 (382); S. Terrett, A Bridge too Far? Non Discrimination and Homosexuality in European Community Law, European Public Law 4 (1998), 487 ff. 162 Siehe etwa Resolution des Europäischen Parlaments vom 8.2.1994 über die Rechtsgleichheit der Homosexuellen und Lesben in der Europäischen Gemeinschaft.

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ches Recht jeglichen Rangs muss dementsprechend unangewendet bleiben;163 es gelten die üblichen Regeln zur unmittelbaren Anwendbarkeit.164 Bei der Interpretation und Anwendung von Gemeinschaftsrecht müssen auch die Grundrechte berücksichtigt werden, und zwar als Grundrechte des Gemeinschaftsrechts. Solche sind bislang aber nur in der Grundrechtecharta der Europäischen Union formuliert, die in ihrem Art. 21 Abs. 1 ebenfalls die Diskriminierung aufgrund der „sexuellen Ausrichtung“ ausdrücklich verbietet. Doch hat diese Charta keine rechtsverbindliche Qualität, weshalb ihre Vorgaben nur, aber immerhin, als Interpretationsleitlinien herangezogen werden können. Bestandteil des „harten“ Primärrechts sind jedoch „die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“ (Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union, EUV). Damit fließt die dargestellte Rechtsprechung zur EMRK gewissermaßen indirekt in das Gemeinschaftsrecht ein, wobei der EuGH bislang nur äußerst selten – und nicht in unserem Zusammenhang – von der Rechtsprechung des EGMR abweicht.165 Soweit es die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten i.S.v. Art. 6 Abs. 2 EUV betrifft, wurde schon gezeigt, dass die Aufnahme der sexuellen Ausrichtung in den Verfassungstext bislang noch die seltene Ausnahme ist.166 Aller163

Grundlegend: EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa/ENEL. Zum Streit hinsichtlich des Vorrangs gegenüber innerstaatlichem Verfassungsrecht statt vieler R. Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 208 ff. m.w.N. 164 Einzelne können sich im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts unmittelbar vor innerstaatlichen Gerichten und Behörden auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung berufen, sofern es Bestandteil einer EG-Verordnung ist (Art. 249 Abs. 2 EGV). Ist es Bestandteil einer Richtlinie, kommt eine unmittelbare Anwendbarkeit nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht hinreichend umgesetzt hat und die Bestimmungen der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt, also für eine Anwendung im Einzelfall geeignet sind. Art. 13 EGV selbst verleiht als Kompetenznorm nicht unmittelbar Rechte an Einzelne (siehe statt vieler A. Epiney, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 13 Rn. 1; R. Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 13 Rn. 1); die in Art. 13 EGV zum Ausdruck kommenden Leitgedanken können aber für die Interpretation anderen Gemeinschaftsrechts herangezogen werden. 165 Siehe z.B. einerseits EGMR A 251-B, §§ 29 ff. – Niemietz (1992), und andererseits EuGH Slg. 1989, 2859 (§ 18) – Höchst AG, jeweils zur Frage, ob Geschäftsräume unter Art. 8 EMRK fallen. 166 Siehe Anm. 60. Für die frühen 90er Jahre: K. Waaldijk, The Legal Situation in the Member States, in: Waaldijk/Clapham (Anm. 109), 71 ff.

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dings greifen gerade neuere Verfassungen diesen oder wie z.B. die schweizerische Bundesverfassung von 1998 ähnliche bzw. umschreibende Begriffe („Lebensform“) auf, so dass sich die Auslassung auch mit dem Entstehungszeitpunkt erklären dürfte. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung erweist sich insofern als ein Recht der allerjüngsten Generation. Inwieweit die Staaten die Stellung von Homosexuellen im Übrigen den klassischen Verfassungsrechten (allgemeiner Gleichheitsgrundsatz, Persönlichkeitsrecht, Privatsphäre, Familienschutz, Schutz der Ehe nur im Falle gleichgestellter Partnerschaft) unterstellen, bedarf noch einer genaueren Untersuchung.

II. Die Grenzen des herkömmlichen Gemeinschaftsrechts: Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, Gleichstellung mit der Ehe? 1. Der Fall „Grant“ (1998) Schon unter der alten Rechtslage wurde die Stellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner im Zusammenhang mit der Gleichbehandlung von Arbeitnehmern beim Entgelt, dem Zugang zur Beschäftigung, der Berufsbildung, dem beruflichen Aufstieg und bei den Arbeitsbedingungen bedeutsam. Im Klassikerfall Lisa J. Grant gegen South-West Trains Ltd. (1998)167 begehrte die britische Klägerin, welche mit einer Frau zusammenlebte, von ihrem Arbeitgeber, einer Eisenbahngesellschaft, eine Fahrtvergünstigung. Die Gesellschaft gewährte diese Vergünstigung zwar nicht nur Ehepartnern, sondern auch nichtehelichen Lebenspartnern anderen Geschlechts, weigerte sich jedoch, sie auch Partnern desselben Geschlechts zu leisten. Der EuGH168 konnte diesen Fall seinerzeit nur anhand von Art. 141 (zuvor: Art. 119) EGV sowie der einschlägigen Richtlinie aus dem Jahre 1975169 entscheiden, also nur anhand des Verbots der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Hier war Anknüpfungspunkt für die Benachteiligung zwar auf den ersten Blick die Zugehörigkeit der Klägerin zum weiblichen Geschlecht; auf den zweiten Blick wurde diese Zugehörigkeit aber nur im Hinblick auf das ebenfalls weibliche Geschlecht der Lebenspartnerin bedeutsam.170 Einem Männerpaar 167

EuGH, C-249/96, Rep. 1998-I, 621. Deutsche Übersetzung in: NJW 1998, 969; JZ 1998, 724 mit Anm. Th. Giegerich; Europäische Zeitung für Wirtschaftsrecht (EuZW) 1998, 212 mit Anm. P. Szczekalla. Siehe auch J. Cirkel, Gleichheitsrechte im Gemeinschaftsrecht, NJW 1998, 3332; N. Bamforth, Sexual Orientation Discrimination after Grant v. South-West Trains, The Modern Law Review 63 (2000), 694 ff. 168 Siehe allgemein K. Berthou/A. Masselot, Le mariage, les partenariats et la CJCE: ménage à trois, Cahiers de droit européen 2002, 679 (690 ff.). 169 75/117/EWG und 76/207/EWG. 170 Vgl. Giegerich (Anm. 167), 728.

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wäre es ebenso ergangen. Entscheidend ist demnach, wie man den Vergleich zieht, wer also im Vergleich zu wem diskriminiert wurde, und inwieweit die Partnerschaftskomponente etwa als Teil der Geschlechterrolle vom Geschlechtsbegriff erfasst wird. Obwohl der EuGH durchaus zur Kenntnis nahm, dass das UN-Menschenrechtskomitee im Fall Toonen die (homo)sexuelle Orientierung unter den Geschlechtsbegriff gefasst hatte, hielt er diese Auslegung doch mit Blick auf die verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkünfte für nicht allgemein anerkannt. Es fehlte ihm damit am rechtlichen Ansatzpunkt und folglich auch an einer Diskriminierung, ungeachtet der Frage, ob es für die unterschiedliche Behandlung unverheirateter Paare verschiedenen Geschlechts und unverheirateter Paare gleichen Geschlechts einen vernünftigen Grund gegeben hat.171 Obwohl diese Rechtsprechung aufgrund der inzwischen veränderten Rechtsgrundlagen172 keine unmittelbar praktische Bedeutung mehr hat, dokumentiert sie doch den Standpunkt des EuGH, die sexuelle Orientierung nicht als Unterfall des Kriteriums „Geschlecht“ anzuerkennen. Gerade auch deshalb ist die Einführung eines eigenständigen Diskriminierungstatbestandes erforderlich geworden. Gelegentlich ist die Frage aufgeworfen worden, ob der EuGH in Grant womöglich von seiner früheren Rechtsprechung zum Geschlechtsbegriff, insbesondere im Fall Cornwall,173 abgerückt ist.174 In diesem Transsexuellen-Fall hatte er nämlich entschieden, dass die Entlassung einer Person wegen einer Geschlechtsumwandlung eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sei. Der Tatbestand der Diskriminierung beschränke sich nämlich nicht darauf, dass eine Person dem einen oder dem anderen Geschlecht angehöre. Daraus wurde zum Teil abgeleitet, der EuGH habe in Cornwall den Begriff des Geschlechts noch weit, d.h. auch i.S.v. „gender“ interpretiert, diesen weiten Begriff in Grant dann aber wieder aufgegeben. Dies versuchte man wiederum damit zu erklären, dass Transsexualität als biologisches Phänomen, Homosexualität jedoch als soziologische Dimension der Geschlechterrolle gesehen werde.175 Diese Erklärung ist in der Tat nicht abwegig, weil die transsexuelle Person im „falschen“ biologischen Geschlecht steckt, während die homosexuelle Person sich nicht geschlechterrollengemäß (im Sinne gesellschaftlicher Erwartung) verhält. Letztlich überzeugt sie aber nicht, weil es in Transsexuellen-Fällen um das besondere Problem geht, in einem bestimmten Geschlecht selbst 171

Kritisch gerade auch aus diesem Grunde Canor (Anm. 160), 291/292. Siehe unten E. III. 173 EuGH, Rep. 1996, 2143 (insbes. § 20); deutsche Übersetzung in EuZW 1996, 398. 174 So Canor (Anm. 160), 279 ff. 175 C. Denys, Homosexuality: A Non-Issue in Community Law?, European Law Review 24 (1999), 419 (424). 172

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in der engsten Definition nicht anerkannt zu werden. Zudem hat auch die Homosexualität u.a. biologische Ursachen.176

2. Der Ehebegriff im Europäischen Beamtenstatut: Der Fall „D und Königreich Schweden“ (2001) Im Fall D und Königreich Schweden gegen den Rat der Europäischen Union177 hatte sich die Gemeinschaftsverwaltung geweigert, einem schwedischen Europabeamten eine Haushaltszulage nach dem Beamtenstatut zu gewähren, der mit einem gleichgeschlechtlichen Lebenspartner in einer nach schwedischem Recht eingetragenen Partnerschaft zusammenlebte. In diesem Falle stellte sich nicht einfach nur die Frage, ob der Begriff der „Ehe“ im Beamtenstatut auch die eingetragene Partnerschaft erfasst, sondern ob die Gemeinschaftsorgane eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im innerstaatlichen Recht automatisch auch für das Gemeinschaftsrecht zugrunde legen müssen (Grundsatz der Einheitlichkeit statusbegründender Rechtsstellungen). Dies bejahte der EuGH mit dem Argument, dass für Personenstandssachen die Mitgliedstaaten ausschließlich zuständig seien. Damit gab er nicht selbst eine bestimmte Auslegung des Ehebegriffs vor, sondern wandte gewissermaßen im Vorgriff schon die spätere Regelungsmethode an, in Fragen der Gleichstellung mit der Ehe an das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats anzuknüpfen.

III. Das ausdrückliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung 1. Art. 13 EGV und die neue Antidiskriminierungsrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) Art. 13 EGV, der 1997 durch den Amsterdamer Vertrag in den EGV gelangte, verleiht dem Rat der EG eine Kompetenz, einstimmig geeignete Vorkehrungen gegen Diskriminierungen zu treffen, und zwar nun ausdrücklich auch gegen Diskriminierung aufgrund der „sexuellen Ausrichtung“. Auf dieser Grundlage ist inzwischen die Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf erlassen worden, die bis zum 2. Dezember 2003 in das innerstaatliche Recht der

176 177

Siehe oben A II. Zu den rechtlichen Schlüssen, die hieraus zu ziehen sind, unten F. EuGH C-122/99 vom 31.5.2001.

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Mitgliedstaaten umgesetzt werden musste.178 Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines europaweit einheitlichen rechtlichen Rahmens, auch im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung. Sie enthält vor allem Regelungen darüber, was unter Diskriminierung zu verstehen ist, auf welchen Feldern der Berufstätigkeit das Diskriminierungsverbot gilt, wie es um Rechtsschutz und Beweislast steht, usw. Die Regelungen sind vor allem im grundsätzlichen Verbot der Diskriminierung so bestimmt und genau, dass eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie im Einzelfall im Falle nicht rechtzeitiger oder ungenügender Umsetzung ohne weiteres infrage kommt. Hier soll nur ein Aspekt besonders hervorgehoben werden: Auf der Basis der Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten den Religionsgemeinschaften bestimmte Freiräume belassen oder eröffnen, die mit deren Ethos zusammenhängen. Insbesondere dürfen die Kirchen verlangen, dass für sie arbeitende Personen sich „loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation“ verhalten. Damit entsteht die interessante Frage, ob Homosexualität einer Beschäftigung in Kirchen entgegenstehen kann. Beim Wort genommen handelt es sich hierbei weder um eine Frage der Loyalität noch der Aufrichtigkeit, doch bedingt das Ethos der Organisation wohl eine besondere Würdigung dieser Begriffe. Speziell die römisch-katholische Kirche hat immer wieder unmissverständlich klargestellt, dass sie Homosexuelle nicht als Priesteramts-Kandidaten zulassen wird.179 Andernfalls würde ein Bruch mit dem vielleicht falsch geformten, aber doch frei formbaren Ethos dieser Religionsgemeinschaft entstehen, wie ihn die Ausnahmebestimmung gerade vermeiden wollte. Gleichwohl dürfen solche Überlegungen nicht dazu führen, dass eine Religionsgemeinschaft ein verpöntes Kriterium wie die sexuelle Ausrichtung insgesamt ignorieren kann, das Verbot der Diskriminierung auf diesem Felde also für sie überhaupt nicht mehr gilt. Deshalb muss dargelegt werden können, warum die Homosexualität einer beschäftigten oder sich bewerbenden Person der Wahrnehmung gerade einer bestimmten Tätigkeit im Wege steht. Darüber hinaus darf eine Freistellung seitens der Mitgliedstaaten ähnlich wie im Falle des innerstaatlichen 178 In Deutschland ist diese Verpflichtung mit extremer Verspätung wahrgenommen worden: Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), mit dem die Richtlinie umgesetzt wurde, trat am 18.8.2006 in Kraft (BGBl. 2006 I 1897). 179 Siehe zuletzt die „Instruktion über Kriterien zur Berufungserklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesterseminar und zu den Heiligen Weihen der Kongregation für katholische Erziehung“ vom 4.11.2005; amtliche deutsche Übersetzung bei Radio Vatikan (www.oecumene.radiovaticana.org). Siehe auch die „Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen“ der Kongregation für die Glaubenslehre vom 3.6.2003, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 162.

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Tendenzschutzes oder der Frage der Freistellung von Kirchen von der staatlichen Gerichtsbarkeit nicht den gemeinschaftsrechtlichen Ordre public, d.h. die Fundamente der Rechtsordnung, verletzen.180 Diese Grenze dürfte überschritten sein, wenn Religionsgemeinschaften dazu ermächtigt werden, Homosexuelle aus ihren Reihen völlig auszugrenzen, wenn Schweigen und Verheimlichung zur Bedingung einer Tätigkeit für die Kirche werden.

2. Die neue Aufenthaltsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG) Von besonderer Bedeutung ist im Europarecht die Frage, ob ein Recht darauf besteht, den gleichgeschlechtlichen Partner als Familienangehörigen in ein anderes europäisches Mitgliedsland mitzunehmen, soweit man von seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. Niederlassungsfreiheit nach dem EGV Gebrauch macht. Insoweit enthält die neue, konsolidierte Aufenthaltsrichtlinie vom 29. April 2004181 eine interessante Regelung in Art. 2 Abs. 2 lit. b. Danach bezeichnet der Begriff „Familienangehöriger“ u.a. den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind; [...]

Wenn also ein österreichischer Staatsangehöriger eine Arbeitsstelle in Deutschland annehmen und seinen gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartner mitnehmen will, so hängt die Entstehung eines eigenen Rechts des Lebenspartners davon ab, dass auch das deutsche Recht eine Gleichstellung mit der Ehe vorsieht und dessen Anforderungen erfüllt sind. Darüber hinaus hat ein Lebenspartner aber gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. b auch ein vom berechtigten Partner (Arbeitnehmer[in] oder Selbständige[r] im Sinne der Richtlinie) abgeleitetes Recht auf Einreise und Aufenthalt: Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen: (b) des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.

180 Siehe K. Oellers, Staatliche und religionsautonome Gerichtsbarkeit, in: R. Grote/Th. Marauhn (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, 471 ff., insbes. 472 ff. 181 ABl. L 229/35.

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Diese Lösung knüpft wie im Falle der Anerkennung herkömmlicher Ehen an das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten an, versucht also nicht etwa, im heiklen Bereich der Anerkennung homosexueller Lebenspartnerschaften einen gemeinsamen Standard zu formulieren, der nicht mehr als ein kleinster gemeinsamer Nenner sein könnte. Dieselbe Tendenz, etwa bei der Gewährung von Vorteilen an das Status-Recht der einzelnen Staaten anzuknüpfen, lässt sich auch für die UNVerwaltung nachweisen.182 Regelungen dieser Art stellen sicher, dass die eingetragene Partnerschaft denjenigen Staaten, die ihr ablehnend gegenüberstehen, nicht „durch die Hintertür“ aufgenötigt wird, zugleich aber die eingetragenen Partner auch im Ausland bzw. in internationaler Mission keine Nachteile erleiden, sondern den schon im Heimatland erworbenen Status behalten.

F. Zum Stand des Völker- und Europarechts I. Basislinien für ein künftiges Gewohnheitsrecht 1. Verbot der Diskriminierung und Macht des Vorurteils Es ist viel zu früh, auf dem Gebiet der Homosexualität von universell geltendem Völkergewohnheitsrecht zu sprechen. Doch lassen sich die Konturen eines Menschenrechts auf Nicht-Diskriminierung aufgrund homosexueller Orientierung schon klar erkennen.183 Noch nicht allgemein anerkannt ist das Verbot der Diskriminierung aufgrund HIV-Status, wie es im Bereich der Kinderschutzkonvention Fuß zu fassen beginnt.184 In dogmatischer Hinsicht zeichnet sich ab, dass Diskriminierungen im Zusammenhang mit Homosexualität nicht als Unterfall der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, sondern als ein Aliud gelten, das entweder durch den speziellen Begriff der sexuellen Ausrichtung oder aber durch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (offene Kriterien wie „sonstiger Status“ oder „Angehöriger einer beson182 Bulletin des Generalsekretärs vom 20.1.2004 (Family status for purposes of United Nations entitlements), ST/SGB/2004/4, § 4: „A legally recognized domestic partnership contracted by a staff member under the law of the country of his or her nationality will also qualify that staff member to receive the entitlements provided for eligible family members. The Organization will request the Permanent Mission to the United Nations of the country of nationality of the staff member to confirm the existence and validity of the domestic partnership contracted by the staff member under the law of that country.“ Diese Regelung trat am 1.2.2004 in Kraft (ibid. § 5). 183 Siehe immer noch E. Heinze, Sexual Orientation: A Human Right, 1995. 184 Siehe oben C. V.

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deren sozialen Gruppe“) erfasst wird. Die Staatenpraxis ist dabei gegenwärtig so zu beschreiben, dass zwar erst eine kleine Gruppe von Staaten die Diskriminierung aufgrund homosexueller Ausrichtung ausdrücklich verbietet; sie aber gerade in neueren Verfassungen immer häufiger in Erscheinung tritt, ebenso in neueren internationalen Dokumenten und insbesondere im jüngeren Europarecht. Soweit es eine damit übereinstimmende Rechtsüberzeugung betrifft, kann zumindest schon festgestellt werden, dass heute kein Staat mehr offen die Befugnis in Anspruch nimmt, Menschen allein aufgrund ihrer homosexuellen Ausrichtung oder entsprechenden Verhaltens zu benachteiligen. Einen besonders wichtigen Impuls dürfte die internationale Rechtsprechung auf die sich entwickelnde Staatenpraxis geben, indem sie immer wieder betont, dass gesellschaftliche Vorurteile als solche keine Benachteiligungen rechtfertigen können, und zwar selbst dann nicht, wenn ihre Existenz mit neuesten Methoden der Meinungsforschung bestätigt wird: Der Staat hat grundsätzlich die Pflicht, solchen Vorurteilen entgegenzutreten,185 so wie er auch Vorurteilen gegen Frauen oder Menschen schwarzer Hautfarbe entgegenzutreten gelernt hat. Ausnahmen werden, wenn überhaupt, noch im Kindschaftsrecht gemacht, wo eine Gefährdung des Kindes durch die Homosexualität adoptionswilliger Personen nicht wie sonst positiv nachgewiesen werden muss bzw. nur auf rationale Erwägungen (nicht bloße Vorurteile) gestützt werden darf, sondern verbleibende Zweifel umgekehrt zulasten der homosexuellen Person gehen.186 Neuere Erkenntnisse könnten aber auch ihnen bald den Boden entziehen.

2. „Recht auf Homosexualität“ und Verbot der Bestrafung Es gibt im Völkerrecht zwar kein spezifisches „Recht auf Homosexualität“, der Sache nach kann es aber schon jetzt als Bestandteil des Rechts auf Privatsphäre gelten, d.h. eine entsprechende Interpretation dieses Rechts ist ohne weiteres möglich und in der Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsorgane auch üblich.187 Da der Schutz des Privatlebens Teil der Allgemeinen Erklärung der Men-

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Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zum Umgang mit Gegendemonstrationen im Versammlungsrecht, wo die Gewalt, die aus dieser Richtung droht, unterbunden werden muss, nicht aber die eigentliche Demonstration vorsorglich verboten werden darf. Solche Bewertungen setzten einen hoch entwickelten Staat voraus, der Gegenstrategien entwickeln und in diesem Sinne „social engineering“ betreiben kann. 186 Siehe oben D II. 3. zum Fall Fretté. 187 Siehe zum Konzept der „modalen“ Rechte, die unter Umständen Bestandteil eines bestehenden Rechts, aber auch Gegenstand eigenständiger Gewährleistung sein können,

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schenrechte (Art. 12) ist, spricht dies auch für seine gewohnheitsrechtliche Geltung. Allerdings handelt es sich um ein Recht, das außerordentlich interpretationsoffen und zudem sehr eng mit einem bestimmten („westlichen“) Verständnis von Individualität verbunden ist, das Stammesgesellschaften, aber auch patriarchalischautoritäre Ordnungen oder Religionsstaaten nicht teilen. Über Inhalt und Natur der gewohnheitsrechtlich geschützten Privatsphäre wird daher gerade in unserem Zusammenhang auf der universellen Ebene Uneinigkeit bestehen. Soweit das Intimleben homosexueller Menschen kraft Privatsphärenschutz ein „Recht auf Belanglosigkeit“ (droit à l’indifférence188) des Tuns bzw. Ungestörtheit des Handelns begründet, stellt sich auch die Frage nach den Grenzen eines solchen Rechts, insbesondere im Zusammenhang mit körperverletzenden bzw. sadomasochistischen Praktiken.189 Doch wird zutreffend hervorgehoben, dass vergleichbare Extremformen auch im heterosexuellen Bereich vorkommen, also keine spezifische Erscheinungsform der Homosexualität sind.190 In beiden Bereichen können die Staaten der Wirksamkeit von Einwilligungen genau so weitgehend wie bei sonstigen Körperverletzungen Schranken ziehen, ohne dass dem eine Vornahme im privaten Raum entgegensteht. Diesseits der Grenzen erlaubter Einwilligung muss die Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen in Privaträumen inzwischen als unverhältnismäßige Einschränkung des Menschenrechts auf Privatsphäre bezeichnet werden. Denn es besteht grundsätzlich kein Bedürfnis der Allgemeinheit, das Verhalten in den privaten Schlafzimmern zu regeln. Insoweit setzt sich die Kultur der Individualität und Intimität durch, welche die Verstörung einer Gesellschaft, die in Großfamilien und Sippschaften auf engem Raum zusammenlebt, nicht mehr verspürt. Selbst in jenen wenigen Staaten, die bis heute noch strafen, werden für die Verfolgung Homosexueller fast immer Gesetze herangezogen, die sich ganz allgemein gegen Störungen der öffentlichen Ordnung richten.191 Soweit überhaupt noch spezifische (i.d.R. sehr alte) Gesetze bestehen, wenden die betreffenden Staaten sie oft nicht mehr an oder versuchen, ihre Bedeutung herunterzuspielen. Unter diesen Umständen können sich aber selbst Außenseiterstaaten nicht mehr auf die Rechtsfigur des „persistent objector“ berufen, um die ansonsten gewohnheitsrechtlich anerkannte Geltung des Verfolgungsverbots abzuwehren.

D. Richter, Lücken der EMRK und Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes, in: Grote/ Marauhn (Anm. 124), 396 ff. (insbes. 408 ff., Rn. 22 ff.). 188 Ringel, R.R.J. 1999-4 (Anm. 112), 1054. 189 Siehe oben D. II. 7. 190 Siehe auch Ringel (Anm. 188). 191 Siehe Anm. 56 f.

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3. Recht auf „Outing“ Ein Recht auf ungestörtes und unsanktioniertes „Outing“ ist für die Entwicklung Jugendlicher von wesentlicher Bedeutung, weil sie anderenfalls in der Außenwelt nicht im Einklang mit ihrer eigentlichen Identität heranwachsen können.192 Dabei geht es nicht um Intimitäten, sondern um das Sich-bekennen-Können in der Öffentlichkeit, etwa im schulischen Umfeld. Bedrohungen erwachsen hier gerade auch aus dem gesellschaftlichen Bereich. Zwar lässt sich derzeit noch nicht feststellen, dass der Meinungsfreiheit oder anderen klassischen Menschenrechten eine entsprechende Schutzgarantie des Staates entnommen wird.193 Es gibt aber erste Versuche, sich einer solchen Garantie auf indirekte Weise anzunähern. So wird z.B. im Bereich der UNO argumentiert, dass die prüde Unterbindung des Themas Homosexualität in den Medien der Stigmatisierung Homosexueller in der Gesellschaft Vorschub leiste und dieses wiederum gesteigerte Schutzverpflichtungen des die Medien regulierenden Staates begründe.194 Dieser Ansatz überzeugt unter der Voraussetzung, dass der behauptete Zusammenhang zwischen einer dem Staat zurechenbaren Unterbindungspolitik und der Intensität der gesellschaftlichen Verfolgung tatsächlich besteht.

4. Recht auf Eheschließung Das Recht auf Eheschließung, das auch in Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, kann zwar als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts gelten. Es besteht aber in der Staatengemeinschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich nicht auf die Verbindung mit einem gleichgeschlechtlichen Partner bezieht. Interessant ist somit derzeit nur die Frage, ob dies auch ohne weiteres für diejenigen Staaten gilt, welche die eingetragene Partnerschaft der Ehe völlig gleichstellen. Man könnte in solchen Fällen argumentieren: Zwar erfasst der völkerrechtliche Begriff der „Ehe“ diese Paarverbindung grundsätzlich nicht; wenn ein Staat sich jedoch im innerstaatlichen Recht erkennbar einer solchen Interpretation der Ehefreiheit angeschlossen hat, dann darf er sie auch im Völkerrecht gleichgeschlechtlichen Paaren nicht ohne besonderen Grund versagen.195

192 193 194 195

Dazu auch D. II. 1. b) am Ende (S. L. v. Austria). Siehe zu den infrage kommenden Rechten oben C. V. Siehe oben C. I. 3. Vgl. dazu oben E. II. 2. am Ende.

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II. Gibt es „sexuelle Minderheiten“? Der Begriff der „sexuellen Minderheit(en)“ tritt zunehmend in Erscheinung, stößt jedoch in den Institutionen auf erbitterten Widerstand. So hatte z.B. eine Spezielle Berichterstatterin zur Frage der „extralegalen, Massen- oder willkürlichen Exekutionen“ diesen Begriff wie selbstverständlich verwendet,196 ohne ihn allerdings näher zu begründen. Das hatte zur Folge, dass u.a. Ägypten und Iran ihr die Überschreitung des Mandats vorwarfen und selbst der Vertreter der Schweiz die Verwendung des Begriffes „sexuelle Minderheiten“ als „unangemessen“ („inappropriate“) bezeichnete, weil es das Konzept der Minderheit schwäche.197 Die Berichterstatterin berief sich zwar auf die Gebräuchlichkeit des Begriffs im Bereich der NGOs, sicherte aber zu, die Bedenken in künftigen Berichten berücksichtigen zu wollen – also nicht zu wiederholen. Wendet man die gebräuchlichen Kriterien des Minderheitenschutzes an, setzt die Anerkennung als „Minderheit“ bei aller Umstrittenheit die Erfüllung gewisser objektiver und subjektiver Kriterien voraus. Dazu zählt mindestens, dass ihre Angehörigen in bezug auf ein bestimmtes gemeinsames (z.B. ethnisches, sprachliches, religiöses) Merkmal eine Gruppe darstellen, die kleiner als die Mehrheit ist, und sich auch subjektiv als zusammengehörige Gruppe empfinden.198 Demnach stellt sich zunächst die Frage, ob die homosexuelle Ausrichtung objektiv als minderheitenspezifisches Kriterium angesehen werden kann. Das erscheint zwar im Moment noch ungewöhnlich; doch wird z.B. im Rahmen des Flüchtlingsrechts durchaus diskutiert, ob Homosexuellen Verfolgung als „Angehörigen einer sozialen Gruppe“ drohen kann.199 Unzweifelhaft können für Homosexuelle vergleichbare Gefährdungslagen und Schutzbedürfnisse wie für andere Flüchtlingsgruppen bestehen. Doch im Bereich des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes kann die Gruppeneigenschaft im bloß sozialen Sinne, selbst der nicht-dominanten bzw. gefährdeten Gruppe, allein nicht genügen. Hinzu kommen muss ein kulturelles Element im weitesten Sinne, das prinzipiell geeignet ist, sich in der Organisation der öffentlichen Angelegenheiten, d.h. der Art und Weise des Regierens und Ver-

196

Special Rapporteur (Anm. 69), § 37. Auch zum Folgenden General Assembly, 57th session, Official Records, Summary Record of the 35th meeting (5 November 2002), Dokument A/C.3/57/SR.35 vom 4.12.2003, §§ 33–77. 198 Grundlegend die 1977 erstellte Studie von F. Capotorti, Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities (UN Dokument E/CN.4/Sub. 2/384/Rev.1, §§ 20 ff.). Siehe auch D. Richter, Sprachenordnung und Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat, 2005, 1174 ff. m.w.N. 199 Siehe oben C. VII. 197

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waltens, niederzuschlagen, so wie religiöse oder sprachliche Prägungen in die staatlichen Strukturen mehr oder weniger erkennbar, aber doch unvermeidlich einfließen. Es mag wohl eine „Homosexuellen-Kultur“ geben. Sie ist aber keine, die einen Bezug zum Leben der gesamten Gesellschaft auf einem bestimmten Raum hätte. Homosexuelle sind keine Gruppe, die sich unabhängig von allen anderen selbstverwalten will. Deshalb mangelt es ihr ebenso wie der Gruppe der Frauen an der Minderheiteneigenschaft, wobei dies einen spezifischen Gruppenschutz auf anderer rechtlicher Grundlage keineswegs ausschließt.

III. Universalität der Menschenrechte und Homosexualität 1. Unterschiede zwischen universeller und regionaler Ebene am Beispiel der Einordnung der sexuellen Orientierung in den Begriff „Geschlecht“ Es wurde gelegentlich beobachtet, dass Rechtsfragen im Zusammenhang mit Homosexualität auf der universellen Ebene geradezu avantgardistisch im Vergleich zur regionalen, insbesondere europäischen Ebene behandelt wurden. Hauptbeispiel hierfür ist die Rechtsprechung des Human Rights Committee im Fall Toonen, wonach die sexuelle Ausrichtung als Unterfall des Geschlechts anzusehen und das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dementsprechend weit anzuwenden sei.200 Schon im Jahre 1992 hatte die vormalige UN-Menschenrechtskommission in einem „General Comment“ den Begriff „Geschlecht“ i.S.v. Art. 2 Abs. 1 und Art. 26 IPBPR so interpretiert;201 dem schloss sich später auch die „Working Group on Arbitrary Detention“ (Arbeitsgruppe der vormaligen Menschenrechtskommission zu Fragen der willkürlichen Verhaftung) ausdrücklich an.202 Erstaunlich daran ist, dass beide Bestimmungen ja nicht nur das Geschlecht, sondern auch den „sonstigen Status“ als unzulässige Kriterien der Unterscheidung nennen. Daher erscheint die Heranziehung des Geschlechts ganz unnötig und provoziert in der Tat die Frage, ob es denn mehr als zwei Geschlechter gibt. Sie ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil man besonders „fortschrittliche“ Lösungen eher von Seiten eines Systems erwarten würde, das wie das EMRK-System gemeinsame Wertvorstellungen hat (Präambel der EMRK, Art. 1, 3–5 Satzung des Europarates). Dieser Umstand hat gerade im Zusammen-

200

Siehe oben C. III. 2. Commission on Human Rights, CCPR/C/50/D/488/1992, § 8.7. 202 Report of the Working Group on Arbitrary Detention, Dokument E/CN.4/2003/8 vom 16.12.2002, §§ 68 f., 76. 201

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hang mit Homosexualität Anlass zu herber Kritik an den regionalen Schutzsystemen gegeben.203 Tatsächlich dürften die Gründe für die spektakuläre Entscheidung des Committee im Fall Toonen aber weniger in besonderer Fortschrittlichkeit als vielmehr in Defiziten liegen, denen sich die universelle Ebene im Unterschied zur regionalen stellen muss. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass die innerstaatlichen Rechtsordnungen zumeist nur das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, nicht jedoch ein so offenes Kriterium wie den „sonstigen Status“ kennen. Deshalb ist es für Menschenrechtsgremien im weltweiten Maßstab aber auch besonders schwierig, Impulse auf die innerstaatliche Gesetzgebung und Rechtsprechung auszusenden, soweit es um die Diskriminierung oder gar Verfolgung Homosexueller geht. Weil sich innerstaatliche Stellen im Zweifel an Konzepten und Begriffen des innerstaatlichen Rechts orientieren, muss ein Ansatzpunkt gefunden werden, der in beiden Rechtsordnungen existiert. In diesem Sinne kann internationale Rechtsprechung ihre standardsetzende Kraft nur entfalten, wenn sie über die Bedeutung und Reichweite derselben Begriffe wie das staatliche Recht spricht. Die genannte weite Interpretation des Begriffes „Geschlecht“ ist hierfür eine Lösung.

2. Kulturelle Identität oder ganz normale Rückständigkeit? Es ist zu Recht bemerkt worden, dass sich selbst im Bereich der internationalen Einrichtungen zum Schutze der Menschenrechte eine falsch verstandene Sensibilität verbreitet habe:204 Obwohl vermeintlich kulturelle Eigenarten keine Übergriffe gegen Homosexuelle legitimieren, verhindern sie doch nach wie vor sehr effektiv die Aufnahme deutlicher, die Homosexualität benennende Formulierungen in internationale Dokumente und blockieren auf diese Weise jede Fortentwicklung des Völkerrechts. Dass es sich dabei überhaupt um kulturelle Verschiedenheiten handelt, erscheint allerdings mehr als fraglich. Denn einschlägige Äußerungen, wonach schon die Begriffe (Homosexualität, sexuelle Orientierung usw.) „unafrikanisch“, „unasiatisch“ oder dergleichen seien,205 erinnern stark an entsprechende Äußerungen in den europäischen Staaten aus früherer Zeit. So wurden etwa im 19. Jahrhundert neben der Homosexualität auch bestimmte Lebens- oder Staatsformen (z.B. Demokratie) als „unchristlich“, „dem deutschen Wesen fremd“ und dergleichen bezeichnet. Hinter solchen Behauptungen steht immer die Annahme einer die Ge203 204 205

In diese Richtung wohl Heinze (Anm. 54), insbes. 288 ff. So vor allem Heinze (Anm. 54). Siehe zu einigen Beispielen Heinze (Anm. 54), 302 ff.

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meinschaft prägenden einheitlichen Natur, wie sie für das Zeitalter der Nationalstaaten kennzeichnend gewesen war. Deshalb besagt eine besonders interessante These, dass Politiker aus afrikanischen oder asiatischen Staaten, die das Thema heute als „unafrikanisch“ oder „unasiatisch“ bezeichnen, nichts anderes täten, als eine Denkweise ihrer ehemaligen Kolonialherren, gewissermaßen zeitversetzt, zu übernehmen.206 Die Untersuchung hat nach allem gezeigt, dass es in der weltweiten Völkergemeinschaft keine einheitliche Staatenpraxis im Umgang mit der Homosexualität, aber doch so etwas wie eine zeitversetzt gleichgerichtete Entwicklung gibt.207 Man mag in diesem Zusammenhang auch von einem „gereiften Rechtssystem“ (mature legal system) sprechen, das sich über einen Stand hinausentwickelt hat, der von vielen anderen Staaten erst noch durchlaufen werden wird,208 bzw. vice versa von einem „weniger gereiften Rechtssystem“ (entsprechend: less mature legal system), das sich im Laufe der Zeit – höchstwahrscheinlich – in dieselbe Richtung hin entwickeln wird.

IV. Das „dritte“ Geschlecht Ungeachtet des aktuellen Stands des Völker- und Europarechts, wie er skizziert wurde, gibt das Thema doch zu einer kritischen Bemerkung Anlass: Wenn jeder Mensch ein Geschlecht besitzt und der Rechtsbegriff „Geschlecht“ nicht allein biologisch, sondern auch im Sinne der Geschlechterrollenzugehörigkeit zu deuten ist – was herrschender Lehre und Praxis entspricht – und wenn es männliche Wesen im biologischen Sinne mit femininer Rolle wie weibliche Wesen mit maskuliner Rolle gibt, dann müsste auch der rechtliche Begriff des Geschlechts diese Befunde aufgreifen können. Tatsächlich erfasst das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts Homosexuelle aber nur zu einem Teil: Unterscheidet sich ein männlicher Homosexueller von einem männlichen Heterosexuellen und eine weibliche Homosexuelle von einer weiblichen Heterosexuellen grundlegend, soweit es das Geschlechterrollenverhalten und die Rollenzuschreibung durch die Gesellschaft 206

Heinze (Anm. 54), 302 ff. Siehe oben B. II. 208 So im Zusammenhang mit der Abschaffung der Todesstrafe Special Rapporteur (Anm. 69), § 45. Zur heftigen Kritik an diesem Begriff: General Assembly, 57th session, Official Records, Summary Record of the 35th meeting (5 November 2002), UNDokument A/C.3/57/SR.35 vom 4.12.2003, §§ 37, 42. Auf die Kritik hin präzisierte die Berichterstatterin sich dahingehend, dass sie mit dem Ausdruck „mature legal system“ nur ein Rechtssystem gemeint habe, das den anerkannten Unabhängigkeitsstandards genüge (ibid. § 54). 207

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betrifft, profitieren sie vom Verbot allenfalls in biologischer Hinsicht, während sein „Gender-Anteil“ auf sie nicht wirklich passt. Zwar schafft die Einführung einer besonderen Kategorie der „sexuellen Orientierung“ insoweit Abhilfe; doch lässt sie die Ausgrenzung der Fälle aus dem Normalkonzept lediglich in einem milderen Licht erscheinen. Das „dritte Geschlecht“ ist eine Metapher – für jene natürliche Vielfalt der Geschlechter, wie sie sich aus den Kombinationsmöglichkeiten aller vorkommenden männlichen und weiblichen Eigenschaften auf den Feldern von „sex“ und „gender“ ergibt.

Der EuGH als Motor für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Europa? Von Christine Langenfeld

A. Einleitung Ob Gleichberechtigung in der Bundeswehr, Quotenregelungen oder Kündigungsschutz bei Schwangerschaft – die Liste der Fragen, denen sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Bereich der Gleichbehandlung von Mann und Frau bisher widmen musste, ließe sich noch lange fortsetzen. Viele dieser Entscheidungen haben die Rechtslage in Deutschland maßgeblich beeinflusst und waren Auslöser erhebliche Kontroversen. Der Beitrag zeichnet die wichtigsten Stationen der Luxemburger Rechtsprechung nach und hinterfragt die Rolle des EuGH als Motor der Gleichberechtigung.

B. Der Grundsatz der Gleichbehandlung als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung I. Entstehungsgeschichte des Art. 119 a.F. (jetzt Art. 141 EGV) Art. 119 EWGV war ursprünglich wettbewerbs- und wirtschaftspolitisch motiviert.1 Schon früh erfolgte jedoch eine Ablösung von dieser Grundlage und eine Hinwendung zu der sozialpolitischen Komponente der Norm: Die Verwirklichung der Gleichbehandlung von Mann und Frau im Bereich der Entlohnung wurde als eigenständiges, von der Europäischen Gemeinschaft zu verfolgendes Ziel erkannt. Ausgehend von dieser Erkenntnis und zusätzlich befördert durch die 1

Zur Entstehungsgeschichte ausführlich C. Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, 30 ff.; vgl. auch Generalanwalt A. Dutheillet de Lamothe, Schlussanträge zu EuGH, Rs. 80/70, Slg. 1971, 455 f.; S. Krebber, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 141, Rdnr. 3; H. Reichold, Aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Arbeitsrecht, Juristenzeitung (JZ) 2006, 549.

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Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Defrenne,2 setzte in den 70er Jahren eine intensive Rechtsetzungstätigkeit auf Gemeinschaftsebene ein, die weit über die Entgeltgleichheit3 hinaus ging und mit der Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976 (maßgeblich geändert in 2002) die Gleichberechtigung im Bereich von Beschäftigung und Beruf im Allgemeinen betraf.4 1979 bzw. 1986 wurden weitere Richtlinien über die gesetzlichen5 bzw. betrieblichen6 Systeme der sozialen Sicherheit erlassen. In demselben Jahr folgte die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit – auch im Bereich der Landwirtschaft – ausüben, sowie zum Mutterschutz.7 Von erheblicher Bedeutung für die Durchsetzung der Gleichbehandlung der Geschlechter war die Richtlinie über die Beweislast bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts,8 die 1997 erging. Ergänzend zu nennen sind noch die Richtlinie über Elternurlaub und Urlaub aus familiären Gründen9 sowie die Richtlinie über Teilzeitarbeit,10 die vor allem Ungleichbehandlungen 2 EuGH, Rs. 80/70, Defrenne I, Slg. 1971, 445 ff.; Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455 ff.; Rs. 149/77, Defrenne III, Slg. 1978, 1365 ff. 3 RL Nr. 75/117/EWG des Rates v. 10.2.1975 betreffend den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen für den Bereich des gleichen Entgelts, ABl. L 45/19, die sich aber weitgehend darin erschöpfte, den Inhalt des Art. 141 EGV (vormals Art. 119) und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH nachzuzeichnen. 4 RL Nr. 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 betreffend den Bereich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung, zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. L 39/40, geändert durch RL Nr. 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002, ABl. L 269/15; vgl. zusammenfassend zum Inhalt der Richtlinie E. Kocher, Gleichstellung von Frauen und Männern, Arbeitsrecht im Betrieb (AIB), 654–659. 5 RL Nr. 79/7/EWG des Rates vom 19.10.1979 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. L 6/24 6 RL Nr. 86/378/EWG des Rates v. 24.7.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit, ABl. 1986 L 225/40, geändert durch RL Nr. 96/97/EG des Rates v. 20.12.1996, ABl. L 46/20. Der Inhalt der Richtlinie war allerdings bereits durch die Rspr. des EuGH weitgehend vorweggenommen worden. 7 RL Nr. 86/613/EWG, ABl. 1986 L 359/56. 8 RL Nr. 97/80/EG des Rates v. 15.12.97, ABl. L 14/6 (Beweislastrichtlinie). 9 RL Nr. 96/34/EG des Rates v. 3.6.1996, ABl. L 145/4; zur Ausdehnung der Richtlinie auf das Vereinte Königreich und Nordirland vgl. RL Nr. 97/75/EG des Rates v. 15.12.1997, ABl. L 10/24. 10 RL Nr. 97/81/EG des Rates v. 15.12.1997, ABl. L 14/9; zur Ausdehnung der Richtlinie auf das Vereinte Königreich und Nordirland vgl. RL Nr. 98/23/EG des Rates v. 7.4.1998, ABl. L 131/10.

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von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten beseitigte und damit eine besonders wichtige Ursache für die Benachteiligung von Frauen erfasste: denn damals wie heute wird Teilzeitarbeit in allen EG-Mitgliedstaaten vorwiegend von Frauen ausgeübt; die Teilzeitquote der Frauen übersteigt die der Männer gemeinschaftsweit um das Siebenfache.11 2006 wurde schließlich die Richtlinie zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung erlassen, die die geltenden Gleichbehandlungsrichtlinien 75/ 117/EWG,12 76/207/EWG,13 86/378/EWG14 und 97/80/EG15 einschließlich der Änderungsrichtlinien unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in einem Rechtsakt zusammenfasst und konsolidiert.16 Darüber hinaus erstreckt die neue Richtlinie die mit der Richtlinie 2002/73/EG17 eingeführten Rechte (insbesondere Verbandsklagerecht, Entschädigungsansprüche) und die Regelungen der Beweislastrichtlinie auf alle von den Gleichbehandlungsrichtlinien erfassten Bereiche, d.h. auch auf die betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit. Bis zum Vertrag von Amsterdam wurden sämtliche Richtlinien zur Gleichbehandlung von Mann und Frau18 auf die Rechtsangleichungskompetenz des Art. 94 EGV (Art. 100 a.F.) und/oder die Abrundungskompetenz des Art. 308 EGV (Art. 234 a.F.) gestützt. Die Inanspruchnahme dieser Zuständigkeiten setzte voraus, dass die mit der Richtlinie angestrebte sektorale Gleichbehandlung einen Bezug zum Funktionieren des Gemeinsamen Marktes aufwies.19 Trotz der Erkenntnis, dass der Grundsatz der Lohngleichheit in Art. 119 a.F. nicht nur wirtschaftspolitische, sondern eminente sozialpolitische Bedeutung hatte, konnte sich die Gleichstellungsrechtsetzung der Gemeinschaft zunächst nicht von ihren wirtschaftspolitischen, am Funktionieren der Gemeinschaft als Wirtschaftsgemeinschaft orientierten Grundlagen lösen. Dies geschah erst mit dem Vertrag von Amsterdam, der Art. 119 a.F. (jetzt Art. 141 EGV) um eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage (Art. 141 Abs. 3 EGV) zum Erlass von Maßnahmen zur Verwirklichung 11

J. Falke, Der soziale Dialog. Neue Säule des Schutzes vor Diskriminierung, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 2004, 244, 245. 12 Vgl. Anm. 3. 13 Vgl. Anm. 4. 14 Vgl. Anm. 6. 15 Vgl. Anm. 8. 16 RL Nr. 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. L 204/23. 17 Vgl. Anm. 4. 18 Mit Ausnahme der RL Nr. 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004, ABl. L 373/37, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 13 Abs. 1 EGV findet. 19 Ausführlich dazu Langenfeld (Anm. 1), 150 ff.; zum Erfordernis des „Marktbezugs“ vgl. W. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Anm. 1), Art. 94, Rdnr. 8 f.

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der Gleichbehandlung von Mann und Frau erweiterte. Damit wurden alle Zweifel ausgeräumt, ob die Gemeinschaft über eine Zuständigkeit im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter überhaupt verfügt. Art. 141 Abs. 3 EGV ist auch im Zusammenhang mit Art. 13 EGV zu sehen, der der Gemeinschaft die Möglichkeit eröffnet, Antidiskriminierungsmaßnahmen zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen20 zu ergreifen. Art. 13 EGV diente als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Richtlinie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen,21 die das Diskriminierungsverbot über den Bereich von Beschäftigung, Beruf und sozialer Sicherheit hinaus auf weite Teile des privaten Rechtsverkehrs erstreckt. Die Zuständigkeit des Art. 13 EGV ist zwar auf den Anwendungsbereich des Vertrages begrenzt, dennoch macht die Norm einmal mehr deutlich, dass die EG weit über ihre ursprünglich überwiegend wirtschaftlichen Zielsetzungen hinausgewachsen ist. Sie ist nicht mehr nur Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch soziale und politische Gemeinschaft, der bestimmte gemeinsame Wertvorstellungen zugrunde liegen. Hierzu gehört unzweifelhaft auch das Diskriminierungsverbot. Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau hat entsprechend dieser Entwicklung eine kontinuierliche Aufwertung erfahren, die sich auch im Primärrecht niedergeschlagen hat. Art. 2 EGV nennt die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau als eine der Aufgaben der Gemeinschaft und Art. 3 Abs. 2 EGV verpflichtet Letztere, im Rahmen ihrer gesamten Tätigkeit auf die Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau hinzuwirken (Querschnittsklausel).

II. Weitere Regelungen zur Gleichbehandlung von Mann und Frau in Europa Gemäß Art. 23 der rechtlich noch unverbindlichen Grundrechtecharta ist die „Gleichheit von Männern und Frauen (…) in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen.“22 Diese Be20 Als Anknüpfungspunkte von Antidiskriminierungsmaßnahmen nennt Art. 13 EGV das Geschlecht, die Rasse, die ethnische Herkunft, die Religion, die Weltanschauung, eine Behinderung, das Alter und die sexuelle Ausrichtung. Vgl. dazu auch die RL Nr. 2000/43/EG vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 180/22; RL Nr. 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmes für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303/16. 21 Vgl. Anm. 18. 22 Abgedruckt in ABl. EG Nr. C 364 v. 18.12.2000. In leicht abgeänderter Fassung bildet die Charta den Teil II des Verfassungsvertrages der Europäischen Union, vgl. dazu und zum System des Verfassungsvertrages R. Pirstner-Ebner, Neue Gemeinschaftsrechtsentwicklung

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stimmung weist einen deutlichen Bezug zu Art. 2 und Art. 3 Abs. 2 EGV sowie zu Art. 141 Abs. 1 und Abs. 3 EGV auf. Art. 23 Abs. 2 übernimmt in einer kürzeren Formulierung den Art. 141 Abs. 4 EGV, der positive Maßnahmen zugunsten des benachteiligten Geschlechts zulässt. Das in Art. 21 Charta verankerte Diskriminierungsverbot führt als eines der verpönten Merkmale auch das Geschlecht an. Regelungen über die Gleichbehandlung von Männer und Frauen finden sich auch in der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK). Art. 14 EMRK enthält ein abgeleitetes Diskriminierungsverbot hinsichtlich der in der EMRK garantierten Rechte.23 Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK24 normiert ein den Art. 14 EMRK ergänzendes25 allgemeines Diskriminierungsverbot, welches die Geltung des Verbots der geschlechtsspezifischen Diskriminierung für sämtliche Bereiche des innerstaatlichen Rechts statuiert. Der entscheidende Unterschied ist die Unabhängigkeit des Diskriminierungsverbots von anderen Konventionsrechten; auch Diskriminierungen im Zusammenhang mit Rechten, die die Konvention als solche nicht schützt, sind damit verboten.26 Adressat dieser Diskriminierungsverbote ist zunächst der Staat. Aus Sicht des Bürgers bilden sie, wie die Grundrechte des Grundgesetzes, Abwehrrechte gegen hoheitliche Maßnahmen. Eine unmittelbare Drittwirkung kommt ihnen nicht zu; inwieweit sie eine Verpflichtung des Staates begründen, Maßnahmen zur Verhinderung oder Entschädigung jeglicher Diskriminierungen durch Private zu ergreifen, ist nicht eindeutig. Aus den Begründungserwägungen zu Art. 1 Abs. 1 ZP 12 lässt sich entnehmen, dass eine entsprechend staatliche Schutzpflicht jedenfalls in krassen Fällen, d.h. etwa dann, wenn es um die Sicherung des diskriminierungsfreien Zugang zum privaten Arbeits- oder Wohnungsmarkt oder den Zugang zu Leistungen der Daseinsvorsorge geht, zumindest nicht völlig ausgeschlossen ist.27 Ebenfalls ungeklärt ist die Frage, wo die Grenzen der Zulässigkeit positiver Maßnahmen zum Abbau von Benachteiligunim Bereich des Gender Mainstreaming, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2004, 205–209, 206. 23 Ausführlich dazu D. König/A. Peters, Das Diskriminierungsverbot, in: R. Grote/T. Marauhn, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 21. 24 Der Text des Protokolls und der amtlichen Begründung sind abrufbar über die Internetseite des Europarats zu den Konventionen: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ QueVoulezVous.asp?NT=177&CM=8&DF= 11/6/2006&CL=GER; die Unterzeichnung des Protokolls erfolgte am 4.11.2000. 25 Hierzu Ziff. 33 der amtlichen Begründung, zum Textnachweis s.o. Anm. 24. 26 Ausführlich zum 12. Zusatzprotokoll der EMRK M. Wittinger, Die Gleichheit der Geschlechter und das Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2001, 272–279 (278 f.). 27 Explanatory Report, §§ 26–28; näher dazu König/Peters (Anm. 23), Rdnr. 88.

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gen der bisher zurückgesetzten Gruppe verlaufen.28 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierzu bislang noch nicht judiziert.

C. Rolle des EuGH Nicht selten nahm der EuGH die Gleichstellungsproblematik zum Anlass, grundlegende Fragen des Gemeinschaftsrechts, seiner Wirkungsweise und seines Verhältnisses zum nationalen Recht zu klären. Die Rechtsprechung des EuGH hat erheblich zur effektiven Durchsetzung der Gleichbehandlung von Mann und Frau in den Mitgliedstaaten beitragen; insofern ist es sicher richtig, den EuGH als Motor für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Europa zu bezeichnen. Am Beispiel ausgewählter Probleme soll diese These im Folgenden untermauert werden. Zugleich soll aber auch ein kritischer Blick auf die – jüngere – Rechtsprechung geworfen werden, die deutlich macht, dass nicht alles, was „gut gemeint“ ist, dem allseits konsentierten Ziel der effektiven Durchsetzung der Gleichbehandlung von Mann und Frau auch wirklich zuträglich ist.

I. Diskriminierungsbegriff und Rechtfertigung 1. Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn Frauen und Männer aufgrund ihres Geschlechts unterschiedlich behandelt werden.29 Die Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung kommt grundsätzlich nicht in Betracht.30 Hingegen 28

Gleichwohl ist die Beantwortung der Fragen auch für die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts von außerordentlicher Bedeutung, da die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der früheren Europäischen Menschenrechtskommission einen starken Einfluss auf die Grundrechtsinterpretation auf der Ebene der EG ausüben. Zur Frage der Zulässigkeit positiver Förderungsmaßnahmen vgl. M. Wittinger (Anm. 26), 279; König/Peters (Anm. 23), Rdnr. 75 f. 29 Krebber (Anm. 1), Rdnr. 40; eine Legaldefinition findet sich in Art. 2 Abs. 2 RL Nr. 2002/73/EG. 30 Die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-19/02, Hlozek, ZESAR 2005, 335, brachte insofern keine Klarstellung, da der Gerichtshof für den in Rede stehenden Sozialplan, der die Zahlung eines Überbrückungsgeldes vorsah, hierbei jedoch ein unterschiedliches Zugangsalter von Männern und Frauen (parallel zum Pensionsanfallalter) bestimmte, bereits nicht als tatbestandliche Diskriminierung begriff und folglich die Prüfung einer möglichen Rechtfertigung nicht mehr erforderlich war. Vgl. hierzu auch die Anmerkung von R. Resch, ZESAR 2005, 341 f.

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setzt eine mittelbare Diskriminierung eine solche unmittelbare Anknüpfung an das Geschlecht gerade nicht voraus; ausreichend ist, dass an eine Unterscheidung anknüpfende Merkmale faktisch bestimmte Persongruppen betreffen.31 Für die Tragweite des Art. 141 Abs. 1 EGV und der Gleichbehandlungsrichtlinien ist es von erheblicher Bedeutung, den Begriff der „mittelbaren Diskriminierung“ klar zu definieren, was insbesondere in der praktischen Anwendung nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet.32 Der Gerichtshof befasste sich erstmals in der Rechtssache Jenkins33 mit einem Fall mittelbarer Diskriminierung Es ging darum, ob die Zahlung niedrigerer Stundensätze an Teilzeitbeschäftigte gegen Art. 141 Abs. 1 EGV (Art. 119 a.F.) verstößt. Die mittelbare Diskriminierung ergab sich aus dem Umstand, dass ein erheblich höherer Prozentsatz der weiblichen Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigt war und infolgedessen nicht in den Genuss des vollen Stundensatzes kam. Hierin liegt nach Ansicht des Gerichtshofs dann ein Verstoß gegen Art. 141 EGV (Art. 119 a.F.), „wenn – unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die die weiblichen Arbeitnehmer haben, diese Mindeststundenzahl pro Woche leisten zu können – die Lohnpolitik des betreffenden Unternehmens nicht durch Umstände zu erklären ist, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschließen.“34 31 Vgl. R. Zimmer, Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien Teil I, AIB 2004, 142–147 (144). 32 Vgl. hierzu H. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz zum Verbot der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben, 1985, 111 ff.; G. Kyriazis, Die Sozialpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Bezug auf die Gleichberechtigung männlicher und weiblicher Erwerbstätiger, 1990, 83 ff.; Langenfeld (Anm. 1), 211 ff.; K. J. Bieback, in: H. v. d. Groeben. (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003, Art. 141, Rdnr. 51 ff.; G. Haverkate/S. Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, Rdnr. 701 ff.; E. Ellis, European Community Sex Equality Law, European Law Review 1994, 563. 33 EuGH, Rs. 96/80, Jenkins, Slg. 1981, 911 ff. 34 Ebd. 926, Rdnr. 13. Weitere Beispiele zur mittelbaren Diskriminierung im Entgeltbereich: EuGH, Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607, 1626, Rdnr. 24 ff. – Ausschluss der Teilzeitbeschäftigten von der Betriebsrente; Rs. 237/85, Rummler/Dato-Druck, Slg. 1986, 2101, 2115, Rdnr. 17 – ein Geschlecht einseitig begünstigende Ausgestaltung eines beruflichen Einstufungssystems; Rs. 171/88, Rinner-Kühn, Slg. 1989, 2743, 2761, Rdnr. 16 – keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Beschäftigte, deren Arbeitszeit wöchentlich 10 Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt; Rs. C-33/89, Kowalska, Slg. I1990, 2591, 2611, Rdnr. 13 – keine Zahlung von Übergangsgeld an Teilzeitbeschäftigte bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses; Rs. C-184/89, Nimz, Slg. I-1991, 297, 319, Rdnr. 12 – unterschiedliche Dauer der Betriebszugehörigkeit als Voraussetzung für den Bewährungsaufstieg; Rs. C-360/90, Bötel, Slg. I-1992, 3589, 3614, Rdnr. 27; Rs. 457/93, Lewark,

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In der Rechtssache Helmig35 hatte der EuGH die Frage zu entscheiden, ob Art. 141 EGV einer tarifvertraglichen Regelung entgegensteht, die die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreiten der tarifvertraglich für Vollzeitbeschäftigte festgelegten Regelarbeitszeit vorsah. Teilzeitbeschäftigte erhielten danach bei Überschreitung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit keine Überstundenzuschläge, sofern die Arbeitsleistung innerhalb der Regelarbeitszeit erbracht wurde. Da eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Höhe der Gesamtvergütung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten nicht gegeben war, lag in einer solchen Regelung nach Ansicht des Gerichtshofs kein Verstoß gegen Art. 141 EGV.36 Fasst man die sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenden Kriterien für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung zusammen, so ergibt sich Folgendes:37 Erstens knüpft die in Rede stehende Maßnahme formal nicht an das Geschlecht, sondern an geschlechtsunspezifische Merkmale an (z.B. Teilzeitarbeit, geringfügige Arbeit, Dauer der Betriebszugehörigkeit). Zweitens werden durch eine Regelung erheblich mehr Angehörige eines Geschlechts tatsächlich nachteilig Slg. 1996, I-243, Rdnr. 22 f. – Lohnfortzahlung während der Freistellung für eine Betriebsratsschulung nur für die vertragliche geschuldete Arbeitszeit, nicht aber für die Gesamtdauer der Veranstaltung; Rs. C-278/93, Freers und Speckmann, Slg. 1996, I-1165, Rdnr. 20; Rs C-187/00, Kutz-Bauer, Slg.2003, I-2741 ff. – mittelbare Diskriminierung im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses hinsichtlich Altersteilzeitregelungen. Zur Kritik an dieser Rechtsprechung statt vieler M. Schlachter, Grundsatz des gleichen Entgelts nach Artikel 119 EG-Vertrag und der Richtlinie 75/117/EWG, in: H. Oetker/U. Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, B 4100, Rdnr. 21 f.; Zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur mittelbaren Diskriminierung vgl. nur BAG, EuZW 1992, 772. 35 EuGH, Rs. C-399/ 92, Stadt Lengerich/Helmig, Slg. 1994, I-5727, 5738; ein Verstoß gegen Art. 141 EGV liegt dem Grunde nach jedoch vor, wenn eine Regelung die Entlohnung von Überstunden von dem Erreichen einer bestimmten Anzahl von Überstunden abhängig macht, diese Regelung unterschiedslos auf Voll- und Teilzeitbeschäftigte angewendet wird und infolgedessen dazu führt, das eine Teilzeitkraft prozentual gesehen mehr Stunden leisten muss, um eine Vergütung zu erhalten, als eine Vollzeitkraft, vgl. EuGH, Rs. C-285/02, Elsner-Lakeberg, EuZW 2004, 476 ff. 36 EuGH (Anm. 35), 5727, 5754, Rdnr. 26 ff.; Generalanwalt Darmon hatte hilfsweise vorgeschlagen, eine objektive Rechtfertigung der Regelung unter Bezugnahme auf die erhöhte körperliche Inanspruchnahme und den Verlust an Freizeit für den betroffenen Arbeitnehmer anzunehmen, ebd., 5735, Rdnr. 43. 37 Ausführlich hierzu Haverkate/Huster (Anm. 32), Rdnr. 701 ff.; Bieback (Anm. 32), Rdnr. 52; I. Kalisch, Die Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht, 1999, Rdnr. 62 ff.; vgl. auch die Legaldefinition in Art. 2 Abs. 2 RL Nr. 2002/73/EG.

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betroffen.38 Drittens können die nachteiligen Auswirkungen für ein Geschlecht nicht mit anderen Gründen als denen des Geschlechts bzw. der Geschlechterrollen erklärt werden (zusätzliche Kausalitätsprüfung).39 Dieses Merkmal dient auch zum Ausschluss zufälliger statistischer Ergebnisse, die ansonsten die Vermutung für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung begründen würden.

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Beispiel: Ein Betrieb, der Teilzeitbeschäftigte von der betrieblichen Altersversorgung ausschließt, beschäftigt 1000 Männer und 100 Frauen. 10 % der Männer (100) und 75 % der Frauen (75) leisten Teilzeitarbeit. Absolut gesehen sind zwar weniger Frauen als Männer von der Benachteiligung betroffen. Im Verhältnis zu ihrem Anteil an den Beschäftigten des Betriebs werden aber erheblich mehr Frauen benachteiligt als Männer (3/4 der Frauen, 1/10 der Männer). Zu dieser Methode der Beurteilung EuGH, Rs. C-167/97, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 59. Ähnlich geht auch das BAG vor: Es teilt die Gesamtheit der Adressaten in zwei Vergleichsgruppen. Danach wird das Geschlechterverhältnis in der nicht negativ betroffenen Gruppe mit dem in der benachteiligten Gruppe verglichen. Weichen beide stark voneinander ab, liegt eine geschlechtsspezifische Differenzierung und Benachteiligung vor. Insgesamt kommt es also auf die proportionale Betroffenheit an, da die absoluten Zahlen nicht hinreichend aussagekräftig sind; vgl. BAG AP Nr. 11 zu Art. 119 EWGV Bl. 367 R. – Nachfolgeentscheidung zu Bilka, BAG AP Nr. 28 zu § 23 BAT. Welches Zahlenverhältnis als hinreichend für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung betrachtet werden kann, ist nicht eindeutig. Nach der hier vertretenen Auffassung ist auch bei einer relativ geringfügigen negativen Auswirkung das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung nicht von vornherein ausgeschlossen, so aber EuGH, Rs. C.167, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 60 f.; Rs. 50/96, Lilli Schröder, Slg. 2000, I-743, 786, Rdnr. 28. Hier kommt es auf den Einzelfall an, etwa das Ausmaß der Ungleichbehandlung, vgl. auch Bieback (Anm. 32), Rdnr. 74. In der Rechtssache Barber hat der EuGH darüber hinaus betont, dass die nachteilige Betroffenheit des einen Geschlechts hinsichtlich jedes einzelnen Bestandteils eines Leistungssystems zu prüfen sei, da eine hinreichende Kontrolle durch die nationalen Gerichte auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung (wegen mangelnder Transparenz des Gesamtsystems) nicht ohne weiteres möglich sei, vgl. EuGH, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, 1953, Rdnr. 31 ff.; Rs. C-252/88, Danfoss, Slg. 1989, 3199, Rdnr. 17 ff.; Rs. C-236/98, Jämställdhetsombudsmannen, Slg. 2000, I-2189, 2220, Rdnr. 43. 39 I. Ebsen, Zur Koordinierung der Rechtsdogmatik beim Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Verfassungsrecht, Recht der Arbeit (RdA) 1993, 11; BAGE 53, 161; BAG, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 1992, 25; wohl auch H. Pfarr, AP Nr. 10 und 11 zu Art. 119 EWGV unter Nr. 5 (Bl. 9); a.A. D. Schiek, Zweites Gleichberechtigungsgesetz für die Privatwirtschaft, 1995, Rdnr. 30 f.; N. Colneric, Verbot der Frauen-Diskriminierung im EG-Recht – Bilanz und Perspektiven, in: W. Däubler/M. Bobke/K. Kehrmann (Hrsg.), Festschrift für A. Gnade, 1992, 627, 640.

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2. Rechtfertigung der Diskriminierung Eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liegt nach der vom EuGH als Standardformel verwendeten Definition dann vor, wenn die streitige Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Diese Definition ist nunmehr auch ausdrücklich in den neueren Instrumenten zur Geschlechtergleichbehandlung normativ verankert worden.40 Eine Ungleichbehandlung kann dann gerechtfertigt sein, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaates dienen, um dessen Rechtsvorschriften es geht, und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.41 Diese Formel hat der Gerichtshof auch außerhalb des Sozialrechts zur Anwendung gebracht.42 Für den Bereich des Arbeitsrechts stellt der EuGH ebenfalls auf die zitierte Standardformel ab, wobei es allerdings hier – je nach in Rede stehender Maßnahme – auf ein „wirkliches Bedürfnis des Unternehmens“ ankommt.43 Bei näherer Betrachtung handelt es also um einen Abwägungsprozess, in dessen Rahmen das Interesse an der Gleichbehandlung und der Zweck der Maßnahme, die faktisch ein Geschlecht stärker betrifft, in Hinblick auf die Erreichung eines bestimmten Zieles einander gegenüber zu stellen sind. Hierzu sind wegen der damit verbundenen Würdigung des Sachverhalts die betroffenen nationalen Gerichte berufen.44 Die vom EuGH insoweit entwickelten allgemeinen Grundsätze lassen allerdings bislang keine klare Linie erkennen.45

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Vgl. Art. 2 Abs. 2 2. Spiegelstrich der Richtlinie zur Änderung der Gleichbehandlungsrichtlinie (Anm. 4); Art. 2 Abs. 1 b) der konsolidierten Gleichbehandlungsrichtlinie 2006 (Anm. 16). 41 Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH nur Rs. C-444/93, Megner u. Scheffel, Slg. 1995, I-4741, 4754, Rdnr. 24; Rs. C-280/94, Postuma-van Damme, Slg. 1996, I-179, Rdnr. 24; Rs. C-167/97, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 68. 42 EuGH, Rs. 79/99, Julia Schnorbus, EuZW 2001, 58, Rdnr. 44 f., zur objektiven Rechtfertigung der bevorzugten Aufnahme von Personen, die den Wehr- oder Ersatzdienst abgeleistet haben, in den Juristischen Vorbereitungsdienst. Die objektive Rechtfertigung sah der Gerichtshof hier im Ausgleich der durch die Inpflichtnahme der wehrfähigen Männer erlittenen zeitlichen Verzögerungen. 43 Vgl. dazu auch die ähnliche Formulierung in Art. 2 der Richtlinie über die Beweislast bei Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts (Anm. 8); dazu näher M. Schlachter, Richtlinie über die Beweislast bei Diskriminierungen, RdA 1998, 321, 323. 44 Ständige Rechtsprechung, vgl. nur EuGH, Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607, 1628, Rdnr. 36; Rs. C-1/95, Gerster, Slg. 1997, I-5253, Rdnr. 35. 45 Ebenso Bieback (Anm. 32), Rdnr. 81.

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Die Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten mit der Begründung, einen Anreiz zur Vollzeitbeschäftigung geben zu wollen, kann im Einzelfall objektiv gerechtfertigt sein.46 Dasselbe gilt für Lohnzuschläge für Flexibilität, Mobilität und Berufsausbildung, die – wegen der für weibliche Arbeitnehmer bestehenden Schwierigkeiten, diese Anforderungen zu erfüllen – überwiegend männliche Arbeitnehmer begünstigen. Allerdings ist jeweils bezogen auf die einzelnen Kriterien festzustellen, ob ein entsprechender Lohnzuschlag durch die unterschiedlichen Anforderungen des Arbeitsplatzes geboten ist.47 Dies gilt auch in Bezug auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit als Voraussetzung für den Bewährungsaufstieg.48 Im Gefolge der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Nimz stellte das BAG fest, dass die generelle Differenzierung zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten beim Bewährungsaufstieg nicht sachlich begründet ist.49 Für die objektive Rechtfertigung von diskriminierenden Gehaltsunterschieden genügt es grundsätzlich nicht, als Umstand anzuführen, dass die jeweiligen Gehälter im Rahmen kollektiver Vereinbarungen festgelegt worden sind, die innerhalb eines Unternehmens von denselben Parteien abgeschlossen wurden.50 Allerdings kann die höhere Entlohnung bestimmter Tätigkeiten in Hinblick auf die Notwendigkeiten des Arbeitmarktes, selbst wenn Frauen davon überwiegend nachteilig betroffen sind, gerechtfertigt sein.51 Keine Diskriminierung stellt auch die Befreiung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungspflicht dar, da sie der Förderung der geringfügigen Beschäftigung und der Bekämpfung der Gefahr illegaler Beschäftigungsformen dient.52 Objektiv gerechtfertigt ist auch eine nationale Bestimmung wie § 23 Abs. 1 Satz 3 des deutschen Kündigungsschutz-

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EuGH, Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607, 1628, Rdnr. 37. EuGH, Rs. 109/88, Danfoss, Slg. 1989, 3199, 3226, Rdnr. 17 ff. 48 EuGH, Rs. C-184/89, Nimz, Slg. I-1991, 297, 318, Rdnr. 7 ff.; in diesem Sinne auch EuGH, Rs. C-1/95, Gerster, Slg. 1997, I-5253, 5287, Rdnr. 42, in Bezug auf die Berechnung des Dienstalters, in deren Rahmen die Beschäftigungszeit von Teilzeitbeschäftigten nur anteilig berücksichtigt wird (mittelbare Diskriminierung i.S.d. Gleichbehandlungsrichtlinie). 49 BAG, EuZW 1994, 227, in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung. Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Rs. C-100/95, Kording, Slg. 1997, I-5289, 5300, Rdnr. 27, in Bezug auf die Berechnung der praktischen Tätigkeit als Voraussetzung für die Befreiung von der Steuerberaterprüfung (mittelbare Diskriminierung i.S.d. Gleichbehandlungsrichtlinie), sowie EuGH, Rs. C-243/95, Hill, Slg. 1998, I-3739, 3772, Rdnr. 44, in Hinblick auf das Kriterium der tatsächlichen Arbeitszeit für die Berechnung des Gehaltes im Gefolge des Wechsels von einer Teilzeit- auf eine Vollzeitstelle. 50 EuGH, Rs. C-127/92, Enderby, Slg. 1993, 5535, 5574, Rdnr. 22. 51 Ebd., 5575, Rdnr. 26. 52 EuGH, Rs. C-317/93, Nolte, Slg. 1995, I-4625. 47

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gesetzes (KSchG),53 die bei der Feststellung, ob ein Unternehmen der Kündigungsschutzregelung unterliegt, Arbeitnehmer nicht berücksichtigt, die wöchentlich nur zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden oder weniger arbeiten, sofern die Regelung den Zweck hat, die den kleinen Unternehmen auferlegten Lasten zu erleichtern. Der EuGH folgert dies aus Art. 137 Abs. 2 Satz 2 EGV, wonach für derartige Unternehmen besondere wirtschaftliche Regelungen getroffen werden können.54 Keine verbotene Diskriminierung i. S. der Gleichbehandlungsrichtlinie sah der Gerichtshof auch in § 1 Abs. 3 KSchG in seiner bisherigen Auslegung durch das BAG, wonach Vollzeitbeschäftigte bei der Kündigung von Teilzeitbeschäftigten mangels Vergleichbarkeit nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen sind.55 Zutreffend geht der EuGH von einer mangelnden Vergleichbarkeit von Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätzen aus.56 Demgegenüber sind rein haushaltspolitische Erwägungen grundsätzlich nicht geeignet, eine mittelbare Geschlechtsdiskriminierung im sozialpolitischen Bereich zu rechtfertigen,57 wohl aber konkrete finanzielle Steuerungsmaßnahmen, etwa zur Sicherung des Zugangs der Allgemeinheit zu fachärztlicher Behandlung,58 und Maßnahmen im Rahmen des Wandels von einem allgemeinen Sicherungssystem für alle Staatsbürger zu einem System der Sicherung von Einkommensverlusten, in dessen Rahmen eine Einkommenssicherung erst dann gewährt wird, wenn vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein „Mindesteinkommen“ erzielt worden ist.59 Wiederholt hat der Gerichtshof in sozialrechtlichen Verfahren den weiten Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten in Hinblick auf die Art der konkreten Schutzmaßnahmen und der konkreten Einzelheiten ihrer Durchführung betont. Zur Begründung bezieht sich der EuGH auf die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzordnung, die die sozialpolitischen Zuständigkeiten – auch nach dem In-Kraft53

BGBl. 1969 I, 1317 i.d.F. des Gesetzes vom 24.12.2003, BGBl. I, 2003. EuGH, Rs. C-189/91, Kirsammer-Hack, Slg. 1993, I-6185, 6223, Rdnr. 34; der EuGH war auf den Gesichtspunkt der objektiven Rechtfertigung im Grunde nur hilfsweise eingegangen, da seiner Auffassung nach nicht nachgewiesen werden konnte, dass die unter die Regelung in § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG fallenden Unternehmen erheblich mehr Frauen als Männer beschäftigen. Damit sei eine mittelbare Diskriminierung i.S.d. Gleichbehandlungsrichtlinie von vornherein nicht gegeben, 6223, Rdnr. 30 f. 55 EuGH, Rs. C-322/98, Kachelmann, EuZW 2000, 691, Rdnr. 35 56 Dogmatisch wäre es deswegen überzeugender gewesen, das Vorliegen einer Ungleichbehandlung bereits aus diesem Grunde von vornherein abzulehnen und nicht erst auf der Ebene der objektiven Rechtfertigung. 57 EuGH, Rs. C-343/92, Roks, Slg. 1994, I-571, 600, Rdnr. 35; Rs. C-226/98, Jorgensen, Slg. 2000, I-2447, 2481, Rdnr. 39. 58 EuGH, Jorgensen (Anm. 57), 2482, Rdnr. 40. 59 EuGH, Rs. C-280/94, Posthuma-van Damme, Slg. 1996, I-179, Rdnr. 27. 54

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Treten des Amsterdamer Vertrages – immer noch weitgehend in der Hand der Mitgliedstaaten belässt.60 Darüber hinaus hat der EuGH sowohl für die Frage der ungleichen Betroffenheit eines Geschlechts als auch für die Frage der objektiven Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme oder Regelung stets hervorgehoben, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte sei, das Vorliegen dieser Umstände im Einzelfall zu prüfen.61 Vereinzelt weicht der Gerichtshof von dieser Maxime allerdings ab, und zwar dann, wenn er konkret gefragt wird, ob eine bestimmte ungleiche Auswirkung oder ein bestimmter Prozentsatz ausreiche, eine ungleiche Behandlung zu begründen,62 oder ob ein bestimmter Grund als objektive Rechtfertigung in Betracht kommt.63

II. Diskriminierung bei Einstellung und Beförderung – Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des „Portoparagrafen“ Zur Umsetzung der RL Nr. 75/117/EWG und Nr. 76/207/EWG (sowie der RL Nr. 77/187/EWG) diente in Deutschland das Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz und über die Erhaltung von Ansprüchen beim Betriebsübergang.64 In einem Verfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik entschied der EuGH, dass die Richtlinie durch diese Vorschriften sowie durch Art. 3 und 33 GG im Wesentlichen korrekt in nationales Recht umgesetzt 60 Vgl. EuGH, Rs. C-317/93, Nolte, Slg. 1995, I-4625 4660, Rdnr. 33; Rs. C-8/94, Laperre, Slg. 1996, I-243, Rdnr. 18; sehr deutlich EuGH, Rs. 322/98, Kachelmann, EuZW 2000, 691, 692 f., Rdnr. 30 ff.; der Gerichtshof spricht hier von einem „sachgerechten Gestaltungsspielraum“; kritisch zur Zurückhaltung des EuGH bei der Prüfung des Vorliegens einer objektiven Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung, insbesondere im Bereich der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme Bieback (Anm. 32), Rdnr. 117 ff.; Kalisch (Anm. 37), 80 ff. 61 EuGH, Rs. C-1/95, Gerster, Slg. 1997, I-5253, 5258; Rs. C-100/95, Kording, Slg. 1997, I-5289, 5298; Rs. C-167/97, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 61 f., 67 ff. 62 EuGH, Rs. C-167/97, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 59 ff. 63 EuGH, Rs. C-317/93, Nolte, Slg. 1995, I-4625, 4660, Rdnr. 34 ff.; Rs. C-444/93, Megner und Scheffel, Slg. 1995, I-4741, 4755, Rdnr. 27 ff.; Rs. C-100/95, Kording, Slg. 1997, I-5289, 5300, Rdnr. 27; Rs. C-167/97, Seymour-Smith, Slg. 1999, I-623, Rdnr. 67 ff.; kritisch dazu unter Hinweis auf die Gefahr, dass der Gerichtshof den jeweiligen nationalen Kontext nicht hinreichend würdigt, Haverkate/Huster (Anm. 32), Rdnr. 726; Bieback (Anm. 32), Rdnr. 135. 64 Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz v. 13.8.1980, BGBl. I, 1380; vgl. dazu R. A. Eich, Das Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1980, 2339 ff.

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worden ist.65 Kritisiert wurde allerdings der Mangel an Transparenz hinsichtlich der in Art. 2 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 der RL Nr. 76/207/EWG angesprochenen, vom Gleichbehandlungsgrundsatz ausgenommenen beruflichen Tätigkeiten. Darüber hinaus hatte der EuGH bereits 1984 darauf hingewiesen, dass Art. 6 der Richtlinie eine angemessene Sanktion bei Verstößen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung erfordert.66 Entscheide sich ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung der Richtlinie für den Schadensersatz als Sanktion, müsse dieser in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen und über einen symbolischen Betrag wie den Ersatz der Bewerbungskosten hinausgehen. Von der Höhe der Entschädigung müsse eine abschreckende Wirkung ausgehen. Andererseits könne Art. 6 der Richtlinie keine bestimmte inhaltliche Ausgestaltung der Sanktion bei Geschlechtsdiskriminierungen entnommen werden. Insoweit bleibe den Mitgliedstaaten (in den vom Gerichtshof aufgezeigten Grenzen) ein Beurteilungsspielraum. Der in § 611 a Abs. 2 BGB für die Fälle einer Diskriminierung bei Einstellung bzw. Aufstieg vorgesehene Ersatz des Vertrauensschadens („Portoparagraph“) genügte diesen Anforderungen ganz offensichtlich nicht. Die Bundesregierung hatte in dem o.g. Verfahren vor dem Gerichtshof allerdings vorgetragen, dass der § 611 a Abs. 2 BGB die Anwendung der allgemeinen Bestimmungen zum Schadensersatz aus den §§ 823 ff. BGB nicht ausschließe, eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts demzufolge möglich sei67 Demgegenüber nahm das Bundesarbeitsgericht in der Folgezeit bei einer geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlung eines Bewerbers eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an, die nach den §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB a.F. zum Ersatz des immateriellen Schadens führte. Dieser wurde im Normalfall mit einem Monatsverdienst beziffert.68 Insgesamt bestand aber eine erhebliche Unsicherheit hinsichtlich 65

EuGH, Rs. 248/83, Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 1459, 1488 f., Rdnr. 46 ff.; Sofern dem Einzelnen infolge der mangelhaften Umsetzung einer Gleichbehandlungsrichtlinie ein Schaden entstanden ist, ist stets auch die Geltendmachung von Schadensersatz gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat in Betracht zu ziehen. Insoweit gelten die vom Gerichtshof in den Rs. C-6/90 und 9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357 ff., und C-46/93, 48/93, Brasserie du pecheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 ff., ausgesprochenen allgemeinen Grundsätze. 66 Vgl. EuGH, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, 1907, Rdnr. 18 f., und Rs. 79/83, Harz, Slg. 1984, 1921, 1941, Rdnr. 23; vgl. hierzu M. Zuleeg, Gleicher Zugang von Männern und Frauen zu beruflicher Tätigkeit, RdA 1984, 325; D. Curtin, Effective Sanctions and the Equal Treatment Directive, Common Market Law Review 1989, 505. 67 Zuleeg (Anm. 66), 329 ff.; a.A. G. Nicolaysen, Richtlinienwirkung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zum Beruf, EuGH-Urteil vom 10.4.1984 – Rs. 14/83 und Rs. 79/84, Europarecht 1984, 380, 384; Langenfeld (Anm. 1), 202 ff. 68 BAG, Juristenzeitung 1991, 43; Langenfeld (Anm. 1), 205; zur Rechtsprechung der deutschen Gerichte im Gefolge der EuGH-Rechtsprechung vgl. Schiek (Anm. 39), Rdnr. 85.

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der Gewährung von Schadensersatz bei Geschlechtsdiskriminierungen bei Einstellung und Beförderung.69 Diese wurde erst durch den Erlass des 2. Gleichberechtigungsgesetzes vom 24.6.199470 mit einer Änderung des § 611a Abs. 2 BGB beseitigt. Bei einer Verletzung des Benachteiligungsverbotes ist nunmehr eine angemessene Entschädigung in Geld in Höhe von höchstens drei Monatsverdiensten vorgesehen. Der Schadensersatzanspruch wird jedem durch einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot benachteiligten Bewerber gewährt. Geschützt wird danach nicht nur die Einstellungschance des bestqualifizierten Bewerbers, sondern der Anspruch jedes Bewerbers auf eine diskriminierungsfreie Durchführung des Auswahlverfahrens. Ein Anspruch auf Einstellung bzw. Aufstieg besteht jedoch nicht.71 Voraussetzung der Entschädigung war nach dem ursprünglichen Wortlaut von § 611 a Abs. 2 BGB weiter, dass der Arbeitgeber die Diskriminierung zu vertreten hatte.72 Mittlerweile hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Arbeitgeber auch dann haftet, wenn er die Diskriminierung nicht verschuldet hat.73 Jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot reicht danach für sich genommen aus, um die volle Haftung des Arbeitgebers auszulösen.74 Der Gesetzgeber hat § 611 a Abs. 2 BGB zwischenzeitlich entsprechend angepasst.75

69 In der Rs. C-177/88, Dekker, Slg. I-1990, 3941, 3976, Rdnr. 24, hat der EuGH festgestellt, dass eine Haftung des Arbeitgebers bei Diskriminierungen verschuldensunabhängig sein muss. 1993 hatte der Gerichtshof über die Vereinbarkeit der nach britischem Recht vorgesehenen Entschädigungsregelung bei Entlassungen mit Art. 6 der Richtlinie zu befinden. Die einschlägige Regelung sah eine Obergrenze für den zu leistenden Schadensersatz sowie einen Ausschluss der Verzinsung der Schadensersatzforderung vor. Der Gerichtshof sah hierin einen Verstoß gegen Art. 6: Eine a priori festgelegte Obergrenze sei nicht geeignet, einen angemessenen Schadensersatz in jedem Einzelfall zu gewährleisten. Im Falle einer diskriminatorischen Entlassung sei vielmehr der tatsächlich entstandene Schaden einschließlich der seitdem aufgelaufenen Zinsen, die Bestandteil des Schadensersatzes seien, zu ersetzen. Insoweit sei Art. 6 der RL auch unmittelbarer Wirkung fähig, vgl. EuGH, Rs. C-271/91, Marshall II, Slg. 1993, I-4367, 4408 ff., Rdnr. 27 ff. 70 BGBl. I, 1406; vgl. dazu auch Schiek (Anm. 39), Rdnr. 81 ff. 71 § 611a Abs. 2 BGB stellt damit eine Ausnahme zu den allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts dar, wonach der entstandene Schaden grundsätzlich in Form der Naturalrestitution zu gewähren ist. Kritisch dazu E. Kocher, Gleichstellung von Männern und Frauen, AIB 2004, 654–659 (658). 72 Zu dieser Problematik Schiek (Anm. 39), Rdnr. 91 ff. 73 EuGH, Rs. C-180/95, Draehmpael, Slg. I-1997, I-2195, 2220, Rdnr. 22. 74 Kritisch dazu R. Birk, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht I, 2000, § 19, Rdnr. 359. 75 BGBl. I 1998, 1694.

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Mit der Neuregelung durch das 2. Gleichberechtigungsgesetz sollte die Gewährung einer dem Einzelfall angemessenen Sanktion ermöglicht werden. Anzulegende Kriterien für die Berechnung der Höhe der Entschädigungssumme können Art und Schwere der Benachteiligung, Anlass und Beweggrund des Handelns des Arbeitgebers sowie das gemeinschaftliche Erfordernis einer abschreckenden Wirkung der Sanktion sein.76 Ursprünglich sah § 61 b Abs. 2 Arbeitsgerichtsgesetz77 noch eine Entschädigungsobergrenze für den Fall vor, dass mehrere Bewerber eine Entschädigung wegen Verletzung des Benachteiligungsverbotes geltend machen. In diesen Fällen war die Gesamtsumme der Entschädigung auf Antrag des Arbeitgebers auf 12 Monatsverdienste zu begrenzen. Der auf die einzelnen Anspruchsteller entfallende Anteil war – sofern erforderlich – entsprechend zu kürzen. Im Urteil Draehmpael78 stellte der Gerichtshof demgegenüber klar, dass eine derartige generelle Obergrenze jedenfalls dann gegen Art. 6 Gleichbehandlungsrichtlinie verstößt, wenn der diskriminierte Bewerber aufgrund besserer Qualifikation eingestellt worden wäre. Die Begrenzung des Schadensersatzes durch Höchstgrenzen ist allerdings dann zulässig, wenn der oder die Bewerber ohnehin wegen mangelnder oder nicht ausreichender Qualifikation nicht eingestellt worden wäre. Eine die Rechtsprechung des EuGH umsetzende Anpassung des § 611 a Abs. 2–4 BGB ist ebenfalls mittlerweile erfolgt.79 Neben dem Schadensersatzanspruch ergibt sich ein Anspruch auf Verzinsung der Entschädigungsforderung aus den allgemeinen Regeln (§ 246 BGB).

1. Quoten – Zur Vereinbarkeit von Maßnahmen positiver Diskriminierung mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht Art. 141 Abs. 4 EGV eröffnet den Mitgliedstaaten „in Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben“ die Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Dieser soll der Beibehaltung oder Einführung „spezifischer Vergünstigungen“ durch die Mitgliedstaaten nicht entgegenstehen, die der „Erleichterung der Berufstätigkeit der Frauen oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in ihrer beruflichen Laufbahn“ dienen. Nach der Streichung von Art. 2 Abs. 4 Gleichbehandlungsrichtlinie 1976, wonach Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen (…) beeinträchtigen“, als zulässig er76 77 78 79

Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 12/5468, 44. BGBl. I 1994, 1406. EuGH, Rs. C-180/95, Draehmpael, Slg. 1997, I-2195, 2224, Rdnr. 37. BGBl. I 1998, 1694.

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achtet wurden, ist Art. 141 Abs. 4 EGV der einzige gemeinschaftsrechtliche Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit von Quotenregelungen.80 Auf die Frage möglicher Widersprüche zwischen Art. 2 Abs. 4 Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 und Art. 141 Abs. 4 EGV kommt es daher nicht mehr an.81 Art. 141 Abs. 4 EGV geht auf Art. 6 Abs. 3 des nunmehr in den EGV integrierten Sozialabkommens82 zurück, ist aber inhaltlich weiter gefasst. Während der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 3 wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf die übrigen Absätze der Bestimmung auf den Nachteilsausgleich im Entgeltbereich beschränkt war, enthält Art. 141 Abs. 4 EGV eine derartige Beschränkung nicht. Nicht zuletzt wegen des systematischen Zusammenhangs mit Art. 141 Abs. 3 EGV ergibt sich, dass Art. 141 Abs. 4 EGV nicht nur Ausnahmen von der strikten Entgeltgleichheit zulässt, sondern allgemein für den Bereich des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik gilt.83 Art. 141 Abs. 4 EGV ist im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 3, der nur spezifische Vergünstigungen zugunsten von Frauen gestattete, geschlechtsneutral formuliert. Allerdings ist in diesem Zusammenhang die Erklärung Nr. 28 der Vertragsstaaten zu Art. 141 EGV zu berücksichtigen, wonach Maßnahmen nach Art. 141 Abs. 4 EGV „in erster Linie der Verbesserung der Lage der Frauen im Arbeitsleben dienen“ sollen. Man wird diese Erklärung als Leitlinie bei der Auslegung des Art. 141 Abs. 4 EGV, die Sinn und Zweck der Öffnungsklausel präzisiert, der in der Verbesserung der Situation der Frauen liegt, verstehen.84 Die Einführung bzw. Beibehaltung von spezifischen Vergünstigungen für Männer können mithin nur ausnahmsweise unter Berufung auf Art. 141 Abs. 4 EGV gerechtfertigt sein. Entsprechend dem Zweck von Art. 141 Abs. 4 EGV sind Fördermaßnahmen nur dann zulässig, wenn sie vorübergehender Natur und vor allen Dingen verhältnismäßig sind. Von der Regelung nicht gestattet sind darüber hinaus solche Maßnahmen, die die bestehende Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, die sich regelmäßig zu Lasten der Frauen auswirkt, als gegeben hinnehmen und damit

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Art. 2 Abs. 8 Gleichbehandlungsrichtlinie 2002 bzw. Art. 3 Gleichbehandlungsrichtlinie 2006 nehmen nur noch auf Art. 141 Abs. 4 EGV Bezug. 81 Ausführlich dazu C. Langenfeld, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Bd. II, Art. 141 (Stand 2002), Rdnr. 100 ff. 82 Abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 16 vom 12.2.1882, 113 ff.; zum Protokoll vgl. G. Schuster, Rechtsfragen der Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, EuZW 1992, 178. 83 Vgl. nur Krebber (Anm. 1), Rdnr. 80. 84 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 14 zur revidierten Gleichbehandlungsrichtlinie (Anm. 4) bzw. Erwägungsgrund Nr. 22 zur Konsolidierungsrichtlinie (Anm. 16).

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weiter festschreiben.85 Hingegen sind Maßnahmen zur „Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten (…)“ zulässig.86 Bereits im Jahre 1988 hatte der EuGH entschieden, dass der Zweck der Ausnahmebestimmung in Art. 2 Abs. 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 in der Zulassung von Maßnahmen bestehe, „die zwar nach ihrer äußeren Erscheinung diskriminierend sind, tatsächlich aber in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten beseitigen oder verringern sollen.“ Gleichzeitig betonte er den begrenzten Zweck der Ausnahmebestimmung.87 Erst später hatte der Gerichtshof Gelegenheit, sich ausdrücklich zur Frage der Zulässigkeit von Quotenregelungen zu äußern.88 Der diesbezügliche Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts,89 das in der angegriffenen Quotenregelung keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2, 3 und Art. 33 Abs. 2 GG sah, bezog sich auf § 4 des bremischen Landesgleichstellungsgesetzes.90 Dieses sah eine bevorzugte Einstellung bzw. Beförderung von Frauen bei gleicher Qualifikation ausnahmslos für solche Bereiche vor, in denen diese unterrepräsentiert waren. Eine Unterrepräsentation war dann gegeben, wenn in den einzelnen Lohn-, Vergütungs- und Besoldungsgruppen der jeweiligen Personalgruppe der betreffenden Dienststelle nicht mindestens zur Hälfte Frauen vertreten waren.91 Der 85

Unzulässig wäre danach z.B. eine Maßnahme, die eine Lohnfortzahlung im Falle des Familienurlaubs (zur Versorgung eines kranken Kindes) ausschließlich für Frauen vorsieht, da diese Option regelmäßig nur von Frauen wahrgenommen wird. Eine solche Maßnahme verhindert letztlich eine Veränderung der Geschlechterrollen in Richtung auf eine gleichberechtigte Wahrnehmung häuslicher und beruflicher Aufgaben. 86 Art. 2 Abs. 4 RL Nr. 76/207/EWG, jetzt Art. 2 Abs. 8 RL Nr. 2002/73/EG; der Wortlaut der Bestimmung ähnelt dem durch Gesetz vom 27.10.1994 (BGBl. I 1994, 3146) in das Grundgesetz eingefügten Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zur Förderung der „tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen“; vgl. zu Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie H. Labayle, Egalité de sexes et traitement du sexe le plus favorisé dans la Communauté, propos sur une jurisprudence récente de la Cour de Justice, Revue du marché commun 1990, 39; U. Maidowski, Umgekehrte Diskriminierung: Quotenregelung zur Frauenförderung im öffentlichen Dienst und in den politischen Parteien, 1989, 94 ff.; Colneric (Anm. 39), 644 ff.; Ebsen (Anm. 39), 15. 87 EuGH, Rs. 312/88, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 6315, 6336, Rdnr. 15. 88 EuGH, Rs. C-450/93, Kalanke, Slg. 1995, I-3051. Zur Quoten-Rechtsprechung des EuGH vgl. U. Sacksofsky, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Frauenfördermaßnahmen – ein Puzzle aus vier Teilen, Recht der Jugend und des Bildungswesens 2002, 193. 89 BAG, NZA 1994, 77. 90 Abgedruckt bei M. Böhmer, Gesetze zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Bund und Ländern: Eine vergleichende Dokumentation, 2. Aufl. 1994. 91 Vgl. zur deutschen Rechtslage U. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1991, 349 ff.; U. Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, 1992.

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Gerichtshof sah hierin einen Verstoß gegen Art. 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie, weil erstens die Ausnahmebestimmung des Art. 2 Abs. 4 eng auszulegen sei, zweitens Art. 2 Abs. 4 nicht solche Regelungen zulasse, die Frauen einen absoluten und unbedingten Vorrang einräumten mit der Folge, dass in der Person des männlichen Mitbewerbers liegende (etwa soziale) Gründe nicht berücksichtigt werden könnten und drittens Art. 2 Abs. 4 Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit meine, nicht aber die Verwirklichung von Ergebnisgleichheit. Die Kalanke-Entscheidung traf die deutsche Öffentlichkeit wie ein Paukenschlag. Damit hatte niemand gerechnet, galt doch der EuGH bislang als eher „gleichbehandlungsfreundlich“. In der Folgeentscheidung Marschall92 hat der Gerichtshof die in der Kalanke-Entscheidung verfolgte strikte Linie freilich deutlich gelockert und damit die Hoffnungen der Quotengegner, die Quote mit Hilfe des Gemeinschaftsrechts zu „beerdigen“, zerstört. Der EuGH stützte sich bei seiner Entscheidung u.a. auf die Empfehlung Nr. 84/635/EWG des Rates vom 13.12.1984 zur Förderung positiver Maßnahmen für Frauen.93 In der dritten Begründungserwägung dieser Empfehlung wird auf die durch Einstellungen, Verhaltensmuster und Strukturen in der Gesellschaft bedingten faktischen Ungleichheiten hingewiesen, die durch eine rein formale rechtliche Gleichstellung nicht beseitigt werden könnten. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 empfahl der Rat den Mitgliedstaaten damals die Ergreifung von Schritten, die dem Abbau der faktischen Ungleichheit von Frauen im Arbeitsleben entgegenwirken. Das fördernde, aktive Eingreifen sei gerechtfertigt, um Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu sichern.94 Vor diesem Hintergrund hielt der Gerichtshof – in Abweichung von der Kalanke-Entscheidung – auch sog. flexible Ergebnisquoten, wie sie etwa das hessische Gleichberechtigungsgesetz (HGlG) vom 21.12.199395 vorsah, für zulässig.96 Für die Gemeinschaftsrechtskonformität von Quotenregelungen, die der Beseitigung der faktischen Benachteiligung von Frauen dienen sollen, hebt der Gerichtshof heute wesentlich auf das Verbot der Absolutheit und Unbedingtheit einer Quotenregelung ab. Nur Quotenregelungen ohne Öffnungsklausel – um eine solche ging es im Fall Kalanke – sollen dem Verdikt des Art. 2 Abs. 1 der Gleich-

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EuGH, Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363, Rdnr. 32 f. ABl. L 331/34. 94 Vgl. auch EuGH, Rs. C-409/95, Marschall, Slg. 1997, I-6363, Rdnr. 29 f.; Rs. C-158/ 97, Badeck, Slg. 2000, I-1875, 1918 ff., Rdnr. 21 ff. 95 GVBl. I 1993, 729. 96 EuGH, Badeck (Anm. 94), 1918 ff., Rdnr. 22, 28; vgl. auch den diesbezüglichen Vorlagebeschluss des Hessischen Staatsgerichtshofes, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1997, 784. 93

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behandlungsrichtlinie 1976 unterfallen. Flexible Quoten sind danach dann zulässig, wenn sie eine Öffnungs- und Abwägungsklausel für besondere Fallkonstellationen beinhalten, wobei die insoweit anzulegenden Kriterien allerdings gegenüber weiblichen Arbeitnehmern keine diskriminierende Wirkung haben dürfen. Dementsprechend erklärte der EuGH in der Rechtssache Marschall die Quotenregelung des nordrhein-westfälischen Beamtengesetzes, die eine entsprechende Öffnungsklausel enthält, für zulässig, vorausgesetzt, dass den männlichen Bewerbern in jedem Einzelfall eine objektive Beurteilung der Bewerbung garantiert ist.97 Neben dem deutlich herausgearbeiteten Unterschied zum Fall Kalanke, nämlich der Öffnungsklausel, dürfte dabei wohl auch die Aussicht auf die damals noch nicht in Kraft getretene primärrechtliche Ermächtigung in Art. 141 Abs. 4 EGV eine Rolle gespielt haben. Hinsichtlich des Inhalts der Öffnungsklausel ließ es der Gerichtshof in einer späteren Entscheidung zum hessischen Gleichberechtigungsgesetz98 sogar genügen, dass nur bestimmte Ausnahmekategorien vorgesehen sind.99 Eine offene Fassung der Öffnungsklausel, wie sie noch dem Fall Marschall zugrunde lag, ist danach nicht erforderlich. Zu beachten ist auch, dass sich die genannten Ausnahmen nicht unmittelbar aus dem hessischen Gleichberechtigungsgesetz ergaben, sondern erst im Wege der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen in Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip und den Grundrechtsschutz von Ehe und Familie zu ermitteln waren. In Bezug auf die Regelungen des hessischen Gleichstellungsgesetzes hob der Gerichtshof im Weiteren darauf ab, dass das Gesetz die Quote nicht einheitlich für alle betroffenen Bereiche und Dienststellen festlegt, sondern dass deren Besonderheiten für die Zielvorgabe maßgebend sein sollen.100 Derartige Besonderheiten seien etwa dann gegeben, wenn die durch eine Unterrepräsentanz indizierte Benachteiligung von Frauen im konkreten Fall widerlegt werden könne. Ein derartiger Umstand führt dann im Rahmen der konkreten Auswahlentscheidung bei einer qualifikatorischen Pattsituation101 nicht notwendig zur Bevorzugung der 97

EuGH, Rs. C-409/95, Marschall, Slg. 1997, I-6336, Rdnr. 33. EuGH, Rs. C-158/97, Badeck, Slg. 2000, I-1875, 1921 f., Rdnr. 33 ff. 99 Etwa für frühere Angehörige des öffentlichen Dienstes, die nach Familienarbeit in das Berufsleben zurückkehren; für aufgrund von Familienarbeit Teilzeitbeschäftigte, die wieder in Vollzeit beschäftigt werden wollen; für ehemalige Zeitsoldaten, Schwerbehinderte und Langzeitarbeitslose. 100 EuGH, Rs. C-158/97, Badeck, Slg. 2000, I-1875, 1920, Rdnr. 28. 101 Voraussetzung für die Gemeinschaftskonformität jeglicher Quotenregelung ist im Weiteren, dass Frauen nur unter der Voraussetzung einer qualifikatorischen Pattsituation gegenüber männlichen Mitbewerbern bevorzugt werden können, EuGH, Rs. C-158/97, Badeck, Slg. 2000, I-1875, 1921 ff., Rdnr. 33, 41 ff.; EuGH, Rs. C-407/98, Abrahamsson, EuZW 2000, 540, Rdnr. 53. Dies gilt auch dann, wenn die Bevorzugung schlechter qualifizierter Bewerber(innen) nur bei der Besetzung einer begrenzten Anzahl von Stellen oder nur bei solchen Stellen zulässig ist, die im Rahmen eines von einer konkreten Hochschule 98

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weiblichen Bewerberin.102 Die vom Gerichtshof betonte „Flexibilität“ der hessischen Regelung zeigt sich schließlich auch darin, dass die Festlegung der Zielvorgabe in Anknüpfung an den Frauenanteil auf der jeweils vorangegangenen Qualifikationsstufe103 erfolgt.104 Auch wenn der Gerichtshof dies nicht ausdrücklich ausspricht, so handelt es sich bei den zur Beurteilung der Gemeinschaftsrechtskonformität einer Quotenregelung insgesamt herangezogenen Gesichtspunkten im Ergebnis um Verhältnismäßigkeitserwägungen.105 Mit der Bejahung der Gemeinschaftsrechtskonformität einer Quotenregelung ist allerdings noch keine Aussage über die etwaige Verfassungswidrigkeit einer derartigen Maßnahme getroffen. Da ein gemeinschaftsrechtliches Gebot zur positiven Diskriminierung nicht besteht, kommen insoweit allein die Maßstäbe des nationalen Rechts zum Tragen. Verstößt eine Quotenregelung jedoch gegen Gemeinschaftsrecht, so bleibt kein Raum mehr für gegenläufige nationale Regelungen. beschlossenen Förderprogramms ausgeschrieben werden, EuGH, Rs. C-407/98, Abrahamsson, EuZW 2000, 540, Rdnr. 58. 102 Instruktiv zur Auslegung des hessischen Gleichstellungsgesetzes der Vorlagebeschluss des HessStGH, EuGRZ 1997, 213. 103 Hinsichtlich der Feststellung der Qualifikation der Bewerber hält es der EuGH für zulässig, Kriterien heranzuziehen, die, obgleich sie geschlechtsneutral formuliert sind, im Allgemeinen Frauen begünstigten. So sieht § 10 HGlG vor, dass bei der Qualifikationsbeurteilung Fähigkeiten und Erfahrungen, die durch Familienarbeit erworben wurden, zu berücksichtigen sind, soweit ihnen für die Eignung, Leistung und Befähigung der Bewerber Bedeutung zukommt, während Dienstalter, Lebensalter und der Zeitpunkt der letzten Beförderung (Kriterien, die normalerweise ausschlaggebend sind) nur insoweit einzubeziehen sind, als sie für diese drei Gesichtspunkte von Belang sind. Ferner sind Familienstand und Einkommen des Partners unerheblich; Teilzeitbeschäftigungen, Beurlaubungen und Verzögerungen beim Abschluss der Ausbildung aufgrund der Betreuung von Kindern oder Angehörigen dürfen sich nicht nachteilig auswirken. Insoweit ist festzustellen, dass es sich mit Ausnahme des ersten Kriteriums um Gesichtspunkte handelt, die einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen bereits bei der Feststellung der Gleichwertigkeit der Qualifikation vorbeugen sollen. Bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen ist demgegenüber ein Qualifikationsvergleich zwischen den Bewerberinnen und Bewerbern nicht erforderlich. Unter Hinweis darauf, dass es sich um Ausbildungsplätze und nicht um Arbeitsplätze handelt und auch nur staatliche Ausbildungsbereiche betroffen sind, für die es auch Ausbildungsplätze im Privatsektor gibt, hielt der Gerichtshof die entsprechenden Bestimmungen des HGlG für richtlinienkonform; vgl. EuGH Rs. C-158/97, Badeck, Slg. 2000, I-1875, 1921, Rdnr. 33. 104 EuGH, Rs. C-158/97, Badeck, Slg. Slg. 2000, I-1875, 1923 f., Rdnr. 41 ff.; in diesem Sinne § 5 Abs. 7 HGlG zur Festlegung von Zielvorgaben für befristet zu besetzende Stellen des wissenschaftlichen Dienstes im Hochschulbereich. 105 So hob der EuGH ausdrücklich auf die mangelnde Angemessenheit der in der schwedischen Hochschulverordnung vorgesehenen Quotenregelung in der Rs. C-407/98, Abrahamsson, EuZW 2000, 540, Rdnr. 55, 58, ab.

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Insgesamt hinterlässt die Rechtsprechung des EuGH zur Quote einen schalen Nachgeschmack. Dies liegt nicht nur daran, dass der EuGH eine ganze Reihe von Jahren und Entscheidungen benötigt hat, um zu einer einigermaßen nachvollziehbaren Rechtsprechungslinie zu kommen; angesichts des wenig aussagekräftig formulierten Gemeinschaftsrechts zur positiven Diskriminierung scheint der vom Gerichtshof verordnete Zwang zu einheitlichen Lösungen eher das Produkt einer sehr weitgehenden Inanspruchnahme richterlicher Freiheit zu sein als zwingende Rechtsauslegung. Andererseits hat sich gezeigt, dass Frauenfördermaßnahmen in Form von rechtlichen Geboten nicht selten kontraproduktiv wirken, da sie bei der zurückgesetzten Gruppe Gegenstrategien auslösen. Jedenfalls starre Quotenregelungen erweisen sich damit als wenig zielführend. Weitaus effektiver sind demgegenüber Maßnahmen, die Arbeitgeber aus eigenem Antrieb dazu bringen, Frauenförderung zu betreiben. Dem schiebt das Gemeinschaftsrecht keinen Riegel vor. Der Flurschaden der insgesamt restriktiven Rechtsprechung hält sich damit in Grenzen.

2. Gleichberechtigung in der Bundeswehr Im Rahmen zweier Vorabentscheidungsverfahren hatte der Gerichtshof erstmals Gelegenheit, zur Frage der Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Beschäftigung in den nationalen Streitkräften Stellung zu nehmen. Im Urteil Sirdar ging es um den Ausschluss von Frauen in Kampfeinheiten der Royal Marines;106 im Fall der Tanja Kreil107 um das absolute Verbot jedes Waffendienstes für Frauen in der Bundeswehr. Zunächst stellte der EuGH fest, dass auch die Beschäftigung bei den nationalen Streitkräften von der Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 erfasst ist108 und entwickelte damit seine ständige Rechtsprechung zur Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse in den Anwendungsbereich der Richtlinie fort. Wie der EuGH bereits in seinem Urteil in der Rechtssache Johnston präzisiert hat, soll dies auch dann gelten, wenn es um eine Beschäftigung im Bereich der inneren Sicherheit geht.109 Zwar seien die Mitgliedstaaten befugt, in diesem Bereich teilweise Sonderregelungen zu treffen, doch sei dies nur bei ausdrücklicher Ermächtigung wie etwa bei den Grundfreiheiten (Art. 30, 39 Abs. 3, 46, 297 EGV) zulässig. Ein allgemei-

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EuGH, Rs. C-273/97, Angela Maria Sirdar, Slg. 1999, I-7403 ff. EuGH, Rs C-285/98, Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 ff. 108 EuGH, Rs. C-273/97, Angela Maria Sirdar, Slg. 1999, I-7403 ff., 7440, Rdnr. 20; EuGH, Rs C-285/98, Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 ff., 103, Rdnr. 15. 109 EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1663, 1683 f., Rdnr. 22 ff. 107

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ner Vorbehalt für Regelungen im Bereich der öffentlichen Sicherheit, die der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung entgegenstünden, gebe es hingegen nicht. Diese Argumentation überträgt der Gerichtshof auf den Bereich der äußeren Sicherheit mit der Folge der Anwendbarkeit der Gleichbehandlungsrichtlinie auch auf Beschäftigungsverhältnisse innerhalb der Streitkräfte. Hierbei lässt er die an sich vorrangige Frage außer Acht, ob die Gemeinschaft überhaupt befugt gewesen wäre, eine Richtlinie zur Regelung der Beschäftigungsverhältnisse in den nationalen Streitkräften zu erlassen.110 Die Begründung des EuGH ist in sich widersprüchlich, wenn auf der einen Seite konzediert wird, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, die innere Organisation der Streitkräfte zu bestimmen, andererseits aber der Zugriff des Gemeinschaftsrechts auf die dort bestehenden Beschäftigungsverhältnisse bejaht wird, zumal kaum zu bestreiten sein dürfte, dass die Beschäftigung von Frauen in der Armee eine Frage der inneren Organisation der Streifkräfte betrifft.111 Da der EuGH die Anwendbarkeit der Gleichbehandlungsrichtlinie (damals noch idF von 1976) bejaht hatte, war es nur konsequent, den nach deutschem Recht damals noch vorgesehenen Ausschluss jeden Waffendienstes für Frauen für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie zu halten. Die Ausnahmebestimmung vom Diskriminierungsverbot in Art. 2 Abs. 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie112 sei grundsätzlich eng auszulegen. Auch wenn den Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Sicherheit ein gewisser Beurteilungsspielraum zustehe, so genüge doch ein genereller Ausschluss von Frauen vom Dienst mit der Waffe den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht; gemäß Art. 2 Abs. 2 könnten nur spezifische Tätigkeiten vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen werden. Auf die Frage der Anwendbarkeit von Art. 2 Abs. 3 Gleichbehandlungsrichtlinie ging der Gerichtshof nur knapp ein, da es bei

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Kritisch J. Schröder/C. Köster, Nachhilfe vom EuGH – Frauen an die Waffe!, Juristische Schulung 2000, 542, 544 f.; a.A. S. Heselhaus/R. Schmidt-De Caluwe, Ernstfall für die Gleichberechtigung – europa- und verfassungsrechtliche Aspekte der Novellierung des Soldatenrechts, NJW 2001, 263, 265 f. Drei Jahre später entschied der EuGH, dass die in Deutschland bestehende Wehrpflicht nur für Männer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, Rs. 186/01, Dory, Slg. 2003, 2479. Zur Begründung verwies der Gerichtshof auf die fortbestehende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die innere Organisation der Streitkräfte. Dem ist zuzustimmen, auch wenn sich der Gerichtshof mit dem Hinweis hätte begnügen können, dass die Gleichbehandlungsrichtlinie nur auf den Bereich der beruflichen Beschäftigung Anwendung findet. Für die Auferlegung allgemeiner Grundpflichten ist sie deswegen von vornherein nicht einschlägig. 111 Vgl. dazu die Anmerkung von T. Stein, EuZW 2000, 212, 213. 112 Dieser Bestimmung entspricht Art. 2 Abs. 6 Gleichbehandlungsrichtlinie 2002 (Anm. 4) bzw. Art. 14 Abs. 2 Konsolidierungsrichtlinie 2006 (Anm. 16).

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dem Ausschluss von Frauen vom Dienst mit der Waffe erkennbar nicht um den Schutz von Frauen in Hinblick auf Mutter- oder Schwangerschaft geht.113

3. Der Schutz Schwangerer Eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist gegeben, wenn die unterschiedliche Behandlung ausdrücklich mit dem Geschlecht begründet wird. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt nach Auffassung des Gerichtshofs auch in der Benachteiligung (z.B. Verweigerung der Einstellung/Entlassung) einer Arbeitnehmerin aufgrund einer Schwangerschaft.114 Dies formuliert nunmehr auch

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Rs. C-285/98, Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69, 107, Rdnr. 30. Demgegenüber hielt der EuGH den Ausschluss von Frauen von Kampfeinheiten der Royal Marines für zulässig. Hierbei handele es sich um eine Spezialtruppe, deren Mitglieder stets allseitig, d.h. auch in Kampfeinsätzen „an vorderster Front“ verwendbar sein müssten. Der Gerichtshof akzeptierte in diesem Fall das von der britischen Regierung vorgetragene Argument, dass sich die Zulassung von Frauen unter diesen Umständen negativ auf die Moral und den Zusammenhalt der Soldaten in der Kommandoeinheit und damit auch negativ auf die Kampfkraft der Einheit auswirken könnte, vgl. Rs. C-273/97, Sirdar, Slg. 1999, I-7403, 7443, Rdnr. 30 f. Der deutsche Gesetzgeber hat auf die Rechtsprechung des EuGH reagiert und das Soldatengesetz, vgl. BGBl. I 2000, 1815, wie auch die Soldatenlaufbahnverordnung entsprechend geändert. Vgl. dazu im Einzelnen Heselhaus/Schmidt-De Caluwe (Anm. 110), 263, 264. Neugefasst wurde auch Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 GG. Dort heißt es nunmehr: „Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“ Bei dieser Verfassungsänderung handelt es sich freilich nur um eine Klarstellung, nicht aber um eine materielle Änderung der Verfassungsrechtslage, da sich nach zutreffender Ansicht der vormalige Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 GG ohnehin nicht auf den freiwilligen Waffendienst von Frauen bezog; vgl. zu der diesbezüglichen Kontroverse Heselhaus/Schmidt-De Caluwe (Anm. 110), 264; Schröder/Köster (Anm. 110), 542, 543. 114 EuGH, Rs. C-177/88, Dekker, Slg. 1990, I-3941, 3973, Rdnr. 12 – Verweigerung der Einstellung wegen Schwangerschaft; vgl. auch jüngst EuGH, Rs. C-320/01, Wiebke Busch, Slg. 2003, I-2041 ff. – Verschweigen der Schwangerschaft zur Sicherung des Mutterschaftsgelds; dazu auch A. Junker, Der EuGH zum Arbeitsrecht: Betriebsübergang, Gleichbehandlung und Bestandsschutz, EuZW 2006, 524–528, 526 f. Eine Ungleichbehandlung Schwangerer kann jedoch aus Gründen des Schutzes der körperlichen Verfassung oder der besonderen Beziehung zwischen Mutter und Kind gerechtfertigt sein, vgl. Art. 2 Abs. 7 RL Nr. 2002/73/EG, EuGH, Rs. C-394/96, Mary Brown, Slg. 1998, I-4185, Rdnr. 17; zu den Grenzen und dem Problem der Diskriminierung durch ein Übermaß an Schutzvorschriften jüngst EuGH, Rs. C-203/03, Kommission/Republik Österreich, EuGRZ 2005, 124, 128, Rdnr. 43 ff. – Österreichisches Beschäftigungsverbot für Frauen im untertägigen Bergbau und bei Druckluft- und Taucharbeiten; zusammenfassend A. Junker/O. Aldea, Europäisches Arbeitsrecht 2004/2005, Recht der Internationalen Wirtschaft 2006, 1, 4.

EuGH als Motor für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Europa? 133

ausdrücklich Art. 2 Abs. 7 Uabs. 3 der Gleichbehandlungsrichtlinie (idF von 2002).115 Im Gefolge der Rechtsprechung des EuGH hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass auch die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft bei einer Bewerbung unvereinbar mit § 611 a Abs. 1 BGB ist.116 Es ist damit von seiner alten Rechtsprechung abgerückt, wonach eine solche Frage dann nicht unzulässig war, wenn sich nur Frauen um den Arbeitsplatz bewarben. Keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liegt hingegen in der Entlassung aufgrund schwangerschaftsbedingter Krankheit nach Ablauf der Mutterschutzfrist117 oder darin, dass ein Arbeitgeber die Gewährung von Leistungen davon abhängig macht, dass ein aktives Beschäftigungsverhältnis besteht und deswegen Personen, die wegen Elternurlaubs oder Mutterschutzes aus dem aktiven Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden sind, die betreffende Leistung nicht

115

Gleichbehandlungsrichtlinie 2002 (Anm. 4); vgl. jetzt auch Art. 2 Abs. 2 lit. c) Gleichbehandlungsrichtlinie 2006 (Anm. 16); vgl. aus der reichhaltigen Judikatur des EuGH, Rs. C-32/94, Webb, Slg. 1994, I-3567, 3585, Rdnr. 19 – Entlassung der schwangeren Schwangerschaftsvertretung; EuGH, Rs. C-394/96, Mary Brown, Slg. 1998, I-4185, 4223, Rdnr. 24 – Unzulässigkeit der Heranziehung schwangerschaftsbedingter Fehlzeiten während der Schwangerschaft oder eines Mutterschaftsurlaubs zur Begründung einer Kündigung wegen Krankheit; anders noch Rs. C-400/95, Larsson, Slg. 1997, I-2774, Rdnr. 23; EuGH, Rs. C-207/98, Mahlburg, 2000, I-549, 574, Rdnr. 27 – Nichteinstellung wegen eines für Schwangere geltenden gesetzlichen Beschäftigungsverbotes, mit der Folge, dass die Bewerberin auf dieser Stelle von Anfang an nicht beschäftigt werden darf; EuGH, Rs. C-66/96, Berit Hoj Pedersen u.a., Slg. 1998, I-7327, Rdnr. 41 – Verstoß gegen Art. 141 EGV, wenn für schwangerschaftsbedingte Fehlzeiten ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht besteht, wohingegen wegen Krankheit arbeitsunfähige Arbeitnehmer eine derartigen Anspruch haben; ebd., 7375 f., Rdnr. 58 f. – Verstoß gegen Art. 5 der RL Nr. 76/207/EWG und gegen Art. 4 und 5 der RL Nr. 92/85/EG durch dem Arbeitgeber einseitig eingeräumte Möglichkeit, eine schwangere Arbeitnehmerin ohne volle Entgeltfortzahlung vom Dienst freizustellen; EuGH, Rs. C-136/95, Evelyne Thibault, Slg. 1998, I-2011, 2035 f., Rdnr. 29 ff. – kein Verlust von (potentiellen) Aufstiegsmöglichkeiten infolge von Fehlzeiten wegen Mutterschaftsurlaubs – Anspruch auf Beurteilung durch den Arbeitgeber. Auf eine männliche Vergleichsperson kommt es insoweit nicht an, EuGH, Rs. C-177/88, Dekker, Slg. I-1990, 3941, 3974, Rdnr. 17. Eine Diskriminierung kann auch nicht mit den finanziellen Nachteilen gerechtfertigt werden, die der Arbeitgeber im Falle der Einstellung einer schwangeren Frau während des Mutterschaftsurlaubs erleidet, ebd., 3973, Rdnr. 12; Rs. C320/01, Wiebke Busch, Slg. 2003, I-2041 – verschwiegene Schwangerschaft, die zu einem Beschäftigungsverbot bereits vom ersten Arbeitstag an führt, kein Anfechtungsgrund. 116 BAG 15.10.1992, NZA 1993, 257. 117 EuGH, Rs. C-179/88, Hertz, Slg. I-1990, 3979, 3999, Rdnr. 14 ff.

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erhalten.118 Ebenso hielt es der Gerichtshof für zulässig, denjenigen Arbeitnehmerinnen, die wegen mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten aus ihrem Arbeitsverhältnis ausscheiden, eine geringere Abfindung zu gewähren als denjenigen Arbeitnehmern, die aus wichtigen Gründen, die unmittelbar mit dem Arbeitsverhältnis selbst zusammenhängen, ihren Arbeitsplatz aufgeben.119 Zur Begründung hob der EuGH auf die mangelnde Vergleichbarkeit der Situation der beiden Arbeitnehmergruppen ab. Ein Verstoß gegen Art. 141 EGV komme von daher nicht in Betracht. Dem ist zuzustimmen. In der Tat lässt sich die Frage einer angemessenen Verteilung der beruflichen Risiken von Schwanger- bzw. Mutterschaft, die sich u.a. wegen der mangelnden Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen ergeben, nicht über das Diskriminierungsverbot auffangen. Eine Begünstigung schwangerer Frauen etwa durch die Zahlung einer einmaligen Beihilfe verstößt nicht gegen den Grundsatz der Entgeltgleichheit.120 Zur Begründung führte der Gerichtshof wiederum die mangelnde Vergleichbarkeit der Situation schwangerer Arbeitnehmerinnen mit derjenigen ihrer männlichen Kollegen an. Die Gewährung der Beihilfe knüpfe nicht an das Geschlecht an, sondern diene dem Ausgleich mutterschaftsbedingter beruflicher Nachteile, denen Väter nicht in der gleichen Weise ausgesetzt seien. Eines Rückgriffs auf Art. 141 Abs. 4 EGV, der Fördermaßnahmen in Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Erwerbsleben zulässt, bedarf es demnach in diesen Fällen nicht.121

D. Würdigung der Rechtsprechung des EuGH Die bisherige Rechtsprechung des EuGH hat einen maßgeblichen Beitrag zur Durchsetzung der Gleichstellung in Beruf und Beschäftigung geleistet. Hierzu hat vor allen Dingen die Etablierung der rechtsdogmatischen Figur der mittelbaren Diskriminierung beigetragen, da die Masse der Diskriminierungen gerade nicht offen, sondern verdeckt vonstatten geht. Die Durchsetzung der Lohngleichheit, der Ausgangspunkt der Rechtsprechung des EuGH zur Gleichstellung der Geschlechter, ist heute unangefochten, auch wenn es an der flächendeckenden Umsetzung 118

EuGH, Rs. C-333/97, Lewen, 1999, I-7243, 7283, Rdnr. 44. EuGH, Rs. C-249/97, Gruber, Slg. 1999, I-5295, 5326, Rdnr. 35. 120 EuGH, Rs. C-218/98, Abdulaye, 1999, I-5723, 5748, Rdnr. 22. 121 So ist z.B. in Art. 10 der Richtlinie Nr. 92/85/EWG vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (ABl. L 348/1) ein Kündigungsverbot vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs ausdrücklich vorgesehen. 119

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vielfach noch fehlt. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Durchsetzung der Gleichstellung der Geschlechter hat sich entscheidend gewandelt: Diskriminierungen wegen des Geschlechts stellen heute – auch wenn sie im Alltag noch häufig vorkommen – in der gesellschaftlichen Wahrnehmung kein Kavaliersdelikt mehr dar; sie sind vielmehr Unrecht. Gleichwohl kann sich eine zu extensive Auslegung des Anwendungsbereichs der Gleichbehandlungsrichtlinie als Problem erweisen, vor allem als solches der Akzeptanz, wie etwa im Fall Tanja Kreil: Ungeachtet der zu bejahenden Frage, ob Frauen die Möglichkeit haben sollen, in alle Bereiche der Bundeswehr vorzudringen, stellt sich dennoch die Frage, ob dieses in rechtlich zweifelhafter Weise vom EuGH verordnet werden sollte. Auch zwingt die Rechtsprechung, dies zeigt das Problem der Frauenquoten, auch in solchen Bereichen zu einheitlichen Lösungen, in denen der Wortlaut der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum lässt und angesichts der Sensibilität der Materie auch lassen sollte. In ihren konkreten Auswirkungen problematisch für die Situation junger Frauen im „gebärfähigen“ Alter ist schließlich die Rechtsprechung des EuGH zum Schutz Schwangerer. Im Fall Wiebke Busch obsiegte eine deutsche Krankenschwester gegen ihren Arbeitgeber, obgleich sie ihren Arbeitgeber bei der vorzeitigen Rückkehr aus dem Erziehungsurlaub (heute: Elternzeit) über ihre Einsatzfähigkeit getäuscht hatte. Da sie im siebten Monat schwanger war, konnte sie vom ersten Arbeitstag an nicht an dem für sie vorgesehenen Arbeitsplatz eingesetzt werden. Die Sache hatte für die Klägerin freilich den Vorteil, dass sie nunmehr einen Anspruch auf Mutterschaftsgeld hatte, das weitaus höher war als das ihr während der Elternzeit zustehende Erziehungsgeld. Die Anfechtung der Beschäftigungsentscheidung des Arbeitsgebers blieb erfolglos, da sie vom EuGH als Diskriminierung wegen der Schwangerschaft gebrandmarkt wurde.122 Im Fall Tele Denmark123 machte der EuGH deutlich, dass auch bei kurzfristigen Arbeitsverträgen in großen Unternehmen, die häufig Aushilfspersonal beschäftigten, eine Entlassung wegen der Schwangerschaft unzulässig sei; das Befristungsende wurde insoweit als gegenstandslos betrachtet. So sehr dem Anliegen des EuGH, Schwangere vor Diskriminierung zu schützten, beizutreten ist, so sehr überzieht der Gerichtshof an dieser Stelle. Ein zu weit gehender Schutz für eine von Benachteiligungen bedrohte Gruppe kann sich – und dies ist eigentlich eine Binsenweisheit – als kontraproduktiv erweisen. Jedenfalls dürfte die jüngere Judikatur des EuGH keine Ermutigung für Arbeitgeber darstellen, junge Frauen einzustellen, bei denen stets mit dem Eintritt einer Schwangerschaft zu rechnen ist. Es ist eben nicht möglich, über das den 122 123

Rs. C-320/01, Slg. 2003, I-2041. Rs. C-109/00, Slg. 2001, I-6993.

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einzelnen Arbeitgeber bindende Diskriminierungsverbot die letztlich der Gesellschaft insgesamt obliegende Aufgabe zu lösen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu befördern und jungen Frauen Mut zur Familiengründung zu machen. Jedenfalls in den geschilderten Extremfällen ist der einzelne Arbeitgeber insoweit der falsche Adressat.

Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und sein Vertragsausschuss nach 25 Jahren – Bilanz und Ausblick Von Hanna Beate Schöpp-Schilling1

A. Einleitung Es ist angebracht, im Jahr des 25-jährigen Jubiläums des Vertragsausschusses für das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) eine Bilanz über die Auswirkungen dieses Übereinkommens auf die menschenrechtliche Situation von Frauen in aller Welt und in diesem Zusammenhang über die Arbeit seines Vertragsausschusses zu ziehen. Es ist besonders reizvoll, dies im Rahmen einer Publikationsreihe des Walther- Schücking-Instituts an der Christian-Albrechts-Universität zu tun, denn in diesem Institut hat nach meiner Kenntnis Jost Delbrück als erster deutscher Wissenschaftler eine frühe Würdigung des Übereinkommens schon im Jahre 1981 vorgenommen, also bereits zwei Jahre nach der Verabschiedung des Übereinkommens durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Er bewertete das Übereinkommen – und das aus der damaligen Sicht zu Recht –, im Vergleich mit den anderen zu der Zeit bestehenden Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen als relativ schwach, da es in seinen Formulierungen und damit seinem Verpflichtungscharakter in Teilen zu vage sei, als Durchsetzungsverfahren nur das Berichtsverfahren besitze und dieses kaum wirksam werden könne, da den Vertragsstaaten zu viel Spielraum in der Umsetzung ihrer Verpflichtungen gelassen werde.2 1 Leicht geänderte und aktualisierte Fassung eines Vortrags, den ich am 20.4.06 im Rahmen einer Vortragsreihe des Walther-Schücking-Instituts an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel zum Thema „Gender und Internationales Recht“ gehalten habe. Für eine Darstellung neuerer Entwicklungen hinsichtlich der hier behandelten Fragen vgl. H. B. Schöpp-Schilling, Treaty Body Reform: the Case of the Committee on the Elimination of Discrimination Against Women, Human Rights Law Review 7 (2007), 201–224. 2 Jost Delbrück, Die Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau von 1979 im Kontext der Bemühungen um einen völkerrechtlichen Schutz der Menschenrechte, in: I. von Münch (Hrsg.), Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht: Festschrift für H. J. Schlochauer, 1981, 247–270.

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Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung stelle ich drei Thesen auf, die hinsichtlich der Bedeutung des Übereinkommens und seines Vertragsausschusses für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte von Frauen im Jahre 2006 ein etwas anderes Bild zeichnen. These 1: Trotz der von Delbrück identifizierten Schwächen hat sich das Übereinkommen seit 1979 in der Praxis zum wichtigsten völkerrechtlichen Instrument für Frauen entwickelt. Spätestens seit der Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien (1993) steht es im Verständnis von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichberechtigt neben den heute sechs weiteren Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen mit Vertragsausschüssen. Es wird nicht mehr als ein mehr oder weniger verbindliches Entwicklungsinstrument zur Verbesserung der Situation von Frauen verstanden, das nur schrittweise umzusetzen sei, sondern als ein verbindlicher Menschenrechtsvertrag, dessen Verwirklichung im Hinblick auf das Menschenrecht der Nichtdiskriminierung und der Gleichberechtigung bzw. Gleichstellung unverzüglich umzusetzen ist. Mit der Verabschiedung des Zusatz- oder Fakultativprotokolls (Optional Protocol) durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Oktober 1999 hat das Übereinkommen zusätzlich zum Berichtsverfahren zwei weitere wichtige Durchsetzungsverfahren gewonnen. Die 4. Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) hat dem Vertragsausschuss für CEDAW ein weiteres Mandat gegeben, und 2005 ist der Ausschuss auch organisatorisch gestärkt worden: Zum ersten Mal wurden ihm für 2006 und 2007 dreimal drei Wochen Sitzungszeit genehmigt wie auch das Arbeiten in zwei Kammern, damit er seine Arbeitslast bewältigen kann. Er ist damit auch in seiner Arbeitszeit, wenn auch zwar noch nicht endgültig, gleichberechtigt neben andere Vertragsausschüsse gestellt worden, was angesichts der großen Zahl von Vertragsstaaten und der zu prüfenden Berichte und der Arbeit nach dem Fakultativprotokoll auch notwendig ist. These 2: Um CEDAW in seiner Bedeutung für die Verwirklichung der Menschenrechte von Frauen zu verstehen, muss das Augenmerk auf seine weltweite Wirkung gerichtet werden und weniger auf die – was zunächst nahe liegen würde – oft kaum erkennbare Wirkung in den Staaten der Europäischen Union. In vielen Ländern, vor allem in den postsozialistischen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, des Kaukasus und Westasiens, in asiatischen Industrieländern und in afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Entwicklungsländern sind grundlegende rechtliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen direkt auf das Übereinkommen und die bewertenden Empfehlungen in den sog. Abschließenden Kommentaren (concluding comments) des Ausschusses zurückzuführen. Diese Wirkungen sind insbesondere seit 1992 durch das intensive Engagement von internationalen und nationalen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen verstärkt worden.

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These 3: Trotz der positiven Auswirkungen des Übereinkommens auf die menschenrechtliche Situation von Frauen sind jedoch längst nicht alle Diskriminierungstatbestände beseitigt. So entstehen u.a. aufgrund technischer und wirtschaftlicher Globalisierung, der Ausbreitung von Epidemien wie HIV/AIDS, kriegerischer Auseinandersetzungen mit daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen sowie aufgrund umfassender politisch-wirtschaftlicher Transformation ehemals sozialistischer Länder neue Gefährdungen des Schutzes der Menschenrechte von Frauen, und bisher nicht ausreichend beachtete Formen der Diskriminierung werden deutlicher sichtbar. Trotz konstruktiver Veränderungen in der Arbeit des Ausschusses, die ihn effektiver arbeiten lassen, ist er weiterhin mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Zudem gefährden die derzeit laufenden Reformbemühungen innerhalb der Vereinten Nationen, welche auch die Arbeit der Vertragsausschüsse umfassen, möglicherweise nicht nur die erzielten Fortschritte, sondern auch die Existenz des Vertragsausschusses für CEDAW selbst.3 Diese drei Thesen werde ich im Folgenden weiter ausführen und belegen.

B. Das Übereinkommen und sein Vertragsausschuss Um die Stärkung des Übereinkommens und seines Vertragsausschusses im Einzelnen darzustellen, müssen seine wesentlichen Merkmale und die der Arbeitsweise des Ausschusses nur kurz skizziert werden, da sie an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben worden sind.4 Das Übereinkommen wurde zwischen 1974 und 1979 von den Mitgliedstaaten der Kommission für die Rechtsstellung der Frau (Commission on the Status of Women, CSW), dem frauenrechtlichen Pendant zu der jetzt gerade aufgelösten Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, in Grundzügen entworfen. Ein völkerrechtlicher Vertrag, der zwischen den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ausgehandelt wird und sie untereinander rechtlich 3

Dies gilt auch für die anderen, auf bestimmte Zielgruppen gerichteten Vertragsausschüsse. 4 H. B. Schöpp-Schilling, Effektivität von Abkommen zum Schutz der Menschenrechte am Beispiel von CEDAW, Die Friedenswarte 74 (1999), 204–228; dies., Aufgaben und Arbeitsmethoden der UN-Menschenrechtsausschüsse am Beispiel des CEDAW-Ausschusses: Relevanz für CEDAW-Vertragsstaaten und Zivilgesellschaft in Europa, in: D. König/J. Lange/U. Rust/ H. B. Schöpp-Schilling (Hrsg.), Gleiches Recht – gleiche Realität? Welche Instrumente bieten Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht für die Gleichstellung von Frauen?, Loccumer Protokolle 71/03, 2004, 37–64 (auch in Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht 2004, 234–244); im gleichen Band auch D. König, Die Diskriminierungsverbote im Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), 21–36.

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zu dessen Einhaltung bindet, ist immer auch ein Kompromiss.5 Auch bei CEDAW lagen die Auffassungen oft weit auseinander, und viele Länder waren (und sind) – aus religiösen, kulturellen, macht- und wirtschaftspolitischen Gründen – nicht, oder nur teilweise bereit, die rechtlichen und materiellen Verhältnisse zugunsten des Schutzes der Menschenrechte ihrer weiblichen Bevölkerung zu ändern und zu verbessern. Dabei wurde schon 1979 betont, was heute fast ein Allgemeinplatz ist, dass nämlich ohne die gleichberechtigte rechtliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe und Gleichstellung von Frauen die Entwicklung eines Landes nicht voranschreiten kann.6 Das Übereinkommen wurde im Dezember 1979 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und auf der 2. Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen im Juli 1980 zur Unterzeichnung (als erstem Schritt) bzw. zur Ratifikation (als endgültig verbindlichem Schritt)7 durch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen aufgelegt. Vor allem sozialistische Staaten ratifizierten das Übereinkommen sehr schnell, so dass es bereits im September 1981 in Kraft trat. Sie taten dies, weil sie der Auffassung waren, dass es in ihren Ländern keine Probleme hinsichtlich der Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen gebe. Dies war zwar richtig, was die formale Gleichberechtigung im Gesetz und vor dem Gesetz anging, doch wurde der grundlegende Diskriminierungstatbestand der stereotypen Rollen- und Aufgabenzuweisung an Frauen in der Familie auch in den sozialistischen Staaten nicht in Frage gestellt. Diese Tatsache stellt Frauen in diesen Ländern heute, nach Einführung der Marktwirtschaft, vor gravierende Probleme in den neuen Arbeitsmärkten.

5 Die z.T. mühsamen Verhandlungen zu CEDAW sind in dem verdienstvollen Buch über die traveaux préparatoires von Lars Rehof nachzulesen. Es wäre sicher aufschlussreich, bei Rehof nachzuforschen, welche vorwärts drängenden bzw. retardierenden Rollen einzelne Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in der Kommission für die Rechtsstellung der Frau und in anderen VN-Gremien bei der Formulierung des Übereinkommens im Einzelnen wahrgenommen haben und diese mit ihrer heutigen Einstellung zum Übereinkommen zu vergleichen. Lars Rehof, Guide to the Traveaux Préparatoires of the United Nations Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 1993. 6 Vgl. die Präambel des Übereinkommens: „Recalling that discrimination against women … hampers the growth of the prosperity of society …“ und „Convinced that the full and complete development of a country, the welfare of the world and the cause of peace require the maximum participation of women on equal terms with men in all fields“. Hervorhebung im Text. 7 Ein Staat kann auch ohne vorherige Unterschrift dem Übereinkommen direkt beitreten (accession). Da aber diese Unterscheidung für die grundsätzliche Argumentation dieses Aufsatzes nicht relevant ist, werde ich im Weiteren nur von Ratifikation sprechen.

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Was sind nun die wesentlichen Normen des Übereinkommens? Zunächst ist festzuhalten, dass CEDAW nicht der einzige VN-Menschenrechtsvertrag ist, in dem das Verbot der Diskriminierung auf der Grundlage von Geschlecht und die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Männern und Frauen in der Wahrnehmung und Ausübung ihrer Menschenrechte als Normen gesetzt sind. Ein Blick auf die Charta der Vereinten Nationen (1945) zeigt, dass beide schon in diesem Vertrag enthalten sind. Sie sind auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) sowie in den beiden auf der Erklärung fußenden und rechtlich verbindlichen Internationalen Menschenrechtspakten von 1966 formuliert, welche die bürgerlichen und politischen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte von Männern und Frauen garantieren. Allerdings sind Sprache und Inhalt dieser Normen in den genannten und auch anderen Menschenrechtsverträgen sowie die Praxis der Überprüfung ihrer Umsetzung durch die Sicht männlicher Regierungsangestellter und Sachverständiger geprägt. Dies hat lange Zeit dazu geführt, dass frauenspezifische Diskriminierungstatbestände nicht ausreichend beachtet worden sind, welche ja häufig auf kulturell bedingten Auffassungen von der angeblichen Minderwertigkeit oder einer über biologische Faktoren hinausgehenden Andersartigkeit von Frauen beruhen und sich in der grundsätzlichen Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre und der Zuweisung der letzteren an Frauen manifestieren. CEDAW ist jedoch ein spezielles Übereinkommen zur Aufhebung der Diskriminierung von Frauen auf der Grundlage ihres Geschlechts, analog dem 1966 von der VN-Vollversammlung verabschiedeten Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, ICERD). Es integriert verschiedene Frauenrechts- und Nichtdiskriminierungsübereinkommen, die bereits vorher von der CSW und einigen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen formuliert wurden, die aber nur einige Rechte aufgreifen und von daher nicht so umfassend wie CEDAW sind. Im Übereinkommen zeigt sich daher ein dreifacher Ansatz: Nichtdiskriminierung, Schutz von Frauen und Förderung von Frauen. Das Übereinkommen führt in 17 Artikeln die Verpflichtung der Vertragsstaaten aus, das Recht auf Nichtdiskriminierung von Frauen auf der Grundlage des Geschlechts sowie das Recht auf die formale sowie die materielle Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen und Männern in der Anerkennung und Ausübung ihrer Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu verwirklichen, wie die Menschenrechtstypologie es heute ausführt. Es tut dies allgemein in den sog. Rahmenartikeln 1–5 und 24 sowie für einzelne Lebens- und Erfahrungsbereiche in den Artikeln 6–16 (Prostitution und Frauenhandel, Politik und öffentliches Leben, Bildung, Erwerbsarbeit, Wirtschaft, Recht und Gesetze, insbesondere Staatsbürger-

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schaftsrecht, Gesundheit, Frauen im ländlichen Raum, Ehe und Familie). Artikel 1–5 und 24 enthalten grundsätzliche Definitionen und Verpflichtungen, die jeweils bei der Umsetzung der Artikel 6–16 berücksichtigt werden müssen. Artikel 1 definiert als Diskriminierung der Frau „jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – … beeinträchtigt oder vereitelt wird.“ Dies ist eine Definition, die heute mit den Termini direkte und indirekte Diskriminierung umschrieben wird und deren Sachgehalt u.a. durch die amerikanische Rechtsprechung und durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt wurde.8 Artikel 1 definiert CEDAW auch als ein „offenes“ Übereinkommen, da es auf „jede“ Form von Diskriminierung verweist und neben dem politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen Bereich auch jeder „sonstige Bereich“ genannt wird, so dass der Vertragsausschuss auch nicht ausdrücklich im Text genannte Diskriminierungstatbestände in sog. Allgemeinen Empfehlungen (general recommendations) definieren kann.9 Dies ist z.B. geschehen im Hinblick auf die Diskriminierungstatbestände der häuslichen Gewalt gegen Frauen und der genitalen Verstümmelung von Frauen, die beide nicht ausdrücklich im Text des Übereinkommens genannt werden. Auch mehrfache, sich z.T. kumulierende Diskriminierungstatbestände aufgrund von Geschlecht und z.B. Rasse, Alter,

8

Leider hat der Vertragsausschuss für CEDAW selbst die aus meiner Sicht sehr notwendige Interpretation des Artikels 1 bisher noch nicht geleistet, plant aber, dies in Verbindung mit der Interpretation der Artikel 2 und 3 in den nächsten zwei Jahren zu tun. Im Rahmen meiner langjährigen Arbeit im Ausschuss muss ich feststellen, dass das Konzept der indirekten Diskriminierung von den meisten Ländern nicht verstanden wird und auch sehr häufig noch nicht in ihrer nationalen Gesetzgebung verankert ist. Zum Begriff der Diskriminierung im Allgemeinen siehe D. König/A. Peters, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 21, Rn. 45 ff., 1141 ff. 9 Von manchen Vertragsausschüssen werden diese Interpretationen auch Allgemeine Kommentare (general comments) genannt. Das Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte bemüht sich derzeit um eine Vereinheitlichung der von den sieben Vertragsausschüssen benutzten Termini. Alle Allgemeinen Empfehlungen/Kommentare liegen mit kommentierenden Einführungen seit 2005 in deutscher Übersetzung in einer Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte vor, die auch meine kurze Einführung in die Allgemeinen Empfehlungen des Vertragsausschusses für CEDAW enthält. H. B. SchöppSchilling, Die Allgemeinen Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau: Einführung, in: Deutsches Institut für Menschenrechte, Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen: Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005, 413–425.

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Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit können auf diese Weise vom Übereinkommen erfasst werden. Artikel 2 legt dem Vertragsstaat die Verantwortung auf, „unverzüglich“ das Recht auf Schutz vor Diskriminierung und auf Gleichberechtigung und Gleichstellung zu achten, zu schützen und zu verwirklichen. Diese Verpflichtungen des Vertragsstaates erstrecken sich auf die Handlungen seiner staatlichen Beamten oder Angestellten bzw. auf die Unterlassung von Handlungen durch dieselben, aber es werden auch die Handlungen und Unterlassungen von Personen, Organisationen und Unternehmen erfasst (Artikel 2 lit. f). Hinsichtlich dieser Personengruppen bzw. Institutionen ist der Staat verpflichtet, diskriminierendes Verhalten dieser Akteure durch Gesetze ausdrücklich zu verbieten und sie bei Verstoß gegen diese Gesetze zu bestrafen. In Artikel 4 Abs. 1 erlaubt das Übereinkommen – zur beschleunigten Herstellung einer materiellen Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen mit Männern – zeitlich befristete Fördermaßnahmen. Der Vertragsausschuss für CEDAW hat in seiner Allgemeinen Empfehlung 25 von 2004 zu diesem Artikel ausgeführt, dass die Anwendung dieser Maßnahmen durchaus als notwendig und damit verpflichtend angesehen werden kann und sie eine Vielfalt von Formen umfassen können, die von der Bevorzugung von Frauen bei gleicher Qualifikation bis zur Quote reichen. In Artikel 4 Abs. 2 schützt das Übereinkommen die biologische Mutterschaft. Darüber hinaus definiert es aber in Artikel 5 lit. b „Mutterschaft“ als eine „soziale Aufgabe“, die in der gemeinsamen Verantwortung von Männern und Frauen liegt. CEDAW verlangt vom Vertragsstaat, alle Maßnahmen zu treffen, die zur „vollen Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte erforderlich sind“ (Artikel 24). In den Niederlanden wurde von wissenschaftlicher Seite eine Typologie erarbeitet, die sich die niederländische Regierung in ihrem dritten Staatenbericht zu eigen machte.10 So wurde herausgestellt, dass es ein erstes Ziel eines Vertragsstaates bei der Umsetzung des Übereinkommens sein muss, vor allem jene gesetzlichen Maßnahmen zu treffen, die auf eine Bereinigung diskriminierender Gesetze zielen und auch die Formulierung neuer frauenspezifischer Gesetze beinhalten. Das zweite Ziel bezieht sich auf die tatsächliche Verbesserung der Situation von Frauen. Dazu muss der Vertragsstaat politische Konzepte und 10

L. S. Groenmann/C. E. van Vleuten/R. Holtmaat/T. E. van Dijk/J.H.J. de Wildt, Het vrouwenverdrag in Nederland anno 1997, 1997; die ersten beiden Kapitel sind fast vollständig in englischer Sprache abgedruckt in: R. Holtmaat, Towards a Different Law and Public Policy; The Significance of Article 5a for the Elimination of Structural Gender Discrimination, 2004, 127–163, hier 139 ff. Leider findet sich diese Typologie im vierten Staatenbericht der Niederlande nicht mehr.

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Programme zur Herstellung der faktischen Gleichberechtigung und Gleichstellung ergreifen. Dazu gehören nach heutiger Sicht durchaus die Instrumente der geschlechtsspezifischen Auswirkungsanalyse (gender impact assessment), des Gender-Mainstreaming und der Frauenförderung. Denn obwohl der neuere Begriff der Geschlechterforschung „Gender“, mit dem Geschlecht als historisch bedingte und sozial und kulturell geformte Kategorie neben das biologische Geschlecht gesetzt wird, im Übereinkommen nicht ausdrücklich genannt wird, kann Artikel 5 lit. a dahingehend interpretiert werden, dass er vom Übereinkommen erfasst wird. Als drittes Ziel obliegt dem Vertragsstaat die Aufgabe, im kulturellen Bereich mit einem Bündel von Maßnahmen aktiv zu werden, um jene Auffassungen, Verhaltensweisen und Gebräuche zu ändern oder zu beseitigen, die sich auf die angebliche Minderwertigkeit der Frau stützen und sich in stereotypen Rollen- und Aufgabenzuweisungen, aber auch in politischen Konzepten und Institutionen manifestieren. Bei jedem einzelnen der spezifischen Artikel 6–16 muss daher geprüft werden, welche Maßnahmen vom Vertragsstaat in seinem jeweiligen Kontext anzuwenden sind und welche einseitigen Auffassungen vom Wesen der Frau oder den Aufgaben von Frauen den Diskriminierungstatbeständen zugrunde liegen, die im jeweiligen Artikel angesprochen werden und die rechtlich und materiell aufgehoben werden müssen. Der Vertragsausschuss für CEDAW selbst, dessen Charakter und Arbeitsweise in den Artikeln 17 und 19–21 des Übereinkommens geregelt ist, ist mit 23 unabhängigen Sachverständigen aus allen Kontinenten besetzt, die jeweils für vier Jahre von den Vertragsstaaten auf deren Vorschlag gewählt werden. Aufgrund der frühen Ratifikation des Übereinkommens durch viele sozialistische Staaten waren zu Beginn der Ausschussarbeit Sachverständige aus diesen Ländern besonders zahlreich vertreten. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozesse in den Ländern Mittel- und Osteuropas bzw. Westasiens ließen die Nominierung bzw. eine Wahl von Sachverständigen aus diesen Ländern allerdings in den Hintergrund treten, so dass es von 1995 bis einschließlich 2002 keine Sachverständigen aus der von den Vereinten Nationen anerkannten „osteuropäischen Region“ gab. In dem verfahrensorientierten Artikel 18 verpflichtet das Übereinkommen die Vertragsstaaten zur Einhaltung einer regelmäßigen Berichterstattung über die Umsetzung desselben an den Vertragsausschuss für CEDAW. Dies war das erste und für lange Zeit einzige Durchsetzungsverfahren des Ausschusses. Das Zusatz- oder Fakultativprotokoll von 1999, das bereits im Dezember 2000 in Kraft trat, eröffnet die Anwendung zweier weiterer Durchsetzungsverfahren, die einige andere VNMenschenrechtsverträge entweder ebenfalls aufgrund von Zusatzprotokollen oder als Bestandteil der vertraglichen Bestimmungen besitzen: das Beschwerdeverfah-

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ren im Rahmen von Eingaben (communication procedure) und das Untersuchungsverfahren auf der Grundlage verlässlicher Informationen (inquiry procedure). Nach dem ersten Verfahren können Frauen bzw. auch Gruppen von Frauen unter bestimmten Bedingungen Eingaben über angebliche Menschenrechtsverletzungen nach dem Übereinkommen, die sie im Vertragsstaat erfahren, an den Ausschuss richten oder sich auch durch andere mit derartigen Eingaben vertreten lassen.11 Der Ausschuss kann dann vom Vertragsstaat – und zwar schon vor jeglicher Bewertung der Beschwerde – sofortige Schutzmaßnahmen verlangen und danach unter Berücksichtigung der Stellungnahmen des Vertragsstaates Empfehlungen außergerichtlichen Charakters an den Vertragsstaat richten, die sich sowohl auf Schutz, Rehabilitation und Kompensation des Opfers beziehen können als auch auf vorzunehmende gesetzliche Schritte oder andere Maßnahmen.12 Nach dem zweiten Verfahren kann der Ausschuss auf der Grundlage verlässlicher Informationen selbst die Initiative ergreifen, um schwerwiegende, d.h. lebensbedrohliche, oder systematische Menschenrechtsverletzungen an Frauen in einem Vertragsstaat zu überprüfen, die Handlungen oder Unterlassungen derselben durch den Vertragsstaat bzw. seine Organe zuzuschreiben sind. 79 Vertragsstaaten von CEDAW13 haben derzeit auch das Fakultativprotokoll ratifiziert und sichern damit ihrer weiblichen Bevölkerung zusätzlichen Schutz ihrer Menschenrechte durch die neuen Durchsetzungsverfahren. Seit 2001 hat der Ausschuss insgesamt elf Beschwerdemitteilungen registriert, hat bei drei Eingaben eine bewertende Entscheidung getroffen, ob es sich um eine Menschenrechtsverletzung handelt oder nicht und hat 11

Zu diesen Bedingungen gehören: Die Eingaben müssen schriftlich eingereicht werden und dürfen nicht anonym sein; dasselbe Anliegen (same matter) darf nicht schon vom Ausschuss oder in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Strafregelungsverfahren geprüft worden sein oder geprüft werden; die Eingabe darf keinen Missbrauch des Übereinkommens darstellen und muss ausreichend begründet sein; die Tatsachen der angeblichen Menschenrechtsverletzung dürfen nicht vor, sondern müssen nach dem In-Kraft-Treten des Protokolls liegen; liegen sie vor dem In-Kraft-Treten, müssen sie auch nach diesem Zeitpunkt noch gegeben sein. Allerdings sind diese Ausschlussbedingungen zumindest in Teilen auch interpretierbar. Für eine erste Einschätzung des Fakultativprotokolls vgl. A. Golze, Die Individualbeschwerde nach dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, in: J. Hasse/E. Müller/P. Schneider (Hrsg.), Menschenrechte: Bilanz und Perspektiven, 2002, 511–533. 12 Z.B. hat der Ausschuss im Fall A. T. v. Hungary (2005) Empfehlungen auf beiden Ebenen ausgesprochen. Diese Entscheidung ist im Jahresbericht des Ausschusses für die 32. Sitzungsperiode enthalten. United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Thirty-second Session, A/60/38 (Part I), Annex 2, 27–39, hier besonders 37–39. Alle Entscheidungen sind auf folgender Internetseite unter „optional protocol“ einzusehen: www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/. 13 Stand 5. Juni 2006.

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zwei Eingaben als nicht zulässig abgelehnt. Im Rahmen des Untersuchungsverfahrens hat der Ausschuss bisher eine Untersuchung durchgeführt.14

C. Faktoren zur Stärkung des Übereinkommens Die Anerkennung des Übereinkommens stieß zunächst auf Schwierigkeiten, da es vorwiegend von der Kommission für die Rechtsstellung der Frau und nicht von der Menschenrechtskommission entwickelt worden war und der Ausschuss auch nicht wie die übrigen Vertragsausschüsse im damaligen Menschenrechtszentrum in Genf – heute Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte –, sondern in den Vereinten Nationen in Wien zusammentrat und dort von der Unterabteilung für die Förderung der Frau (Division for the Advancement of Women, DAW) des damaligen Zentrums für Soziale Entwicklung und Humanitäre Angelegenheiten (Centre for Social Development and Humanitarian Affairs) betreut wurde.15 Auch aufgrund dieser Ansiedlung ordneten die politisch Handelnden das Übereinkommen nicht als einen Menschenrechtsvertrag ein. Dank der weltweiten Frauenrechtsbewegung, die sich auf der Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien mit Tribunalen und Lobbyarbeit Verhör verschaffte und Einfluss nahm, werden Frauenrechte jedoch spätestens seit diesem Zeitpunkt als „unveräußerlicher, integraler und unteilbarer“ Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte anerkannt.16 Das Übereinkommen wurde damit endlich gleichberechtigt neben die anderen Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen gestellt. Gleichzeitig wird in der Wiener Erklärung und Aktionsplattform auch gefordert, dass sich alle menschenrechtlichen Aktivitäten der Vereinten Nationen auf die Förderung der Menschenrechte von Frauen beziehen sollen, was implizit auch die Vertragsausschüsse der Menschenrechtspakte und -übereinkommen mit einschließt, sich mit frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen entsprechend

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Der erste Fall kam übrigens aus der Bundesrepublik Deutschland, wurde jedoch wegen Nichtausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs abgelehnt. Vgl. auch Hinweis auf Internetseite in Anm. 12. 15 1993 wurde die DAW nach New York umgesiedelt und ist heute Teil der Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (Department of Economic and Social Affairs, DESA) der Vereinten Nationen. 16 „The human rights of women and of the girl-child are an inalienable, integral and indivisible part of universal human rights.“ United Nations, World Conference on Human Rights: The Vienna Declaration and Programme of Action (June 1993), 33–34, Abs. 18.

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der in ihren jeweiligen Verträgen enthaltenen Rechte zu befassen.17 Es ist festzustellen, dass die übrigen Vertragsausschüsse tatsächlich seit Mitte der 90er Jahre zunehmend frauenspezifische Diskriminierungstatbestände ansprechen und dass darüber hinaus in den Aktivitäten der Sonderorganisationen, Programme und Fonds der Vereinten Nationen ein Paradigmenwechsel von einem Wohlfahrts- zu einem Menschenrechtsansatz zu verzeichnen ist, der auch eine „Gender“-Komponente enthält. Auch die sog. „Hierarchisierung“ der Menschenrechte, bei denen westliche Staaten jeweils die bürgerlichen und politischen Rechte und sozialistische Staaten jeweils die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bevorzugten, deren „schrittweise“ Umsetzung allerdings laut dem entsprechenden Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR) auch von finanziellen Mitteln abhängig ist,18 wurde 1993 verworfen. Vielmehr wurden alle Menschenrechte als universal, unteilbar und sich gegenseitig bedingend definiert.19 Bereits 1990 hatte auch der Vertragsausschuss für den ICESCR in seinem Allgemeinen Kommentar 3 zur Interpretation des Paktes festgelegt, dass zwar die „vollständige Verwirklichung der jeweiligen Rechte progressiv erreicht werden kann“, dass aber die entsprechenden Schritte „in einer angemessen kurzen Zeit nach In-Kraft-Treten des Pakts in den betreffenden Staaten unternommen werden“ müssen.20 Die in CEDAW in Artikel 2 enthaltene Staatenverpflichtung, „unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen“,21 war zwar schon immer deutlich anders formuliert als die Verpflichtung zur graduellen Umsetzung des ICESCR, da aber in CEDAW das Diskriminierungsverbot auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Frauen betrifft, hatte es häufige, durchaus auch gewollte Missverständnisse von Seiten der Vertragsstaaten gegeben. Die Auflösung der

17 „The human rights of women should form an integral part of the United Nations human rights activities, including the promotion of all human rights instruments relating to women.“ Ibid., 34, Abs. 18. 18 Artikel 2 Abs. 1: „Each State Party to the present Covenant undertakes to take steps, individually and through international assistance and co-operation, especially economic and technical, to the maximum of its available resources, with a view to achieving progressively the full realization of the rights recognized in the present Covenant by all appropriate means, including particularly the adoption of legislative measures.“ 19 Vienna Declaration (Anm. 16), 30, Abs. 5: „All human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated.“ 20 Vertragsausschuss für ICESCR (1990), in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Anm. 9), 183. 21 Hervorhebung von Verf.

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angeblichen Hierarchie der Menschenrechte in der Wiener Erklärung und Aktionsplattform bedeutete daher auch eine deutliche Unterstützung des CEDAW. Das bereits genannte Fakultativprotokoll für CEDAW wurde ebenfalls als Forderung in der Wiener Aktionsplattform erhoben, wenn auch nur von einem Durchsetzungsverfahren als Eingabe von Beschwerden die Rede war. 1995 griff auch die Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz dieses Anliegen der weltweiten Frauenrechtsbewegung auf, und wissenschaftliche Konferenzen und Aufsätze, aber auch der Vertragsausschuss für CEDAW selbst trugen zur raschen Erarbeitung des Protokolls durch die CSW zwischen 1996 und 1999 bei.22 Von besonderer Wichtigkeit war in diesem Zusammenhang die Arbeit von Andrew Byrnes und Jane Connors, die 1996 überzeugend darlegten, dass trotz der teils vage formulierten Staatenverpflichtungen im Übereinkommen diese sowohl hinsichtlich der einzusetzenden Mittel als auch der zu erreichenden Ziele justitiabel sind.23 Ebenfalls gestärkt wurde CEDAW durch die rasch ansteigende Ratifikationsrate, wofür eine Reihe von Faktoren maßgeblich war: die Weltkonferenzen der neunziger Jahre, die Aktivitäten der vom VN-Generalsekretär bestellten Beraterin zu geschlechtsspezifischen Fragen (Gender Adviser) im Range eines „Assistant Secretary-General“, die Bemühungen der zuständigen VN-Verwaltung, aber auch die Anstrengungen von nichtstaatlichen Organisationen. So hat CEDAW mit 184 Vertragsstaaten unter den heute sieben VN-Menschenrechtsverträgen die zweithöchste Ratifikationsrate.24 Es fehlen nur noch wenige Länder, allerdings leider auch die USA, die CEDAW zwar auf der 2. Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen (1980) unterzeichneten, aber bisher nicht ratifizierten. Der Erfolg dieser hohen Ratifikationsrate wurde jedoch mit einer auch sehr hohen Rate an Vorbehalten erkauft, mit denen zahlreiche Vertragsstaaten einzelne Artikel des Übereinkommens belegen und damit deren Gültigkeit für sich verneinen. Dies ist besonders gravierend, wenn vor allem muslimische Staaten Artikel 2, der die Staatenverpflichtungen insgesamt betrifft, und Artikel 16, der die Gleichstellung in Ehe und Familie regelt, nicht anerkennen oder wenn Artikel 5 mit einem Vorbehalt belegt wird. Der Vertragsausschuss für CEDAW hat sich wiederholt direkt an diese Vertragsstaaten gewandt, derartige Vorbehalte zurückzuziehen. Er hat auch in Allgemeinen Empfehlungen und sonstigen Stellungnahmen deutlich gemacht, dass Vorbehalte, die 22

Die Entstehungsgeschichte ist gut dokumentiert in United Nations, The Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women. The Optional Protocol: Text and Materials, 2000. 23 A. Byrnes/J. Connors, Enforcing the Human Rights of Women: A Complaints Procedure for the Women’s Convention, Brooklyn Journal of International Law 21 (1996), 682–797. 24 Stand 11. August 2006.

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sich gegen Artikel 2 und 16 richten, sowohl nach Artikel 28 Abs. 2 des Übereinkommens gegen „Ziel und Zweck“ desselben verstoßen als auch nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Vienna Convention on the Law of Treaties, VCLT, 1969) unzulässig sind. Eine Reihe anderer Vertragsstaaten, insbesondere die der EU, legt regelmäßig Widerspruch ein, doch haben diese Hinweise und Proteste bisher nur wenig Resultate gezeigt.25 In der Praxis allerdings diskutiert der Ausschuss, wenn er in den Dialog mit dem entsprechenden Vertragsstaat tritt, auch die Umsetzung der mit Vorbehalten belegten Artikel. Darüber hinaus ist er der Auffassung, dass eine Ratifikation mit Vorbehalten besser ist als keine Ratifikation, da dann jede Diskussion im Ausschuss über die menschenrechtliche Situation von Frauen im entsprechenden Land ausgeschlossen ist. Wichtig für ein besseres Verständnis des Übereinkommens und damit für seine Umsetzung sind die bereits erwähnten Interpretationen einzelner Artikel und der darin für die Vertragsstaaten enthaltenen Verpflichtungen, die der Vertragssausschuss seit 1986 formuliert, nachdem der Widerstand der Sachverständigen aus den sozialistischen Ländern gegen derartige Interpretationen ausgeräumt war.26 Bisher hat der Ausschuss 25 Allgemeine Empfehlungen entwickelt. Von besonderer Wichtigkeit sind die ausführlichen Empfehlungen 14–25. Die Empfehlung 19 von 1992, die Gewalt gegen Frauen als eine Form der Diskriminierung definiert und verbietet, ist das erste umfassende internationale Dokument dieser Art und wurde vom Ausschuss noch vor der VN-Erklärung zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (Declaration on the Elimination of Violence against Women, 1993) verabschiedet. Der Ausschuss selbst hat ebenfalls im Laufe der Jahre an Sichtbarkeit und Effektivität seiner Arbeit gewonnen. Ein Teil seiner anfänglichen Probleme ist 25 Einzelheiten zu diesen Stellungnahmen und Hinweise auf entsprechende Dokumente und wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema finden sich bei H. B. Schöpp-Schilling, Reservations to CEDAW: An Unresolved Issue or (No) New Developments?, in: I. Ziemele (Hrsg.), Reservations to Human Rights Treaties and the Vienna Convention Regime, 2004, 3–39. Bisher hat kein Vertragsstaat die Mittel der Einleitung eines Schiedsverfahrens oder der Anrufung des Internationalen Gerichtshofes nach Artikel 29 Abs. 1 des Übereinkommens benutzt. Und Vertragsstaaten, die ungültige Vorbehalte einlegen, schützen sich auch gegen diese Mittel durch einen Vorbehalt zu diesem Artikel. Im Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte arbeitet seit 2006 eine Arbeitsgruppe bestehend aus Sachverständigen der Vertragsausschüsse zu dem Problem der Vorbehalte. 26 Das spezifische völkerrechtliche Verständnis der Sachverständigen aus sozialistischen Ländern, dass nämlich nicht der Ausschuss, sondern nur die Vertragsstaaten selbst dies tun könnten, blockierte die diesbezügliche Arbeit bis 1986. Vgl. dazu E. Evatt, Finding a Voice for Women’s rights: The Early Days of CEDAW, The George Washington International Law Review 34 (2002), 535–541.

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heute überwunden. Zunächst ist die Konfrontation westlicher und sozialistischer Sachverständiger, welche die ersten Jahre der Arbeit des Ausschusses prägte, seit Beendigung des Kalten Krieges aufgehoben.27 Die Nord-Süd-Konfrontation, die heute viele Diskussionen in den VN-Gremien kennzeichnet, hat sich unter den Sachverständigen nicht durchgesetzt, obwohl sie zeitweise anklingt. Zum anderen ist die nachteilige Begrenzung seiner Arbeitszeit durch Artikel 20 Abs. 128 durch eine Vertragsänderung im Jahre 1995 aufgehoben worden, auch wenn leider noch längst nicht die notwendige Akzeptanzrate dieser Änderung von Seiten der Vertragsstaaten erreicht ist, um sie rechtlich in Kraft treten lassen. In der Praxis ist sie aber in Kraft, denn der Ausschuss hat stetig mehr Arbeitszeit bewilligt bekommen, und in den Jahren 2006 und 2007 kann er aufgrund von erneuter Zeit- und Ressourcenzuwendung dreimal drei Wochen und in drei der dann insgesamt sechs Sitzungsperioden in zwei Kammern tagen. Dies hat er zum ersten Mal in der 36. Sitzungsperiode im August 2006 getan, und er konnte auf diese Weise die Staatenberichte von fünfzehn statt von nur acht Ländern diskutieren und bewerten.29 Damit ist ein kleiner Teil des Rückstaus an Berichten abgearbeitet worden, doch ist zu erwarten, dass Ende 2007 wiederum mindestens sechzig Länder wahrscheinlich mehr als zwei Jahre auf die Diskussion ihrer abgelieferten Berichte warten werden müssen, wobei diese Berechnung nicht einmal berücksichtigt, dass einige Länder ihrer Berichtspflicht gar nicht nachkommen und viele diese zu spät erfüllen. Schließlich wurde dem Vertragsausschuss für CEDAW im Abschlussdokument der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking (1995), der rechtlich nicht verbindlichen Aktionsplattform, ein weiteres Mandat verliehen, das ihn gestärkt hat. Zusätzlich zur Kommission für die Rechtsstellung der Frau, welche die Umsetzung dieser Aktionsplattform auf ihren jährlichen Sitzungen überprüfen soll, ist auch der Vertragsausschuss aufgerufen, diesen Punkt bei der Diskussion der jeweiligen Staatenberichte zu bewerten.30 Der Ausschuss hat seine Berichtsregeln entsprechend 27 Ibid. Die ersten Jahre des Ausschusses sind gut dokumentiert in United Nations, The Work of CEDAW, Reports of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW), vol. I, 1982–1985, 1989, und vol. II, 1986–1987, 1990. Die Bände enthalten sowohl die Wortprotokolle (summary records) der Diskussionen des Ausschusses als auch die damals noch sehr umfänglichen Berichte. 28 „The Committee shall normally meet for a period of not more than two weeks annually …“ Durch ein Versehen wurde dieser Satz, der sich ursprünglich auf eine andere Form eines Kontrollgremiums bezog, nach der Formulierung des jetzigen Artikels 17, der den Vertragsausschuss beschreibt, nicht mehr geändert. 29 Vgl. Resolution der VN-Vollversammlung vom 23. Dezember 2005, A/RES/60/230. 30 United Nations, Platform for Action and the Beijing Declaration, 1996, 166, Abs. 322–323.

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geändert und erwartet, dass die Vertragsstaaten in ihren Staatenberichten auch auf ihre Bemühungen in der Umsetzung der Aktionsplattform eingehen. Er kritisiert sie sowohl bei Nichterfüllung dieser Berichtsforderung als auch bei mangelnder Umsetzung der in der Aktionsplattform formulierten Ziele, obwohl diese rechtlich nicht verbindlich sind. In diesem Zusammenhang regte der Ausschuss in seiner 15. Sitzungsperiode (1996) an, dass die DAW mögliche Verbindungen zwischen der Aktionsplattform und dem Übereinkommen analysiere.31 In der Nachfolge machte er sich die Interpretation zu eigen, die von der internationalen Frauenrechtsorganisation, International Women’s Rights Action Watch (IWRAW), erstellt wurde. Diese Analyse zeigt auf, dass die sehr detaillierten Ziele und Arbeitsschritte der Aktionsplattform mit einzelnen Artikeln des Übereinkommens verbunden werden können und müssen.32 Nach Auffassung des Ausschusses erhalten die in der Aktionsplattform enthaltenen Ziele auf diese Weise eine rechtlich verbindliche Grundlage, wenn der Mitgliedstaat der Vereinten Nationen, der sich um die Umsetzung der Aktionsplattform bemüht, auch ein Vertragsstaat von CEDAW ist.

D. Verstärkende Faktoren für die Wirkung des Übereinkommens In den vergangenen 25 Jahren hat sich das Berichtsverfahren durchaus als wichtiges Mittel erwiesen, um die menschenrechtliche Situation von Frauen in vielen Vertragsstaaten zu verbessern. Seit 2003 beginnen auch die Verfahren des Fakultativprotokolls zu wirken.33 Dabei ist es manchmal schwer festzustellen – wenn nicht konkrete Hinweise vorliegen –, ob die Diskussion eines Staatenberichtes einschließlich der abschließenden Bewertung durch den Vertragsausschuss diese Wirkungen erzielt hat oder ob auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Zu diesen gehören u.a. die Berichtsverfahren der 4. Weltfrauenkonferenz und ihrer Nachfolgekonferenzen, die Aktivitäten verschiedener VN-Sonderorganisationen, Programme und Fonds, der VN-Sonderberichterstatter oder der internationalen und nationalen Frauen- und Menschenrechtsverbände bzw. nationaler politischer Parteien. Nicht zu vernachlässigen sind die Bemühungen von Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, die seit mehr als dreißig Jahren Paradigmen und Praxis der Entwicklungszusammenarbeit auf Frauen ausrichten und hier 31

United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Fifteenth Session, A/51/38, 47, Abs. 369. 32 K. Timothy/M. Freeman, The CEDAW Convention and the Beijing Platform for Action, IWRAW, February 2000. 33 Die Empfehlungen des Ausschusses zu A. T. v. Hungary (2005) und im Falle der Untersuchung der ungeklärten Frauenmorde in Mexiko (2005) haben durchaus zu Maßnahmen seitens der Regierungen in Ungarn und Mexiko geführt.

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wichtige Erfolge erzielt haben.34 Ggf. können auch alle Faktoren zusammen wirken und sich wechselseitig verstärken. Wirkungsanalysen liegen für CEDAW erst in wenigen Studien vor.35 Zunehmend befassen sich auch Wissenschaftlerinnen mit den Auswirkungen von CEDAW in Einzelstudien.36 Meistens sind dies Vertreterinnen der Sozial- oder Politikwissenschaften und nicht des Völkerrechts, was dazu geführt hat, dass Struktur und Abläufe der Vereinten Nationen nicht immer richtig verstanden und die VN-Gremien, z.B. die mit Regierungsvertretern besetzten VNFachkommissionen der Vereinten Nationen, mit den unabhängigen Vertragsausschüssen verwechselt werden.37 Faktische Fehler und falsche Begrifflichkeiten können auch zu letztlich nur bedingt nachvollziehbaren, weil überspitzten Thesen führen, wie erst kürzlich in einer Bochumer Dissertation, deren Kurzfassung jetzt auch in einer englischen Veröffentlichung vorliegt.38 Leider wird zu diesem Thema 34

Vgl. dazu u.a. die Aufsätze in: J. S. Jaquette/G. Summerfield (Hrsg.), Women and Gender Equity in Development Theory and Practice. Institutions, Resources, and Mobilization, 2006. 35 Eine frühe Wirkungsanalyse im Rahmen eines Forschungsprojektes wurde an der kanadischen York University koordiniert und enthält Analysen zu Kanada, Deutschland, Japan, Nepal, den Niederlanden, Panama, Südafrika, Südkorea, der Türkei und der Ukraine: M. McPhedran/S. Bazilli/M. Erickson/A. Byrnes, The First CEDAW Impact Study: Final Report. Released during the CEDAW Committee, twenty-third session, 2000. The Centre for Feminist Research, York University and the International Women’s Right Project, 2000; eine weitere Studie wurde im Rahmen von UNIFEM erstellt: I. LandsbergLewis (Hrsg.), Bringing Equality Home. Implementing the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW), United Nations Development Fund for Women, 1998. 36 A. Afsharipour, Empowering Ourselves: The Role of Women’s NGOs in the Enforcement of the Women’s Convention, Columbia Law Review 99, 129–166; M. S. Baier, Japanische Frauennetzwerke im Zeitalter der Globalisierung. Das Working Women’s (International) Network in saka, Diplomarbeit Universität Wien, 2004; die Arbeit soll als Aufsatz mit dem Titel Women’s Labour Activism in the Context of Globalization: The Working Women’s (International) Network in saka, in einem Band von C. Dierichs/S. Kreitz-Sandberg (Hrsg.), Gender Dynamics and Globalisation, erscheinen; S. Zwingel, From Intergovernmental Negotiations to (Sub)national Change: A Transnational Perspective on the Impact of CEDAW, International Feminist Journal of Politics 7 (2005), 400–424. 37 So z.B. in der Diplomarbeit von Baier (Anm. 36), aber auch bei J. Gelb, Gender Politics in Japan and in the United States. Comparing Women’s Movements, Rights and Politics, 2003. 38 Zwingel (Anm. 36) stellt in ihrer Arbeit die These auf, „that CEDAW has been transformed from a ‚classical‘ intergovernmental regime to a transnational network enforcing women’s rights“, 400. Diese These ist aus meiner Sicht nicht korrekt. Zwingel schafft hier einen Gegensatz, den es so nie gegeben hat, indem sie die Erstellung des Übereinkommens

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generell zu wenig interdisziplinär gearbeitet, so dass immer nur die Arbeiten der eigenen Zunft – Völkerrecht hier, Sozial- und Politikwissenschaften dort –, nicht aber die der anderen wahrgenommen werden. Das zunehmende Engagement von VN-Sonderorganisationen, Programmen und Fonds, die seit 1993 ihre Projektarbeit in den einzelnen Ländern auf einen menschenrechtlichen Ansatz und damit auch auf das Übereinkommen und seine Normen gründen, hat ohne Zweifel auch zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation von Frauen in den sog. Transformations- und Entwicklungsländern beigetragen, CEDAW bekannter gemacht und zur Anwendung gebracht. Aber auch die zusätzlichen Informationen, welche diese Organisationen seit vielen Jahren liefern, bedeuten eine Bereicherung des Dialogs des Ausschusses mit den Vertragsstaaten und können zu konkreten Empfehlungen führen.39 Der Ausschuss hat sogar in mehreren Entscheidungen Hinweise und Richtlinien für die Erstellung dieser Berichte gegeben, um die vorhandenen Informationen möglichst relevant aufbereitet zu bekommen.40 Eine zusätzliche Verbesserung dieser Arbeit ist im Jahre 2006 von einigen Organisationen selbst initiiert worden, indem sich ihre im jeweiligen Land arbeitenden Gender-Sachverständigen zusammenschließen und aus ihren dortigen praktischen Arbeitserfahrungen relevante Informationen in einem gemeinsamen Bericht an den Vertragsausschuss zusammenstellen. Dieses Vorgehen hat darüber hinaus noch den zusätzlichen Gewinn, dass die Organisationen im Bereich der Menschenrechte von Frauen enger zusammenarbeiten können. Als ebenfalls wichtig, wenn nicht sogar als noch wichtiger, haben sich die Alternativberichte von internationalen Frauenrechts- und Menschenrechtsorganisationen und insbesondere von nationalen Frauenverbänden jeglicher Ausrichtung im „intergovernmental context“ hinsichtlich seiner Rücksichtnahme auf nationale Gegebenheiten überbetont und den Status und die Arbeit des unabhängigen Vertragsausschusses unterschätzt. Darüber hinaus stützt sie sich in ihrem Aufsatz auf z. T. veraltete juristische Literatur zu CEDAW, zum anderen kennt sie offensichtlich andere juristische Literatur nicht, die schon 1992 Aspekte ihrer These ausformulierte, vgl. A. A. An-Na’im (Anm. 58); zudem enthält der Aufsatz faktische Ungenauigkeiten und Fehler. 39 Nach Artikel 22 des Übereinkommens haben die Sonderorganisationen der Vereinten Nationen das Recht, bei der „Beratung der Durchführung derjenigen Bestimmungen dieses Übereinkommens vertreten zu sein, die in ihren Tätigkeitsbereich fallen.“ Darüber hinaus kann der Ausschuss die Sonderorganisationen auch bitten, „Berichte über die Durchführung des Übereinkommens auf Gebieten vorzulegen, die in ihren Tätigkeitsbereich fallen.“ 40 Zuletzt in der 34. Sitzungsperiode (Januar 2006): „Guidelines for submission of reports by United Nations specialized agencies and other bodies“. United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Thirty-fourth Session, A/61/38 (Part 1), Annex 2, 79–80.

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für die Arbeit des Ausschusses erwiesen. Diese erhält der Ausschuss z.B. seit 1992 von der internationalen Frauenrechtsorganisation International Women’s Rights Action Watch (IWRAW) mit Sitz in Minneapolis, die nach der 3. Weltfrauenkonferenz in Nairobi gegründet wurde. Sie sammelt Informationen zu einzelnen Ländern aus verschiedenen Quellen, einschließlich von Wissenschaftlerinnen oder Aktivistinnen in den Ländern selbst, und koordiniert sie in Alternativberichten, die sie dem CEDAW-Ausschuss zukommen lässt. Alternativberichte ermöglichen es dem Ausschuss, im Dialog mit der jeweiligen Regierungsdelegation kritische Fragen zu stellen – Regierungen neigen dazu, ihre Berichte zu schönen –, deren Beantwortung oder Nichtbeantwortung zu konkreten Handlungsempfehlungen des Ausschusses in seiner abschließenden Bewertung des Staatenberichtes führen kann. Werden diese Empfehlungen umgesetzt, kann eine tatsächliche Verbesserung der menschenrechtlichen Situation von Frauen im betreffenden Land bewirkt werden. In den 90er Jahren veranstaltete IWRAW auch Seminare an Wochenenden während der Sitzungsperiode für die Sachverständigen des Ausschusses, in denen sie sich, zusammen mit Personen aus Wissenschaft und VN-Verwaltung, über normative Aspekte einzelner Artikel des Übereinkommens auseinandersetzten, so dass ein kollektives Verständnis über die Bedeutung des Übereinkommens im Ausschuss entstand, was für viele Jahre den „konstruktiven Dialog“ prägte und u.a. die Formulierung der Allgemeinen Empfehlungen beeinflusste.41 Mitte der 90er Jahre ergab sich dann ein qualitativer Sprung für die Wirksamkeit des Übereinkommens durch die Arbeit einer zweiten Organisation, International Women’s Rights Action Watch Asia Pacific, die sich vor allem den „Frauen des Südens“42 verbunden fühlt und in Kuala Lumpur ansässig ist.43 Sie schreibt nicht

41 Informationen zu IWRAW und ihren Publikationen können unter www. iwraw.igc. org eingesehen werden. In den letzten Jahren hat IWRAW auch anderen Vertragsausschüssen zugearbeitet. Als besonders wichtig für CEDAW hat sich der Fragenkatalog zur Umsetzung der einzelnen Artikel gezeigt, den IWRAW bereits in den 90er Jahren erarbeitete und der in späteren Auflagen von der DAW weiterentwickelt wurde und heute in mehreren Sprachen vorliegt: IWRAW et. al., Assessing the Status of Women. A Guide to Reporting Under the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women, United Nations 2000. Einen ähnlichen Fragenkatalog zu den frauenspezifischen Aspekten des ICESCR hat sie vor kurzem erarbeitet: IWRAW, Equality and Women’s Economic, Social and Cultural Rights. A Guide to Implementation and Monitoring under the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, 2004. 42 Mit diesem Begriff werden Frauen in Entwicklungsländern erfasst. IWRAW Asia Pacific arbeitet heute jedoch auch mit Frauenverbänden in Ländern zusammen, die eine politische, wirtschaftliche und soziale Transformation erfahren haben. 43 Auch wenn der Name mit der in Minneapolis ansässigen ersten Organisation fast identisch ist, handelt es sich um zwei separate Organisationen. IWRAW Asia Pacific fungiert

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mehr die Alternativberichte selbst, sondern schult Vertreterinnen nationaler Frauenverbände vor und während der CEDAW-Sitzungsperioden in New York sowohl im Schreiben dieser Berichte als auch in der Lobbyarbeit gegenüber dem Ausschuss und der nationalen Lobbyarbeit gegenüber ihren jeweiligen Regierungen. Sie stärkt damit auch langfristig die Verbände selbst, denn meistens ist der Prozess der Erstellung eines Alternativberichtes für diese ebenso wichtig wie das Produkt selbst, da sie Prioritäten setzen und Konsens finden müssen. Da Vertreterinnen der nationalen Frauenverbände während der Behandlung des Staatenberichtes in New York anwesend sind, ergibt sich für sie die Möglichkeit, das Übereinkommen und die Arbeitsweise des Ausschusses tiefer zu verstehen und gleichzeitig Kontakte mit ihrer jeweiligen Regierung aufzunehmen, die ihre Lobbyarbeit im eigenen Land bei der Umsetzung der Abschließenden Kommentare des Ausschusses stärken. Die Anwesenheit von Frauen- und Menschenrechtsverbänden mit ihren Alternativberichten ist heute sowohl bereits in der Vorbereitungsgruppe des Ausschusses44 als auch während der Sitzungsperiode selbstverständlich. Auch andere internationale Menschenrechtsorganisationen liefern wertvolle Alternativberichte, so dass der Umfang all dieser Berichte oft den Umfang des Staatenberichtes übersteigt.45 Das Wechselspiel zwischen Ausschuss und der Regierung eines Vertragsstaates ist durch die vielfältigen Informationen von Seiten der Zivilgesellschaft um eine neue Dimension erweitert – aber nicht, wie Zwingel meint46 – grundlegend verändert worden, die letztlich die Umsetzung des Übereinkommens stärkt. Die Finanzierung der Arbeit der nichtstaatlichen Organisationen für

seit einiger Zeit auch als Transmissionsriemen zur Weiterleitung von Alternativberichten an die Ausschussmitglieder, wenn diese nicht von Organisationen kommen, die sie selbst identifiziert und geschult hat, und der Ausschuss hat diese Funktion informell akzeptiert. Auch die DAW leitet Alternativberichte an die Ausschussmitglieder weiter und hat auf Anregung des Ausschusses kürzlich die diesbezüglichen Informationen auf ihrer Internetseite verbessert, um nichtstaatlichen Organisationen den Zugang zu erleichtern. IWRAW Asia Pacific, ihre Publikationen und die von ihr koordinierten Alternativberichte sind einsehbar unter www.iwraw-ap.org. 44 Die Vorbereitungsgruppe des Ausschusses erstellt einige Zeit vor der mündlichen Diskussion des Staatenberichtes auf dessen Grundlage eine Liste von Fragen, die der Vertragsstaat schriftlich beantwortet und die, zusammen mit dem Staatenbericht selbst, in der eigentlichen Sitzung diskutiert werden. Auf diese Weise kann der Staat seine Berichterstattung aktualisieren und vertiefen und der Ausschuss kann die Schwerpunkte seiner Kritik fokussieren. 45 So u.a. Amnesty International, Human Rights Watch, Minority Rights Group International, The World Organization against Torture. 46 Zwingel (Anm. 36).

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CEDAW ist jedoch immer ein Problem und scheint zudem derzeit gefährdet, da die entsprechenden Finanzquellen schwächer werden.47 Als letzter Faktor ist die Rolle der nationalen Menschenrechtsinstitute oder Menschenrechtskommissionen zu nennen, die seit der Weltkonferenz über Menschenrechte in vielen Ländern eingerichtet werden. Sie überprüfen u.a. die Einhaltung der Menschenrechte auch nach den VN-Menschenrechtsverträgen vor Ort. Während sich das Deutsche Institut für Menschenrechte für eine Rolle entschieden hat, die in der Hilfeleistung für deutsche nichtstaatliche Organisationen bei der Erstellung von Alternativberichten für die VN-Vertragsausschüsse besteht bzw. in der Durchführung von Nachfolgeveranstaltungen zu den Abschließenden Kommentaren derselben zu Deutschland, erstellten andere Institutionen dieser Art, wie z.B. die irische und die mexikanische Menschenrechtskommission, eigene Alternativberichte und waren bei der Diskussion der Staatenberichte in New York vertreten.

E. Beispiele für Wirkungen des Übereinkommens in der Praxis der Vertragsstaaten In den achtzehn Jahren meiner Ausschusstätigkeit habe ich im Laufe der Jahre nicht nur Verbesserungen in der Effektivität der Arbeit des Ausschusses miterlebt und mitgestaltet, sondern auch die Auswirkungen des Übereinkommens verfolgt und unter Berücksichtigung der möglichen Einflussnahme anderer Faktoren deutliche Fortschritte für die menschenrechtliche Situation von Frauen gesehen. Diese Fortschritte vollziehen sich im Rahmen aller drei genannten Ziele, die in den Niederlanden identifiziert wurden. Im gesetzlichen Bereich wurden in vielen Ländern in allen Kontinenten Vorschriften, die Frauen in Gesetzen selbst diskriminieren, beseitigt (Familienrecht, Strafrecht, Staatsbürgerrecht, Erbrecht); neue Gesetze (Antidiskriminierungsgesetze, Gleichstellungsgesetze, Frauenfördergesetze, Gesetze zum Gewaltschutz für Frauen in der Familie, Gesetze für den rechtlichen Schutz von Prostituierten oder für das Verbot der Prostitution, Gesetze zum Verbot von genitaler Verstümmelung, Quotierungsgesetze für politische Parteien) wurden formuliert und von den Parlamenten angenommen; in manchen afrikanischen Ländern wurde das 47

Vgl. auch den Bericht von C. Clark/E. Sprenger/L. VeneKlasen of Just Associates in collaboration with L. Alpizar Duran/J. Kerrn of AWID (Association for Women’s Rights in Development), Where is the Money for Women’s Rights? Assessing the Role of Donors in the Promotion of Women’s Rights and the Support of Women’s Rights Organizations, Februar 2006, http://www.siyanda.org/static/clark_money_womenrights.htm.

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Gewohnheitsrecht (customary law) von seinen frauendiskriminierenden Elementen gereinigt und kodifiziert; Untersuchungen zur Harmonisierung von Gewohnheitsrecht, religiösem Recht, kodifiziertem und internationalem Recht werden derzeit in einer Reihe von afrikanischen Staaten mit dem Ziel durchgeführt, jene Vorschriften oder Praktiken zu beseitigen oder zu mindern, die Frauen diskriminieren.48 Ein neues regionales Übereinkommen in Lateinamerika greift Aspekte von CEDAW auf,49 und die Europäische Kommission hat begonnen, in ihren Richtlinien zur Antidiskriminierung direkt den Bezug zu den völkerrechtlichen Verträgen der Vereinten Nationen zu benennen.50 Während also kein Zweifel daran besteht, dass die unverzügliche Umsetzung des Diskriminierungsverbots nach 1993 in vielen Vertragsstaaten beschleunigt in Angriff genommen wurde, ist das Ziel, alle frauendiskriminierenden Gesetze zu beseitigen, weltweit bis heute nicht erreicht. Gerade in der 36. Sitzungsperiode im August 2006 musste der Ausschuss erneut erfahren, dass frauenspezifische Gesetzesänderungen oder neue Gesetzesvorlagen, die von Regierungen unterbreitet werden, in Parlamenten, die von männlichen Abgeordneten dominiert sind, oft wenig Chancen für eine weitere Behandlung und Verabschiedung haben und jahrelang liegen bleiben.51 Es ist zu erwarten, dass der Ausschuss in seiner Interpretation der Artikel 1–3, die er sich für die kommenden zwei Jahre vorgenommen hat, zu dieser Frage, was denn eine unverzügliche Umsetzung des Übereinkommens bedeutet, eine eindeutige Position beziehen wird. Natürlich können sich gesellschaftliche Verhältnisse, vor allem im kulturellen Bereich, nicht von heute auf morgen ändern, aber diese Tatsache darf Vertragsstaaten keinen Raum geben, nichts oder nur wenig in kleinen Schritten und nur aufgrund des Drucks des Ausschusses oder der nationalen Frauengruppierungen zu tun. Ein interessantes Beispiel aus der Praxis von CEDAW ist in diesem Zusammenhang Japan, dessen Regierungen bisher der unverrückbaren, wenn auch nicht richtigen Auffassung waren, das Übereinkommen nur schrittweise umsetzen zu müssen. Andererseits haben alle Regierungen Japans die Empfehlungen 48 Ein gutes Beispiel für den schwierigen Prozess der Kodifizierung von Gewohnheitsrecht, u.a. auch unter dem Einfluss von CEDAW, gibt der folgende Artikel über Südafrika: Gender Research Project of the Centre for Applied Legal Studies, University of Witwatersrand, Engendering the Political Agenda in South Africa, in: United Nations International Research and Training Institute for the Advancement of Women, INSTRAW, Engendering the Political Agenda: The Role of the State, Women’s Organizations and the International Community, 2000, 162–299, hier besonders 247–274. 49 Vgl. die Interamerikanische Konvention über die Verhütung, Bestrafung und Ausrottung von Gewalt gegen Frauen – Konvention von Belém do Pará (1994). 50 So die Richtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002//73/EG. 51 So in Chile und in den Philippinen.

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der Abschließenden Kommentare des Vertragsausschusses für CEDAW jedes Mal sehr ernst genommen und bis zur jeweils nächsten Berichtslegung tatsächlich immer einen weiteren gesetzlichen, programmatischen oder auf Institutionen bezogenen Schritt zur Verwirklichung der Menschenrechte seiner weiblichen Bevölkerung getan. Dies allerdings auch unter dem Druck einer beispiellos aktiven nationalen Gruppierung von Frauen- und Menschenrechtsverbänden, die sich bewusst der internationalen Überprüfungsmechanismen der menschenrechtlichen Verpflichtungen ihres Staates bedienen, um Druck auf die Regierungen zu erzeugen.52 Hege Skjeie verdeutlicht am Beispiel Norwegens, wie eine schrittweise Umsetzung des Übereinkommens, die sie u.a. in der „Reisemetapher“ der politischen Terminologie in allen skandinavischen Ländern versinnbildlicht sieht, auch die Gefahr beinhaltet, dass die frauenspezifische Gleichstellungspolitik bei Konflikten mit anderen Werten oder politischen Zielen zurückstecken muss (duty to yield).53 Der von der amerikanischen Organisation „Equality Now“ initiierte und von einigen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Jahre 2005 in die CSW eingebrachte Vorschlag, die Beseitigung frauendiskriminierender Gesetze durch die Einrichtung einer VNSonderberichterstatterin zu beschleunigen, die an die CSW angebunden sein würde, wird allerdings von dem Vertragsausschuss für CEDAW kritisch und als nicht notwendig angesehen und hat auch bisher in der CSW noch keine mehrheitliche Unterstützung gefunden.54 Um das zweite Ziel, die Verbesserung der tatsächlichen Situation von Frauen zu erreichen, wurden durch institutionelle und programmatische Maßnahmen Frauenministerien oder auch frauenpolitische Abteilungen oder Stabsstellen in den Regierungsverwaltungen oft auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene eingerichtet, manchmal allerdings auch nur unabhängige Kommissionen, die allenfalls beratenden Status haben. Eine Reihe von Ländern schuf nationale Menschenrechtskommissionen oder -institute mit Gender-Abteilungen. Gender-Mainstreaming, das in der Aktionsplattform von Peking gefordert wird und im Übereinkommen unter 52

Baier (Anm. 36); Y. Iwasawa, International law, human rights, and Japanese law: the impact of international law on Japanese law, 1998. 53 H. Skjeie, Gender Equality: On Travel Metaphors and Duties to Yield, in: S. K. Hellsten/A. M. Holli/K. Daskalova (Hrsg.), Women’s Citizenship and Political Rights, 2006, 86–104, besonders 98–101. 54 Equality Now hat sich in den vergangenen Jahren sehr verdient gemacht mit Aufstellungen über noch vorhandene diskriminierende Gesetze in verschiedenen Ländern und mit Kampagnen, in denen Frauen und Frauenverbände weltweit aufgerufen wurden, sich schriftlich mit Protesten an die entsprechenden Regierungen zu wenden. Der Vorschlag einer Sonderberichterstatterin soll nach Auffassung der Organisation auch der Stärkung der CSW dienen, der noch nie eine derartige Funktion angegliedert wurde und die in der Reform der Vereinten Nationen an Status verloren hat. Vgl. auch www.equalitynow.org.

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jene Maßnahmen zu fassen ist, die von den Vertragsstaaten nach Artikel 3 zu ergreifen sind, wurde von vielen Regierungen in allen Kontinenten zum politischen Leitprinzip erhoben, oft auch mit entsprechender institutioneller Verankerung (sog. gender focal points) in allen Ministerien. Bei näherer Betrachtung muss allerdings festgestellt werden, dass diese institutionellen Vorkehrungen nur in wenigen Fällen mit ausreichenden Machtbefugnissen, Ressourcen und Vernetzungsmechanismen ausgestattet sind, um wirklich erfolgreich arbeiten zu können. Auch die weiterhin vorhandenen Rollenstereotypen in den Auffassungen und Verhaltensweisen der handelnden Regierungsangestellten setzen Hindernisse. Letztlich kann es aber auch an politischem Willen fehlen.55 In der Praxis wird daher Gender-Mainstreaming bei entscheidenden Reformen oft nicht angewandt.56 Diverse Programme für Alphabetisierung, Bildung, Ausbildung, Erwerbsarbeit und politische Arbeit unterstützen speziell Frauen in einer Reihe von Ländern, z.T. auch mit Quotierungen. Die Erwerbschancen von Frauen im ländlichen Bereich werden in Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika mit Hilfe von Mikrokreditprogrammen, Quotierungen bei der Landvergabe oder bei Ausbildungsprogrammen erhöht. Finanzielle Zuwendungen an Mütter helfen, die Ernährung der Familie zu sichern und dienen als Anreiz bzw. sind Bedingung für den Schulbesuch der Töchter. Die größten Schwierigkeiten stellen sich der Umsetzung von CEDAW im kulturellen und religiösen Bereich entgegen. Alle Religionen reflektieren im Grunde genommen wenn nicht sogar die angebliche Minderwertigkeit der Frau, so doch ihre Andersartigkeit, mit welcher eine Behandlung gerechtfertigt wird, die nach 55

Aufsätze mit Falluntersuchungen über Hindernisse bei einer erfolgreichen Umsetzung von Gender-Mainstreaming sind z.B. E. Prügl/A. Lustgarten, Mainstreaming Gender in International Organizations, in: Jaquette/Summerfield (Anm. 34), 53–70, und P. Meier, Implementing Gender Equality: Gender-Mainstreaming or the Gap between Theory and Practice, in: Hellsten/Holli/Daskalova (Anm. 53), 179–198. 56 So z.B. bei den Reformen des Arbeitsmarktes, der Renten bzw. der Gesundheitsfürsorge in der Bundesrepublik Deutschland, vgl. den Abschließenden Kommentar des Vertragsausschusses zum 5. Staatenbericht im Januar 2004, United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination Against Women, Thirtieth Session, A/59/ 38, 66, Abs. 392 und 393, und die Stellungnahmen von Wissenschaftlerinnen in der nachfolgenden Konferenz des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Frauenrechte in Deutschland: Follow-up-Prozess CEDAW 2004, Mai 2005. Auch der Alternativbericht der niederländischen nichtstaatlichen Organisationen zum 4. Staatenbericht der Niederlande weist an verschiedenen Stellen auf die Diskrepanz zwischen politischer Leitlinie und politischer Praxis im Falle von Gender-Mainstreaming hin, NJCM/NetworkVN-Vrouvenverdrag, Taking Women’s Rights seriously? Shadow report by Dutch NGOs; an examination of the Fourth Report by the Government of the Netherlands on the implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 2000–2004, Humanist Committee on Human Rights, 2006.

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CEDAW diskriminierend ist. Die Aktionsprogramme von Wien und Peking haben deutlich herausgestellt, dass kulturelle Besonderheiten in einem Land nicht zu einer Verletzung von Menschenrechten führen dürfen, und der Vertragsausschuss für den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (International Covenant for Civil and Political Rights, ICCPR) hat diese Position in seinem Allgemeinen Kommentar 28 zu Artikel 3 des Paktes im Jahr 2000 noch einmal bekräftigt.57 Auch zu dieser wichtigen Frage steht eine Interpretation des Artikels 5 lit. a des CEDAW durch den Vertragsausschuss leider noch aus. Gesetze und Programme sind allerdings allein oft nicht ausreichend, um Verhaltensänderungen zu bewirken, insbesondere wenn Gesetze nicht bekannt gemacht und umgesetzt werden oder wenn Programme nur punktuell greifen und nur kleine Gruppen von Frauen erreichen. Aufklärung ist daher ein ebenso wichtiger Faktor, um die kulturell verankerten Faktoren, die zu Diskriminierungstatbeständen führen, zu beseitigen. In afrikanischen Ländern hat es sich als sinnvoll erwiesen, das Gespräch mit jenen, meist männlichen Personen zu beginnen, die als Führer in ländlichen Gemeinschaften anerkannt werden. Bei der Umsetzung des gesetzlichen Verbots der genitalen Verstümmelung wird nicht nur Aufklärung betrieben, sondern es werden auch neue Initiationsrituale geschaffen, die an die Stelle der Verstümmelungspraxis treten sollen, die ja u.a. auch als Initiationsritus gerechtfertigt wird. Die Frauen, die diese Praktiken durchführen, werden zudem für neue Erwerbsquellen geschult. In einigen asiatischen oder afrikanischen Ländern, in denen das staatliche Personenstandsrecht – wenn überhaupt vorhanden – hinter dem unterschiedlicher religiöser Gruppen zurücktritt, welches Frauen u.a. bei Scheidung und im Erbrecht diskriminiert, wurden ebenfalls Gespräche mit religiösen Führern bzw. auch mit Frauengruppen dieser religiösen Gemeinschaften begonnen. Dieser interkulturelle Dialog auf beiden Gesprächsebenen erweist sich als wichtig: Durch Gespräche mit Frauen selbst soll erreicht werden, den Wunsch von Frauen nach Veränderung ihrer Situation zu wecken und zu stärken; durch Gespräche mit den geistlichen Führern soll der politische Wille für die notwendigen Veränderungen unterstützt werden.58 Der Vertragsausschuss weist in letzter Zeit im Dialog mit den Vertrags57

„Die Vertragsstaaten sollten sicherstellen, dass traditionelle, historische, religiöse oder kulturelle Einstellungen nicht dazu benutzt werden, um Verletzungen des Rechts der Frau auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf die gleichberechtigte Inanspruchnahme aller Paktrechte zu rechtfertigen. Die Vertragsstaaten sollten angemessene Auskünfte über diejenigen Aspekte der Tradition, Geschichte, kulturellen Praktiken und religiösen Einstellungen vorbringen, die die Einhaltung von Artikel 3 gefährden oder gefährden können, und angeben, welche Maßnahmen sie ergriffen haben oder zu ergreifen beabsichtigen, um diese Situation zu korrigieren.“ In: Deutsches Institut für Menschenrechte (Anm. 9), 131. 58 A. A. An-Na’im verweist auf die Notwendigkeit, im internen kulturellen und im interkulturellen (cross-cultural) Dialog die universelle Legitimität der Menschenrechte zu stärken, A. A. An-Na’im, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Human Rights in Cross-Cultural

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staaten und in seinen Abschließenden Kommentaren zunehmend auf die Notwendigkeit des Dialogs zwischen allen Machthabenden innerhalb des entsprechenden Landes hin. Die Arbeit des Übereinkommens wirkt auch in die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit hinein, indem Geberländer ihren Förderprogrammen zunehmend einen menschenrechtlichen Ansatz zugrunde legen. Zu wünschen wäre, dass die entsprechenden Ministerien der Geberländer die Abschließenden Kommentare der Vertragsausschüsse, und damit auch des Ausschusses für CEDAW, für ihre entwicklungspolitischen Entscheidungen auswerten würden, denn die abschließenden Bewertungen und Empfehlungen aller VN-Vertragsausschüsse sind von unabhängigen Sachverständigen formuliert, und zwar nach sorgfältiger Prüfung der Staaten- und Alternativberichte und nach ebenso sorgfältiger Auswertung der mündlichen Diskussion mit der Regierungsdelegation. Sie sind daher nicht Ergebnis irgendwelcher politischer Konsensbildungen wie die Resolutionen der ehemaligen Menschenrechtskommission oder die Entscheidungen nationaler Regierungen. Es gibt aus meiner Sicht daher keine besseren Hinweise für die Setzung von Prioritäten und den Einsatz von Ressourcen in der Entwicklungszusammenarbeit als diese Abschließenden Kommentare der Vertragsausschüsse. Aus meiner Sicht sollten auch institutionelle Vorkehrungen in den entsprechenden Ministerien geschaffen werden, um die Auswertung zu gewährleisten.59 Trotz der hier aufgeführten Fortschritte wäre es falsch, nur optimistisch zu sein. Die Dokumente der Nachfolgekonferenzen zur 4. Weltfrauenkonferenz in Peking zeigen deutlich auf, was nicht erreicht worden ist und welche neuen Bedrohungen für die Menschenrechte von Frauen entstehen bzw. erst jetzt auf der internationalen Ebene sichtbar werden. Dazu gehören u.a. die Auswirkungen der technischen und wirtschaftlichen Globalisierung, die leicht zur Ausbeutung von Frauen in sog. Freihandels- oder Exportzonen führen können; die weltweite Zunahme der weiblichen Migration mit ihren vielfach ungesicherten und ebenfalls ausbeuterischen Arbeitsplätzen, vor allem im Privatbereich; das erschreckende und ständig zunehmende Ausmaß des weltweiten Frauenhandels, der Ausdruck der Armut bzw. der neuen Verarmung von Frauen, aber auch des Frauenmangels aufgrund der Abtreibung weiblicher Föten und der hohen Müttersterblichkeit ist und heute das drittgrößte illegale internationale Geschäft neben Waffen- und Perspectives: A Quest for Consensus, 1992, 3. Die Verfassung Indiens schreibt übrigens vor, dass der Wille für eine Veränderung religiösen Personenstandsrechts aus den religiösen Gemeinschaften selbst kommen muss. 59 H. B. Schöpp-Schilling, Ansatzpunkte und Empfehlungen für einen Menschenrechtsansatz in der Entwicklungszusammenarbeit aus der Sicht eines Treaty Body CEDAW, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2003.

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Drogenhandel darstellt; die besondere Betroffenheit von Frauen durch HIV/AIDS; der weltweite Umfang der Zwangsverheiratungen von Mädchen und Frauen mit allen Folgen, einschließlich von Gewalttaten bis hin zu Säureattentaten und sog. „Ehrenmorden“. Zunehmend befasst sich der Vertragsausschuss mit diesen Menschenrechtsverletzungen an Frauen, die ihm u.a. auch durch die Alternativberichte zur Kenntnis gebracht werden, und es wäre wichtig, wenn er jene Aspekte, die er bisher noch nicht in Allgemeinen Empfehlungen erfasst hat, in diesen erläutern würde. Letztlich ist es auch enttäuschend zu sehen, dass schon in der Formulierung der Millennium-Entwicklungsziele, aber noch mehr in ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die geschlechtsspezifische Dimension aller gesetzten Ziele nicht ausreichend bedacht worden ist und ständig durch Forderungen und Handlungen nichtstaatlicher Organisationen nachgebessert werden muss.60

F. Reformansätze für die Vertragsausschüsse Die Reformbemühungen, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgrund tatsächlich vorhandener Probleme und aufgrund von Initiativen von Vertragsstaaten – insbesondere Australien hat sich hierbei hervorgetan – angestoßen hat, umfassen auch die Vertragsausschüsse. Dass Reformen auch in diesem Bereich notwendig sind, steht außer Zweifel, doch herrscht derzeit große Sorge, ob die jetzt eingebrachten Vorschläge wirklich zu einer Verbesserung der Situation der sog. Rechtsträger führen werden oder ob sie nicht vielmehr die Existenz der Vertragsausschüsse, die sich mit nur mit wenigen Normen oder mit spezifischen Rechtsträgern befassen, gefährden.61 Meine bisherigen Ausführungen sollten aufzeigen, dass es für Frauen in der Wahrnehmung und der Inanspruchnahme ihrer Menschenrechte förderlich war, 60

Vgl. L. Waldorf, Pathway to Gender Equality: CEDAW, Beijing and the MDGs, United Nations Development Fund for Women et al., 2005. 61 Im Folgenden werde ich kurz zusammenfassen, was ich ausführlicher an anderer Stelle beschrieben habe, aber diese Zusammenfassung um die neuesten Entwicklungen ergänzen. H. B. Schöpp-Schilling, Reform der Vertragsorgane des Menschenrechtsschutzes. Der Vertragsausschuss für CEDAW und seine Arbeitsmethoden: Probleme, Herausforderungen und mögliche Lösungen, Vereinte Nationen (VN) 2004, 11–17; dies., Reform der Vertragsorgane des Menschenrechtsschutzes: Neuere Entwicklungen am Beispiel des CEDAW, VN 2004, 183–187; dies., Vorschläge zur Reform der UN-Vertragsausschüsse im Rahmen der Bemühungen um eine Reform der Vereinten Nationen, in: MenschenRechtsZentrum: Forschungskreis Vereinte Nationen, Chancen für eine Reform der Vereinten Nationen? 7. Potsdamer UNO-Konferenz vom 24.–25. Juni 2005, 18–30.

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dass die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den beiden Internationalen Pakten enthaltenen Normen des Diskriminierungsverbots auf der Grundlage des Geschlechts und des Gleichberechtigungs- und Gleichstellungsgebots von Männern und Frauen in einem Spezialabkommen wie CEDAW weiter ausgeführt wurden. Es hat sich darüber hinaus auch für Frauen als nützlich erwiesen, dass es andere Spezialabkommen gibt, die sie schützen, so dass nach diesen mehrfache Diskriminierungstatbestände, unter denen sie leiden, genauer erfasst werden können. Tatsache ist allerdings, dass heute der hohe Ratifikationsstand der beiden Pakte, aber auch einiger dieser VN-Spezialabkommen das System der Überprüfung durch die Vertragsausschüsse gefährdet: Jeder Mitgliedstaat der Vereinten Nationen hat heute mindestens einen internationalen Menschenrechtsvertrag der Vereinten Nationen ratifiziert, 75 % aber mehr als vier. Schon Ende der 80er Jahre fertigte der Vorsitzende des Vertragsausschusses für den ICESCR, Philip Alston, auf Bitte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen mehrere Berichte über die Probleme der damals noch sechs Vertragsausschüsse an und schlug Lösungsmöglichkeiten für diese Probleme vor.62 Seitdem schwirren die Gedanken hinsichtlich eines zusammengefassten Berichts, der die Umsetzung aller von einem Vertragsstaat ratifizierten Abkommen beschreiben soll, oder bezüglich einer Zusammenfassung aller Vertragsausschüsse in nur einen Ausschuss oder höchstens zwei Ausschüsse durch Dokumente der Vereinten Nationen und wissenschaftliche Untersuchungen.63 Die Probleme, die sich heute in der Praxis der Durchsetzungsverfahren für die Umsetzung der internationalen Menschenrechtsabkommen zeigen, müssen grundsätzlich in drei Gruppen unterteilt werden: in die der Vertragsstaaten, der Vertragsausschüsse und der VN-Verwaltung. Bei der Darlegung dieser Probleme muss sorgfältig geprüft werden, inwieweit die bisherigen Darstellungen auch durchaus von subjektiven Interessen durchsetzt sind. Für das CEDAW-Übereinkommen und seinen Ausschuss bündeln sich die Probleme wie folgt: Zwar ist die universelle Ratifikation des Übereinkommens oder seines Fakultativprotokolls noch nicht erreicht, d.h. der damit verbundene Höchststand an Berichten, Eingaben und Untersuchungen steht noch aus, dennoch ist der Vertragsausschuss bereits heute hoffnungslos überlastet, und auch die neuen Arbeitszeitregelungen und Arbeitsformen, die ihm ja lediglich für zwei Jahre gewährt wurden, werden nur für kurze Zeit helfen. Es entstehen zu lange Wartezeiten zwischen dem Einreichen eines Staatenberichtes und seiner Diskussion 62 UN-Doc. A/44/668 (1998); UN-Doc. A/CONF.157/PC/62/Add.11/Rev.1 (1993); UNDoc. E/CN/1997/74. 63 Z.B. A. F. Bayefsky, The Human Rights System: Universality at the Crossroads, 2001, 174, Abs. 228.

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durch den Ausschuss. Oft ist zum Zeitpunkt der Diskussion bereits nach der in Artikel 18 lit. a und b dargelegten Periodizität ein neuer Bericht erforderlich. Wenn alle Vertragsstaaten pünktlich berichten würden, wäre das Problem noch größer. Derzeit berichten manche gar nicht oder viele zu spät. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Krieg, Okkupation, Zerstörung; fehlender politischer Wille; Mangel an finanziellen und administrativen Ressourcen, obwohl eine Analyse der Umsetzung des Übereinkommens eigentlich die Grundlage jeglicher politischer Planung sein sollte. Der Ausschuss begegnet diesem Problem seit Jahren mit der „Erlaubnis“, dass Vertragsstaaten zwei Berichte, die überfällig sind, zusammenlegen dürfen, was allerdings bei manchen Ländern dazu führt, dass sie sich gleich auf eine achtjährige Periodizität einrichten.64 Ein weiteres Problem ist, dass viele Vertragsstaaten die bewertenden Empfehlungen in den Abschließenden Kommentaren des Ausschusses nicht oder nur unzureichend umsetzen, wobei der Ausschuss wiederum nicht ausreichend Arbeitszeit hat, Follow-up-Aktivitäten, wie sie von einigen anderen VN-Vertragsausschüssen wahrgenommen werden, durchzuführen. Aus Zeitmangel hat er bisher auch nicht die Praxis anderer VN-Vertragsstaaten aufgegriffen, ggf. einen Vertragsstaat auch ohne Vorlage eines Staatenberichtes auf der Grundlage anderer Informationen zu bewerten. Noch können Individualbeschwerden nach dem Fakultativprotokoll zeitnah bearbeitet werden, dies wird sich aber in Zukunft bei mehr Eingaben und mehr Informationen über gravierende oder systematische Menschenrechtsverletzungen an Frauen, die zu Untersuchungen nach dem Protokoll führen können, ändern. Es ist bereits deutlich geworden, dass sich der Ausschuss ebenfalls aus Zeitmangel nicht, wie es notwendig wäre, dem Formulieren Allgemeiner Empfehlungen widmen kann. Vertragsstaaten selbst sehen sich aus den schon genannten Gründen z.T. überfordert, die Berichte zu erstellen. Manche fühlen sich auch durch die Kommentare des Ausschusses ungerecht behandelt und wollen nicht mehr berichten. Die Wartezeit zwischen der Abgabe des Berichts und seiner Behandlung im Vertragsausschuss für CEDAW schreckt viele ab, da sie keine Zwischenberichte schreiben wollen. Und wenn sie die Berichtsverpflichtungen pünktlich einhalten, sind bisweilen ganze Regierungsabteilungen mit der Erstellung des Berichtes nach CEDAW – wie auch nach den anderen Übereinkommen sowie aufgrund weiterer 64

Entscheidung (decision) 16/III (1997) in: United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Sixteenth Session, A/52/38/Rev.1, 1. In der 23. Sitzungsperiode (Juni 2000) entschied der Ausschuss in der Entscheidung 23/II sogar, dass ein Vertragstaat alle ausstehenden Berichte verbinden kann, in: United Nations, Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Twenty-third Session, A/55/38, 49.

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Berichtsverpflichtungen – befasst, wobei viele Regierungen den Wert einer regelmäßigen Analyse ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen einschließlich der Berichtslegung für ihre politische Planung offensichtlich nicht sehen wollen. Fasst man alle Vertragsausschüsse in den Blick, erschweren sowohl deren unterschiedliche Regelungen für die Berichterstattung die Arbeit der Vertragsstaaten zusätzlich als auch deren variierenden Arbeitsmethoden im Umgang mit den Staatenberichten. Ähnliche oder gleiche Normen in mehreren Übereinkommen, wie z.B. das Diskriminierungsverbot, führen zu Wiederholungen in den Staatenberichten für mehrere Ausschüsse, eine Tatsache, die auch den Papierverbrauch und den Etat für die Übersetzungskosten der VN-Verwaltung belastet. Oft sind auch die Abschließenden Kommentare nicht genau genug formuliert, um dem Vertragsstaat umsetzbare Handlungsanweisungen zu geben. Das VN-Sekretariat in New York, die DAW und das Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte in Genf verfügen nicht immer über einen ausreichend großen oder einheitlich qualifizierten Mitarbeiterstab für die Ausschüsse. Die hohen Kosten für die Übersetzung und Vervielfältigung der Berichte in sechs VNSprachen sowie für die Dokumentation insgesamt sind nicht mehr zu tragen, so dass der Informationsfreude der Vertragsstaaten und der Wissbegierde der Ausschüsse durch Begrenzung der Seitenzahlen der Staatenberichte und Kürzung der Jahresberichte der Ausschüsse Grenzen gesetzt werden. Im Rahmen seiner Reformvorschläge forderte daher der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, im Jahre 2002, dass die Vertragsausschüsse ihre Arbeitsmethoden vereinfachen und vereinheitlichen sollten und ein Vertragsstaat die Möglichkeit haben solle, ggf. nur einen Bericht zu schreiben, der alle Informationen für alle ihn zuständigen Vertragsausschüsse enthalten würde.65 Der zweite Vorschlag wurde umgehend von vielen Vertragsstaaten und allen Vertragsausschüssen abgelehnt. Statt dessen wurde ein Vorschlag entwickelt, den sog. Kernbericht (core report), der bisher allgemeine demographische, politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Informationen über das entsprechende Land aufführt, dessen Erstellung für einen Vertragsstaat aber bisher unverbindlich war, verbindlich zu machen und zu erweitern. In diesem Zusammenhang würden dann die vertragsspezifischen Berichte (treaty specific reports) nach den einzelnen Pakten und Übereinkommen gekürzt werden, da die für alle Vertragsausschüsse relevanten Informationen bereits im Kernbericht enthalten wären. Allerdings zeigte es sich sehr schnell, dass unter den Sachverständigen der Vertragsausschüsse und in der Zivilgesellschaft hinsichtlich der sog. „überlappenden“ oder „kongruenten“ Nor-

65 UN-Doc. A/57/387 vom 9. September 2002, Stärkung der Vereinten Nationen: Eine Agenda für weitere Veränderungen, 12–13.

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men (congruent provisions) in den Menschenrechtsverträgen ein anderes Verständnis herrschte, als es in den Entwürfen für die Berichtsrichtlinien eines neuen Kernberichts, die vom Amt der Hohen Kommissarin verfasst wurden, deutlich wurde.66 Diese Entwürfe wurden zweimal stark kritisiert, da sie konzeptionell – z.B. mangelndes Verständnis der Besonderheiten der Frauendiskriminierung im Vergleich zu Diskriminierungstatbeständen aus anderen Gründen – und praktisch die Arbeit der Ausschüsse zu verwässern drohten.67 Die größte Gefahr war, dass die Berichterstattung nach den Spezialabkommen im Kernbericht aufzugehen drohte, da alle Informationen über die Implementierung sog. überlappender Normen in den Kernbericht aufgenommen werden sollten. Die jetzige, stark gekürzte Fassung der Berichtsrichtlinien, die für jeden Vertragsstaat einen Bericht in zwei Teilen nach dem entsprechenden Menschenrechtsvertrag verbindlich macht – nämlich einen Kernbericht, der an alle für den Vertragsstaat relevanten Ausschüsse geht und den jeweiligen vertragsspezifischen Bericht –, wurde im Dezember 2005 unter meinem Vorsitz von einer kleinen Arbeitsgruppe von Sachverständigen aus allen Vertragsausschüssen fertiggestellt. Sie enthält aber nur die Berichtsrichtlinien für den Kernbericht. Diese Fassung wurde im Laufe des Jahres von allen Vertragsausschüssen angenommen und im Juni 2006 vom „Inter-Committee Meeting“ (ICM) in Genf bekräftigt.68 Sie kommt der ursprünglichen Absicht insofern entgegen, als über einige Normen, die sich in allen oder mehreren Abkommen befinden, jetzt allgemeine faktische Informationen über deren Umsetzung im neuen Kernbericht enthalten sein sollen, wobei die Berichtspflicht nach den vertragsspezifischen Dokumenten in ihrer Besonderheit und im Detail im vertragsspezifischen

66 UN-Doc. HRI/MC/2004/3, Guidelines on an expanded core document and treatyspecific targeted reports and harmonized guidelines on reporting under the international human rights treaties; UN-Doc. HRI/MC/2005/3, Harmonized guidelines on reporting under the international human rights treaties, including guidelines on a common core document and treaty-specific targeted documents. Report of the Secretariat. 67 UN-Doc. CEDAW/C/2005/I/4/Add.1/revised, Preliminary Views of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women; D. Otto, Making UN Human Rights Treaty Bodies More Effective: A gender critique of reforms to the reporting process. The case of the ‘common core document’, IWRAW Asia Pacific Occasional Papers Series No. 4, 2005; Schöpp-Schilling (Anm. 1). 68 Das ICM gibt es seit einigen Jahren; es tritt vor der jeweiligen Sitzung der Vorsitzenden der Vertragsausschüsse (Meeting of Chairpersons (MC)) zusammen und besteht neben den Vorsitzenden aus bis zu zwei Sachverständigen aus jedem Ausschuss. Es leidet, wie auch das MC daran, dass es spontan keine Beschlüsse fassen kann, sondern nur, wenn diese vorher in den jeweiligen Ausschüssen diskutiert und angenommen wurden. Beide Treffen dienen aber seit einigen Jahren der Harmonisierung der Arbeitsmethoden der Vertragsausschüsse.

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Berichtsteil des Staatenberichtes erhalten bleibt.69 Der Vertragausschuss für CEDAW und alle anderen Vertragsausschüsse müssen jetzt in diesem Zusammenhang ihre vertragsspezifischen Berichtsrichtlinien überprüfen und ändern, die dann als zweite Teile in das Dokument der Berichtsrichtlinien aufgenommen werden müssen. Verwirrend ist allerdings aus meiner Sicht, dass das ICM den Vorschlag des Generalsekretärs unterstützte, dass Vertragsstaaten selbst entscheiden dürfen, ob sie die von den Ausschüssen jetzt vorgeschlagene neue Praxis annehmen wollen. Es besteht die Gefahr, dass es zu einer uneinheitlichen Berichtspraxis kommen wird, wobei auch die jetzt gesetzte Zeitspanne für die Überprüfung dieser neuen Praxis durch die Ausschüsse viel zu kurz bemessen ist. Während an den neuen Richtlinien gearbeitet wurde, machte im Jahre 2004 die Hohe Kommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, im Rahmen ihres Arbeitsplanes für die kommenden Jahre zwei weitere Vorschläge, die allerdings ebenfalls nicht neu waren. Erstens soll der Vertragsausschuss für CEDAW nun auch in Genf zusammentreten und wie die anderen Vertragsausschüsse von ihrer Verwaltung betreut werden. Dieser Vorschlag ist aus meiner Sicht sinnvoll. Bereits vor Jahren, als die DAW nach New York verlegt wurde, hatte der Ausschuss um diese Ansiedlung in Genf gebeten, um zusammen mit den anderen Vertragsausschüssen betreut zu werden und diesen für etwaige Zusammenarbeit näher zu sein. Als diese Bitte damals nicht erfüllt wurde, hatte er sich allerdings späteren Vorschlägen dieses Inhalts, u.a. auch von der früheren Hochkommissarin Mary Robinson verschlossen, da sich zu diesem Zeitpunkt die Betreuung durch die DAW in New York aufgrund der Vergrößerung des Mitarbeiterstabs und der Erhöhung der finanziellen Ressourcen verbessert hatte und in Genf nicht optimal zu sein schien. Durch die jetzige starke Erhöhung des Budgets für das Amt der Hohen Kommissarin und die damit verbundene Aufstockung ihres Mitarbeiterstabs dürfte dieses Argument derzeit nicht mehr greifen. Der Ausschuss selbst ist in seiner augenblicklichen Zusammensetzung hinsichtlich dieser Frage noch gespalten bzw. will den weiteren Reformprozess vor einer endgültigen Festlegung abwarten.70 Der zweite Vorschlag greift den alten Gedanken eines Zusammenschlusses aller Vertragsausschüsse in einen Ausschuss auf. Dieser Schritt würde nach Auffassung der Hohen Kommissarin den Rechtsträgern selbst, aber auch den Vertragsstaaten und nicht zuletzt den Sachverständigen zugute kommen, die dann 69

UN-Doc. HRI/MC/2006/3, Harmonized guidelines on reporting under the international human rights treaties, including guidelines on a common core document and treaty-specific documents: Report of the Secretariat. 70 Entscheidung 34/I in der 34. Sitzungsperiode (Januar 2006); der Jahresbericht des Ausschusses liegt noch nicht gedruckt vor. Die Entscheidung wird letztlich sowieso nicht vom Ausschuss getroffen; vgl. auch Schöpp-Schilling (Anm. 1).

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voll berufstätig, mit Bezahlung und ganzjährig in dem einen Ausschuss arbeiten würden.71 Seit dem 14. März 2006 liegt ein „Konzeptpapier“ der Hohen Kommissarin vor, dass Optionen für die Gestaltung eines zusammengefassten Ausschusses im Ansatz aufzeigt – z.B. in Form von Kammern –, ohne jedoch dabei ins Detail zu gehen.72 Diese Ausarbeitung ist inzwischen auf mehreren Zusammenkünften von den Betroffenen (Sachverständige aus den Vertragsausschüssen, Vertragsstaaten, nichtstaatliche Organisationen, VN-Sonderorganisationen) diskutiert worden, mit dem Ergebnis, dass der Vorschlag für einen zusammengefassten Ausschuss bisher fast einhellig abgelehnt wurde. Weitere Diskussionen sind dennoch vom Amt der Hohen Kommissarin geplant, doch ist die Umsetzung dieses Vorschlags derzeit ungewiss. Nach meiner Einschätzung löst ein zusammengefasster, ständig tagender, mit Berufssachverständigen besetzter Ausschuss nicht die Probleme, die ich angesprochen habe bzw. die im Konzeptpapier der Hohen Kommissarin aufgeführt werden. Auch jetzt besteht wieder die Gefahr, dass die Besonderheiten der Menschenrechtsverletzungen an bestimmten Rechtsträgern, aus meiner Sicht vor allem Frauen, nicht mehr ausreichend beachtet werden, obwohl die Hohe Kommissarin mündlich mehrfach versichert hat, dass gerade diese Gruppe eine zentrale Stellung in der gesamten menschenrechtlichen Arbeit ihres Amtes erhalten solle. Dies wird aber in dem Konzeptpapier nicht deutlich. Aus meiner Sicht wie auch aus der Sicht anderer Sachverständiger können die angesprochenen Probleme eher mit anderen Mitteln gelöst werden, so z.B. durch eine weitere Harmonisierung der Arbeitsmethoden der Vertragsausschüsse; durch innovative Unterstützungsmaßnahmen der Vertragsstaaten durch die Vereinten Nationen; durch mehr finanzielle Ressourcen für die Arbeit der Ausschüsse einschließlich längerer Arbeitszeit; durch qualifiziertere Unterstützung derselben durch die VN-Verwaltung; durch eine bessere Auswahl von Sachverständigen durch die Vertragsstaaten, um nur einige Punkte zu nennen.73 Eine neue Arbeitsgruppe, bestehend aus je einer sach71

The United Nations High Commissioner for Human Rights, The OHCHR Plan of Action: Protection and Empowerment, Genf May 2005, 21–23; in diesem Arbeitsplan wird sowohl von einem „unified system“ der Vertragsausschüsse gesprochen als auch vom zukünftigen Ziel, „that some means must be found to consolidate the work of the seven treaty bodies and to create a unified standing treaty body“, 23, Abs. 99. Auch der Bericht des Generalsekretärs vom Mai 2005 spricht noch von einem „unified system“, UN-Doc., A/59/ 2005, In larger freedom: towards development, security and human rights for all, 38, Abs. 147. 72 UN-Doc. HRI//MC/2006/CRP.1, Concept Paper on the High Commissioner’s Proposal for a Unified Standing Treaty Body. Report by the Secretariat. 73 Vgl. auch Aussage des Vertragsausschusses aus der 35. Sitzung (Mai 2006), einzusehen unter: Statement by the CEDAW Committee on treaty body reform – „Towards a

CEDAW nach 25 Jahren

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verständigen Person aus den sieben Vertragsausschüssen, wird sich ab Herbst 2006 mit diesen Fragen befassen.74 Reformen der Vereinten Nationen und auch der Vertragsausschüsse sind notwendig. Wenn es wirklich um die Verwirklichung der Menschenrechte und insbesondere der von Frauen geht, kann jede Reform wichtig und nützlich sein. CEDAW hat zusammen mit seinem Vertragsausschuss trotz aller anfänglichen Schwächen des Übereinkommens und der Probleme seines Ausschusses in den letzten 25 Jahren zu einem verbesserten Schutz der Menschenrechte von Frauen geführt und diese befähigt, ihre Rechte mehr als bisher auch wahrzunehmen und zu genießen. Die Einrichtung des neuen Menschenrechtsrates hat bereits indirekt zu einer Schwächung des Status der Kommission für die Rechtstellung der Frau geführt, der mit der jetzt aufgelösten Menschenrechtskommission gleichberechtigt war. Die jetzt vorliegenden Reformvorschläge für die Vertragsausschüsse, in welcher Form auch immer sie umgesetzt werden, müssen zu einer deutlichen Stärkung des Schutzes der Menschenrechte von Frauen führen, sonst sind sie abzulehnen.

harmonized and integrated human rights treaty bodies system“ (Juni 2006), www.un.org/ womenwatch/daw/cedaw/c-recent-stats/stats.htm. 74 Vom Vertragsausschuss für CEDAW bin ich zur Teilnahme benannt worden; vgl. auch Schöpp-Schilling (Anm. 1).

Die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht Von Stefanie Schmahl

A. Das spezifische Leiden von Frauen im Krieg Frauen machen während und nach militärischen Auseinandersetzungen häufig andere Erfahrungen als Männer. Einerseits gehören Frauen und Kinder zu den am stärksten betroffenen zivilen Opfern von bewaffneten inner- und zwischenstaatlichen Konflikten. Insbesondere systematische Vergewaltigungen, sexuelle Ausbeutung und sonstige geschlechtsspezifische Gewalt als Mittel der Kriegsführung betreffen sie stark – man denke nur an die „ethnic cleansing strategy“ während des Krieges in Bosnien-Herzegowina,1 aber auch an die Massenvergewaltigungen in Ruanda.2 Frauen und Mädchen stellen auch den größten Anteil der Flüchtlinge.3 Andererseits sind es Frauen, die in diesen extremen Belastungssituationen – oft mit nur geringen ökonomischen Ressourcen – die Kinder, Kranken und Alten versorgen. Zudem übernehmen Frauen in Kriegszeiten in aller Regel wichtige gesellschaftspolitische und ökonomische Aufgaben an der Stelle der kriegsbedingt abwesenden Männer; in den „post-war-situations“ werden sie gleichwohl nicht selten in ihre Rolle an „Heim und Herd“ zurückgedrängt.4 Wie und in welchem Umfang reagiert das humanitäre Völkerrecht auf derartige Erfahrungen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei werden zunächst die frauenspezifischen Schutzmechanismen des humanitären Völkerrechts analysiert, um sodann ihre zunehmende Verzahnung mit dem Völkerstrafrecht und 1 Hierzu Shelley Inglis, Re/Construction Right(s): The Dayton Peace Agreement, International Civil Society Development, and Gender in Postwar Bosnia-Herzegowina, Columbia Human Rights Law Review 30 (1998), 65 (75); Christine M. Chinkin, Peace and Force in International Law, in: Dorinda G. Dallmeyer (Hrsg.), Reconceiving Reality: Woman and International Law, 1993, 203 (205). 2 Carin Benninger-Budel/Anne Laurence Lacroix, Violence Against Women: A Report, 1999, 244 f. 3 Schätzungsweise sind ca. 80 % der Flüchtlinge Frauen und Kinder, vgl. J. Ann Tickner, Feminist Approaches to Issues of War and Peace, in: Dallmeyer (Anm. 1), 267 (272). 4 Cynthia Enloe, Does Khaki Become You?, 1988, Kapitel 7.

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dem allgemeinen Völkerrecht aufzuzeigen. Wesentliches Augenmerk wird dabei auf diejenigen Kriegsverbrechen gelegt, die – wie sexuelle Misshandlung und Ausbeutung – nicht ausschließlich, aber vornehmlich Frauen betreffen.

B. Frauenspezifische Schutzvorschriften des humanitären Völkerrechts I. Das anwendbare Rechtskorpus Für den Menschenrechtsschutz im Krieg sind zwei große Kodifikationswerke des 19. und 20. Jahrhunderts von Bedeutung: Das sog. „Haager Recht“ und das sog. „Genfer Recht“. Das Haager Recht besteht aus Abkommen, die anlässlich zweier Friedenskonferenzen im Haag in den Jahren 1899 und 1907 unterzeichnet worden sind. Die erste Haager Friedenskonferenz von 1899 beschäftigte sich vor allem mit Rüstungsbeschränkungen, mit dem Verbot von bestimmten, unnötige Verletzungen verursachenden Kampfmitteln und der friedlichen Streitbeilegung.5 Das zweite und unter humanitären Gesichtspunkten bedeutendere Haager Vertragswerk von 1907 besteht – neben zwei friedensvölkerrechtlichen Verträgen6 – aus elf Übereinkommen zur Regelung des Kriegsvölkerrechts.7 Das für den Menschenrechtsschutz 5

Haager Abkommen von 1899, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs nebst Anlage, der ersten Haager Landkriegsordnung (RGBl. 1901, 423); betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22.8.1864 auf den Seekrieg (RGBl. 1901, 455); Erklärung betreffend das Verbot der Verwendung von Geschossen mit erstickenden oder giftigen Gasen (RGBl. 1901, 474); Erklärung betreffend das Verbot von Geschossen, die sich leicht im menschlichen Körper ausdehnen oder platt drücken (RGBl. 1901, 478). 6 Vgl. das Haager Abkommen von 1907, betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Vertragsschulden (RGBl. 1910, 59), und das noch heute geltende Haager Abkommen von 1907 zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle (RGBl. 1910, 5). 7 Haager Abkommen von 1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges (RGBl. 1910, 107); über den Beginn der Feindseligkeiten (RGBl. 1910, 82); betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges (RGBl. 1910, 151 = Wilhelm G. Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Iuris Gentium (FHIG), Band 3/1, 615 ff.); über die Behandlung der feindlichen Kauffahrteischiffe beim Ausbruch der Feindseligkeiten (RGBl. 1910, 181); über die Umwandlung von Kauffahrteischiffen in Kriegsschiffe (RGBl. 1910, 207); über die Legung von unterseeischen selbsttätigen Kontaktminen (RGBl. 1910, 231); betreffend die Beschießung durch Seestreitkräfte in Kriegszeiten (RGBl. 1910 256); betreffend die Anwendung der Grundsätze des Genfer Abkommens auf den Seekrieg (RGBl. 1910, 283); über gewisse Beschränkungen in der Ausübung des Beute-

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wichtigste ist das IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, dem als Anlage die Haager Landkriegsordnung (HLKO)8 beigegeben ist. Das zweite große Kodifikationswerk kam auf Initiative des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) 1949 in Genf zustande und besteht aus vier Abkommen.9 Die Genfer Abkommen (GA) beschäftigen sich im Wesentlichen mit Rechtsregelungen in Bezug auf Verwundete, Kranke, Kriegsgefangene und Zivilpersonen, rücken also die humanitäre Behandlung des Menschen im Krieg in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ergänzt werden diese Verträge durch zwei im Jahre 1977 unterzeichnete Zusatzprotokolle (ZP) über den Schutz der Opfer internationaler sowie nichtinternationaler bewaffneter Konflikte.10 Die weitgehend übliche Einteilung des humanitären Völkerrechts in das „Haager Recht“ einerseits und in das „Genfer Recht“ andererseits11 will zum Ausdruck bringen, dass letzteres das humanitäre Völkerrecht im engeren Sinne darstellt, während das „Haager Recht“ vornehmlich das Kriegsführungsrecht regelt. Diese Unterscheidung ist allerdings von zweifelhaftem Wert. Das ius in bello ist insgesamt geprägt von einer Abwägung zwischen militärischen Notwendigkeiten und humanitären Elementen. So normiert das „Haager Recht“ ebenfalls Regeln zum Schutze von Einzelnen12 und entspringt dem Gedanken der Humanität. Umgekehrt enthalten die beiden Genfer Protokolle von 1977 nicht nur Regelungen zum Schutze der Opfer, sondern auch Bestimmungen über Mittel und Methoden der Kampfführung.13 Daher erscheint es sachgerechter, beide Vertragswerke unter den einheitlichen Begriff des „humanitären Völkerrechts“ zusammenzufassen. Insgesamt wollen die Normen des ius in bello Krieg und Gewaltanwendung nicht rechts im Seekriege (RGBl. 1910, 316) und betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekriegs (RGBl. 1910, 343 = FHIG, Band 3/1, 626 ff.). Das XII. Haager Abkommen über die Errichtung eines Internationalen Prisenhofs (de Martens, Nouveau Recueil Général, III. Série, Tome III, 688) ist nie in Kraft getreten. 8 Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, RGBl. 1910, 132. 9 Die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 bestehen aus dem I. Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde (BGBl. 1954 II, 783), dem II. Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See (BGBl. 1954 II, 813), dem III. Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (BGBl. 1954 II, 838) sowie dem IV. Genfer Abkommen zum Schutze der Zivilpersonen in Kriegszeiten (BGBl. 1954 II, 917). 10 BGBl. 1990 II, 1550; BGBl. 1990 II, 1637. 11 Vgl. Sydney Dawson Bailey, War and Conscience in the Nuclear Age, 1987, 92 f. 12 Vgl. Art. 18, 28, 46 und 47 HLKO. 13 Vgl. Art. 35 ff. ZP I.

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erleichtern oder gar legitimieren, sondern diese so eindämmen und lenken, dass menschliche Leiden, von denen sie typischerweise begleitet sind, möglichst gemildert werden.14 Die genannten Kodifikationen bilden auch heute den Kernbestand der Regelungen, die im Falle eines bewaffneten Konflikts eingreifen. Sie sind wegen ihrer weltweiten Akzeptanz15 von unvermindert großer Bedeutung. Viele Normen des Haager und des Genfer Rechts haben sich völkergewohnheitsrechtlich verfestigt. Zudem wird das humanitäre Völkerrecht mittlerweile durch verschiedene völkerstrafrechtliche Regelungen ergänzt. Zu diesen zählen neben den Statuten der Nürnberger und Tokioter Militärtribunale16 vor allem die Statuten der Ad-hocStrafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie das im Juli 2002 in Kraft getretene Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.17

II. Die einzelnen frauenspezifischen Bestimmungen Betrachtet man die Haager und Genfer Kodifikationen, so ist zunächst augenfällig, dass von deren Anwendungsbereich grundsätzlich Männer und Frauen gleichermaßen erfasst werden. Dies ist richtig, sind doch beide in erster Linie Menschen, und Menschenrechte haben kein Geschlecht.18 Gleichwohl kann es nötig sein, in Einzelfällen eine Unterscheidung wegen des Geschlechts zu treffen oder – um die moderne Begrifflichkeit zu verwenden – die Geschlechterperspektive zu berücksichtigen. Denn die völlige rechtliche Gleichstellung aller Menschen kann zur Folge haben, dass spezifische Belange von Frauen vernachlässigt werden. Ähnlich wie beim internationalen Minderheitenschutz kann es notwendig sein, die – vor

14

Dietrich Schindler, Abgrenzungsfragen zwischen ius ad bellum und ius in bello, in: Yvo Hangartner/Stefan Trechsel (Hrsg.), Völkerrecht im Dienste des Menschen, Festschrift für Hans Haug, 1986, 251 ff. 15 In wesentlichen Bereichen des humanitären Vertragsrechts ist eine weitgehende Universalität erreicht. Dies gilt insbesondere für die dem Schutz der Konfliktsopfer gewidmeten Genfer Konventionen von 1949. Bis zum 31. Dezember 2004 (BGBl. 2005 II, Fundstellennachweis B, 335 f.) sind diese von 192 Staaten ratifiziert worden. 16 Abgedruckt bei Herwig Roggemann, Die Internationalen Strafgerichtshöfe, 2. Aufl. 1998, 375 ff. und 384 ff. 17 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, abgedruckt in: BT-Drs. 13/57, Anlagen 1 und 2; Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, abgedruckt in: BT-Drs. 13/7953, Anlage 4; Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998, BGBl. 2000 II, 1394. 18 So bereits Hedwig Dohm, Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, 1876, 185.

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allem gesellschaftlich tradierte – schwache Stellung der Frauen zu stärken, indem ihnen besondere Schutzvorschriften oder Regelungen zur sog. positiven Diskriminierung zur Seite gestellt werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Untersuchung wird keine feministische Theorie zugrunde gelegt, schon deshalb nicht, weil die sog. feministischen Sichtweisen gelegentlich über das eigentliche Ziel hinausschießen und Konnotationen in eine Norm hineinlesen, die so dort nicht vorhanden sind. So liest man in der Literatur zu dem Thema „Frauen und humanitäres Völkerrecht“ etwa folgenden Satz: „Military necessity is in fact a male norm, it reflects the goals and aspirations of men“.19 Es ist schwer erklärlich, in welcher Weise der Begriff der militärischen Notwendigkeit – ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit von bewaffneten Angriffen – eine von männlichen Anschauungen durchsetzte Norm sein soll. Diese Ansicht erscheint nur dann in sich schlüssig, wenn man mit den Feministinnen von der Prämisse ausgeht, dass jedes Recht, auch das humanitäre Völkerrecht, ein von Männern errichtetes Normensystem darstellt, das zielgerichtet oder wenigstens zwangsläufig Frauen unterdrückt.20 Abgesehen davon, dass diese Prämisse in ihrer grundsätzlichen Aussage in Zweifel gezogen werden kann,21 ist sie ein sog. „Totschlagsargument“, da sie letztlich jegliche neutrale Beschäftigung mit der Frage nach frauenspezifischen Schutzmechanismen in Rechtsordnungen auszuschließen vermag, sind doch die meisten Rechtsordnungen noch immer vorwiegend oder – in manchen Teilen der Welt – sogar ausschließlich von Männern gemacht.

1. Haager Recht Gleichwohl gibt es in der Tat einige wenige Normen im Korpus des humanitären Völkerrechts, die die historischen Anschauungen zur angeblich minderen Rolle der

19 Judith Gardam, The Law of Armed Conflict: A Gendered Regime?, in: Dallmeyer (Anm. 1), 171 (176). 20 So Judith Gardam, A Feminist Analysis of Certain Aspects of International Humanitarian Law, Australian Yearbook of International Law 12 (1992), 265 ff., insbesondere 278. Ähnlich Rosalind Dixon, Rape as a Crime in International Humanitarian Law: Where to frome Here?, European Journal of International Law (EJIL) 13 (2002), 697 (698 f.). Differenzierter Hilary Charlesworth, Feminist Methods in International Law, American Journal of International Law (AJIL) 93 (1999), 379 ff. 21 Freilich ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kombattanten in der Regel Männer, Zivilpersonen, die Opfer eines Angriffs aufgrund militärischer Notwendigkeit sein können, hingegen zumeist Frauen sind.

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Frau in der Gesellschaft reflektieren. Vor allem kann hier – wenig verwunderlich angesichts seiner Kodifizierung im Jahre 1907 – das Haager Recht herangezogen werden. Dort beschäftigt sich lediglich eine einzige Regelung – und dies auch nur höchst indirekt – mit dem Schutz von Frauen. Gemäß Art. 46 HLKO sollen während der Besetzung eines Gebietes unter anderem Ehre und Rechte der Familie geachtet werden. Bei Anwendung einer die zeitgenössische Auffassung in Rechnung stellenden Auslegung wird unter Verletzung der Familienehre seit jeher ein sexueller Angriff auf die Frau verstanden.22 Dass Frauen vor allem als Quelle einer möglichen Entehrung der Familie (und namentlich der männlichen Verwandten) angesehen werden, zeigt, wie stark die Forderung nach der sexuellen Enthaltsamkeit der Frau Anfang des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich zementiert war.23 Freilich haben auch heute Sinn und Zweck des Art. 46 HLKO nicht in allen Teilen der Welt an Bedeutung verloren. Im Rahmen des Bosnienkrieges sind Massenvergewaltigungen von Frauen gerade deshalb als Kriegsstrategie eingesetzt worden, um ihre Ehemänner und Familien zu erniedrigen, die offensichtlich noch immer archaischen Ehrbegriffen verhaftet sind.24

2. Genfer Recht Die Vier Genfer Konventionen von 1949 bestehen aus insgesamt 429 Vorschriften. Nimmt man die beiden Zusatzprotokolle von 1977 hinzu, ergibt sich sogar eine Gesamtzahl von 559 Einzelregelungen, die den Schutz von Kriegsopfern im Blick haben. In der feministischen Völkerrechtsliteratur wird immer wieder beklagt, dass sich trotz dieser Normenfülle nur 43 Artikel des Genfer Rechts mit Frauen im Kontext des bewaffneten Konflikts beschäftigen.25 Diesem Einwand

22

Helga Wullweber, Vergewaltigung als Waffe und das Kriegsvölkerrecht, Kritische Justiz 1993, 179 (181); Kelly D. Askin, Women and International Humanitarian Law, in: dies./Dorean M. Koenig (Hrsg.), Woman and International Human Rights Law, vol. I, 1999, 41 (51); Lyal S. Sunga, The Emerging System of International Criminal Law, 1997, 175. 23 Judith Gardam, Women and the Law of Armed Conflict: Why the Silence?, International and Comparative Law Quarterly 46 (1997), 55 (74). 24 Dies wird aus dem „Kunarac“-Urteil deutlich, vgl. ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Kunarac, Judgment of 22 February 2001, IT-96-23-T and IT-96-23/1-T, Rn. 570 ff. Vgl. auch Tadeusz Mazowiecki, Special Rapporteur of the Commission of Human Rights, Report Pursuant to Commission Resolution 1992/S-1 of 14 August 1992, E/CN.4/1993/50 (10 February 1993). 25 Mala Tabory, The Status of Women in Humanitarian Law, in: Yoram Dinstein (ed.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, 941.

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kann aus zwei Gründen nicht gefolgt werden. Gibt man nämlich – erstens – die Worte „women“, „pregnant women“ oder „maternity“ in die Suchmaske auf der Internetseite des „International Committee of the Red Cross“26 in Bezug auf die „1949 Conventions and Additional Protocols“ ein, kommt man rechnerisch bloß auf insgesamt 36 „Treffer“. Welche weiteren Vorschriften den Schutz von Frauen im Blick haben sollen, um den arithmetischen Fehlbetrag von „7“ aufzufüllen, ist daher nicht recht verständlich. Zweitens ist die Quantität frauenrelevanter Regelungen im humanitären Völkerrecht ohnehin nicht entscheidend, maßgeblich ist allein ihre Qualität. Aber auch unter dieser inhaltlichen Perspektive wird kritisiert, dass die genannten Vorschriften sich nur mit Frauen in ihrer Beziehung zu anderen, nicht jedoch mit ihnen als eigenständige Individuen beschäftigen. Mehr als die Hälfte der frauenbezogenen Regelungen sei – so wird gesagt – letztlich dem Schutz von Kindern oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu dienen bestimmt.27 Im Folgenden soll untersucht werden, ob und in welchem Umfang diese Aussage zutreffend ist und welche Schlussfolgerungen daraus gegebenenfalls zu ziehen sind.

a) I. und II. Genfer Konvention Richtet man das Augenmerk auf das I. und das II. Genfer Abkommen, die die Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde und zur See zum Gegenstand haben, fällt das Ergebnis sowohl zur Quantität als auch zur Qualität frauenrelevanter Normen relativ dürftig aus. Abgesehen von ihrem jeweiligen Art. 12, der – im Wortlaut identisch – festschreibt, dass Frauen mit aller Achtung vor ihrem Geschlecht zu behandeln sind, findet sich keine weitere Regelung, die auf die Unterschiede der Geschlechter und die besonderen Belange der Frau abstellt. Spezifische Regelungen etwa zu Schwangeren gibt es nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass die Notwendigkeit frauenspezifischer Vorschriften im Rahmen dieser Abkommen nicht gesehen wurde, waren doch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Regel nur Männer, nicht aber Frauen Teil der Streitkräfte. Auch heute noch stellen Frauen weltweit nur ca. 2 % der regulären Kombattanten.28

26

Abrufbar unter http://www.icrc.org/eng. Gardam (Anm. 23), 57; Judith Gardam/Hilary Charlesworth, Protection of Women in Armed Conflict, Human Rights Quarterly 22 (2000), 148 (159). 28 United Nations Development Programme, Human Development Report 45 (1995). 27

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b) III. Genfer Konvention Ganz anders ist der Befund hingegen bei der III. Genfer Konvention. Dieses Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen enthält eine Reihe von Regelungen, die sich spezifisch mit weiblichen Kriegsgefangenen beschäftigen. Erstaunlicherweise hat man hier – im Gegensatz zu den ersten beiden Genfer Konventionen – sich doch der Möglichkeit entsonnen, dass auch Frauen Kombattanten sein können. Prinzipiell werden Frauen in ihrer Eigenschaft als Kriegsgefangene nicht anders behandelt als Männer. So unterscheiden die Regelungen des III. Genfer Abkommens jedenfalls nicht in Bezug auf das Geschlecht, soweit es um die Definition des Kombattanten oder um den rechtlichen Status als Kriegsgefangener geht. Dies ist zu befürworten, hat doch der Status als Kriegsgefangener entscheidende Vorteile. Der Kriegsgefangene ist nicht nur menschlich zu behandeln, sondern er hat auch eine Reihe von weitergehenden Rechten. Er darf etwa mit seinen Familienangehörigen kommunizieren (Art. 71 GA III) und seine Religion ausüben (Art. 34 GA III); außerdem muss gemäß Art. 126 GA III dem IKRK Zugang zu den Gefangenenlagern gewährt werden. Das Kriegsgefangenenrecht ist grundsätzlich diskriminierungsfrei anzuwenden29 und gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Dennoch trifft die III. Genfer Konvention an manchen Stellen eine Differenzierung je nachdem, ob es sich bei Kriegsgefangenen um solche des weiblichen oder des männlichen Geschlechts handelt. Bereits die allgemeinen Vorschriften des Art. 13 und des Art. 14 GA III kennen eine spezifische Regelung für kriegsgefangene Frauen. Während alle Kriegsgefangenen unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person und Ehre haben, normieren diese Vorschriften zusätzlich, dass Frauen mit aller ihrem Geschlecht gebührenden Rücksicht zu behandeln sind und auf jeden Fall eine ebenso günstige Behandlung wie Männer zu erfahren haben. Der Einwand, dass diese Norm eigentlich eine tautologische Selbstverständlichkeit30 festschreibt und ihr daher allenfalls deklaratorischer Charakter zukommen kann, liegt auf der Hand. Gleichwohl gibt es gute Gründe, zugunsten von Frauen ein ausdrückliches und konstitutives Diskriminierungsverbot festzuschreiben. Immerhin musste die Selbstverständlichkeit, dass es sich bei Frauenrechten um Menschenrechte han-

29 Michael Bothe, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, 8. Abschn., Rn. 80. 30 Vgl. Eckart Klein, Menschenrechte im Spiegel der Globalisierung, MenschenRechtsMagazin 2005, 125 (125 f.).

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delt,31 erst über einen langen Zeitraum hinweg erstritten werden. Nicht von ungefähr schreibt Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG auch für die nationale Rechtsordnung explizit fest, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind.32 Art. 16 GA III greift den Gleichbehandlungsgrundsatz noch einmal auf und statuiert, dass der Gewahrsamsstaat Frauen und Männer grundsätzlich gleich zu behandeln hat, es sei denn das Abkommen trifft besondere Bestimmungen hinsichtlich des Geschlechts.33 Zu diesen Sonderregelungen zählen insbesondere einige Vorschriften im Rahmen des Abschnitts II im III. Teil der Konvention,34 der Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung sowie Gesundheitspflege und ärztliche Betreuung der internierten Kriegsgefangenen im Blick hat. Erwartet man hier Vorschriften, die etwa bei der medizinischen Betreuung zwischen Männern und Frauen differenzieren, insbesondere schwangeren Frauen eine besondere Betreuung zugute kommen lassen, wird man jedoch enttäuscht. Derartige Schutzvorschriften existieren nicht. Diejenigen Normen, die Frauen gesondert in Bezug nehmen – so etwa Art. 25 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 2 GA III – beschäftigen sich allein mit der Trennung von Frauen und Männern, soweit es um ihre Schlafgelegenheiten oder um sanitäre Einrichtungen geht. Entsprechendes gilt für die Vorschriften in Abschnitt VI des III. Teils des Abkommens (Art. 97 Abs. 4 und Art. 108 Abs. 2 GA III), die die Verbüßung von Disziplinar- oder sonstigen Strafen zum Gegenstand haben. Auch diese Normen statuieren nur, dass weibliche Kriegsgefangene, die eine Strafe verbüßen, in von den Männerabteilungen getrennten Räumen in Haft zu halten und unter die unmittelbare Überwachung von Frauen zu stellen sind. Wiewohl diese Regelungen die Frauen auch vor gewalttätigen Übergriffen der – regelmäßig körperlich überlegenen – Männer schützen mögen, dürften sie vorwiegend der Aufrechterhaltung

31

Vgl. Vienna Declaration and Programme of Action, 1993, UN Doc. A/CONF.157/24 (Part I), Ch. III, Teil I, Nr. 18: „The human rights of women and of the girl-child are an inalienable, integral and indivisible part of universal human rights“. 32 Schließlich verdeutlicht die faktische Lage, dass Frauenrechte und Menschenrechte noch lange nicht in jedem Staat als gleich angesehen werden. So ist etwa die ungleiche Behandlung von Mann und Frau im Ehe- und Erbrecht in Kamerun – die Frau wird in diesem Bereich weitgehend entmündigt – erst kürzlich Diskussionsgegenstand vor dem UNMenschenrechtsausschuss gewesen, vgl. Menschenrechtsausschuss, Concluding Observations (Cameroun) vom 1.11.1999, UN Doc. CCPR/C/79/Add.116, 3. 33 Auch Art. 88 Abs. 3 GA III legt fest, dass weibliche Kriegsgefangene auf keinen Fall strenger bestraft und während ihrer Strafverbüßung strenger behandelt werden dürfen als ein wegen der gleichen strafbaren Handlung bestrafter, den Streitkräften des Gewahrsamsstaats angehörender Mann. 34 Art. 21 bis Art. 48 GA III.

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von Disziplin und Ordnung in den Lagern dienen.35 Einzig in Bezug auf die Arbeit der Kriegsgefangenen ist eine originär frauenspezifische Schutzvorschrift auffindbar. Gemäß Art. 49 GA III darf der Gewahrsamsstaat die gesunden Kriegsgefangenen – neben anderen Kriterien – nur unter Berücksichtigung ihres Geschlechts zu Arbeiten heranziehen.

c) IV. Genfer Konvention Obwohl der Anteil der Frauen an der Zivilbevölkerung im Krieg besonders hoch ist, fällt auch im Rahmen des IV. Genfer Abkommens auf, dass selbst bei denjenigen Vorschriften, die explizit auf das weibliche Geschlecht abstellen, stärker andere Belange im Vordergrund stehen als der Schutz der Frau selbst. So werden in verschiedenen Normen – namentlich in Art. 17, Art. 18, Art. 20–23, Art. 38, Art. 91 und Art. 127 GA IV – lediglich schwangere Frauen, Wöchnerinnen und Mütter mit Kindern unter sieben Jahren in Bezug genommen.36 Die genannten Regelungen haben allesamt vorwiegend den Schutz von Kindern zum Ziel. In zweiter Linie sind sie allerdings wohl auch Reaktionen auf die barbarische Vorgehensweise der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern. Dort wurden Schwangere und Mütter kleiner Kinder (zusammen mit diesen) häufig direkt in den Tod geschickt oder unmenschlichen medizinischen Versuchen unterzogen.37 Wird eine Zivilperson von der Besatzungsmacht wegen einer Straftat verurteilt, gelten ähnliche Regelungen wie bei der Unterbringung von Kriegsgefangenen. Es existieren zwar einige Sonderregelungen in Bezug auf Frauen – vgl. Art. 76 Abs. 4, Art. 85 Abs. 4 und Art. 124 GA IV –, allerdings normieren diese Vorschriften erneut ausschließlich die Pflicht, Frauen in von Männern getrennten Räumlichkeiten unterzubringen und ihnen eigene sanitäre Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Auch hier stehen also Disziplin und Ordnung als Schutzzweck im Vordergrund. Lediglich die Anordnung, Frauen unter die unmittelbare Überwa-

35 Ähnlich Françoise Hampson, Woman and Humanitarian Law, in: Wolfgang Benedek et al. (eds.), The Human Rights of Women: International Instruments and African Experiences, 2002, 173 (194), die freilich verkürzt nur auf den letztgenannten Aspekt abstellt. 36 In diese Reihe passt auch Art. 50 Abs. 5 GA IV, wonach die Besatzungsmacht die Anwendung irgendwelcher Vorzugsmaßnahmen in Bezug auf Ernährung, ärztliche Pflege und Schutz vor Kriegsfolgen nicht behindern darf, die etwa bereits vor der Besetzung zu Gunsten schwangerer Frauen und Mütter von Kindern unter sieben Jahren in Kraft waren. 37 Fionnuala Ni Aolain, Sex-Based Violence and the Holocaust – A Re-evaluation of Harms and Rights in International Law, Yale Journal of Law and Feminism 12 (2000), 1 (13 f.).

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chung durch Frauen zu stellen (Art. 76 Abs. 4, Art. 124 Abs. 3 GA IV), hat ersichtlich eine spezifisch auf den Schutz der Frau zugeschnittene Tendenz. Positiv fällt ebenfalls auf, dass schwangeren Frauen und Wöchnerinnen während der Internierung besonderer Schutz garantiert wird. So erhalten sie eine ihren physiologischen Bedürfnissen entsprechende Zusatzverpflegung (Art. 89 Abs. 5 GA IV), dürfen nicht ohne zwingendes Sicherheitsbedürfnis an einen anderen Internierungsort verlegt werden (Art. 127 Abs. 3 GA IV) und sind bevorzugt aus der Internierung freizulassen (Art. 132 GA IV). Schließlich ist auf zwei Besonderheiten im Rahmen des IV. Genfer Abkommens aufmerksam zu machen. So darf, zum einen, gemäß Art. 97 Abs. 3 GA IV eine internierte Frau nur von einer Frau auf ihr persönliches Eigentum und Geldmittel hin durchsucht werden. Abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, weshalb eine entsprechende Regelung im III. Genfer Abkommen nicht zu finden ist,38 erstaunt, dass nicht auch die medizinische Untersuchung von Frauen ausschließlich weiblichen Ärzten überlassen bleibt. Hintergrund dieser Regelungslücke ist vermutlich, dass Frauen der Zugang zu medizinischen Berufen im Jahre 1949 noch weitgehend versperrt war. Zum anderen ist die Formulierung des Art. 27 GA IV auffällig, wonach Frauen besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung geschützt werden. Diese Verknüpfung von sexueller Gewalt mit lediglich einem Angriff auf die Ehre – immerhin der Frau und nicht mehr wie bei Art. 46 HLKO der Familie – dürfte heutigen westlichen Wertvorstellungen nicht mehr gerecht werden. Auf die Bedeutung dieser Norm wird noch zurückzukommen sein.

d) Zusatzprotokolle von 1977 Insgesamt fallen die frauenspezifischen Schutzvorschriften in den Vier Genfer Konventionen eher zurückhaltend aus. Dies ist wohl im Wesentlichen dem Umstand geschuldet, dass die Genfer Abkommen „Kinder“ ihrer Zeit darstellen und im Jahre 1949 die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau auch im nationalen Recht noch in den Kinderschuhen steckte. Allerdings halten auch die Zusatzprotokolle von 1977 nur wenige weitergehende Rechtsregeln zum Schutz der Frau und zur Förderung ihrer Belange bereit. So normieren sowohl Art. 5 Abs. 2 ZP II als auch Art. 75 Abs. 5 ZP I die – aus den Genfer Konventionen hinlänglich bekannte – getrennte Unterbringung von Frauen und Männern bei ihrer Internierung. Ein Novum stellt dabei freilich Art. 75 Abs. 5 Satz 3 ZP I dar, wonach eine 38 Sehr kritisch Hampson (Anm. 35), 197, die überdies die systematische Stellung von Art. 97 GA IV bemängelt.

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Ausnahme von der getrennten Unterbringungspflicht gemacht werden kann, um die Einheit der Familie zu erhalten. Psychologische Studien belegen, dass Frauen im allgemeinen von der erzwungenen Trennung von ihrer Familie, insbesondere von ihren Kindern, stärker traumatisiert werden als Männer.39 Vor allem im Dienste des Schutzes von Kindern stehen die Vorschriften der Art. 76 Abs. 2 und Abs. 3 ZP I und Art. 6 Abs. 4 ZP II.40 Danach werden Fälle von schwangeren Frauen und Mütter kleiner Kinder, die in Haft gehalten sind, vor allen anderen Fällen behandelt. Außerdem ist es, soweit irgend möglich, zu vermeiden, dass gegen diese Frauen für eine im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt begangene Straftat die Todesstrafe verhängt oder zumindest ein verhängtes Todesurteil vollstreckt wird. Obgleich der Schutzgehalt der genannten Vorschriften vornehmlich auf Kinder ausgerichtet ist, lässt sich auch hier festhalten, dass er wenigstens reflexartig auch den Interessen der Frauen dienlich ist. Männern bleibt dieser Vorzug aus biologischen Gründen gänzlich verwehrt. Art. 76 Abs. 1 ZP I greift schließlich die Regelung des Art. 27 GA IV auf und schützt die Frau vor sexuellen Angriffen.

e) Fazit Insgesamt kennt das humanitäre Recht nur wenige Vorschriften, die sich explizit mit Frauen beschäftigen. Dies ist prinzipiell unproblematisch, solange alle Vorschriften diskriminierungsfrei angewandt werden. Nur in besonderen Situationen – wie etwa der Schwangerschaft – bedarf es eines spezifischen Schutzes. Einen solchen sehen die humanitären Vorschriften allerdings nur vereinzelt und nicht in ausreichendem Maße vor. De lege ferenda wünschenswert erscheint überdies, einige Regelungen der Kriegsgefangenschaft im Blick auf die Geschlechterperspektive neu zu gestalten. So regelt Abschnitt VI des 3. Teils des III. Genfer Abkommens die Beziehungen der Kriegsgefangenen zu den Behörden, insbesondere die Beschwerden der Kriegsgefangenen über ihre Gefangenschaftsbedingungen. In diesem Rahmen wählen die Gefangenen Vertrauensleute, die mit ihrer Vertretung beauftragt sind (Art. 79 GA III). Hier könnte man etwa daran denken, eine spezielle Vertretung für Frauen vorzusehen, die sich spezifisch für gesonderte Belange von Frauen einsetzen kann.

39 40

Carol Gilligan, In a Different Voice, 1982, 6 ff. So auch Hampson (Anm. 35), 195.

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III. Sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen 1. Bestandsaufnahme und geschichtliche Entwicklung im humanitären Völkerrecht Unbeschadet der vorangegangenen Erwägungen liegt der Dreh- und Angelpunkt der Schutzvorschriften für Frauen im Recht des bewaffneten Konfliktes zweifelsohne in der Ahndung sexueller Gewalt. In Kriegszeiten leiden sowohl Männer als auch Frauen; auch Männer werden Opfer sexueller Gewalt. Allerdings gehören Frauen zu den am stärksten von sexueller Misshandlung betroffenen zivilen Opfern von bewaffneten inner- und zwischenstaatlichen Konflikten. Dies liegt zum einen daran, dass Frauen das körperlich schwächere Geschlecht sind, sich gegen tätliche Angriffe weniger gut zur Wehr setzen können und deshalb häufiger Opfer von Vergewaltigungen werden als Männer. Zum anderen können Frauen aufgrund von Vergewaltigungen schwanger werden und damit vor dem existentiellen Problem stehen, sich entweder einem Schwangerschaftsabbruch zu unterziehen, der in Kriegszeiten oft ohne Anästhesie erfolgt, oder das Kind des Vergewaltigers aufzuziehen.41 Nicht wenige solcher Mütter erfinden zunächst einen ehrbaren Vater für ihr Kind und brechen irgendwann unter dieser Lebenslüge zusammen – der auf der Berlinale 2006 siegreiche bosnische Film „Grbavica“ liefert ein beredtes Zeugnis für die Seelenkonflikte einer Frau und ihres durch Kriegsvergewaltigung gezeugten Kindes.42 Schließlich werden sexuell misshandelte und vergewaltigte Frauen häufig von ihren Familien und Ehemännern deswegen als „entehrt“ verstoßen;43 gelegentlich laufen sie sogar Gefahr, wegen des außerehelichen Geschlechtsverkehrs kriminalisiert zu werden, wenn sie sich als Opfer einer Vergewaltigung bekennen.44 Insoweit spielen höchst bedenkliche kulturelle Gepflogenheiten und ein asymmetrischer „Ehrenkodex“ eine maßgebliche Rolle,45 denen mit rechtlichen Regelungen so weit wie möglich entgegengewirkt werden muss.

41

Vgl. auch Christine Chinkin, Rape and Sexual Abuse of Women in International Law, EJIL 5 (1994), 326 (330). 42 Vgl. F.A.Z. vom 20.4.2006, 42. 43 Vgl. Hampson (Anm. 35), 201; Benninger-Budel/Lacroix (Anm. 2), 244. 44 Vgl. Amnesty International, Making rights, a reality: Violence against women in armed conflict, 1 July 2005 (ACT/77/050/2005), 4; vgl. auch Amnesty International, Lives blown apart: Crimes against women in times of conflict, 8 December 2004 (ACT/77/075/ 2004), 24. 45 Zu diesem archaischen „Ehrenkodex“ vgl. Andreas Dietz, „Ehrenmord“ als Ausweisungsgrund, NJW 2006, 1385 (1386).

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a) Gewohnheitsrecht Bereits seit Jahrhunderten ist die Kriegsvergewaltigung gewohnheitsrechtlich verboten. So wurde der Ritter Peter von Hagenbach im Jahre 1474 unter anderem wegen Vergewaltigung und Mord, begangen durch seine Untertanen während eines Angriffs auf Breisach, zum Tode verurteilt.46 Frühe Militärcodes, die Vergewaltigung bei Todesstrafe verboten, finden sich bei Richard II. (1385) und Henry V. (1419).47 Auch der – auf die Arbeiten des amerikanischen Rechtsgelehrten Francis Lieber zurückgehende – Lieber-Code von 1863 listete in Art. 44 der General Order No. 10048 Vergewaltigung als kapitales Kriegsverbrechen auf. Dort heißt es, dass „all rape, wounding, maiming or killing are prohibited under the penalty of death, or such severe punishment as may seem adequate for the gravity of the offence“. Zwar war der Lieber-Code lediglich eine für das Heer der Union von US-Präsident Lincoln herausgegebene Dienstvorschrift, ihm kam jedoch Vorbildfunktion für eine Reihe europäischer Militärcodes zu. Darüber hinaus gilt er als bedeutende Grundlage für die spätere Ausarbeitung des Kriegsrechts auf internationaler Ebene.49

b) Haager Recht und Genfer Konventionen Als eine der ältesten geschriebenen internationalen Normen, die Vergewaltigung verbietet, gilt der bereits erwähnte, in seiner Schutzrichtung („Ehre der Familie“) indes zweifelhafte Art. 46 HLKO. Trotz der Fülle der Vorschriften, die in den Vier Genfer Konventionen von 1949 enthalten sind, verbietet nur ein einziger Artikel dieses Rechtskorpus, nämlich Art. 27 Abs. 2 GA IV Vergewaltigung und Zwangsprostitution ausdrücklich. Wörtlich heißt es dort: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt“. Damit geht Art. 27 Abs. 2 GA IV einen Schritt weiter als das Haager Recht, indem es Vergewaltigung und Zwangsprostitution erstmals explizit beim Namen nennt und beide Verbrechen nicht länger ausschließlich im Dunst46

Kelly Dawn Askin, War Crimes Against Women, 1997, 29. Theodor Meron, Rape as a Crime under International Humanitarian Law, AJIL 87 (1993), 424 (425). 48 Instructions for the Government of the United States in the Field by Order of the Secretary of War, Washington D.C., 24 April 1863, Rules of Land Warfare, War Dept., Doc. No. 467, als Anhang abgedruckt bei: Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staten als Rechtsbuch dargestellt, 1868, 469 ff. 49 Leon Friedman, The Law of War, A Documentary History, 1972, 152. 47

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kreis der „Familienehre“ verborgen bleiben.50 Angesichts der beispielhaften Aufzählung („namentlich“) erscheint sogar die Erfassung weiterer Formen sexueller Gewalt, wie z.B. der Zwangsehe, nicht von vornherein ausgeschlossen.51 Bedauerlich ist allerdings, dass entsprechende Verbotsnormen in den drei anderen Genfer Abkommen fehlen.

c) Zusatzprotokolle von 1977 Dieses Defizit wird heute freilich aufgefangen durch die Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen. So schützt Art. 76 Abs. 1 ZP I spezifisch Frauen in internationalen bewaffneten Konflikten vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder anderen unzüchtigen Handlung. Auch das II. Zusatzprotokoll, das den Schutz von Opfern nichtinternationaler bewaffneter Konflikte zum Gegenstand hat, verbietet in Art. 4 Abs. 2 lit. e ZP II die Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art. Die Fassung des Verbots sexueller Gewalt in den Zusatzprotokollen stellt eine bedeutsame Weiterentwicklung dar. Zum einen gelten sie für alle Opfer bewaffneter Konflikte und nicht nur für Zivilpersonen. Zum anderen stellen die Verbotsnormen nicht mehr – wie dies etwa noch in Art. 27 GA IV der Fall ist – auf das Schutzgut der „Ehre der Frau“ ab.52 Sexuelle Gewalt lässt sich nicht auf ein ehrverletzendes Delikt reduzieren. Vergewaltigung ist nicht bloß „aggressiver Ausdruck von Sexualität“, sondern vielmehr ein „sexueller Ausdruck von Aggression“.53 Die UN-Spezialberichterstatterin für zeitgenössische Formen der Sklaverei hebt treffend hervor: „While rape is indeed an assault on human dignity and bodily integrity, it is first and foremost a crime of violence“.54 Auch das Ruanda-Straftribunal hat zu Recht festgestellt, dass Vergewaltigung vor allem eine Form von Aggression ist.55 50 Zur Kritik an Art. 27 Abs. 2 GA IV, die vor allem auf die „Ehre“ der Frau abstellt und ihrem körperlichen Leiden zu wenig Rechnung trägt, vgl. Doris E. Buss, Woman at the Borders: Rape and Nationalism in International Law, Feminist Legal Studies 6 (1998), 161 (181). 51 Christina Möller, Sexuelle Gewalt im Krieg, in: Jana Hasse u.a. (Hrsg.), Humanitäres Völkerrecht, 2001, 280 (283). 52 Vgl. Charlesworth (Anm. 20), 386. 53 Deutlich Aolain (Anm. 37), 37. 54 Commission on Human Rights, Final Report submitted by Ms. Gay J. McDougall, Contemporary Forms of Slavery, Systematic Rape, Sexual Slavery and Slavery-like Practices During Armed Conflict, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1998/13, 22 June 1998, 6, Ziff. 16. 55 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Judgment of 2 September 1998, ICTR-96-4-T, Rn. 687. Vgl. auch ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Kunarac (Anm. 24), Rn. 728 ff.

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So positiv diese mittlerweile vorhandene Qualifizierung von Vergewaltigung als Gewaltverbrechen auch ist, so verbleibt doch ein Wermutstropfen. Alle genannten Formen der Kriegsvergewaltigung im System des Genfer Rechts gelten nämlich nicht ausdrücklich als „schwere Verletzungen“ – weder im Sinne des Art. 130 GA III noch nach Maßgabe der Art. 147 GA IV und Art. 85 ZP I. Deshalb wurden Vergewaltigungen auch über lange Zeit unter Berufung auf Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Normen (Vergewaltigungen wurden schlicht der privaten Sphäre zugerechnet) von der strafrechtlichen Verfolgungspflicht der Vertragsparteien ausgenommen.56 Erst eine dynamische Auslegung der Verträge vermochte an diesem Befund etwas zu ändern. So ist die in der Literatur seit Anfang der 1990er Jahre vertretene Ansicht, dass Vergewaltigung unter den Tatbestand der vorsätzlichen Verursachung großer Leiden oder einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit fallen kann,57 im Jahre 1998 nunmehr durch das Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien richterlich bestätigt worden.58 Die Subsumtion erfolgte auch im Blick auf den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen, der grundlegende völkerrechtliche Schutzvorschriften für bewaffnete Konflikte etabliert.59

d) Fazit Insgesamt spiegelt das Genfer Recht die über Jahrhunderte währende Behandlung von Kriegsvergewaltigung als „Beiprodukt“ des Krieges wider.60 Ein großer Teil der Normen des Genfer Rechts stellt sich erst unter Anwendung der heutigen Wertvorstellungen als Verbotsnorm zur sexuellen Gewalt im Kriege dar. Lediglich einzelne Vorschriften benennen ausgewählte Formen sexueller Gewalt ausdrücklich.

56

Aolain (Anm. 37), 26. Meron (Anm. 47), 426. Vgl. auch dens., Shakespeare’s Henry the Fifth and the Law of War, AJIL 86 (1992), 1 ff. 58 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Delalic, Mucic, Delic, Landzo („Celebiüi“), Judgment of 16 November 1998, IT-96-21-T, Rn. 470 ff. 59 Die in Art. 3 normierten Rechte entfalten Wirkung nicht nur in Bezug auf nichtinternationale, sondern auch für internationale bewaffnete Konflikte vgl. IGH, ICJ Rep. 1986, 14, Rn. 218, Nicaragua. Vgl. auch IGH, ICJ Rep. 1996, 226, Rn. 79, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons. 60 Askin (Anm. 22), 47. 57

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2. Entwicklung im Völkerstrafrecht Eine ähnlich langsame Entwicklung ist auch dem Völkerstrafrecht zu entnehmen. So sah zwar schon der Friedensvertrag von Versailles (1919) gemäß seinen Art. 227 und Art. 228 vor, Kaiser Wilhelm II. wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Die Kommission, die zur Vorbereitung dieses Prozesses von den Alliierten eingesetzt wurde, nahm in ihren Anklagepunkten auch sexuelle Gewaltverbrechen wie „Notzucht“ (Punkt 5) und „Verschleppung von jungen Mädchen und Frauen, um sie der Prostitution auszuliefern“ (Punkt 6) auf.61 Bekanntlich kam es jedoch niemals zu einem Strafverfahren gegen den Kaiser, da nach seiner Emigration 1918 die Niederlande seine Auslieferung verweigerten.

a) Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio Die Straflosigkeit sexueller Kriegsverbrechen bestand auch nach Einrichtung der Militärgerichtshöfe von Nürnberg (IMT) und Tokio (IMTFE) fort. In den Statuten beider Gerichtshöfe sind sexuelle Verbrechen tatbestandlich nicht erfasst. Unter anderem deswegen findet sich in den Hauptkriegsverbrecherprozessen auch keine einzige Verurteilung wegen sexueller Gewalt. Indes hat es weder an rechtlichen Möglichkeiten noch an Beweisen zur Verfolgung sexueller Verbrechen gemangelt. Beide Statuten stellten die Versklavung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe; auch hätte Vergewaltigung problemlos unter den Begriff der „anderen unmenschlichen Akte“ (vgl. Art. 5 IMT-Statut, Art. 6 IMTFE-Statut) subsumiert werden können.62 Die in Beweisstück Nr. 51 enthaltene „Molotow-Note“, die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess am 14. Februar 1946 verlesen wurde, dokumentierte detailgenau zahlreiche Fälle von Vergewaltigung, Zwangsprostitution, sexueller Verstümmelung und des sexuell geprägten Mordes.63 Auch der sog. „Rape of Nanking“, bei dem es bereits im ersten Monat der japanischen Besetzung der chinesischen Stadt Nanking zu 20.000 Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen gekommen war, war dem Militär-

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Die Liste ist abgedruckt bei Martina Niehoff, Die von internationalen Strafgerichtshöfen anwendbaren Normen des Völkerstrafrechts, 1999, 26 f. 62 Zutreffend Chinkin (Anm. 41), 331 f. 63 Vgl. Molotov Notes on German Atrocities. Notes sent by V.M. Molotov, Peoples Commissar for Foreign Affairs, to all Governments with which the U.S.S.R. has diplomatic relations, abgedruckt in: Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal, Band 7, 1947, 456 f.

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gerichtshof von Tokio bekannt.64 Dass derartige sexuelle Gewaltverbrechen nicht abgeurteilt wurden, mag auch darauf zurückzuführen sein, dass nicht nur die deutsche Wehrmacht und japanische Soldaten, sondern ebenfalls die Alliierten, insbesondere die Rote Armee, sich zahlreicher Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg schuldig gemacht hatten.65 Den sog. „Comfort Women“, die während des Zweiten Weltkriegs in Japan als Sexsklavinnen dienten, wurde erst im Jahre 2000 vor dem nichtstaatlichen Women’s International War Crimes Tribunal auf internationaler Ebene Gehör geschenkt;66 freilich handelte es sich wegen der rechtlichen Unverbindlichkeit der Entscheidungen dieser Institution bloß um einen symbolischen Akt der Anerkennung ihres Leidens.67 Immerhin sind in einigen einzelstaatlichen Nachfolgeprozessen sexuelle Gewaltdelikte, die während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, verurteilt worden. So ist etwa der Militärkommandant Takashi Sakai von einem chinesischen Kriegsverbrechertribunal wegen Folterung von Schwangeren, Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen zum Tode verurteilt worden; dabei wurde erstmalig auf Art. 46 HLKO rekurriert.68 Gleichwohl wäre eine angemessenere Berücksich-

64 Vgl. The Tokyo Judment, The International Military Tribunal for the Far East, 29 April 1946 – 12 November 1948, edited by B.V.A. Röling and C. F. Rüter, vol. I, 1977, 389. 65 Vgl. Susan Brownmiller, Against Our Will. Men, Women and Rape, 1975, 43–78. 66 Hierzu Christine Chinkin, Women’s International Tribunal on Japanese Military Sexual Slavery, AJIL 95 (2001), 335 ff. 67 Hierzu Dixon (Anm. 20), 707 f. Auch auf nationaler Ebene hatten Schadensersatzklagen ehemaliger „Comfort Women“ bisher keinen Erfolg. So sind Schadensersatzklagen philippinischer Klägerinnen vor dem Landgericht Tokio im Jahre 2001 mit der Begründung abgewiesen worden, dass nach dem Friedensvertrag von San Francicso (Treaty of Peace with Japan of 8 September 1951, London, November 1951, His Majesty’s Stationary Office) ein wirksamer völkerrechtlicher Verzicht auf Individualansprüche vorgelegen habe, vgl. CNN, Japan Court Rules Against „Comfort Women“ vom 29. März 2001. Das Urteil des erstinstanzlich zuständigen Gerichts von Yamaguchi, das den Klägerinnen 300.000 Yen nebst Zinsen zugesprochen hatte (Yamaguchi Prefectural Court, Judgment of 27 April 1998, Pacific Rim Law and Policy Journal 8 (1999), 63) wurde vom Landgericht Tokio aufgehoben. 68 Vgl. Chinese War Crimes Military Tribunal of the Ministry of National Defence, Nanking, 29 August 1946, Trial of Takashi Sakai, in: The United Nations War Crimes Commission (ed.), Law Reports of Trials of War Criminals, vol. XIV, Case No. 83, 7. Auch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, das als Rechtsgrundlage zur Strafverfolgung minderer Kriegsverbrecher in Deutschland diente, wies Vergewaltigung explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus, hierzu ausführlich Askin (Anm. 46), 121 ff.

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tigung des Phänomens der sexuellen Gewalt bereits im Rahmen der Hauptkriegsverbrecherprozesse einer progressiveren Kodifizierung entsprechender Verbotsnormen in den Genfer Konventionen von 1949 zuträglich gewesen.69

b) Straftribunale für Jugoslawien und Ruanda Erst angesichts der systematischen Massenvergewaltigungen im Jugoslawien-Konflikt und beim Völkermord von Ruanda – zum Teil wurden Frauen innerhalb von 40 Tagen (jeweils) rund 150 Mal von verschiedenen Soldaten vergewaltigt70 – wurde die Verfolgung sexueller Kriegsverbrechen für die Ad-hoc-Straftribunale vorgesehen. Das Jugoslawien-Tribunal (ICTY) ist für die Ahndung von schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen, Kriegsverbrechen, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig (Art. 2 bis Art. 5 ICTY-Statut). Entsprechende Kompetenzen hat auch das Ruanda-Straftribunal (Art. 2 bis Art. 4 ICTR-Statut). Mehr als die Hälfte aller Anklagen beider Tribunale enthält Anklagepunkte, die sexuelle Gewalt betreffen. Einige dieser Anklagen haben bereits zu Verurteilungen geführt.71 Die weltweit erste Verurteilung wegen sexueller Gewalt im Krieg erging durch das Ruanda-Tribunal im Herbst 1998 im Fall Akayesu.72 Erstmalig in der Geschichte des Völkerstrafrechts subsumierte ein internationales Gericht Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen.73 Außerdem wurde – ebenfalls zum ersten Mal – festgestellt, dass sexuelle Gewalt einen integralen Bestandteil der Zerstörung im Rahmen eines Völkermordes darstellen kann.74 Ferner ist die Akayesu-Entscheidung von Bedeutung, weil sie Vergewaltigung tatbestandlich weit fasst als „a physical invasion of sexual nature, committed on a person under circumstances which are coercive“.75 Daneben defi-

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So auch Möller (Anm. 51), 287. Vgl. ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Kunarac (Anm. 24), Rn. 37. 71 Dusko Tadiü konnte freilich der Vergewaltigung im Omarska Camp mangels Beweises nicht überführt werden, vgl. ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Tadiü, Judgment of 7 May 1997, IT-94-1-T. Gleichwohl enthält das Urteil eine detaillierte Dokumentation der Vorgänge im Camp, vgl. Rn. 165, 175, 206, sowie ausführlich Kelly D. Askin, Sexual Violence in Decisions and Indictments of the Yugoslav and Rwandan Tribunals: Current Status, AJIL 93 (1999), 97 (100–105). 72 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Akayesu (Anm. 55). Der Angeklagte hatte als Bürgermeister der Kommune von Taba zur sexuellen Gewalt angestiftet. 73 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Akayesu, (Anm. 55), Rn. 688 ff. 74 Hierzu ausführlich Askin (Anm. 71), 105–107. 75 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Akayesu (Anm. 55), Rn. 688. 70

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nierte die Kammer auch sexuelle Gewalt im weiteren Sinne und inkludierte hierin selbst Vorgänge, bei denen kein unmittelbarer körperlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer erfolgt, wie etwa bei erzwungener Nacktheit.76 Die erste Verurteilung wegen Vergewaltigung durch das ICTY erging zwei Monate später im Celebiüi-Urteil.77 Zwar verleiht das ICTY-Statut dem Jugoslawien-Tribunal keine ausdrückliche Zuständigkeit zur Verfolgung sexueller Gewaltverbrechen als Kriegsverbrechen, doch kann das Gericht sexuelle Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen (vgl. Art. 5 lit. g ICTY-Statut). Insoweit nahm die Kammer in der Celebiüi-Entscheidung vollumfänglich Bezug auf die Definition des ICTR im Akayesu-Urteil.78 Zudem stufte die Trial Chamber Vergewaltigung auch als Folter ein.79 Dies hat zur Folge, dass es sich um eine schwere Verletzung der Genfer Konventionen handelt, wodurch das Universalitätsprinzip für die Verfolgung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen eröffnet wird. Die kurze Zeit später (am 10. Dezember 1998) getroffene Entscheidung der „Trial Chamber“ im Fall Anto Furundzija ist der erste Fall des JugoslawienTribunals, der sich ausschließlich mit sexueller Gewalt beschäftigte.80 Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Hauptquartier des „Jokers“, einer paramilitärischen Spezialeinheit, als deren lokaler Kommandant bei der Vernehmung einer Zeugin mitgewirkt zu haben. Furundzija war anwesend, während dem nackten Opfer damit gedroht wurde, ihr ein Messer in die Vagina zu stoßen, und während sie nachfolgend von einem Dritten oral und vaginal vergewaltigt wurde. Furundzija unternahm nichts, um diese Verbrechen zu unterbinden.81 Die Entscheidung zeichnet sich durch die Fortentwicklung der tatbestandlichen Definitionsansätze der

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In concreto nahm die Kammer Bezug auf einen Vorfall, bei dem eine Studentin gezwungen wurde, sich zu entkleiden und so auf dem öffentlichen Platz vor dem Bürgermeisterbüro gymnastische Übungen vor einer Menschenmenge auszuführen. 77 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Delalic, Mucic, Delic, Landzo (Anm. 58), bestätigt durch ICTY (Appeals Chamber), Judgment of 20 February 2001, IT-96-21-A. 78 ICTY (Trial Chamber) Prosecutor v. Delalic, Mucic, Delic, Landzo (Anm. 58), Rn. 478 f. 79 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Delalic, Mucic, Delic, Landzo (Anm. 58), Rn. 494 ff. Dass Vergewaltigung Folter darstellen und überdies den Tatbestand der Sklaverei erfüllen kann, hatte das ICTY indes schon früher festgestellt, vgl. nur ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Gagovic and others („Foca“), Judgment of 26 June 1996, IT-9623, Rn. 1 ff. und Rn. 10 ff. 80 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Anto Furundzija, Jugdment of 10 December 1998, IT-95-17/1-T. 81 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Furundzija (Anm. 80), Rn. 38.

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Vergewaltigung im Völkerrecht aus, die in Akayesu und Celebiüi unternommen worden waren.82 Der Angeklagte wurde als Mittäter der brutalen Vernehmung der Zeugin wegen Verstoßes gegen das Verbot der Folter gemäß Art. 3 des ICTYStatuts schuldig gesprochen. Hinsichtlich der Vergewaltigungen, die von einem seiner Untergebenen durchgeführt wurden, fand die Kammer Furundzija der Beihilfe eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges (Beeinträchtigung der persönlichen Würde einschließlich Vergewaltigung) für schuldig. Er wurde zu zehn Jahren Gesamthaftstrafe verurteilt.83 Die Rechtsmittelkammer hat die Berufung des Angeklagten einstimmig abgewiesen. Als Berufungsgrund hatte Furundzija unter anderem die Befangenheit der einzigen weiblichen Richterin der Kammer geltend gemacht mit der Begründung, dass diese vor ihrer Berufung an das ICTY von 1992 bis 1995 als Repräsentantin Sambias in der UN-Kommission über den Status von Frauen tätig war und sich die Kommission in dieser Zeit auch mit den Vorkommnissen der Massenvergewaltigung im ehemaligen Jugoslawien beschäftigt hatte.84 Auf der Grundlage der genannten Entscheidungen entwickeln seither beide Adhoc-Gerichte die völkerstrafrechtliche Beurteilung von sexueller Gewalt im Krieg fort. So stellen sie fest, dass Vergewaltigung im Beisein von anderen Menschen nicht nur eine erniedrigende Behandlung, sondern Folter im engen Sinne darstellt.85 Immer wieder subsumieren beide Straftribunale sexuelle Gewalttaten auch unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.86 Als (eigenständigen) Genozid haben sie Massenvergewaltigungen hingegen bislang nicht qualifiziert. Dieser Umstand wird von der feministischen Völkerrechtslehre zum Teil heftig kritisiert, weil ihrer Ansicht nach die Gewichtung bei den sog. Mehrfachdiskriminierungen

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ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Furundzija (Anm. 80), Rn. 174. Gleiche Wertung bei Möller (Anm. 51), 291. 83 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Furundzija (Anm. 80), Rn. 276 ff. 84 ICTY (Appeals Chamber), Prosecutor v. Anto Furundzija, Judgment of 21 July 2000, Case No. IT-95-17/1-A, Rn. 164 ff. (Fourth Ground of Appeal). 85 ICTY, Prosecutor v. Ranko ýešiü, Judgment of 11 March 2004, IT-95-10/1-S, Rn. 53. 86 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Alfred Musema, Judgment of 21 January 2000, ICTR-96-13-T, Rn. 373 ff. und Rn. 908 ff.; ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Elizer Niyitegeka, Judgment of 16 May 2003, ICTR-96-14-T, Rn. 455; ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Laurent Semanza, Judgment of 16 May 2003, ICTR-97-20-T, Rn. 439. Werden Vergewaltigungen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen, wird in der Regel die Höchststrafe verhängt, die zwischen 20 und 45 Jahren Freiheitsstrafe betragen kann, vgl. ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Dragan Nicoliü, Judgment of 18 December 2003, IT-94-2-S, Rn. 158.

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falsch, nämlich zu Lasten der Frau und zugunsten der ethnischen Zugehörigkeit des Opfers getroffen wird.87 Auch wenn dieser Vorwurf nicht ganz von der Hand zu weisen ist, ist doch zu betonen, dass diese Verbrechen an Frauen immerhin stets ausdrücklich im Kontext des Völkermordvorwurfs gewürdigt werden. Im Fall Alfred Musema (2000) stellt die Strafkammer des Ruanda-Tribunals sogar explizit fest, dass „… the acts of rape and sexual violence were an integral part of the plan conceived to destroy the Tutsi group. Such acts targeted Tutsi women, in particular, and specifically contributed to their destruction and therefore that of the Tutsi group as such“.88 Ähnliche Äußerungen finden sich auch im Kunarac („Foca“)-Urteil des Jugoslawien-Tribunals von 2001,89 das übrigens das erste Urteil der internationalen Strafgerichtsbarkeit darstellt, das sich ausschließlich auf sexuelle Gewalt gegen Frauen konzentriert und in dem die Angeklagten als Täter und nicht nur als Gehilfen oder Anstifter verurteilt wurden.90 Jedenfalls steht außer Zweifel, dass – um mit den Worten der ICTY-Trial Chamber in der BraloEntscheidung vom 5. Dezember 2005 zu sprechen – „rape and torture of a woman [in the context of an armed conflict] is a most heinous crime requiring unequivocal condemnation“.91

c) Internationaler Strafgerichtshof Während die Ad-hoc-Straftribunale durch ihre Rechtsprechung die tatbestandliche Lücken im humanitären Völkerecht erst noch hatten füllen müssen, wurden die Vorbereitungskonferenzen zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs genutzt, um das Verbot der Anwendung sexueller Gewalt im Krieg ausdrücklich in die Tatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu integrieren. Freilich dauerte es einige Jahre, bis der Durchbruch gelang. Die frühen Statutsentwürfe zeichneten sich noch dadurch aus, dass sie die Proble-

87

Vgl. Dixon (Anm. 20), 701 f. und 706, sowie auch Askin (Anm. 71), 121. ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Musema (Anm. 86), Rn. 933. 89 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Kunarac (Anm. 24), Rn. 823 ff. Vgl. ähnlich ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Radislav Krstic, Judgment of 2 August 2001, IT-9833-T, Rn. 509. 90 Dixon (Anm. 20), 699. Die Entscheidung des ICTR im Fall Alfred Musema vom Januar 2000 stellt ebenfalls fest, dass die Vergewaltigung, die Musema selbst beging, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellte, vgl. ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Musema (Anm. 86), Rn. 962 ff. 91 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Miroslav Bralo, Judgment of 5 December 2005, IT-95-17-S, Rn. 33. 88

Die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht

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matik entweder ignorierten92 oder wiederum die unglückliche Verknüpfung von Sexualkriegsverbrechen und Ehrdelikt vornahmen.93 Doch das Warten hat sich gelohnt. Art. 8 Abs. 2 lit. b (xxii) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC-Statut) benennt Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation und jede andere Form sexueller Gewalt nunmehr ausdrücklich als Kriegsverbrechen.94 Art. 8 Abs. 2 lit. e (vi) ICC-Statut erfasst die gleichen speziellen Begehensweisen sogar für den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt. Diese Verbrechen stellen allesamt schwere Verletzungen der Genfer Abkommen, genauer: des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen dar.95 Auch der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Art. 7 ICC-Statut enthält eine ähnlich umfassende Definition der sexuellen Verbrechen (vgl. Art. 7 Abs. 1 lit. g) , wiewohl hier Bedingung ist, dass die Vergewaltigung als Teil einer „widespread or systematic attack against a civilian population“ vorgenommen wird.96 Außerdem wird die Verfolgung „aus Gründen des Geschlechts“ in Art. 7 Abs. 1 lit. h ICC-Statut als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verboten. Der Völkermordtatbestand in Art. 6 ICC-Statut ist hingegen der Vorschrift des Art. II (a)–(e) der Völkermordkonvention97 entnommen und enthält deshalb keine spezifische Referenz an sexuelle Gewalt. Die Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale hat jedoch klargestellt, dass auch ohne explizite Benennung sexuelle Gewalt bei erfolgreichem Nachweis der spezifischen Völkermordabsicht unter Art. 6 des Statuts fallen kann.98 So können Vergewaltigungen etwa dann tatbestandsmäßig im Sinne des Art. 6 lit. d ICC-Statut sein, wenn sie dazu führen, dass sich die Tatopfer aufgrund der erlittenen Traumata entschließen, sich nicht mehr fortzupflanzen.99

92 So enthielt der Draft Code der ILC von 1994 (UN Doc. A/49/10) für den Tatbestand des Kriegsverbrechens noch keinerlei Referenzen an sexuelle Gewalt. 93 Im Einzelnen hierzu Möller (Anm. 51), 293 f. 94 Weiterführend Noëlle Quénivet, Sexual Offences in Armed Conflict and International Law, 2005. 95 Vgl. United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court, Rome Statute, A/CONF/.183/9, 17 July 1998. 96 Art. 2 lit. g des Statuts des Special Court for Sierra Leone hat die Regelung des ICCStatuts übernommen, vgl. Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2003, 706. 97 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948, BGBl. 1954 II, 730. 98 Magdalini Karagiannakis, The Definition of Rape and its Characterization as an Act of Genocide – A review of the Jurisprudence of the International Criminal Tribunals for Rwanda and the Former Yugoslavia, Leiden Journal of International Law 12 (1999), 479 ff. 99 ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Akayesu (Anm. 55), Rn. 508.

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Zur Interpretation der Art. 6 bis Art. 8 ICC-Statut hat die Versammlung im September 2002 eine Liste von Verbrechenselementen angenommen,100 die gemäß Art. 9 ICC-Statut dem Strafgerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Verbrechenstatbestände „helfen“ sollen.101 Die Formulierung „shall assist“ indiziert, dass den Verbrechenselementen keine bindende Wirkung zukommt, sie den Richtern die Auslegung der Tatbestände lediglich erleichtern sollen.102 Im Wesentlichen richtet sich die verabschiedete Liste der „elements of crime“, soweit sie sexuelle Gewalt betreffen, an den vorgängigen Entscheidungen der Ad-hocStraftribunale aus.103 So präzisieren sie etwa die Tathandlung der Vergewaltigung in diesem Sinne. Die äußere Tatseite erfordert ein Eindringen des Täters in den Körper des Opfers, wobei nicht nur der erzwungene Beischlaf, sondern auch gewalttätige orale und anale Penetration gemeint sind. In Anlehnung an die Entscheidung des Jugoslawien-Tribunals im Fall Kunarac („Foca“) genügt für die Annahme von Zwang oder Gewalt bereits ein entgegenstehender Wille des Opfers.104 Für die Verwirklichung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des Art. 7 ICC-Statut ist indes erforderlich, dass die Angriffe gegen die Zivilbevölkerung vom Staat oder einer Organisation aktiv gefördert werden.105 Eine schlichte Tolerierung oder Duldung genügt nach der Liste der Verbrechenselemente hierfür nicht. Dass dies nicht nur im Widerspruch zu den Entscheidungen der Ad-hocStraftribunale steht, die ebenfalls eine Billigung oder Duldung für diese Verbrechen unter Strafe stellen,106 sondern auch der Realität moderner Konflikte 100

Vgl. ICC-ASP/1/3, 112 ff. Dabei müssen die Verbrechenselemente gemäß Art. 9 Abs. 3 mit dem Statut vereinbar sein. Ihre Wirksamkeit tritt ein, wenn sie von den Mitgliedern der Versammlung der Vertragsstaaten mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden (Art. 9 Abs. 1 Satz 2 ICCStatut). 102 Erkin Gadirov, Article 9, in: Otto Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 1999, 309, Rn. 30. 103 Werle (Anm. 96), 707; Knut Dörmann, Elements of War Crimes under the Rome Statute of the International Criminal Court, 2003, 468 f. 104 ICTY (Trial Chamber), Prosecutor v. Kunarac (Anm. 24), Rn. 453 ff.; vgl. auch ICTY (Appeals Chamber), Prosecutor v. Kunarac, Judgment of 12 June 2002, IT-96-23 and IT-96-23/1-A, Rn. 128 ff. Zur Definition von Vergewaltigung durch die Ad-hoc-Straftribunale eingehend Anja Seibert-Fohr, Die Fortentwicklung des Völkerstrafrechts – Verbrechen gegen Frauen in bewaffneten Konflikten, in: Beate Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht. Zur Entwicklung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, 2006, 145 (158 ff.). 105 Vgl. ICC-ASP/1/3, 116. 106 Vgl. nur ICTR (Trial Chamber), Prosecutor v. Akayesu (Anm. 55), Rn. 598 und Rn. 689. 101

Die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht

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zuwiderläuft, bedarf keiner näheren Ausführungen. Der Grund für diese restriktive Tatbestandsauslegung liegt freilich in einem Kompromiss. Auslöser hierfür waren einige arabische Staaten, die bestimmte Verbrechen an Frauen, die im Familienkontext oder aufgrund angeblicher „kultureller Gepflogenheiten“ begangen werden, von der Gerichtsbarkeit des ICC ausschließen wollten.107 Auch die Definition der Tatbestandselemente der sexuellen Sklaverei im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. d ICC-Statut ist kritikwürdig. Denn danach unterfallen dem Tatbestand nur diejenigen Handlungen, die mit einer kommerziellen Transaktion und Profit verbunden sind.108 Damit werden zeitgenössische Formen der sexuellen Sklaverei wie Zwangsarbeit, Zwangspartnerschaft und Zwangsehe tatbestandlich nicht erfasst. Gerade beim Völkermord in Ruanda wurden Frauen und Mädchen von herumstreifenden Tätern einfach mitgenommen, um diesen für eine gewisse Zeit zwangsweise als Sexualpartnerin oder Ehefrau zu dienen.109 Nicht von ungefähr sieht auch das Statut des Straftribunals von Sierra Leone ausdrücklich einen Straftatbestand für „forced marriage“ vor. Ein Erfolg für die frauenspezifischen Schutzmechanismen ist hingegen bei der Definition der Tatbestandselemente für das Verbrechen der Zwangsprostitution zu verzeichnen. Nach dem Zwischenbericht der Arbeitsgruppe im Jahr 2000 war es für die Annahme einer Zwangsprostitution noch erforderlich, dass der Täter einen finanziellen Vorteil für die oder in Verbindung mit den sexuellen Handlungen erhalten oder erwarten muss.110 Zahlreiche NGOs verwiesen jedoch auf Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg, wo die Einrichtung von Zwangsbordellen in kriegerischen Konflikten gerade nicht auf Gewinnstreben beruhten, sondern der Stärkung der Truppenmoral oder schlicht der Unterhaltung der Soldaten dienten.111 Es ist dem beharrlichen Einsatz der NGOs – vor allem des „The Women’s Caucus for Gender Justice in the International Criminal Court – zu verdanken,112 dass nach der Endversion der Verbrechenselemente nunmehr auch ein „anderer als ein geldwerter

107

Möller (Anm. 51), 299. Vgl. ICC-ASP/1/3, 120: „The perpetrator exercised any or all of the powers attaching to the right of ownership over one or more persons, such as by purchasing, selling, lending or bartering such a person or persons, or by imposing on them a similar deprivation of liberty“. 109 Vgl. den Bericht der UN-Spezialberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen, UN Doc. E/CN.4/1998/54/Add.1, 9. 110 Möller (Anm. 51), 302. 111 Vgl. Christa Paul, Zwangsprostitution – Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, 1994. 112 Hierzu Kelly D. Askin, Crimes Within the Jurisdiction of the International Criminal Court, Criminal Law Forum 10, 1999, 33 (45). 108

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Vorteil“ ausreicht.113 Dieser Erfolg ist übrigens auch im Blick auf internationale Friedens- und Schutztruppen nicht bedeutungslos. Die im Jahre 2004 enthüllten Tatsachen über die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen in der Demokratischen Republik Kongo durch das UN Peacekeeping Personal sprechen eine deutliche Sprache.114

d) Fazit Die mittlerweile in großem Umfang stattfindende völkerstrafrechtliche Ahndung von sexueller Gewalt ist durchweg positiv zu bewerten. Dabei ist nicht allein auf die Arbeit der Ad-hoc-Straftribunale zu verweisen, auch die Ermittlungen wegen der begangenen Kriegsverbrechen in Uganda, in der Demokratischen Republik Kongo und in der Region Darfur (Sudan), die der Public Prosecutor des Internationalen Strafgerichtshofs kürzlich eröffnet hat, beziehen alle ebenfalls systematische sexuelle Gewalt gegen Frauen ein. Seit langem haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und die Verbote von Folter, Sklaverei und Völkermord ius cogens-Status erlangt. Nunmehr zählen dazu auch die spezifischen Gewaltverbrechen gegen Frauen, die nicht mehr nur als unvermeidliches Nebenprodukt eines bewaffneten Konflikts angesehen werden. Wiewohl sich der menschenrechtliche Mindeststandard dadurch nicht verändert hat, hat er auf diese Weise doch eine neue Facette erhalten. Dieser „value approach“,115 der auch den spezifischen Schutz der Frau vor sexueller Gewalt umfasst, dürfte sich im Sinne von Art. 53 WVK bereits normativ verfestigt haben. Im Übrigen gewinnt die Ansicht, das Verbot der Nichtdiskriminierung aufgrund des Geschlechts wenn nicht als ius cogens, so doch wenigstens als Teil des Völkergewohnheitsrechts anzusehen, innerhalb der Staatengemeinschaft zunehmend an Bedeutung – wiewohl freilich eine systematische und schwere Frauendiskriminierung (leider) noch immer nicht die gleiche Empörung wie die Politik der rassistischen Apartheid weckt.116

113

Vgl. ICC-ASP/1/3, 120: „The perpetrator or any other person obtained or expected to obtain pecuniary or other advantage in exchange for or in connection with the acts of a sexual nature“. 114 Vgl. UN Doc. A/59/710 vom 24.3.2005, 3 ff. 115 Vgl. Koji Teraya, Emerging Hierarchy in International Human Rights and Beyond: From the Perspective of Non-derogable Rights, EJIL 12, 2001, 917 (931). 116 Gianfrano Helbling, Das völkerrechtliche Verbot der Geschlechterdiskriminierung in einem plurikulturellen Kontext, 2001, 211.

Die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht

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C. Abschließende Bewertung und Desiderata Möchte man die Stellung von Frauen im humanitären Völkerrecht abschließend bewerten, sind aus rechtlicher Sicht positive Tendenzen feststellbar. Die Rechtsregeln des humanitären Völkerrechts sind zwar nicht in jeder Hinsicht, vor allem nicht in Bezug auf den Schutz von Schwangeren, als Vorbild für „Gender Mainstreaming“ geeignet. Das Völkerstrafrecht jedoch hat in Bezug auf Frauenbelange in den letzten Jahren geradezu einen Quantensprung vollzogen.117 Dabei wurden sicherlich die entscheidenden Schritte zugunsten einer größeren Sensibilisierung für die Belange und besonderen Leiden von Frauen während militärischer Auseinandersetzungen gerade auch deshalb gangbar, weil nicht nur die Chefanklägerin, sondern auch zwei Richterinnen des ICTY weiblichen Geschlechts sind und immerhin eine Frau Mitglied der Richterbank des ICTR ist.118 Die Einbeziehung von Frauen in diese hochrangigen Positionen schlägt sich auf die Judikatur der beiden Strafgerichtshöfe ersichtlich nieder. Vor diesem Hintergrund dürfte ein derartiger „genderbezogener“ Ansatz auch für die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs zu erwarten sein. Gemäß Art. 36 Abs. 8 lit. a ICC-Statut berücksichtigen die Vertragsstaaten nämlich bei der Auswahl der Richter die Notwendigkeit, eine ausgewogene Vertretung von weiblichen und männlichen Richtern zu gewährleisten. Unter Beachtung dieser Vorgabe wurden bei der Vertragsstaatenkonferenz im Februar 2003 elf Richter und sieben Richterinnen gewählt. Allerdings darf es mit diesem (Teil-)Erfolg nicht sein Bewenden haben. Es genügt nicht, dass das humanitäre Völkerrecht Frauen nunmehr zwar effektiv schützt, dies aber ausschließlich unter dem Fokus sexueller Gewalt tut. Die Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern, die in vielen Staaten der Welt auch in Friedenszeiten bestehen, verstärken sich in bewaffneten Auseinandersetzungen.119 Der größte Anteil der Armutsbevölkerung sind noch immer Frauen; auch stellen Frauen die Mehrzahl der Analphabeten. Zudem leiden sie verstärkt unter Mangelernährung, was unter anderem daran liegt, dass in einigen Kulturen zuerst die Männer und Knaben mit Nahrungsmitteln versorgt werden.120 Im Krieg 117

Diese Einschätzung wird auch von der feministischen Völkerrechtswissenschaft geteilt, vgl. nur Askin (Anm. 71), 122. Einige fordern zusätzlich einen Entschädigungsfonds spezifisch für Vergewaltigungsopfer, vgl. Chinkin (Anm. 41), 337. 118 Freilich fordert die feministische Völkerrechtswissenschaft eine deutlich höhere Beteiligung von Frauen an der Richterbank, vgl. Chinkin (Anm. 41), 339, und Askin (Anm. 71), 98, um so die Belange der Frauen weiter zu stärken. 119 Gardam/Charlesworth (Anm. 27), 150 f. 120 UNHCR, Guidelines on the Protection of Refugee Women, UN Doc. E/SCP/67 (1991).

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sind Frauen wegen der allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage deshalb von besonders großen ökonomischen Problemen bedroht. Ob – wie dies gelegentlich gefordert wird121 – die Einführung neuer Schutzvorschriften in den Bereich der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte eine Verbesserung der Lage verspricht, mag angesichts der fehlenden Einklagbarkeit dieser Rechte eher bezweifelt werden. Entscheidend dürfte vielmehr sein, die soziologischen und faktischen Rahmenbedingungen für Frauen zu verbessern. Diese Frage aber ist weniger ein Topos des humanitären oder gar des allgemeinen Völkerrechts, sondern vielmehr gesellschaftspolitischer Art. Rechtliche Regelungen – selbst ausdrückliche geschlechtsbezogene Diskriminierungsverbote oder gar sog. „affirmative actions“ – können nur als „Krücke“ zur Verbesserung der Konditionen dienen; allein sind sie nicht geeignet, die Rolle der Frau in der Gesellschaft zu stärken. Daher ist der politische Ansatz, der von der Deklaration der UNGeneralversammlung „on the Protection of Women and Children in Emergency and Armed Conflicts“ von 1974,122 von der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993123 und der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking von 1995124 ausgeht, von unvermindert großer Bedeutung. Alle diese (rechtlich freilich nicht verbindlichen) Dokumente fordern, dass alle Akteure – staatliche wie nichtstaatliche – strategische Aktionen bereithalten sollen, um die Auswirkungen bewaffneter Konflikte speziell auf Frauen zu untersuchen und den Missständen politisch entgegenzuwirken. Wichtige Schritte hierfür sind etwa die stärkere Einbeziehung von Frauen in die Bereiche der Konfliktverhütung, der Friedenssicherungseinsätze und der Friedenskonsolidierungsmaßnahmen – eine Forderung, die auch die Sicherheitsratsresolution Nr. 1325 (2000) nachdrücklich erhebt.125 Das wichtigste Desiderat bleibt jedoch die Ausbildung von Mädchen und Frauen: Denn nur wer seine Rechte kennt, kann sie verteidigen.

121

Christine Chinkin, Gender, Human Rights, and Peace Agreements, Ohio State Journal on Dispute Resolution 18 (2003), 867 (880). 122 GA Res. 3318 (XXIX) vom 14. Dezember 1974. 123 Report of the World Conference on Human Rights, Vienna, 14–25 June 1993, UN Doc. A/CONF.157/24. 124 Report of the Fourth World Conference on Women, Beijing, 4–15 September 1995, UN Doc. A/CONF.177/20 (vom 17.10.1995); angenommen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 8.12.1995 (UN Doc. A/50/42). 125 Hierzu Stefanie Schmahl, Frauen und Frieden, in: Beate Rudolf (Anm. 104), 47 ff.

Völkerrecht im Gender-Fokus Von Anne Peters

Einleitung „Americans are from Mars and Europeans from Venus“.1 Mit dieser Aussage provozierte ein amerikanischer Politikberater die Öffentlichkeit während der Irakkrise von 2002, in der sich unterschiedliche Handlungspräferenzen der USA auf der einen Seite und der („alt“-)europäischen Politiker auf der anderen Seite herauskristallisiert hatten. Damit wurden die Europäer als „weiblich“, also als politische und militärische Weichlinge, die US-Amerikaner als „männlich“ und damit als militärisch potent und einsatzbereit portraitiert. Die Sprache des Geschlechts ist also im internationalen politischen und juristischen Diskurs durchaus präsent.2 Es war das Verdienst völkerrechtswissenschaftlicher Gender-Studies, jene Präsenz des Geschlechts aufzudecken und zu problematisieren. Thema dieses Beitrags ist die Analyse und Kritik dieser Herangehensweisen. Gefragt wird außerdem, ob genderbezogene völkerrechtswissenschaftliche Ansätze von den politischen Akteuren so weit rezipiert wurden, dass sie die Anwendung, Auslegung und Fortbildung des geltenden Völkerrechts mit beeinflussen konnten. Es wird zu zeigen sein, dass die Gender-Perspektive blinde Flecken in der Wahrnehmung der Rechtsrealität beseitigt und in Teilbereichen des positiven Völkerrechts zu dessen Neuinterpretation und Weiterentwicklung beigetragen hat. Die Gender-Perspektive ermöglicht es insofern, einige völkerrechtliche Probleme, insbesondere im internationalen Menschenrechtsschutz, besser zu verstehen, die relevanten Vorschriften angemessen auszulegen und sie gibt eine Richtung sinnvoller Rechtsfortbildung vor. Demgegenüber hat die Gender-Hypothese (also die These, dass alles Völkerrecht „gendered“ ist) in Bezug auf das allgemeine Völkerrecht eine relativ geringe 1

R. Kagan, Power and Weakness, Policy Review No. 113 (Juni/Juli 2002). Es handelte sich um eine bewusste Anspielung auf den Bestseller J. Gray, Men are from Mars, Women are from Venus, 1992. 2 Als weiteres Beispiel mag gelten, dass in der Medienberichterstattung über den G 8Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm, Deutschland, hervorgehoben wurde, dass Gastgeber eine Frau war. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde als „Gipfelkönigin“ bezeichnet und die Zahl der Handküsse, die sie erhielt, wurde kommentiert.

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Erklärungskraft. Eine Verabsolutierung der Gender-Perspektive würde den Verständnishorizont der Völkerrechtsanwender und -beobachter verengen.

A. Der Gender-Fokus I. Das Völkerrecht als vergeschlechtlichtes System Der feministische oder genderbezogene3 Völkerrechtsansatz wurde in den 1990er Jahren am umfassendsten von der Australierin Hilary Charlesworth und der Britisch-Australierin Christine Chinkin ausgearbeitet.4 Die Grundthese ist, dass das Völkerrecht „gendered“, d.h. ein durch und durch vergeschlechtlichtes System sei. Das Völkerrecht sei nicht neutral gegenüber Frauen, sondern verfestige im Gegenteil deren soziale Unterlegenheit. Der behauptete Gender-Bias betrifft die Strukturen des Rechts, die Rechtserzeugung, die rechtsinternen Verfahren und die Rechtsinhalte. Das gesamte Völkerrecht sei also aufgrund der Nichtbeteiligung von Frauen an seiner Entwicklung und Ausarbeitung ein insgesamt „männliches“ Recht. Das Monopol einer Elite von Männern an der Rechtserzeugung und -anwendung habe – so Charlesworth und Chinkin – zur Folge, dass männliche Interessen als scheinbar objektive und neutrale Kategorien definiert und akzeptiert werden, letztlich aber zum Nutzen aller Männer und mit der Folge, dass die Benachteiligung von Frauen rund um den Globus eher verfestigt als in Frage gestellt wird.5 Dementsprechend kritisieren feministische Völker3

Im Folgenden verwende ich das Adjektiv „genderbezogen“ anstatt „feministisch“, um herauszustellen, dass diese Perspektive beide Geschlechter, nicht nur Frauen in den Blick nimmt. Aus stilistischen Gründen spreche ich synonym von „feministischen Ansätzen“ (wenn auch die Begriffe in manchen Diskursen nicht synonym verwendet werden). 4 Grundlegend H. Charlesworth/C. Chinkin/S. Wright, Feminist Approaches to International Law, American Journal of International Law (AJIL) 85 (1991), 613–645. Siehe ferner H. Charlesworth, Feminist Methods in International Law, AJIL 93 (1999), 379–394; H. Charlesworth/C. Chinkin, The Boundaries of International Law, 2000; C. Chinkin/S. Wright/H. Charlesworth, Feminist Approaches to International Law: Reflections from Another Century, in: D. Buss/A. Manji (Hrsg.), International Law: Modern Feminist Approaches, 2005, 17–45. Siehe als frühen Beitrag auch D. Dallmeyer (Hrsg.), Reconceiving Reality, Women and International Law, 1993. Für die Disziplin der internationalen Beziehungen ist grundlegend J. A. Tickner, Gender in International Relations: Feminist Perspectives on Achieving Global Security, 1992. In deutscher Sprache neuerdings B. Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht: Zur Einwirkung von Frauenrechten und Fraueninteressen auf das Völkerrecht, 2006. 5 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 1, 2, 4, 17.19, 22. Das zentrale Argument des Buches „is that the absence of women in the development of international law has

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rechtlerinnen, dass in den wichtigsten Völkerrechtssubjekten (in den Staaten und den internationalen Organisationen) Frauen kaum an Entscheidungen beteiligt seien und dass in der Rechtspraxis und -wissenschaft frauenspezifische Themen wie Vergewaltigung im Krieg, Geschlechtsdiskriminierung oder Frauen- und Kinderhandel vernachlässigt würden. Gender ist das sozial konstruierte Geschlecht, im Gegensatz zum englischen „sex“.6 Gender-Unterschiede sind gesellschaftlich, kulturell und historisch kontingent und beruhen nicht zwingend auf biologischen Unterschieden. Gender wird definiert in Art. 7 Abs. 3 des Statuts des internationalen Strafgerichtshofs (im folgenden ICC-Statut): „Im Sinne dieses Statuts bezieht sich der Ausdruck ‚Geschlecht‘ auf beide Geschlechter, das männliche und das weibliche, im gesellschaftlichen Zusammenhang.“7 Gender ist kein Synonym für weiblich. produced a narrow and inadequate jurisprudence that has, among other things, legitimated the unequal position of women around the world rather than challenged it“, id., 1. „Men and maleness are assumed to be the norm from which women and femaleness are to be differentiated. Women are construed as the ‚other‘, the deviant from the norm“, id., 2. „We argue that international law is both built on and operates to reinforce gendered and sexed assumptions“, id., 18. „[I]n reality sex and gender are an integral part of international law in the sense that men and maleness are built into its structure“, id., 19. „An obvious sign of power differentials between women and men is the absence of women in international legal institutions. Beneath this is the vocabulary of international law, which generally makes women invisible. Digging further down, many apparently neutral principles and rules of international law can be seen as operating differently with respect to women and men. Another, deeper, layer of the excavation reveals the gendered and sexed nature of the basic concepts of international law; for example, ‚states‘, ‚security‘, ‚order‘ and ‚conflict‘“, Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 381. 6 Grundlegend zu dieser Unterscheidung J. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: dies., Gender and the Politics of History, 1988, 28–50; dekonstruiert von J. Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990), dt. Übersetzung: Das Unbehagen der Geschlechter, 2003. Siehe aus der deutschsprachigen Literatur S. Baer, Justitia ohne Augenbinde? – Zur Kategorie Geschlecht in der Rechtswissenschaft, in: M. Koreuber/U. Mager (Hrsg.), Recht und Geschlecht, 2004, 19–31. Das Verständnis von Gender als soziale Zuschreibung hat sich im Rahmen der Vereinten Nationen durchgesetzt. Siehe die Definition in einem Dokument der Division for the Advancement of Women: „Gender“ bedeute „the socially constructed roles of women and men that are ascribed to them on the basis of their sex, in public and private life“, so der Bericht „Integrating the gender perspective into the work of United Nations human rights treaty bodies: Report by the Secretary General“, UN-Dok. HRI/MC/1998/6, Rdn. 16. 7 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998, BGBl. 2000 II, 1394; International Legal Materials (ILM) 37 (1998), 1002 ff. Diese Legaldefinition, die unter dem Einfluss islamischer Staaten und des Heiligen Stuhls formuliert wurde, wird von vielen Feministinnen als zu eng kritisiert. Sie berücksichtige nicht die

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Gender-Studies und Gender-Politik verlangen nicht nur, dass Frauen anders betrachtet und behandelt werden. Auch das männliche Geschlecht wird in die gender-perspektivische Analyse von Recht und Gesellschaft einbezogen.

II. Theoretische Grundlagen: Die Varianten des Feminismus Die genderbezogene Analyse des Völkerrechts ist eine Frucht des Feminismus und der feministischen Rechtswissenschaften.8 Allerdings gibt es keine einheitliche feministische Wissenschaft und Praxis. Wir können mindestens fünf Varianten des Feminismus unterscheiden, die allesamt in die genderbezogene Analyse des Völkerrechts einfließen.9

1. Liberaler Feminismus Der liberale Feminismus forderte und fordert gleiche Rechte und Chancen für Männer und Frauen. Jedoch wurde bald erkannt, dass die Rechtsgleichheit nur der erste Schritt zur Verbesserung der Lebensumstände der Frauen ist. Notwendig ist darüber hinaus die Realisierung ihrer tatsächlichen Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit. Die Vorschrift von Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes illustriert diese beiden Dimensionen: Satz 1 statuiert ein Gleichberechtigungsgebot auf der Ebene der Rechte, und Satz 2 enthält einen Gleichstellungsauftrag bezogen auf die soziale Wirklichkeit.

Homo- und Transsexualität als eigenes Geschlecht und spreche nur vom gesellschaftlichen Zusammenhang, nicht vom gesellschaftlichen Konstrukt, vgl. Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 335. 8 Siehe folgende Einführungs- und Überblicksliteratur in deutscher Sprache: U. Sacksofsky, Was ist feministische Rechtswissenschaft?, Zeitschrift für Rechtspolitik 34 (2001), 412–417; S. Baer, Inklusion und Exklusion. Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein pro FRI (Hrsg.), Recht Richtung Frauen: Beiträge zur feministischen Rechtswissenschaft, St. Gallen 2001, 33–58; U. Lembke, Stand und Gegenstand feministischer Rechtswissenschaft, Juristische Ausbildung 27 (2005), 236–241; S. Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: S. Buckel/R. Christensen/A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 163–185; L. Foljanty, Feministische Rechtswissenschaft: Ein Studienbuch, 2006. 9 Siehe zu den theoretischen Grundlagen einer feministischen Völkerrechtswissenschaft B. E. Hernández Truyol, Crossing Borderlands of Inequality with International Legal Methodologies – The Promises of Multiple Feminisms, German Yearbook of International Law (GYIL) 44 (2001), 113–169; A. von Arnauld, Feministische Theorien und Völkerrecht, in: Rudolf (Anm. 4), 13–45.

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2. Kultureller Feminismus Der kulturelle Feminismus entstand im Anschluss an die 1984 veröffentlichte sozialpsychologische Studie von Carol Gilligan „In a Different Voice“.10 Gilligan stellte nach Interviews mit Kindern und jungen Erwachsenen zu moralischen Fragen und Dilemmata die These auf, dass es neben der „Ethik der Rechte“ auch eine „Ethik des Sorgens“ gäbe. Gilligan selbst war sehr zurückhaltend mit der Zuordnung der Ethik des Sorgens zum weiblichen Geschlecht.11 Ihre Studie wurde jedoch als Entdeckung einer „weiblichen“ Ethik rezipiert. Auf dieser Grundlage betonte die zweite Generation des Feminismus die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Männern und Frauen.12 Gilligans Werk hatte das große Verdienst, die von traditionellen Autoren behauptete Amoralität der Frau zu widerlegen. Die Gefahr der Annahme einer „weiblichen Stimme“ ist jedoch, dass hier Vorurteile über eine vermeintlich weibliche Natur perpetuiert werden. Der kulturelle Feminismus läuft somit Gefahr, in Essentialismus und Sozio-Biologismus umzuschlagen, mit dem Frauen lediglich an ihren traditionellen Platz verwiesen werden. 3. Radikaler Feminismus Der radikale Feminismus wurde von Catherine MacKinnon begründet.13 MacKinnon zeigte auf, dass Gleichheit oder Verschiedenheit von Frauen und Männern 10

C. Gilligan, In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development,

1984. 11

Gilligan (Anm. 10), 2: „The different voice I describe is characterized not by gender but by theme. Its association with women is an empirical observation, and it is primarily through women’s voices that I trace its development. But this association is not absolute, and the contrasts between male and female voices are presented here to highlight a distinction between two modes of thought and to focus on a problem of interpretation rather than to represent a generalization about either sex.“ 12 Siehe für eine Anwendung der Ethik des Sorgens auf die Politik F. Mackay, Love and Politics, 2001. Auch Charlesworth und Chinkin weisen darauf hin, dass das Völkerrecht keinen Unterschied zwischen Menschen mache. Da aber die Lebensumstände von Frauen und Männern fundamental verschieden seien, sei es sinnvoll, eine gesonderte Kategorie „Frauen“ einzuführen, Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 2. 13 Grundlegend C. MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women: A Case of Sex Discrimination, 1979. Für das öffentliche Recht C. MacKinnon, Towards a Feminist Theory of the State, Cambridge 1989. Für das Völkerrecht C. MacKinnon, Are Women Human? And Other International Dialogues, 2006. Überblicke in deutscher Sprache C. MacKinnon, Auf dem Weg zu einer feministischen Jurisprudenz, Streit 11 (1993), 4–13; C. MacKinnon, Auf dem Weg zu einer neuen Theorie der Gleichhheit, Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 77 (1994), 363–376.

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eigentlich nur zwei Seiten derselben Medaille seien. Immer orientiere frau sich am Maßstab des Mannes.14 Nach MacKinnon geht es nicht um Gleichheit und Differenz, sondern um Herrschaft und Unterwerfung, also um Hierarchie. Ungleichheit ist eine Frage von Macht, ihrer Definition und ihrer ungleichen Verteilung.15 „Difference is the velvet glove on the iron fist of domination. The problem is not that differences are not valued; the problem is that they are defined by power.“16 Diese Machtverhältnisse und die Unterdrückung von Frauen würden durch das Recht vermittelt. So erscheine männliche Herrschaft als Merkmal des alltäglichen Lebens, nicht jedoch als einseitige Konstruktion, die zwangsweise zum Vorteil einer herrschenden Gruppe durchgesetzt werde.17 „The law … enforce[s] the real rules: women kept out and down“.18 Solange Macht über Recht durchgesetzt werde und formal wie substantiell die Macht von Männern über Frauen reflektiere und mit ihr korrespondiere, solange bleibe Recht objektiv, erscheint prinzipiengesteuert, werde so, wie die Dinge eben sind.19 Um diese Täuschung aufzudecken, müsse der unpolitische Fokus auf Gleichheit oder Differenz abgelöst werden durch eine politische bzw. politikbewusste Analyse der männlichen Vorherrschaft mittels eines „Wechsel[s] der Perspektive von Geschlecht als Differenz zu Geschlecht als Herrschaft“.20 Auf die vom kulturellen Feminismus identifizierte angeblich weibliche „Stimme“ antwortet MacKinnon: „Take your foot off our necks, then we will hear in what tongue women speak“.21 Auch im Völkerrecht, z.B. im Bereich des Menschenrechtsschutzes, deckt der radikale Feminismus die Privilegierungen des männlichen Geschlechts und damit die Hierarchie auf, welche die tiefere Ursache der Permanenz frauenspezifischer Rechtsverletzungen sei.22 Der radikale Feminismus ist insofern problematisch, als er männliche Macht als absolut konstruiert und eine neue absolute Wahrheit ver-

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MacKinnon, Theory of the State (Anm. 13), 220: „[T]he sameness/difference approach is obsessed with the sex difference. Its main theme is: ‚we’re the same, we’re the same, we’re the same.‘ Its counterpoint theme is: ‚but we’re different, we’re different, we’re different.‘ … Concealed is the substantive way in which man has become the measure of all things.“ 15 MacKinnon, Feministische Jurisprudenz (Anm. 13), 8. 16 MacKinnon, Theory of the State (Anm. 13), 219. 17 MacKinnon, Feministische Jurisprudenz (Anm. 13), 4. 18 C. MacKinnon, Feminism Unmodified: Discourses on Life and Law, 1987, 205. 19 MacKinnon, Feministische Jurisprudenz (Anm. 13), 5. 20 MacKinnon, Feministische Jurisprudenz (Anm. 13), 9. 21 MacKinnon, Feminism Unmodified (Anm. 18), 45. 22 D. Otto, Disconcerting „Masculinities“: Reinventing the Gendered Subject(s) of International Human Rights Law, in: Buss/Manji (Anm. 4), 105–129 (insb. 124–128).

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kündet. MacKinnons Ansatz bleibt dennoch grundlegend und hat das heutige Verständnis der Geschlechterverhältnisse entscheidend geprägt.

4. Postmoderner Feminismus Neuere Strömungen des Feminismus können wir in Ermangelung eines besseren Etiketts als „postmodern“ bezeichnen, weil sie in mehrfacher Hinsicht mit postmodernem Gedankengut assoziiert sind. Zum einen betonen sie die Indeterminität des für die Frauenbewegung zentralen Begriffs der Geschlechtergleichheit. Des Weiteren betonen sie die identitätsbildende Kraft von Sprache und Recht. Schließlich stellen sie die Einheitlichkeit einer personalen (geschlechtlichen) Identität in Frage und wollen die duale Geschlechterkategorisierung als zu starr und gegensätzlich aufgeben.23 Postmoderne Feministinnen sind gegen ihrer Ansicht nach falsche Essentialisierungen, sei es Biologismus24 oder Universalismus, sensibilisiert. Hinterfragt werden auch der Feminismus und das Völkerrecht selbst: Zu überwinden sei das irreführende „Ideal einer transformativen feministischen Praxis, welche das Wissen der Herrschenden herausfordern könne. Wir erkennen, dass dieses Streben in denselben aufklärerischen Auffassungen wurzelt und genauso begrenzt ist wie die kosmopolitischen Fantasien des Völkerrechts, die wir zu kritisieren versuchen.“25 Schwachpunkt dieses Ansatzes ist, dass er bei konsequenter Infragestellung sämtlicher Erkenntnisobjekte und Werte letztlich unfähig wird, Aussagen über die Realität oder Handlungsvorschläge zu machen. Weil der Theorie ihr Gegenstand abhanden gekommen ist,26 muss sie sich mit denjenigen, die von der Männerwelt als Frauen „konstruiert“ werden, befassen und mit der „Imagination“ des Völkerrechts.

23 Dianne Otto sieht als Aufgabe der feministischen Analyse des Völkerrechts „reproducing gender as hybrid and multiplicitous rather than duality“ und „accepting the constructed and fluid nature of gender differences“, Otto (Anm. 22), 127 f. 24 Folgerichtig werden nicht nur Männer und Frauen eigene soziale Kategorien, sondern Homosexuelle, Transsexuelle, Hermaphroditen usw. als je eigenes Geschlecht aufgefasst. 25 R. Buchanan/S. Panhuja, Collaboration, Cosmopolitanism and Complicity, Nordic Journal of International Law 71 (2002), 297–224 (302) (Übersetzung der Verf.). 26 „[F]eminism itself presupposes that women are homogeneous in some significant respects, or else the term ‚feminism‘ loses its meaning entirely“, A. X. Fellmeth, Feminism and International Law: Theory, Methodology, and Substantive Reform, Human Rights Quarterly 22 (2000), 658–733 (665 f.). Vgl. auch von Arnauld (Anm. 9), 19.

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5. Drittwelt-Feminismus Besonders bedeutsam für das Völkerrecht ist wegen seines internationalen Fokus der Drittwelt- oder postkoloniale Feminismus.27 Vertreterinnen dieser Strömung machen darauf aufmerksam, dass das Völkerrecht dermaßen „structurally biased“ gegen Frauen der dritten Welt sei, dass es komplett umgebaut werden müsste, um den Bedürfnissen dieser Frauen Rechnung zu tragen.28 Drittwelt-Feministinnen halten die Solidarität zwischen Frauen der ersten und der dritten Welt29 aus verschiedenen Gründen für illusorisch.30 Frauen in der dritten Welt erfahren gleichzeitig und einander verstärkend rassistische und sexistische Unterdrückung („intersectionalities“). Die Ausmerzung der Geschlechtsdiskriminierung erscheint deshalb unzureichend, um die Unterdrückung der dortigen Frauen zu beenden. Die Interessenlagen von Frauen in der ersten und in der dritten Welt können sehr unterschiedlich sein.31 Außerdem hat der feministische Interna27

Gute Einführungen bei C. Mohanty, Cartographies of Struggle: Third World Women and the Politics of Feminism, in: C. Mohanty/A. Russo/L. Torres (Hrsg.), Third World Women and the Politics of Feminism, 1991 (Taschenbuchausgabe 2000), 1–47; C. Johnson-Odim, Common Themes, Different Contexts: Third World Women and Feminism, in: dies., 314–327. Siehe grundsätzlich G. Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, 1999, 361, 388, 390, 399. Id., 114: „It seems particularly unfortunate when the emergent perspective of feminist criticism simply reproduces the axioms of imperialism“. Siehe ferner Anne Orford, die sich um eine Analyse bemüht „without trying to discover some kind of originary, exoticized, pre-modern, and always victimized, Third World Women. Basing our ‚global sisterhood‘ on the connections we imagine with such a figure supports the current processes of imperialism, militarism, financialization …“, A. Orford, Feminism, Imperialism and the Mission of International Law, Nordic Journal of International Law 71 (2002), 275–296 (286). 28 K. Engle, International Human Rights and Feminisms: When Discourses Keep Meeting, in: Buss/Manji (Anm. 4), 47–66 (59). 29 Für eine solche Solidarität jedoch b. hooks, Sisterhood: Political Solidarity between Women, in: S. Gunew (Hrsg.), Feminist Knowledge: Critique and Construct, 1991, 27–41. 30 Beispielsweise erwiesen sich in einem Fall drohender Steinigung einer so genannten Ehebrecherin in Nigeria die zahlreichen Petitionen westlicher Frauenrechtsorganisationen als kontraproduktiv. Nigerianische Feministinnen baten die westlichen Frauen, Interventionen einzustellen, damit die religiösen Führer ohne Gesichtsverlust ihre Haltung ändern konnten, B. Stark, Women, Globalization and Law: A Change of World, Pace International Law Review 16 (2004), 333–356 (360). 31 Beispielsweise erscheint es privilegierten, weißen Frauen, als ob die Geschlechterrolle die einzige Kraft sei, die sie hinunterziehe. In weniger privilegierten Schichten könnten Frauen die Hausfrauenrolle nicht als Abweg von ihren Lebenszielen erfahren, sondern als Zuflucht vor den schlechten Jobs und der reduzierten Kinderbetreuung, die ihnen ihre Schichtzugehörigkeit und Rasse andernfalls beschert, J. Williams, Implementing Anti-

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tionalismus seinerseits das koloniale oder neo-koloniale „Empire“ unterstützt. Einige Strömungen des traditionellen Feminismus erscheinen insofern eingebettet in der Geschichte des Rassismus und Imperialismus und als selbst ursprünglich rassistisch. Auch heute profitieren die Frauen der ersten Welt möglicherweise von der Unterdrückung der dritten Welt und der dort lebenden Frauen. Für drittweltfeministische Autorinnen und Aktivistinnen ist deshalb der feministische Kampf vielfach zwingend mit dem Kampf ihrer Gemeinschaften gegen Rassismus und ökonomische Ausbeutung verknüpft. Sie wollen selbst ihre Prioritäten definieren und sie sich nicht von Frauen der ersten Welt diktieren lassen.32

III. Erkenntnis, Kritik und Praxis Allen feministischen Betrachtungsweisen des Rechts ist gemeinsam, dass sie typischerweise eine analytische und eine normative Basisbehauptung aufstellen.33 Die analytische Behauptung ist, dass Gender eine mächtige gesellschaftliche Struktur sei und als solche das Recht und andere wichtige Institutionen der Gesellschaft mitgestalte. Wenn Gender mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde, erlaube dies, so die Grundannahme, ein nuancierteres Verständnis des Rechts und seiner Funktionsweise. Die zweite Grundbehauptung ist normativ und besagt, dass die Art und Weise, in der Gender das Recht geformt hat, in politischer und ethischer Hinsicht kritikwürdig sei, weil sie nicht nur als neutrale Unterscheidung, sondern als illegitime Diskriminierung wirke. Schließlich versteht sich der Feminismus zugleich als Epistemologie und als politische Praxis. Der Einbezug der Praxis ist nach der epistemologischen Prämisse des Feminismus nicht nur politisch wünschenswert, sondern erkenntnistheoretisch notwendig, weil nach der feministischen „Standpunkt-Epistemologie“34 die (volle oder richtige) Erkenntnis des Rechts nur aus der Erfahrung der Ausgeschlossenen entwickelt werden kann.35 Feministische Völkerrechtlerinnen wollen also nicht nur das Völkerrecht sowie die völkerrechtliche Wissenschaft und Praxis als „männlich“ entlarven und als unfair kritisieren, sondern auch durch ihr rechtspolitisches Engagement zur Umgestaltung der Rechtsordnung beitragen und essentialism: How Gender Wars turn into Race and Class Conflict, Harvard Black Letter Law Journal 15 (1999), 41–81 (78). 32 Siehe zum vermeintlichen Alibi-Thema der weiblichen Beschneidung unten Abschnitt D. IX. 3. 33 K. Knop, Eunomia is a Woman: Philip Allott and Feminism, European Journal of International Law (EJIL) 16 (2005), 315 (317). 34 Zur „Standpukt-Epistemologie“ unten Abschnitt E. VI. 35 Baer, Inklusion (Anm. 8), 38.

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dadurch die gesellschaftliche Lage von Frauen (und unter Umständen auch von Männern) verbessern. Feministische Rechtswissenschaft wird somit nie im Elfenbeinturm betrieben, sondern die Einsichten der Theorie sollen in politische Aktion umgesetzt werden, wie auch die praktischen Erfahrungen in die theoretische Konstruktion einfließen. In der hier skizzierten Perspektive sollen nun zunächst kurz die gesellschaftliche Wirklichkeit und dann einige darauf bezogene völkerrechtliche Institute neu betrachtet werden.

B. Die Lebenswirklichkeit von Frauen weltweit Das Völkerrecht soll letztlich, wenn auch in der Regel über das innerstaatliche Recht vermittelt, das Zusammenleben von Menschen sinnvoll und gerecht regeln. Einige Daten belegen, dass dieses Ziel in Bezug auf die Lebensumstände von Frauen bisher nicht voll verwirklicht wurde. Zwar genießen in den meisten nationalen Rechtsordnungen Frauen formal gleiche Rechte wie Männer. Nur in der Minderzahl der Staaten sind noch frauendiskriminierende Rechtsvorschriften in Kraft, beispielsweise im Familien-, Erb-, Staatsangehörigkeits- oder Arbeitsrecht. Dennoch ist die Lebensqualität von Frauen überall auf der Welt durchgängig im Durchschnitt schlechter als die des Durchschnitts der Männer. Die Benachteiligung betrifft alle Lebensbereiche: Gesundheit, Bildung, Arbeitswelt, wirtschaftliche Lage und Vermögen sowie die politische Repräsentation. I. Frau-Sein als Risikofaktor36 1. Gesundheit und körperliche Unversehrtheit Während in Ländern, in denen keine elterliche Bevorzugung eines Geschlechts zu erkennen ist, die Kindersterblichkeitsrate der Knaben von Natur aus etwas höher als die der Mädchen ist, ist in vielen Staaten der Welt die Wahrscheinlich36

Die Daten in diesem Abschnitt stützen sich, soweit nicht zusätzliche Quellen angegeben sind, auf M. Vlachová/L. Biason (Hrsg.), Women in an Insecure World: Violence against Women: Facts, Figures, and Analysis, 2005; auf den Millenium Development Goals Report vom 2. Juli 2007, http://mdgs.un.org/unsd/mdg/default.aspx (besucht am 3. Juli 2007), sowie auf im Internet veröffentlichte Angaben der UN-Division for the Advancement of Women, http://www.un.org/womenwatch/daw/ (besucht am 1. Juli 2007); auf Daten von UNIFEM, UNICEF, http://www.unicef.org/gender/index_factsandfigures.html (besucht am 1. Juli 2007); UNFPA (United Nations Population Fund); Berichte des UNSpecial Rapporteur on Violence against Women sowie von Amnesty International und der Welthungerhilfe.

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keit, zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr zu sterben, für Mädchen höher als für Knaben. In Indien kamen in den letzten 20 Jahren aufgrund selektiver Schwangerschaftsabbrüche immer weniger Mädchen als Knaben auf die Welt.37 Insbesondere in Bürgerkriegen der letzten Jahre wurden Vergewaltigungen als Kriegshandlungen eingesetzt.38 Dadurch haben sich viele Frauen mit dem HIVVirus infiziert.39 Nach Angaben der WHO werden jeden Tag 6.000 Mädchen beschnitten, das sind mehr als zwei Millionen jährlich.40 Frauen und Kinder sind vom Hunger stärker betroffen als Männer.41 Sie tragen erhebliche Risiken von Schwangerschaft und Geburt.42 37

Siehe in Bezug auf die Weltbevölkerung bereits A. Sen, More than 100 Million Women are Missing, New York Review of Books Vol. 37, No. 20 vom 20 Dez. 1990, 61. Neuerdings zu Indien P. Jha/R. Kumar/P. Vasa/N. Dhingra/D. Thiruchelvam/R. Moineddin, Low male-to-female sex ratio of children born in India: National survey of 1.1 million households, The Lancet 367 (21 Jan. 2006), 211–218. Die Autoren zeigen, dass unter den Zweitgeborenen in einer Familie im Jahr 1997 auf 1.000 Knaben nur 759 Mädchen geboren wurden, wenn das erste Kind bereits ein Mädchen war. Demgegenüber ist die Geschlechterverteilung unter den Zweitgeborenen ungefähr gleich, wenn das erste Kind ein Junge war. Dies legt nahe, dass weibliche Föten wegen des Wunsches nach einem Sohn abgetrieben werden. Besonders schockierend ist, dass gebildete Mütter offenbar häufiger zu dieser illegalen Methode greifen als weniger gebildete Frauen. 38 Besonders häufig kamen Vergewaltigungen in den Bürgerkriegen von Kongo, SierraLeone (rund 60.000 Opfer), Ruanda (rund 500.000 Opfer) und Ex-Jugoslawien (10.000– 60.000 Opfer) vor, aber auch in Tschetschenien. 39 Amnesty International schätzt, dass beispielsweise in Ruanda gut 66 Prozent der die Vergewaltigungen überlebenden Frauen mit dem HIV-Virus angesteckt wurden, AI Index: AFR 47/007/2004 vom 6. April 2004. Siehe auch K. Annan, UN-Secretary General, In Africa, AIDS has a Woman’s Face, New York Times und International Herald Tribune vom 29. Dez. 2002, Op-Ed Pages, http://www.un.org/News/ossg/sg/stories/sg-29dec2002.htm (besucht am 1. Juli 2007). 40 Die weibliche Beschneidung wird in mindestens 28 Staaten häufig praktiziert, Vlachová/Biason (Anm. 36), 26 f., siehe auch Tabelle 2.1 auf 30. 41 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Frauen sind oft schlechter ausgebildet als Männer und haben dadurch schlechteren Zugang zu Arbeit und Nahrung. In ländlichen Gebieten sind die Frauen durch die Doppelbelastung der Arbeit auf dem Feld und in der Familie eigentlich auf mehr Nahrung angewiesen, die ihnen aber meist nicht zukommt. Während der Schwangerschaft und in der Stillzeit haben Frauen einen erhöhten Nährstoffbedarf, der ebenfalls oft nicht genügend abgedeckt werden kann. Durch diesen Mangel sind viele Frauen geschwächt und bringen untergewichtige Kinder zur Welt. 42 Jährlich sterben eine halbe Million Frauen durch Komplikationen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt, die meisten davon in Afrika südlich der Sahara oder Südasien, Millenium Development Goals Report 2007 (Anm. 36), 16. Damit ist der Tod durch Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt weiterhin eine der Haupttodesursachen für Frauen im gebärfähigen Alter. 80 Prozent dieser Todesfälle haben eine der

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Häusliche Gewalt ist die üblichste Form von Gewalt gegen Frauen. Nach einer WHO-Studie ist Gewalt durch den eigenen Partner eine der häufigsten Todesursachen für Frauen zwischen 16 und 44 Jahren.43 Der United Nations Population Fund schätzt, dass jährlich rund 5.000 Frauen weltweit durch Ehrenmorde getötet werden, meist in islamischen Staaten.44 Vor allem in Indien werden dem United Nations Children’s Fund zufolge jährlich bis zu 5.000 Frauen (nach Amnesty International bis zu 15.000) getötet, weil ihre Mitgift zu klein ist und damit die Familie des Ehemannes beleidigt. Viele dieser Mitgiftmorde werden mit Ofenbränden erklärt (stove deaths), also als Unfälle deklariert, oder als Selbstmorde gemeldet.45 Andere Formen von Gewalt gegen Frauen sind Säureattacken, Witwenverbrennungen oder Zwangsheiraten. Ungefähr 80 Prozent der Flüchtlinge und der „internally displaced persons“ sind Frauen und Kinder.46 Migrantinnen sind von Gewalt gegen die eigene Person viel stärker bedroht als Migranten. Sie werden oft durch falsche Versprechungen ins Ausland gelockt und arbeiten dort als Haussklavinnen oder als Prostituierte.47

fünf folgenden Ursachen: Blutungen, Infektionen, erhöhter Blutdruck, Überarbeitung, unsauber durchgeführte Abtreibungen (die besonders bei Teenagern bis 15 Jahren häufig zum Tod führen). Zusätzlich zu den Todesfällen leiden 50 Millionen Frauen an chronischen Beschwerden seit ihrer Schwangerschaft oder Geburt. An den Folgen von unsachgemäß vorgenommenen Abtreibungen sterben täglich mehr als 200 Frauen. Die Abtreibungen hängen wiederum damit zusammen, dass viele Mädchen mangels Schulbildung schlecht aufgeklärt sind und keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben. 43 Vlachová/Biason (Anm. 36), 57, Kasten 4.1, Facts and Figures on the magnitude of intimate partner violence, m.w.N. Nach Noeleen Heyzer, der Direktorin von UNIFEM, existierte im Jahr 2006 in 45 Staaten Gesetzgebung gegen häusliche Gewalt, in weiteren 20 Staaten waren Gesetzgebungsvorhaben im Gange. 44 Besonders häufig sind Ehrenmorde in Pakistan (ca. 1.000 jährlich), wo jeden Tag mindestens drei Frauen im Namen der Ehre getötet werden. Die Taten werden nur sehr selten verfolgt, weil sich die Polizei vielfach weigert, Anzeigen aufzunehmen, mit der Begründung, es handele sich um häusliche Angelegenheiten, Vlachová/Biason (Anm. 36), 27–29. 45 Vlachová/Biason (Anm. 36), 31. 46 Vlachová/Biason (Anm. 36), 171, Kasten 2.1. 47 Nach Angaben des UN-Generalsekretariats von 2003 wurden jährlich 700.000 Personen, überwiegend Frauen, zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung verschoben. Nach Angaben von UNIFEM (2002) werden jährlich 2 Millionen Mädchen im Alter zwischen fünf und 15 Jahren in das Sexgeschäft eingeführt. Der jährliche Gewinn aus Frauenhandel wurde von UNIFEM im Jahr 2002 auf 5–7 Milliarden US-Dollar geschätzt. In Deutschland waren bereits Ende der 1990er Jahre 75 Prozent aller Prostituierten Ausländerinnen, International Organization for Migration (IOM), Juni 1996.

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2. Bildung, Wirtschaft und politische Beteiligung Von den rund 72 Millionen Kindern, die weltweit im Jahr 2005 nicht in die Primarschule gingen, waren 57 Prozent Mädchen.48 Nach älteren Daten waren unter den erwachsenen Analphabeten zwei Drittel Frauen.49 Der Arbeitsmarkt öffnet sich langsam für Frauen.50 In der nichtlandwirtschaftlichen Lohnarbeit waren im Jahr 2005 weltweit 39 Prozent Frauen beschäftigt. Sie sind jedoch nach wie vor von der beruflichen Segregation und vom Lohngefälle betroffen und leisten über 60 Prozent der unbezahlten Familienarbeit. In der industrialisierten Welt erhalten Frauen im Durchschnitt nur 70 Prozent des Verdienstes der Männer, wobei sich nur ein geringer Teil durch die schlechtere Ausbildung und eine andere Art der Tätigkeit rechtfertigen lässt.51 Weltweit leisten Frauen zwei Drittel aller Arbeitsstunden und produzieren die Hälfte der Lebens48 The Millenium Development Goals Report 2007 (Anm. 36), 11. Einige Jahre zuvor waren noch zwei Drittel Mädchen. 49 W. Kälin/L. Müller/J. Wittenbach (Hrsg.), Das Bild der Menschenrechte, 2005, 113 m.w.N. 50 The Millenium Development Goals Report 2007 (Anm. 36), 12 f.; UN-Statistics Division, http://unstats.un.org/unsd/demographic/products/indwm/indwm2.htm (besucht am 1. Juli 2007), sowie Vlachová/Biason (Anm. 36), 39, Kasten 3.1. 51 In der EU-15 lag das geschlechtsspezifische Lohngefälle konstant bei etwa 16 Prozent. Berücksichtigt man das Lohngefälle in den neuen Mitgliedstaaten, ist der Schätzwert für die EU-25 etwas niedriger (15 Prozent). Beim Abbau der geschlechtsspezifischen Trennung des Arbeitsmarkts sind kaum Fortschritte zu verzeichnen: sowohl die Segregation nach Berufen (17,5 Prozent) als auch die Segregation nach Sektoren (25,2 Prozent) sind nach wie vor stark ausgeprägt. Im Jahr 2003 waren 31 Prozent der Führungskräfte Frauen gegenüber 30 Prozent im Jahr 2002, EU-Kommission, Bericht zur Gleichstellung von Frau und Mann, 2005, http://europa.eu.int/comm/employment_social/publications/2005/keaj 05001_de.pdf (besucht am 1. Juli 2007). In der Schweiz sind die Löhne der Frauen im Durchschnitt deutlich tiefer als jene der Männer. Der standardisierte monatliche Bruttolohn (Median) der Frauen im privaten Sektor betrug im Jahr 2002 4.586 Franken, jener der Männer 5.796 Franken. Dies entspricht einer Lohndifferenz von 20,9 Prozent. Im schweizerischen öffentlichen Sektor (Bundesverwaltung) betrug der standardisierte monatliche Bruttolohn (Median) der Frauen im Jahr 2002 5.695 Franken im Monat, derjenige der Männer 6.377, was einer Differenz von 10,7 Prozent entspricht, http://www.equality.ch. Der Frauenanteil in der Bundesverwaltung betrug Anfang 2007 29,5 Prozent. Nimmt man den männerdominierten Sicherheitsbereich (Militär, Zoll, Bundespolizei) aus, so erreichte der Frauenanteil 42 Prozent. In der Entwicklung des Frauenanteils zeigt sich eine qualitative Veränderung: Während in den unteren Lohnklassen der Frauenanteil leicht sinkt, nimmt er im Kaderbereich zu. So konnte der Frauenanteil im obersten Kader (Lohnklassen 30–38) im Vergleich zum Vorjahr von 9,3 Prozent auf 10,4 Prozent weiter erhöht werden. Medieninformation „Personalpolitische Führungskennzahlen 2007“ vom 16. März 2007.

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mittel, erhalten jedoch nur 10 Prozent des Einkommens. 70 Prozent der Menschen, die täglich weniger als 1 Dollar zur Verfügung haben, sind Frauen. Frauen gehört weltweit nur 1 Prozent des Bodens.52 Die politische Beteiligung von Frauen wächst langsam.53 Im Januar 2007 waren weltweit 17 Prozent aller Abgeordneten in Einkammerparlamenten oder Unterhäusern Frauen. Sie stellten jedoch nur in 19 Staaten eine so genannte kritische Masse von mindestens 30 Prozent der Parlamentarier.54 Im März 2007 waren 13 Frauen Regierungs- oder Staatschefs.55 In Kuwait und in Saudi Arabien haben Frauen erst seit 2006 das aktive und passive Wahlrecht.

II. Frauenbenachteiligung als transkulturelles Phänomen Zusammenfassend ist festzuhalten, dass weltweit Frauen und Mädchen eine schlechtere Ausbildung erhalten, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt sind, weniger verdienen, de iure oder de facto diskriminiert werden und politisch untervertreten sind. Die ökonomische Globalisierung hat die Lage von Frauen in manchen Ländern eher verschlechtert. Die Benachteiligung scheint nicht oder kaum in spezifisch nationalen Kulturen begründet zu sein. So stellte der UN-Entwicklungsbericht von 1995 fest: „Ironischerweise ist das, was die Staaten über viele kulturelle, religiöse, ideologische, politische und wirtschaftliche Trennlinien hinweg vereint, ihre gemeinsame Sache gegen die Gleichberechtigung der Frauen“.56 Die Frage ist, inwieweit das Völkerrecht zu dieser „gemeinsamen Sache“ beigetragen hat und was es andererseits zur Verbesserung der Lage der Frauen leisten kann. Dies wird in den folgenden Abschnitten untersucht werden. 52

Vlachová/Biason (Anm. 36), 39, Kasten 3.1. Siehe zur Feminisierung der Armut auch The United Nations Fourth World Conference on Women, Beijing, China – September 1995, Action for Equality, Development and Peace, Platform for Action, Rdn. 47 ff., http:// www.un.org/womenwatch/daw/beijing/platform/poverty.htm. 53 The Millenium Development Goals Report 2007 (Anm. 36), 13. Details bei der InterParliamentary Union, http://www.ipu.org/wmn-e/world.htm (besucht am 3. Juli 2007). Dort auch Vergleich mit früheren Jahren und nach Region. 54 Die höchsten Anteile haben Staaten mit Quoten für Parlamentssitze (angeführt von Ruanda, Schweden und Costa Rica). 55 In Bezug auf die höchsten Staatsämter ist kein eindeutiger positiver Trend zu verzeichnen: Im Jahr 2000 gab es neun, im Jahr 1995 zwölf weibliche Staatschefs. 56 UNDP, Human Development Report, 1995, 43, http://hdr.undp.org/reports/global/ 1995/en/ (besucht am 2. Juli 2007, Übersetzung der Verf.). In diesem Sinne auch Sen (Anm. 37), Abschnitt 3.

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C. Völkerrechtserzeugung und -anwendung unter Männern Ausgangs- und Angelpunkt der feministischen Analyse des Völkerrechts ist die Diagnose, dass Frauen praktisch nicht an der Ausarbeitung und Anwendung von Völkerrecht beteiligt sind. Dieses „Schweigen der Frauen“57 habe, so die GenderThese, tiefgreifende Auswirkungen auf Strukturen und Inhalte der gesamten Völkerrechtsordnung.

I. Männer als staatliche, zwischenstaatliche und wissenschaftliche Akteure Faktum ist, dass Frauen in allen maßgeblichen rechtserzeugenden und -anwendenden Institutionen unterrepräsentiert sind. Die hochrangigen Amtsträger in den Regierungen, Außenministerien und diplomatischen Delegationen,58 welche völkerrechtliche Verträge aushandeln, Vertreter in internationale Organisationen59 und auf Konferenzen entsenden und Staatenpraxis setzen, sind überwiegend Männer.60 Die nationalen Parlamente, die völkerrechtliche Verträge ratifizieren, werden in numerischer Hinsicht von Männern dominiert.61 Ein wichtiges internationales Gremium, das mit der Kodifikation und Weiterentwicklung des Völkerrechts betraut ist, ist die International Law Commission. 57

„Permeating all stages of the excavation of international law is the silence of women. This phenomenon does not emerge as a simple gap or hollow that weakens the edifice of international law and that might be remedied by some rapid construction work. It is rather an integral part of the structure of the international legal order, a critical element of its stability“, Charlesworth, Feminist Legal Methods (Anm. 4), 381 (Hervorhebung der Verf.). 58 Daten des eidgenössischen Departements des Äusseren (EDA) für die Schweiz: Im diplomatischen Dienst beträgt der Frauenanteil unter 20 Prozent (in den höheren Kadern unter 15 Prozent), im konsularischen Dienst ca. 40 Prozent. 59 Siehe als Ausnahme Art. 3 Abs. 2 der Verfassung der internationalen Arbeitsorganisation vom 9. Okt. 1946, BGBl. 1957 II, 317 (i.d.F. v. 25. Juni 1953): „Sind Fragen, die besonders Frauen angehen, auf der Konferenz zu erörtern, so soll wenigstens eine der als technische Berater bezeichneten Personen eine Frau sein.“ 60 „The effect in this context is that women’s voices are not heard in the decisionmaking processes that lead to identifiable state practice“, C. Chinkin, Sources of International Law: Entrenching the Gender Bias, Remarks, in: American Society of International Law (ASIL)/Nederlandse Vereniging voor Internationaal Recht (Hrsg.), Contemporary International Law Issues: Opportunities at a Time of Momentous Change, 1993, 418–421 (418). 61 Daraus wird von feministischer Seite geschlossen, dass im Ratifikationsprozess mit höchster Wahrscheinlichkeit keine Frauenperspektive eingenommen werde, so C. Ku, in: ASIL 1993 (Anm. 60), 414–418 (416).

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Ihre Mitglieder sind Experten, die von den Regierungen der UN-Mitglieder nach einem Regionalproporz nominiert und von der Generalversammlung gewählt werden. Von ihren 34 Mitgliedern sind in der aktuellen Periode (2007–2011) zwei Frauen. Diese Untervertretung kann auch damit zusammenhängen, dass sich nach dem noch herrschenden Muster der Verteilung der Familienpflichten kaum eine Frau zehn bis zwölf Wochen im Jahr einen Aufenthalt in Genf erlauben kann. Auch in den internationalen Gerichten und sonstigen Spruchkörpern, die Völkerrecht auslegen, anwenden und fortbilden, sind Frauen weit unterrepräsentiert. Erst 1995 wurde die Engländerin Rosalyn Higgins als erste Frau zur ordentlichen Richterin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag gewählt und amtiert seit Februar 2006 als dessen Präsidentin.62 Im siebenköpfigen Appellate Body der WTO sitzt seit 2003 eine Frau,63 und der Anteil von Frauen auf der Liste der Panelists beträgt momentan nur wenig über 10 Prozent. Immerhin müssen nach Art. 36 Abs. 8) a) iii) ICC-Statut die Vertragsstaaten „berücksichtigen“, dass bei der Auswahl der Richter des Internationalen Strafgerichtshofs „eine ausgewogene Vertretung weiblicher und männlicher Richter“ gewährleistet werden soll.64 Im folgenden Absatz b) der Vorschrift wird die Notwendigkeit anerkannt, „Richter mit juristischen Fachkenntnissen … insbesondere, jedoch nicht ausschließlich auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen und Kinder“ einzubeziehen. Diese Vertragssystematik zeigt, dass die Mitwirkung von Richterinnen am Internationalen Strafgerichtshof nicht aus allgemeinen Erwägungen des Geschlechterproporzes angestrebt wird, sondern um der besonderen Befindlichkeit von Opfern und Zeugen sexueller Gewalt Rechnung zu tragen. Auf der Grundlage dieser Vorschriften sind gegenwärtig am Jugoslawientribunal von den insgesamt 15 regulären Richtern (ohneAd-litem-Judges) zwei Frauen,65 am Ruandatribunal von 16 regulären Richtern vier Frauen66 und am Internationalen Strafgerichtshof von 18 Richtern acht Frauen.67

62

Zuvor war eine Frau, Suzanne Bastid, Ad-hoc-Richterin in einem Teil des tunesischen Festlandsockel-Streits (Application for Revision and Interpretation of the Judgment of 24 February 1982 in the Case concerning the Continental Shelf (Tunisia/Libyan Arab Jamahiriya) (Tunisia v. Libyan Arab Jamahiriya), ICJ Rep. 1985, 192). 63 Merit E. Janow (Amtszeit bis 10. Dezember 2007). 64 Ebenso sollte nach Rule 34 (B) der jeweiligen Rules of Procedure and Evidence der beiden Ad-hoc-Straftribunale für Jugoslawien und Ruanda „bei der Stellenbesetzung … die Einstellung von qualifizierten Frauen angemessen berücksichtigt werden.“ 65 Http://www.un.org/icty/glance/index.htm. 66 Http://www.ictr.org/default.htm. 67 Http://www.iccnow.org/?mod=currentjudges, alle Angaben Stand Juni 2007.

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Schließlich begleitet die Rechtswissenschaft die Völkerrechtsentwicklung und kann sie indirekt beeinflussen. In der Gender-Perspektive ist deshalb wichtig, dass das „invisible college of international lawyers“68 immer noch vor allem aus Männern besteht.69 Einer der Gründe der Untervertretung dürfte sein, dass weibliche Wissenschaftlerinnen nachgewiesenermaßen deutlich produktiver sein müssen, um gleiche wissenschaftliche Chancen wie durchschnittliche männliche Wissenschaftler zu haben.70 Die wenigen Frauen, die es dennoch geschafft haben, werden durch die von vielen juristischen Verlagshäusern vorgeschriebene Zitierung nur der Vornamensinitialen der wissenschaftlichen Autoren „neutralisiert“ und dadurch unsichtbar gemacht. Die sich aus dieser Faktenlage ergebende Frage ist, ob die feministische Literatur zu Recht vom Verfahrensmangel der Unterrepräsentation von Frauen in den völkerrechtserzeugenden und -anwendenden Institutionen auf frauenfeindliche oder zumindest Frauenanliegen vernachlässigende Inhalte und Strukturen des Völkerrechts schließt. Ist also mit der Gender-Literatur anzunehmen, dass die Einbeziehung von Frauen in die Rechtserzeugung und -anwendung tatsächlich zu anderen inhaltlichen Ergebnissen führen würde? Oder liegt hier ein prozeduraler Fehlschluss vor? Dies wird im Schlussteil näher diskutiert (unten Teil E. VII.).

II. Weibliche Zivilgesellschaft Die globale Zivilgesellschaft wirkt zunehmend an der Völkerrechtserzeugung mit. Hier spielen Frauen traditionell eine wichtige Rolle. Weil sie lange Zeit von offiziellen Entscheidungsgremien ausgeschlossen waren, haben Frauen bereits im 19. Jahrhundert völkerrechtliche Foren geschaffen, insbesondere NGOs und eigene Konferenzen.71 So veranstalteten NGOs parallel zur Umweltkonferenz von Rio 68

O. Schachter, The Invisible College of International Lawyers, Northwestern University Law Review 72 (1977), 217–226. 69 In der Schweiz sind gegenwärtig allerdings mehr als die Hälfte der Völkerrechtsprofessoren Frauen. 70 C. Wennerås/A. Wold, Nepotism and sexism in peer review, Nature Vol. 387 vom 22. Mai 1997, 341–343 (342). Nach dieser Untersuchung eines Peer-review-Verfahrens für Postdoktorandenstipendien in der Medizin mussten weibliche Bewerberinnen zweieinhalb mal so produktiv sein, um gleiche Kompetenzbewertungen zu erhalten. 71 Hierzu D. Stienstra, Women’s Movements and International Organisations, 1994. Das erste informelle Frauennetzwerk, welches die Völkerrechtsentwicklung beeinflusste, bildeten die Anti-Sklavereigruppen von Frauen, die nicht zur Antisklavereikonferenz in London im Jahr 1840 zugelassen waren und deshalb außerhalb informelle Treffen organisierten, id., 47 f.

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einen World Women’s Congress for a Healthy Planet,72 auf der die Women’s Action Agenda 2173 verabschiedet wurde. Die Lobbytätigkeit von Frauengruppen konnte gelegentlich die Inhalte der offiziellen Dokumente beeinflussen. So erreichten Frauen, dass in der Völkerbundsatzung von 1919/20 der Völkerbund „mit der allgemeinen Überwachung der Abmachungen betreffend den Mädchen- und Kinderhandel“ betraut wurde.74 Die im Jahr 1945 neuartige Vorschrift in Art. 1 Abs. 3 UN-Charta, welche die Geschlechterdiskriminierung verbietet, geht auf Frauenlobbyarbeit zurück.75 Frauen lenkten auf der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien die Aufmerksamkeit auf Frauenrechte, was zur Verabschiedung der Erklärung der Generalversammlung zur Eliminierung aller Formen der Gewalt gegen Frauen von 1993 beitrug.76 Vor allem ist es nicht zuletzt Frauenaktivismus zu verdanken, dass die Zuständigkeiten der Kriegsverbrechertribunale und des Internationalen Strafgerichtshofs ausdrücklich auf Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ausgedehnt wurden. Schließlich hat unter anderem Frauen-Networking dazu geführt, dass der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2000 die verbindliche Resolution zum Thema „Frauen, Sicherheit und Frieden“ verabschiedet hat.77 Der Gegensatz zwischen der offiziell entscheidungsbefugten Elite und der bestenfalls beobachtungs- und beratungsbefugten Basis ist gleichzeitig ein Gender-Gegensatz, der durch eine Stärkung der Befugnisse von NGOs überwunden werden könnte. Zwar ist einschränkend anzumerken, dass sich die gegenwärtige Machtzunahme der NGOs nicht automatisch zugunsten von Frauen auswirkt,78 weil die Zivilgesellschaft nicht per se frauenfreundlicher ist als das politische Establishment und weil die Institutionalisierung und Professionalisierung von Graswurzelbewegungen (vielfach von Frauen initiiert) oft zu deren „Vermännlichung“ führt. Dennoch dürfte im Ergebnis ein Ausbau der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten von NGOs und vor allem ihre stärkere Beteiligung an Völkerrechtserzeugungsprozessen den Anliegen von Frauen mehr Rechnung tragen als das gegenwärtige Regime. 72

Kongress vom 8.–12. November 1991 in Miami, http://www.iisd.org/women/about3. htm (besucht am 19. Juni 2007). 73 Women’s Actions Agenda for a Healthy and Peaceful Planet 2015, http://www.iisd. org/women/action21.htm (besucht am 19. Juni 2007). 74 Art. 23 lit. c) der Völkerbundsatzung, RGBl. 1919, 689 ff. Zur Frauenlobbyarbeit in diesem Kontext Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 15 m.w.N. 75 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 99. 76 Siehe zu häuslicher Gewalt unten Abschnitt D. IX. 4. 77 SR-Res. 1325 vom 31. Oktober 2000. Siehe näher unten Abschnitt D. VII. 78 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 102 u. 169.

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D. Der mutmaßliche Gender-Bias zentraler völkerrechtlicher Strukturen, Institute und Prinzipien I. Dichotomische Struktur des Völkerrechts? Feministische Völkerrechtlerinnen kritisieren die dichotomische Struktur des Völkerrechts und insbesondere die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Die Standard-Dichotomien im Völkerrecht führen, so die Gender-These, zur Ausblendung der Erfahrung von Frauen. So seien folgende Gegenüberstellungen „gendered“: Unabhängigkeit/Abhängigkeit; verbindlich/unverbindlich; international/intern (national); Intervention/Nichtintervention und schließlich souverän/ nicht selbstregierend. Der jeweils erste Begriff in diesen binären Gegenüberstellungen sei männlich kodiert, der zweite weiblich.79

1. Feministische Kritik des Public/Private Split Die aus feministischer Sicht wichtigste Dichotomie ist die so genannte Public/Private Dichotomie.80 Damit wird Verschiedenes gemeint: Manchmal wird die Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht beklagt, manchmal die liberale Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Meist wird (mit letzterer Distinktion überlappend) die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre kritisiert. Die öffentliche Sphäre ist die der Politik und der Wirtschaft, die private die Welt des Heims und der Familie. Die Befähigung zur Teilnahme am öffentlichen Leben wird durch universelle und unpersönliche Kategorien wie Rechte, Gleichheit und Besitz bestimmt, wohingegen die Zugehörigkeit zur privaten Sphäre durch Bande des Blutes und der Gefühle determiniert wird. Aus feministischer Sicht ist entscheidend, dass die private Sphäre eindeutig als nachrangig bzw. als weniger wertvoll als die öffentliche Sphäre gilt, auch in den Augen des Rechts. Die Abtrennung dieser (abgewerteten) privaten Sphäre ermöglichte, so die feministische Kritik, eine Verbannung der Frauen in den privaten Bereich. Frauen nahmen traditionell nicht am öffentlichen (also auch nicht am politischen) Leben teil. Politik, insbesondere Außenpolitik, wurde immer schon mit Männlichkeit assoziiert. „Männliche“ Charakteristika wie Härte, Mut, Macht, 79

Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 49. Klassisch Duncan Kennedy, The Stages of Decline of the Public/Private Distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), 1349–1357. Grundlegender feministischer Beitrag: F. E. Olsen, The Family and the Market: Study of Ideology and Legal Reform, Harvard Law Review 96 (1983), 1497–1578. 80

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Unabhängigkeit und physische Stärke waren in der Geschichte die meistgeschätzten Eigenschaften politischer Akteure, insbesondere in den internationalen Beziehungen.81 Des Weiteren impliziert der Public/Private Split möglicherweise einen Vorrang der bürgerlichen und politischen Rechte vor den (für Frauen besonders wichtigen) wirtschaftlichen und kulturellen Rechten. Ferner hat die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre dazu beigetragen, dass die häusliche Arbeit von Frauen einschließlich der Reproduktionsarbeit lange Zeit zu Unrecht nicht als ökonomisch wertvoll anerkannt wurde und immer noch nicht entlohnt wird. Ein letzter und wichtiger Vorwurf ist, dass der Public/Private Split und die Nichteinmischung der staatlichen Organe in den privaten Bereich den Schutz von Frauen vor Missbrauch und vor Rechtsverletzungen durch private Akteure verminderten. Dieser Vorwurf ist in Bezug auf den Grundrechtsschutz, der gleichzeitig als völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz geboten sein kann, nicht unberechtigt. Er wird an anderer Stelle aufzugreifen sein.82

2. Die Dichotomie von Innen- und Außenpolitik als Manifestation eines Public/Private Split Im Völkerrecht finden kritische Interpreten die „liberale“ Trennung von öffentlicher und privater Sphäre in den Konzepten der Domaine Réservé und des Interventionsverbotes wieder, wobei die inneren Angelegenheiten der Staaten mit der privaten Sphäre gleichgesetzt werden.83 Die genderbezogene Kritik dieses völkerrechtlichen Public/Private Split ist komplex und in sich widersprüchlich. Auf der einen Seite wird routinemäßig darauf hingewiesen, dass sich der völkerrechtliche Respekt der inneren Angelegenheiten und das Interventionsverbot zum Nachteil von Frauen auswirkten, weil Frauenrechtsverletzungen und sonstige Schädigungen von Frauen nicht wirksam völkerrechtlich reguliert würden. Deshalb sollten – so die feministische Forderung – humanitäre Interventionen zum Schutz der Schwächeren zugelassen werden.84 Eine Variante dieser These ist, dass reiche Staaten die Public/Private Distinktion als Ausrede für die Verweigerung der Unterstützung von Entwicklungsländern für die Bekämpfung „interner“ Probleme wie Armut benutzten und rechtliche Hilfspflichten ablehnten. Dadurch würden „unterentwickel81

Tickner (Anm. 4), 6. Hierzu unten Abschnitt D. IX. 4. 83 Grundlegend M. Koskenniemi, From Apology to Utopia, 1989, 214. 84 Statt vieler K. Knop, Re/Statements: Feminism and State Sovereignty in International Law, Transnational and Contemporary Legal Problems 3 (1993), 293–344 (295 u. 330). 82

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te Staaten durch das Machtungleichgewicht in der internationalen Arena gewissermaßen ‚feminisiert‘“.85 Auf der anderen Seite beklagen Feministinnen, dass in der völkerrechtlichen Diskussion umstrittene Interventionen, beispielsweise im Kosovo, die internationale Gemeinschaft als maskuliner Action-Held und der Zielstaat der Intervention als hilfloses weibliches Opfer imaginiert werde. Die Zuschreibung dieser GenderRollen repliziere das altbekannte Heraushalten von Frauen aus der rechtlich geordneten öffentlichen Sphäre und diene zur Legitimierung von Interventionen.86 Auch in einem konkreteren Sinn halte – so die Kritik – der Topos „Rettet Frauen und Kinder“ als Deckmantel für ungerechtfertigte Interventionen her.87

3. Kritik der Kritik Die Widersprüchlichkeit der diversen feministischen Positionen, die zum Teil mehr Intervention der internationalen Gemeinschaft zugunsten von Frauen fordern, zum Teil die Scheinrechtfertigungen illegaler Interventionen kritisieren, ist im Vergleich zum traditionellen, ebenfalls ambivalenten, völkerrechtlichen Denken nicht originell. Sie zeigt, dass weder die völlige Abschottung der Staaten noch ihre völlige Öffnung ein Mittel zur Herstellung internationaler Gerechtigkeit wäre und reflektiert so lediglich die Notwendigkeit einer immer wieder neu zu findenden Balance. Dabei trägt die Qualifikation der schwächeren Akteure als „weiblich“ nichts zum besseren Verständnis bei, sondern perpetuiert lediglich Gender-Klischees. Außerdem übersieht diese Kritik an den entwickelten Staaten, dass es eher die Entwicklungsländer sind, die auf die Wahrung ihrer nationalen Souveränität bedacht sind und sich Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbitten. Weder die feministische Diagnose eines strikten Public/Private Split im internationalen Recht noch seine Verteufelung sind uneingeschränkt plausibel. Zwar gilt das Völkerrecht als „Public“ International Law. Es ist öffentliches Recht insofern, als die Staaten die wichtigsten Völkerrechtssubjekte sind. Jedoch werden zuneh85

K. Walker, An exploration of Article 2(7) of the United Nations Charter as an embodiment of the public/private distinction in international law, New York Journal of International Law and Politics 26 (1994), 173–199 (191) (Übersetzung der Verf.). 86 A. Orford, Muscular Humanitarianism: Reading the Narratives of the New Interventionism, EJIL 10 (1999), 679–711; R. Buchanan/R. Johnson, The ,Unforgiving‘ Sources of International Law: Nation-Building, Violence and Gender in the West(ern), in: Buss/Manji (Anm. 4), 131–158 (133). 87 T. Murphy, Feminism Here and Feminism There: Law, Theory and Choice, in: Buss/ Manji (Anm. 4), 67–86 (86).

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mend auch Privatpersonen und Unternehmen durch völkerrechtliche Normen nicht nur berechtigt (durch die Menschenrechte), sondern auch in die Pflicht genommen. Die neu kodifizierte individuelle Strafbarkeit für Völkerrechtsverbrechen und die viel diskutierte mittelbare Menschenrechtsbindung von Unternehmen sind augenfällige Manifestationen dieser Tendenz. Auch legen die zwischen Staaten geschlossenen zivilrechtlichen Haftungsabkommen zur Ölverschmutzung oder zu Nuklearunfällen88 den Unternehmen unmittelbare materielle Pflichten auf und machen sie direkt (ohne Umweg über das nationale Recht der staatlichen Vertragsparteien) haftbar.89 Damit wird die traditionelle dogmatische und terminologische Unterscheidung zwischen Staatenverantwortung (state responsibility) und der zivilrechtlichen Haftung (civil liability) der Firmen sinnentleert.90 Auf der anderen Seite setzen private Akteure (Unternehmen und Verbände) immer häufiger grenzüberschreitende rechtliche oder quasi-rechtliche Standards.91 Dieses Phänomen der Durchmischung und Verschränkung von privatem und öffentlichem grenzüberschreitendem Recht ist sogar eines der hervorstechendsten Merkmale der Globalisierung und ist ein Kernelement dessen, was wir heute Global Governance nennen.

88

Ölhaftungsübereinkommen (International Convention for Oil Pollution Damage (CLC)) vom 29. Nov. 1969, ersetzt durch Protokoll vom 27. Nov. 1992, in Kraft seit 30. Mai 1996; Fondsübereinkommen (International Convention on the Establishment of an International Fund for Compensation for Oil Pollution Damage (FUND)) vom 18. Dez. 1971, ersetzt durch Protokoll vom 27. Nov. 1992, in Kraft seit 30. Mai 1996; Internationale Konvention über Haftung und Ersatz für Schäden im Zusammenhang mit der Beförderung von gefährlichen und schädlichen Substanzen auf See vom 3. Mai 1996 (HNS-Konvention), noch nicht in Kraft; Wiener IAEA-Konvention über die zivilrechtliche Haftung für Nuklearschäden vom 21. Mai 1963, geändert durch Änderungsprotokoll vom 12. Sept. 1997, in Kraft seit 4. Okt. 2003; Basler Protokoll über die internationale Haftpflicht bei Sondermüll-Transporten (Basel Protocol on Liability and Compensation for Damage Resulting from Transboundary Movements of Hazardous Wastes and Their Disposal) vom 10. Dez. 1999, noch nicht in Kraft. Schließlich gibt es als bisher einziges bereichsübergreifendes internationales Haftungsinstrument die so genannte Luganer Konvention über die zivilrechtliche Haftung für Schäden aus umweltgefährdenden Tätigkeiten vom 21. Juni 1993 (Convention on Civil Liability for Damage Resulting from Activities Dangerous to the Environment), European Treaty Series (ETS) Nr. 150, noch nicht in Kraft. Alle Angaben Stand Juni 2007. 89 Siehe nur Art. 6 der Luganer Konvention (Anm. 88). 90 S. Ratner, Business, in: D. Bodansky/J. Brunnée/E. Hey (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Environmental Law, 2007, 807–828 (814). 91 Hierzu R. B. Hall/T. J. Biersteker (Hrsg.), The Emergence of Private Authority in Global Governance, 2002; V. Haufler, A Public Role for the Private Sector: Industry Selfregulation in a Global Economy, 2001; G. Fenner/L. Koechlin/T. Förster/A. Peters, Private Actors as Standard-Setters, 2008 (in Vorbereitung).

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Der Public/Private Split auf internationaler Ebene ist also nicht eindeutig und wird zunehmend erodiert. Außerdem ist die vollständige Veröffentlichung aller Lebensbereiche nicht erwünscht. Ein totaler Staat bzw. ein totales Völkerrecht ist keine ernsthafte Option. Es kann also nicht um die Aufhebung der ohnehin bereits ausgefransten Trennlinien, sondern nur um eine Verschiebung der Grenzen zwischen öffentlich und privat gehen. „Private“ Handlungen, die Frauen oder andere schwache Gesellschaftsmitglieder so schädigen, dass ein bestimmter Standard unterschritten wird, sind nicht mehr Privatsache, wenn sich die Gesellschaft auf diesen Mindeststandard geeinigt hat.

II. Männlich kodierte Völkerrechtsquellen? 1. Völkerrechtsverträge und Konsensprinzip Bekanntlich gilt im Völkerrecht als Grundmodus der Rechtserzeugung das Konsensprinzip. Dieses beherrscht den Vertragsschluss und regiert wegen der Möglichkeit des Persistent Objectors letztlich auch eingeschränkt die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht. Die feministische Völkerrechtslehre behauptet, das Konsenserfordernis sei männlich kodiert.92 Das Verfahren, Zustimmung einzuholen, habe Frauen weitgehend ausgeschlossen.93 Der gegensätzliche („weibliche“) Entscheidungsmodus sei die Akzeptanz von Gemeinschaftswerten, denen sich die Teilnehmer am Rechtserzeugungsprozess ohne explizite Abstimmung unterordnen. Diese Argumentation ist insofern schlüssig, als das Konsenserfordernis eine Konsequenz der staatlichen Souveränität ist, die in feministischer Perspektive ebenfalls männlich kodiert ist.94 Die Forderung, Subjekte nur an Rechtsvorschriften zu binden, denen sie (wie auch immer indirekt oder informell) zugestimmt haben, fließt aus der grundsätzlichen Anerkennung der Selbstbestimmung des Subjekts. Diese verlangt Selbstgesetzgebung oder zumindest Mitwirkung an der Rechtssetzung. Das Konsenserfordernis ist insofern eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung und des Liberalismus. An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass die radikale, postmoderne und postkoloniale feministische Kritik vielfach eine Kritik des Liberalismus in anderem Vokabular darstellt.

92 93 94

Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 97. Id., 123. Dazu unten Abschnitt D. III. 1.

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Allerdings wird im Zuge der Konstitutionalisierung des Völkerrechts das Konsensprinzip zunehmend erodiert.95 Rechtssetzung durch den Sicherheitsrat, Zurückdrängung des Persistent Objectors und Mehrheitsentscheide im Rahmen internationaler Organisationen, eine (bescheidene) Drittwirkung gewisser völkerrechtlicher Weltordnungsverträge oder so genannte objektive Regime sind Schlagworte, die eine leichte völkerrechtliche Tendenz zum Verzicht auf individuelle, förmliche Zustimmungserklärungen und zur Unterwerfung der Rechtssubjekte unter Mehrheitspositionen markieren. In feministischer Perspektive wäre dieser Aspekt der Konstitutionalisierung des Völkerrechts seine Verweiblichung.

2. Völkergewohnheitsrecht Die traditionelle Zwei-Elementen-Lehre besagt, dass ein völkergewohnheitsrechtlicher Satz auf der Grundlage einer von Rechtsüberzeugung allgemeinen Übung entsteht. Das Erfordernis einer allgemeinen Übung verhindert, dass sich völkergewohnheitsrechtliche Normen in Bezug auf frauenspezifische Probleme herausbilden können, die in vielen Staaten nicht als solche anerkannt sind. Beispielsweise ist häusliche Gewalt gegen Frauen zwar in allen Gesellschaften präsent, jedoch in vielen Staaten nicht strafbar. Ein völkergewohnheitsrechtliches Verbot häuslicher Gewalt kann deshalb nicht entstehen.96 Dieser feministische Hinweis ist zutreffend. Jedoch sollte die Kritik an die Verursacher des Problems, nämlich an die Staaten selbst, gerichtet werden. Solange das Völkerrecht in erster Linie von Staaten erzeugt und umgesetzt wird, kann es sich nur sehr begrenzt und in kleinen Schritten über die dort herrschenden politischen Auffassungen hinweg setzen. Ein Völkergewohnheitsrecht, dass sich an wenigen, aus Frauensicht progressiven Staaten orientierte, wäre wegen der Angewiesenheit des Völkerrechts auf die lokale Akzeptanz und Umsetzung in das nationale Recht ein leeres Versprechen, welches die normative Kraft des Völkerrechts insgesamt unterminieren würde.

3. Weitere Rechtsquellen Die dritte traditionelle Rechtsquelle, die allgemeinen Rechtsgrundsätze, stellt in der Gender-Perspektive ebenfalls ein Problem dar. Mit der Integration der ur95 Hierzu A. Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, Leiden Journal of International Law 19 (2006), 579–610 (587–589). 96 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 72.

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sprünglich nationalen Rechtsprinzipien werde der Gender-Bias des nationalen Rechts einfach auf die internationale Ebene übertragen.97 Des Weiteren spiegelt der bisher anerkannte Kanon des Ius Cogens nach feministischer Auffassung männliche Interessen wider.98 Dies zeige sich beispielsweise darin, dass das Verbot der Rassendiskriminierung als zwingendes Recht gelte, nicht aber das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung, obwohl letztere eine weiter verbreitete Ungerechtigkeit sei, die das Leben der Hälfte der Weltbevölkerung beeinträchtige. Eine im Sinne der Frauen revidierte Liste der Ius-Cogens-Normen müsste das Recht auf Geschlechtergleichberechtigung, die Fortpflanzungsfreiheiten, das Recht auf Freiheit von Gewalt und Unterdrückung und das Recht auf Frieden einschließen.99 Schließlich kann Soft Law in der Gender-Perspektive betrachtet werden. Hilary Charlesworth und Christine Chinkin wiesen darauf hin, dass Soft Law typischerweise in zwei Situationen eingesetzt werde: zum einen für Themen, an denen die Staaten kein gesteigertes Interesse hätten, und zum anderen dort, wo Staaten zögern, sich rechtsverbindlichen Beschränkungen zu unterwerfen. Auf Frauenfragen träfen beide Erwägungen zu, so dass viele der Angelegenheiten, die Frauen besonders betreffen, in der Völkerrechtserzeugung „doppelt marginalisiert“ seien.100

III. Männlicher Staatsbegriff? „Der Staat im großen ist die Menschheit (das Volk) als selbstbewusster, willenskräftiger und thatmächtiger Mann, die Kirche ist die Menschheit (die Gläubige) als fromme, gottergebene, moralisch wirkende Frau“, schrieb der Staats- und Völkerrechtler Johann Caspar Bluntschli gegen Ende des 19. Jahrhunderts.101 Heutige Feministinnen thematisieren und kritisieren diese männliche Kodierung 97

Charlesworth, Remarks, in: ASIL (Anm. 60), 422. „Jus cogens norms reflect a male perspective of what is fundamental to international society that may not be shared by women or backed up by women’s experience of life. Thus the fundamental aspirations attributed to communities are male and the assumptions of the scheme of world order assumed by the nation of jus cogens are essentially male. Women are relegated to the periphery of communal values“, Charlesworth, Remarks, in: ASIL (Anm. 60), 421–424 (423). 99 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 120. 100 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 66. 101 J. C. D. Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (in drei Bänden), Bd. 2: Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl. Stuttgart 1886, Neudruck Aalen 1965, 429, aus dem 6. Buch („Von der Kulturpflege des Staates“), das V. Kapitel („Verhältnis des Staates zur Kirche“). 98

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des Staates. In den Worten von Catherine MacKinnon: „[S]tate power emerged as male power“.102 Der Staat sei, formal gesehen, insofern männlich, als Objektivität seine Norm sei. Objektivität sei die Selbstbeschreibung des Liberalismus. Der Staat sei auch in rechtstheoretischer Hinsicht männlich, weil er das Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft vom Standpunkt männlicher Macht aus wahrnähme.103 Im liberalen Staat institutionalisiere – so die feministische Theorie – der Rechtsstaat sowohl die Macht von Männern über Frauen als auch Macht in ihrer männlichen Form – neutral, abstrakt, herausgehoben, alles durchdringend.104 Tatsächlich war die historische Entstehung der Institution des Nationalstaates, der nach wie vor die Grundeinheit des Völkerrechts und das wichtigste Völkerrechtssubjekt ist, im 17. und 18. Jahrhundert in Europa von – aus feministischer Sicht – „männlicher“ physischer Gewalt und (Bürger-)Krieg begleitet und ruhte auf einer geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung sowie vor allem seit dem bürgerlichen 19. Jahrhundert auf der Verbannung von Frauen in die private, häusliche Sphäre. Die Konzentration politischer Macht zum souveränen Staat und die damit einhergehende Ausbildung des so genannten westfälischen Systems basierte auf patriarchalischen Prämissen, aufgrund derer Männern das Monopol an Macht, Autorität und Wohlstand eingeräumt wurde.105 Der Staat institutionalisierte insofern – sehr holzschnittartig ausgedrückt – die patriarchalische Familie. Gleichzeitig ist sein Funktionieren auf die Arbeit, die Frauen in der privaten Sphäre leisten, angewiesen. Auch heute noch werden Eigenschaften, die mit „hegemonialer Männlichkeit“ assoziiert werden, auf Staaten projiziert.106 Die Macht von Staaten wird daran gemessen, wie weit sie autonom und zur Selbsthilfe befähigt sind. „Weibliche“ Züge haben Staaten nur in gewissen Zusammenhängen, z.B. als Ernährer oder als Interventionsopfer.107 102

MacKinnon, Theory of the State (Anm. 13), xi. MacKinnon, Theory of the State (Anm.13), 162 f. 104 MacKinnon, Feministische Jurisprudenz (Anm. 13), 4. Wenn Objektivität die epistemologische Haltung ist, deren gesellschaftlicher Prozess die Verdinglichung von Frauen darstellt, deren Auferlegung das Paradigma der Macht in seiner männlichen Form ist, dann erscheine der Staat am ungehemmtesten in der Auferzwingung der männlichen Sichtweise, wenn er dem höchsten formalen Kriterium der distanzierten Aperspektivität am nächsten kommt. Wenn er am rücksichtslosesten neutral ist, sei er am männlichsten; wenn er im stärksten Masse geschlechtsblind ist, sei er im stärksten Masse blind für das Geschlecht des Maßstabs, den er anwendet, id., 12. 105 J. Lovenduski, Feminizing Politics, 2005, 53; Chinkin/Wright/Charlesworth, in: Buss/Manji (Anm. 4), 17 (29). 106 Tickner (Anm. 4), 6–7. 107 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 138. 103

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Deshalb wurde von kulturfeministischer Seite gefordert, dass in zwischenstaatlichen Beziehungen die „weibliche“ Ethik des Sorgens Anwendung finden solle. Dies ist allerdings ein altes Thema der Naturrechtsschule, für welche die Analogie zwischen Staaten und Individuen zentral war. Bereits Pufendorf, Wolff und Vattel postulierten zwischenstaatliche Hilfs- und Solidaritätspflichten sowie die Pflicht, andere Staaten zu lieben. Hinzu kommt, dass diese feministische Forderung auf die Analogie zwischen Individuum und dem Staat rekurriert. In ihrer traditionellen Version projizierte die Analogie ein bestimmtes Menschenbild (des unabhängigen Selbst, dass sich durch klare Grenzen vor Gefährdung seiner Autonomie schützt) auf den Staat. Feministinnen ersetzten diese Annahme über die menschliche Natur durch andere Annahmen, insbesondere durch das Postulat eines mit anderen verbundenen, gemeinschaftsgebundenen Wesens. Die feministische Umdeutung stellt jedoch die problematische Analogie selbst nicht in Frage.108

1. Die souveräne Staatsgewalt Die staatliche Souveränität, verstanden als Völkerrechtsunmittelbarkeit und Unabhängigkeit von anderen Staaten, ist in der westlichen Vorstellung ein typisch männliches Charakteristikum.109 Autonomie und Unverbundenheit gelten als „männliche“ Eigenschaften, wohingegen Abhängigkeit und Eingebundenheit „weiblich“ seien. Dementsprechend ist nach feministischer Auffassung die traditionelle Sichtweise der internationalen Beziehungen als eines Hobbes’schen Krieges aller gegen alle „männlich“, insofern als sie sich auf die Konflikte konzentriere und die ebenso lange Tradition der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Rahmen von militärischen und ökonomischen Bündnissen ausblende.110 Die Souveränitätsvorstellung des 19. Jahrhunderts mit ihrem Fokus auf Autonomie und tatsächlicher Machtfülle kann den Status der heutigen Staaten nicht mehr adäquat beschreiben. Auf der so genannten „Innen“seite sind heute das Rechtssetzungs-, das Rechtsdurchsetzungs- und das Gewaltmonopol durch private Standardsetzung, private Sicherheitsdienste, Gefängnisprivatisierung und Liberalisierung zahlreicher Infrastrukturaufgaben relativiert.111 Im Außenverhältnis haben 108

Knop, Re/Statements (Anm. 84), 320. Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 134. 110 Nach Ann Tickner basiert Hobbes’ Naturzustand auf der Abwehr von Mütterlichkeit, Tickner (Anm. 4), 46. 111 Hierzu A. Peters, Privatisierung, Globalisierung und die Resistenz des Verfassungsstaates, in: P. Mastronardi/D. Taubert (Hrsg.), Staats- und Verfassungstheorie im Span109

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die wirtschaftliche Globalisierung sowie weltpolitische und ideologische Verschiebungen die Handlungsspielräume der souveränen Nationalstaaten einerseits verkleinert, andererseits aufgrund größerer ideeller Konformität und der gemeinsamen Anerkennung von Sachzwängen vergrößert. Das Völkerrecht ist nicht mehr blind gegenüber der innerstaatlichen Rechtsordnung. Den veränderten Rahmenbedingungen besser angepasst ist die Locke’sche Vorstellung von Souveränität als „trust“,112 also als Treuhänderschaft oder als Verantwortung („responsibility to protect“), wie es in dem internationalen Expertenbericht von 2001 heißt.113 So gesehen ist ein Staat nur insofern souverän, als sein Regime auch die Zustimmung der darin lebenden Menschen findet. Diese neue Souveränitätskonzeption wird seit einigen Jahren in der Völkerrechtswissenschaft zunehmend vertreten114 und hat bereits Niederschlag in der Staatenpraxis gefunden.115 Sie ist weniger männlich kodiert als die klassische Auffassung. Feministinnen rennen insofern offene Türen ein, wenn sie fordern, Macht besser als konzertierte Aktion denn als Kontrolle über andere zu begreifen.116 Diese Rekonstruktion geht in dieselbe Richtung wie das zeitgemäße Verständnis von Souveränität als „good standing“ in der internationalen Gemeinschaft.117 Feministinnen dürfen deshalb das Potential der staatlichen Souveränität als „Ermächtigungsstrategie“ anerkennen und nutzen.118 So bedeutet der seit der Auflösung des Ostblocks erkennbare Trend zur Wiederverknüpfung der „äußeren“ Souveränität des Staates mit der „inneren“ Volkssouveränität für Frauen nungsfeld der Disziplinen, Beiheft Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 105 (2006), 100–159. 112 J. Locke, Two Treatises of Government (orig. 1690), hrsg. von P. Laslett, 1960, Rdn. 149 auf 413. 113 The Responsibility to Protect, Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), 2001, http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf. 114 Siehe nur L. Boisson de Chazournes/L. Condorelli, De la „responsabilité de protéger“, ou d’une nouvelle parure pour une notion déjà bien établie, Revue Général de Droit International Public (RGDIP) 110 (2006), 11–18. 115 Resolution der Generalversammlung, World Summit Outcome, UN-Dok. A/RES/ 60/1 vom 24. Okt. 2005, Rdn. 138 f. 116 So I. Gunning, Modernizing Customary International Law: The Challenge of Human Rights, Virginia Journal of International Law 31 (1991), 211–247 (218). Wenn auf die Fähigkeit zur Beteiligung an dieser konzertierten Aktion, insbesondere an internationalen Rechtserzeugungsprozessen abgestellt wird, besteht kein Grund mehr, nichtstaatlichen Akteuren den Status als Völkerrechtssubjekt vorzuenthalten, Knop, Re/Statements (Anm. 84), 312. 117 A. Chayes/A. Chayes, The New Sovereignty, 1995, 27. 118 Knop, Re/Statements (Anm. 84), 296.

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möglicherweise, dass ihre Partizipation am demokratischen Rechtssetzungsprozess vom Völkerrecht gefordert und garantiert wird. Frauen könnten sich somit auf das Völkerrecht berufen, um ihre faire Beteiligung an innerstaatlichen und überstaatlichen Rechtssetzungsprozessen einzufordern.119 Im Ergebnis befinden sich jedenfalls einige der feministischen Kritikerinnen des Souveränitätsbegriffs im Einklang mit anderen aktuellen völkerrechtstheoretischen Ansätzen.120 Die genderbezogene Kritik wird dadurch nicht widerlegt, sondern bestätigt. Sie erscheint jedoch deshalb weder neu noch spezifisch feministisch.

2. Das Staatsvolk Das zweite Staatselement, das Staatsvolk, kann feministisch dekonstruiert werden. Das Bürgerrecht und die damit einhergehenden politischen Rechte und die Wehrpflicht waren lange Zeit nur (besitzenden) Männern vorbehalten. In der politischen Tradition der antiken Polis und Roms, der oberitalienischen Stadtstaaten und im Rousseau’schen Modell der Republik kamen Frauen als Bürger nicht in Betracht, weil Bürgertugend militärische Tugend bedeutete.121 Ausgehend von einer Vorstellung „hegemonialer Männlichkeit“ basierte die Idee des Bürger-Kriegers konstruktiv auf der Abwertung von Weiblichkeit. In den internationalen Beziehungen wurde diese abgewertete Weiblichkeit verquickt mit dem Mythos der Frau als schutzbedürftiges Opfer. Der Beschützer/Beschützte-Mythos rechtfertigte die militarisierte Bürgerschaftsvorstellung, die ihrerseits Ungleichberechtigung hervorruft und Gewalt gegen Frauen befördern kann.122 Auch heute noch dürften in der kollektiven Wahrnehmung in vielen Gesellschaften Soldatentum, Männlichkeit und Bürgerschaft eng verbunden sein.123

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Knop, Re/Statements (Anm. 84), 298, 302. Karen Knop hat darauf hingewiesen, dass der Feminismus einer Neukonzeption der Souveränität keine klare Richtung vorgeben könne, weil er dem Liberalismus gegenüber ambivalent ist, Knop, Re/Statements (Anm. 84), 332. Einerseits übernehmen Feministinnen die ursprünglich liberale Analogie zwischen Individuum und Staat, andererseits kritisieren sie den liberalen Public/Private Split (Dazu Abschnitt D. I.). Hier ist der Liberalismus im staatsrechtlichen Sinne gemeint, nicht der interdisziplinär völkerrechtlich-politikwissenschaftliche, so genannte „liberale“ Ansatz im Sinne von Anne-Marie Slaughter. 121 K. Knop, Relational Nationality: On Gender and Nationality in International Law, in: T. Alexander Aleinikoff/D. Klusmeyer (Hrsg.), Citizenship Today: Global Perspectives and Practices, 2001, 89–124 (94). 122 Tickner (Anm. 4), 58. 123 Tickner (Anm. 4), 40. 120

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Das traditionelle Konzept der Staatsangehörigkeit könnte als männlich kodiert gelten, weil es die isolierte rechtliche Beziehung des Individuums zum Staat, nicht seine Einbindung in eine nationale Gemeinschaft bezeichnet.124 Überdies galten in den meisten Staaten geschlechtsspezifische Anforderungen und Verfahren für den originären und derivativen Erwerb des Bürgerrechts.125 So wurde in den IusSanguinis-Systemen die Staatsbürgerschaft durch Geburt meist nur oder vorrangig über den Vater vermittelt. Frauen erwarben mit der Heirat die Staatsangehörigkeit des Mannes und verloren ihre ursprüngliche Nationalität. Noch heute werden im Staatsangehörigkeitsrecht zahlreicher Länder immer wieder verbleibende offene oder versteckte Diskriminierungen von Frauen aufgedeckt. Im Ergebnis scheint das völker- und staatsrechtliche Konzept des Staatsvolkes nach wie vor von einem Gender-Bias durchdrungen zu sein.

3. Staatsgebiet Die feministische Analyse des dritten Staatselements, des Staatsgebiets, basiert deutlich auf der klassischen Analogie zwischen Staat und Individuum. In dieser wird das Gebiet entweder mit dem menschlichen Körper oder aber mit dem Eigentum des Individuums gleichgesetzt.126 Im „Körper-Bild“ wird das Staatsgebiet mal als weiblich, mal als männlich, mal als Zwitter dargestellt. Einerseits haben Feministinnen die Verletzung von Grenzen als Geschlechtsverkehr und die Beeinträchtigung der territorialen Integrität von Staaten als Vergewaltigung beschrieben.127 Vergewaltigung sei „in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern das, was die Besatzungstruppen für die besetzten Gebiete und die imperiale Herrschaft im Kolonialismus“ seien.128 Andererseits heißt es, dass der Staat, wie der männliche, heterosexuelle Körper, keine „natürlichen“ Eintrittspforten besitze.129 Und schließlich wird vorgebracht, das Völkerrecht mache alle Staaten zu Hermaphroditen: Das Paradox der männlichen Souveränität sei, dass Staaten nicht zugleich fordernd und unterwürfig sein können. Das Dilemma der weiblichen Universalität sei, dass

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Knop, Relational Nationality (Anm. 121), 94. Hierzu umfassend Knop, Relational Nationality (Anm.121). 126 Knop, Re/Statements (Anm. 84), 322. 127 A. Dworkin, Intercourse, 1997, 123 u. 133. 128 B. A. Reardon, Sexism and the War System, 1996 (Original 1985), 39 (Übersetzung der Verf.). 129 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 129. 125

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das Recht nicht zugleich die Souveräne einhegen und ihre Grundlage bilden könne.130 Im Folgenden seien nur zwei Einzelaspekte des Staatsgebietes herausgegriffen. Ein erstes Thema ist der Erwerb von Staatsgebiet. Im Zeitalter der Entdeckungen, der Kolonisierung und imperialen Expansion wurden die Verhältnisse zwischen den europäischen Akteuren und den außereuropäischen Gebieten in zahlreiche vergeschlechtliche Bilder gefasst.131 Die Eroberung, die einen völkerrechtlich wirksamen Gebietstitel darstellte, betraf „jungfräuliches“ Gebiet und wurde zumindest implizit mit einer sexuellen Eroberung verglichen. Der männliche, weiße Kolonisator zähmte, durch Verkehr, ein ungebundenes, unkontrolliertes, feminines Naturvolk. Die Entdeckungs- und Benennungsrituale in Bezug auf die Terra Incognita können als Geburtsrituale gedeutet werden. Schließlich wurde das Geschenk der Zivilisation in der weißen, tugendhaften Lady verkörpert, die ihrerseits durch mannhafte Kolonisatoren vor den tierhaften Wilden beschützt werden musste.132 Von feministischer Seite wurde die Feminisierung des neuen Landes als Kompensationsgeste erklärt, mit der die männlichen Eindringlinge ihre Angst vor Unordnung loswerden wollten, indem sie eine exzessive Gender-Hierarchie aufrichteten.133 Vor allem aber hatte die Erotisierung des Gebietes rechtliche Konsequenzen; denn weil das Gebiet als jungfräulich qualifiziert wurde, konnten dessen Einwohner keine ursprünglichen Gebietsansprüche geltend machen. Ein zweites Thema ist die staatliche Territorialhoheit. Feministinnen haben gefordert, dass die extraterritoriale Jurisdiktion für die Bestrafung von Frauen- und Kinderhandel in Anspruch genommen werden solle. Unter dem Eindruck des boomenden Sextourismus und der internetgestützten (Kinder-)Pornographie wurde diese Forderung in neuerer Zeit in der völkerrechtlichen Praxis erfüllt. Weil gewisse sexuelle Dienstleistungen in den armen Zielstaaten nicht zuletzt wegen deren Interesse am Tourismus oft nicht unter Strafe gestellt sind, besteht in der Tat 130

E. M. Morgan, The Hermaphroditic Paradigm of International Law: A Comment on Alvarez Machain, in: State Sovereignty: The Challenge of a Changing World, in: Proceedings of the 21st Annual Conference of the Canadian Council on International Law at Ottawa (1992), 78 (90) (zitiert nach Knop, Re/Statements (Anm. 84), 327. 131 Zum Folgenden A. McClintock, Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Context, 1995, 21–31. Vgl. auch J. J. Pettman, Worlding Women: A Feminist International Politics, 1996, Kapitel 2 „Women, colonisation and racism“, 25–44. McClintock weist darauf hin, dass die unbekannten Regionen der Welt in Amerika und Afrika in der sexuellen Phantasie der Entdeckungsreisenden derart mit promisken „Wilden“ bevölkert wurden, dass einige Reiseschilderungen aus heutiger Sicht als Tropen-Pornos gelten könnten. 132 Vgl. Tickner (Anm. 4), 48. 133 McClintock (Anm. 131), 24.

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ein Bedürfnis nach einer nicht territorial angeknüpften Verfolgungszuständigkeit. Dies wurde mit dem Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention zum Kinderhandel und -pornographie von 2000 anerkannt.134 Das Protokoll schreibt vor, dass die Vertragsstaaten die sexuelle Ausbeutung von Kindern (von der de facto mehr Mädchen als Jungen betroffen sind) unter Strafe stellen müssen und hierbei auch die universelle Jurisdiktion, also eine Strafbarkeit auch bei bloßer Anwesenheit des mutmaßlichen Täters im eigenen Staatsgebiet, vorsehen müssen. Die Schweiz hat ihr Strafgesetzbuch im Jahr 2006 entsprechend revidiert.135 Abschließend ist festzuhalten, dass die genderbezogene Analyse des Staatsgebietes originelle Einsichten gebracht und Rechtsfortschritte angestoßen hat. Problematisch erscheint jedoch die feministische Betonung des weiblichen Sicherheitsinteresses im umgrenzten Selbst. Diese läuft gegen einen anderen, bereits oben erläuterten feministischen Ideenstrang, welcher die Domaine Réservé des Staates mit der privaten Sphäre gleichsetzt und die Auflösung oder zumindest stärkere Durchbrechung dieses Public/Private Split fordert.136 Die feministische Forderung nach dem strikt umgrenzten Selbst erscheint somit im Vergleich zur progressiven Forderung nach der Relativierung und Überwindung von Grenzen eher rückwärts gewandt.137

4. Die Anerkennung von Staaten und Regierungen Aus genderbezogener Sicht sollte die Anerkennung von Staaten und Regierungen an den Respekt von Frauenrechten geknüpft werden. Noch ist jedoch noch nicht einmal die allgemeine Achtung von Menschenrechten und Demokratie eine Vorbe-

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Art. 3 und 4 des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und Kinderpornographie vom 25. Mai 2000 (UN-Dok. A/54/49 (2000)). Deutschland hat das Protokoll noch nicht ratifiziert (Stand Juni 2007). 135 Art. 5 des schweizerischen Strafgesetzbuchs (in Kraft seit dem 1. Dez. 2006, (SR 311.0.) für die Strafbarkeit von gewissen Taten gegen Unmündige im Ausland: „Abs. 1: Diesem Gesetz ist ausserdem unterworfen, wer sich in der Schweiz befindet, nicht ausgeliefert wird und im Ausland eine der folgenden Taten begangen hat: a. Menschenhandel (Art. 182), sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Schändung (Art. 191) oder Förderung der Prostitution (Art. 195), wenn das Opfer weniger als 18 Jahre alt war; b. sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187), wenn das Opfer weniger als 14 Jahre alt war; c. qualifizierte Pornografie (Art. 197 Ziff. 3), wenn die Gegenstände oder Vorführungen sexuelle Handlungen mit Kindern zum Inhalt hatten.“ 136 Hierzu oben Abschnitt D. I. 137 Knop, Re/Statements (Anm. 84), 327.

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dingung der Staatlichkeit.138 Die Einhaltung dieser Rechtsgrundsätze hat jedoch immer wieder eine Rolle bei der (deklaratorischen) Anerkennung von Regierungen und Staaten gespielt.139 Beispielsweise erklärten UN-Organe die südafrikanische Apartheidverfassung von 1984 für „null und nichtig“, weil sie die Prinzipien der Vereinten Nationen verletze.140 In diesem Kontext beobachten Feministinnen, dass die Missachtung von Frauenrechten, die sie als „Sex-Apartheid“ bezeichnen, nicht gleichermaßen zur Nichtanerkennung und zu Sanktionen geführt hat. Allerdings wird in jüngerer Zeit der Verletzung von Frauenrechten mehr Beachtung geschenkt. So wurde die Nichtanerkennung der afghanischen Talibanregierung von Seiten der USA und anderer westlicher Staaten in den 1990er Jahren mit Verweis auf die Menschenrechtsverletzungen, insbesondere die Entrechtung von Frauen und Mädchen durch dieses Regime gerechtfertigt. Nach der militärischen Niederschlagung der Taliban forderte der Sicherheitsrat, dass die Interimsverwaltung und die neue Regierung von Afghanistan „die Menschenrechte des gesamten afghanischen Volkes respektieren müsse, ungeachtet des Geschlechts“.141 Nach dem Irakkrieg ermutigte eine UN-Sicherheitsratsresolution das irakische Volk „eine repräsentative Regierung auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit zu bilden, die allen Bürgern Iraks gleiche Rechte und Gerechtigkeit gewähre, ungeachtet von Ethnizität, religiöser Überzeugung oder des Geschlechts“.142 Die feministische Kritik hat möglicherweise einen Beitrag zu dieser sensibleren Anerkennungspolitik geleistet.

138 J. Crawford, The Creation of States in International Law, 2. Aufl. 2006, 148–155; eine etwas andere Einschätzung bei J. d’Aspremont, La création internationale d’Etats démocratiques, RGDIP 109 (2005), 889–908, der meint, es bestehe ein Bestreben der internationalen Gemeinschaft, nur demokratische Staaten anzuerkennen. 139 So wurden gegenüber Rhodesien in den 1960er bis 70er Jahren, im Falle Namibias und vor allem nach der Auflösung des sozialistischen Blocks in Bezug auf Haiti, Kambodscha, Afghanistan oder Osttimor in der Anerkennungspraxis westlicher Staaten und der kollektiven Nichtanerkennungspolitik der Vereinten Nationen vielfach Legitimitätsforderungen erhoben. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Jugoslawiens stellte die EG Anerkennungsrichtlinien auf, in denen verlangt wurde, dass die neuen Staaten die Verpflichtungen der Helsinki-Schlussakte und der KSZE-Charta von Paris, insbesondere in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte, beachten müssten, Richtlinien vom 16. Dezember 1991, abgedr. in ILM 31 (1992), 1486 ff. 140 SR-Res. 554 (1984), Rdn. 1–2, und GV-Res. A/39/2 (1984), Rdn. 1. 141 SR-Res. 1378, vom 14. Nov. 2001 (2001), Ziff. 1 (Übersetzung u. Hervorhebung der Verf.). 142 SR-Res. 1483 vom 22. Mai 2003 (2003), Präambel (Übersetzung u. Hervorhebung der Verf.).

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5. Die Staatenverantwortung Im völkerrechtlichen Regime der Staatenverantwortung gilt die Grundregel, dass Staaten für das Verhalten ihrer Staatsorgane, nicht aber umfassend für das Handeln Privater auf ihrem Gebiet verantwortlich sind. Die völkerrechtliche Haftung tritt also nur ein, wenn den Staatsorganen in speziellen Konstellationen ein Unterlassen vorzuwerfen ist oder wenn das private Handeln einem Staat zugerechnet werden kann. Von dieser Rechtskonstruktion sind Frauen nachteilig betroffen, weil ihnen Rechtsverletzungen besonders von Seiten privater Akteure drohen. Feministische Autoren haben kritisiert, dass die Zurechnungslehre die Fiktion von öffentlichen und privaten Handlungen von Individuen aufrechterhalte, was die Frage offenlasse, wie diese Unterscheidung eigentlich getroffen wird. Warum soll der Staat nur für völkerrechtswidrige Handlungen von Staatsorganen verantwortlich sein? Weil der Staat die Jurisdiktion über alle Funktionen unter seiner territorialen Kontrolle in Anspruch nimmt, könnte es angemessener sein, seine Verantwortlichkeit für alle (völker-)rechtswidrigen Handlungen, die von seinem Gebiet oder von seinen Staatsangehörigen ausgehen, zu bejahen. Wen schützt die Ablehnung der Staatenverantwortlichkeit für die Handlungen nichtstaatlicher Akteure? Den Staat, die individuelle Handlungsfreiheit oder die Mächtigsten, …?143

In dieser Frage scheint das oben angesprochene Problem des Public/Private Split wieder auf.144 Tatsächlich respektierte das traditionelle Völkerrecht die private Sphäre, selbst wenn die „private“ Gewaltanwendung vom Staat toleriert und durch ein unzureichendes politisches und rechtliches System unterstützt wurde.145 Bis heute existiert keine völkerrechtliche allgemeine Schutz- bzw. Verhinderungspflicht der Staaten in dem Sinne, dass Staaten ihr Hoheitsgebiet nicht für schädigende Aktivitäten nutzen lassen dürfen. Vielmehr kann staatliche Untätigkeit nur dann die völkerrechtliche Verantwortung hervorrufen, wenn den Staat eine spezielle Handlungs-, Schutz- oder Verhinderungspflicht trifft.146 Die differenzierteste und weitestgehende Ausfaltung dieses Ansatzes stellt die Anerkennung staatlicher

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C. Chinkin, A Critique of the Public/Private Dimension, EJIL 10 (1999), 387–395 (395) (Übersetzung der Verf.). 144 Siehe oben Teil D. I. 145 Beispielssituationen waren die Diskriminierung von Frauen durch private Arbeitgeber oder die häusliche Gewalt an Frauen durch Ehemänner. Siehe zur häuslichen Gewalt unten D. IX. 4. 146 Dies wurde in der Staatenpraxis und Rechtsprechung bisher in Bezug auf die Nichtverhinderung erheblicher grenzüberschreitender Schadstoffemissionen, beim unterlassenen Schutz von Botschaften ausländischer Staaten oder im Fall der Missachtung von elementaren Pflichten der Menschlichkeit bejaht.

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Pflichten zum Schutz vor privaten Angriffen auf Menschenrechte dar. Diese wird an späterer Stelle behandelt (unten Teil D. IX. 4.). Insgesamt zeigt sich also in der völkerrechtlichen Praxis eine Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung des Schutzbedürfnisses von Frauen gegenüber privaten Akteuren, ohne dass jedoch der Public/Private Split aufgegeben würde. Solange das Völkerrecht noch kein Menschheitsrecht ist, können völkerrechtliche Pflichten und Verantwortung rechtskonstruktiv nur den Völkerrechtssubjekten auferlegt werden. Mit der in jüngster Zeit auch auf universeller Ebene etablierten Anerkennung und teilweisen gerichtlichen Durchsetzung der menschenrechtlichen Schutzpflichten wird dem Anliegen des Schutzes von gesellschaftlich unterlegenen und gefährdeten Gruppen vor nichtstaatlichen Repressalien so weit Rechnung getragen, wie es im gegenwärtigen Völkerrecht ohne einen Strukturwandel möglich ist. Davon profitieren auch Frauen als Gruppe. Systemkonform könnte ihr Schutz durch Absenkung der Einschreitensschwellen, Präzisierung der Handlungspflichten, Verschärfung des Sorgfaltsmaßstabes und eine stärkere Gewichtung ihres Schutzbedürfnisses verbessert werden. Eine umfassende und vollständige Haftung der Staaten für sämtliche frauenfeindliche Vorgänge in der Gesellschaft hat in einem liberalen Völkerrecht keinen Platz.

6. Unverzichtbarkeit des feministisch rekonstruierten Staates Die vielfältigen genderbezogenen Deutungen des Staates führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Auf der einen Seite perpetuiert die feministische Personifikation des Staates als maskulin (ungewollt) die traditionelle Struktur des Völkerrechts als rein zwischenstaatliches Recht und negiert die völkerrechtliche Position von Frauen als staatsübergreifende Gruppe.147 Eine konträre feministische Position zweifelt die Zentralität des Staates mit dem Argument an, dass die Sorgen und Interessen von Frauen nicht ausschließlich und manchmal überhaupt nicht von den Staatsgrenzen determiniert, sondern vielmehr durch ihr Geschlecht, ihre Kultur und andere Faktoren gestaltet würden. Doch auch wenn Frauen sich als transnationale Gruppe begreifen, können sie in einem staatszentrierten internationalen System ihre Stimme nur über die Vermittlung der Staaten zu Gehör bringen.148 Damit stehen Frauen allerdings nicht prinzipiell anders da als andere Segmente der globalen Zivilgesellschaft. Diese eben referierte Position steht im Einklang mit dem völkerrechtlichen Gesamttrend der Dezen-

147 148

Kritisch Knop, Re/Statements (Anm. 84), 295. Knop, Re/Statements (Anm. 84), 308 f.

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trierung des Staates, der Relativierung der staatlichen Souveränität und der Anerkennung nichtstaatlicher Akteure als Völkerrechtssubjekte.149 Damit bleibt auch in feministischer Perspektive der Staat ambivalent. Er hat das Machtpotential, um massive Frauenrechtsverletzungen zu begehen, bleibt aber als (mehr oder minder gut funktionierende) Instanz zum Schutz vor Gewalt und Diskriminierung, zur Vermittlung von politischem Einfluss und als Sicherheitsnetz gegen materielle Not unverzichtbar. Die Hoffnung, dass die globalisierungsbedingte Schwächung des Nationalstaates sich für Frauen positiv auswirken würde, weil sie prinzipiell die Möglichkeit eröffnet, die traditionelle Geschlechterhierarchie zu unterminieren und die Geschlechterbeziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen,150 hat sich nur zum Teil erfüllt. Zwar hat die mediale Globalisierung die Sichtbarkeit von Frauen durch Medienpräsenz und die Verfügbarkeit geschlechtsbezogener Daten und Statistiken in zahlreichen Lebensbereichen erhöht und die kulturelle Globalisierung das feministische Bewusstsein geschärft. Die ökonomische Globalisierung ging jedoch bisher tendenziell zulasten der Frauen (näher unten Teil D. XI. 1.). Besorgnis erregend ist primär, dass dort, wo der Staat zusammenbricht, das Patriarchat weiter lebt. Besonders massiv werden Frauenrechte dort verletzt, wo der Staat nicht funktioniert, z.B. in Jugoslawien in Zeiten des Bürgerkrieges oder in afrikanischen „failed states“, wie Somalia, Sierra Leone oder der Demokratischen Republik Kongo. Gegenwärtig ist keine politische Alternativinstitution in Sicht, die in Abwesenheit des Staates die Macht besäße, Geschlechterunterdrückung wirksam zu bekämpfen.151 Zuzustimmen ist somit den feministischen Autorinnen, die nicht die Abschaffung des Staates propagieren, sondern ihn feministisch rekonstruieren wollen. In dieser Rekonstruktion sollte die Anerkennung der staatlichen Souveränität an die staatliche Garantie von Frauenrechten geknüpft werden, das Institut der staatlichen Schutzpflichten weiter ausgebaut werden, die menschliche (nicht nur zwischenstaatliche) Sicherheit als völkerrechtliches Leitkonzept anerkannt werden und der Fokus des Völkerrechts weg von der Abgrenzung von Staatsgebieten und Aktionsfreiheit hin zur zwischenstaatlichen Kooperation gelenkt werden.

IV. Das Selbstbestimmungsrecht der Männer Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein konstitutionelles Prinzip des Völkerrechts. Andrea Dworkin hat die Erfahrung von Frauen, „für den Verkehr, für 149 150 151

So insbesondere Knop, Re/Statements (Anm. 84). Chinkin/Wright/Charlesworth, in: Buss/Manji (Anm. 4), 17 (29). Fellmeth (Anm. 26), 675 u. 677.

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Eindringen, Durchbrechung, Besetzung“, zur Verfügung zu stehen, mit der Besetzung von Völkern durch Kolonisatoren verglichen. Während jedoch das Begehren nach Selbstbestimmung gegen fremde Unterjocher als legitim angesehen wird, werde die männliche Besatzung von Frauen als normal konstruiert.152 Auch Völkerrechtler, die sich solchen extremen Bewertungen nicht anschließen können, müssen eingestehen, dass Frauen in der Regel benachteiligte Angehörige des kollektiven Selbst und ungleiche Teilnehmer im Verfahren der Selbstbestimmung waren.153 In den Gebietsreferenden nach dem I. Weltkrieg wurde den Frauen das Stimmrecht eingeräumt, obwohl das Frauenwahlrecht zu dieser Zeit erst in wenigen Demokratien eingeführt war. Auf der anderen Seite konnten in dieser Epoche die Ehemänner das auf ein Plebiszit folgende Optionsrecht mit Wirkung für ihre Ehefrauen ausüben. Eine vom Gatten abweichende Staatsangehörigkeit der Frau wurde aus Furcht vor Loyalitätskonflikten und der daraus resultierenden Zersetzung der (patriarchalischen) Familien durch mangelnden ehelichen Gehorsam der Gattin sowie aus Angst vor Spionage abgelehnt. Damit erscheinen die Gebietsreferenden der Zwischenkriegszeit einerseits als Meilenstein auf dem Weg zur weiblichen Selbstbestimmung, andererseits als Bastion von Patriarchat und Nationalismus.154 Die Charta der Vereinten Nationen nahm die Beseitigung der Frauendiskriminierung als wesentliches Ziel des Treuhandsystems auf (Art. 76 c) UN-Charta). In den 1950er bis 60er Jahren galt dem UN-Treuhandrat der Status der Frauen in den UN-Treuhandgebieten als Maßstab für deren Unabhängigkeitsreife. Das Treuhandsystem war somit ein wichtiges Vehikel für eine liberale, auf formale Gleichberechtigung abzielende frühe feministische Politik innerhalb der Vereinten Nationen, wie sie vor allem die Kommission über den Status der Frau (Commission on the Status of Women, CSW155) vermittels des Treuhandrates betrieb.156 Allerdings wurde hier ein europäisches Modell der Geschlechterbeziehungen und der vermeintlichen Gleichstellung der Frau den Treuhandgebieten aufoktroyiert. Zahlreiche Petitionen, die Frauen der Treuhandgebiete an den Treuhandrat richteten, erhellen, wie problematisch sich das auf die außereuropäischen Gebiete projizierte Frauenbild in den Treuhandgebieten ausgewirkt hat.157 Dekolonisierungs- und nationale Befreiungsbewegungen gingen vielfach Allianzen mit Frauenbewegungen ein. Oft ist der Frauenanteil unter den Aktivisten in 152 153 154 155 156 157

Dworkin (Anm. 127), 123. Grundlegend K. Knop, Diversity and Self-Determination in International Law, 2005. Knop, Diversity (Anm. 153), 277–326. Hierzu Anm. 196. Knop, Diversity (Anm. 153), 344–349. Knop, Diversity (Anm. 153), 327–357.

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Befreiungsbewegungen hoch. Zum Teil konnten Frauen im Zuge eines Unabhängigkeitskampfes einen Status- und Freiheitsgewinn erzielen, beispielsweise die sahrauischen Frauen im Kampf um die Westsahara.158 Innerhalb der Nationalstaaten sind parallele Entwicklungen zu verzeichnen. So war bekanntlich in den Vereinigten Staaten die Frauenbewegung durch den Kampf gegen die Rassendiskriminierung inspiriert und Frauen haben als Trittbrettfahrerinnen von „Affirmative Action“ profitiert. Andererseits befanden sich Frauen nach einem „erfolgreichen“ Befreiungskrieg bzw. nach der Entkolonisierung manchmal in einer schlechteren Situation als vorher. Die scheinbar erfolgreichen Realisierungen des Selbstbestimmungsrechts beschafften den Frauen regelmäßig nicht dasselbe Maß an persönlicher Freiheit und Autonomie wie den Männern. Im Gegenteil: Prozesse der Erringung der Selbstbestimmung als Nation stützten sich vielfach maßgeblich auf die Zurückdrängung der Frauen in ihre traditionelle Rolle.159 Dies galt für die Frauen im Iran nach der islamischen Revolution und dem Sturz des Schahs im Jahr 1979 oder für die afghanischen Frauen nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 1994. Im Verfassungsrechtsstreit um die von der kanadischen frankophonen Provinz Quebec angestrebte Sezession160 argumentiert eine Frauenkoalition in ihrem Schriftsatz, dass die Frauen in Quebec durch die Sezession benachteiligt würden, weil die Bundesverfassung ein höheres Schutzniveau als die Provinzverfassung gewähre.161 Fraglich ist, wie die Lage in Osteuropa zu bewerten ist. Oft wird die demokratische Transformation als Rückschlag für die Emanzipation der Frauen angesehen. Dies halte ich für eine verfehlte Nostalgie. In der sozialistischen Planwirtschaft war die volle Einbindung der Frauen in den Produktionsprozess eine ökonomische Notwendigkeit. Außerdem wurde die kollektive Kindererziehung aus ideologischen Gründen favorisiert. Diese beiden Faktoren dürften ausschlaggebend für das sehr gute Betreuungsangebot für Kinder gewesen sein. Die psychologischen Schäden, die in diesem Erziehungssystem angerichtet wurden, sind mittlerweile untersucht worden, wobei die Ergebnisse dieser Forschung sehr umstritten sind. Ob die 158

Siehe die Nachweise in Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 264. Beispielsweise durch das Verbot der politischen Beteiligung, das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, das Verbot der Arbeit außer Haus oder durch Kleidervorschriften. Zum Konnex zwischen autoritären Regimen und der Kontrolle von Frauen Scott (Anm. 6), 47: Weil diese Politik den Machthabern keinen unmittelbaren politischen oder materiellen Vorteil gewährt, scheint sie vor allem eine Demonstration von Kontrolle und Stärke zu sein, die auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. 160 Kanadischer Supreme Court, Reference Secession of Quebec, Urt. vom 20. Aug. 1998, S.C.R. 1998, vol. 2, 217 ff.; ILM 37 (1998), 1342 ff. 161 Factum of the Ad Hoc Committee of Canadian Women on the Constitution of 10 April 1998 (zitiert nach Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 162 Fn. 231). 159

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osteuropäischen Frauen der Vorwendezeit wirklich größere Freiheit genossen als heute, ist angesichts der damaligen politischen Unfreiheit und der mäßigen Wirtschaftslage zu bezweifeln. Die nationalen Transformationsszenarien illustrieren, dass das „Selbst“, welches sich hier selbst bestimmt hat, nie homogen ist. Es profitieren nie alle Gruppenmitglieder gleichermaßen von der Selbstbestimmung. Eine Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts, das die Lebensumstände der weiblichen Mitglieder des Kollektivs verbessern soll, müsste wahrscheinlich das Recht auf Arbeit und Mobilität, die Rolle der Frauen im Arbeitsleben, Kinderbetreuung und Lohngleichheit stärker berücksichtigen.162 Die hinter dieser Problematik aufscheinende allgemeine Wahrheit ist, dass in der Realität das angebliche „Selbst“ nur eine Verbrämung der mächtigsten individuellen Player einer politischen Gruppe ist. Kollektivrechte können letztlich nur eine Flankierung von Einzelrechten darstellen. Die Umsetzung dieser Erkenntnis würde auch den Frauen zugute kommen.

V. Frauenspezifische Verträge Seit dem Zweiten Weltkrieg sind zahlreiche internationale Verträge geschlossen worden, die Frauenanliegen Rechnung tragen. Zunächst sind allgemeine und spezielle Geschlechtsdiskriminierungsverbote zu nennen, die in den Menschenrechtsverträgen163 oder in Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation enthalten sind.164 Frauenspezifische internationale Verträge sind das Übereinkommen von New York über die politischen Rechte der Frau von 1952,165 die Konvention über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen von 1957166 und die Konvention über die Zustimmung zur Heirat, das Mindestalter für die Heirat und die Registrierung

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Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 163. Art. 2 Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948; Art. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (IPbürgR); Art. 2 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (IPWSKR); Art. 2 Kinderrechtskonvention von 1998. 164 ILO-Übereinkommen Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit vom 29. Juni 1951, UNTS, Vol. 165, Nr. 303. ILO-Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vom 25. Juni 1958, UNTS, Vol. 362, Nr. 31. 165 Convention on the Political Rights of Women vom 20. Dez. 1952, UNTS, Vol. 193, Nr. 135. 166 Convention on the Nationality of Married Women vom 20. Feb. 1957, UNTS, Vol. 309, Nr. 65. 163

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von Heiraten von 1962.167 Diese älteren Konventionen streben primär die Beseitigung formaler Rechtsdiskriminierung an, sind also insofern typisch liberale Instrumente. Anders ausgerichtet ist das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) von 1979, das von Deutschland bereits im Jahr 1985 ratifiziert wurde.168 Die CEDAW zielt auf die „tatsächliche Verwirklichung“ des Grundsatzes der Gleichberechtigung (vgl. Art. 2 lit. a) CEDAW) und auf einen „Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau“ (Art. 5 lit. a) CEDAW) ab. Sie enthält dementsprechend Vorschriften, die in den gesellschaftlichen Bereich hineinreichen,169 und erlaubt den Vertragsstaaten, „zeitweilige Sondermaßnahmen … zur beschleunigten Herbeiführung der De-facto-Gleichberechtigung“ zu ergreifen (Art. 4 CEDAW). Die Frauenkonvention genießt eine fast universelle Beteiligung.170 Ihre Durchsetzungsmechanismen waren ursprünglich im Vergleich zu anderen Menschenrechtsverträgen schwach.171 Diese relative Schwäche ist jedoch durch die Einführung des Fakultativprotokolls zur Individualbeschwerde behoben worden.172 Ein verbleibendes Defizit ist jedoch die starke Durchlöcherung des CEDAWRegimes durch Interpretationserklärungen und Vorbehalte. Die Tatsache, dass nur sehr wenige Staaten auch solchen Vorbehalten widersprochen haben, die Kerngehalte der Konvention ausschließen,173 also mit Ziel und Zweck des Vertrages 167 Convention on the Consent to Marriage, Minimum Age for Marriage and Registration of Marriages vom 7. Nov. 1962, UNTS, Vol. 521, Nr. 231. 168 Siehe hierzu den Überblick von D. König, Frauenrechte sind Menschenrechte … und doch anders?: Die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), in: Rudolf (Anm. 4), 81–98. 169 Beispielsweise verpflichtet Art. 2 lit. e) CEDAW die Vertragsparteien „alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau durch Personen, Organisationen oder Unternehmen zu ergreifen“. 170 Im Juni 2007 hatte die CEDAW 185 Vertragsparteien. 171 Der Ausschuss nach Art. 17 ff. CEDAW prüft die obligatorischen Staatenberichte (Art. 18). Es gibt keine Staatenbeschwerde. 172 Das CEDAW Fakultativprotokoll vom 6. Okt. 1999 zur Individualbeschwerde (in Kraft seit Dezember 2000, Text in ILM 39 (2000), 281 ff.) hatte im Juni 2007 88 Parteien (inkl. Deutschland, aber ohne die Schweiz). 173 Liste in: http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/reservations-country.htm (besucht am 23. Juni 2007). Beispielsweise lautet der Vorbehalt der Malediven: „The Republic of Maldives does not see itself bound by any provisions of the Convention which obliges to change its Constitution and laws in any manner.“ Malaysia und Pakistan unterwerfen die gesamte CEDAW ihrem nationalen Verfassungsrecht. Die Türkei, Tunesien und andere Staaten haben Vorbehalte eingelegt, die für bestimmte Konstellationen den Vorrang des staatlichen Rechts, des Familienrechts oder gewisser nationaler Gesetze festlegen. Eine Reihe von Staaten (z.B. Libyen, Mauretanien, Marokko und Oman) hat den Vorbehalt ein-

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unvereinbar und folglich unzulässig sein müssten,174 zeigt nach Ansicht feministischer Beobachter, dass die Staatengemeinschaft die gesamte Konvention nicht wirklich ernst nimmt. Jedoch ist kürzlich empirisch nachgewiesen worden, dass die Ratifikation der CEDAW einen zentralen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen in den Mitgliedstaaten geleistet hat.175 Neue Verträge sind die interamerikanische Konvention zur Verhinderung, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen von 1994176 sowie die Konvention des Europarats gegen Menschenhandel von 2005.177 Auch letztere kann als frauenspezifisch gelten, weil Frauen den Großteil der menschlichen Ware bilden. Die internationalen Frauenrechtsverträge sind weniger hartes Völkerrecht als beispielsweise das GATT. Die einschlägigen Verträge setzen zwar Standards, die zum Teil routinemäßig eingehalten werden. Sie sind aber in der Regel nicht mit Sanktionen bewehrt. Als weicher Befolgungsanreiz scheint die Angst vor Reputationseinbussen hier nicht zu greifen, da offenbar die meisten Staaten der Auffassung sind, dass die Missachtung ihrer Vertragspflichtungen, beispielsweise aus der CEDAW, sie auf der internationalen politischen Bühne kaum etwas kostet.178 Feministinnen kritisieren, dass die Schaffung eines Spezialbereiches der Frauenrechte mit dem Flagschiff der CEDAW zur Marginalisierung und Abwertung der Frauenanliegen beigetragen habe.179 Frauenrechtlerinnen befinden sich also in einem strategischen Dilemma: Die Betonung der Frauenanliegen ist einerseits wichtig, um überhaupt eine Verbesserung der Situation von Frauen zu erreichen, andererseits besteht die Gefahr der Schaffung eines Frauenghettos.

gelegt, dass die CEDAW nicht verbindlich sei, insofern sie der Scharia widerspreche. Das Vereinigte Königreich hat einen Vorbehalt zur Grundverpflichtung nach Art. 2 CEDAW eingelegt, nach dem die Überprüfung von diskriminierender Gesetzgebung aufgeschoben wird, bis „essential and overriding considerations of economic policy allowed it.“ Weniger als 10 Prozent der Vertragsparteien haben derartigen weitreichenden Vorbehalten widersprochen. 174 Art. 19 lit. c) Wiener Vertragsrechtskonvention. 175 Gray/Caul Kittilson/Sandholtz (Anm. 328), 322–327. 176 Interamerican Convention on the Prevention, Punishment and Eradication of Violence against Women vom 9. Juni 1994, ILM 33 (1994), 1535 ff. 177 Convention on Action Against Trafficking in Human Beings vom 16. Mai 2005, ETS Nr. 197. 178 Fellmeth (Anm. 26), 726. 179 Siehe nur Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 218.

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VI. Die Vereinten Nationen: Verein der Männer Durch die Gender-Brille betrachtet, könnte man die Vereinten Nationen als „weiblich“ bezeichnen, da ihre Grundprinzipien der kollektiven Sicherheit, der gegenseitigen Zusammenarbeit und Unterstützung sowie ihre Inklusivität die Gilligan’sche Ethik des Sorgens reflektieren.

1. Das Personal der Vereinten Nationen Die vermeintliche Weiblichkeit der Vereinten Nationen spiegelt sich nicht im Personal der Weltorganisation.180 Art. 8 der UN-Charta schreibt die Geschlechtergleichberechtigung für die Stellenbesetzung in den Haupt- und Nebenorganen vor. Dennoch spielte in den wichtigen Reformdiskussionen zur Wiederbelebung der Organisation nach 1990 und in den Bemühungen zur Stärkung von Effektivität und Legitimität der Organisation seit 2004 die Frauenfrage allerdings keine Rolle. Als nachgeordnete Priorität bemühten sich die Organe jedoch schon seit 1970, also seit über 30 Jahren, um eine Steigerung des Frauenanteils im UN-Personal.181 Im Jahr 1994 hat der UN-Generalsekretär ein 50/50 Ziel für die Geschlechterverteilung in den Manager- und Entscheidungsträgerpositionen der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2000 aufgestellt.182 Diese Vorgabe hat sich die Generalversammlung zu Eigen gemacht und fordert regelmäßig die Gleichstellung von Frauen auf allen Ebenen und in allen Beschäftigungskategorien.183 Die Fortschritte in Richtung dieses Zieles haben sich jedoch immer mehr verlangsamt, und zwischen 1998 und

180

Siehe zur Präsenz von Frauen im UN-Personal M. Rakotomalala, Women at the Decision-Making Level in the UN-System, 9. März 2006, http://www.uneca.org/eca_ programmes/acgd/new/SymposiumPaperbyDrMoniqueUNFPA.pdf (besucht am 27. Juni 2007); zu den Bemühungen zur Steigerung des Frauenanteils im Generalsekretariat seit den 1970er Jahren: UN-Joint Inspection Unit, Advancement of the Status of Women in the United Nations Secretariat in an Era of „Human Resources Management“ and „Accountability“: A New Beginning? (JIU/REP/94/3) vom Mai 1994, http://www.unjiu.org/data/ reports/1994/en94_03.pdf (besucht am 27. Juni 2007). 181 Siehe hierzu eingehend S. v. Schorlemer, Art. 8, in: B. Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations: A Commentary, 2. Aufl. 2002, Bd. I, 230–246. 182 Report of the Secretary General on the Improvement of the Status of Women in the Secretariat, UN-Dok. A/49/587 vom 1. Nov. 1994, Abschnitt IV; siehe auch Pekinger Aktionsplattform von 1995 (Anm. 199), Rdn. 193. 183 GV Res. A/49/167 vom 23. Dez. 1994 (Annahme des strategischen Plans des Generalsekretärs); Grundlagenresolution GV-Res. 53/119 von 1999. Siehe zuletzt UN-Dok. A/59/164 vom 10. Feb. 2005.

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2003 wurde praktisch keine Verbesserung erzielt.184 Frauen sind nach wie vor in den oberen und obersten „Professional“-Positionen untervertreten, vor allem auf den Stellen, die der geographischen Verteilung unterliegen.185 Auch in den Expertenausschüssen der Menschenrechtsverträge finden sich extrem wenige Frauen.186 Mittlerweile haben einige Neben- und Unterorgane, z.B. die FAO, das UNHCR, die UNESCO und die WHO, interne Zielvorgaben, allerdings ohne Rechenschaftsmechanismen aufgestellt. Selbst wenn in höheren diplomatischen und politischen Rängen Frauen eingesetzt werden, werden ihnen oft Tätigkeiten zugewiesen, die das diplomatische Äquivalent von Hausarbeit sind, nämlich die Organisation von Konferenzen und Übersetzungen. Daneben werden Frauen oft mit „missions impossibles“ betraut, bei denen die Sichtbarkeit groß und das Risiko des Scheiterns noch größer ist. Eine derartige Mission war etwa die von Carla del Ponte als Chefanklägerin des Ruanda-Tribunals, das mit knappsten Mitteln und mangelhafter Infrastruktur in einem kooperationsunwilligen Umfeld seine Tätigkeit begann. Auch das Amt der Menschenrechtshochkommissarin, das gegenwärtig Louise Arbour innehat, ist wegen seiner Breite bei gleichzeitigem Fehlen von verbindlichen Befugnissen und ausreichenden Finanzmitteln ein sehr schwieriges Amt. Die schwache Präsenz von Frauen in den Vereinten Nationen hat mehrere Ursachen. Erstens reflektiert sie die Unterrepräsentation von Frauen in den höheren Positionen in der staatlichen Politik (im Minister- oder Staatssekretärinnenrang) und der Diplomatie. Typisch für staatliche Regierungen ist, dass der Frauenanteil umgekehrt proportional zur politischen Bedeutung und Macht des Ressorts steht. So finden sich viele Frauen in den Ressorts Familie, Soziales, Gesundheit, Verbraucherschutz oder Kultur, jedoch wenige Frauen in den Verteidigungs- und Wirtschaftsministerien.187 Dies betrifft alle Staaten (mit Ausnahme der skandina184

Bericht des Generalsekretärs „Improvement of the status of women in the United Nations System“ (UN-Dok. A/59/357 vom 20. Sept. 2004), Rdn. 2. 185 Siehe für genaue Daten aus den Jahren 2003 und 2004 den Bericht des Generalsekretärs (Anm. 184). Für einige Zahlen aus dem Jahr 2006 Rakotomalala (Anm. 180). 186 Im Jahr 2007 saßen im Rassendiskriminierungsausschuss 16 Männer und zwei Frauen, im Antifolterausschuss (CAT) sieben Männer und drei Frauen, im Menschenrechtsund im Sozialausschuss je vier Frauen. Lediglich im CEDAW-Ausschuss waren 21 Frauen und ein Mann vertreten. 187 Lediglich die skandinavischen Staaten haben diese Situation überwunden. Neuere Ausnahmen sind auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (seit 2005), die schweizerische Bundesrätin Micheline Calmy Rey als Chefin des Außendepartements (seit 2002) und die US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice (seit 2005). Frauen in hochrangigen internationalen Positionen sind Asha-Rose Migiro, stellvertretende UN-Generalsekretärin (seit 1. Feb. 2007), Carol Bellamy, Direktorin der UNICEF (1995–2005),

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vischen), ohne dass hier die Industriestaaten fortgeschrittener wären. Offenbar sind der wirtschaftliche Entwicklungsstand eines Staates und der Stand der politischen Repräsentation von Frauen nicht korreliert. Entlarvend ist die Entwicklung der politischen Beteiligung von Frauen in Osteuropa: Vor der demokratischen Transformation war der Frauenanteil in den Parlamenten sehr hoch, während diese Institutionen nicht über politische Macht verfügten. Nach der Einführung liberaler Parlamente mit echten Kompetenzen sank die Zahl der weiblichen Parlamentarier massiv. Ein zweiter Faktor ist ebenso wenig UN-spezifisch. Weil Frauen die Notwendigkeit einer größeren Präsenz von Frauen deutlicher erkennen und sich mehr für Frauenförderung einsetzen als ihre männlichen Kollegen,188 fördert die Unterrepräsentation von Frauen auf der politischen Führungsebene die Vernachlässigung des Problems und führt so in einen Teufelskreis. Drittens werden viele UN-Posten durch die Staaten selbst besetzt. In diesen Fällen wählt nicht die Organisation die Stelleninhaber aus, sondern formal oder de facto werden die Personalentscheidungen von den Staaten getroffen. Diese sind vielfach nicht bereit, Abhilfe im eigenen Haus zu schaffen und mehr Frauen zu nominieren. Immerhin hat sich der Frauenanteil unter den Leiterinnen der mitgliedstaatlichen ständigen Vertretungen bei den Vereinten Nationen in jüngerer Zeit rasch auf aktuell 24 Botschafterinnen erhöht.189 Der vierte und tiefstliegende Grund aber ist die Universalität der Vereinten Nationen. Dieses Spezifikum der Organisation führt dazu, dass als wichtigste persönliche Eigenschaft der Mitarbeiter deren Staatangehörigkeit angesehen wird. Alle anderen Identitätsmerkmale werden marginalisiert. Dementsprechend ist die Wahrung des geographischen Gleichgewichts mit Hilfe eines Länder- oder Regionen-Proporzes in der Charta selbst vorgesehen190 und steht folglich bei allen Personalentscheidungen im Vordergrund. Bis vor kurzem wurde das weibliche Geschlecht höchstens auf gleiche Stufe mit der Staatsangehörigkeit gestellt, so dass Frauen „wie eine Art Mitgliedstaat“ angesehen wurden: „Man rekrutiert einen Guatemalteken, einen Belgier, jemanden aus Singapur – und dann rekru-

Irene Khan, Generalsekretärin von Amnesty International (seit 2001) oder Benita Ferrero Waldner, EU-Kommissarin für Außenbeziehungen (seit 2004). 188 Dies ist eine vereinfachende Annahme, die teilweise empirisch erhärtet werden kann. Siehe unten Abschnitt E. VII. 189 Http://missions.un.int/protocol/documents/HeadsofMissions.pdf (besucht am 30. Juli 2007). 190 Art. 101 Abs. 3 UN-Charta betont, „dass es wichtig ist, die Auswahl der Bediensteten auf möglichst breiter geographischer Grundlage vorzunehmen“.

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tiert man eine Frau“.191 Diese Sichtweise hatte zur Folge, dass man die Anwesenheit einer einzigen Frau als Vertretung ihrer Spezies genügen ließ. Obwohl der UN-Generalsekretär vor einigen Jahren eingeräumt hat, dass die Suche nach einem ausgewogenen Verhältnis von Männern und Frauen neben die Sorge um die geographische Verteilung treten muss,192 ist die Realisierung dieses Ziels sehr schwierig. Denn in Ermangelung einer ausreichenden Anzahl qualifizierter Bewerberinnen können viele Staaten, die ohnehin unter Personalmangel leiden, die ihnen nach dem geographischen Proporz zustehenden Positionen nicht mit Frauen besetzen. Wenn die Organisation mehr Frauen einstellen wollte, würde das geographische Gleichgewicht massiv gestört. Solange qualifizierte Frauen selten sind, kann Abhilfe nur durch eine klare Priorisierung der Bestrebungen nach ausgewogener Geschlechterverteilung zulasten des geographischen Gleichgewichts geschaffen werden. Diese Strategie ist jedoch politisch momentan nicht durchsetzbar. Allgemein könnte die Frauenpräsenz in internationalen Organisationen dadurch erhöht werden, dass als Beitrittsbedingung den Kandidatenstaaten nicht nur, wie bisher üblich,193 Gewaltverzicht, die Etablierung von Good Governance, Rechtsstaatlichkeit oder eine Minderheitenschutzpolitik abverlangt würden, sondern die Bereitschaft des Staates, Frauenförderung zu betreiben, vorausgesetzt würde.194 Doch auch dieser Vorschlag hat momentan keine Realisierungschance.

2. Die Genderpolitik der Vereinten Nationen Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 UN-Charta, welche die Geschlechtsdiskriminierung verbietet, war seinerzeit bahnbrechend. Seit 1946 unterhalten die Ver191

C. de Hedevary, The United Nations: „Good grief, there are women here“, in: R. Morgan (Hrsg.), Sisterhood is Global: The International Women’s Movement, 1984, 695–710 (696): „We have reached a stage at the United Nations where women are at least considered a part of the geographic distribution, a kind of … Member State.“ (Übersetzung der Verf.). 192 „In größerer Freiheit“, Bericht des Generalsekretärs vom 21. März 2005, UN-Dok. A/59/2005, Rdn. 190. Die Staats- und Regierungschefs beschlossen in der World Summit Outcome Resolution der Generalversammlung vom 24. Okt. 2005 eine Stärkung des UNHochkommissars für Menschenrechte. Das Personal des Hochkommissariats soll „auf breiter geographischer Basis und unter Wahrung des Geschlechtergleichgewichts“ rekrutiert werden (UN-Dok. A/RES/60/1, Rdn. 124). 193 Vgl. z.B. Art. 3 der Satzung des Europarats, aus dem die Aufnahmepraxis strenge und klare Beitrittsbedingungen entwickelte. 194 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 198.

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einten Nationen eine Division on the Advancement of Women (DAW). Die Aufgabe dieser Abteilung im Generalsekretariat ist es, auf die Verbesserung des Status von Frauen weltweit hinzuwirken, um ihre Teilnahme als gleichberechtigte Teilnehmerinnen und Nutznießerinnen von nachhaltiger Entwicklung, Frieden und Sicherheit zu realisieren.195 Neben der genannten Division gibt es heute innerhalb der Vereinten Nationen diverse weitere Gremien, die sich mit Frauenanliegen befassen, so die Commission on the Status of Women (CSW),196 das Office of the Special Adviser on Gender Issues and Advancement of Women (OSAGI)197 und schließlich den Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen, UNIFEM.198 Auf der ersten Frauenkonferenz von Mexiko City (1975) wurde die UN-Dekade für Frauenförderung lanciert. Weitere Frauenkonferenzen fanden in Kopenhagen (1980), Nairobi (1985) und schließlich in Peking (1995)199 statt. Die Pekinger Frauenkonferenz bildete einen Meilenstein („gender-turn“) in der UN-Frauenpolitik. Die Pekinger Aktionsplattform identifizierte zwölf Problembereiche, in denen vorrangiger Handlungsbedarf für die Förderung und Ermächtigung von Frauen besteht: Frauen und Armut, Ausbildung, Gesundheit, Gewalt gegen Frauen, Frauen und bewaffneter Konflikt, Frauen in der Wirtschaft, Frauen als politische Entscheidungsträgerinnen, institutionelle Mechanismen zur Frauenförderung, Menschenrechte von Frauen, Frauen und Medien, Frauen und Umwelt sowie schließlich die Situation von Mädchen. In Bezug auf alle diese Problembereiche wurden den Staaten politische Strategien und konkrete Maßnahmen empfohlen. In der Pekinger Aktionsplattform wurde die Politik des Gender-Mainstreaming niedergelegt, indem die Regierungen und andere Akteure aufgefordert wurden, „eine aktive und sichtbare Politik der konsequenten Einbeziehung einer geschlechts-

195

Http://www.un.org/womenwatch/daw/, Mission statement. Http://www.un.org/womenwatch/daw/csw/. Die CSW wurde als Unterkommission des ECOSOC durch ECOSOC Res. 11(II) vom 21. Juni 1946 gegründet und ihr Mandat mit ECOSOC-Res. 1987/22 erweitert. Sie ist beispielsweise zuständig für die Überwachung der Umsetzung der Pekinger Aktionsplattform. 197 Http://www.un.org/womenwatch/osagi/. 198 Http://www.unifem.org/. 199 The United Nations Fourth World Conference on Women, Beijing, China, September 1995, „Action for Equality, Development and Peace“ (Pekinger Erklärung und Aktionsplattform). Follow-up mit der Sondersitzung der Vereinten Nationen „Peking + 5“, GVRes. A/RES/S-23/3 vom 10. Juni 2000, Annex: „Further actions and initiatives to implement the Beijing Declaration and Platform for Action“. 196

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bezogenen Perspektive in alle Politiken und Programme zu fördern“.200 GenderMainstreaming wird seither auch innerhalb der Vereinten Nationen selbst betrieben.201 Mainstreaming wird im einschlägigen Grundlagendokument des ECOSOC definiert als „the process of assessing the implications for women and men of any planned action, including legislation, policies, or programmes. It is a strategy for making women’s as well as men’s concerns an integral dimension of the design, implementation, monitoring and evaluation of policies and programmes in all political, economic and societal spheres so that women and men benefit equally and inequality is not perpetuated. The ultimate goal is to achieve gender equality.“202 Die Zweckmäßigkeit des so verstandenen Gender-Mainstreaming ist jedoch umstritten. Von radikalfeministischer Seite wurde das Gender-Mainstreaming als „Schützenhilfe für bestehende Projekte und Prioritäten einer militanten ökonomischen Globalisierung im Namen des Schutzes und der Förderung der Interessen von Frauen“ in Frage gestellt.203 Fünf Jahre nach Peking überprüfte die UN-Generalversammlung die Fortschritte und die Erfüllung des Mandats der Frauenkonferenz und schlug weitere Tätigkeiten und Initiativen vor, um die Pekinger Aktionsplattform umzusetzen.204 Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und die Ermächtigung der Frau ist eines der acht Millenniumsentwicklungsziele, zu deren Erreichung bis zum Jahr 2015 sich auf dem Milleniumsgipfel von 2000 147 Staats- und Regierungschefs verpflichteten. In den neuesten wichtigen politischen UN-Dokumen200 Pekinger Aktionsplattform (Anm. 199), Rn. 79, 105, 123, 141, 164, 189, 202, 229, 238, 252, 273. 201 Siehe Office of the Special Adviser on Gender Issues and Advancement of Women (OSAGI), Gender Mainstreaming: An Overview, 2002. Grundlegend ECOSOC Agreed Conclusions 1997/2 (abgedr. in UN-Dok. A/52/3/Rev. 1, Chap. IV) vom 18. Sept. 1997; zuletzt ECOSOC Res. E/2004/INF/2/Add. 2 „Review of ECOSOC agreed conclusions 1997/2 on mainstreaming the gender perspective into all policies and prorammes in the United Nations system“ vom 7. Juli 2004. Siehe ferner Inter-Agency Network on Women and Gender Equality (IANWGE), Gender mainstreaming information kit and database, 2003, http://www.un.org/womenwatch/ianwge/gm_facts/ (besucht am 23 Juni 2007). Aus der Literatur S. Kouvo, The United Nations and Gender Mainstreaming: Limits and Possibilities, in: Buss/Manji (Anm. 4), 237–252. 202 ECOSOC Agreed Conclusions 1997/2 (Anm. 201), 28. 203 Orford, Feminism (Anm. 27), 283 (Übersetzung der Verf.). 204 23. Sondersitzung der GV. Siehe GA, Report of the Ad Hoc Committee of the Whole of the 23d Special Session of the GA, UN-Dok. A/S-23/10/Rev.1 von 2000. Am 10. Juni 2000 wurde die GV Res. A/RES/S-23/3 „Further actions and initiatives to implement the Beijing Declaration and the Platform for Action“ verabschiedet.

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ten, nämlich dem Bericht des Generalsekretärs vom März 2005 „In größerer Freiheit“205 und dem Ergebnis des Weltgipfels der UN-Generalversammlung vom Oktober 2005,206 nehmen die Fragen der Gleichstellung der Frau einen relativ prominenten Platz ein. VII. Gewaltverbot und kollektive Friedenssicherung207 1. Die Männlichkeit des Krieges Krieg, Gewalt und Gewalttätigkeit wird mit Männlichkeit assoziiert, ebenso wie der Frieden dem Fraulichen gleichkommt. Gewalteinsatz auf der internationalen Ebene wurde vielfach positiv bewertet und genoss Hochschätzung als Vaterlandsverteidigung. Hier wurde männliche Macht zelebriert und der männliche Krieger glorifiziert.208 Gewalttätige Frauengruppen wurden und werden

205

„In größerer Freiheit“ (Anm. 192), Zielvorgabe (goal) 3: Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Ermächtigung der Frau. Ziel (target) 4: Das Geschlechtergefälle in der Grund- und Sekundarschulausbildung beseitigen, vorzugsweise bis 2005 und auf allen Bildungsebenen bis spätestens 2015. Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern. Zielvorgabe 6: Zwischen 1990 und 2015 die Müttersterblichkeit um drei Viertel senken. Auch unter „nationale Prioritäten für Investitionen und politische Maßnahmen“ wird die Gleichstellung der Geschlechter genannt (Rdn. 39–40). Rdn. 40 zählt direkte Interventionen zur Förderung der Geschlechtergleichheit als Antriebskraft der Entwicklung auf. Die Gleichstellung der Geschlechter wird ferner in Rdn. 27 und 29 erwähnt. Im Anhang zum Bericht „Zur Entscheidung durch die Staats- und Regierungschefs“ heißt es in Rdn. 5 j): Die Staats- und Regierungschefs müssen zu einer Einigung gelangen und dann entschlossen handeln um „die Gleichstellung der Geschlechter sowie die Notwendigkeit zu bekräftigen, weit verbreitete geschlechtsspezifische Benachteiligungen zu überwinden“. 206 Die World Summit Outcome Resolution der Generalversammlung (Erklärung der Staats- und Regierungschefs) vom 24. Okt. 2005 (UN-Dok. A/RES/60/1) proklamiert „gender equality“ als Prinzip 12 und widmet der Frage einen eigenen Abschnitt (Rdn. 58–59). Außerdem wird die Gleichberechtigung der Geschlechter an zahlreichen Stellen erwähnt (Rdn. 24, 44, 48, 68, 116, 124, 134). 207 Siehe zu den frauenspezifischen Aspekten dieser Rechtsbereiche sowie des humanitären Völkerrechts die informativen Beiträge in H. Durham/T. Gurd (Hrsg.), Listening to the Silences: Women and War, 2005. 208 Tickner (Anm. 4), 6. Es ist sogar behauptet worden, dass der Rekurs auf militärische Gewalt in internationalen Konflikten Frauen insofern schädigt, als er gewaltsame Reaktionen auf häusliche Konflikte legitimiere, so Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 13. Diese These ist wegen der unterschiedlichen Logik dieser beiden Sphären, die im allgemeinen Bewusstsein präsent ist, wenig plausibel.

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demgegenüber eher als entfesselter Pöbel angesehen.209 Es ist vielfach belegt, dass auf dem Schlachtfeld eine besondere Stimmung unter Männern herrscht, die von einer ambivalenten Haltung gegenüber Frauen geprägt ist und die auch Mitursache von Vergewaltigungswellen und Gewaltexzessen gegenüber Frauen des Feindes sein dürfte.210 Frauen werden teils aus sexuellen oder emotionalen Gründen vermisst, teils beneidet, weil sie nicht an der Front stehen müssen, aber auch wegen ihrer Ignoranz über den „wirklichen Kampf“ verachtet.211 Diese spezielle Atmosphäre der Verbrüderung würde durch die Anwesenheit von Frauen gestört. „Somehow it takes the glory out of the foxhole, the buddies out of the trenches, to imagine us out there.“212 Grundsätzlich wirken Kriegszeiten oft als oberflächliche „Befreiung“ von Frauen, die in der Krise ihrer alltäglichen Hausfrauenrolle entkommen und in Abwesenheit ihrer Männer, die an der Front stehen, selber Initiativen ergreifen, Aktivitäten entfalten, berufstätig werden müssen und Verantwortung übernehmen, was ihnen im Frieden vorenthalten blieb. Insbesondere im Ersten Weltkrieg war dies ein massives Phänomen. Derartige „Befreiungen“ der Frauen waren allerdings jeweils nur von kurzer Dauer, weil sie vom Ausnahmezustand nicht auf den Normalzustand übertragen wurden, sondern nach Kriegsende die männlichen zivilen Institutionen reinstalliert wurden. 213 Abgesehen von diesem Phänomen kommt der Frau im bewaffneten Konflikt nicht die Rolle der Akteurin, sondern in allererster Linie die des Opfers zu.214 An den politischen Entscheidungen über die Anwendung militärischer Gewalt und auch an der Gewaltanwendung selbst sind Frauen selten beteiligt. Diese Tatsachen könnten die Anwendung und Auslegung der einschlägigen völkerrechtlichen Vorschriften beeinflussen.

209

Tickner (Anm. 4), 47 f. Weitergehend könnte man vermuten, dass die Brutalität des Krieges eng mit einer wilden Form männlicher Sexualität zusammenhängt, in der Frauen und Mädchen die nächstliegenden Opfer der Gewalt sind, Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 385. 211 Zur Maskulinität des Krieges und der geschilderten Stimmung S. Ruddick, Notes Towards a Feminist Peace Politics, in: M. Cooke/A. Wollacott (Hrsg.), Gendering War Talk, 1993, 109–127 (110–113). 212 MacKinnon, Feminism Unmodified (Anm. 18), 38. 213 Zum Ganzen K. Theweleit, The Bomb’s Womb and the Genders of War (War Goes on Preventing Women from Becoming the Mothers of Invention), in: Cooke/Wollacott (Anm. 211), 283–315 (296–299: „Wars as Liberators“). 214 Weiter zugespitzt: Die Körper der „Frauen-und-Kinder“ fungieren nur als Objekte, Orford, Feminism (Anm. 27), 286. 210

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2. Das Selbstverteidigungsrecht Feministinnen beklagen, dass Frauen im Recht der Selbstverteidigung einfach ausgeblendet werden. Beispielsweise wurde der US-amerikanische Angriff auf Afghanistan im Oktober 2001 in Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers unter Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt. In diesem Kontext wurde von feministischer Seite darauf hingewiesen, dass am 11. September 2001 ungefähr so viele Personen starben, wie in den USA in einem einzigen Jahr Frauen das Opfer physischer Gewaltakte – praktisch ausschließlich durch Männer – werden. Frauen hingegen könnten sich nicht als Gruppe auf das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht gegen männliche Gewalt von Männern stützen, obwohl Al Qaida ebenso wenig staatlich organisiert ist wie die Männer und ebenso transnational agiert.215 Ein anderer genderbezogener Aspekt dieses Militärschlags war, dass eine humanitäre Intervention zum Schutz der durch die Taliban massiv drangsalierten Frauen und Mädchen nicht erwogen wurde. Dabei waren die Menschenrechtskommission, die einen Sonderberichterstatter zu Afghanistan nominiert hatte, und die Generalsversammlung bereits seit 1984 regelmäßig über massive und andauernde Menschenrechtsverletzungen von Frauen informiert worden.216 Auch der Sicherheitsrat hatte sich in seinen Resolutionen zur Situation in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban mehrfach „tief bestürzt über die andauernden Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, insbesondere über die Diskriminierung von Frauen und Mädchen“ gezeigt.217 Vor diesem Hintergrund wäre eine Rechtfertigung des Militärschlages gegen Afghanistan als humanitäre Intervention kaum weniger angreifbar gewesen als der Rekurs auf das hier überdehnte Selbstverteidigungsrecht. 215

C. MacKinnon, Women’s September 11th: Rethinking the International Law of Conflict, Harvard International Law Journal 47 (2006), 1–31, insb. 6. MacKinnon übersieht, dass die herrschende Meinung und die Rechtsprechung das Selbstverteidigungsrecht nur gegen staatliche bewaffnete Angriffe zulässt und die Terrorangriffe von 9/11 Afghanistan zugerechnet hat. 216 Erstes Mandat in ECOSOC-Resolution 1984/37. Mehrere Sonderberichterstatter zur Menschenrechtssituation in Afghanistan haben seit 1984 zahlreiche Berichte und Zwischenberichte für die Menschenrechtskommission und die Generalversammlung verfasst, in denen unter anderem über die Situation der Frauen und Mädchen berichtet wurde (siehe z.B. aus neuere Zeit UN-Dok. A/57/309 vom 13. Aug. 2002, Kap. XIII. „Gender and the rights of women“, Rdn. 44 u 45). Siehe auch den Bericht des Generalsekretärs zur Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan (E/CN.4/Sub.2/2002/27). 217 SR-Res. 1333 (2000) vom 19. Dez. 2000, Absatz 12 der Präambel (Übersetzung und Hervorhebung der Verf.). Siehe bereits SR-Res. 1214 (1998) vom 8. Dez. 1998, Absatz 15 der Präambel; SR-Res. 1267 (1999) vom 15. Okt. 1999, Abs. 3 der Präambel.

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3. Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta a) Frauenrechtsverletzungen als Friedensbedrohung? Zwangsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrates zur Wahrung des Weltfriedens setzen nach Art. 39 UN-Charta die Feststellung einer Bedrohung oder eines Bruchs des Weltfriedens oder eine Angriffshandlung voraus. Feministinnen haben früh den Art. 39 ursprünglich zugrunde liegenden engen Sicherheitsbegriff, insbesondere die Gleichsetzung von Sicherheit mit militärischer Sicherheit des Staates kritisiert.218 Diese Kritik ist teilweise durch die Erweiterung des Friedensbegriffs in der Sicherheitsratspraxis seit 1990 und durch die Anerkennung der menschlichen Sicherheit als Leitbild219 hinfällig geworden. Im Jahr 1991 qualifizierte der Sicherheitsrat den irakischen Angriff auf Kuwait als Friedensbedrohung und autorisierte erstmals einen alliierten Militärschlag gegen den Irak zur Befreiung von Kuwait. Bemerkenswert hieran ist, dass diese Autorisierung maßgeblich durch die in den Medien verbreitete sensationsheischende Behauptung, dass Irakis in Kuwait Frauen vergewaltigt und Säuglinge aus den Brutkästen gerissen hätten, ausgelöst wurde. Diese Berichterstattung, die übrigens mittlerweile als unrichtig entlarvt wurde, bediente das Stereotyp der hilflosen Frau und Mutter, denen Krieger zu Hilfe eilen müssen. Weitgehend unbeachtet blieb ferner, dass nach der Vertreibung Saddams und der Wiedereinsetzung der kuwaitischen Regierung durch die Alliierten eine massive Vergewaltigungswelle durch Kuwait (schlimmer als unter irakischer Besatzung) rollte und ein Klima der Straflosigkeit herrschte.220 Insgesamt dürften weitere vertiefte genderbezogene Analysen im Bereich der kollektiven Friedenssicherung sinnvoll sein. Sie könnten den Weg zu einem umfassenderen Verständnis von Frieden und Sicherheit weisen, in dem auch die Gewährleistung von Geschlechtergerechtigkeit als Element einer nachhaltigen Sicherheit anzuerkennen wäre.

218 Je höher die Staatsausgaben für die militärische Verteidigung sind, desto stärker die Sparzwänge im Bereich der staatlichen sozialen und Gesundheitsausgaben. Dies wiederum ist ein nicht zu vernachlässigender Beitrag zur Feminisierung der Armut, Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 166 mit Nachweisen. 219 Das Leitkonzept der menschlichen Sicherheit ist für die Außenpolitik der Schweiz sehr bedeutsam. Sie beteiligt sich am „Human Security Network“ (HSN), das im Mai 1998 auf kanadisch-norwegische Initiative geschaffen wurde. Im Rahmen dieses Netzwerkes wurde auch eine Initiative zu Frauen und Frieden ergriffen. Näher http://www. humansecuritynetwork.org/. 220 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 262 m.w.N.

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b) Frauen als Leidtragende kollektiver Sanktionen Wirtschaftssanktionen können eine spezielle Belastung für Frauen im boykottierten Staat darstellen.221 Dies ist die Lehre aus dem 13 Jahre lang währenden totalen Wirtschaftsembargo gegen den Irak (1990–2003).222 Hier wurden alle UNMitgliedstaaten verpflichtet, den Handel mit Irak zu unterbinden; Ausnahmen wurden nur für „essential civilian needs“ gestattet. Diese Sanktionen führten (in Kombination mit einer rücksichtslosen Politik des irakischen Diktators, welche die Notsituation zum Teil gezielt verschärfte, um die UN und die USA zu desavouieren) zur Verringerung der Nahrungsmittelproduktion, zu einer Verschlechterung der Wasserqualität, zur Ausbreitung von Krankheiten wie Malaria, Typhus und Tuberkulose, zur chronischen Unterernährung zahlreicher Menschen und zu einem dramatischen Anstieg der Säuglingssterblichkeit um 160 Prozent.223 Die Preiserhöhung bei Grundnahrungsmitteln, für deren Beschaffung primär Frauen verantwortlich sind, die Krankheiten und das Sterben erschwerte die Versorgung der Kinder massiv und fügte den Familien, allen voran den Frauen, viel Leid zu.224 Der Sicherheitsrat erkannte in Resolution 1325 das Problem noch vor der Aufhebung der Iraksanktionen an, indem er seine „Bereitschaft [bekräftigte], bei allen Maßnahmen, die nach Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen ergriffen werden, zu erwägen, welche Auswirkungen sie auf die Zivilbevölkerung haben können, und dabei die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen zu berücksichtigen, damit angemessene humanitäre Ausnahmeregelungen geprüft werden können“.225 4. Peacemaking, -keeping und -supporting mit Frauen Herkömmlich führte die passive Opferrolle von Frauen dazu, dass diese tendenziell von den formellen Prozessen gesellschaftlicher Veränderung ausge221

Dies erkennt beispielsweise SR-Res. 1325 (2000), Rdn. 14, an. Verhängung in SR-Res. 661 (1990) vom 6. Aug. 1990; Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in SR-Res. 1409 (2002) vom 14. Mai 2002, „smart sanctions“; Aufhebung des Embargos in SR-Res. 1483 (2003) vom 22. Mai 2003. 223 H.-C. Graf von Sponeck, Sanctions and Humanitarian Exemptions: A Practicioner’s Commentary, EJIL 13 (2002), 81–87 (82), unter Verweis auf die Jahresberichte des IKRK, CARE, Caritas, UNICEF, WHO und des World Food Programme. Graf Sponeck war der humanitäre Koordinator der UN für den Irak. 224 Hierzu B. Bhatia/M. Kawar/M. Shain, Unheard Voices: Iraqi Women on War and Sanctions, 1992. 225 SR-Res. 1325 (2000), Ziff. 14. Näher zu dieser grundlegenden Resolution unten D. VII. 4. a). 222

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schlossen wurden, zum Beispiel von der Aushandlung von Friedensabkommen und postkonfliktuellen Aufbauprogrammen. Deshalb blieb Frauen nur das informelle Engagement. So hatten sich Frauen bereits während des Ersten Weltkrieges in einer eigenen Friedensbewegung engagiert und im Jahr 1915 einen Frauenfriedenskongress in Den Haag organisiert.226 Diese pazifistische und internationalistische Frauenbewegung zog ihre Legitimation aus der postulierten inhärenten Friedfertigkeit der Frau und ihrer naturgegebenen Funktion als Gebärerin.227 Die UN-Generalversammlung erkannte ansatzweise bereits seit 1975 das Potential von Frauen für die Friedensförderung und -sicherung an und fordert mindestens seit 1982 ihre systematische Einbindung in Konfliktlösungs- und Friedensprozesse.228 Im Jahr 1995 widmete sich die Pekinger Frauenkonferenz dem Problembereich „Frauen und bewaffneter Konflikt.“229 Nach der Windhoek Erklärung der United Nations Transitional Assistance Group von 2000 müssen, „um die Effektivität der friedensunterstützenden Maßnahmen zu gewährleisten, die Prinzipien der Gendergerechtigkeit und -gleichheit die gesamte Mission erfüllen.“230 Die 226

J. Addams/E. G. Balch/A. Hamilton, Women at the Hague: The International Congress of Women and Its Results, 2003. An dem internationalen Frauenkongress in Den Haag nahmen mehr als tausend Frauen sowohl aus den kriegführenden als auch aus neutralen Staaten teil. Die spätere Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams saß dem Kongress vor und wurde Präsidentin des im Anschluss gegründeten Internationalen Komitees von Frauen für dauernden Frieden. Delegationen des Komitees übernahmen die Aufgabe, mit nationalen Politikern Kontakt aufzunehmen und Vermittlungsdienste zu leisten. 227 Hierzu Knop, Diversity (Anm. 153), 281, 290–296 m.w.N. 228 Siehe bereits GV-Res. 3519 (XXX) über die Beteiligung von Frauen an der Stärkung des internationalen Friedens vom 15. Dez. 1975; deutlicher GV-Res. 37/63 „Erklärung über die Beteiligung von Frauen an der Förderung des internationalen Friedens und der Zusammenarbeit“ vom 3. Dez. 1982. 229 Erklärung von Peking und Aktionsplattform vom September 1995, Problembereich E: „Frauen und bewaffneter Konflikt“. Geforderte Aktionen waren unter anderem: Verstärkte Einbeziehung von Frauen in die Konfliktlösung, besserer Schutz von Frauen im bewaffneten Konflikt, Verminderung der Verfügbarkeit von Waffen (z.B. Anti-Personenminen, die speziell Frauen und Kinder betreffen), Stärkung des Beitrages von Frauen zu einer „Kultur des Friedens“, Report of the Fourth World Conference on Women, Beijing, 4–15 Sept. 1995, Annex II: Platform for Action, Rdn. 131–142. 230 Abs. 3 der Windhoek Declaration vom 31. Mai 2000. Siehe auch Namibia Plan of Action on Mainstreaming a Gender Perspective in Multidimensional Peace Support Operations der „United Nations Transitional Assistance Group“ vom selben Datum, beides als Annex zu UN-Dok. A/55/138-S/2000/693 vom 14. Juli 2000 (Übersetzung der Verfasserin). Bereits die SR-Res. 1265 (1999) vom 17. Sept. 1999, Ziff. 14, forderte den Generalsekretär auf, sicherzustellen, dass das an Friedensmissionen beteiligte UN-Personal über eine angemessene Ausbildung im humanitären Völkerrecht, „einschließlich der kinder- und genderbezogenen Vorschriften“, verfüge. Der Aktionsplan des Millenium-Forums der

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Arbeitsgruppe entwarf einen Aktionsplan zum Gender-Mainstreaming in Friedensmissionen und empfahl sie dem Generalsekretär zur Umsetzung.231

a) Meilenstein Resolution 1325 (2000) zu „Frauen, Frieden, Sicherheit“ Ein Meilenstein in diesem Prozess des „gendering“ der UN-Friedenssicherung ist die Resolution des UN-Sicherheitsrates 1325 „Frauen, Frieden, Sicherheit“ vom 31. Oktober 2000. Zwei Einsichten dieser Entschließung sind zentral. Sie erkennt einerseits die besonderen Auswirkungen von Gewaltkonflikten auf Frauen und auf der anderen Seite das friedensfördernde Potential von Frauen an. Der Sicherheitsrat forderte hier die UN-Mitgliedstaaten auf, den Frauenanteil auf allen Entscheidungsebenen in den Mechanismen der Konfliktprävention, Konfliktmanagement und Konfliktlösung zu erhöhen.232 Er erklärte sich ferner bereit, eine Gender-Perspektive in die Peacekeeping-Operationen zu integrieren,233 und rief alle beteiligten Akteure auf, bei der Aushandlung und Umsetzung eines Friedensabkommens ebenfalls diese Perspektive einzunehmen.234 Für die Implementierung der Resolution 1325 erstellte das UN-Generalsekretariat eine Studie über die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf Frauen und Mädchen235 und einen Aktionsplan, der bis über 2007 hinaus verlängert wer-

Vereinten Nationen vom 26. Mai 2000 über die Stärkung der Vereinten Nationen für das 21. Jahrhundert („We the Peoples Millenium Forum Declaration and Agenda for Action: Strengthening the United Nations for the 21st Century“), UN-Dok. A/54/959 vom 26. Mai/8. Aug. 2000, Ziff. 11, fordert Gender-Training für das gesamte Personal bei Friedenseinsätzen. 231 Namibia Plan of Action on Mainstraming a Gender Perspective in Multidimensional Peace Support Operations der „United Nations Transitional Assistance Group“ vom 31. Mai 2000 (Anm. 230). 232 Ziff. 1 der SR-Res. 1325 (2000). 233 Id., Ziff. 5. 234 Id., Ziff. 8. Ferner forderte der Sicherheitsrat alle Parteien in bewaffneten Konflikten auf, spezielle Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor geschlechtsbezogener Gewalt zu ergreifen, id., Ziff. 10. Siehe zu diesem Thema unten D. VIII. 1. c). Des Weiteren bekräftigt der Rat seine Bereitschaft, bei der Verhängung von Sanktionen nach Art. 41 UN-Charta die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen zu beachten, id., Ziff. 14. Hierzu bereits oben Abschnitt D. VII. 3. 235 Women, Peace and Security: Study submitted by the Secretary-General pursuant to Security Council Resolution 1325 (2000), 2002, http://www.un.org/womenwatch/daw/ public/eWPS.pdf (besucht am 25. Juni 2007).

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den soll.236 Die Verbindlichkeit der Resolution 1325 wurde in der Weltgipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs von 2005 bekräftigt. Diese widmete dem Thema „Frauen bei der Verhütung und Lösung von Konflikten“ einen eigenen Abschnitt.237 In Umsetzung der Programmatik hat die schweizerische Regierung die Bereitstellung von Geldern für die zivile Konfliktbearbeitung an die Berücksichtigung geschlechterspezifischer Aspekte gekoppelt,238 und auch das Parlament der EU hat sich wiederholt mit dem Problem befasst.239 Mittlerweile fordert der Sicherheitsrat routinemäßig, dass bei PeacekeepingOperationen eine Gender-Perspektive eingenommen werden müsse.240 Dennoch steht von den gegenwärtig 15 aktiven UN-Friedensmissionen keine unter weiblicher Leitung.241 Dies bildet einen Kontrast zu den humanitären Missionen, bei denen Frauen unproblematisch als Leiterinnen akzeptiert werden.

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„United Nations System-wide Action Plan for the implementation of resolution 1325 (2000)“, enthalten im Bericht des Generalsekretärs zu Frauen, Frieden und Sicherheit vom 10. Okt. 2005 (UN-Dok. S/2005/636, Annex); Bericht des Generalsekretärs zu Frauen, Frieden und Sicherheit vom 27. Sept. 2006 (UN-Dok. S/2006/770) zur Evaluierung der ersten acht Monate des Aktionsplans mit Verlängerungsempfehlung. 237 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, Weltgipfel-Ergebnis vom 24. Okt 2005, UN-Dok. A/RES/60/1, Abschnitt „Women in the prevention and resolution of conflicts“, Rdn. 116. 238 Botschaft des Bundesrates über einen Rahmenkredit für Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung und Menschenrechtsförderung vom 24. Dez. 2002, Bundesblatt (BBl.), 2002, 7975 ff. (7992), zu „geschlechterspezifischen Aspekten“. Demnach müssen Maßnahmen zum Schutz weiblicher Opfer während aller Phasen einer friedensfördernden Intervention an vorderster Stelle stehen. Maßnahmen zur Umsetzung der politischen Vorgaben der Sicherheitsratsresolutionen und des Europarates müssen darauf abzielen, dass Frauen und Männer auf allen Ebenen der relevanten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen und Institutionen „angemessen vertreten sind“. Bei der Formulierung von Interventionsstrategien ist die „Geschlechterperspektive systematisch einzubeziehen.“ 239 Siehe die Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Beteiligung von Frauen an der friedlichen Beilegung von Konflikten (2000/2025 (INI) vom 30. November 2000, Dok. A5-0308/2000), auffindbar über http://www.europarl.europa.eu (besucht am 27. Juni 2007). 240 Siehe z.B. SR-Res. 1410 (2002) zu Osttimor (Präambel). 241 Bisher gab es vereinzelt weibliche Missionsleiterinnen, z.B. Heidi Tagliavini (Schweizerin) als Leiterin von UNOMIG in Georgien von 2002 bis 2006; Carolyn McAskie (Kanada) als Leiterin von ONUB in Burundi von 2002 bis 2006. Nach Ansicht von Heidi Tagliavini kommt es für die erfolgreiche Leitung einer Friedensmission nicht auf geschlechtsspezifische Fähigkeiten an, sondern auf Glaubwürdigkeit, Kompetenz, maximale Objektivität, Ruhe, Humor, Durchsetzungsvermögen und Verständnis für die Eigenheiten der Region (mündliche Information).

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Letztlich sind auch in diesem Rechtsbereich auf der Normenebene beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Für die Umsetzung kommt es auf den politischen Willen und das Engagement der Mitgliedstaaten an.

b) Sexueller Missbrauch von Frauen durch UN-Soldaten Friedensmissionen der Vereinten Nationen werden vielfach von Vergewaltigungen und Zwangsprostitution begleitet. Bekannt wurden insbesondere Missbräuche in Kambodscha,242 Somalia243, Bosnien,244 im Kongo245 und jüngst an der Elfenbeinküste.246 Der Sicherheitsrat hat dieses Problem immer wieder angesprochen.247 Der Generalsekretär hat eine Politik der Nulltoleranz für sexuellen Missbrauch in Peacekeeping-Missionen proklamiert248 und in Reaktion auf Vorfälle in der UNMission in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC)249 den so genannten Prince-Zeid-Bericht in Auftrag gegeben. Dieser Bericht von 2005 verspricht eine „comprehensive strategy to eliminate future sexual exploitation and abuse in United Nations peacekeeping operations“.250 Die Generalversammlung empfahl auf der Grundlage des Prince-Zeid-Berichts unter anderem die Einführung und Bekanntmachung eines einheitlichen Standards für den Schutz vor sexuellem Missbrauch, Ausbildung über die geforderten Verhaltensstandards, die Einbeziehung von Frauen in die Peacekeeping-Missionen 242

UNTAC, UN Transitional Authority in Cambodia von Februar 1992 bis September

1993. 243 UNOSOM I, UN Operation in Somalia I von April 1992 bis März 1993; UNOSOM II, UN Nations Operation in Somalia II von März 1993 bis März 1995. 244 UNPROFOR, UN Protection Force von Februar 1992 bis März 1995. 245 MONUC, UN Organization Mission in the Democratic Republic of the Congo seit Juli 1999. 246 Etwa 700 marokkanische Soldaten von UNOCI an der Elfenbeinküste stehen im Verdacht, in den letzten drei Jahren Minderjährige missbraucht zu haben, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 168 vom 23. Juli 2007, 4. 247 Vgl. SR-Res. 1400 vom 28. März 2002, Rn. 14, zur Situation in Sierra Leone. 248 Secretary General’s Bulletin: Special Measures for the Protection from Sexual Exploitation and Abuse (UN-Dok. ST/SGB/2003/13) vom 9. Okt. 2003. Siehe auch den Bericht des Generalsekretärs: Special Measures for Protection from Sexual Exploitation and Sexual Abuse vom 15. April 2005 (UN-Dok. A/59/782). 249 Siehe hierzu u.a. den Bericht des Generalsekretärs über die Aktivitäten des Office of Internal Oversight Services (UN-Dok. A/59/661) vom 5. Jan. 2005. 250 Prince Zeid’s Report vom 24. März 2005 (UN-Dok. A/59/7120).

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sowie nicht zuletzt ausreichend Freizeit und Urlaub.251 Vor allem ein höherer Frauenanteil in den militärischen, polizeilichen und zivilen Truppen könnte einen Wertewandel bewirken und den Missbrauch der Lokalbevölkerung und sexuelle Belästigungen vermindern.252 Insgesamt ist in diesem Problemfeld bemerkenswert, dass der UN-Generalsekretär vergleichsweise energisch durchgegriffen hat. Eine Vernachlässigung der Thematik ist nicht festzustellen.

VIII. Humanitäres Völkerrecht und internationales Strafrecht 1. Der Schutz von Frauen im ius in bello Frauen erleben den Krieg und sein Nachspiel anders als Männer. Zwar leiden Männer und Frauen gleichermaßen unter den unmittelbaren Wirkungen der Feindseligkeiten. Frauen sind jedoch darüber hinaus nachteilig betroffen, weil sie in allen Kulturen in Friedenszeiten für das alltägliche Funktionieren der Familie verantwortlich sind. Bei der Beschaffung von Nahrung, Wasser, Feuerholz und anderen Dingen zum Überleben setzen sie sich im Krieg massiven Gefahren aus. In manchen Kulturen dürfen Frauen und Mädchen nur nach den Männern essen, so dass sie in Zeiten der Nahrungsknappheit als erste mangel- und unterernährt sind. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass Frauen im Krieg auch oft überleben, weil sie Frauen sind. Die feministische Grundthese ist, dass – erstens – das Recht des bewaffneten Konflikts diese abweichende Realität des Krieges für Frauen nicht zur Kenntnis nehme und dass – zweitens – letztlich dem gesamten Recht eine Gender-Hierarchie innewohne, in dem Sinne dass die Vorschriften, die sich mit Frauen befassen, als weniger wichtig gelten und weniger ernst genommen würden.253

a) Gender-Bias der Kombattanten/Zivilisten-Unterscheidung? Ein erster rechtlicher Aspekt ist der Schutz der Zivilbevölkerung. Seit dem Zweiten Weltkrieg nehmen bewaffnete Konflikte die Zivilbevölkerung viel stärker 251

UN-Generalversammlung, Report of the Special Committee on Peacekeeping Operations and its Working Group on the 2005 resumed session vom 4.–8. April 2005 (UN-Dok. A/59/19/Add.1). 252 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 294 f. 253 Grundlegend J. Gardam, Women and the Law of Armed Conflict: Why the Silence?, International and Comparative Law Quarterly 46 (1997), 55–80 (56 u. 67).

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in Anspruch als zuvor. Weil viele Männer Kombattantenstatus haben, besteht diese Zivilbevölkerung meist zu über 50 Prozent aus Frauen. Mit dem IV. Genfer Abkommen von 1949 wurde eine Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung neu geschaffen. In diesen und in den anderen Genfer Abkommen finden sich über 30 Vorschriften, die auf den ersten Blick Frauen in bewaffneten Konflikten schützen. Eine bahnbrechende feministische Analyse hat jedoch gezeigt, dass das primäre Schutzobjekt dieser Vorschriften die Kinder sind.254 Dieser Fokus schmälere – so Judith Gardam – den Schutz von Frauen ohne Kinder und verschleiere die Tatsache, dass Mädchen (nicht Kinder allgemein) besonders gefährdet seien, Opfer sexueller Gewalt zu werden.255 Hier ist anzumerken, dass gerade die Gender-Stereotypen es den Knaben, z.B. Kindersoldaten, erschweren, sich gegen sexuelle Ausbeutung zu wehren und Hilfe zu holen. Feministinnen haben die Auffassung vertreten, dass der Kombattanten/Zivilisten-Unterscheidung ein Gender-Bias innewohne und damit eine Gender-Hierarchie schaffe, in der die Interessen der Frauen zugunsten derjenigen der Kombattanten und im Namen der „militärischen Notwendigkeit“ vernachlässigt würden.256 Diese Unterscheidung habe es dem humanitären Völkerrecht, das sich aus dem Ehrenkodex der Krieger entwickelt hat, erlaubt, Aspekte, die nichts mit der Kriegerkaste zu tun haben, auszublenden.257 Das Leben eines Kombattanten sei wichtiger als das einer Zivilistin, zumal wenn diese Zivilistin dem Feindstaat angehört. Dem ist entgegenzuhalten, dass nicht das Völkerrecht den Frauen verbietet, die Rolle des Kombattanten einzunehmen, sondern vielmehr die nationalen Rechtsvorschriften der meisten Staaten. Selbst in den Staaten, die Frauen in den Kampfeinheiten ihrer Armee zulassen, sind diese nur selten tatsächlich involviert. Beispielsweise galt noch für den Irakkrieg von 2003 ein US-amerikanisches Gesetz, nach dem weibliche Berufssoldaten nicht an direkten Kampfhandlungen teilnehmen durften. Weil irakische Angriffe bzw. Terroranschläge sowohl die Kampf- als auch die bloßen Unterstützungstruppen betreffen, fielen jedoch bis zum Juni 2007 81 Soldatinnen der Koalition (dass sind 2,11 Prozent der bisherigen Gefallenen auf Koalitionsseite).258 Angesichts der Gefährdung der Soldatinnen auch außerhalb der Kampftruppen durch asymmetrische Kriegsführung wird jetzt die teilweise Aufhebung des „women in combat ban“ diskutiert.

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Gardam (Anm. 253), 57. Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 315. Gardam (Anm. 253), 64, 67, 72. Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 386. Http://icasualities.org/oif/Female.aspx (besucht am 30. Juli 2007).

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b) Unangemessener Schutz vor sexueller Gewalt im Krieg? Im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen, welcher die Mindeststandards der Menschlichkeit enthält, die in internationalen und nicht internationalen bewaffneten Konflikten zu wahren sind, werden Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt nicht explizit genannt. Sie können jedoch unter „grausame Behandlung und Folter“ (Art. 3 Abs. 1 lit. a)) oder „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung“ (lit. c)) subsumiert werden.259 Ausdrücklich erwähnt wird Vergewaltigung und sexuelle Gewalt in Art. 27 Abs. 2 des IV. Genfer Abkommens.260 Die Vorschrift lautet: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ Die ähnliche Regel von Art. 76 des ersten Zusatzprotokolls zu den Rotkreuzabkommen stellt zwar nicht mehr die „Ehre“ der Frauen (oder ihrer Ehemänner) in den Vordergrund, portraitiert aber immer noch die Frauen als schutzbedürftig.261 Selbst die moderne Vorschrift verbietet die genannten Taten nicht explizit, geschweige denn, dass sie diese kriminalisieren würde. Allerdings ist nach dem Zusammenhang der Vorschrift hier eindeutig ein Verbot statuiert. Dies zeigt sich daran, dass eine parallele Vorschrift zu den grundlegenden Garantien im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt (Art. 4 Abs. 2 lit. e) des zweiten Zusatzprotokolls)262 Sexualtaten als „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“ und als „überall und jederzeit verboten“ aufzählt. Die Vertragsvorschriften heben die Würde (altmodisch „Ehre“) als Schutzgut des Vergewaltigungstatbestandes hervor und stellen nicht auf die persönliche Integrität der Frauen ab. Der Verweis auf die Ehre könnte implizieren, dass Frauen vor allem deshalb vor Sexualtaten geschützt werden sollten, weil sie im „Besitz“ ihres Ehemannes standen und weniger wegen der damit verbundenen Gewalt.263 Grund-

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Siehe ICTY, Furundžija-Fall (unten Anm. 277); aus der Literatur Gardam (Anm. 253), 76. 260 Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949, BGBl. II, 917, bereinigt 1956 II, 1586. 261 I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977, BGBl. 1990 II, 1551. Art. 76 Abs. 1 lautet: „Frauen werden besonders geschont; sie werden namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.“ 262 II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977, BGBl. 1990 II, 1637. 263 Gardam (Anm. 253), 73 f.

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sätzlich frauenfeindlich scheint mir jedoch der Verweis auf die Würde nicht zu sein. Zunehmend wird im aktuellen Rechtsdiskurs, zum Beispiel im Antidiskriminierungsrecht oder in Bezug auf das Folterverbot, der Würdeschutz in den Vordergrund gerückt, und zwar für Frauen und Männer gleichermaßen. Die Aufzählungen der so genannten schweren Verletzungen der Genfer Konventionen, die von den Vertragsstaaten strafrechtlich geahndet werden müssen,264 nennen keine der Vorschriften, die explizit Frauen schützen – im Gegensatz zur Rassendiskriminierung, die in Art. 85 Abs. 4 lit. c) ZP I als „grave breach“ aufgeführt wird. Damit gelten nach dem Wortlaut der Abkommen Vergewaltigungen, Zwangsprostitution und andere Formen sexueller Gewalt nicht eindeutig als schwere Verletzungen.265 Eine zeitgemäße extensive Auslegung von Art. 147 des IV. Genfer Abkommens, nach der auch die „vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit“ einen „grave breach“ darstellen, erlaubt es jedoch, auch Sexualstraftaten als schwere Verletzung der Konvention und damit als Kriegsverbrechen zu qualifizieren.266

c) Weitere Kritikpunkte und Reaktion der internationalen Gemeinschaft Die Tatsache, dass der innerstaatliche „private“ bewaffnete Konflikt durch das Völkerrecht weit weniger dicht reguliert wird als der zwischenstaatliche „öffentliche“ Konflikt, wird von Feministinnen als Manifestation des Public/Private Split beklagt. Von radikaler Seite werden überdies die von Gewalt und Unterdrückung begleiteten Geschlechterverhältnisse als permanenter Bürgerkrieg bezeichnet. Würde man diese – im Wege des Gedankenexperiments – als innerstaatlichen bewaffneten

264 Art. 49 des I. Genfer Abkommens (GA); Art. 50 des II. GA; Art. 129 des III. GA; Art. 146 und 147 des IV. GA. Im ZP I von 1977 werden diese „schweren“ Verletzungen als Kriegsverbrechen bezeichnet (Art. 85 Abs. 5 des ZP I). 265 Die feministische Kritik lautete, dass die fehlende explizite Erwähnung von Vergewaltigungen die Wahrnehmung fördere, dass Vergewaltigungen nur dann schwere Verletzungen sind, wenn sie systematisch und massenhaft vorkommen, Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 321. Deshalb forderte das Europäische Parlament in einer Entschließung von 2000 die EU-Mitgliedstaaten auf, Schritte zur klarstellenden Änderung des IV. Genfer Abkommens zu unternehmen (Anm. 239), Abs. I. 4. 266 Dies wird jetzt durch Art. 8 Abs. 2 lit. b) xxii) und lit. c) vi) ICC-Statut (Anm. 7) klargestellt.

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Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts qualifizieren, wären viele der alltäglichen Gewaltakte gegen Frauen eindeutig durch den bereits erwähnten gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen verboten.267 Die genderbezogenen Auswirkungen des so genannten Krieges gegen den Terror sind erst in jüngster Zeit analysiert worden. Der Terrorismus und der Kampf gegen den Terror hat die Verletzlichkeit von Frauen nicht erhöht. Jedoch lenken diese Phänomene die Aufmerksamkeit von gesellschaftlicher, systemischer Gewalt und Diskriminierung ab.268 Aus radikalfeministischer Sicht wurde die alltägliche Gewalt gegen Frauen sogar als Terrorismus und damit als Friedensbedrohung bezeichnet, welche eine ähnliche Reaktion wie die auf die Anschläge von 9/11 auslösen sollte.269 Die besondere Verletzlichkeit von Frauen im bewaffneten Konflikt wird in der Völkerrechtspraxis zunehmend anerkannt.270 So fordert der UN-Sicherheitsrat in seinen neueren Resolutionen zu bewaffneten Konflikten die Konfliktparteien im operativen Teil routinemäßig auf, die Vorschriften des humanitären Völkerrechts zum Schutz von Frauen und Mädchen strikt zu beachten.271 Insgesamt wird also auch in diesem Rechtsbereich dem Gender-Bias aktiv gegengesteuert.

2. Schutz von Frauen durch das internationale Strafrecht Das internationale Strafrecht hat sich erst in Reaktion auf den jugoslawischen Bürgerkrieg und das Massaker in Ruanda seit den 1990er Jahren als größeres eigenständiges Rechtsgebiet entfaltet und durch die Rechtsprechung der Ad-hocTribunale und die Kodifizierung von materiellem und prozessualem Recht im ICCStatut extrem dynamisch entwickelt. Nachdem sich die Weltöffentlichkeit über die Massenvergewaltigungen von Frauen in Bosnien und Kroatien als Mittel der

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MacKinnon, Women’s September 11th (Anm. 215), 8. „[W]hat is called war is what men make against each other, and what they do to women is called everyday life“, id., 27. 268 Chinkin/Wright/Charlesworth, in: Buss/Manji (Anm. 4), 17 (33). 269 MacKinnon, Women’s September 11th (Anm. 215), 19. 270 Siehe bereits das Aktionsprogramm der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz vom Juni 1993 (UN-Dok. A/CONF.157/23), Rdn. I 28–29 und II 38, über systematische Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei und erzwungene Schwangerschaft in bewaffneten Konflikten. 271 So z.B. aus neuerer Zeit SR-Res. 1539 (2004), Ziff. 1; SR-Res. 1460 (2003), Ziff. 10; SR-Res. 1325 (2000), Ziff. 9. Bereits die Präambel von SR-Res. 1208 (1998) betonte das „besondere Sicherheitsbedürfnis von Frauen, Kindern und Betagten.“

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Kriegsführung empört hatte,272 fanden Straftaten gegen Frauen im bewaffneten Konflikt große Beachtung.273 Die feministische Völkerrechtswissenschaft hat diese Rechtsentwicklung begleitet und direkt und indirekt beeinflusst.274 Beispielsweise initiierten um die Milleniumswende asiatische Frauen-NGOs ein Internationales Kriegsverbrechertribunal der Frauen zur Sexversklavung der so genannten Tröstungsfrauen in der asiatischpazifischen Region in den 1930er und 1940er Jahren.275 Durch diese Aktion wurden wichtige historische Dokumente gesammelt und aufgearbeitet, das Verbrechen in das öffentliche Bewusstsein gehoben und ein Beitrag zum Verständnis der Auswirkung des Militarismus auf die Geschlechterverhältnisse geleistet. Ein Meilenstein in der Herausbildung eines frauenfreundlichen internationalen Strafrechts war das Akayesu-Urteil des Ruandatribunals von 1998, in dem die Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen im ruandischen Bürgerkrieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Völkermord qualifiziert wurden.276 Auch das Jugoslawientribunal hat mehrere Strafurteile wegen Vergewaltigung gefällt.277 272 So war die UN-Expertenkommission über Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien (auf der Grundlage von SR-Res. 780 (1992)) die erste ihrer Art in einem bewaffneten Konflikt. Der Abschlussbericht der Kommission vom 27. Mai 1994 schildert systematische sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen als Teil einer systematischen Politik (UN-Dok. S/1994/674, Rdn. 232–253 u. 230). 273 Siehe aus der Literatur A. Seibert-Fohr, Die Fortentwicklung des Völkerstrafrechts – Verbrechen gegen Frauen in bewaffneten Konflikten, in: Rudolf (Anm. 4), 145–169. 274 Grundlegend K. Engle, Feminism and Its (Dis)contents, Criminalizing Wartime Rape in Bosnia and Herzegovina, AJIL 99 (2005), 778–816. 275 The Women’s International War Crimes Tribunal for the Trial of Japan’s Military Sexual Slavery, The Prosecutors and the Peoples of the Asia Pacific Region v. Hirohito Emperor Showa and others and the Government of Japan, Case No PT-2000-1-T vom 31. Jan. 2002. Anklageschriften wurden von Mannschaften aus zehn Staaten verfasst. An der drei Tage währenden Hauptverhandlung in Tokio im Dezember 2000 waren über 75 frühere Tröstungsfrauen anwesend, von denen viele als Zeuginnen aussagten. Das Tribunal unter der Präsidentschaft der früheren Präsidentin des Jugoslawientribunals, Gabriele Kirk MacDonald, befand den japanischen Kaiser aufgrund der Führungsverantwortung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach seinerzeitigem Recht für schuldig und stellte die Staatenverantwortung Japans wegen Verletzung der bereits damals geltenden vertraglichen und gewohnheitsrechtlichen Verbote des Frauenhandels, Sklaverei, Zwangsarbeit und Vergewaltigung fest. Näher hierzu C. Chinkin, Women’s International Tribunal on Japanese Military Sexual Slavery, AJIL 95 (2001), 335–341. 276 ICTR, Prosecutor v. Akayesu, ICTR-96-4-T, Chamber I, Urt. vom 2. Sept. 1998, Rdn. 508, 685–695, 731–734. 277 Das Jugoslawientribunal verurteilte in mehreren Fällen Männer wegen Vergewaltigungen als Verstöße „gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Art. 3 ICTY-Statut)

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In diesem Kontext war die wichtigste innerfeministische Kontroverse, ob und unter welchen Umständen Vergewaltigungen, insbesondere in Bosnien, als „genozidale“ Vergewaltigungen zu qualifizieren seien.278 Diese Qualifikation erscheint problematisch, weil sie impliziert, dass diese Straftaten grundsätzlich eine andere Kategorie bilden als das normale Unrecht, das an Frauen im Krieg verübt wird. Eine weitere, m.E. nachteilige Konsequenz der Genozid-Qualifikation ist, dass die Vergewaltigung von Frauen der dominanten ethnischen Gruppe, also beispielsweise von Serbinnen oder Hutu-Frauen, als geringeres Unrecht, nämlich „nur“ als Vergewaltigung angesehen werden. Schließlich könnte die Genozid-Qualifikation deshalb fehlgehen, weil sie als Hauptproblem der Vergewaltigung deren Auswirkung auf die ethnische Identität des Kindes, das aus ihr hervorgeht, oder die demoralisierende Wirkung auf die gesamte Gruppe ansieht.279 Im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes280 werden „Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft … Zwangssterilisation oder jede andere Form von sexueller Gewalt“281 als Kriegsverbrechen definiert und der Zuständigkeit des Strafgerichtshofs unterstellt. Neu und begrüßenswert ist an dieser Normierung, dass die Vergewaltigung als eigenständiger und gesonderter Tatbestand neben der entwürdigenden und erniedrigenden Behandlung282 aufgeführt wird und auch im nichtinternationalen Konflikt explizit als Kriegsverbrechen gilt. Auch die prozessualen Vorschriften des Statuts des internationalen Strafgerichtshofs haben Frauenanliegen Rechung getragen. Nach Art. 68 ICC-Statut muss Opfer- und Zeugenschutz gewährt werden, insbesondere in Verfahren, in denen es um sexuelle Gewalt geht.

und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 5 lit. g) ICTY-Statut. Außerdem können Vergewaltigungen unter Umständen eine schwere Verletzung der Genfer Konventionen (und damit ein Kriegsverbrechen), Genozid oder Folter darstellen. Prosecutor v. Anto Furundžija, No. IT-95-17/1-T, Rdn. 172 (Trial Chamber, Urt. vom 10. Dez. 1998); Prosecutor v. Kunarac, Nos. IT-96-23-T und IT-96-23/1-T, Rdn. 436 (Trial Chamber, Urt. vom 22. Feb. 2001). Siehe auch Prosecutor v. Delaliü, No. IT-96-21-T, Rdn. 494-496 (Trial Chamber, Urt. vom 16. Nov. 1998) („Celibiüi-Fall“): Vergewaltigung durch einen Amtsträger oder auf dessen Aufforderung ist Folter. 278 Diese Position wurde insbesondere von Catherine MacKinnon vertreten. Grundlegend zu sexueller Gewalt als Mittel des Völkermordes C. MacKinnon, Genocide’s Sexuality, in: M. S. Williams/S. Macedo (Hrsg.), Political Exclusion and Domination, Nomos (Yearbook of the American Society for Political and Legal Philosophy) XLVI (2005), 313–356. 279 Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 387. 280 Siehe Anm. 7. 281 Art. 8 Abs. 2 lit. b) xxii) und lit. c) vi) ICC-Statut. 282 Diese ist nach Art. 8 Abs. 2 lit. b) xxi) und lit. c) ii) ICC-Statut strafbar.

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Zwar ist an dieser Rechtsentwicklung problematisch, dass die Aufmerksamkeit von nicht-sexueller Gewalt abgelenkt wurde und Frauen, insbesondere in Bosnien, auf ihre Rolle als Vergewaltigungsopfer reduziert wurden.283 Insgesamt bestand und besteht die Gefahr, dass das begrenzte Bild der Frauen als kulturelle Objekte oder Körper, mit Hilfe derer Krieg geführt werden könne, weiter transportiert wird.284 Dennoch können wir im Ergebnis feststellen, dass die Begründung der Zuständigkeit der Ad-hoc-Tribunale und des Internationalen Strafgerichtshofs für die strafrechtliche Beurteilung sexueller Gewalt, die Normierung der Sexualstraftatbestände und die hierauf beruhende dynamische Rechtsprechung der Tribunale einen massiven Rechtsfortschritt zugunsten von Frauen darstellt und wohl eine der spektakulärsten Innovationen des internationalen Strafrechts überhaupt ist.285

IX. Frauenrechte als Menschenrechte Die feministische Analyse des internationalen Menschenrechtsschutzes ist ausgereift und differenziert. Sie ist wahrscheinlich ertragreicher als in anderen Teilgebieten des Völkerrechts, weil die Menschenrechtsnormen die Lebenssituation von Frauen unmittelbar betreffen. Eine umfassende Darstellung und Kritik der genderbezogenen Menschenrechtsliteratur kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden.286 Ich beschränke mich auf wenige zentrale Aspekte.

283 Engle, Criminalizing Wartime Rape (Anm. 274), 795 u. 815. Allgemein gesprochen ist die Portraitierung von Frauen als Opfer männlicher Unterdrückung und Gewalt für Feministinnen bequem. Sie enthebt sie der Verantwortung dafür, dass Frauen nicht das Wort ergreifen, übertüncht, dass sich auch Frauen an Gewalttätigkeit beteiligen und verewigt das Bild der schwachen sexuellen und politischen Selbststeuerung von Frauen, id., 813. 284 Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 387. 285 Allerdings hat Druck von arabischen Staaten und dem Heiligen Stuhl einige Vorschriften im ICC-Statut abgeschwächt, näher hierzu Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 333. Insgesamt zeigt jedoch die Entwicklung des internationalen Strafrechts, wie wirksam konzertiertes Lobbying für Frauen sein kann, id., 335. 286 Grundlegend C. Bunch, Women’s Rights as Human Rights: Towards a Re-Vision of Human Rights, Human Rights Quarterly 12 (1990), 486–498; K. Engle, International Human Rights and Feminism: When Discourses Meet, Michigan Journal of International Law 13 (1992), 517–610; J. Peters/A. Wolper (Hrsg.), Women’s Rights, Human Rights: International Feminist Perspectives, 1995; K. D. Askin/D. Koenig (Hrsg.), Women and International Human Rights Law, 3 Bände, 1999–2001; K. Knop, Gender and Human Rights, 2004; Für den deutschen Sprachraum E. Gabriel (Hrsg.), Frauenrechte: Einführung in den internationalen frauenspezifischen Menschenrechtsschutz, 2001.

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1. Allgemeines Seit Anfang der 1990er Jahre wurde die Parole „Frauenrechte sind Menschenrechte“ ausgegeben.287 Ein Meilenstein war die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, deren frauenbezogene Ergebnisse als Erfolg des weltweiten Frauenaktivismus gelten können. Die Konferenz weitete die Menschenrechtsagenda auf geschlechtsspezifische Gewalt aus, qualifizierte spezifische Formen der Misshandlung von Frauen als Menschenrechtsverletzung und rief zur Integration des Schutzes der Menschenrechte von Frauen in die UN-Aktivitäten auf. Vor allem kristallisierte sich in Wien ein politischer Konsens dahingehend heraus, dass diverse Formen von Gewalt gegen Frauen im Kontext der Menschenrechtsstandards und in ihrem Konnex zur Frauendiskriminierung untersucht werden müssten.288 Feministische Völkerrechtlerinnen haben diese Rechtsfortschritte wissenschaftlich und politisch vorbereitet und befürwortet. Es wird jedoch auch viel Kritik geübt. So haben feministische Völkerrechtlerinnen darauf hingewiesen, dass Rechtsverletzungen, die typischerweise Männer betreffen, als allgemeine Menschenrechtsfragen behandelt werden, wohingegen „Frauenfragen“ eine spezielle, begrenzte Kategorie bildeten. Weil Männer im allgemeinen nicht Opfer von Geschlechtsdiskriminierung, häuslicher Gewalt und sexueller Erniedrigung würden, seien diese Probleme einer gesonderten Sphäre zugewiesen und tendenziell vernachlässigt worden. Meines Erachtens stellt die hier beklagte Marginalisierung von Frauenrechten, insbesondere im Bereich der häuslichen Gewalt, angesichts der Verbesserungen, die unter anderem aufgrund internationaler Aktivitäten erreicht worden sind,289 kein ernstes Problem dar, sondern kann im Gegenteil als Fokussierung begriffen werden, welche die erheblichen Rechtsfortschritte erst ermöglichte. Zwar nahmen in quantitativer Hinsicht spezielle Frauenthemen in der Menschenrechtskommission bis zu ihrer Auflösung im Juni 2006 keinen breiten Raum ein.290 So erließ die 287

Bunch (Anm. 286). Zum Ganzen D. J. Sullivan, Women’s Human Rights and the 1993 World Conference on Human Rights, AJIL 88 (1994), 152–167. 289 In vielen europäischen Staaten wurden in den letzten Jahren neue zivil- und strafrechtliche Vorschriften zum verbesserten Gewaltschutz von Frauen erlassen. Beispielsweise wurde die zwangsweise Entfernung des Ehegatten aus der gemeinsamen Wohnung ermöglicht oder die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. In der Schweiz ist häusliche Gewalt seit 2004 ein Offizialdelikt (revidierter Art. 123 Abs. 2 StGB, in Kraft seit 1. April 2004). Sonstige einfache Körperverletzungen werden nicht von Amts wegen verfolgt. 290 Die Praxis des neuen Menschenrechtsrates ist noch zu jung, um seine Frauenpolitik zu beurteilen. 288

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Menschenrechtskommission in ihrer 61. und letzten Session im April 2005 insgesamt 84, zum Teil länderspezifische Resolutionen. Davon behandelten nur drei Resolutionen ihrem Titel nach speziell Frauenangelegenheiten.291 Allerdings betreffen alle sonstigen Menschenrechtsresolutionen auch Frauen und gehen zum Teil gesondert auf Frauenfragen ein. Auch die Vertragsausschüsse der Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen wurden vom Generalsekretariat angehalten, die Gender-Perspektive in ihre Kontrolltätigkeit einzubeziehen.292 Die Gender-Dimension muss bei der Bestimmung des Schutzbereiches von Menschenrechten, z.B. dem Recht auf Familienleben, auf Arbeit, auf Wohnung, auf Gesundheit, auf Bildung, auf einen angemessenen Lebensstandard oder auf Bewegungsfreiheit, beachtet werden. Ebenso spielt Gender in die Klärung der vertragsstaatlichen Pflichten zum Schutz vor und der Wiedergutmachung von Frauenrechtsverletzungen durch Privatpersonen hinein. Die Vertragsorgane müssen auch die besonderen Lebensumstände von Frauen im privaten und öffentlichen Leben berücksichtigen, um Hindernisse für den vollen Genuss der Menschenrechte zu identifizieren. Die Richtlinien für die staatlichen Berichtspflichten, die Allgemeinen Bemerkungen oder Empfehlungen und die Schlussbemerkungen der Vertragsausschüsse können entsprechend ausgerichtet sowie geschlechterbezogene Daten und Informationen von den Vertragsparteien angefordert werden. Diese Vorgaben des Generalsekretärs wurden vom Sozialausschuss in einer neueren Allgemeinen Bemerkung eindrucksvoll umgesetzt.293 Der Vorwurf der allgemeinen Vernachlässigung der Menschenrechte von Frauen trifft nicht (mehr) zu.

2. Trashing Rights Ein wichtiges feministisches Thema ist die Kritik von Menschenrechten. Diese Position ist aus der poststrukturalistisch inspirierten Kritik an Rechten überhaupt erwachsen.294 Nach der kritischen Auffassung sind Rechte primär ein Macht291

Human Rights Res. 2005/25 zu Eigentum, Landbesitz, Wohnen; Human Rights Res. 2005/41 zu Gewalt gegen Frauen; Human Rights Res. 2005/42 zu Menschenrechten von Frauen im UN-System. 292 „Integrating the gender perspective into the work of United Nations human rights treaty bodies: Report by the Secretary General“, UN-Dok. HRI/MC/1998/6. 293 Sozialausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 16 zu Art. 3 des IPWSKR über die gleichen Rechte von Männern und Frauen beim Genuss aller wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 11. Aug. 2005, UN-Dok. E/C.12/2005/4. 294 Grundlegend M. Tushnet, An Essay on Rights, Texas Law Review 62 (1984), 1363–1403. Tushnet führt drei Hauptkritikpunkte aus: (1) Die Behauptung, dass ein Recht

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instrument. Die Fixierung auf Rechte verhindere die tatkräftige politische Aktion. Ferner wird darauf hingewiesen, dass Rechte, z.B. das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, ohne staatliche Finanzierung leer seien und dass Frauen wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Ehemann ihre Rechte oft nicht ausnutzen könnten. Außerdem müssen Rechte erst nachgewiesen werden. Das falle vielen Frauen schwer, so dass die Mehrheit von Frauen von ihren Rechten kaum profitiert. Schließlich könnten bestimmte Rechte dazu genutzt werden, um Frauen zu unterdrücken. So schütze das Recht auf Familienleben die patriarchalische Familie, im Namen der Religionsfreiheit könne Mädchen und Frauen der Schleier von Eltern, Ehemännern und Kirchenführern aufgezwungen werden und unter Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit werde Pornographie verbreitet. Obwohl diese und ähnliche Einwände gegen die Rhetorik der Rechte ernst zu nehmen sind, überwiegen die Vorteile der Anerkennung von Rechten, einschließlich internationaler Menschenrechte. Rechte ermächtigen Frauen.295 Wenn eine Forderung in die Form eines Rechtes gegossen wird, ist dies ein wichtiger Schritt in Richtung der Anerkennung eines gesellschaftlichen Unrechts.296 Die Formulierung eines (Menschen-)Rechts gewährt dem zugrunde liegenden Anspruch in heutiger Zeit eine kaum zu überbietende Legitimität. Aus diesen Gründen empfiehlt wohl keine Feministin, die Uhr zurückzudrehen in eine Zeit, in der Frauen praktisch keine Rechte besaßen.

3. Maskuline Sichtweise aller Menschenrechte? Die feministische Kritik an der maskulinen Perspektive, in der alle drei Generationen von Menschenrechten formuliert, ausgelegt und angewendet werden, kann hier nicht im Einzelnen ausgebreitet werden. Aspekte der so genannten dritten Generation werden im Kontext des Rechts der nachhaltigen Entwicklung zu erörtern

im Spiel sei, bringt in manchen Situationen keine konkreten Folgen hervor; (2) das Konzept von Rechten überhöht echte Erfahrungen, die wir als solche würdigen sollten, zu leeren Abstraktionen; (3) der Rekurs auf Rechte im zeitgenössischen Diskurs verhindert Fortschritt durch progressive gesellschaftliche Kräfte. Für den Feminismus grundlegend C. Smart, Feminism and the Power of the Law, 1989 (Taschenbuchausgabe 2003), insb. Kap. 7 „The problem of rights“ (138–159). 295 Siehe für eine andere unterprivilegierte Gruppe Patricia Williams: „‚Rights‘ feels so new in the mouths of most black people. It is still so deliciously empowering to say“, P. Williams, Alchemical Notes, Reconstructing Ideals from Deconstructed Rights, Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review 22 (1987), 401–433 (431). 296 Smart (Anm. 294), 143.

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sein (Abschnitt D. X.), und das Selbstbestimmungsrecht wurde bereits oben (Abschnitt D. IV.) angesprochen. Ein Problem der ersten Generation der Menschenrechte ist die weibliche Beschneidung als Verletzung der seelischen und körperlichen Integrität von Mädchen. Die Commission on the Status of Women in den Vereinten Nationen befasste sich bereits in den 1950er Jahren mit der weiblichen Beschneidung.297 Schon in den 1980er Jahren thematisierte die Unterkommission zu Minderheitenrechten die Frage. In den älteren Dokumenten wurde jedoch die Frage unter der Überschrift „Recht auf Gesundheit“ behandelt. Dies war problematisch, weil man somit argumentieren konnte, dass bei ordnungsgemäßer medizinischer Durchführung eine Beschneidung akzeptabel sei. Drittweltfeministinnen haben westlichen Aktivismus gegen die Genitalbeschneidung vielfach kritisiert. So könnten westliche Frauen diese Praxis nicht richtig beurteilen und verurteilten sie zu Unrecht, zumal Frauen (Mütter und Beschneiderinnen) maßgeblich daran beteiligt seien. Speziell die Frage der Beschneidung könne leicht aus dem größeren Kontext der postkolonialen Unterdrückung, der Unterentwicklung und Armut herausgelöst werden und stelle deshalb ein Alibithema dar, dessen Behandlung von den strukturellen Problemen der Frauen in der Dritten Welt ablenke. Wirtschaftliche und soziale Menschenrechte, also Rechte der zweiten Generation, sind für die Lebensqualität von Frauen besonders relevant. Sie gelten jedoch insbesondere in den Industrieländern als Rechte zweiter Klasse. Weil diese Sichtweise die fortbestehenden Ungleichheiten im Bereich der sozialen Rechte ausblendet, neigen – so der feministische Hinweis – die reichen Staaten fälschlicherweise dazu, die Frauengleichberechtigung bereits für erreicht zu halten, obwohl dies im Bereich der Bildung und des Arbeitsmarkts nicht der Fall sei. Diese Kritik ist prinzipiell berechtigt. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte tatsächlich eine teilweise von den bürgerlichen und politischen Rechten abweichende Erfüllungsstruktur besitzen. Frauengleichberechtigung und -ermächtigung im Bereich der Zweitgenerationsrechte ist deshalb tatsächlich ein gesondertes Problem.

4. Die fehlende unmittelbare Drittwirkung der Menschenrechte Ein zentrales feministisches Thema im internationalen Menschenrechtsschutz ist der bereits erörterte Public/Private Split (oben Teil D. I.) und die grundsätzlich

297 Short History of the Commission on the Status of Women, 6, http://www.un.org/ womenwatch/daw/CSW60YRS/CSWbriefhistory.pdf (besucht am 30. Juli 2007).

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fehlende unmittelbare Drittwirkung der Menschenrechtsvorschriften.298 Die Menschenrechte sind ursprünglich staatsgerichtet. Schädigungen durch Privatpersonen sind in der klassischen Perspektive keine Menschenrechtsverletzung. Demnach verletzt der prügelnde Ehemann nicht die Menschenrechte seiner Frau auf Leben und auf Freiheit von Folter und Misshandlung. Eine solche Begrenzung der Pflichtensubjekte wirkt sich nachteilig auf die schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft, zu denen überproportional Frauen gehören, aus. Deshalb formuliert die feministische Kritik: Während Männer Freiheitsbeschränkungen durch den Staat fürchten, seien Frauen der Vorherrschaft von Männern ausgeliefert. Weil Frauen somit zwei Schichten von Unterdrückung ausgesetzt seien, nütze ihnen die Trennung von Staat und Privat nichts. Demgegenüber profitierten Männer oder auch mächtige Akteure wie Religionsgemeinschaften vom Public/Private Split, weil dieser ihnen erlaube, die Unterordnung der Frauen im geschützten privaten Raum aufrechtzuerhalten. Dieser strukturellen Benachteiligung von Frauen wird allmählich durch die Anerkennung einer mittelbaren Drittwirkung der internationalen Menschenrechte bzw. staatlicher vertragsbasierter Schutzpflichten299 abgeholfen. Die Praxis zur CEDAW hat der Drittwirkungsdiskussion wichtige Impulse gegeben.300 Die menschenrechtlichen Schutzpflichten werden zunehmend nicht nur als punktuelle Pflichten, sondern als Ausdruck einer umfassenden Gewährleistungsverantwortung (Pflicht zum Schutz und zur Verhinderung von Verletzungen) angesehen.301 Beispielsweise ist heute anerkannt, dass Staaten, deren nationale Strafgesetze eine „Provokation“ durch die Frau und die Verletzung der Familienehre als Recht-

298 Hierzu aus der Fülle der Literatur z.B. C. Romany, Women as Aliens: A Feminist Critique of the Public/Private Distinction in International Human Rights Law, Harvard Human Rights Law Review 6 (1993), 87–125; D. Sullivan, The Public/Private Distinction in International Human Rights Law, in: J. Peters/A. Wolper (Hrsg.), Women’s Rights, Human Rights: International Feminist Perspectives, 1995, 126–134. 299 Aus der Rechtsprechung grundlegend EGMR, Osman v. Vereinigtes Königreich, Reports 1998-VII, 3214 ff., Rdn. 115–122. Siehe für die universelle Ebene UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment No. 31 [80] Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant of 26 May 2004, Rdn. 6–8. Aus der Literatur zur EMRK z.B. C. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der EMKR, 2003; W. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates: Eine Untersuchung der positiven Verpflichtungen des Staates aus den Grund- und Menschenrechten des Grundgesetzes und der EMRK, 2003. 300 Siehe zur CEDAW oben Anm. 169 und den dazugehörigen Text. 301 Siehe zur Responsibility to Protect oben Anm. 113. Zur Pflicht zur Verhinderung von Genozid IGH, Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urt. vom 26. Feb. 2007, Rdn. 428–438.

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fertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafmilderungsgrund bei Mord anerkennen,302 wie auch die mangelnde strafrechtliche Ahndung von so genannten Ehrenmorden das international garantierte Recht auf Leben verletzen. Die Vertragsparteien der Menschenrechtspakte müssen alle zumutbaren Schutzmaßnahmen, einschließlich einer wirksamen Strafverfolgung, ergreifen. Wenn das Rechts-, Polizei- und Gerichtssystem eines Staates offensichtlich so unzureichend ist, dass Angriffe auf Menschenrechte durch Private nicht wirksam verhindert werden, können diese Menschenrechtsverletzungen dem Staat zugerechnet werden. Ein krasses Beispiel für ein derartiges Staatsversagen sind die Frauenmorde in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez an der Nordgrenze zu Texas. Seit 1993 sind hier mittlerweile über 400 Frauen ermordet worden. Die mit dem Menschenrechtsschutz befassten internationalen Institutionen haben von der mexikanischen Regierung wiederholt Aktionen und eine umfassende Aufklärung des Feminizids gefordert und eigene Berichte über die kritische Situation vorgelegt.303 Eine der wichtigsten Anwendungssituationen menschenrechtlicher Schutzpflichten ist die häusliche Gewalt.304 Die UN-Generalversammlung verabschiedete im Jahr 1994 eine Erklärung zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen,305 welche Gewalt im Privatleben einschloss.306 Damit erkannte die Generalversammlung zwar an, dass häusliche Gewalt eine Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft sei, qualifizierte sie jedoch nicht als Menschenrechtsverletzung.307 1995 wurde das Amt der UN-Sonderberichterstatterin zur häuslichen Gewalt einge302

Nach der Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, ihre Ursachen und Folgen existierten noch im Jahr 2002 „honour defences“ in den Strafgesetzen von Peru, Bangladesh, Argentinien, Ecuador, Ägypten, Guatemala, Israel, Jordanien, Syrien, Libanon, der Türkei, der Westbank und Venezuela (Bericht vom 28. Jan. 2002, UN-Dok. E/CN. 4/2002/ 83, Rdn. 21–37, insb. 35). 303 Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR), The Situation of the Rights of Women in Ciudad Juárez, Mexico: The Right to be Free from Violence and Discrimination vom 7. März 2003, Dok. OEA/Ser.L/V/II.117; Bericht des CEDAWAusschusses vom 27. Jan. 2005 aufgrund einer Untersuchung nach Art. 8 des Fakultativprotokolls von 1999 (Dok. CEDAW/C/2005/OP.8/Mexiko); Bericht der UN-Menschenrechtskommission vom 13. Jan. 2006 (Dok. E/CN.4/2006/61/Add.4). 304 Aus der Literatur zu internationalen rechtlichen und politischen Instrumenten H. Kotmann, Opferschutz am Beispiel der häuslichen Gewalt: Rechtliche Situation und Stand der Umsetzung in der Schweiz, Jusletter 11. Sept. 2006. 305 Declaration on the Elimination of Violence against Women, GV-Res. 48/104 vom 23. Februar 1994, abgedr. in ILM 33 (1994), 1049–1054. 306 Art. 1 der Erklärung (Anm. 305). 307 Kritik bei Charlesworth, Feminist Methods (Anm. 4), 382.

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richtet.308 Die Berichterstatterinnen haben zahlreiche Berichte, auch zu einzelnen Ländern, vorgelegt.309 Doch auch diese Institution wird von Feministinnen nicht uneingeschränkt befürwortet. Nach feministischer Auffassung impliziert die Aussonderung, dass die Misshandlung von Frauen weder Folter im Sinne des allgemeinen Völkerrechts sei noch dass die Frage von sonstigen allgemeinen Sonderberichterstattern, wie dem Sonderberichterstatter zum Recht auf Leben, zum Verschwindenlassen und zur religiösen Toleranz, mit abzudecken sei.310 Nach der Legaldefinition in Art. 1 der UN-Anti-Folterkonvention311 kann Folter im Sinne des Abkommens nur von Amtsträgern begangen werden. Jedoch ist der Folterbegriff des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, des humanitären Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechts weiter und erfasst auch private Folter.312 Somit können extreme Misshandlungen von Frauen durch ihre Partner oder Familienangehörige unter Umständen als Folter qualifiziert werden.313 Die weitgehenden vertragsstaatlichen Verpflichtungen aus der Folterkonvention, wie Auslieferungs- und Wiedergutmachungspflichten, greifen allerdings in diesen Situationen nicht. Wie bereits eingangs dargelegt (Teil D. I. 3), steht eine Aufgabe der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre nicht ernsthaft zur Diskussion, weil dies die Einführung eines totalitären Systems bedeuten würde. Der Liberalismus, der auf der Trennung von Staat und Gesellschaft beruht, hat sich in der Geschichte politischer Gemeinschaften für Frauen besser bewährt als andere Systeme. Frauen 308 Radhika Coomaraswamy (Sri Lanka), von 1994 bis Juli 2003; Yakin Ertürk (Türkei), seit 2003. 309 Siehe z.B. R. Coomaraswamy, Mission to Pakistan and Afghanistan (UN-Dok. E/ CN.4/2000/Add.4); „Trafficking in women, women’s migration and violence against women“ (UN-Dok. E/CN.4/2000/68); „Violence against women perpetrated and/or condoned by the State (East Timor/Indonesia/West Timor) during times of armed conflict (1997–2000)“ (UN-Dok. E/CN .4/2001/73); Y. Ertürk, „Intersections between culture and violence against women“ (UN Dok. A/HRC/4/34 vom 17. Jan. 2007). 310 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 219 f. 311 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dez. 1984, BGBl. 1990 II, 247. 312 W. Kälin/J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2005, 325. Nach Art. 1 Abs. 2 UN-Antifolterkonvention (Anm. 311) lässt Art. 1 der Konvention Raum für weitergehende Bestimmungen aus anderen internationalen Abkommen. 313 Amnesty International qualifiziert schwere häusliche Gewalt als Folter (Amnesty International, Broken Bodies, Shattered Minds: Torture and Ill-Treatment of Women (ACT 40/001/2001), 30 u. 64) und fordert die internationalen Menschenrechtsschutzinstanzen, insbesondere den Anti-Folterausschuss, auf, sich mit der Misshandlung von Frauen durch Privatpersonen zu befassen.

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kommt der Schutz durch liberale Freiheitsrechte zugute, z.B. im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs („Mein Bauch gehört mir“). Die prinzipielle Trennung von öffentlicher und privater Sphäre stellt Frauen nicht schutzlos, weil die Trennlinie für staatliche Interventionen durchlässig und außerdem beweglich ist. Angelegenheiten, die früher als Privatsache angesehen wurden, sind heute staatlich durchreguliert. Die „liberale“ Lösung von (Menschen-)Rechtskonflikten durch Abwägung erlaubt es, unter Umständen dem Schutz der Frauen den Vorrang, beispielsweise vor der Achtung der Privatsphäre ihrer Partner oder der diskriminierenden Ausübung der Vertragsfreiheit ihrer Arbeitgeber, zu gewähren.

5. Kultur zulasten der Frauen Kulturrelativistische Einwände gegen die Universalität der Menschenrechte wirken sich sehr häufig zum Nachteil von Frauen aus.314 Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass in vielen Drittweltländern die Erinnerung an den kolonialen Paternalismus und an die Maßnahmen der Kolonisatoren zur Etablierung eines europäischen Modells der Geschlechterbeziehungen noch heute Abwehrreflexe auslöst. Die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau wird vielfach als Geheimwaffe des westlichen Imperialismus angesehen.315 Offensichtliche Benachteiligungen und Schädigungen von Frauen unter dem Vorwand der „Kultur“ sind die weibliche Beschneidung, die staatliche Zulassung oder Duldung von, beziehungsweise der mangelnde staatliche Schutz vor Zwangsheiraten und Polygamie sowie die Verbannung von Frauen aus dem öffentlichen und dem Berufsleben. Rechtstechnisch werden die kulturell begründeten Einwände oft in weit reichende Vorbehalte zu internationalen Menschenrechtsverträgen, insbesondere der CEDAW, gekleidet.316 Wo solche Vorbehalte nicht greifen, stellen die genannten Praktiken Verletzungen des Rechts auf freie Eheschließung und des Rechts auf seelische und körperliche Unversehrtheit der betroffenen Frauen dar. 6. Diskrepanz zwischen der Normierung von Frauenrechten und ihrer Durchsetzung Die feministische Klage, dass Frauenrechte gegenüber den Menschenrechten der Männer vernachlässigt würden, ist mittlerweile obsolet – nicht zuletzt dank fe314 Hierzu instruktiv R. Coomaraswamy, Identity Within: Cultural Relativism, Minority Rights and the Empowerment of Women, George Washington International Law Review 34 (2002), 483–513. 315 Id., 487 u. 513. 316 Siehe zu den CEDAW-Vorbehalten Anm. 173.

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ministischer Bemühungen. Die beklagten Defizite sind weniger ein Problem der Normen als eine Schwäche der Implementierung durch die Staaten und der Durchsetzung durch die internationale Gemeinschaft im Falle der Nichtbefolgung. Diese Durchsetzungsschwäche betrifft allerdings nicht ausschließlich frauenspezifische Vorschriften, sondern alle Menschenrechte. Es ist nicht (mehr) nachweisbar, dass Rechte, die Frauen besonders betreffen, noch schlechter durchgesetzt werden als andere internationale Menschenrechtsgarantien.317 Reformansätze zur Verbesserungen des Menschenrechtsschutzes von Frauen müssen also integral sein und primär auf die Implementierung abzielen.

X. Frauen im Flüchtlingsrecht Frauen befinden sich zum Teil deshalb auf der Flucht, weil sie in ihrer Heimat rechtlich oder faktisch diskriminiert werden, weil eine Einkindpolitik betrieben wird, weil sie häuslicher Gewalt oder sexueller Ausbeutung ausgesetzt werden oder weil ihnen Genitalverstümmelung, Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung oder schwere Strafen, z.B. als Ehebrecherin, drohen.

1. Frauenspezifische Fluchtgründe Die in diesem Kontext für Frauen zentrale Frage ist, inwiefern das Völkerrecht und die nationalen Asylvorschriften die frauenspezifische Verfolgung als Fluchtgrund und damit als asylbegründend anerkennen.318 Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) steht dem Konzept der geschlechtsspezifischen Verfolgung positiv gegenüber.319 Rechtstechnisch liegen zwei Hindernisse vor. Erstens konnte nach dem traditionellen Verständnis der meisten Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention 317

Siehe zum FP zur CEDAW oben Anm. 172. Hierzu aus der Literatur A. Binder, Frauenspezifische Verfolgung vor dem Hintergrund einer menschenrechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention, 2001; J. Bucherer, Frauen und Flüchtlingsrecht, in: Rudolf (Anm. 4), 171–187. 319 UNCHR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, UN-Dok. HCR/GIP/02/01 vom 7. Mai 2002. Das Exekutivkomitee forderte die Vertragsstaaten auf, eine geschlechtsspezifische Perspektive bei der Regelung ihres Asylrechts einzunehmen, Exekutivkomitee des UNHCR, General Conclusion on International Protection vom 8. Okt. 1999, Dok. Nr. 87 (L), Rdn. (n). 318

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nur die staatliche Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft begründen, während Frauen typischerweise Repressalien von Seiten gesellschaftlicher Kräfte, nicht von Seiten der staatlichen Organe drohen. Zweitens ist in der Vorschrift des Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention die Verfolgung wegen des Geschlechts nicht als Fluchtgrund genannt. Diese kann lediglich über eine erweiternde Auslegung des Terminus „wegen ihrer … Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ erfasst werden.

2. Nichtstaatliche Verfolgung Das UNHCR legt den Tatbestand der Verfolgung nach der Schutzlehre aus, die auf eine Zurechnung der Verfolgung zu einem Staat verzichtet. Das Hochkommissariat betont, dass die nichtstaatliche Verfolgung besonders wichtig für weibliche Flüchtlinge sei: „Recognition of non-State agents of persecution where there is inadequate State protection … can have particular importance for gender-related claims, because women often have less direct relationship with the State or because access to protection is gendered.“320 Auch die EU-Qualifikationsrichtlinie, welche Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen bzw. Asylbewerbern niederlegt, erkennt nichtstaatliche organisierte Akteure unter bestimmten Bedingungen als Verfolger an.321

3. Frauen als „soziale Gruppe“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention In Bezug auf das zweite Kernproblem für Flüchtlingsfrauen ist die Rechtsentwicklung ebenfalls günstig. In Empfehlungen und Richtlinien hat das UNHCR322 eine geschlechtssensible Auslegung des Merkmals der Mitgliedschaft zu einer 320

UNHCR, Comparative analysis of gender-related persecution in national asylum legislation and practices in Europe, EPAU/2004/05, Mai 2004, Rdn. 232. 321 EG RL 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004 Nr. L 304, 12), Art. 6: „Die Verfolgung kann ausgehen von … lit. c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die [öffentlichen Institutionen im Heimatland] einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden … zu bieten.“ 322 UNCHR, Richtlinien zum internationalen Schutz: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, UN-Dok. HCR/GIP/ 02/02 vom 7. Mai 2002.

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sozialen Gruppe gefordert. Die neuere Auslegungspraxis der Konventionsstaaten hat diese Empfehlungen vielfach umgesetzt.323 Die einschlägige Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft, welche die Verfolgungsgründe der Flüchtlingskonvention präzisiert, stellt klar, dass Personen mit einer gemeinsamen sexuellen Orientierung eine soziale Gruppe im Sinne der Konvention bilden können, erkennt jedoch nicht Frauen als eine solche Gruppe an. Immerhin „können geschlechterbezogene Aspekte berücksichtigt werden“,324 rechtfertigen aber für sich allein genommen nicht die Annahme, dass die Flüchtlingseigenschaft vorliegt. Das neue deutsche Aufenthaltsgesetz geht weiter und erkennt die Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch an, „wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.“325 Damit bildet nach deutschem Recht die konkrete Gefahr schwerer, frauenspezifischer Menschenrechtsverletzungen, z.B. eine drohende Genitalverstümmelung, einen Asylgrund. Im Ergebnis sind die beiden wichtigsten rechtlichen Barrieren für eine Erfassung frauenspezifischer Verfolgung und damit für einen verbesserten Schutz von weiblichen Flüchtlingen und Asylbewerberinnen in der neuesten Entwicklung des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts und der darauf bezogenen nationalen Asylgesetzgebung weitgehend niedergerissen worden.326 Dies ist vor allem der Aktivität des UNHCR zu verdanken, welches die Auslegungspraxis der Konventionsstaaten 323

UNHCR, Comparative analysis (Anm. 320). EG-QualifikationsRL (Anm. 321), Art. 10 Abs. 1 lit. d). 325 § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet) als Art. I des Zuwanderungsgesetzes (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern) vom 30. Juli 2004, BGBl. I, 1950. 326 Beispiel Schweiz: Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (SR 142.31) gebietet, frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen. Nach Art. 17 Abs. 2 AsylG musste der Bundesrat ergänzende Verfahrensbestimmungen erlassen, um der speziellen Situation von Frauen und Minderjährigen gerecht zu werden, siehe Art. 6 der Asylverordnung 1 vom 11. Aug. 1999 (SR 142.311). Es gibt allerdings nur sehr wenige Grundsatzentscheide der schweizerischen Asylrekurskommission (jetzt Bundesverwaltungsgericht) zur frauenspezifischen Verfolgung. Beim Bundesamt für Migration wurde das Amt der Frauenbeauftragten eingerichtet, das allerdings kaum mit harten Kompetenzen ausgestattet ist. Siehe für die aktuelle Situation Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Bundesamt für Migration (BFM), Stellung der Frauen in der Asylpolitik – Würdigung frauen- bzw. geschlechtsspezifischer Aspekte im Asylverfahren: Bericht vom August 2005 als Antwort auf das Postulat Menétrey-Savary (800.3659). 324

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und deren Gesetzgebung zu beeinflussen vermochte. Der historische Gender-Bias des Flüchtlingsrechts, das bei seiner Schaffung nach dem Zweiten Weltkrieg auf den männlichen, politisch aktiven Flüchtling innerhalb Europas fixiert war, scheint somit weitgehend überwunden. Allerdings ist es für Flüchtlingsfrauen in der Regel sehr schwer, die frauenspezifische Verfolgung zu beweisen, insbesondere wenn sie von privaten Akteuren ausgeht. Somit bleibt auch in diesem Rechtsbereich die Umsetzung der frauenfreundlichen Regelungen problematisch.

XI. Welthandel, Umwelt und nachhaltige Entwicklung 1. Globalisierung, Handelsliberalisierung und WTO-Recht in der Gender-Perspektive Das dem (internationalen) Handels- und Wirtschaftsrecht zugrunde liegende Bild des rationalen, nutzenmaximierenden Homo oeconomicus ist ein männliches Bild, mit dessen Durchleuchtung erst kürzlich begonnen wurde.327

a) Ökonomische Globalisierung Auf einer konkreteren Ebene liegt der Befund, dass der andauernde Prozess der Intensivierung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Transaktionen, den wir unter der Überschrift ökonomische Globalisierung zusammenfassen können, eine frauenbelastende Seite hat.328 Der Globalisierungsdruck privilegiert gewisse Sektoren vor anderen (wie Kapital vor Produktion, Finanzministerien vor Sozialministerien, Markt vor Staat) und erzeugt eine „zutiefst vergeschlechtlichte“ Dichotomie zwischen dem „Ökonomischen“ und dem „Sozialen“.329 Negative soziale Auswirkun327

Grundlegend M. Albertson Fineman, Feminism confronts homo economicus, 2005. Stark (Anm. 30), 335: „Globalization is driving a gendered ‚change of world‘ with far-reaching and often unexpected consequences.“ Siehe allgemein V. Spike Peterson/A. Sisson Runyan, Global Gender Issues, 2. Aufl. 1999, sowie die Beiträge in der Symposiumsausgabe des Indiana Journal of Global Legal Studies zu „Feminism and Globalization: The Impact of the Global Economy on Women and Feminist Theory“, Indiana Journal of Global Legal Studies 4 (1996), 1 ff.; M. M. Gray/M. Caul Kittilson/W. Sandholtz, Women and Globalization: A Study of 180 Countries, 1975–2000, International Organization 60 (2006), 293–333. Aus der UN-Politik die GV Res. A/RES/S-23/3 „Further actions and initiatives to implement the Beijing Declaration and the Platform for Action“ vom 10. Juni 2000, Rdn. 35–41. 329 F. Beveridge, Feminist Perspectives in International Economic Law in: Buss/Manji (Anm. 4), 173–201 (178 f.). 328

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gen des wirtschaftlichen Strukturwandels, die vielfach der ökonomischen Globalisierung angelastet werden, wie etwa Arbeitslosigkeit oder Billigbeschäftigungen, haben durchweg eine geschlechtliche Dimension.330 Die ökonomische Globalisierung kann zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt beitragen. Jedoch setzen sich Frauen, die jenseits der Grenzen ihres Heimatstaates Arbeit als Hausangestellte, Ammen oder Prostituierte suchen, sozialen und gesundheitlichen Risiken aus, die sich bei illegaler Arbeit verschärfen.331 Die Durchlässigkeit der Grenzen hat Frauenhandel und Prostitution befördert. So sind die Prostituierten in vielen EU-Staaten heute weit überdurchschnittlich ausländische Frauen. Der Sextourismus, unter dem vor allem Frauen und Mädchen leiden, ist de facto zum wichtigen Tourismuszweig und damit zur Quelle von Staatseinnahmen geworden. Seine Förderung, nicht Bekämpfung, wird so zur heimlichen Entwicklungsstrategie. Insgesamt erscheint also die ökonomische Globalisierung in der Gender-Perspektive ambivalent. b) Speziell Liberalisierung des Welthandels332 Der internationale Handel und das diesen regulierende Welthandelsrecht kann die Geschlechtergleichberechtigung in verschiedener Hinsicht berühren. Grundsätzlich profitieren Frauen weniger von der Handelsliberalisierung, weil sie insgesamt ärmer sind. Wenn aber der Wohlstand insgesamt steigt und somit der Kuchen größer wird, sickern die Gewinne auch zu den Frauen herunter. Internationaler Handel und Auslandsinvestitionen haben erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen. Dies betrifft wegen ihrer allgemein geringeren Qualifikation und der schwächeren Verhandlungsmacht Frauen anders als Männer. Ferner führt internationaler Handel zu Wettbewerbsdruck, der Geschlechtsdiskriminierung vermindern, aber auch fördern kann, vor allem in Form von Lohndifferenzierung. Er kann für Frauen Hürden für den Zu330

Chinkin/Wright/Charlesworth, in: Buss/Manji (Anm. 4), 29. Hierzu und zum Folgenden S. Sassen, Women’s Burden: Counter-Geographies of Globalization and the Feminization of Survival, Nordic Journal of International Law 71 (2002), 255–274 (258, 269 f.). 332 Siehe zu diesem Thema Beveridge (Anm. 329); E. McGill, Trade and Gender, in: P. F. J. Macrory/A. E. Appleton/ M. G. Plummer (Hrsg.), The World Trade Organization: Legal, Economic and Political Analysis, 2005, Bd. II, 697–745; A.-N. Tran-Nguyen, The Economics of Gender Equality, Trade and Development, in: A.-N. Tran-Nguyen/A. Beviglia Zampetti (Hrsg.), UN Interagency Network on Women and Gender Equality: Task Force on Gender and Trade, Trade and Gender: Opportunities and Challenges for Developing Countries (UN-Dok. UNCTAD/EDM/2004/2), 2004, 1–37. 331

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gang zu Ressourcen und Dienstleistungen einreißen oder aber erhöhen. Der durch die Internationalisierung ausgelöste Zwang zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse kann Frauen benachteiligen, die wegen Familienpflichten unflexibler sind. Die mit der Handelsliberalisierung einhergehenden Umstellungskosten werden eher von Frauen als von Männern gefühlt, weil die Anfälligkeit von Frauen für Transitionsschocks durch die bestehende Geschlechterungleichheit verstärkt wird. Letztlich kann der „gender impact“ von Handel nur länder- und sektorenspezifisch beurteilt werden.

c) Die Welthandelsorganisation und multilaterale Handelsregelungen Die Kompetenzen der WTO erstrecken sich nicht explizit auf Gender-Fragen. Die formale Neutralität des WTO-Rechts gegenüber der Benachteiligung von Frauen stellt den Status quo nicht in Frage und wirkt sich somit de facto als Stütze der bestehenden Gender-Ungleichheiten aus.333 Allerdings muss die Organisation ausweislich der Präambel des WTO-Abkommens im Einklang mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung handeln. Weil Gender-Gerechtigkeit eine Komponente nachhaltiger Entwicklung ist (siehe unten Teil D. XI. 2. a)), ist es den Organen der Welthandelsorganisation nicht verwehrt, genderbezogene Argumente bei der Anwendung und Auslegung des WTO-Rechts zu berücksichtigen. Die Grundwerte der WTO beruhen auf der Dichotomie von Staat und Markt, und die materiellen WTO-Pflichten zur Handelsliberalisierung stehen prinzipiell in einem Spannungsverhältnis zu mitgliedstaatlichen sozialpolitischen Maßnahmen. Sie drängen staatliche Interventionen (auch solche mit sozialer Zielsetzung) in die Defensive, wovon auch frauenpolitische Maßnahmen betroffen sind.334 Es verhält sich hier nicht anders als mit den Umweltbelangen und allgemeinen Menschenrechtsproblemen, die erst in einem allmählichen, noch andauernden Prozess in den welthandelsrechtlichen Diskurs integriert und mit den WTO-Zielen zu einem Ausgleich gebracht werden. Die allgemeine GATT-Ausnahme Art. XX lit. a) (Abweichung von den Liberalisierungspflichten zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit) könnte zum Schutz von Frauenrechten eingesetzt werden. So könnte beispielsweise ausländischen Produkten, die mittels lohndiskriminierender Arbeit oder unter frauenfeindlichen Arbeitsbedingungen hergestellt wurden, der gleiche Marktzugang verweigert wer-

333 334

Beveridge (Anm. 329), 187. Vgl. Beveridge (Anm. 329), 190 f.

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den. Der Import und Vertrieb von pornographischem Material oder von Empfängnisverhütungsmitteln könnte bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes unter Verweis auf diese Ausnahme reguliert werden. Weitergehend wird diskutiert, ob Ländern, die häusliche Gewalt, Beschneidung oder andere frauenschädigende Praktiken dulden, Handelsbeschränkungen auferlegt werden können.335 Insgesamt steckt die genderbezogene Analyse des Welthandelsrechts erst in den Anfängen. Ihre Vertiefung und Differenzierung stellt ein lohnendes Forschungsfeld dar und verspricht praxisrelevante Einsichten.

2. Umwelt- und Entwicklungsrecht a) Nachhaltige Entwicklung Nach feministischer Auffassung hat die Entwicklung die Frauen verfehlt.336 Insbesondere die weibliche Armut und die geringen Fortschritte bei der Senkung der Müttersterblichkeit337 zeigten, dass Frauenprobleme in der Entwicklungsstrategie vernachlässigt würden. In der Tat hatte die traditionelle Entwicklungspolitik die Belange der Frauen missachtet und das Potential der Frauen nicht genutzt. Die alten Entwicklungsstrategien sind jedoch schon lange als kontraproduktiv erkannt worden. Im Jahr 1970 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Integration von Frauen in die Entwicklungsbemühungen als eines der Ziele der internationalen Entwicklungsstrategie der Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen (1970– 1980) auf. In der Agenda 21 der Rio-Konferenz von 1992 wurden auf Druck der Frauenlobby an zahlreichen Stellen Frauen erwähnt, diese als „wichtige Gruppe“ anerkannt und ein gehaltvolles Kapitel 24 über „Globale Maßnahmen im Hinblick auf die Teilhabe der Frau an einer nachhaltigen, gerechten Entwicklung“ einge335

L. M. Jarvis, Women’s Rights and the Public Morals Exception of GATT Article XX, Michigan Journal of International Law 22 (2000), 219–238. 336 Siehe aus der Literatur I. Tinker (Hrsg.), Persistent Inequalities: Women and World Development, 1990; R. Jahan, The Elusive Agenda: Mainstreaming Women in Development, 1995; R. E. Howard, Women’s Rights and the Right to Development, in: Peters/Wolper (Anm. 298), 301–313 (zur Spannungslage zwischen Frauenrechten und dem Recht auf Entwicklung in Afrika südlich der Sahara); N. Kabeer, Reversed Realities: Gender Hierarchies in Development Thought, 1997; M. Hemmati/R. Gardiner, Gender and Sustainable Development, World Summit Paper of the Heinrich Böll Foundation, No. 10, 2002. 337 Siehe Daten oben in Abschnitt B. Immerhin wurde die Senkung der Müttersterblichkeit im Jahr 2000 zu einem der Milleniumsentwicklungsziele erklärt.

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fügt.338 Grundsatz 20 der Rio-Erklärung lautet: „Frauen kommt bei der Bewirtschaftung der Umwelt und der Entwicklung eine grundlegende Rolle zu. Ihre volle Einbeziehung ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die Herbeiführung nachhaltiger Entwicklung.“ Auf der Pekinger Weltfrauenkonferenz von 1995 bekräftigten die beteiligten Regierungen, „dass die Machtgleichstellung der Frau und ihre gleichberechtigte und volle Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft, so auch ihre Teilhabe an den Entscheidungsprozessen und ihr Zugang zu Macht, für die Herbeiführung von Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden von grundlegender Wichtigkeit“ seien.339 Diese internationalen Soft-Law-Texte gehen zu Recht davon aus, dass Frauengleichberechtigung und Entwicklung in einer positiven Wechselbeziehung stehen.340 Umgekehrt ausgedrückt besteht ein Teufelskreis zwischen Unterentwicklung und Gender-Ungleichheiten.341 Diese Ungleichheiten beeinträchtigen den Zustand der gesamten Gesellschaft, die wirtschaftliche Produktivität und die Regierungsführung. Die verbesserte Einbeziehung von Gender-Belangen wirkt sich nachweislich positiv auf Wirtschaftswachstum und Entwicklung aus.342 Erfolgreich ist beispielsweise die Vergabe von Kleinstkrediten an Frauen.343 Umgekehrt kann Entwicklung die Gender-Gerechtigkeit fördern, etwa durch die Verbesserung der Infrastruktur (Wasser, Energie, Transport). Natürlich kann Wirtschaftswachstum nicht als solches automatisch die Gender-Hierarchie beseitigen, und tatsächlich ist die Benachteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen nicht strikt mit dem wirtschaftlichen Wohlstand (Pro-Kopf-Einkommen eines Staates) korreliert.344 Dies zeigt, dass die Gender-Problematik nicht auf die Entwicklungsfrage reduziert werden kann, sondern in Verbindung mit und neben dieser ange338

Deutsch unter http://www.un.org/Depts/german/conf/agenda21/agenda_21.pdf (besucht am 25. Juli 2007). Siehe zur Verwirklichung der Ziele des Kapitels 24 der Agenda 21, fünf Jahre nach der Riokonferenz von 1992, Commission on Sustainable Development, Report of the Secretary General on the Overall Progress Achievement since the United Nations Conference on Environment and Development, Addendum, Role and Contribution of major groups, UN CSD, 5th Sess., UN Dok. E/CN/17/1997/Add. 22, Rdn. 9–21. 339 Pekinger Erklärung (Anm. 199), Rdn. 13 (Hervorhebung der Verf.). 340 Siehe zur positiven Korrelation von Wirtschaftswachstum und Geschlechtergleichberechtigung instruktiv Tran-Ngyuen (Anm. 332), 8–14 m.w.N. 341 E. King/A. Mason, Engendering Development – Through Gender Equality in Rights, Resources and Voices: A World Bank Policy Research Report, 2001, xi. 342 Näher Hemmati/Gardiner (Anm. 336), 19–21 m.w.N. 343 Das Grameen-Bank-Konzept des Friedensnobelpreisträgers von 2006, Mohammed Yunus. 344 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 14 (Vergleich von Thailand mit Spanien).

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gegangen werden muss.345 Letztlich kann die feministische Kritik am internationalen Recht und der internationalen Entwicklungsstrategie nur im Kontext der kontroversen Beurteilung der Entwicklungszusammenarbeit überhaupt gewürdigt werden. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Beitrages sprengen.

b) Umweltschutz In der Tiefenschicht ist wichtig, dass in der westlichen Tradition die Natur immer als weiblich charakterisiert wurde. In diesem Sinne könnte der Umweltschutz und das Umweltrecht, insbesondere Institute wie die Umwelttreuhänderschaft, als Ausprägung einer weiblichen Ethik der Sorge angesehen werden. Auf der anderen Seite wertete die Assoziation von Frauen mit der Natur beide Teile dieser Gleichung ab, und die Unterdrückung von Frauen wurde damit gerechtfertigt, dass sie näher an der Natur seien.346 Die Frauen- und Naturfeindlichkeit zeigte sich beispielsweise in der herkömmlichen Missachtung des typischerweise von Frauen weitergegebenen traditionellen umwelt- und landwirtschaftsbezogenen und medizinischen Wissens als „unwissenschaftlich“. Immerhin respektieren neuere internationale Konventionen das traditionelle Wissen,347 wobei erhebliches Konfliktpotential mit dem internationalen Regime des geistigen Eigentums fortbesteht. Einige Aspekte der Umweltbelastung und -zerstörung wirken sich besonders nachteilig auf Frauen in Entwicklungsländern aus. Wüstenbildung und Wasserverschmutzung kann für Frauen bedeuten, dass sie täglich viele Stunden mit der Suche von Wasser und Brennholz verbringen müssen.348 Giftige Pestizide schädigen vor allem Frauen, die fast die gesamte landwirtschaftliche Arbeit verrichten.

345 Beispielsweise könnte die (weibliche) Heimarbeit als Entwicklungsstrategie aufgewertet werden, wenn sie als Beitrag zum Bruttosozialprodukt gewertet würde, Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 242. 346 Hierzu Tickner (Anm. 4), 97 f., 104, 123 f. Tickner plädiert dafür, den Natur/KulturGegensatz in Frage zu stellen und fordert Feminismus und Ökologie auf zusammenzuspannen. 347 Siehe Abs. 12 der Präambel, Art. 1–3, Art. 8 (j), Art. 10 und Art. 15 der Biodiversitätskonvention v. 5. Juni 1992, UNTS, Vol. 1760, Nr. 79; ILM 31 (1992), 818 ff., und die Präambel sowie Art. 1, Art. 6 und Art. 9 des Internationalen Übereinkommens über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft vom 3. November 2001, UNTS, Vol. 815, Nr. 89. 348 Vgl. Agenda 21 (Anm. 338), Kap. 24, Rdn. 3. lit. d).

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Von feministischer Seite wurde vorgebracht, dass das „männliche Öko-Establishment“, welches die Umweltagenda bestimme, Frauenbelangen und dem Feminismus gegenüber gleichgültig bis feindlich gegenüberstehe.349 Zwar nehmen einige neuere umweltvölkerrechtliche Verträge in der Präambel explizit Bezug auf Frauen.350 Das Wüstenbildungsabkommen spricht im operativen Teil mehrfach die Rolle der Frauen für die Bekämpfung der Versteppung an.351 Doch diese Normierungen und entsprechende politische Bemühungen wurden als unzureichend bemängelt. Alle Frauen würden zu einer „Drittwelt-Frau“ amalgamiert, die sowohl als Opfer von Umweltverschmutzung als auch als Öko-Managerin dargestellt werde und die, wenn sie an Umweltentscheidungen beteiligt würde, sich selbst ermächtigen und die Umwelt retten würde.352 Tendenziell destruktive Fundamentalkritik dieser Art scheint mir weder der Umwelt noch den Frauen einen praktischen Dienst zu erweisen.

c) Die Gender-Politik der internationalen Finanzinstitutionen Sowohl die Entwicklungs- als auch die Finanzierungsziele der Weltbank machen es erforderlich, die Gleichstellungspolitik in ihre Tätigkeit zu integrieren.353 Auch haben die von der Bank geforderten Strukturanpassungen einen „gendered impact“. Beispielsweise hat die Privatisierung der Bereitstellung grundlegender Güter wie Trinkwasser eine Gender-Dimension, weil in den meisten Kulturen Frauen für die Beschaffung von Wasser verantwortlich sind. Auch 349 A. Rochette, Transcending the Conquest of Nature and Women: A Feminist Perspective on International Environmental Law, in: Buss/Manji (Anm. 4), 203–235 (215) (Übersetzung der Verf.). 350 So die Biodiversitätskonvention (Anm. 347), Präambel: „in Anerkennung der wichtigen Rolle der Frau bei der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt sowie in Bestätigung der Notwendigkeit einer vollen Beteiligung der Frau auf allen Ebenen der politischen Entscheidung und Umsetzung im Bereich der Erhaltung der biologischen Vielfalt“. Die Präambel des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe vom 22. Mai 2001 (POP-Konvention, UN-Dok. UNEP/POPS/CONF/2; ILM 40 (2001), 532 ff.) erwähnt die gesundheitlichen Gefahren, die sich aus der örtlichen Aussetzung mit persistenten organischen Schadstoffen ergeben, „insbesondere im Bewusstsein der Auswirkungen auf Frauen und damit auf künftige Generationen“. 351 Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika (Wüstenkonvention) vom 17. Juni 1994, UNTS, Vol. 1954, Nr. 3; ILM 33 (1994), 1328 ff., Präambel, Art. 5 lit. d), Art. 10 Ziff. 2 lit. f), Art. 19 Ziff. 1 lit. a) u. Ziff. 3 lit. e). 352 Rochette (Anm. 349), 223. 353 Siehe den Weltbankforschungsbericht in Anm. 341.

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der von Liberalisierungsprogrammen geforderte Abbau des öffentlichen Sektors, der in den meisten Staaten ein wichtiger Arbeitgeber gerade für Frauen ist, trifft besonders diese. In Anerkenntnis der Korrelation von Gender-Gerechtigkeit und Entwicklung und der Gender-Dimension von Strukturanpassungsprogrammen hat die Weltbank sich in ihren internen Politik- und Geschäftsrichtlinien selbst verpflichtet, die Gender-Dimensionen von Entwicklung in den Staaten, in denen sie ein aktives Unterstützungsprogramm unterhält, regelmäßig einer Beurteilung zu unterziehen. Die Gender-Beurteilung soll in den Politikdialog der Bank mit den Empfängerstaaten und in die „Country Assistance Strategy“ einfließen. Diese Landesunterstützungsstrategien können auch genderbezogene Interventionen umfassen.354 Allerdings bildet der Respekt von Frauenrechten im Empfängerstaat bisher kein Element von Good Governance im Sinne der Weltbankvergabepolitik.355 Diese Maßnahmen wurden von feministischer Seite bemängelt. Insofern als die Einwände in einer Fundamentalkritik an der wirtschaftsliberalen, vermeintlich neokolonialen und neo-kapitalistischen internationalen Finanzarchitektur aufgehen,356 sind sie nicht frauenspezifisch und können an dieser Stelle nicht gewürdigt werden.

E. Gesamtbewertung der genderbezogenen Völkerrechtswissenschaft Sind die genderbezogenen Einwände gegen die traditionelle Produktion, Anwendung und Interpretation des Völkerrechts berechtigt, haben sie eine Ände-

354

Weltbank Operational Policy/Business Policy (OP/BP) 4.20 „The Gender Dimension of Development“, Neufassung vom August 2004 „Gender and Development“. Die OP/BP basiert auf „Integrating Gender into the World Bank’s Work: A Strategy for Action“ (Januar 2002). Siehe auch World Bank, „Implementing the Bank’s Gender Mainstreaming Strategy; Second Annual Monitoring Report, FY03“ vom 29. Januar 2004. 355 Hierzu B. Rudolf, Die Verwirklichung von Frauenrechten als Maßstab für „Good Governance“?, in: Rudolf (Anm. 4), 243–260. 356 So z.B. N. Gunewardena, Reinscribing Subalternity: International Financial Institutions, Development and Women’s Marginality, UCLA Journal of International Law and Foreign Affairs 7 (2003), 201–238, mit der Grundthese, dass die Weltbank und der Weltwährungsfonds die Unterprivilegierung der Frauen in der Dritten Welt zementiere. Siehe für eine Kritik des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung als „Wirtschaftswachstum in einem globalen, kapitalistischen Handelssystem mit Unterstützung westlicher Wissenschaft und Technologie“ Rochette (Anm. 349), 224 und passim.

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rung der Völkerrechtspraxis und -wissenschaft bewirkt, und wo liegen ihre theoretischen Schwächen? Diese Fragen können nur differenziert beantwortet werden.

I. Völkerrecht und seine Umsetzung als Fokus feministischer Analyse Ist das Völkerrecht überhaupt der richtige Fokus feministischer Analyse? Dies könnte deshalb zu bejahen sein, weil die feministische Rechtswissenschaft sich mit den rechtlich mitkonstituierten und gestalteten Lebensbedingungen von Frauen als weltweite Gruppe befasst und damit per se grenzüberschreitend ist.357 Die Globalität der Unterdrückungserfahrung von Frauen scheint das Völkerrecht, dessen Durchgriff auf die Individuen immer intensiver wird, zu einem sinnvollen Ansatzpunkt für rechtliche Reformen zugunsten von Frauen zu machen. Auf der anderen Seite könnte das Völkerrecht aus verschiedenen Gründen wenig für die feministische Analyse hergeben. Erstens ist das Völkerrecht eher „weiblicher“ als das nationale Recht.358 Es ist seiner Struktur nach auf Koordination und Kooperation angelegt und hat eher Netzwerkcharakter anstatt eine klare hierarchische Struktur. Es enthält viel Soft Law. Konflikte werden häufiger mittels Mediation und weniger mittels konfrontativer, verbindlicher Streitbeilegung gelöst. Vor allem liegen viele Regelungsbereiche des Völkerrechts weit weg vom Menschen, also auch von den Frauen. Unmittelbare Adressaten des Völkerrechts sind, außer im Bereich der Menschenrechte und des internationalen Strafrechts, meist andere Völkerrechtssubjekte. Weil das Völkerrecht somit nur Ausschnitte der Lebenswirklichkeit von Frauen (und auch diese meist nur mittelbar) beeinflussen kann, ist die fortdauernde Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen nicht primär dem Völkerrecht anzulasten. Und schließlich schenkt das heutige Völkerrecht – nicht zuletzt dank der feministischen Arbeit – der Rechtsstellung und den Bedürfnissen von Frauen mehr Beachtung als fast alle nationalen Rechtsordnungen. Es hat sogar vielfach das nationale Recht positiv beeinflusst. In den vergangenen 20 Jahren waren die Europäische Union und in einem geringeren Maße die Vereinten Nationen Schrittmacher der Gleichstellungspolitik.359 Allerdings hängt die Effektivität der frauenfreundlichen internationalen Normen zum einen von wirksamen internationalen Institutionen ab und zum zweiten von ihrer Umsetzung in das nationale Recht. Beides ist im Bereich der Frauenfragen unbefriedigend. Die internationalen Gremien sind im Menschenrechts357

Baer, Inklusion (Anm. 8), 42–44. von Arnauld (Anm. 9), 30. 359 R. Henig/S. Henig, Women and Political Power, 2001, Kap. 7 „The international context“, 81–92. 358

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bereich und im Bereich des humanitären Völkerrechts – zwei Rechtsbereiche, die Frauen ganz unmittelbar auf besondere Weise berühren – generell sehr schwach. Auch versuchen viele Staaten, die Umsetzung der völkerrechtlichen frauenfreundlichen Vorgaben in ihr nationales Recht zu umgehen. Auch wählen die Staaten selbst ihre Repräsentanten in internationalen Organisationen aus. Die Barrieren für die weltweite effektive Berücksichtigung von Frauenanliegen dürften insgesamt eher im staatlichem Recht und den nationalen Kulturen liegen. Feministische Kritik, auch an der Unterrepräsentation von Frauen in internationalen Institutionen, muss sich also gleichermaßen gegen den politischen Prozess in den Nationalstaaten richten.360 Aus den genannten Gründen überfordert eine feministische Agenda, die sich auf das Völkerrecht isoliert konzentriert, dieses Recht strukturell. Um praktische Verbesserungen für Frauen zu erreichen, muss sich die genderbezogene Analyse des Völkerrechts auf die Implementierung des Völkerrechts und auf sein Zusammenspiel mit dem nationalen Recht konzentrieren.

II. Feministische Vielfalt und Interaktion mit anderen Theorien als Bereicherung Auf einer anderen Ebene liegt die Frage der theoretischen und wissenschaftlichen Qualität genderbezogener Ansätze. Viele sind Varianten wissenschaftlicher und politischer Großtheorien. Hier wird zum Teil alter Wein in neue Schläuche gefüllt. Insbesondere diejenigen feministischen Ausführungen, die einen allgemeinen Antikapitalismus sowie Globalisierungs- und Liberalisierungskritik reproduzieren, sind wenig originell. Einige Grundsatzargumente und Topoi sind beispielsweise aus den völkerrechtlichen Beiträgen zur Dekolonisierung und Lage der Entwicklungsländer der 1970er Jahre bekannt. Allerdings hat hier auch eine Interaktion und dadurch kreative Weiterentwicklung stattgefunden. Auf diese Weise konnte die genderbezogene Völkerrechtswissenschaft, in Fortführung der älteren, entwicklungsländerbezogenen Ansätze der allgemeinen Völkerrechtsentwicklung, unabhängig von frauenspezifischen Anliegen einige Impulse geben. Sie hat die völkerrechtlichen Akteure für ungleiche Machtverhältnisse sensibilisiert. Sie hat den Fokus auf den „Anderen“ gelenkt und damit auch auf die Marginalisierung und Unterdrückung der dritten Welt. Die feministische Völkerrechtswissenschaft hat damit die Einsicht gefördert, dass extreme zwischenstaatliche Ungleichheiten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ungeachtet der formalen Gleichheit ein Problem darstellen, welches bei der Anwendung und Auslegung von Art. 2 Abs. 1 UN-Charta berücksichtigt werden sollte. Diese Einsicht hat in 360

Fellmeth (Anm. 26), 701.

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Teilgebieten zur Anpassung von formalen Rechtspositionen an soziale Rahmenbedingungen geführt, beispielsweise mit dem umweltvölkerrechtlichen Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung. Die feministischen Weiterentwicklungen alter Theorien teilen allerdings auch deren Defizite. Beispielsweise baut der heute populäre postmoderne Feminismus auf Kernthesen der Critical Legal Studies, z.B. der Subjektivität von Erkenntnis, der sozialen Konstruktion von Realität, der Indeterminität des Rechts und der Inkommensurabilität von Wertvorstellungen auf, die hier nicht näher geprüft werden können. Angemerkt werden darf jedoch, dass der postmoderne Feminismus das methodologische Problem hat, behaupten zu wollen, dass geschlechtsbezogene Unterdrückung existiert, ohne dies nach seinen eigenen methodischen Prämissen je beweisen zu können.361 Außerdem dürften sowohl die postmoderne Grundsatzkritik an Rechten als auch der postmoderne Kulturrelativismus den Frauen in der Regel eher schaden als nutzen,362 so dass dieser Ansatz allenfalls theoretisch reizvoll sein mag, jedoch praktisch unergiebig oder sogar kontraproduktiv ist.363 Der Anspruch auf Frauengleichberechtigung muss gegen alle kulturellen Traditionen durchgesetzt werden und kann diese deshalb nicht vollumfänglich respektieren.364 Die feministische Vielfalt wurde als „add women and stir“-Methode verhöhnt. Sie erscheint jedoch aus mehreren Gründen ein Plus. Zum einen können die blinden Flecken des feministischen Ansatzes durch die Perspektive eines anderen Ansatzes ausgeglichen werden.365 Wichtiger ist, dass die Vielfalt dazu beträgt, einen totalitaristischen Feminismus zu bremsen. Die Ungerechtigkeit auf der Welt hat vielfältige Ursachen. Dementsprechend müssen (intellektuelle) Befreiungsprojekte vielfältige Dimensionen haben. Sie können nicht vollständig auf den feministischen Aspekt reduziert und in der feministischen Agenda aufgelöst werden.366 Anders gewendet: Der Kampf für den Frieden, für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus kann nicht als bloße Teilmenge des Kampfes um Geschlechtergleichberechtigung und Frauenermächtigung begriffen werden.367 361

Fellmeth (Anm. 26), 692. Siehe oben Abschnitt D. IX. 5. 363 von Arnauld (Anm. 9), 42. 364 Stark (Anm. 30), 342. 365 So die Grundthese von Truyol (Anm. 9); von Arnauld (Anm. 9), 43. 366 J. Halley, Taking a Break from Feminism, Columbia Journal of Gender and Law 12 (2003), 604–617 (606). 367 B. Ehrenreich, Feminism’s Assumptions Upended, South Central Review 42 (2007), 170–173 (173) (Original in Los Angeles Times vom 16. Mai 2004). 362

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III. Diversität der Untersuchungsebenen Eine pauschale Beurteilung der theoretischen Güte der genderbezogenen Ansätze verbietet sich deshalb, weil diese auf mindestens drei Untersuchungsebenen operieren.

1. Geschlechtliche Zuschreibungen und Frauenanliegen Auf einer ersten Untersuchungsebene decken feministische Studien Assoziationen, unbewusste Stereotypen und (Sprach-)Bilder auf, welche die Wahrnehmung von Sachverhalten und Rechtsvorschriften prägen. Die Grundannahme ist hier, dass die „kodierte“ Beurteilung der Lebenswirklichkeit, z.B. der Umwelt als weiblich oder des Krieges als männlich, den Inhalt, die Auslegung und die Durchsetzung der diesbezüglichen Völkerrechtsregeln beeinflusse. Zentrale Erkenntnis ist, dass die Markierung als „weiblich“ die jeweiligen Lebensbereiche, Aktivitäten und Einstellungen sowie die sie regulierenden Rechtsnormen abwertet. Das Ziel der feministischen Untersuchungen auf dieser Ebene ist also die Identifikation von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und der damit verbundenen Hierarchie. Diese Zuschreibungen sollen nicht völlig ausgemerzt werden, sondern es soll nur erreicht werden, dass „weiblich“ nicht mehr die Minderwertigkeit bedeutet. Gerade im Völkerrecht erscheint die Offenlegung von Gender-Assoziationen besonders wichtig, um die hier kultivierte individualistische und teilweise martialische „Männlichkeit“ als defizitär oder sogar abstoßend zu entlarven und es dadurch Männern leichter zu machen, diese Gender-Normen abzulehnen und sich darüber hinwegzusetzen. Wenn beispielsweise gewisse (männliche) Annahmen des Rechts des bewaffneten Konflikts in Frage gestellt werden, bestünde Hoffnung, dass dieses Recht einen wahrhaft humanitären Charakter erhalten könnte.368 Auf einer zweiten, konkreteren Untersuchungsebene machen feministische Studien Frauen „sichtbar“. Es wird zum einen aufgezeigt, wie bestimmte Situationen (z.B. die Liberalisierung grenzüberschreitender Dienstleistungen oder die Abholzung der Wälder) speziell Frauen betreffen. Auf dieser Ebene liegen auch die Kritik an der Unterrepräsentation von Frauen in den völkerrechtserzeugenden und -anwendenden Institutionen, die Forderung, Frauen stärker zu beteiligen, und die Spekulation über die Konsequenzen erhöhter Frauenpräsenz. Drittens identifizieren genderbezogene Untersuchungen konkrete frauendiskriminierende oder sonst frauenschädigende Inhalte des Völkerrechts oder die frauenspezifische Unterregulierung. Weil die direkte Frauendiskriminierung 368

Gardam (Anm. 253), 72.

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jedenfalls auf der Ebene des Völkerrechts praktisch überwunden ist, geht es heute primär um die indirekte Diskriminierung, also um die Benachteiligung von Frauen durch scheinbar geschlechtsneutrale Vorschriften sowie um die Vernachlässigung oder Ignorierung frauenspezifischer Anliegen. Auffallend ist der Gender-Bias bereits bei der Auswahl der Lebensbereiche, die Gegenstand völkerrechtlicher Regelung sind. Warum, fragen Charlesworth und Chinkin, sind wandernde Spezies auf hoher See Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages, wohingegen die Verwendung künstlicher Babynahrung anstelle von Muttermilch nur in freiwilligen Kodizes geregelt ist? Warum wird extraterritoriale Jurisdiktion typischerweise im Bereich des Wettbewerbs- und Kartellrechts in Anspruch genommen, nicht aber bei Frauen- und Kinderhandel?369 Die Auslassungen und das Schweigen im Völkerrecht sind also ebenso signifikant wie seine positiven Rechtsregeln und argumentativen Strukturen.

2. Neuerklärung und Umbau des Völkerrechts Das Ziel der Untersuchungen auf allen drei Ebenen ist es, erstens, deskriptiv ein vollständigeres und damit richtigeres Bild des Völkerrechts zu zeichnen. Insofern als die feministischen Ansätze dabei die Neutralität und Objektivität des Völkerrechts in Frage stellen, sind sie nicht nur analytisch, sondern auch subversiv.370 Des Weiteren will die feministische Völkerrechtswissenschaft rechtspolitisch auf den Umbau des Völkerrechts hinwirken. Gemeint ist ein Umbau der Grundbegriffe und Strukturen des Völkerrechts dahingehend, dass diese Rechtsordnung nicht die Beherrschung von Frauen durch Männer unterstützt oder verstärkt. Der Umbau soll dazu führen, dass die Hauptziele der UN-Charta, z.B. Friedenssicherung, die Garantie menschlicher Sicherheit, Selbstbestimmung der Völker und der Menschenrechtsschutz, in einer neuartigen und integralen Weise erreicht werden, und zwar zum Nutzen von Frauen und Männern. Ein solcher Umbau kann, erstens, evolutionär mittels Rechtsreformen erfolgen. Bisher wurden kontinuierliche, aber langsame und kleine Schritte in die richtige Richtung gemacht. Die Alternative wäre, zweitens, die komplette Neustrukturierung (Revolution) des Völkerrechts. Eine feministische Revolution des Völkerrechts hat jedoch bisher nicht stattgefunden und steht auch nicht in Aussicht. Drittens könnte das Völkerrecht als Ordnungsinstrument „dezentriert“ werden (hierzu sogleich Abschnitt E. IV.), wobei fraglich ist, ob hiermit Frauen ein Dienst 369 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 18 f. Siehe zu den Völkerrechtsfortschritten im Bereich des Frauen- und Kinderhandels oben Abschnitt D. III. 3. sowie Anm. 177 mit Text. 370 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 60.

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erwiesen würde. Letztlich erfordern alle drei Umbau-Varianten eine Bewusstseinsbildung, die es Frauen und Männern leichter macht, den Geschlechtsstereotypen zu entkommen.

IV. Dezentrierung, aber nicht Entmachtung des Völkerrechts Genderbezogene völkerrechtswissenschaftliche Ansätze haben mit der ambivalenten Haltung des Feminismus gegenüber dem Recht371 zu kämpfen. Für Rechtsskeptikerinnen ist die Frage, inwiefern sich feministische Kritik in der Völkerrechtspraxis niedergeschlagen hat, wenig relevant. Wer den Rechtsweg als Strategie zur Verbesserung der Lebenswirklichkeit von Frauen ohnehin für nur begrenzt geeignet hält, muss die Inhalte dieses Rechts für nachrangig oder gleichgültig halten. Das Misstrauen gegenüber dem Recht speist sich oberflächlich gesehen aus der vagen Annahme, dass das von Männern gemachte und angewendete Recht zwangsläufig patriarchalisch gefärbt, Bestandteil der Unterdrückungsmaschinerie ist und deshalb gegen anstatt für die Frauen arbeitet. Die Ambivalenz hat jedoch tiefere Ursachen. Sie ist teilweise das Resultat des marxistischen Hintergrundes des radikalen Feminismus in MacKinnon’scher Prägung. Der Marxismus lehnt liberale Reformen des Rechts ab und fordert die Revolution. Eine zweite Quelle der zwiespältigen Einstellung zum Recht ist die kulturfeministische Annahme, dass die legalistische Ethik männlich sei, wohingegen die weibliche Ethik auf anderen Faktoren beruhe (oben Teil A. II. 2.). Drittens fasst der postmoderne Feminismus das Recht vielfach als bloße Verbrämung von Macht, als Legitimationserzählung oder strukturelle Gewalt auf. So gesehen befinden sich feministische Juristinnen in einer Doppelfalle: Sie müssen nicht nur mit androzentrischen Standards im Recht umgehen und sich der mutmaßlich anti-feministischen juristischen Technik und Sprache bedienen, sondern außerdem den (zu) hohen Rang des (nach männlichen Kriterien als rational geltenden) Rechts in der „Hierarchie des Wissens“ akzeptieren.372 Allein der Rekurs auf das Recht, sei er naiv oder pragmatisch, könnte das Recht als Ganzes legitimieren, auch wenn einzelne Vorschriften oder Institute kritisiert werden.373

371 Grundlegende „Warnung des Feminismus vor dem Sirenenruf des Rechts“ bei Smart (Anm. 294), 160. Für das Völkerrecht H. Charlesworth, Feminist Ambivalence about International Law, International Legal Theory 11 (2005), 1–8 (4 f.). 372 Smart (Anm. 294), 68 u. 160. 373 Smart (Anm. 294), 161.

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Diese Erwägungen motivieren die Doppelspurigkeit von feministischer Theorie und Praxis (siehe oben Abschnitt A. III.). Sie speisen auch die feministische Forderung nach einer „Dezentrierung“ des Rechts. Die Macht des Rechts, zu definieren und abzuwerten, solle, so Carol Smart, im Zentrum der feministischen Strategie stehen, nicht Rechtsreform als solche.374 Die Vertreterinnen der genderbezogenen völkerrechtswissenschaftlichen Ansätze sind gut beraten, das Völkerrecht als Instrument des gesellschaftlichen Wandels nicht zu überschätzen und juristische Selbstbescheidung zu üben. Jedoch sollten Feministinnen das Völkerrecht nicht als solches in Frage stellen, zumal sein Status ohnehin prekär ist und genügend Völkerrechtsleugner aus anderen ideologischen Lagern am Werk sind. Eine Charakterisierung des Rechts als bloßes Feigenblatt für männliche Machtausübung wäre einseitig; denn das Recht hat auch ein befreiendes Potential („empowerment“). Die Fundamentalkritik am Recht ist außerdem rein destruktiv. Sie erklärt nicht, wie das menschliche Zusammenleben organisiert werden soll, wenn das Recht nicht als eines von mehreren Ordnungssystemen akzeptiert wird. Realistischer und strategisch sinnvoller ist es, das (Völker-)Recht als institutionalisierten und formalisierten Schauplatz der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung zu begreifen. Das Recht als solches, erst recht nicht das Völkerrecht, kann nicht das Patriarchat aufbrechen, stellt jedoch zumindest ein Forum für die Präsentation alternativer Sichtweisen und Visionen bereit.375

V. Strukturelle Schwächen des Gender-Fokus Viele feministische Kritikpunkte treffen konstruktive und rechtspolitische Schwächen der traditionellen Völkerrechtslehre genau. Vielfach wird allerdings ein Strohmann aufgebaut, z.B. der überkommene Souveränitätsbegriff oder die Hobbes’sche Sichtweise der internationalen Beziehungen. Diese und andere Altlasten sind bereits von zahlreichen neueren völkerrechtswissenschaftlichen und -politischen Ansätzen, die von ganz unterschiedlichen theoretischen und/oder ideologischen Grundlagen ausgehen, über Bord geworfen worden. Sofern sich feministische Lehren im Einklang mit diesen progressiven Ansätzen befinden, wird ihre Kritik am geltenden Recht bzw. an dessen traditioneller Auslegung nicht falsch, sondern sie gewinnt im Gegenteil an Plausibilität. Der feministische „Überbau“ erscheint jedoch beliebig. Er könnte teilweise gegen andere Paradigmen, z.B. durch eine postkoloniale, kommunitaristische oder konstitutionalistische Rekonstruktion des Völkerrechts, ausgetauscht werden. Er wird in der Tat vielfach auf jene Paradigmen aufgepfropft und verspricht nur dann neue Erkenntnis, wenn 374 375

Smart (Anm. 294), 163–165. Smart (Anm. 294), 88.

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eine kreative Hybridisierung der Ansätze stattfindet (dazu auch oben Abschnitt E. II.). Ferner erscheint die Gender-Deutung teilweise sehr allgemein und besitzt in diesem Fall eine geringe Erklärungskraft. Beispielsweise könnten wir kulturfeministisch die diplomatisch-politischen Mittel der Streitbeilegung als „weibliche“ Methoden charakterisieren, im Gegensatz zu kontradiktorischen gerichtlichen und schiedsgerichtlichen Methoden als „männlich“. Die Verbreitung und Stärkung der internationalen (Schieds-)Gerichtsbarkeit seit den 1990er Jahren wäre in dieser Perspektive eine (weitere) Vermännlichung des Völkerrechts, die allerdings vom gegenläufigen Aufstieg der alternativen „weiblichen“ Streitbeilegung auch im transnationalen Bereich, begleitet wird. Diese Deutung erklärt jedoch wenig, und ein vermehrter Rückgriff auf vermeintlich „weibliche“ Konfliktlösungstechniken wäre im Völkerrecht ein Rückschritt. Die teilweise Allgemeinheit des Gender-Fokus ist jedenfalls zuweilen eine Manifestation eines „feministischen paranoiden Strukturalismus“.376 Feministische paranoide Strukturalisten geben zu, dass die meisten Rechtsordnungen, oberflächlich gesehen, die Unterordnung von Frauen durch Männer beseitigt haben. Feministische paranoide Strukturalisten halten dies jedoch für Schein. Tiefer gehende Untersuchungen würden ihrer Meinung nach aufdecken, dass tatsächlich immer noch und überall männliche Dominanz besteht. Eine derart eingestellte Juristin lässt sich nicht mit oberflächlichen Erklärungen abspeisen. Insofern bildet dieser Typ Strukturalismus ein dauerndes Stimulans für Kritik und stellt eine genuin wissenschaftliche Haltung dar. Die Sichtweise wird jedoch paranoid, wenn sie sich von einer Hypothese zu einer Dauer-Unterstellung verfestigt. Sie wird damit ihrerseits kritik-immun und folglich unwissenschaftlich. Ein mit dem „paranoiden Strukturalismus“ verwandtes Problem einiger feministischer Forderungen ist, dass sie selten oder nie als befriedigt anerkannt werden. Beispielsweise wurde bemerkt, dass es zu wenige Spezialverträge für Frauenanliegen gäbe. Wenn aber solche Verträge geschaffen werden, heißt es, die Schaffung eines Spezialbereiches habe zur Marginalisierung der Frauenrechte beigetragen. Des Weiteren haben Feministinnen die Genfer Konventionen wegen fehlender Schutzvorschriften für Frauen kritisiert. Nachdem aber Schutzvorschriften eingeführt wurden, wurde wiederum bemängelt, dass diese die Frauen als schwaches und schutzbedürftiges Opfer darstellen. Auch im Umweltvölkerrecht forderten ökologische Frauengruppen die Einbeziehung von Frauen. Die Einfügung entsprechender Klauseln in das Umweltvertragsrecht wurde dann

376

Halley (Anm. 366), 605 f.

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jedoch als bloße Lippenbekenntnisse „in Form von Halbsätzen“ kritisiert.377 Von den internationalen Finanzinstitutionen wurde verlangt, dass diese Frauen in die Entwicklungsstrategie einbeziehen müssten. In Reaktion auf die umfassende Gender-Politik und das Gender-Mainstreaming der Weltbank wird moniert, dass „feministische Analysen usurpiert und ‚neutralisiert‘ wurden, um den Status quo der wirtschaftlichen Machtbeziehungen aufrechtzuerhalten“.378 Nachdem die Ausklammerung von Frauen in der früheren Entwicklungsstrategie zu Recht angeprangert wurde, werden nun die neuen Ansätze, welche die Selbstverantwortung sowie individuelle Entscheidungen und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen, dafür kritisiert, dass diese den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft die Verantwortung für Entwicklung aufbürden und die Frauen überfordern.379 Dieser ständige Drang nach Mehr und vor allem die Unerfüllbarkeit einiger paradoxer feministischer Forderungen (die unter anderem eine Folge der Vielfalt der Standpunkte ist) sind wissenschaftlich unergiebig und politisch frustrierend.

VI. Fragwürdige Standpunkt-Epistemologie Die These des Gender-Bias des Völkerrechts wurzelt in der so genannten feministischen Standpunkt-Epistemologie.380 Die Standpunkt-Epistemologie behauptet, dass die (unter anderem geschlechtsbedingte) soziale Stellung einer Person ihre Erfahrung und diese wiederum nicht nur ihre Werturteile, sondern auch ihr Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis determiniert. In der heutigen Welt, so die feministische Theorie, beherrsche der männliche Standpunkt die Gesellschaft derart, dass er gar nicht mehr als Standpunkt in Erscheinung trete. Dadurch werde das geltende Recht legitimiert und die soziale Vorherrschaft unsichtbar.381 Dementsprechend sei auch die Erkenntnis der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts zwangsläufig subjektiv (männlich) gefärbt: Making women’s experiences visible allows us to see how gender relations have contributed to the way in which the field of international relations is conventionally constructed and to reexamine the traditional boundaries of the field. Drawing attention to gender hierarchies that privilege men’s knowledge and men’s experiences permits us to see that it is these experiences that have formed the basis of most of our knowledge

377

Siehe Rochette (Anm. 349), 222 f. So Beveridge (Anm. 329), 198 (Übersetzung der Verf.). 379 So Gunewardena (Anm. 356), 236. 380 Hierzu S. Harding, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, 1991, 119–137 m.w.N.; D. Haraway, Situated Knowledge: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies 14 (1988), 575–599. 381 MacKinnon, Theory of the State (Anm. 13), 237. 378

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about international politics. It is doubtful whether we can achieve a more peaceful and just world … while these gender hierarchies remain in place.382 [I]nternational law does not provide even a momentary distance from subjectivity. It is intertwined with a sexed and gendered subjectivity, and reinforces a system of male power.383

Letztlich leugnet die Standpunkt-Epistemologie die Unterscheidbarkeit von Wissen und Werten und behauptet, dass alle Erkenntnis zwangsläufig wertgebunden sei, so dass es keine objektive Erkenntnis gäbe. Folglich seien Aussagen über die Realität (auch über das Recht) und Aktivitäten zur Gestaltung der Realität (einschließlich der Rechtsordnung) stets relativ zum Standpunkt des Beobachters oder Akteurs.384 Der Standpunkt von Angehörigen unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen werde somit zwangsläufig ausgeblendet. Dies führe beispielsweise zu Eurozentrismus, aber auch zu Androzentrismus bei der praktischen und theoretischen Bearbeitung des Völkerrechts. Zuzugeben ist, dass Menschen typischerweise Vorurteile haben, die unter anderem durch ihre persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Rollen bestimmt werden. Es ist ferner denkbar, dass Frauen, deren Erfahrung und Einsichten in den meisten Kulturen über Generationen hinweg als unwichtig und minderwertig abgestempelt wurden, immer wieder genötigt waren, ihre Wahrnehmung der Realität mit der herrschenden, als wichtiger tradierten Sichtweise der dominanten Gruppe der Männer abzugleichen. Demgegenüber können die Mitglieder der dominanten Gruppe ihre eigene Wahrnehmung und Wertung ungehemmt als maßgeblich ansehen und sind selten gezwungen, alternative Standpunkte überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wegen dieser laufenden Auseinandersetzung und Infragestellung von Wahrnehmungen könnten Frauen (wie andere Mitglieder unterlegener gesellschaftlicher Gruppen) es leichter haben, eine umfassendere, komplexere Weltsicht zu entwickeln.385 382

Tickner (Anm. 4), S. xi (Hervorhebungen der Verf.). Chinkin/Wright/Charlesworth, in: Buss/Manji (Anm. 4), 44. 384 Somit würde ein feministischer Standpunkt die Realität nicht nur anders beschreiben, sondern sie letztlich neu schaffen („reconceiving reality“), siehe D. Dallmeyer (Hrsg.), Reconceiving Reality, Women and International Law, 1993. Hierzu die Kritik ausgerechnet von M. Koskenniemi, Review of Dorinda Dallmeyer (Hrsg.), Reconceiving Reality, Women and International Law, AJIL 89 (1995), 227–230 (230): Dass das Recht zumindest ansatzweise Distanz von Hoffnungen und Furcht erlaube, sei nicht sein Defekt, sondern sein entscheidender Vorteil. 385 Außerdem könnte es Frauen in einer geschlechtsbezogenen hierarchisierten Gesellschaft wegen ihrer Außenseiterrolle in Bezug auf Annahmen und Praktiken, die aus der Perspektive der herrschenden Gruppe natürlich oder gewöhnlich erscheinen, leichter fallen, Erklärungsbedarf zu erkennen. Eine solche Infragestellung des scheinbar Altbekannten ist der Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Untersuchung, Harding (Anm. 380), 150. 383

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Es ist das große Verdienst der feministischen Ansätze in allen Wissenschaftszweigen, auf Androzentrismus im Wissenschaftsbetrieb, in Bezug auf die Forschungsprioritäten und die wissenschaftlichen Hypothesen aufmerksam gemacht zu haben. Dadurch ist es Wissenschaftlern, auch Völkerrechtswissenschaftlern, erheblich erleichtert worden, ihre Vorurteile bzw. ihren eigenen Gender-Bias selbst zu erkennen. Dasselbe gilt für die praktische (Völker-)Rechtserzeugung und -anwendung. Entscheidend ist aber, dass es bei ausreichender Reflexion jedem Menschen prinzipiell möglich ist, seinen geistigen „Rahmen“ (framework) zu überwinden.386 Folglich können auch Männer einen „weiblichen“ Standpunkt einnehmen. Die Beteiligung von Frauen ist somit jedenfalls theoretisch keine notwendige Bedingung für eine umfassende und angemessene Berücksichtigung von typisch weiblichen Belangen im Völkerrecht und in der Völkerrechtswissenschaft. Dennoch sind die praktischen Auswirkungen der Unterrepräsentation von Frauen im Völkerrechtsprozess im Folgenden näher zu untersuchen.

VII. Korrelation zwischen der Unterrepräsentation von Frauen im völkerrechtlichen Prozess und den Völkerrechtsinhalten 1. Vermutung der Männerlastigkeit des Völkerrechts Die Grundannahme der feministischen Literatur ist, dass ein Konnex zwischen der Unterrepräsentation von Frauen im völkerrechtspolitischen Prozess und den Politikergebnissen besteht. So baut das gesamte Werk von Charlesworth und Chinkin auf der Aussage auf, dass „the invisibility of women at decision-making levels has affected the treatment not only of ‚women’s‘ issues, but also the way all international concerns are understood.“387 Zumindest gehen Feministinnen davon aus, dass die Besetzung der völkerrechtlichen Schlüsselpositionen durch Männer eine widerlegliche Vermutung der Männerlastigkeit der Ergebnisse der Rechtserzeugungs- und -anwendungsprozesse begründe.388 Folglich unterstellen Feministinnen beispielsweise, dass die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Kollateralschäden von geplanten militärischen Angriffen (vgl. Art. 51 Abs. 5 386

Dies kann an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. Siehe grundsätzlich A. Peters/H. Schwenke, Comparative Law beyond Postmodernism, International and Comparative Law Quarterly 49 (2000), 800–834. 387 Charlesworth/Chinkin, Boundaries (Anm. 4), 171. 388 Siehe für das Welthandelsrecht Beveridge (Anm. 329), 188 f.: „[T]he low levels of participation by women in the activities of the WTO, particularly at higher levels and in bodies such as the DSB, limits the ability of the WTO to address gender-based concerns adequately and/or renders it unlikely that such concerns will even be raised.“

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lit. b) des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen) durch männliche Militärs dazu führe, dass die Abwägung tendenziell zulasten der (überwiegend weiblichen) Zivilbevölkerung gehe.389 Würde aber die durchgängig höhere Beteiligung von Frauen am Völkerrechtsprozess formal einen anderen Führungs- und Diskussionsstil, prozedural mehr internationale Kooperation und „weiche“ Konfliktlösungsstrategien sowie inhaltlich weniger militärische Gewalt und mehr Aufmerksamkeit für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte bringen? Hierzu sind theoretische Annahmen und ihre praktischen Belege zu überprüfen.

2. Theorie zum Völkerrecht für Frauen aus Frauenhand Die rechtspolitische Kernfrage ist somit, ob die erhöhte Präsenz von Frauen in internationalen politischen und juristischen Schlüsselpositionen das Völkerrecht und seine Auslegung und Anwendung inhaltlich frauengerechter machen würde. Einerseits könnte man annehmen, dass Politik stärker als das Geschlecht prägt, so dass die Unterschiede zwischen Menschen, die (rechts-)politisch engagiert sind und jenen, die dies nicht sind, tiefer gründen als diejenigen zwischen Männern und Frauen allgemein.390 Im Gegensatz zu dieser Annahme unterstellen die internationalen frauenpolitischen Dokumente fraglos, dass eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen und juristischen Prozess das Völkerrecht ändern würde.391 Am deutlichsten zeigt sich diese Haltung im oben geschilderten Bereich der Friedensförderung (Teil D. VII. 4.). Wie gezeigt, geht die Praxis der Vereinten Nationen heute davon aus, dass Frauen vor allem im Bereich des „Peacebuilding“ und der so genannten zivilen Konfliktbearbeitung eine besondere Rolle spielen müssen. Die bereits erwähnte schweizerische Botschaft des Bundesrates über einen Rahmenkredit für Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung von 2002 verlangt ausdrücklich, dass „[d]as friedensfördernde Potenzial der Frauen in bewaffneten Konflikten in den Vordergrund gerückt“ werden soll.392

389

Gardam (Anm. 253), 71. A. Phillips, The Politics of Presence, 1995, 75. 391 Siehe nur GV-Res. A/RES/S-23/3 „Further actions and initiatives to implement the Beijing Declaration and the Platform for Action“ vom 10. Juni 2000, Rdn. 16 u. 23. 392 Botschaft (Anm. 238). Beispielsweise könnte der Einsatz von Frauen als Vermittlerinnen in regionalen oder internationalen politischen Konflikten im islamischen Kulturkreis insofern vorteilhaft sein, als eine Frau Zugang zur gesamten einheimischen Bevölkerung hat, wohingegen einem männlichen Vermittler nur zu 50 Prozent Zugang gewährt wird. 390

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Schon in den 1980er Jahren wurde im politischen Leben vielfach behauptet, dass ein Frauenanteil von 30 bis 35 Prozent erforderlich, aber auch ausreichend sei, um innerhalb von politischen Gremien eine so genannte kritische Masse zu bilden, die den Stil, die Verfahren und die Ergebnisse des politischen Prozesses zu beeinflussen vermöge. Die Theorie der kritischen Masse hat sich unter anderem der CEDAW-Ausschuss zu Eigen gemacht.393 Nach dieser Theorie hängt die Art und Weise der Interaktion in Gruppen von ihrer jeweiligen Größe ab. Solange eine Untergruppe eine klare Minderheit innerhalb einer größeren Gemeinschaft bildet, sind ihre Mitglieder, z.B. die Frauen, nur Einzelexemplare („token“), die sich den Spielregeln der herrschenden Untergruppe fügen. Gleichzeitig lastet auf TokenFrauen eine besondere Verantwortung.394 Erst wenn die Untergruppe eine gewisse Größe erreicht, ist zu vermuten, dass sich die Mitglieder anders verhalten werden. Die Vergrößerung bewirkt nach dieser Theorie also eine qualitative Veränderung.395 Die Wirklichkeit ist jedoch viel komplexer und sicher institutionenspezifisch und pfadabhängig.396 Interessant sind deshalb empirische Beobachtungen.

3. Empirische Belege Zur Beeinflussung der internationalen Politik und des internationalen Rechts durch Frauen in den zuständigen staatlichen und internationalen Institutionen 393

Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Allgemeine Empfehlung Nr. 23 (zu Art. 7 CEDAW: Politisches und öffentliches Leben), 1997, Rdn. 16. 394 So schilderte Eleanor Roosevelt, die Witwe des vormaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, als Mitglied der US-Delegation bei den neu zu gründenden Vereinten Nationen die Eröffnungszeremonie der Generalversammlung in London am 10. Januar 1946: „[D]uring the entire London session of the Assembly I walked on eggs. I knew that as the only woman on the delegation I was not very welcome. Moreover, if I failed to be a useful member, it would not be considered merely that I as an individual had failed, but that all women had failed, and there would be little chance to serve for others in the near future“, E. Roosevelt, On my Own, 1959, 62. 395 Lovenduski (Anm. 105), 142 f. u. 174 m.w.N.. Näher H. Dahlerup, From a Small to a Large Minority, Women in Scandinavian Politics, Scandinavian Political Studies 2 (1988), 275–298. Dahlerup kommt in einer Untersuchung der skandinavischen politischen Prozesse zum Ergebnis, dass das Überschreiten einer bestimmten Größe der Minderheit keinen automatischen Wendepunkt in sozialen Prozessen darstellt. Wichtiger ist die Bereitschaft und die Fähigkeit der Minderheit, die Ressourcen der Institution zu mobilisieren, um ihre eigene Situation oder die der gesamten Minderheit zu verbessern, id., 296. 396 Grundlegend J. D. Yoder, Rethinking Tokenism: Looking Beyond Numbers, Gender and Society 5 (1991), 178–192. Siehe auch Lovenduski (Anm. 105), 144.

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liegen mangels länger währender größerer Frauenpräsenz keine soziologischen Untersuchungen vor. Die bisherigen Erfahrungen mit nationalen weiblichen Politikern und Rechtssetzern ergeben kein eindeutiges Bild. So hat der hohe Frauenanteil in dem skandinavischen Politik-Establishment keine inhaltliche Änderung der Politik bewirkt. Auch die Zusammensetzung des professionellen Personals des WTO-Sekretariats ist ausgeglichener als die der anderen internationalen Organisationen.397 Dennoch ist die WTO die einzige wichtige Organisation, welche bis heute kein GenderMainstreaming betreibt und nicht systematisch untersucht oder bei ihrer Tätigkeit berücksichtigt, inwiefern Frauen durch den Freihandel spezifisch betroffen werden. Diese Beobachtungen erstaunen nicht, wenn wir bedenken, wie stark die politischen und juristischen Akteure parteipolitischen und sonstigen institutionellen Restriktionen unterworfen sind. Die Erfahrung zeigt, dass weibliche Politiker, Diplomaten und Juristen keine besseren Menschen sind. In Ruanda riefen hunderte von gebildeten Frauen tausende von ungebildeten Frauen zum Völkermord auf.398 Im irakischen Gefängnis Abu Ghraib verübten US-Soldatinnen Misshandlungen. Sowohl die Gefängnisdirektorin als auch die oberste Nachrichtendienstoffizierin, die auch für die Überprüfung des Status der Gefangenen vor ihrer Entlassung verantwortlich war, als auch die letztlich für die Besatzung verantwortliche Außenministerin waren Frauen. Beim Anblick der Gefreiten Lynndie England mit dem nackten Gefangenen an der Hundeleine sollte eine gewisse feministische Naivität ihr Ende gefunden haben. „Was wir von Abu Ghraib ein und für alle Mal gelernt haben ist, dass eine Gebärmutter kein Ersatz für ein Gewissen ist und die Menstruation nicht die Grundlage der Moralität.“399 Auf der anderen Seite gibt es anekdotische Belege für eine bessere Berücksichtigung von Frauenanliegen durch weibliche Entscheidungsträger in internationalen Gremien. Beispielsweise hatte die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zum Genozid in Ruanda im Jahr 1994 das Phänomen der Massenvergewaltigungen nicht entdeckt, sondern erst nach neun Monaten, als massenweise Kinder geboren wurden.400 Auch im wohl wichtigsten Verfahren des Ruandatribunals, Akayesu, war der Vorwurf der Vergewaltigung kein Anklagepunkt. Massen397

McGill (Anm. 332), 738 Fn. 226 m.w.N. African Rights Organisation, Rwanda Not so Innocent: When Women become Killers, 1995, 249 f. 399 Ehrenreich (Anm. 367), 172 (Übersetzung der Verf.). 400 A. Gallagher, Ending the Marginalization: Strategies for Incorporating Women into the United Nations Human Rights System, Human Rights Quarterly 19 (1997), 283–293 (292 Fn. 31 m.w.N.). 398

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vergewaltigungen wurden erst thematisiert, nachdem eine Zeugin dies spontan vorbrachte und die einzige weibliche Richterin, Navanethem Pillay, darauf bestand, Zeuginnen hiernach näher zu befragen. Richterin Pillay beklagte später, dass die dadurch zu Berühmtheit gelangte Zeugin „JJ“ nach dem Verfahren in ihrer Gemeinschaft geächtet wurde und unter weit schlechteren Bedingungen lebt als andere Überlebende des Genozids.401 Viele empirische Studien zum unternehmerischen Erfolg weiblicher Manager,402 zum geschlechtstypischen Führungsstil in der Wirtschaft403 sowie zur skandinavischen, US-amerikanischen,404 britischen405 und EU-Politik406 kommen 401

N. Pillay, Foreword, in: Durham/Gurd (Anm. 207), vii. N. Smith/V. Smith/M. Verner, Do Women in Top Managment Affect Firm Performance? A Panel Study of 2500 Danish Firms, IZA Discussion Paper Series No. 1708, August 2005 = Centre for Industrial Economics Discussion Papers 2005-3 = International Journal of Productivity and Performance Management 55 (2006), 569–593. Es handelt sich um eine empirische Untersuchung über die Auswirkungen der Präsenz von Frauen im dänischen Topmanagement für den Unternehmenserfolg der 2500 größten dänischen Firmen über den Zeitraum von 1993–2001. Die Langzeitstudie kommt nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Unternehmen mit mehr Frauen in der Unternehmensleitung und im Verwaltungsrat erwirtschaften nicht eindeutig mehr Gewinne. Signifikante positive Wirkungen treten nur ein, wenn die Managerinnen einen Universitätsabschluss besitzen. 403 Hierzu informativ A. H. Eagly /M. Johannesen-Schmidt, Leadership style matters: The small, but important differences between male and female leaders, in: D. Bilimoria/S. K. Piderit (Hrsg.), Handbook of Women and Business and Management, 2007, 279–303. Nach bisheriger empirischer Sozialforschung existieren kleine Unterschiede im Führungsstil von Frauen und Männern. Der Führungsstil von Frauen ist häufiger demokratisch, integrativ, interaktiv, gemeinschaftlich, ermutigend und unterstützend, partizipativ und kollaborativ. Dieser „weibliche“ Führungsstil wird deutlicher ausgeübt, wenn sich mehr Frauen im Umfeld befinden. 404 Zum Einfluss des Geschlechts von Kongressmitgliedern auf die US-amerikanische Gesetzgebung K. L. Tamerius, Sex, Gender, and Leadership in the Representation of Women, in: Duerst-Lahti/Kelly (Anm. 408), 93–112. Die Studie fand einen kleinen Geschlechterunterschied bei der Unterstützung „feministischer“ Traktanden durch die Mitglieder der Legislative. Die Autorin erklärt dies mit anderer Lebenserfahrung, Engagement, Aufmerksamkeit und Sachkunde der weiblichen Kongressmitglieder. Zum geschlechtsspezifischen Verhalten (Redeverhalten, Vorsitzverhalten) von Mitgliedern der ersten Kammer des Parlaments des Bundesstaates Colorado in den parlamentarischen Ausschüssen L. Kathlene, Power and influence in state legislative policymaking: The interaction of gender and position in committee hearing debates, American Political Science Review 88 (1994), 560–576; Kathlene, in: Duerst-Lahti/Kelly (Anm. 408); Kathlene, in: Thomas/Wilcox (Anm. 408). John M. Carey/Richard G. Niemi/Lynda W. Powell, Are Women State Legislators Different?, in: Thomas/Wilcox (Anm. 408), 87–102, fanden, dass in den frühen 1990er Jahren zwischen männlichen und weiblichen Mitgliedern der bundes402

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zum Ergebnis, dass sich männliche und weibliche Entscheidungsträger in ihrem Stil und in Bezug auf die von ihnen vertretenen inhaltlichen Positionen leicht unterscheiden. Allerdings erschwert das geschlechtsspezifische Verhalten von Frauen in Machtpositionen wiederum die direkte Ummünzung ihres integrativeren und kontextbezogeneren Ansatzes in politische Ergebnisse. Diese Befunde verleihen der Hypothese, dass die stärkere Beteiligung von Frauen an der Fortentwicklung des Völkerrechts dieses inhaltlich zugunsten von Frauenanliegen verändern wird, eine gewisse Plausibilität. Sie sprechen aber gleichzeitig gegen die Annahme einer Automatik. Eine solche automatische Übersetzung von weiblicher Beteiligung am Völkerrechtsprozess in Völkerrechtsinhalte ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil geschlechtsspezifische Kompetenzen ihrerseits gesellschaftlich geprägt werden und damit wandelbar sind. Bereits jetzt stellen empirische Untersuchungen zum Politikstil von Männern und Frauen fest, dass sich ihre Einstellungen mit der Zunahme weiblicher Parlamentarier und Regierungsmitglieder einander angenähert haben.407 Vor allem leisteten bei Überschreitung einer gewissen Größe des Frauenanteils männliche Mitglieder

staatlichen Parlamente statistisch signifikante Unterschiede u.a. in Bezug auf politische Positionen und Ideologie bestanden. 405 P. Norris, Women Politicians: Transforming Westminster?, Parliamentary Affairs 49 (1996), 89–102, machte eine schwache Gender-Differenz in Bezug auf den politischen Stil, die Prioritätensetzung und die inhaltlichen Positionen aus. Die Geschlechterunterschiede waren zwar schwächer als die parteipolitischen Differenzen, aber nachweisbar. Frauen pflegen stärker den individualisierten Kontakt zur Basis (im britischen Wahlkreissystem zu „ihrem“ Wahlkreis), engagieren sich stärker für Frauenthemen und allgemein in sozialen Angelegenheiten, sind tatsächlich pazifistischer in der Außen- und Verteidigungspolitik und insgesamt eher auf dem „linken“ Spektrum ihrer jeweiligen politischen Partei angesiedelt als ihre Parteigenossen. 406 H. Footit, Women, Europe, and the New Languages of Politics, London 2001. 407 Lovenduski (Anm. 105), 174 f. m.w.N. Interviews im Jahr 1991 mit parlamentarischen Führern in US-Bundesstaaten zeigten, dass Männer einen „weiblicheren“ Führungsstil angenommen haben, M. L. Whicker/M. Jewell, The Feminization of Leadership in State Legislatures, in: Thomas/Wilcox (Anm. 408), 163–174. Zur Konvergenz auch J. Barth, Gender and Gubernatorial Personality, Women & Politics 24 (2002), 63–82 (sozialpsychologische Studie der Motivation und der Nutzung von Macht durch Gouverneure in den USBundesstaaten). Diese beobachtete Konvergenz ist wohl nicht symmetrisch. Erfolgreiche Politikerinnen dürften sich weitgehender „vermännlicht“ als männliche Politiker „verweiblicht“ haben. „Until we reach a point where values associated with femininity are more universally valued in public life, women will continue to try to give up being feminine when they enter the world of international politics, for those who are the most successful are those who can best deny their femininity“, Tickner (Anm. 4), 141.

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in Institutionen typischerweise bewusst oder unbewusst Widerstand gegen „weibliche“ Diskussions- und Führungsstile sowie gegen Frauenthemen.408 Schließlich zeigen die empirischen Untersuchungen, dass die bloße Aufstockung der völkerrechtserzeugenden und -anwendenden Gremien von Institutionen mit Frauen nicht nur keine notwendige, sondern auch keine hinreichende Bedingung der inhaltlichen Veränderung des Völkerrechts ist. Völkerrechtliche Rechtsfortschritte zugunsten der Frauen sind nur über Sensibilisierung und Veränderung der politischen Kultur zu erreichen.

VIII. Fazit Der Überblick über die aktuelle Entwicklung einiger zentraler völkerrechtlicher Prinzipien, Institute und Teilgebiete hat gezeigt, dass in den letzten Jahrzehnten massive Fortschritte auf der Ebene der völkerrechtlichen Normen erreicht wurden. Vor allem die frauenfreundliche Entwicklung des internationalen Strafrechts und des Flüchtlingsrechts (hierzu oben Abschnitte D. VIII. und X.) ist eine Erfolgsstory, die nicht zuletzt durch feministische Wissenschaft und Lobbyarbeit ermöglicht wurde. Hier wurden nach Auffassung von Charlesworth und Chinkin die Grenzen des Völkerrechts (so der Titel ihres bahnbrechenden Werkes) neu gezogen. Die vielfältigen genderbezogenen Völkerrechtsansätze haben trotz einiger erheblicher theoretischer Schwächen diese Völkerrechtsfortschritte deutlich beeinflusst. Sie haben die spezifische Betroffenheit von Frauen durch das Völkerrecht, die Vernachlässigung von Frauenfragen durch das Völkerrecht und die Abwesenheit von Frauen im Völkerrechtsprozess erstmals sichtbar gemacht. Sie haben die Entwicklung zahlreicher Instrumente zur Bewältigung frauenspezifischer Probleme in allen Teilgebieten des Völkerrechts mit angestoßen. In manchen Völkerrechtsgebieten ist die Gender-Analyse noch unterentwickelt und könnte mit Erkenntnisgewinn vertieft werden, so vor allem im Welthandelsrecht. Die genderbezogenen Ansätze dürfen und sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts die Situation von Frauen auf der ganzen Welt in allen Lebensbereichen kontinuierlich, teilweise nur geringfügig,

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Vgl. z.B. L. Kathlene, Position Power versus Gender Power: Who Holds the Floor, in: G. Duerst-Lahti/R.M. Kelly (Hrsg.), Gender Power, Leadership, and Governance, 1995, 167–193 (189); L. Kathlene, In a Different Voice, in: S. Thomas/C. Wilcox (Hrsg.), Women and Elective Office – Past, Present, and Future, 1998, 188–202 (196) m.w.N.

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zum Teil jedoch dramatisch verbessert hat.409 Dies ist unter anderem der verbesserten Völkerrechtslage und der internationalen Politik geschuldet. Die Ausrichtung von immer mehr Staaten an immer mehr internationalen Normen und ihre Einbindung in internationale Institutionen hat sich messbar zugunsten von Frauen ausgewirkt.410 Letztlich hat das Völkerrecht (zum Teil aufgrund feministischer Anstöße) somit nachweislich Frauen mehr genützt als geschadet. Feministinnen haben immer wieder gefordert, dass mehr Frauen an der Erzeugung und Anwendung des Völkerrechts beteiligt werden. Die Erwartung, dass eine solche institutionelle und prozedurale Machtverschiebung – in Verbindung mit Änderungen der nationalen politischen Kultur und der Bewusstseinsbildung – die Inhalte des zukünftigen Völkerrechts mittelfristig verändern wird, scheint nach bisherigen empirischen Untersuchungen zur nationalen Rechtspolitik nicht ganz unbegründet. Allerdings zeichnet sich der noch nicht empirisch untersuchte Völkerrechtsprozess dadurch aus, dass die nationale oder regionale Zugehörigkeit die inhaltlichen Positionen relativ stark determiniert. Sofern das parteipolitische und nationale Bewusstsein die politischen und juristischen Wertungen der an der praktischen und theoretischen Bearbeitung des Völkerrechts beteiligten Frauen stärker beeinflusst als ihre die Geschlechteridentität und -perspektive, ist kaum zu erwarten, dass die Präsenz von Frauen zu einer spezifisch frauenfreundlichen Völkerrechtsentwicklung beiträgt. Auf der anderen Seite könnte, ungeachtet klischeehafter, mutmaßlicher spezifisch weiblicher Kompetenzen, die höhere Beteiligung von Frauen in den maßgeblichen Gremien jedenfalls mehr Diversität und damit eine größere Breite von Kompetenzen mit sich bringen. Damit ist bereits angedeutet, dass die Einbeziehung der Gender-Perspektive in die wissenschaftliche Disziplin des Völkerrechts nur als ein erster Schritt angesehen werden darf, der letztlich dazu führen soll, dass Gender als analytische Kategorie überwunden wird.411 Eine solche Überschreitung macht allerdings erst Sinn, nachdem die Geschlechterhierarchie und die Unterdrückung von Frauen eliminiert worden sind.

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Dies zeigt der Vergleich der Daten des UN-Human Development Report 1995, des Human Development Report 2004 und des Millenium Goals Report 2007. 410 Eine quantitative Studie über die Lebenssituation von Frauen in 180 Staaten über den Zeitraum von 1975–2000 zeigte, dass die Öffnung nationaler Kulturen für internationale Einflüsse sich positiv auf die Gesundheit, Schulbildung, Teilnahme am Wirtschaftsleben und die Teilnahme von Frauen in der Politik auswirkte. Nicht nur absolute Zugewinne von Frauen, sondern auch eine Angleichung an die Situation der Männer war nachweisbar, Gray/Caul Kittilson/Sandholtz (Anm. 328), 325–26. 411 Vgl. Tickner (Anm. 4), 130.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Martina Haedrich, Universität Jena Prof. Dr. Christine Langenfeld, Universität Göttingen Dr. Karin Oellers-Frahm, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg Prof. Dr. Anne Peters, Universität Basel Priv. Doz. Dr. Dagmar Richter, Universität Heidelberg, z. Zt. Universität Kiel Priv. Doz. Dr. Stefanie Schmahl, LL.M. (E), Universität Potsdam, z. Zt. Universität Regensburg Dr. Hanna Beate Schöpp-Schilling, Sachverständige im Vertragsausschuss des UN Übereinkommens für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), Direktor des Walther-SchückingInstituts für Internationales Recht, Universität Kiel