Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit: Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2002/03 und Sommersemester 2003 [1 ed.] 9783428517060, 9783428117062

Vorliegender Band ist das Ergebnis einer Vortragsreihe am Kieler Walther-Schücking-Institut, welche dort im Zeitraum Win

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Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit: Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2002/03 und Sommersemester 2003 [1 ed.]
 9783428517060, 9783428117062

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ANDREAS ZIMMERMANN (Hrsg.)

Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit

Veröffentlichungen des Walther-Schiicking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost D e l b r ü c k , R a i n e r und A n d r e a s

Hofmann

Zimmermann

Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

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Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel im Wintersemester 2002/03 und Sommersemester 2003

Herausgegeben von

Andreas Zimmermann unter Mitwirkung von Ursula E. Heinz

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-11706-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit Andreas Zimmermann

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Internationale Gerichtsbarkeit - Zur Geschichte ihrer Entstehung und der Haltung Deutschlands Jost Delbrück

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Deutschland und der Internationale Gerichtshof Carl-August Fleischhauer

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Deutschland und der Europäische Gerichtshof Siegbert Alber

45

Der Internationale Strafgerichtshof - Das Vermächtnis von Nürnberg Hans-Peter Kaul

71

Das Streitbeilegungssystem des Seerechtsübereinkommens Rüdiger Wolfrum

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Das Bundesverfassungsgericht und die internationale Gerichtsbarkeit Udo Di Fabio

Autorenverzeichnis

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Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit Von Andreas Zimmermann

A. Einleitung Vorliegender Band ist das Ergebnis einer Vortragsreihe am Kieler WaltherSchücking-Institut, welche dort im Zeitraum Wintersemester 2002/2003 bis Sommersemester 2003 abgehalten wurde. Das nach dem früheren deutschen Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof und ehemaligen Direktor benannte Institut hielt es für angezeigt, bei den derzeit an internationalen Gerichten tätigen deutschen Richtern beziehungsweise Generalanwälten nachzufragen, wie sie das Verhältnis Deutschlands zu „ihrem" Gericht sehen.1 Hinzu kamen Vorträge des früheren, langjährigen Direktors des Instituts Jost Delbrück zur Rolle des Deutschen Reiches bei der Herausbildung einer ständigen (Schieds-)Gerichtsbarkeit sowie - sozusagen aus der Binnenperspektive - eine Analyse der Rolle, welche die internationale Gerichtsbarkeit für das Bundesverfassungsgericht spielt (aus der Feder von Richter am Bundesverfassungsgericht Di Fabio)? Beide bilden eine gedankliche Klammer, welche die Beiträge zu den einzelnen Gerichtsinstanzen miteinander verknüpfen.

B. Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit im Lichte von Art. 24 Abs. 3 Grundgesetz Mit Art. 24 Abs. 3 enthält das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein klares Bekenntnis zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten 1

Vgl. dazu im Folgenden die Beiträge von Carl-August Fleischhauer zum Internationalen Gerichtshof (29 ff.), von Siegbert Alber zum Europäischen Gerichtshof (45 ff.), von Hans-Peter Kaul zum Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (71 ff.) sowie von Rüdiger Wolfrum zum Internationalen Seegerichtshof in Hamburg (87 ff.). 2 Dazu im Einzelnen Jost Delbrück, Internationale Gerichtsbarkeit - Zur Geschichte ihrer Entstehung und der Haltung Deutschlands, in diesem Band, 13 ff., sowie Udo Di Fabio, Das Bundesverfassungsgericht und die internationale Gerichtsbarkeit, in diesem Band, 107 ff.

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Andreas Zimmermann

durch internationale Gerichte. Damit wird die viel zitierte Völkerrechts- und Europafreundlichkeit des Grundgesetzes,3 so wie sie in materieller Hinsicht namentlich in den Art. 23,24 Abs. 1 und 2,25 und 26 GG zum Ausdruck kommt, auch in verfahrensrechtlicher Sicht konkretisiert. Ungeachtet der Frage, ob man den Internationalen Gerichtshof als eine Form der allgemeinen, umfassenden, obligatorischen, internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ansieht,4 mit der Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wäre, sich nach Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts dessen Jurisdiktion zu unterwerfen, 5 wird man mit Hermann Mosler - selbst von 1976 bis 1985 deutscher Richter am Internationalen Gerichtshof - davon auszugehen haben, dass eine zumindest teilweise und dementsprechend mit Vorbehalten versehene Unterwerfung den relativ höchsten Stellenwert unter den Maßnahmen hat, die zur Konkretisierung des Verfassungsprogramms dienen.6 Es ist in der Tat schwer verständlich - so wie dies Mosler bereits drei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung festgestellt hatte7 - warum Deutschland bislang keine solche Erklärung abgegeben hat, hat Deutschland doch ansonsten - und zwar auch bereits bevor es Mitglied in den Vereinten Nationen wurde - durchaus regen Gebrauch von der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes gemacht.8

C. Einbindung Deutschlands in die internationale Gerichtsbarkeit Die internationale Gerichtsbarkeit lässt sich beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Völkerrechts als ein Netz manchmal zwar dünner Spinnfaden charakterisieren, welches aber in seiner Gesamtheit durchaus tragfähig ist. Deutschland hat - wie die Beiträge in vorliegendem Band belegen - in vielfältiger 3

Der Begriff der Völkerrechtsfreundlichkeit wurde offenbar von BVerfGE 6,309 (362) geprägt. 4 Bejahend etwa C. D. Classen , in: H. v. Mangoldt/Ch. Starck/F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 2,4. Auflage 2000, Art. 24, Rdnr. 100 mit weiteren - auch ablehnenden - Hinweisen. Vgl. auch BVerfGE 55,349 (367), wo das Gericht ausführt, es fehle der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung weithin an institutionellen Vorkehrungen, etwa einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit. 5 Zur entsprechenden Praxis des Deutschen Reiches in der Zwischenkriegszeit siehe Delbrück, in diesem Band, 27. 6 H. Mosler, Das Grundgesetz und die internationale Streitschlichtung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 179, Rn. 37. 7 Ebd. 8 Im Einzelnen näher Fleischhauer, in diesem Band, 37 ff.

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Weise an der Ausgestaltung dieses Netzes mitgewirkt. Dazu gehört auch ein aktives Hinwirken auf die Lösung zwischenstaatlicher Streitigkeiten, an denen Deutschland beteiligt ist oder war, durch Ad-hoc-Schiedsgerichte 9 sowie die aktive Beteiligung bei der Schaffimg des OSZE-Streitschlichtungssystems. 10 Seit ihrem Beitritt zur EMRK und bis zum Inkrafttreten hatte die Bundesrepublik Deutschland ununterbrochen Unterwerfungserklärungen nach Art. 25 beziehungsweise 46 EMRK a.F. abgegeben und war auch der Versuchung widerstanden, nach dem aus der Sicht der damaligen Bundesregierung verfehlten Urteil in der Sache Öztürk n diese Erklärung nicht bruchlos zu verlängern 12 und hatte im Jahr 1995 auch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK ratifiziert. 13 Allerdings ist es zu bedauern, dass es die Bundesrepublik Deutschland bislang unterlassen hat, sich dem Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta mit seinem Überwachungsmechanismus anzuschließen.14 9

Vgl. dazu umfassend N. Wühler, Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland, 1985, passim. Vgl. aus der neueren Zeit etwa auch den Schiedsspruch vom 29. Juni 1990 des Schiedsgerichts nach der Sitzstaatsvereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL), in: International Law Reports, vol. 105, 1997, 1-74. 10 Dazu im Einzelnen K. Oellers-Frahm, The Arbitration Procedure Established by the Convention on Conciliation and Arbitration within the OSCE, in: L. Caflisch (Hrsg.), Règlement pacifique des différends entre Etats, 1998, 79-92; H. Steinberger , The Conciliation Procedure Established by the Convention on Conciliation and Arbitration within the OSCE, ebd., 67-77, sowie/. Kokott, Der Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE internationale Schiedsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: R. Lhotta (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, 1999, 253-270. H. Steinberger ist Schiedsrichter beim Schiedsgerichtshof der OSZE und zugleich dessen Vizepräsident, J. Kokott ist dort stellvertretende Schiedsrichterin. 11 öztürk v. Germany, judgment of 21 February 1984, Series A no. 73, § 54, abgedruckt in Europäische Grundrechte Zeitschrift 1985,62-74. 12 G. Nolte, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1986, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 48 (1988), 270 (293). 13 BGBl. 1995 II, 579 ff. Zu den Wirkungen der EMRK im deutschen Rechtsraum bereits R. Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, sowie A. Zimmermann, Germany, in: R. Blackburn/J. Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe - The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950-2000,2002, 335 ff. 14 Additional Protocol to the European Social Charter Providing for a System of Collective Complaints, ETS no. 158; vgl. dazu auch Α. Zimmermann , Protocol Amending the European Social Charter Providing for a System of Collective Complaints - Introductory Note, International Law Materials 34 (1995), 1453 ff.

Andreas Zimmermann

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Vielleicht das für die Bundesrepublik Deutschland praktisch wichtigste Gericht ist der Europäische Gerichtshof. 15 Ungeachtet mancher Schwierigkeiten hat auch das Bundesverfassungsgericht mittlerweile dessen Rolle als supranationales Gericht anerkannt;16 abzuwarten bleibt allerdings, ob sich das Bundesverfassungsgericht bei passender Gelegenheit auch dazu aufgerufen sehen wird, nach Art. 234 EG-Vertrag dem EuGH Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsbeziehungsweise künftig des Unionsrechts vorzulegen, so wie dies in der Vergangenheit bereits andere Verfassungsgerichte getan haben.17 Nürnberg war Sitz des von den Alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geschaffenen Internationalen Militärtribunals zur Aburteilung der Führungselite des verbrecherischen Naziregimes. Vor diesem Hintergrund war das Verhältnis Deutschlands zur internationalen Strafgerichtsbarkeit - wohl wenig überraschend - für geraume Zeit zumindest von einer Ambivalenz geprägt, bis sich dies zunächst im Kontext der Schaffung der beiden Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda und später deutlich akzentuierter im Zusammenhang mit der Schaffung des (ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes 18 änderte.19 Dementsprechend überrascht es wohl auch nicht, dass die Implementierung des Römischen Statuts in der Bundesrepublik Deutschland - und zwar sowohl was die Fragen der Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof als auch was die materielle Strafbarkeit der im Römischen Statut kodifizierten Völkerrechtsverbrechen anbelangt - als gelungen angesehen werden kann.

D. Deutschland als Sitz internationaler Gerichte Wie erwähnt war es Nürnberg, welches nach dem Zweiten Weltkrieg unfreiwillig Sitz eines internationalen Gerichts wurde - eine historische Bürde, mit welcher die Stadt Nürnberg in einem sehr positiven Sinne umzugehen versucht. So ist etwa zu erwähnen, dass die Stadt Nürnberg und der Freistaat Bayern während 15

Dazu näher Alber, in diesem Band, 45 ff. Dazu näher Di Fabio, in diesem Band, 107 ff. 17 Kaianke: EuGH (17.10.1995), Rs. C-450/93, Slg. 1995,1-3051; Marschall·. EuGH (11.10.1997) Rs. C-409/95, Slg. 1997,1-6363; Badeck u.a. : EuGH (28..03.2000), Rs. ΟΙ 58/97, Slg. 2000,1-1875; Österreichischer Rundfunk u.a. : EuGH (20.05.2003), Rs. C465/00, Slg. 2003,1-4989. 18 Dazu näher Kaul (in diesem Band), 71 ff. 19 Zu den Hintergründen und Umständen im Einzelnen siehe A. Zimmermann, Role and Function of International Criminal Law in the International System after the Entry into Force of the Rome Statute of the International Criminal Court, German Yearbook of International Law (GYIL), vol. 45 (2002), 35 ff. (49 ff). ,6

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der Verhandlungen zur Erarbeitung des Römischen Statuts an die Bundesregierung mit der Bitte herangetreten waren, diese möge eine Kandidatur Nürnbergs als Sitz des zukünftigen Strafgerichtshofes unterstützen.20 Ein solches Vorhaben hätte aber wohl von vorne herein wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, war doch nur wenige Jahre zuvor die Freie und Hansestadt Hamburg bereits als Standort des Internationalen Seegerichtshofes auserkoren worden.21 Ungeachtet mancher Schwierigkeiten bei der Aushandlung des Sitzstaatsübereinkommens zwischen dem Gerichtshof und der Bundesrepublik Deutschland22 kommt hierin - und nicht zuletzt in dem eindrucksvollen Gebäude des Gerichtshofes - die Bedeutung zum Ausdruck, welche die Bundesrepublik Deutschland der Internationalen Gerichtsbarkeit zumisst und welche Rolle umgekehrt Deutschland insoweit spielt.

E. Deutsche Richter bei Internationalen Gerichtshöfen Derzeit ist Deutschland bei allen wesentlichen internationalen Gerichtshöfen sieht man einmal von dem Strafgericht für Ruanda ab - mit deutschen Richterinnen und Richtern vertreten, so namentlich beim Seegerichtshof, dem Internationalen Gerichtshof, beim Ad-hoc-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien sowie beim (ständigen) Internationalen Strafgerichtshof. Sieht man einmal von denjenigen Institutionen ab, bei denen jede Vertragspartei automatisch einen Richter stellt, so lässt sich wohl sagen, dass eine solche Entwicklung zumindest noch vor einiger Zeit undenkbar erschien. Zugleich fällt auf, wie vielfältig die einzelnen Richterpersönlichkeiten sind von ehemaligen Beamten des Auswärtigen Amtes über ehemalige Richter des Bundesgerichtshofes bis hin zu Professoren - eine Vielfalt, die auch in der Art der Vorträge zum Ausdruck kam, die sie jeweils am Kieler Walther-Schücking-Institut gehalten haben und die vorliegend dokumentiert werden.

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Vgl. A. Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes - Perspektiven und Probleme vor der Staatenkonferenz in Rom, ZaöRV 58 (1998), 47 ff. (105 f.). 21 Vgl. Art. 1 Abs. 2 Annex IV der Seerechtskonvention. 22 Dazu näher D. Schneider-Addae-Mensah , Privileges and Immunities under the Law of the Sea Convention, Legal Basis, Relevance in Practice, Comparison to the United Nations, GYIL, vol. 45 (2002), 395 ff. (400).

Internationale Gerichtsbarkeit - Zur Geschichte ihrer Entstehung und der Haltung Deutschlands Von Jost Delbrück

Einführung In seiner Allgemeinen Staatslehre hat Roman Herzog dem Sinne nach ausgeführt, dass sich der Grad der Reife eines politischen Gemeinwesens daran ablesen lässt, in welchem Maße die Anwendung physischen Zwanges zur Rechtsdurchsetzung minimiert und die Rechtsbefolgung mit nicht gewaltsamen Mitteln maximiert wird.1 Im Kern lässt sich diese Erkenntnis auch auf das internationale System übertragen, insbesondere in der Gegenwart, in der sich das internationale System immer stärker zu einem politischen Gemeinwesen integriert und sich zunehmend auch konstitutionalisiert. Die Entwicklung einer Kultur der Rechtsbefolgung und Rechtsdurchsetzung, mit anderen Worten der Eintritt der Gesellschaft in den Stand einer rechtlich verfassten bürgerlichen Ordnung im Sinne Kants, die mit der Wende vom späten Mittelalter zur Neuzeit in den entstehenden Territorialstaaten einsetzte, war ein langwieriger und schwieriger Prozess. Ein wesentliches Element der inneren Befriedung bildete die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols oder - anders gewendet - die Beseitigung der Privatfehde als Instrument der Rechtsdurchsetzung und Konfliktlösimg. Da jedoch das Verbot der Fehde, d.h. das Verbot, das„Recht in die eigenen Hände zu nehmen", nicht zugleich auch die der individuellen gewaltsamen Rechtsdurchsetzung zugrundeliegenden Konflikte beseitigt, musste ein solches Verbot mit dem Angebot alternativer, friedlicher Streitbeilegungsmechanismen, vorzugsweise in Gestalt geordneter gerichtlicher Verfahren, verbunden sein. Hinzu kommen musste dann aber auch, dass die gerichtlichen Entscheidungen gegebenenfalls durch die staatliche Zwangsgewalt durchgesetzt werden konnten. Ein historischer Beleg für diese Verbindung von Gewaltverbot und Eröffnung gerichtlicher Streitbeilegung ist die Verkündung des „Ewigen Landfriedens" und die Errichtung des Reichskammergerichts während des Wormser Reichstages von 1495. Es dauerte gut drei Jahrhunderte, bis sich der 1

Siehe dazu näher Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, 160 ff.

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moderne Staat als Inhaber des Gewaltmonopols weitgehend durchgesetzt und sich das gerichtliche Streitbeilegungsverfahren als Kernstück einer rechtsstaatlichen Ordnung etabliert hatte.2 International haben wir heute in einem analogen Prozess eineinhalb Jahrhunderte zurückgelegt. Diesen völkerrechtlichen und politischen Prozess gilt es im Folgenden in der Periode zwischen 1850 und dem Beginn des 2. Weltkrieges nachzuzeichnen, wobei besonderes Augenmerk auf die Haltung Deutschlands gegenüber der Entwicklung internationaler gerichtlicher Streitbeilegung gerichtet werden soll. In einem ersten Schritt ist auf den wichtigen Beitrag der Friedensbewegung - modern gesprochen der Vertreter des Gedankens einer internationalen Zivilgesellschaft - des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu diesem Prozess einzugehen (Α.). Sodann ist auf der zwischenstaatlichen Ebene die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmende Bereitschaft der Staaten nachzuzeichnen, internationale Konflikte im Wege schiedsgerichtlicher oder anderer friedlicher Streitbeilegungsmechanismen zu lösen (B.). In einem dritten Abschnitt ist schließlich auf die in diesem Kontext relevanten Ergebnisse der Haager Konferenzen von 1899 und 1907 (C.) sowie die Errichtung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofes nach dem Ende des 1. Weltkrieges näher einzugehen (D.).

A. Internationale friedliche Streitbeilegung und die internationale Friedensbewegung 1. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert hatte es Überlegungen und Pläne gegeben, die den Krieg als Mittel zwischenstaatlicher Konflikte prinzipiell in Frage stellten. Zu erinnern ist hier u.a. an William Penn und den Abbé de St. Pierre, die beide ihren Friedensplänen auch Vorschläge für die Etablierung des Schiedsverfahrens als Konfliktregelungsinstrument beifügten. Noch heute von größter Bedeutung ist Immanuel Kant, dessen Schrift zum Ewigen Frieden in der heutigen friedenswissenschaftlichen und völkerrechtlichen Literatur eine geradezu erstaunliche Renaissance erlebt (und bei manchen einstmals gläubigen radikal Linken Karl Marx verdrängt hat). Von politisch-praktischer Bedeutung wurde die bis dahin theoretische Kritik am Krieg als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktlösung erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die - im Ergebnis erfolglosen - Initiativen des Zaren Alexander I. (1816), des Kaisers Napoleon III. (1863) und des Zaren Nikolaus II. (1898) zielten auf eine umfassende Abrüstung der Staaten. Dagegen richte2

Zum Vorstehenden vgl. Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage 1987, 129 ff.

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ten sich die Anstrengungen der europäischen Friedensbewegung, die starke Impulse durch die amerikanische Friedensbewegung (American Peace Society) und die britische Friedensbewegung (Peace Societies) erhielt, zunächst auf eine Humanisierung des Krieges durch ein Verbot besonders grausamer Waffen und Regelungen zum Schutze der Verwundeten und der Zivilbevölkerung. Die durch die rasante Entwicklung der Waffentechnologie immer verheerenderen Wirkungen des Krieges sollten „eingehegt" werden. Trotz unleugbarer Erfolge bei der Entwicklung des humanitären Völkerrechts konnte dieser Ansatz namentlich die deutsche Friedensbewegung letztlich nicht befriedigen. Die bloße „Einhegung" der Kriegswirkungen durch das ius in bello erschien als Gefahr, dass die Staaten bei einer Mäßigung der Auswirkungen des Krieges diesen als eher führbar ansehen könnten. Das ius in bello erschien so als geradezu kontraproduktiv. Die Forderung der Friedensbewegung musste deshalb konsequenter Weise auf die prinzipielle Illegalisierung des Krieges gerichtet sein. Das hieß nun aber auch, dass - wie im innerstaatlichen Bereich - ein Kriegsverbot durch die Schaffung friedlicher Formen der Streitbeilegung ergänzt werden müsste.3 2. Foren, auf denen sich die internationale Friedensbewegung artikulierte, waren ab 1848 verschiedene Friedenskongresse mit zunächst allerdings nur spärlicher deutscher Beteiligung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die deutsche Friedensbewegung eine erste Blütezeit. Auslöser des verstärkten Engagements der deutschen Kritiker am Krieg als Instrument zwischenstaatlicher Auseinandersetzung war der Aufsehen erregende Roman Bertha von Suttners „Die Waffen nieder". Zusammen mit Alfred H. Fried gründete sie 1891 die österreichische Friedensgesellschaft. Fried wiederum gründete 1892 die deutsche Friedensgesellschaft, in deren Rahmen er - zusammen mit Walther Schücking - der deutschen und mitteleuropäischen Friedensbewegung eine neue Richtung gab, die sich deutlich von den rein ethisch-religiös motivierten amerikanischen und britischen Friedensgesellschaften abhob. Fried zielte auf einen pragmatisch-realistischen, theoretisch fundierten Pazifismus, einen wissenschaftlichen Pazifismus, dessen Vision der Zusammenschluss der Kulturstaaten bildete. In diesem Ansatz traf er sich mit Schücking und dessen völkerrechtlich ausgerichteter Vorstellung von der „Organisation der Welt" - so der Titel der programmatischen Schrift Schückings aus dem Jahre 1908. Viel versprechende Ansätze zur Umsetzung

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Zum Vorstehenden siehe ausführlich Frank Bodendiek, Waither Schückings Konzeption der internationalen Ordnung, 2001, 24 ff.; ferner Jost Delbrück in: ders. (Hrsg.), Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten, Bd. 1,1984,7 ff.; auch Jacob Ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation 1300 bis 1800, 1917.

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dieser Vorstellungen sah namentlich Schücking in der Schaffimg des Internationalen Schiedshofs durch die Haager Konferenzen von 1899 und 1907.4 Trotz dieser Wendung der deutschen Friedensbewegung hin zu einem pragmatisch-realistischen Kurs stieß sie in der deutschen Öffentlichkeit, d.h. in der vorherrschenden politischen Klasse und auch in der Völkerrechtswissenschaft, auf weitgehende Ablehnung, wenngleich - wie zu zeigen sein wird - die deutsche Regierung auf den Haager Konferenzen sich verhalten positiv zum Projekt einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit einließ. Zu erwähnen ist noch, dass sich die im Jahr 1891 gegründete „Interparlamentarische Union" unter deutscher Beteiligung für den Gedanken internationaler Schiedsgerichtsbarkeit einsetzte.5 Als Fazit dieser ersten Überlegungen ist festzuhalten, dass die Friedensbewegung - auch in Deutschland - trotz aller Widerstände insoweit fruchtbare Impulse gegeben hat, als zum einen für die Öffentlichkeit die Gründe fur eine prinzipielle Infragestellung des Kriegs als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktlösung deutlich geworden sind und zum anderen konkret die Notwendigkeit der Ergänzung des Kriegsverbotes durch friedliche Streitbeilegungsmechanismen mit der Schaffimg des Internationalen Schiedshofes auch auf der Ebene der Staaten Anerkennung gefunden hat.

B. Schiedsgerichtsbarkeit und andere Formen friedlicher Streitbeilegung in der Staatenpraxis im 19. Jahrhundert 1. Obwohl sich die Anwendung von Verfahren der Streitbeilegung, die denen moderner Schiedsgerichtsbarkeit ähneln, bis in die frühe Antike nachweisen lässt, so besteht in der völkerrechtshistorischen Forschung doch wohl Einigkeit darin, dass die moderne internationale Schiedsgerichtsbarkeit sehr viel jüngeren Datums ist. Folgt man der Legaldefmition internationaler Schiedsgerichtsbarkeit in Art. 37 der Haager Konvention über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten von 1907, so ist heute diese Gerichtsbarkeit dahin zu verstehen, dass „[international arbitration has for its object the settlement of disputes between States by judges of their own choice and on the basis of respect for law. Recourse to arbitration implies an engagement to submit in good faith to the award." Internationale Schiedsgerichtsbarkeit setzt also unabhängige souveräne Staaten und die Existenz objektiver Rechtsregeln voraus. Diese Bedingungen sind aber erst im neuzeitlichen internationalen System, also nach dem Westfälischen Frieden von 1648 und der darin 4 5

Siehe dazu ausführlich Bodendiek (Anm. 3), 27 ff. und 88 f. Dazu näher Bodendiek (Anm. 3), 27 m.w.N.

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begründeten einzelstaatlichen Souveränität, grundgelegt und dann voll entfaltet worden.6 Die Entwicklung moderner internationaler Schiedsgerichtsbarkeit in diesem Sinne begann in den amerikanisch-britischen internationalen Rechtsbeziehungen. Hier ist auf den großen Einfluss des Jay-Vertrages zwischen den USA und Großbritannien von 1794 auf diese Entwicklung hinzuweisen, dessen Schiedsklauseln das Modell für eine Vielzahl von entsprechenden Verträgen zwischen den USA und mehreren lateinamerikanischen Staaten und später auch zwischen europäischen Staaten im 19. Jahrhundert bildete. Streitbeilegung durch Schiedsverfahren wurde namentlich in mehreren bedeutenden multilateralen Verträgen - so in der Kongo-Akte von 1885 und in der Anti-Sklaverei-Akte von 1890 vereinbart. Die Satzung des Weltpostvereins von 1874 sah sogar schon eine obligatorische Streitbeilegung durch Schiedsverfahren vor. Hervorzuheben ist, dass das Deutsche Reich Partei dieser Verträge war. Großen Einfluss auf die Haltung der Staaten zur schiedsgerichtlichen Streitbeilegung hatten mehrere erfolgreich abgeschlossene Schiedsverfahren, so das i4/a6ama-Schiedsverfahren, das 1872 Streitigkeiten zwischen den USA und Großbritannien bereinigte, die auf den fast einhundert Jahre zurückliegenden amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zurückgingen. Weitere erfolgreiche Schiedsverfahren, die zur positiven Einschätzung dieses Verfahrens seitens der Staaten beitrugen, waren das Delagoa BaySchiedsverfahren (Großbritannien v. Portugal - 1875), das erste Behring SeaSchiedsverfahren (USA v. Großbritannien - 1893) und das Costa Rica PacketSchiedsverfahren (Großbritannien v. Niederlande - 1897). Auch mehrere europäische Parlamente folgten dem Beispiel des US-Senats und sprachen sich für die Aufnahme von Schiedsklauseln in Verträge aus, so Großbritannien, Italien, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Österreich-Ungarn und Norwegen, wobei in einigen Verträgen die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit vorgesehen wurde (z.B. Dänemark).7 Das deutsche Reich vermisst man in dieser Liste, allerdings finden sich auch in der späteren deutschen bilateralen Vertragspraxis nach der 1. Haager Konferenz Beispiele für die Vereinbarung von Schiedsklauseln. Wie bereits erwähnt, setzte sich die 1892 gegründete Interparlamentarische Union für die Anwendung von Schiedsverfahren als Streitbeilegungsinstrument ebenso ein wie die Association for the Reform and Codification of the Law of Nations (seit 1895 International Law Association) und das Institut de Droit 6

Dazu Hans-Jürgen Schlochauer , Arbitration, in: Rudolf Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law (EPIL), vol. I, 1992, 215 ff. (218), dort auch umfangreiche bibliographische Angaben zur Literatur, 228 ff. 7 Siehe dazu die Hinweise bei Alfred H. Fried, Die zweite Haager Konferenz - Ihre Arbeiten, Ergebnisse und Bedeutung, 1907, 31.

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International.8 Der Boden für das Projekt der Institutionalisierung der Schiedsgerichtsbarkeit, das auf die Agenda der Haager Konferenz von 1899 gesetzt wurde, war also in der Staatspraxis und in der Völkerrechtswissenschaft gut vorbereitet. 2. Im Völkerrecht unterscheiden wir judiziäre und nicht-judiziäre Streitbeilegungsmechanismen. Zu den letzteren gehören neben der Verhandlung die Vermittlung, der Vergleich und die Untersuchung (negotiation, mediation, conciliation and fact finding). Unter diesen ist die Untersuchung von besonderem Interesse. Dieses als selbstverständlich und zugleich unverfänglich erscheinende Verfahren ist bis heute in der Praxis nicht sonderlich beliebt. Der Grund ist, dass die Untersuchung vor Ort häufig einen nicht unerheblichen Eingriff in die Souveränität der Staaten bedeutet. Wichtiger aber ist, dass die erfolgreich durchgeführte Untersuchung ein „scharfes Schwert" ist: Sind nämlich die einem Konflikt zugrunde liegenden Fakten erst einmal aufgeklärt, so ist die daraus abzuleitende rechtliche Würdigung nicht selten eine klare Sache. Wird etwa der Verlauf einer Grenze in einem Vertrag an geophysikalischen Gegebenheiten orientiert, so bestimmt deren wissenschaftlicher Nachweis zugleich auch den Grenzverlauf (Temple Case, Namibia Case).9 Es spricht ebenfalls für die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert recht positive Einstellung der Staaten zu Verfahren friedlicher Streitbeilegung, dass - wie im sog. Dogger Bank-Fall (1904) - Großmächte wie Großbritannien und Russland sich des „fact finding"-Verfahrens zur Beilegung des zwischen ihnen durch den Dogger i^a^-Zwischenfall entstandenen Streites bedienten.10

C. Die Haager Konferenzen von 1899/1907 und die Errichtung des Ständigen Internationalen Schiedshofes Wendet man sich den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 und deren Beitrag zur Entwicklung judiziärer Streitbeilegung zu, so muss nun allerdings das 8

Zum Vorstehenden siehe Schlochauer (Anm. 6), 218 f. Temple ofPreah Vihear Case (Cambodia ν. Thailand), ICJ Reports 1962,6 ff.; Kasikili/Sedudu Island Case (Botswana v. Namibia), ICJ Reports 1999, 1045 ff. 10 Zum Dogger Bank-Fall siehe zusammenfassend Peter Schneider, Dogger Bank Incident, in: EPIL, vol. IV, 1992, 1090; Alfried Κ Fried spricht in seiner Arbeit über die 2. Haager Konferenz davon, dass die Einrichtung des Untersuchungsverfahrens im Dogger Bank-¥d\\ „ihre Probe ... glänzend bestanden" habe, Fried (Anm. 7), 6. 9

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zuvor gezeichnete Bild von der doch bemerkenswerten Bereitschaft auch der Großmächte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zur Entwicklung und Anwendung von Instrumenten derfriedlichen Streitbeilegung im Hinblick auf die politische Gesamtsituation der damaligen Zeit erheblich relativiert werden. Es ist deshalb an dieser Stelle notwendig, in einem ersten kurzen Unterabschnitt in groben Strichen auf die politische Lage der damaligen Zeit einzugehen. Erst dann kann im Einzelnen auf die Leistungen und das teilweise Scheitern der Haager Konferenzen und die daraus folgenden Konsequenzen für die weitere Entwicklung des großen Projektes der Zivilisierung der internationalen Gemeinschaft durch eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen näher eingegangen werden. 1. Die Forderung nach der Abhaltung einer umfassenden Staatenkonferenz zur Sicherung des Weltfriedens war - wie gezeigt - ein Kernanliegen der Friedensbewegung. Die Motive auf Seiten der Staaten, sich auf eine solche Konferenz einzulassen, waren jedoch nur bedingt identisch mit denen der Friedensbewegung. Gewiss gab es auch unter den damaligen Staaten den Wunsch, kriegerische Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden, der sich auch in der Agenda der beiden Haager Konferenzen ebenso niederschlug wie in der Tatsache, dass eine Weltfriedenskonferenz als präventive Maßnahme einberufen wurde und nicht wie in der Vergangenheit - als Abschluss eines vorangegangenen Krieges. Keinesfalls aber teilten die damaligen Staaten und große Teile der Öffentlichkeit die Vorstellung der Friedensbewegung, dass der Krieg als Mittel der Politik als solcher verboten werden sollte. Recht typisch für die dominante Vorstellung auf der Ebene der Staaten ist eine Äußerung, die Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke in einem Brief vom 11.12.1880 an den liberalen Völkerrechtler Bluntschli machte, dass nämlich „der ewige Friede ein Traum [ist], und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen." Ähnliche Ausführungen mit zugleich sozial-darwinistischer Prägung waren nicht selten, die den Krieg als Ausleseprinzip und die Ermittlung der überlebensfähigsten Völker hochstilisierten. So ist es einerseits erstaunlich, dass das politische Drängen der Friedensbewegung auf Einberufung einer Weltfriedenskonferenz trotz der diese Bewegung ablehnenden veröffentlichten Meinung und der Kritik an deren Vorstellungen dennoch ein wichtiger Faktor für das Zustandekommen der ersten und dann auch noch der Zweiten Haager Konferenz wurde. Andererseits überrascht es nicht, dass die erfolgreichsten Ergebnisse der Konferenzen auf den Teil der Agenda entfielen, die sich mit der Humanisierung des Krieges, also mit dem ius in bello , befasste. Obwohl die immer drückender

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werdenden Rüstungskosten auch ein starkes Motiv der Staaten waren, sich an den Konferenzen zu beteiligen, blieben Erfolge auf dem Gebiet einer weitreichenden Abrüstung insgesamt aus. Hier standen sich unvereinbare politische und ideologische Positionen gegenüber: auf der einen Seite nicht-pazifistische, jedoch mäßigende Parteigänger einer die Rüstungskosten senkenden Abrüstung und die militaristischen Gegner jedweder Abrüstung auf der anderen Seite, Positionen, die kennzeichnend in Reden des holländischen und des deutschen Vertreters zum Ausdruck kamen. Der erste erklärte: ,Also Heer und Marine sind unentbehrlich, aber man darf das nicht übertreiben ... In dem Maß, in welchem die Heere wachsen, die Militärbudgets Milliarden verschlingen und die Bevölkerung erdrückt wird unter der Last der Abgaben, in demselben Maß nähern sich die Staaten dem Rand des Abgrunds".11 Dagegen der deutsche Vertreter Oberst Groß von Schwarzhoff, der sagte, dass das deutsche Volk sich keineswegs von der Last der Steuern erdrückt fühle und sich nicht „am Rande des Abgrunds" befinde. Die Wehrpflicht betrachte der Deutsche 99nicht als eine drückende Last, sondern als eine heilige und vaterländische Pflicht". Zusammenfassend erklärte Schwarzhoff. „Der Stand der öffentlichen Bildung, die Dauer der aktiven Wehrpflicht..., die Präsenzstärke der Truppeneinheiten, die Zahl und Dauer der Einberufung unter die Fahne, d.h. die Wehrpflicht der gedienten Soldaten, die örtliche Verteilung der Truppenkörper, das Eisenbahnnetz, die Zahl und Lage der befestigten Plätze" hängen im modernen Heer zusammen und „bilden in einer Totalität die nationale Verteidigung". All dieses könne nicht gegeneinander aufgerechnet und zum Inhalt eines völkerrechtlichen Abkommens gemacht werden.12 Vor dem hier skizzierten politisch äußerst problematischen Hintergrund sind die - für sich gesehen bedeutsamen - Ergebnisse der Haager Konferenzen auf dem Gebiet der friedlichen Streitbeilegung zu sehen. Die parallel zu den Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung und das ius in bello verlaufenden Arbeiten an den Instrumenten der friedlichen Streitbeilegung wurden von den ersteren überschattet und fanden in der Öffentlichkeit wenig Beachtung - wie überhaupt das öffentliche Interesse an den Haager Konferenzen gering war, wie Fried im Vorwort seines Werkes über die zweite Haager Konferenz bedauernd feststellte, was auch mit der vor allem während der ersten Haager Konferenz geringen Öffentlichkeit der Verhandlungen zusammenhing.13 Auf diefriedensrechtlichen Arbeiten der Haager Konferenzen ist nun näher einzugehen. 11

Zitiert aus Christian Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, Bd. 2, 1907, 589. Zitiert aus Meurer (Anm. 11), 595; zum Ganzen Eberhard Menzel, Die amerikanischen und sowjetischen Vorschläge für eine allgemeine und vollständige Abrüstung und die Atomsperrverträge bis 1967, 1967,10 ff. 13 Fried (Anm. 7), III ff. 12

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2. Die erste Haager Konferenz trat auf russische Initiative am 18. Mai 1899 zusammen und endete am 29. Juli mit der Unterzeichnimg der Schlussakte durch die 26 teilnehmenden Staaten. Neben der Annahme der Konvention über die Gebräuche der Landkriegsführung - im Jargon Haager Landkriegsordnung (HKLO) - verabschiedete die Konferenz die in diesem Kontext allein wichtige Konvention zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte. Diese Konvention, die von allen Konferenzstaaten unterzeichnet und später auch ratifiziert wurde, behandelt in vier Teilen die folgenden Sachbereiche: 1. Erhaltung des allgemeinen Friedens (Art. 1), 2. Gute Dienste und Vermittlung (Art. 2-7), 3. Internationale Untersuchungskommissionen (Art. 9-14) und als wichtigsten Teil 4. Internationale Schiedssprechung mit 3 Unterabschnitten, überschrieben mit „Internationale Schiedssprechung" (Art. 15-19), „Ständiger Schiedshof 4 (Art. 20-29) und „Schiedsverfahren" (Art. 30-57). Der programmatische Art. 1 der Konvention stellt den Zusammenhang zwischen Minimierung zwischenstaatlicher Gewaltanwendung und Sicherung der Anwendung von Verfahren der friedlichen Streitbeilegung her, sieht jedoch - wie angesichts der gesamtpolitischen Lage nicht anders zu erwarten - von einem Gewaltverbot ab. Die in den Art. 2-14 behandelten Verfahren nicht-judiziärer Streitbeilegung sind hier von geringerem Interesse. Zu betonen ist aber, dass insbesondere die internationalen Untersuchungskommissionen - in einem eigenen Teil hervorgehoben - in der Folgezeit eine wichtige Rolle spielten (siehe Dogger Bank-Fall). Der vierte Teil mit den Regelungen der Schiedsjustiz bildet das innovative Kernstück der Konvention, lässt jedoch bereits die Grenzen des internationalen Konsenses im Hinblick auf eine effektive judiziäre Streitbeilegung deutlich werden. Zwar erklärt Art. 16 das Schiedsverfahren als für Streitigkeiten juristischer Natur und für Fragen der Auslegung von Verträgen als das „wirksamste und zugleich der Billigkeit am meisten entsprechende Mittel". Doch wird das obligatorische Schiedsverfahren nicht generell festgelegt. In Art. 19 behalten sich die Vertragsparteien lediglich vor, ein solches Obligatorium in individuell abzuschließenden Verträgen für geeignete Fälle oder Fallgruppen vorzusehen. Obwohl von Großbritannien und namentlich von den USA auf eine allgemeine Festlegung des obligatorischen Schiedsverfahrens nachdrücklich gedrängt wurde, konnte - unter maßgeblichem Einfluss der deutschen Delegation - ein entsprechender Konsens nicht hergestellt werden.14 Auch hinter dem in den Art. 20 ff. vorgesehenen „Permanent Court of Arbitration" (Haager Schiedshof) verbirgt sich weit weniger, als der Name der Institution zu versprechen scheint. Denn bei genauem Zusehen wird klar, dass es sich bei dem zu errichtenden Schiedsgericht 14

Vgl. dazu ausführlich Meurer (Anm. 11), Bd. 1,1905,177 ff.

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weder um eine ständige Einrichtung noch um ein Gericht, besetzt mit bestimmten, unabhängigen Richtern, handelt. Vielmehr sieht Art. 23 vor, dass die Vertragsstaaten innerhalb von drei Monaten nach Ratifikation der Konvention bis zu vier Personen benennen sollen, die anerkannte völkerrechtliche Kompetenz besitzen sowie höchste moralische Reputation genießen und bereit sind, als Schiedsrichter zu dienen. Diese Personen sollen sodann als Mitglieder des Schiedshofes in eine Liste aufgenommen werden, die von dem Sekretariat des Schiedshofes den Vertragsstaaten übermittelt werden soll. Dieses Sekretariat bildet das einzige institutionelle Element des Schiedshofes. Soll ein Schiedsverfahren eingeleitet werden, müssen die Streitparteien die Schiedsrichter aus der Liste wählen, die dann das Schiedsgericht für diesen Streit bilden. Das durch die Konvention geschaffene Schiedsverfahrenssystem ist also von der Konzeption eines ständigen Gerichts weit entfernt und erleichtert lediglich die Berufung eines Ad-hoc-Schiedsgerichts, unterscheidet sich jedoch im übrigen wenig von aufgrund anderer Verträge vorgesehenen schiedsgerichtlichen Streitbeilegungsinstrumenten. Dennoch wurde das Ergebnis der ersten Haager Konferenz nicht nur von den teilnehmenden Staaten als im Ansatz positiv eingestuft. Zugleich war aber auch allen Teilnehmerstaaten klar, dass gerade im Bereich judiziärer Streitbeilegung vieles offen geblieben oder nur unvollkommen geregelt war. So wurde schon am Ende der ersten Haager Konferenz von einzelnen Delegierten der Wunsch und die Hoffnung geäußert, dass es alsbald eine weitere Konferenz geben solle, die das Werk vom Haag weiterführen könnte. Und auch aus den Kreisen der Friedensbewegung wurde alsbald nach der ersten Konferenz für die Abhaltung einer Folgekonferenz geworben. Die DC. Interparlamentarische Konferenz fasste schon 1899 eine entsprechende Resolution und die Kongresse der Friedensgesellschaften in Paris (1900), Glasgow (1901), Monaco (1902) und Rouen (1903) schlossen sich dieser Forderung an. Der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges von 1904 war dann der Anlass für die Friedensgesellschaften, nicht nur heftige Kritik an dem Unvermögen der Haager Vertragsmächte zu üben, die es nicht vermocht hatten, diesen Krieg zu verhindern, sondern sie verstärkten nun auf ihrem Kongress in St. Louis den Druck, eine weitere Konferenz im Haag einzuberufen. 15 Dieser Aufruf fand die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt , der zusagte, sich für die Einberufung einer zweiten Konferenz im Haag einzusetzen. Die folgenden diplomatischen Kontaktnahmen wurden von der russischen und auch von der britischen Regierung aufgegriffen, so dass es schließlich gelang, eine Einigung auf die Einberufung der zweiten Haager Konferenz im Juli 1907 herbeizuführen. 15

Dazu Fried (Anm. 7), 11 ff.

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3. Am 15. Juli 1907 traten die Delegierten von nunmehr 46 Staaten zur zweiten Haager Konferenz zusammen. Neben der Fortführung der Kodifikation des ius in bello , insbesondere im Bereich des Seekriegsrechts, bildete die Überarbeitung der Konvention über die friedliche Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte die Hauptaufgabe der Konferenz. Ziel war die Einfügung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit in die Konvention, die auf der ersten Konferenz gescheitert war. Darüber hinaus sollte ein ständiger internationaler Gerichtshof gebildet werden, der aus 15 unabhängigen Richtern bestehen und - anders als der Schiedshof permanent anrufbar sein sollte. Eine weitere Komponente der Stärkung internationaler Gerichtsbarkeit sollte schließlich die Errichtung eines internationalen Oberprisengerichtshofes bilden, der ebenfalls aus 15 unabhängigen Richtern bestehen sollte. Dies war ein äußerst anspruchsvolles Programm und barg nach den Erfahrungen der ersten Konferenz erhebliches Konfliktpotential: zum einen die Forderung nach einer allgemeinen obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit und zum andern die Bildung internationaler Gerichte mit begrenzter Richterzahl. Das Ergebnis der Beratungen zu dem letzten Punkt sei hier vorweg genommen. Die von den USA vorgeschlagene Lösung für die Besetzung der 15 Richterstellen, die feste Sitze für die Großmächte und ein Rotationssystem für die verbleibenden Sitze vorsah, scheiterte an dem heftigen Widerstand der kleinen und mittleren Staaten. Somit endete die zweite Konferenz in diesem Punkt mit der Ausarbeitung und mehrheitlichen Annahme eines Vertragsentwurfes für die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes, der aber niemals umgesetzt wurde. Auch das Projekt eines Oberprisengerichtshofes scheiterte an der Besetzungsfrage. Zu erwähnen ist, dass sich Deutschland - zur Überraschung der Konferenzteilnehmer - für die Errichtung namentlich des Prisengerichtshofes einsetzte.16 Diese positive Haltung hatte ihren Grund darin, dass kein generelles Obligatorium vorgesehen werden sollte.17 Den Kern der Auseinandersetzungen bildete aber die Frage der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit.18 Das Obligatorium sollte in die zu revidierende Konvention über diefriedliche Streitbeilegung eingefügt werden. Hauptprotagonisten dieses Vorschlags waren die USA und Großbritannien. In den Unterkommissionen wurden zahlreiche Entwürfe für die Formulierung der Artikel zu obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit vorgelegt und intensiv diskutiert. Im Zuge dieser Diskussionen gelang es, eine große Mehrheit der Staaten für das Obligatorium zu gewinnen. 16

Siehe dazu Fried (Anm. 7), 107 (Wiedergabe der Rede des deutschen Delegierten Freiherr von Marschall). 17 So Artikel XVII, der sowohl eine allgemeine Schiedsbestimmung als auch Sonderübereinkommen als Grundlage der Zuständigkeit des Gerichts vorsah. 18 Zum Folgenden siehe Fried (Anm. 7), 39 ff.

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Das Deutsche Reich gehörte nicht zu dieser Mehrheit. Freiherr von Marschall als deutscher Vertreter war der entschiedenste Gegner jedweder Regelung, die auf eine allgemeine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit hinauslief. Einzelheiten des Diskussionsprozesses und der verschiedenen Kompromissvorschläge können hier nicht nachgezeichnet werden. Nur so viel sei gesagt: In einer rhetorisch brillianten und juristisch scharfsinnigen, aber auch überspitzten Abschlussrede vor der entscheidenden Abstimmung legte Marschall noch einmal die Gründe für die ablehnende Haltung Deutschlands dar.19 Deutschland sei nach wie vor vom Nutzen schiedsgerichtlicher Streitbeilegung überzeugt. Dieses Instrument sei aber nur praktikabel und akzeptabel, wenn es auf der Freiwilligkeit der Staaten beruhe und in individuellen bilateralen Verträgen vereinbart werde. Nur unter diesen Bedingungen sei das nötige Grundvertrauen in den potentiellen Streitgegner sowie die präzise Überschaubarkeit der einem Schiedsverfahren zu unterwerfenden Materien gegeben. Eine allgemeine Schiedsklausel - auch und gerade wenn sie, wie vorgesehen, Ausnahmen vom Obligatorium vorsähe - würde große Unsicherheiten und letztlich die Unterminierung des Konzeptes bewirken. Die Beschränkung auf Streitigkeiten juristischer Natur sei im Völkerrecht wertlos, weil dieselbe Sache einmal als politisch, ein anderes Mal als juristisch gesehen werden könne. Die Ausnahmen vom Obligatorium für Fragen der „Ehre, Unabhängigkeit und des vitalen Interesses" liefen auf die inhaltlose Formel hinaus „Du musst, wenn Du willst". Zweifellos traf Marschall den wunden Punkt der vorgesehenen Regelungen, der auch heute noch die internationale Gerichtsbarkeit plagt. Andererseits wurde ihm zu Recht vorgehalten, dass es in der Praxis keineswegs so unmöglich sei, etwa das Juristische oder Politische einer Sache in concreto zu bestimmen. Und so sah es die überwältigende Mehrheit der Konferenzteilnehmer. Das deutsche Veto unterstützt von einigen wenigen Staaten (Bulgarien, Österreich-Ungarn, Belgien, Griechenland, Montenegro, Rumänien, Schweiz und Türkei) - ließ die Aufnahme des Obligatoriums jedoch scheitern.20 Übrig blieb eine einstimmig angenommene Deklaration, in der sich die Konferenz grundsätzlich zum Prinzip der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit bekennt - eine bloße Wiederholung des bereits in Art. 19 der Konvention von 1899 Gesagten. Dass die Konvention über die friedliche Streitbeilegung im Übrigen erfolgreich einer Revision unterzogen und ganz erheblich detaillierter wurde, steht zusammen mit der Fortentwicklung des humanitären Rechts auf der Habenseite der Bilanz der zweiten Haager Konferenz. Allerdings blieb die Nutzung des Haager Schiedshof hinter den Erwartungen zurück. 19 20

Wortlaut der Rede Marschalls bei Fried (Anm. 7), 61 ff. Siehe Fried (Anm. 7), 81 f.

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Zwischen 1899 und 1907 wurden nur vier Fälle vorgelegt und bis heute sind es insgesamt nur 25. Zu betonen ist aber auch, dass das Projekt eines im wirklichen Sinne ständigen internationalen Gerichts - auch wenn es im Haag nicht verwirklicht wurde - auf der Agenda der Staatengemeinschaft blieb. Darauf ist nun abschließend einzugehen.

D. Die Errichtung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes und Überblick über seine Tätigkeit Bereits während des 1. Weltkrieges wurden verschiedene Vorschläge für die Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofes entwickelt, und zwar sowohl von Seiten verschiedener „non-governmental organizations" (NGOs z.B. die Interparlamentarische Union, die britische Fabian Society und die amerikanische Society for the Judicial Settlement of Disputes) als auch von einzelnen neutralen Staaten (Dänemark, Norwegen, Schweden und Schweiz). Diese Vorschläge lehnten sich zum Teil an den Entwurf einer Konvention für die Errichtung eines ständigen Schiedsgerichts an, die - wie erwähnt - auf der zweiten Haager Konferenz ausgearbeitet und mehrheitlich angenommen wurde, aber nicht in Kraft trat. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde beschlossen, dass das Projekt eines ständigen internationalen Gerichts - einhellig als wünschenswert angesehen nicht im Rahmen der Konferenz behandelt werden sollte, sondern durch eine internationale Juristen-Kommission, die mit Unterstützung des Völkcrbundsrates errichtet werden sollte. Die Einschaltung des Völkerbundes fand ihre rechtliche Basis in Art. 14 Völkerbundssatzung (VBS), der dem Völkerbundsrat die Aufgabe übertrug, Pläne für die Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofes auszuarbeiten. Ein solcher Plan sollte nicht von der Völkerbundsversammlung angenommen werden, sondern von den einzelnen Mitgliedsstaaten des Bundes. Am 13. Februar 1920 gab der Völkerbundsrat die Gründung einer Juristen-Kommission bekannt, deren Mitglieder alle bereits an dem Projekt eines ständigen internationalen Gerichtshofes gearbeitet hatten, darunter sieben, die schon auf der zweiten Haager Konferenz dieses Thema mit bearbeitet hatten.21 Die Juristen-Kommission begann ihre Arbeit im Juni 1920 in dem vor wenigen Jahren fertig gestellten Haager Friedenspalast, damals bereits Sitz des Internationalen Haager Schiedshofes. Als Grundlage dienten der Haager Konventionsentwurf für ein ständiges internationales Schiedsgericht von 1907, das Statut des 21

Siehe zum Vorstehenden Hans-Jürgen Schlochauer, Permanent Court of International Justice, in: EPIL, vol. IV (2000), 981 (989).

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zentralamerikanischen Gerichtshofes (1907) sowie die von verschiedenen Staaten (Italien, Österreich) und NGOs vorgelegten Vorschläge, darunter auch derjenige, der von der gerade gegründeten Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht unter Federführung des Gründers des Kieler Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht, Theodor Niemeyer, für die deutsche Regierung ausgearbeitet worden war. Bereits am 20. Juli 1920 legte die Kommission den Entwurf eines Statuts für den Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) vor. Der Entwurf wurde im Völkerbundsrat im August 1920 beraten. Von einzelnen kleineren Änderungen abgesehen blieb der Entwurf erhalten. Jedoch gab es erhebliche Kritik an der vorgesehenen obligatorischen Jurisdiktion des künftigen Gerichts - der Schatten der Haager Debatten von 1907 tauchte wieder auf. Der Entwurf ging an die Völkerbundsversammlung, die ihn ihrerseits dem 3. Ausschuss überwies. Wiederum gab es nur geringfügige Änderungen. Der Versuch mehrerer lateinamerikanischer Staaten, die obligatorische Jurisdiktion des Gerichts in das Statut wieder aufzunehmen, scheiterte.22 Das Statut bildete zusammen mit Art. 14 VBS die Rechtsgrundlage des neuen Gerichts. Doch anders als im Fall des derzeitigen Internationalen Gerichtshofes (IGH), der eines der fünf Hauptorgane der UNO bildet, erhielt der StIGH nicht den Status eines Organs des Völkerbundes. Dennoch ging die Praxis de facto von einem solchen Status des StIGH aus. Schon bei der feierlichen Eröffnung des Gerichts sprach Präsident Loder davon, dass das Gericht „un des principaux organes" des Völkerbundes sei und auch sonst ging man davon aus, der StIGH sei „the League's judicial body". Das Gericht erhielt die Zuständigkeit für völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes, was bedeutete, dass auch nichtsstaatliche Wirkungseinheiten das Gericht anrufen konnten. Diese Regelung trug der Tatsache Rechnung, dass auch noch nicht unabhängige Gebiete, nämlich britische Dominions, Mitglieder des Völkerbundes waren. Da diese jedoch im Rahmen des Völkerbundes als Staaten behandelt wurden, besteht insoweit kein wirklicher Unterschied zum heutigen IGH-Statut, das nur Staaten Prozessfähigkeit vor dem Gericht einräumt. Eindeutig schließt das Statut des StIGH wie das IGH-Statut aus, dass Individuen das Gericht anrufen können. Das Statut des StIGH wurde 1936 in einer Reihe von Punkten geändert, darunter u.a. solchen, die es den USA ermöglichen sollten, dem Statut beizutreten, wozu es letztendlich jedoch nicht kam. Wie zuvor bei der Entscheidung über einen Beitritt der USA zum Völkerbund verweigerte auch jetzt der Senat seine Zustimmung zur

22

Zu den Arbeiten an dem Statut des StIGH siehe Manley O. Hudson, The Permanent Court of Justice 1920-1942,1943,142 ff.

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Ratifikation des Statuts. Dennoch haben die USA bei vielen Gelegenheiten - so bei der Revision des Statuts - intensiv mitgearbeitet. Der StIGH bestand zunächst aus elf Richtern und vier Ersatzrichtern. Die Zahl der Richter wurde später unter Wegfall der Ersatzrichter auf fünfzehn erhöht. Zehn Sitze wurden den europäischen Staaten zugeteilt, je zwei den asiatischen und lateinamerikanischen Staaten und einer den Vereinigten Staaten. Diese anfangliche Verteilung wurde 1930 dahin gehend verändert, dass die Europäer einen Sitz abzugeben hatten, der den lateinamerikanischen Staaten zugeschlagen wurde. Die Wahl der Richter erfolgte in getrennten Wahlvorgängen durch die Völkerbundsversammlung und den Völkerbundsrat - so wie dies heute durch den Sicherheitsrat und die Generalversammlung der UNO geschieht. In Fällen, in denen die beteiligten Parteien keinen Richter ihrer Nationalität auf der Richterbank hatten, konnten sie einen Richter ad hoc benennen. Der erste Fall, in dem dieses Verfahren angewendet wurde, war der erste überhaupt vom Gericht verhandelte Fall, nämlich der Wimbledon-Y a\\ (1923), in dem Deutschland Walther Schiicking als Richter ad hoc benannte (1930 wurde Schiicking zum Richter des StIGH gewählt). Die Zuständigkeit des Gerichts erstreckte sich auf alle ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtssachen sowie in allen in geltenden Verträgen und Übereinkommen besonders vorgesehenen Angelegenheiten (Art. 36 (1) Statut des StIGH). Wie erwähnt, sah das Statut des StIGH (wie heute das des IGH) kein generelles Obligatorium vor. Wohl aber können die Parteien des Statuts jederzeit erklären, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofes von Rechts wegen und ohne besondere Übereinkunft gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, für im Statut näher bezeichnete Materien als obligatorisch anerkennen. Dieses sog. fakultative Obligatorium war der einzig mögliche Kompromiss angesichts des Widerstandes gegen ein generelles Obligatorium. Es ähnelt dem Art. 19 der Haager Konvention von 1899/1907, der es den Staaten freistellte, obligatorische Schiedsklauseln zu vereinbaren, ist aber doch insofern ein Fortschritt, als das fakultative Obligatorium nun in einem universalen Vertrag niedergelegt wurde. Deutschland hatte sich 1928 und 1933 für die Dauer von jeweils 5 Jahren auf der Grundlage der Reziprozität der obligatorischen Zuständigkeit des StIGH unterworfen, 23 jedoch bis heute nicht der Zuständigkeit des IGH, was im Hinblick auf Art. 24 Abs. 3 GG doch bedenklich erscheint, der vorsieht, dass der Bund „zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten [wird]".

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RGBl 1928 II, 19; RGBl 1933 II, 677.

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Der StIGH hat durch seine Rechtsprechung, die sich überwiegend mit Streitigkeiten befassen musste, die sich aus der Auslegung und Anwendung der Friedensverträge von 1919 und 1923 zahlreich ergaben, hohes Ansehen erworben. Dazu hat auch beigetragen, dass in vielen Fällen das Gericht um die Erstattung von Rechtsgutachten ersucht wurde, in denen das Gericht über die zugrunde liegenden Streitfragen hinaus wegweisende Aussagen zum Stand des Völkerrechts treffen konnte. Das Gericht erließ in den knapp 20 Jahren seiner Tätigkeit 21 Urteile und erstattete 26 Rechtsgutachten. Am 26. Februar 1940 erließ das Gericht seine letzte Entscheidung, eine einstweilige Anordnung im Electricity Company of Sofia-Fall. Zur mündlichen Verhandlung in dieser Sache kam es nicht mehr, weil inzwischen der Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande stattgefunden hatte. Die Richter traten am 30. Januar 1946 zurück, der Ständige Internationale Gerichtshof wurde am 18. April mit einer Resolution der Völkerbundsversammlung aufgelöst. Am selben Tag wurde der Internationale Gerichtshof eröffnet: „La Cour est morte - vive la Cour".

Nachwort Der hier gegebene Abriss der Geschichte der internationalen Gerichtsbarkeit hat gezeigt, dass wir in der Tat ein gut Stück des Wegs aus dem Naturzustand in eine rechtlich verfasste internationale Gemeinschaft zurückgelegt haben. Wie fragil dieser Fortschritt ist, haben aber die immer wieder aufgetretenen Widerstände gegen eine obligatorische internationale Gerichtsbarkeit ebenso gezeigt wie die Rückfälle in die Barbarei der zwischenstaatlichen Gewalt, vor denen auch unsere Gegenwart nicht gefeit ist. Sorgen wir dafür, dass die internationale Zivilgesellschaft unter der Herrschaft des Rechts keine bloße Utopie bleibt - eine Aufgabe, der das Walther-Schücking-Institut seit seiner Gründung im Jahre 1914 am Beginn des 1.Weltkriegs verpflichtet ist!

Deutschland und der Internationale Gerichtshof 1 Von Carl-August Fleischhauer

Einführung Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren, ich möchte mich zunächst für die freundliche Einführung bedanken. Es ist für mich eine große Ehre, auf Einladung des nach Walther Schücking benannten Instituts für Internationales Recht der Universität Kiel vor Ihnen zu dem Thema „Deutschland und der Internationale Gerichtshof 4 sprechen zu dürfen. Ich bin umso lieber nach Kiel gekommen, als ich - wie von dem Vorsitzenden erwähnt - die letzten neun Jahre hindurch, von 1994 bis zum Februar diesen Jahres, in Den Haag als Richter am Internationalen Gerichtshof tätig gewesen bin und mich daher diesem Gerichtshof besonders verbunden fühle. Ich möchte so vorgehen, dass ich Ihnen zunächst etwas über die Gründung des Internationalen Gerichtshofs sagen werde, die während des Zweiten Weltkriegs stattfand und an der Deutschland nicht beteiligt war. Sodann werde ich über das Verhältnis Deutschlands zum Internationalen Gerichtshof in der Zeit sprechen, in der Deutschland nach dem Krieg seine außenpolitische Handlungsfähigkeit wiedererlangt hatte, aber noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen war, und auch noch nicht Mitglied des Statuts des IGH, d.h. also über das Verhältnis Deutschlands zu dem IGH zwischen 1955 und 1973. Anschließend möchte ich auf die Zeit von unserer Aufnahme in die Vereinten Nationen bis heute kommen, um dann auf die Verfahren einzugehen, in denen Deutschland vor dem Gerichtshof Partei geworden ist. Schließlich werde ich ein Fazit ziehen. Ich möchte nur zwei Vorbemerkungen machen, nämlich einmal, dass die Ansichten, die ich Ihnen vortragen werde, meine eigenen sind und nicht notwendigerweise die meiner früheren Dienstherren, nämlich des Auswärtigen Amtes, der Vereinten Nationen oder des IGH. Sodann möchte ich, obwohl ich an sich nicht glaube, dass das hier notwendig ist, aber durch Erfahrung gewitzigt, darauf hin1

Vortrag gehalten am 13. Mai 2003 in Kiel. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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weisen, dass ich über den Internationalen Gerichtshof spreche und nicht über das Jugoslawien-Tribunal oder den neuen International Criminal Court (ICC). Diese beiden internationalen Gerichte sind reine Strafgerichte. Aufgabe des IGH ist es dagegen, völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen Staaten zu entscheiden2 und Organen der VN und der Sonderorganisationen Rechtsgutachten zu erstatten.3 Der IGH ist ein satzungsmäßiges Hauptorgan der VN; 4 das Jugoslawien-Tribunal ist ein nachgeordnetes Organ des Sicherheitsrates, der es ins Leben gerufen hat.5 Der neue ICC ist, obwohl den Vereinten Nationen eng verbunden, gar kein VN-Organ, sondern allein ein Organ seines Gründungsvertrages. IGH, Jugoslawien-Tribunal und ICC haben gemeinsam, dass sie in Den Haag angesiedelt worden sind. Das ist aber allein aus Gründen der Zweckmäßigkeit geschehen. Außer dem Sitzort haben die drei Gerichte nichts gemein.

A. Gründung des Internationalen Gerichtshofs Der Internationale Gerichtshof stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sein Statut ist parallel zu der Charta der Vereinten Nationen ausgehandelt worden. Das aus zwölf Sachverständigen bestehende interalliierte Komitee von 1942, die Dumbarton Oaks Vorschläge für die Vereinten Nationen, das Juristenkomitee, welches noch kurz vor Beginn der Konferenz von San Francisco zur Beratung über das Statut des Gerichtshofs der neuen Weltorganisation zusammenkam, und schließlich diese Konferenz selber sind Stationen des Werdeganges des Statuts des IGH.6 Das neue Statut bedeutete nicht eine Neugründung im eigentlichen Sinn des Wortes. Es übernahm das Statut des Ständigen Gerichtshofs aus der Völkerbundszeit in seiner Struktur und in seinen verfahrenstechnischen Einzelheiten. Es tat das ganz bewusst, um in der Rechtsprechung zwischen beiden Gerichtshöfen Kontinuität zu ermöglichen und die vorhandenen Präzedenzfälle zu wahren.7 Auch blieben 2

Siehe Kapitel II IGH-Statut. Art. 96 VN-Charta. 4 Art. 7 VN-Charta. 5 Andreas Paulus, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Bd. I, Article 29, Randnr. 55, S. 555, sowie Randnr. 86, S. 562. 6 Hermann Mosler/Karin Oellers-Frahm, The Establishment of the ICJ, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Bd.II, Article 92, Randnr. 9 ff., S. 1142/43. 7 Shabtai Rosenne, The United Nations and the Court, in: ders., The World Court: What it is and how it works, 5th ed. 1995, 21 ff., 24. 3

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die Aufgaben des neuen Gerichtshofs im Wesentlichen die des Vorgängers, wie auch die Zahl der Richter und ihr Wahlmodus unverändert blieben. Der IGH ist also eher eine Umgründung des Ständigen Gerichtshofs, als die völlige Neugründung eines internationalen Gerichts. Unterschiede gibt es allerdings. Sie liegen in erster Linie in dem Verhältnis des IGH zu den Vereinten Nationen, welches anders geordnet ist als es das Verhältnis des Ständigen Gerichtshofs zu dem Völkerbund war. Die Charta der Vereinten Nationen und das Statut des IGH vermeiden das „clair-obscur", welches das Verhältnis zwischen Völkerbund und Ständigem Gerichtshof kennzeichnete und welches vor allem die Stellung derjenigen Staaten komplizierte, welche Mitglieder das Völkerbundes waren, nicht aber dem Statut des Gerichts angehörten. Die Charta der Vereinten Nationen enthält in ihrem Artikel 7 die Klarstellung, dass der Internationale Gerichtshof eines der sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen ist. Artikel 92 bis 96 der Charta bilden deren Kapitel XIV, welches ausschließlich grundlegenden Fragen des Internationalen Gerichtshofs gewidmet ist. Artikel 92 stellt klar, dass der IGH das „principal judicial organ" der Vereinten Nationen ist, nach einem Statut tätig wird, welches der Charta beigefügt ist, auf dem Statut des Ständigen Gerichtshof aufbaut und einen integralen Bestandteil der Charta bildet. Artikel 93 legt fest, dass alle Mitglieder der VN ipso facto Vertragsparteien des Statuts des IGH sind und dass Nichtmitglieder der VN in einem besonderen Verfahren auf Empfehlung des Sicherheitsrates von der Generalversammlung als Parteien zu dem Statut zugelassen werden können. Artikel 94 behandelt die Verpflichtung jedes VN-Mitglieds, Entscheidungen des IGH, die sich auf das betreffende Mitglied beziehen, auszuführen. Artikel 95 macht klar, dass die VN-Mitglieder die Freiheit behalten, die Entscheidung ihrer Streitigkeiten anderen Gerichten ihrer Wahl als dem IGH zu übertragen. Artikel 96 regelt schließlich die Befugnis, Gutachten von dem IGH zu erbitten, die, anders als beim Ständigen Gerichtshof, jetzt auf bestimmte Organe der VN und der Sonderorganisationen beschränkt ist. Allein die Generalversammlung und der Sicherheitsrat können sachlich uneingeschränkt Rechtsgutachten beantragen. Andere Organe der VN und der Sonderorganisationen haben diese Befugnis nur aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung durch die Generalversammlung und nur in sachlich eingeschränkter Form. Damit hat die Charta in klarer und eindeutiger Form eine Reihe der Fragen gelöst, die im Verhältnis zwischen dem Völkerbund und Ständigem Gerichtshof zu Unklarheiten führten. Die Frage des obligatorischen Charakters der Gerichtsbarkeit des IGH ist allerdings in der Ägide der VN nicht anders gelöst als für den Ständigen Gerichtshof in der Völkerbundszeit: Die Zugehörigkeit zu dem IGH-Statut berechtigt noch

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keinen Staat, Klagen gegen andere Mitgliedstaaten des Statuts vor den IGH zu bringen, und verpflichtet auch keinen Staat, sich vor dem IGH verklagen zu lassen. Notwendig ist vielmehr nach wie vor, dass die Staaten die Zuständigkeit des IGH in ihren Streitigkeiten ausdrücklich anerkennen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, entweder durch Einigung mit der anderen Streitpartei (das ist ein sog. „compromis", die klassische Lösung) oder durch eine generelle Erklärung (welche die Zuständigkeit des IGH unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit ganz generell oder generell für bestimmte Typen von Streitigkeiten anerkennt, das ist die idealtypische Möglichkeit) oder durch Einbau einer Streitschlichtungsklausel in einen bilateralen oder multilateralen Vertrag, die die Zuständigkeit des IGH für Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Vertrages begründet (das ist eine praxisnahe, seit einiger Zeit stärker in den Vordergrund tretende Methode).8 Deutschland war an der Ausarbeitung des IGH-Statuts aus naheliegenden Gründen nicht beteiligt. Es sind aber auch, nachdem der Krieg beendet war und vor allen Dingen beim Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen, der 1973 stattfand, von deutscher Seite keine Einwände oder Kritik erhoben worden, jedenfalls keine solchen, die mir bekannt geworden wären. Ich glaube auch nicht, dass die in das IGH-Statut gegenüber dem Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs eingefügten Veränderungen Anlass zu Einwänden und Kritik geben könnten.

B. Verhältnis Deutschlands zum IGH bis zur Aufnahme in die VN Als Bestandteil der VN-Charta trat das Statut des IGH zusammen mit dieser am 24. Oktober 1945 in Kraft. Damit war der Weg geöffnet für die Vorbereitung der Eröffnung des Internationalen Gerichtshofs. Nachdem die ersten Richterwahlen für den neu zu eröffnenden Gerichtshof stattgefunden und die Richter am 6. Februar 1946 ihre Ämter angetreten hatten, wurde der Internationale Gerichtshof am 18. April 1946 formell eröffnet. 9 Deutschland war während der ersten zehn Jahre der Lebenszeit des Internationalen Gerichtshofs nicht in der Lage, eigene Beziehungen zu diesem aufzunehmen. Durch den verlorenen Krieg, die totale Besetzung und die Übernahme der vollziehenden Gewalt in Deutschland durch die vier Besatzungsmächte hatte Deutschland seine außenpolitische Handlungsfähigkeit eingebüßt. Die in der 8

Rosenne (Anm. 7), How Jurisdiction is Conferred, 85-89. Am gleichen Tag löste die Völkerbundsversammlung sich selbst und den Ständigen Internationalen Gerichtshof auf einer letzten, in Genf abgehaltenen Sitzung auf. 9

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Bundesrepublik Deutschland reorganisierte deutsche Staatsgewalt gewann außenpolitische Handlungsfähigkeit erst mit dem In-Kraft-Treten des Deutschlandvertrages am 5. Mai 1955.10 Es begann nun eine Periode, die 18 Jahre dauern sollte, vom In-Kraft-Treten des Deutschlandvertrages im Mai 1955 bis zum VN-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland im September 1973. Diese Periode war gekennzeichnet von einer großen IGH-Freundlichkeit der Bundesrepublik, die vorgezeichnet war durch Artikel 24 Abs. 3 GG, der vorsieht, dass die Bundesrepublik zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten Vereinbarungen über eine „allgemeine, umfassende, obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeit" beitreten werde. Diese Gerichtsfreundlichkeit war gepaart mit der Unmöglichkeit für die Bundesrepublik, Mitglied des Statuts des Gerichtshofs zu werden. Die Unmöglichkeit folgte aus der Teilung Deutschlands und der Politik der Bundesrepublik, die sich weigerte, die Teilung Deutschlands zu akzeptieren und das Recht des Deutschen Volkes auf Wiedervereinigung aufzugeben. Ohne das wäre aber die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, die die Zugehörigkeit zu dem Statut des Gerichtshofs einschließt, nicht zu haben gewesen. Da die Aufnahme in die Vereinten Nationen nach Artikel 4 Abs. 2 der Charta eine positive Empfehlung des Sicherheitsrates voraussetzt, wäre ein Veto der Sowjet-Union gegen einen VNBeitritt allein der Bundesrepublik ohne die DDR nicht zu vermeiden gewesen. Auch der eben von mir erwähnte, in Art. 93 Abs. 2 der Charta vorgezeichnete Weg, dass ein Nichtmitglied der VN von der Generalversammlung unter von Fall zu Fall festzulegenden Bedingungen als Vertragspartei des Statuts zugelassen werden kann, half im Falle der Bundesrepublik Deutschland nicht weiter. Denn dieses Verfahren setzt wiederum eine Empfehlung des Sicherheitsrates voraus und ließ daher ein sowjetisches Veto unausweichlich erscheinen. Die Bundesrepublik Deutschland schlug daher einen dritten Weg ein, der nicht im Statut vorgesehen, wohl aber von der Praxis der VN sanktioniert ist und es Nichtmitgliedstaaten des Statuts ermöglicht, trotz derNichtmitgliedschaft Prozesse vor dem IGH zu führen. Der Sicherheitsrat hat nämlich in seiner Resolution 9 (1946) vom 15. Oktober 1946 festgelegt, dass der IGH auch Staaten, die nicht Partei seines Statuts sind, unter bestimmten Bedingungen offensteht. 11 In der Resolution heißt es: „(D)er Staat muß zuvor beim Kanzler des Gerichtshofs eine Erklärung hinterlegt haben, wonach er die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach der Satzung der Vereinten Nationen sowie nach den Vorschriften und Bedingungen des Statuts und der Verfahrensordnung des Gerichtshofs anerkennt und sich 10

Art. 1 Abs. 2 Deutschlandvertrag, BGBl. 1955 II, 301. Engl, und franz. Wortlaut der Resolution sowie inoffizielle dt. Übersetzung in: Internationale Gerichte und Schiedsgerichte, Materialien für Forschung und Praxis des ausländischen öffentlichen Rechts und Völkerrecht, Bd. 1,1961, 90-92. 11

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verpflichtet, die Entscheidung oder Entscheidungen des Gerichtshofs bona fide auszuführen und alle Verbindlichkeiten anzuerkennen, die sich für ein Mitglied der Vereinten Nationen aus Artikel 94 der Satzung ergeben".12 Die Resolution stellt weiter klar, dass die Erklärung sowohl als besondere, also für eine oder mehrere bereits entstandene Streitigkeiten, als auch als eine allgemeine Erklärung abgegeben werden kann, also für alle Streitigkeiten oder für eine oder mehrere Arten von Streitigkeiten, die bereits entstanden sind oder in Zukunft entstehen können. Die Annahme der Resolution 9 durch den Sicherheitsrat hatte nichts mit Deutschland zu tun. Wohl niemand hat sich im Oktober 1946 im Sicherheitsrat Gedanken darüber gemacht, wie Deutschland einmal seinen Zugang zum IGH suchen würde. Doch war die Situation die, dass die Protagonisten des Kalten Krieges in den frühen Stadien dieser Auseinandersetzung die Aufnahmepraxis der Vereinten Nationen so auszutarieren suchten, dass die Stimmverhältnisse in der Weltorganisation weder zugunsten des einen noch des anderen Lagers durch Neuaufnahmen nachhaltig verändert würden. Dadurch wurden verschiedene Aufnahmeersuchen über Gebühr verzögert. Das Verfahren nach Resolution 9 sollte gewährleisten, dass auf die lange Bank geschobene Aufnahmekandidaten ungeachtet des Stockens des Aufnahmeverfahrens schon vor dessen formellen Abschluss direkten Zugang zum Internationalen Gerichtshof bekamen. Nach Resolution 9 zum IGH zugelassene Staaten haben in verschiedener Hinsicht eine Minderstellung; vor allem können sie nicht wie Mitglieder des Statuts an den Wahlen zum IGH teilnehmen. Die Bundesrepublik Deutschland machte sofort bei In-Kraft-Treten des Deutschlandvertrages von Sicherheitsratsresolution 9 Gebrauch. Bereits am 4. Mai 1955, einen Tag vor dem In-Kraft-Treten des Deutschlandvertrages, übermittelte die Bundesrepublik dem Kanzler des Internationalen Gerichtshofs die nach Resolution 9 erforderliche Erklärung zu der Streitschlichtungsklausel des Artikel X des neu gefassten Brüsseler Vertrages vom 17. Mai 1948, des WEU-Vertrages. 13 Ein Jahr später, am 23. Mai 1956, folgte die Erklärung nach Artikel IX der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.14 In der Folgezeit bis zu ihrem VN-Beitritt 1973 hat die Bundesrepublik Deutschland nicht zu jedem Vertrag, der eine auf den IGH bezügliche Schiedsklausel enthält, sofort eine solche Erklärung abgegeben. Sie hat sich auf die Abgabe von vier weiteren Erklärungen zu bi- oder multilateralen Verträgen beschränkt, die der Bundesregierung offenbar besonders konfliktträchtig erschienen, nämlich zu der Europäischen

12 13 14

Ziffer 1 der Resolution (Anm. 11), 90-91. BGBl. 1956 II, 809; ICJ Yearbook 1972-1973, 39. BGBl. 1956 II, 809; ICJ Yearbook (Anm. 13).

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Streitschlichtungskonvention vom 29. April 1957,15 zu dem Wiener Übereinkommen über Diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961,16 zu dem Notenwechsel vom 19. Juli 196117 zwischen Island und der Bundesrepublik Deutschland über die Fischereizone um Island und zu der Wiener Konvention über Konsularische Beziehungen vom 24. April 1963.18 Die Erklärungen der Bundesrepublik Deutschland nach Resolution 9 des Sicherheitsrates haben in der Praxis zweimal eine Rolle gespielt, einmal bei der Einleitung des Verfahrens über die Abgrenzung des Festlandsockels unter der Nordsee (Bundesrepublik Deutschland ./. die Niederlande, Bundesrepublik Deutschland ./. Dänemark) im Jahre 1967, und dann wieder bei der Einleitung des Verfahrens über die isländische Fischereizone (Bundesrepublik Deutschland ./. Island) im Juni 1972. Seitdem die Bundesrepublik Deutschland - unter Wahrung ihrer deutschlandpolitischen Position Mitglied der Vereinten Nationen geworden ist, ist sie auch Vertragspartei des Statuts des IGH. Seit September 1973 muss sie daher keine Erklärungen nach Resolution 9 mehr abgeben, um sich Zugang zum IGH zu verschaffen. Dass außer dem Zugang zum Statut auch noch das Einverständnis der anderen Klagepartei mit dem IGH als Klageforum erforderlich ist, damit ein Staat vor dem IGH klagen oder verklagt werden kann, habe ich bereits gesagt.

C. Verhältnis Deutschlands zum IGH seit der Aufnahme in die VN In den fast genau 30 Jahren ihrer Zugehörigkeit zu den Vereinten Nationen ist die Bundesesrepublik Deutschland zusätzlich zu den beiden erwähnten Verfahren wegen des Festlandsockels unter der Nordsee und der isländischen Fischereizone als Klägerin oder Beklagte Partei in drei weiteren Verfahren geworden. Es handelt sich um den Fall der Brüder LaGrand (Bundesrepublik Deutschland ./. die Vereinigten Staaten wegen der Einhaltung von Artikel 36 der Wiener Konsularkonvention von 1963 durch die USA), um die von Jugoslawien eingereichten Klagen gegen 10 NATO-Staaten wegen der Rechtmäßigkeit der Anwendung von bewaffneter Gewalt im Zusammenhang mit dem Kosovo und um einen Streit wegen 15

BGBl. 1961 II, 1026, Erklärung v. 29. April 1961, hinterlegt am 29. Mai 1961, ICJ Yearbook (Anm. 13). 16 BGBl. 1965 II, 272, Erklärung v. 18. Januar 1965, hinterlegt am 29. Januar 1965, ICJ Yearbook (Anm. 13). 17 BGBl. 1972 II, 551, Erklärung v. 29. Oktober 1971, hinterlegt am 22. November 1971, ICJ Yearbook (Anm. 13). 18 BGBl. 1972 II, 613, Erklärung v. 22. Dezember 1971, hinterlegt am 24. Januar 1972, ICJ Yearbook (Anm. 13).

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Vermögensfragen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Bundesrepublik Deutschland. Diese letzteren beiden Verfahren sind noch anhängig. In den letzten 30 Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland sich auch entschlossen, von der ihr nunmehr gegebenen Möglichkeit der Teilnahme an den Wahlen zum IGH aktiv Gebrauch zu machen, geeignete deutsche Kandidaten in Vorschlag zu bringen, solche Kandidaturen diplomatisch zu unterstützen und geeignete ausländische Bewerber durch die Zusage positiver Stimmabgabe ebenfalls zu fördern. Es hat seit 1973 drei deutsche Kandidaturen gegeben, die alle erfolgreich waren. Als erster deutscher Kandidat wurde im Jahre 1975 Professor Dr. Hermann Mosler vorgeschlagen, der damals Professor für Völkerrecht an der Universität Heidelberg und Direktor des dortigen Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht war. Professor Mosler war bereits im Festlandsockel-Frozess von der Bundesrepublik als Ad-hoc-Richter in den IGH entsandt worden. Er ist im November 1975 als erster Deutscher zum ordentlichen Richter des Internationalen Gerichtshofs gewählt worden und hat dem IGH eine volle Wahlperiode von neun Jahren, von 1976 bis 1985, angehört. Mosler war eine starke Richterpersönlichkeit. Er verband hervorragende Kenntnis des Völkerrechts mit großem historischem Verständnis und der Fähigkeit, auch komplizierte zwischenstaatliche Sachverhalte in völliger Unvoreingenommenheit zu beurteilen. Der zweite deutsche Richter war ich selbst; ich wurde 1993 aus meiner damaligen Stellung als Untergeneralsekretär für Rechtsangelegenheiten und Rechtsberater der Vereinten Nationen für die Zeit von 1994 bis 2003 gewählt. Obwohl Deutschland keinen festen Platz unter den 15 Mitgliedern des IGH hat, ist als mein Nachfolger wiederum ein Deutscher gewählt worden, und zwar der Völkerrechtler Professor Dr. Bruno Simma von der Universität München, der sich durch seine Veröffentlichungen, vor allen Dingen die Herausgabe eines großen Kommentars zu der Charta der Vereinten Nationen, sowie durch verschiedene Auftritte vor dem IGH international einen sehr guten Namen gemacht hat. Eines allerdings hat die Bundesrepublik Deutschland - jedenfalls bisher - auch als Vollmitglied des IGH-Statuts nicht getan. Trotz Artikel 24 Abs. 3 des Grundgesetzes und ihrer VN- und gerichtsfreundlichen Außenpolitik hat die Bundesrepublik Deutschland keine generelle Erklärung der Anerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs abgegeben. Das würde, wie auch schon Herr Delbrück in seinem Vortrag über die Geschichte der Entstehung der Internationalen Gerichtsbarkeit und die Haltung Deutschlands bemerkt hat,19 an sich auf der Linie der Politik der Bundesrepublik Deutschland liegen, und auch ich bedau19

Jost Delbrück, Internationale Gerichtsbarkeit - Zur Geschichte ihrer Entstehung und der Haltung Deutschlands, in diesem Band, 27.

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re, dass dieser Schritt noch nicht getan wurde und augenblicklich auch offensichtlich gar nicht zur Diskussion steht. Trotzdem zögere ich, die verschiedenen Bundesregierungen, die den Schritt seit 1973 nicht getan haben, deswegen ausdrücklich zu tadeln. Denn die zwischenstaatlichen Beziehungen haben sich seit der unmittelbaren Nachkriegszeit ganz ungemein gesteigert und verdichtet. Sie sind in der Gegenwart stärker, als das je zuvor der Fall war, von völkerrechtlichen Regeln und völkerrechtlichen Verträgen durchzogen. Die einzelnen Staaten können daher sehr leicht, und ohne ihr eigentliches Wollen, in völkerrechtliche Rechtsstreitigkeiten hereingezogen werden. Es scheint mir verständlich, dass die verantwortlichen Rechtsberater in einzelnen Staaten daher zögern, ihren Regierungen die Abgabe einer Erklärung vorzuschlagen, die die Klagemöglichkeiten fremder Staaten vereinfacht - obwohl man sich natürlich durch den Einbau von Vorbehalten in solche Erklärungen absichern kann. Es kommt hinzu, dass ich in der Zahl der abgegebenen generellen Unterwerfungserklärungen nicht eine Art Gütesiegel für die gerichtliche Beilegung völkerrechtlicher Streitigkeiten als Methode der friedlichen Streitbeilegung sehe. Für meine Begriffe muss man außer der Zahl der abgegebenen allgemeinen Unterwerfungserklärungen auch die Zahl der vertraglich vereinbarten, auf den IGH bezogenen Streitschlichtungsklauseln für Streitigkeiten aus bestimmten Verträgen im Auge behalten. Diese Zahl ist aber ständig im Ansteigen und auch die Bundesregierung zögert nicht, solche Klauseln bilateral oder multilateral zu vereinbaren und zu honorieren.

D. Deutschland als Partei in den Verfahren vor dem IGH Zu den einzelnen Verfahren, in denen die Bundesrepublik Deutschland vor dem IGH Partei geworden ist, möchte ich Folgendes sagen: Der erste Fall drehte sich, wie bereits erwähnt, um die Abgrenzung des Festlandsockels unter der Nordsee; beteiligt waren die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark und die Niederlande. Das Verfahren wurde durch einvernehmliche Hinterlegung von zwei identischen Schiedskompromissen im Februar 1967 eingeleitet, die von dem Gerichtshof verbunden wurden. Das Urteil erging im Februar 1969.20 Dieses Verfahren entstand nach dem Auffinden, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre, von mineralogischen Vorkommen im Boden des Festlandsockels unter der Nordsee. Diese Funde und das Erscheinen von zwei amerikanischen Bohrinseln, Mr. Louie und Mr. Cap, die über den Atlantik in die Nordsee geschleppt wurden, führten zu verstärkten Bemühungen der Anrainerstaaten, ihre Anteile am 20

Nordsee-Festlandsockel,

Urteil, ICJ Reports 1969, 3 ff.

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Festlandsockel unter der Nordsee in Anspruch zu nehmen und gegeneinander abzugrenzen. Dies stieß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Dänemark sowie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden auf Schwierigkeiten wegen der besonderen, fast rechtwinkeligen Formierung der deutschen Küste vor Ostfriesland und Nordfriesland. Dänemark und die Niederlande stellten sich auf den Standpunkt, Artikel 6 der Festlandsockel-Konvention von 19S8 enthalte mit seiner starken Betonung des Äquidistanz-Prinzips allgemeines Völkerrecht; die Bestimmung sei deshalb auch für Deutschland verbindlich, obwohl Deutschland die Konvention nicht ratifiziert hatte. Die Bundesrepublik Deutschland bestritt die Anwendbarkeit des Äquidistanz-Prinzips. In der Tat wäre der deutsche Festlandsockelanteil bei schematischer Anwendung dieses Prinzips auf einen sehr kleinen Teil des Festlandsockels unter der Deutschen Bucht zusammengedrückt worden. Die drei beteiligten Staaten kamen überein, dem IGH nicht die ganze Frage des Verlaufs der Festlandsockelgrenze vorzulegen, sondern den Gerichtshof lediglich zu bitten, die zwischen ihnen streitige Frage der bei der Abgrenzung anwendbaren Rechtsprinzipien zu entscheiden. Zugleich verpflichteten sie sich, die Grenzziehung auf dem Festlandsockel auf der Grundlage der Entscheidung des Gerichts einvernehmlich vorzunehmen. So ist es auch geschehen. Die Ausgestaltung des Klageantrags war dennoch höchst ungewöhnlich, eben weil der Gerichtshof nicht ersucht wurde, einen bestimmten Streitfall zu entscheiden oder die Grenzziehung auf dem Festlandsockel vorzunehmen. Auf den ersten Blick erinnerte der Klageantrag eher an ein Ersuchen um Erstattung eines Rechtsgutachtens und im Vorfeld der Klage ist in der Tat unter den Delegationen, die das Schiedskompromiss ausarbeiteten, die Befürchtung aufgekommen, der Gerichtshof könnte die Zulässigkeit des Klageantrags verneinen. Der Gerichtshof hat das jedoch nicht getan; er ist in seinem Urteil auf die Formulierung des Klageantrags gar nicht eingegangen. Der Gerichtshof hat Recht damit gehabt. Denn er ist trotz der abstrakten Fragestellung ganz konkret von den stecken gebliebenen Verhandlungen ausgegangen und hat das Verfahren damit in den Rahmen eines konkreten Rechtsstreits gestellt. Die Kernfrage des Urteils in dem Nordsee-Festlandsockel-Fall war aber, ob Artikel 6 der Festlandsockel-Konvention allgemeines Völkerrecht wiedergibt und infolgedessen für die Bundesrepublik Verbindlichkeit hat, obwohl diese nicht Vertragspartei der Konvention geworden war. Obwohl er der deutschen Argumentation nur teilweise gefolgt ist, hat der IGH diese Frage nach sorgfältiger Prüfung verneint und damit im Sinne Deutschlands entschieden. Dieses Urteil ist das erste in einer ganzen Reihe von Fällen, die sich um die Abgrenzung von Meereszonen drehten, welche zum Teil im Jahre 1969 als In-

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stitute des Völkerrechts noch neu waren. Es ging jetzt nicht mehr allein um Territorialgewässer und Anschlusszonen, sondern gleichermaßen um die Abgrenzung von Festlandsockelanteilen, Fischereizonen und ausschließlichen Wirtschaftszonen sowie um die Ziehimg von Mehrzweckgrenzen, die verschiedene Arten von Meereszonen erfassen. Der Gerichtshof hat sich mit seiner Rechtsprechung zu diesen Abgrenzungsfragen nicht leicht getan. Der nächste Fall, in dem Deutschland vor dem Gerichtshof Partei war, ergab sich aus der 1971 einseitig proklamierten Ausdehnung der isländischen Fischereizone von 12 auf 50 Seemeilen und wurde von Deutschland durch Klageerhebung vom 5. Juni 1972 eingeleitet. Die Vorgeschichte war kurzgefasst die folgende: Die zunehmende übermäßige Ausbeutung der Meere führte schon seit Ende der 40er Jahre zu Forderungen nach einer Revision des geltenden Seerechts, insbesondere hinsichtlich der zulässigen Breite der Territorialgewässer und der Anerkennung von ausschließlichen Fischereirechten der Küstenstaaten. 1958 fand - einberufen von den Vereinten Nationen - die erste von insgesamt drei Seerechtskonferenzen statt. Diese war nicht in der Lage, Einigkeit über eine Neuregelung der zulässigen Breite der Territorialgewässer oder über die Zulässigkeit der Errichtung von ausschließlichen Fischereizonen zu erreichen. Daraufhin richtete Island zunächst eine 12 Seemeilen breite ausschließliche Fischereizone vor seinen Küsten ein. Island gab dabei zu erkennen, dass diese Maßnahme ein erster Schritt in Richtung auf die schließliche Einrichtung einer Fischereizone sei, die sich über seinen ganzen Festlandsockel erstrecken würde. Von dieser Maßnahme waren vor allen Dingen die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich betroffen, die in den Gewässern um Island traditionell eine bedeutende Fernfischerei betrieben. Beide Staaten bestritten die Rechtmäßigkeit der einseitigen isländischen Maßnahmen. Nachdem eine 1960 einberufene Zweite Seerechtskonferenz gescheitert war, die sich wiederum mit den 1958 offen gebliebenen Fragen der Territorialgewässer und der Fischereizonen befasste, schlossen die Bundesrepublik Deutschland und das Vereinigte Königreich 1961 je ein Abkommen mit Island, durch welches sie isländische Präferenzrechte in den fraglichen Gewässern vorläufig anerkannten, im Gegenzug für Islands Bestätigung von bestimmten Fischereirechten Deutschlands und Großbritanniens in der in Rede stehenden Zone. Beide Abkommen enthielten eine auf den IGH bezogene Streitschlichtungsklausel. Am 14. Juli 1971 erklärte Island diese Abkommen für beendigt und verkündete gleichzeitig die Ausdehnung seiner Fischereizone von 12 auf 50 Seemeilen. Dies stieß auf starke deutsche und britische Ablehnung. Das Vereinigte Königreich rief den IGH am 14. April 1972 an, die Bundesrepublik folgte am 5. Juni desselben

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Jahres. Island bestritt mit Nachdruck die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Da der Streit die vitalen Interessen Islands berühre, hätte der Gerichtshof darin keine Rolle zu spielen; Island werde sich an dem Verfahren nicht beteiligen. Die beiden klagenden Staaten beantragten den Erlass von einstweiligen Anordnungen nach Artikel 41 des Statuts des Gerichtshofs. Der Gerichtshof erließ am 17. August 1972 zwei solche Anordnungen,21 die jedem der beiden klagenden Staaten zunächst für die Dauer eines Jahres eine bestimmte Fangquote zuwiesen und die später verlängert wurden. Im Übrigen wies der Gerichtshof nicht die gegen Island gerichteten Klagen nach Art eines Versäumnisurteils ab, sondern prüfte die Position Islands aufgrund der vorliegenden Materialien nach. Am 2. Februar 1973 verkündete der Gerichtshof zwei Urteile, in denen er sich für zuständig erklärte, in diesem Streit zu entscheiden.22 Während des ganzen Streites, und zwar auch nachdem der IGH angerufen worden war, ereigneten sich dauernd Zwischenfälle auf See innerhalb der von Island in Anspruch genommenen Gewässer. An diesen Zwischenfällen waren auf der einen Seite deutsche und britische Trawler beteiligt, die die von Island getroffenen Maßnahmen missachteten, sowie Patrouillenboote der isländischen Marine auf der anderen Seite. Zugleich fanden aber zu wiederholten Malen Versuche statt, den Streitfall im Verhandlungswege beizulegen. Sie blieben erfolglos. Die Endurteile sind in beiden Verfahren am 25. Juli 1974 ergangen.23 Der Gerichtshof entschied, dass die von Island verfügte Ausdehnung seiner ausschließlichen Fischereizone der Bundesrepublik und dem Vereinigten Königreich nicht entgegengehalten werden konnte und dass Island nicht berechtigt war, westdeutsche oder britische Fischereiboote zwischen 12 und 50 Seemeilen einseitig in ihren Aktivitäten zu beschränken. Zugleich legten die Urteile verschiedene Punkte fest, die im Sinne einer ausgeglichenen Lösung bei künftigen Verhandlungen zu beachten

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Fischereihoheit (Vereinigtes Königreich ./. Island), Einstweilige Maßnahmen, Anordnung v. 17. August 1972, ICJ Reports 1972, 12; Fischereihoheit (Bundesrepublik Deutschland ./. Island), Einstweilige Maßnahmen, Anordnung vom 17. August 1972, ICJ Reports 1972, 30. Die beiden Fälle sind von dem Gerichtshof nie i.S.v. Art. 47 S. 1 der Verfahrensordnung 1978 verbunden worden. Sie wurden jedoch parallel behandelt, was nach Art. 47 S. 2 der Verfahrensordnung 1978 zulässig ist. 22 Fischereihoheit (Vereinigtes Königreich ./. Island), Zuständigkeit des Gerichts, Urteil, ICJ Reports 1973, 3 ff.; Fischereihoheit (Bundesrepublik Deutschland ./. Island) Zuständigkeit des Gerichts, Urteil, ICJ Reports 1973,49 ff. 23 Fischereihoheit (Vereinigtes Königreich ./. Island), Sachfragen, Urteil, ICJ Reports 1974, 3 ff.; Fischereihoheit (Bundesrepublik Deutschland ./. Island), Sachfragen, Urteil, ICJ Reports 1974, 3 ff.

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wären. Wie das erste Urteil, bei dem Deutschland Partei vor dem IGH war, ist also auch das zweite im deutschen Sinne entschieden worden. Dieser Sieg hat Deutschland aber de facto nichts genutzt. Denn als diese beiden Urteile ergingen, war die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, die sich u.a. wiederum mit der Frage der Breite der Territorialgewässer und der ausschließlichen Rechte der Küstenstaaten jenseits der Territorialgewässer zu befassen hatte, bereits in ihrer zweiten Sitzungsperiode. Eine starke Tendenz zur Erweiterung der Territorialgewässer und zur Anerkennung ausschließlicher Rechte der Küstenstaaten war spürbar. Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, Streitigkeiten nach geltendem Recht, aber nicht de lege ferenda zu entscheiden, bemühte sich sichtlich, die sich daraus für seine Entscheidung ergebenden Folgerungen nicht vorwegzunehmen. Die Dritte Seerechtskonferenz hatte mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, dass die VN-Seerechtskonvention erst 1982 verabschiedet werden konnte und dann noch weitere zwölf Jahre brauchte, bis sie 1994 in Kraft treten konnte. Sie sieht für die Territorialgewässer eine zulässige Breite von 12 Seemeilen vor und eine ausschließliche Wirtschaftszone, die 188 Seemeilen darüber hinaus gehen kann. Der nächste Streitfall, der von Deutschland als Kläger vor den Gerichtshof gebracht wurde, war der Fall der Brüder LaGrand, in dem Deutschland 1999 Klage gegen die Vereinigten Staaten erhob. Karl und Walter LaGrand waren im Staate Arizona wegen eines Raubüberfalls mit Mord zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Sie hatten den größten Teil ihrer Leben in den Vereinigten Staaten verbracht, hatten jedoch ihre durch ihre Mutter erworbene deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren. Die Justizbehörden des Staates Arizona hatten es unterlassen, die Brüder, wie es nach Artikel 36 der Wiener Konsularkonvention von 1963 vorgeschrieben ist, von ihrem Recht auf Betreuung durch die konsularische Vertretung ihres Heimatstaates zu unterrichten. Deutschland machte geltend, dass die Behörden des Staates Arizona im Februar 1999 zugegeben hatten, dass sie seit 1982, dem Zeitpunkt der Verurteilung, von der Tatsache Kenntnis hatten, dass die Brüder deutsche Staatsangehörige waren. Ein Berufungsverfahren vor dem zuständigen Bundesgericht führte nicht zum Erfolg, weil das Gericht die Doktrin des amerikanischen Strafprozessrechts anwandte, nach der eine in der niedrigeren Instanz nicht geltend gemachte Einrede vor der höheren Instanz nicht mehr geltend gemacht werden kann, sondern verfällt. Deutschland hatte sozusagen im letzten Augenblick eine einstweilige Anordnung des IGH erwirkt, die den Vereinigten Staaten aufgab, alle ihnen zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Walter LaGrand - Karl LaGrand war schon hingerichtet - exekutiert werde, solange die Endent-

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Scheidung des IGH noch ausstehe. Der Gerichtshof wünschte, über die ergriffenen Schritte informiert zu werden. Auch wünschte der Gerichtshof, dass die Anordnung dem Gouverneur von Arizona übermittelt werde. Die Vereinigten Staaten unterrichteteten den Gerichtshof dahin gehend, dass die Anordnung an den Gouverneur des Staates Arizona weitergeleitet worden sei. Aus Zeitmangel hätten weitere Schritte nicht unternommen werden können. Parallel scheiterte ein Versuch, den Fall vor den Supreme Court der Vereinigten Staaten zu bringen. Der IGH 24 wies eine Reihe von Einwendungen der Vereinigten Staaten gegen seine Zuständigkeit in dieser Sache und gegen die Zulässigkeit der Klageerhebung zurück und gab den vier Klageanträgen der Bundesrepublik Deutschland statt. Mir erscheint Folgendes bemerkenswert: In dem Fall LaGrand ging es nicht wie gelegentlich behauptet worden ist - um die völkerrechtliche Zulässigkeit der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe. Es ging allein darum, ob die Vereinigten Staaten ihre Pflichten aus der Wiener Konsularkonvention von 1963, die von den USA ratifiziert worden ist, erfüllt haben und ob sie ihren Verpflichtungen aus der einstweiligen Anordnung vom März 1999 nachgekommen sind sowie welche Verpflichtungen den Vereinigten Staaten obliegen, um den Wiederholungsfall zu verhindern. Von über den Fall LaGrand hinausgehender Bedeutung ist die Feststellung des Gerichtshofs, dass einstweilige Anordnungen nach Artikel 41 des Statuts verbindliche Wirkung haben. Die Frage nach der Verbindlichkeit solcher Anordnungen war bis dahin sowohl von dem Ständigen Internationalen Gerichtshof als auch von dem IGH offengelassen worden. Außer diesen drei Verfahren, in denen Deutschland als Klägerin beteiligt war, ist die Bundesrepublik Deutschland in zwei Verfahren auf der Beklagtenseite beteiligt. Es handelt sich hier zunächst um das von Jugoslawien im April 1999 eingeleitete Verfahren gegen 10 NATO-Staaten, darunter Deutschland, wegen Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes und anderer völkerrechtlicher Regeln im Zusammenhang mit den Bombardierungen wegen Kosovo. Ein Antrag Jugoslawiens auf Erlass einer einsteiligen Anordnung wurde durch Entscheidung des Gerichtshofs vom 2. Juni 1999 abgelehnt,25 weil ein Beweis seiner Zuständigkeit auch prima facie nicht vorlag. Im Übrigen ist die jugoslawische Klage, soweit Deutschland betroffen ist, noch anhängig. Als bisheriges Mitglied des IGH möchte ich mich daher nicht dazu äußern. Ebenfalls anhängig ist eine Klage von Liech-

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LaGrand (Deutschland./. USA), Urteil v. 27. Juni 2001, abgedruckt in: International Legal Materials 40 (2001), 1069 ff. 25 Zulässigkeit der Anwendung von bewaffneter Gewalt (Jugoslawien ./. Deutschlan Einstweilige Maßnahmen, Anordnung v. 2. Juni 1999, ICJ Reports 1999,422 ff.

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tenstein gegen Deutschland wegen bestimmter vermögensrechtlicher Fragen.26 Mein Nachfolger im Gerichtshof, Professor Simma, hat die Bundesregierung bis zu seiner Wahl in den IGH in dieser Sache beraten. Er kann daher in diesem Fall nicht Richter sein. Deutschland hat mich statt seiner zum Ad-hoc-Richter ernannt. Deswegen kann ich Ihnen gegenüber auch zu diesem Fall nichts sagen, außer dass Sachentscheidungen bisher nicht ergangen sind.

E. Fazit Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der Abriss der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Internationalen Gerichtshof, den ich Ihnen heute Abend gegeben habe, ein insgesamt positives Bild zeigt. Deutschland hat in den Jahren, seitdem ihm der Weg zu dem Internationalen Gerichtshof offensteht, durchaus aktive Beziehungen zu dem IGH entwickelt. Die Natur der Fälle, in denen Deutschland als Kläger aufgetreten ist, und die Art, in der Deutschland als Kläger oder als Beklagter seine Prozesse führt, zeigen, dass die Bundesrepublik den Gerichtshof als Mittel der friedlichen Streitbeilegung sehr ernst nimmt. Das Verhalten der Bundesrepublik zeigt auch, dass sie Vertrauen zu dem Gerichtshof hat. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Pressemitteilung des IGH vom 1. Juni 2001, no. 2001/14.

Deutschland und der Europäische Gerichtshof Von Siegbert Alber

Streng genommen passt der Europäische Gerichtshof (EuGH) eigentlich nicht unbedingt in die Vorlesungsreihe „Deutschland und die Internationale Gerichtsbarkeit". Es wird ja großer Wert darauf gelegt, dass die Gemeinschaften supranational sind und nicht international. Die Supranationalität ist Folge des integrativen Charakters der Gemeinschaften und der - zumindest teilweisen - Direktwirkung des europäischen Rechts. Doch wir wollen es heute so genau nicht nehmen und keine spitzfindigen Gegensätze zwischen den beiden Begriffen konstruieren.

A. Die Stellung des Europäischen Gerichtshofes Im Gegensatz zu vielen anderen, rein internationalen Gerichtshöfen, die sich ja eigentlich mehr oder weniger nur mit einer Rechtsmaterie, wie z.B. den Grundrechten oder dem Seerecht, befassen, hat der EuGH demgegenüber eine umfassende Zuständigkeit in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft durch Einzelermächtigungen Kompetenzen erhalten hat. So gesehen ist der EuGH sowohl Verfassungsgericht wie auch Verwaltungsgericht, Finanzgericht, Arbeits- oder Sozialgericht. Er ist Zivilgericht für Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel gemäß Artikel 238 EG und über arbeitsrechtliche Aspekte hinaus auch Disziplinargericht (als Rechtsmittelinstanz) für Streitsachen zwischen der Gemeinschaft und deren Bediensteten (Art. 236 EG). Er wird - ebenfalls als Rechtsmittelgericht sogar Patentgericht nach Einführung des europäischen Gemeinschaftspatents. Wenn der Gerichtshof gemäß Artikel 300 Abs. 6 EG aufgefordert wird, ist er auch zuständig zur Abgabe völkerrechtlicher Gutachten. Eine solche Breite von Zuständigkeiten kommt keinem internationalen Gerichtshof zu. Auch die Vielzahl der Verfahrensarten - Vertragsverletzungsverfahren, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, Vorabentscheidungen, um nur die wichtigsten zu nennen - ist im Vergleich zur internationalen Gerichtsbarkeit eine Besonderheit der europäischen Rechtsordnung. Aufgrund dieser Fülle sind auch die Auswirkungen der europarechtlichen Normen auf die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme immens. Im Bereich des Wirt-

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Siegbert Alber

schaftsrechts heißt es z.B., dass bereits 80 % der nationalen Bestimmungen von der europäischen Gesetzgebung beeinflusst seien. Die Bereiche, in die das Europarecht eindringt, weiten sich immer mehr aus. Inzwischen wird ja bereits über ein europäisches Zivilgesetzbuch diskutiert. Auch das Strafrecht wird auf Dauer nicht rein national bleiben.

B. Die Rechtsquellen des europäischen Rechts Auch die Rechtsquellen des Europarechts sind vielzählig, und die vom EuGH zu beachtenden und zu prüfenden europarechtlichen Bestimmungen sind umfangreich. Zunächst sind es die 314 Artikel des EG-Vertrages und die 225 Artikel des Euratom-Vertrages, also das sog. Primärrecht. Der Unionsvertrag mit seinen 53 Artikeln soll in diesem Zusammenhang übergangen werden, da den Bestimmungen des zweiten und dritten Pfeilers nicht die gleichen bindenden Wirkungen zukommen wie denen des ersten Pfeilers; auch ist deren gerichtliche Überprüfung gemäß Artikel 46 EU so gut wie ausgeschlossen. Nebenbei sei bemerkt, dass der dritte Vertrag, der EGKS-Vertrag (mit seinen 100 Artikeln) bereits am 23. Juli 2002 nach 50-jähriger Dauer ausgelaufen ist. Die sich aus ihm ergebenden Aufgaben und Zuständigkeiten werden nunmehr gemäß den Bestimmungen des EGVertrages ausgeführt. Zu den beiden Verträgen kommen noch entsprechende Anhänge und eine Reihe von Protokollen hinzu, die ja gemäß Artikel 311 EG bzw. 207 Euratom Bestandteil der Verträge sind. In einem solchen Protokoll ist z.B. gemäß Artikel 245 EG auch die Satzung des Gerichtshofes festgelegt. Zwischen dem Primärrecht und dem Sekundärrecht stehen die völkerrechtlichen Abkommen, die die Gemeinschaft nach den Zuständigkeitsbestimmungen des Vertrages abschließen kann. Was nun das Sekundärrecht anbelangt, also die gemäß Artikel 249 EG erlassenen Rechtsakte, so sind gegenwärtig etwa 5.600 Verordnungen und rund 1.800 Richtlinien in Kraft. Die verbindlichen Einzelentscheidungen und deren Anzahl brauchen uns in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren. Böse Zungen, also solche, die Europa gegenüber nicht wohl gesonnen sind und die Brüssel eine Regelungswut vorwerfen, sagen, es seien bereits mehr als 60.000 Rechtsakte erlassen worden. Dazu muss man aber wissen, dass beispielsweise jede Fixierung eines Agrarpreises in Form einer Verordnung geschieht, und jede Änderung dieses Preises dann wiederum in Form einer Verordnung erfolgt. Auf nationaler Ebene würden Preise nie in Form von Gesetzen festgelegt. Das muss man bedenken,

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wenn man Europa den Vorwurf macht, es sei überbürokratisiert. Wie gesagt sind momentan rund 5.600 Verordnungen und etwa 1.800 Richtlinien gültig, die zu beachten sind. Dies ist keine erschreckend hohe Anzahl, wenn man sie mit dem Umfang und der Anzahl der Bestimmungen der nationalen Rechtsordnungen in Relation setzt. Im Vergleich zu den Normen, die andere internationale Gerichtshöfe zu prüfen haben, ist die Anzahl allerdings beachtlich und zeigt die besondere Bedeutung der europäischen Gerichtsbarkeit auf.

C. Die Auswirkungen des europäischen Rechts auf das nationale Recht Zur direkten Geltung des Primär- und Sekundärrechts kommt hinzu, dass sich das europäische Recht zudem auch noch mittelbar auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen - und damit auch auf die deutsche - auswirkt. Beispielsweise sind die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 10 EG verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um den Verpflichtungen, die sich aus dem EG-Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben, zu erfüllen. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung haben sie alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten. Daraus ergibt sich auch eine Pflicht zur Anpassung und Angleichung der nationalen Rechtsordnung an die europäische, zumindest in den relevanten Teilen. Aus dieser Loyalitätspflicht ergibt sich auch, dass selbst bei rein nationalen Regelungen - sogar in Bereichen, für die die Gemeinschaft keine Zuständigkeit hat, wie z.B. im Strafrecht oder im Bildungswesen - die europarechtlichen Grundprinzipien, wie beispielsweise das Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Artikel 12 EG, zu beachten sind. An den Urteilen Casagrande und Calfa sei dies noch erläutert. Im Urteil Simmenthai 1 wird sogar gesagt, dass nach Verabschiedung eines relevanten gemeinschaftsrechtlichen Rechtsaktes die Mitgliedstaaten keine diesem entgegenstehenden nationalen Rechtsnormen mehr erlassen dürfen. Auch diese sich aus der Vorrangswirkung des europäischen Rechts ergebenden Auswirkungen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sollen noch an einigen Beispielen und Urteilen dargestellt werden. Das europäische Recht wirkt sich aber auch noch in einer anderen Weise auf das mitgliedstaatliche Recht aus. Die Ausführung des Gemeinschaftsrechts erfolgt i.d.R. durch die Verwaltungsdienststellen der Mitgliedstaaten, da die Gemeinschaft 1

Urteil vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106/77 (Simmenthai, Slg. 1978, 629, 3. Leitsatz).

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außer im Wettbewerbs- und Personalbereich und bei bestimmten Förderprogrammen nicht über eine eigene Verwaltungsstruktur verfügt. Dabei sind von den Mitgliedstaaten vor allem die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten. Nach dem Äquivalenzgrundsatz müssen die Mitgliedstaaten darauf achten, dass die zur Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts erlassenen nationalen Vorschriften nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die Vorschriften für entsprechende innerstaatliche Maßnahmen. Der Effektivitätsgrundsatz besagt, dass die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte durch nationales Recht bzw. durch innerstaatliche Maßnahmen nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf. 2 Aus diesen Grundsätzen ist abzuleiten, dass man sich gegebenenfalls auch nicht auf nationale Verjährungsvorschriften berufen kann. In der Rechtssache Alcan 3 ging es um die Anordnung der Rückforderung einer Beihilfe, die das Land Rheinland-Pfalz vertragswidrig - weil nicht angemeldet - Alcan gewährt hat. Obwohl die Rückforderung nach deutschem Recht veijährt gewesen wäre, konnte sich Alcan darauf und auf Vertrauensschutz nicht berufen, weil es die Rechtswidrigkeit nach Auffassung des Gerichtshofes hätte erkennen müssen.

D. Eigene Grundsätze der europäischen Rechtsprechung Weiters kommt im Gegensatz zu den internationalen Gerichtshöfen hinzu, dass der EuGH anhand eigener, von ihm selbst entwickelter Rechtsgrundsätze Recht spricht und die Europäischen Verträge nicht anhand der Wiener Vertragsrechtskonvention auslegt, wie es internationale Gerichte tun würden. Diese Methode war bislang eigentlich auch unstrittig; ja, sie wurde sogar von der Wissenschaft und Praxis begrüßt. Merkwürdigerweise hat aber der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Siegfried Broß, der im Bundesverfassungsgericht für die europäischen Fragen zuständig ist, dies in seiner Antrittsvorlesung vor einem halben Jahr in Freiburg wieder in Frage gestellt und beanstandet, dass der EuGH eigene Rechtsgrundsätze entwickelt habe. Er kritisiert sogar die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten mit der Begründung, die europäischen Verträge hätten Grund-

2

Siehe zuletzt Beschluss vom 9. April 2003 in der Rechtssache C-424/01 (Pikaart Slg. 2003,1-1623), Randnr. 31. 3 Urteil vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-24/95 (Alcan, Slg. 1997,1-1591).

u.a.,

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rechte nicht vorgesehen, weshalb derrichtigeWeg gewesen wäre, diese Verträge zu beanstanden.4 Trotz alledem ist natürlich auch das Europarecht völkerrechtlich geprägt. Noch gibt es einige Relikte, die m.E. eigentlich im Rahmen der Diskussion über die neue europäische Verfassung hätten abgeschafft werden sollen. Beispielsweise gibt es immer noch keine Leistungs- und Verpflichtungsklage. Vertragsverletzungsklagen haben ja nur feststellenden Charakter. Man muss ihnen zwar nachkommen, und seit dem Maastrichter Vertrag gibt es gemäß Artikel 228 Abs. 2 EG sogar Sanktionsmöglichkeiten. Diese sind dem Völkerrecht eigentlich fremd, denn in ihm sind praktisch nur Retorsionen oder Ansprüche auf finanzielle Entschädigungen vorgesehen. Ein weiteres völkerrechtliches Relikt ist das Faktum, dass Titel gegenüber Staaten nicht vollstreckbar sind (Art. 256 Abs. 1 EG). Allerdings könnte es sich aus politischen Gründen heute wohl kein Staat mehr erlauben, auf dieser Bestimmung zu bestehen.

E. Die Organisation der europäischen Gerichtsbarkeit I. Die Richter und Generalanwälte Doch nun zu einigen organisatorischen Aspekten. Gemäß Artikel 221 EG besteht der Gerichtshof aus einem Richter je Mitgliedstaat, z.Zt. also aus 15 Richtern. Das deutsche Mitglied ist Frau Prof. Dr. Ninon Colneric, die hier in Kiel sehr bekannt ist, war sie doch vor Übernahme dieses Amtes Präsidentin des Landesarbeitsgerichts von Schleswig-Holstein. Nach Artikel 224 EG besteht das Gericht erster Instanz (EuG) aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat. Deutscher Richter beim EuG ist Prof. Dr. Jörg Pirrung. Chef der Verwaltung ist bei beiden Gerichten jeweils ein Kanzler, der auch für die Korrespondenz und die Zustellungen zuständig ist. Der Kanzler beim EuG ist Dr. Hans Jung, ebenfalls ein Deutscher. Eine Besonderheit beim EuGH - auch gegenüber anderen internationalen Gerichtshöfen und gegenüber der deutschen Gerichtsbarkeit - sind die acht Generalanwälte, die gemäß Artikel 222 EG den Gerichtshof unterstützen. Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass die Generalanwälte nach den mündlichen Verhandlungen Schlussanträge zu den Rechtssachen stellen, über die der Gerichts4

Siegfried Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des europäischen Einigungsprozesses - Probleme, Risiken und Chancen, Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2002, 574 ff.

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hof anschließend berät. Schlussanträge sind Rechtsgutachten mit einem Urteilsvorschlag, an den die Richter allerdings nicht gebunden sind. Nach Artikel 20 Abs. 5 der neuen Satzung in der Nizzaer Fassung kann der EuGH neuerdings - wenn er der Auffassung ist, dass eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft - nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dass ohne Schlussanträge entschieden wird. Bislang waren zu jeder Rechtssache Schlussanträge zu stellen, was künftig arbeitsmäßig schon nicht mehr möglich sein wird, weil die Zahl der Generalanwälte trotz der durch die Erweiterung vorhersehbaren Zunahme der Fälle gleich bleiben wird. Beim EuG gibt es (noch) keine eigenen Generalanwälte, doch kann dies gemäß Artikel 224 Abs. 1 EG (seit dem Nizzaer Vertrag) in der Satzung vorgesehen werden. Dazu bedarf es eines politischen Beschlusses. Aber auch schon bisher kann in Einzelfällen beim EuG ein Generalanwalt bestellt werden. Nach der Verfahrensordnung (VFO) des EuG wird das Gericht dann von einem Generalanwalt unterstützt, wenn es als Plenum tagt. Dazu wird dann vom Präsidenten des EuG ein Richter des Gerichts für den konkreten Fall als Generalanwalt benannt (Art. 17 VFOEuG). Entsprechendes gilt gemäß Artikel 18 VFOEuG für das in Kammern tagende Gericht, wenn die Rechtssache als schwierig angesehen wird. In diesem Fall kann aus dem Kreise der Richter ein Generalanwalt bestellt werden. Von diesen Möglichkeiten hat das EuG jedoch nur in seinen ersten Jahren Gebrauch gemacht. Die Generalanwälte sind trotz der etwas irreführenden Titulierung keine Anwälte, sondern Mitglieder des Gerichtshofes, die ebenfalls „hinter dem Richtertisch sitzen". Sie stellen ihre Schlussanträge, wie es in Artikel 222 Abs. 2 EG heißt, in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Die Funktion des Generalanwalts ist der des Commissaire du Gouvernement beim französischen Staatsrat nachgebildet; der Conseil d'Etat ist ja nicht nur ein politisches Organ, sondern gleichzeitig das höchste französische Verwaltungsgericht. Auch die Bezeichnung Commissaire du Gouvernement ist eigentlich nicht mehr zeitgemäß, ja sogar unrichtig. Der Betreffende ist kein Regierungskommissar mehr, der die Rechtsprechung im Auftrag der Regierung überwacht, sondern seit 1848 ebenfalls ein unabhängiges Mitglied des Gerichts. Der Hauptsinn der Funktion des Generalanwalts liegt meines Erachtens darin, dass jede Rechtssache doppelt geprüft wird. Es ist nämlich zu bedenken, dass der EuGH in fast 90 % aller Fälle erste und letzte, also einzige Instanz ist. In einem solchen Fall ist daher eine doppelte Prüfung der Rechtssachen sehr sinnvoll. Diese Prüfung ist auch strukturell verschieden, denn der Generalanwalt prüft den Fall allein, der anschließend von einem Spruchkörper, also von einem Gremium ent-

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schieden wird. Ein weiterer Sinn besteht in der Möglichkeit der zwischen den Richtern und dem Generalanwalt divergierenden Auffassungen. Der Gerichtshof will bewusst nicht die Möglichkeit eines Minderheitsvotums durch überstimmte Richter einführen, weil er zu Recht der Ansicht ist, dass sein Urteil dem Rechtsfrieden zu dienen habe, so dass die Gesamtheit der Richter dahinter stehen solle. Die Stellung des Generalanwalts wird durch den Nizzaer Vertrag insofern aufgewertet, als gemäß Artikel 62 der neuen Satzung der Erste Generalanwalt und nur er, nicht also auch die Parteien - anregen kann, Entscheidungen des EuG zu überprüfen, die dieses entweder als Rechtsmittelinstanz gegenüber Entscheidungen der - künftig gemäß Artikel 220 Abs. 2 EG möglichen - gerichtlichen Kammern (Art. 225 Abs. 2 EG) oder als Gericht im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 225 Abs. 3 EG) erlassen hat, sofern nach Auffassung des Ersten Generalanwalts so Artikel 62 Abs. 1 der Satzung - „die ernste Gefahr einer Beeinträchtigung der Einheit oder der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts besteht". Noch ist es nicht so weit, denn weder sind die gerichtlichen Kammern gebildet noch sind bislang dem EuG Vorabentscheidungen übertragen worden. Die politische Diskussion hierüber ist noch nicht abgeschlossen. Im Gegensatz zur - durch die Erweiterung der Union bedingten - Erhöhung der Zahl der Richter, bleibt es wie erwähnt bei acht Generalanwälten. Wenn man bedenkt, dass die fünf großen Länder - Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland - immer einen Generalanwalt stellen können, während die anderen Länder bei der Besetzung der verbleibenden Stellen alle sechs Jahre wechseln, dann kann man sich ausdenken, dass sich künftig 20 Länder wohl nicht damit abfinden werden, dass ihnen zusammen nur drei Stellen zukommen. Vielleicht wird dann von der Möglichkeit der Erhöhung der Stellen Gebrauch gemacht, wie dies in Artikel 222 Abs. 1 EG ja vorgesehen ist.

I I . Die Geschfiftsverteilung

Die Zuteilung der Rechtssachen an die Richter als Berichterstatter (durch den Präsidenten) und an die Generalanwälte (durch den Ersten Generalanwalt) erfolgt eigentlich eher pragmatisch, allerdings unter Einhaltung bestimmter Regeln. So bekommt man beispielsweise i.d.R. keine Fälle aus den Ländern, aus denen man stammt, um die Unparteilichkeit zu betonen. Das Besondere an der Geschäftsverteilung ist aber, dass jedes Mitglied des Gerichtshofes Fälle aus allen Rechtsbereichen zugeteilt bekommt, was die Arbeit natürlich hoch interessant, aber auch umfangreich macht. Wegen dieser Art der Zuteilung wird der EuGH vor allem von deutscher Seite oftmals kritisiert. Ihm wird zugleich der Vorwurf gemacht, es mit

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dem gesetzlichen Richter nicht ernst zu nehmen, da nicht von vornherein feststehe, wer sich mit einer Sache befassen werde. Die sehr strenge Einhaltung von Geschäftsverteilungsplänen mag aus deutscher Sicht in Folge der üblen Verhältnisse während der Nazi-Zeit verständlich sein. Für Nicht-Deutsche ist jedoch eine Bestimmung wie Artikel 101 GG nicht leicht nachvollziehbar, insbesondere dann nicht, wenn sie - wie in Deutschland - so interpretiert wird, dass der gesetzliche Richter nicht nur nach der Gerichtsbarkeit - als Strafrichter, Zivilrichter, Verwaltungsrichter usw. - definiert, sondern innerhalb des jeweiligen Gerichts nach dem Geschäftsverteilungsplan bestimmt werden können muss. Beim EuGH ist auch folgende Besonderheit zu bedenken: Hätten wir Spruchkörper, die für bestimmte Rechtsmaterien spezialisiert wären - z.B. eine Fünfer-Kammer für sozialoder arbeitsrechtlich relevante Fälle - , würde dies bedeuten, dass zehn Mitgliedstaaten in dieser Kammer nicht vertreten wären. Auf Dauer wären Urteile eines solchen Spruchkörpers in den Ländern nicht zu vermitteln, die in der Kammer nicht vertreten wären. Zwar vertritt kein Richter sachfremde oder nationale Interessen; es ist aber schon wichtig, dass alle Rechtskulturen in die Urteilsberatungen einfließen. Schon von daher sind wechselnde Zuständigkeiten beim EuGH unumgänglich und eine Verteilung nach Sachgebieten oder gar in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Parteien gar nicht möglich.

I I I . Die Sprachenfrage

Eine weitere Besonderheit - auch im Verhältnis zu anderen internationalen Gerichtshöfen - ist die Anzahl der möglichen Prozesssprachen. Wir haben gemäß Artikel 29 der Verfahrensordnung des EuGH bzw. Artikel 35 der Verfahrensordnung des EuG 12 Verfahrenssprachen, also eine mehr als die Gemeinschaft, denn bei uns kann man auch auf irisch, also auf gälisch, einen Prozess führen. Allerdings hatten wir noch keinen in dieser Sprache. Für den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör ist es schon sehr wichtig, dass die Parteien in ihrer Muttersprache reden und Prozesse führen können. Deshalb werden wir nach der Erweiterung auch alle neu hinzukommenden Sprachen als gleichberechtigt ansehen müssen, auch wenn es dann - bei 20 Sprachen - Übersetzungsprobleme geben wird. Vermutlich werden dann statt der direkten Übersetzungen in alle Sprachen erst Übersetzungen in vier oder fünf „große" Sprachen, sog. Relais-Sprachen (langues pivot), zwischengeschaltet. In jedem Fall aber dürfte dies zu weiteren zeitlichen Verzögerungen der Verfahrensabläufe führen. Eine genaue Regelung der Sprachenfrage liegt noch nicht vor. Artikel 64 der Satzung in der Nizzaer Fassung sieht deshalb vor, dass die bisherigen Regelungen fortgelten, „bis Vorschriften über die Regelung der Sprachenfrage [...] erlassen werden".

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Aufgrund der Anzahl der Sprachen, in die zwar nicht immer die ganzen Akten, wohl aber die Schriftsätze, Schlussanträge und Urteile bzw. Beschlüsse übersetzt werden müssen - nur nebenbei sei bemerkt, dass die interne Arbeitssprache des Gerichtshofes dagegen ausschließlich französisch ist - entfällt ein Großteil der Arbeit und der Prozessdauer auf die Übersetzungen. Waren im Jahr 1995 noch 215.392 Seiten zu übersetzen, so waren es im Jahre 2002 schon 403.544. Es wird geschätzt, dass die Zahl der zu übersetzenden Seiten nach der Erweiterung auf über 1 Million ansteigen wird. Von den insgesamt 1.082 Bediensteten beider Gerichte sind auch die meisten, nämlich 516, im Sprachendienst beschäftigt. In dieser Zahl sind die Dolmetscher für die mündlichen Verhandlungen enthalten. Im Übersetzungsdienst allein sind 433 Personen beschäftigt. (Von den übrigen 566 Bediensteten entfallen etwa zwei Drittel auf die juristischen Dienste und rund ein Drittel auf die allgemeine Verwaltung.)

IV. Die Anzahl der Rechtssachen und die Verfahrensgegenstände

Was nun die Anzahl der Fälle betrifft, so kann man sagen, dass der EuGH jährlich mit etwa 500 neuen Rechtssachen befasst wird. Davon entfallen etwa 20 bis 25 % auf die klassischen Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 226 bis 228 EG, 10 bis 15 % auf Rechtsmittelverfahren gegen Urteile des EuG und 10 % auf Nichtigkeitsklagen gemäß Artikel 230 EG, die von EU-Organen oder Mitgliedstaaten als privilegierte Kläger bzw. vom EG-Rechnungshof oder der EZB als teilprivilegierte Kläger eingereicht werden. Die anderen Direktklagen (von EUOrganen oder Mitgliedstaaten nach Artikel 232 eingelegte Untätigkeitsklagen und Klagen aus Schiedsverträgen nach Artikel 239 EG) oder die Abgabe völkerrechtlicher Gutachten gemäß Artikel 300 Abs. 6 EG fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht. Über 50 % unserer Rechtssachen entfallen dagegen auf Vorabentscheidungsersuchen gemäß Artikel 234 EG. Das Gericht erster Instanz wird jährlich mit etwa 400 neuen Rechtssachen befasst. Die Arbeitsbelastung ist jedoch praktisch die gleiche, weil dieses Gericht sehr viele Beweise erhebt, Zeugen vernimmt und dadurch entsprechend längere mündliche Verhandlungen abhält. Im Gegensatz zur ,All-Zuständigkeit" des EuGH ist die Zuständigkeit des EuG auf die Entscheidungen im ersten Rechtszug über die in Artikel 225 Abs. 1 EG genannten Klagen beschränkt. Es ist zunächst zuständig für alle Direktklagen von Privatpersonen - also natürlicher und juristischer Personen - , die etwas mehr als die Hälfte seiner Fälle ausmachen. Fast ein Drittel seiner Rechtssachen entfallen auf die so genannten Beamtenklagen. Es sind dies gemäß Artikel 236 EG die Streitsachen zwischen der Gemeinschaft und ihren

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Bediensteten. Prüfungsmaßstab ist insoweit das Beamtenstatut, das gemäß Artikel 283 EG erlassen worden ist und dem sekundärrechtliche Bedeutung zukommt. Wenn man bedenkt, dass die Gemeinschaft etwa 30.000 Bedienstete beschäftigt, dann erstaunt, dass die Zahl der anfallenden Streitsachen nicht noch wesentlich höher ist. Weitere 15 bis 20 % der vom EuG zu entscheidenden Fälle betreffen das geistige Eigentum (vor allem Marken und Modelle). Dem EuG können nach dem Nizzaer Vertrag auch Vorabentscheidungen (Artikel 225 Abs. 3 EG) und die Zuständigkeit für weitere Kategorien von Klagen (Artikel 225 Abs. 1 EG) übertragen werden. In welchem Umfang dies der Fall sein wird, ist jedoch politisch noch nicht entschieden. Während die künftige Zuständigkeit des EuG für Vorabentscheidungsersuchen praktisch feststeht - nur die Frage, für welche Rechtsbereiche dies gelten wird, ist noch offen - , dürfte es zur Übertragung der Kompetenz für weitere Klagearten in der nächsten Zeit wohl nicht kommen. Was die Art der Erledigung der Rechtssachen anbelangt, so wurden beim EuGH im Jahre 2002 über 85 % der Rechtssachen durch Urteil und nicht ganz 15 % durch Beschluss entschieden. Spruchkörper waren in 51,9 % der Fälle die beiden Kammern mit fünf Richtern, in 24,2 % die vier Dreier-Kammern, in 14,4 % der Fälle das kleine Plenum mit 11 Richtern und in 8,6 % das große Plenum mit allen 15 Richtern.5 Die durchschnittliche Verfahrensdauer liegt z.Zt. bei 22 bis 23 Monaten, was für ein Gericht dieser Art nicht zu lange ist, wird doch ein Großteil dieser Zeit für die Übersetzungen benötigt. Beim EuG wurden im vergangenen Jahr 77,8 % der Fälle durch Dreier-Kammern, 19,4 % durch Fünfer-Kammern, 1,8 % durch Einzelrichter und 0,9 % durch den Präsidenten entschieden.6 Im Hinblick auf die Verfahrensgegenstände lagen bei den beim EuGH im Jahre 2002 eingegangenen 470 Rechtssachen die Fälle aus dem Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz mit 71 Rechtssachen an erster Stelle, gefolgt von der Landwirtschaft mit 53 Fällen. Sehr viele Rechtssachen entfallen jeweils auf das Steuerrecht und den freien Dienstleistungsverkehr. Wegen der Verteilung nach den Verfahrensgegenständen im Einzelnen möchte ich auf die Anhänge I (den Gerichtshof betreffend) und II (betreffend das EuG) verweisen.7 Zu den Vorabentscheidungsersuchen möchte ich noch ausführen, dass die meisten entweder aus Deutschland, wie im Jahre 2002, oder aus Österreich, wie im Jahre 2001 und 1999, kommen. Im Hinblick auf die Bevölkerungszahl ist öster5

Jahresbericht 2002 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (www.curia.eu. int) Tabelle 4, S. 172. 6 Jahresbericht 2002 des EuGH, Tabelle 7, S. 195. 7 Anhang I ist die Tabelle 11 von S. 179 und Anhang II die Tabelle 4 von S. 192 des Jahresberichts 2002 des EuGH.

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reich besonders vorlagefreudig. Es kommt hinzu, dass sich die von dort kommenden Ersuchen meistens nicht nur auf eine einzige Frage beschränken, sondern oftmals mit einer Fülle von Zusatzfragen „angereichert" sind. Von den bis Ende 2002 insgesamt 4.834 vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen stammten 1.321 aus Deutschland, also doppelt so viele wie aus Frankreich und viermal so viele wie aus dem Vereinigten Königreich. Wegen der Verteilung nach den Herkunftsländern im Einzelnen verweise ich auf den Anhang III. 8 Welche Gerichte aus Deutschland legten bisher vor? Bislang stammten 909 Vorabentscheidungsersuchen von anderen als den Bundesgerichten. Was letztere anbelangt, so kamen die meisten, nämlich 198, vom Bundesfinanzhof, 85 kamen vom Bundesgerichtshof, 69 stammten vom Bundessozialgericht und lediglich 4 vom Bundesarbeitsgericht.9 Das Bundesverfassungsgericht - wen wird es wundern? - machte noch kein einziges Mal von der Möglichkeit einer Vorlage Gebrauch.

F. Die Anwendung des Europarechts durch die Mitgliedstaaten Wie steht es nun insgesamt mit der Anwendung von Europarecht, wie ordnungsgemäß werden die Richtlinien umgesetzt? Zu diesen Fragen erstellt die Kommission jährlich einen Bericht; der letzte ist der 19. Jahresbericht von 2001.10 Zum Zeitpunkt der Berichterstattung hatten die Mitgliedstaaten im Durchschnitt 97,41 % der zur Umsetzung erforderlichen nationalen Maßnahmen durchgeführt bzw. der Kommission mitgeteilt. Zwar lag diese Zahl leicht über dem Stand des Jahres 2000, in dem der Schnitt lediglich 96,95 % betragen hatte; er ist sogar der beste Stand seit 1992. Dennoch liegt auch er unter der vom Rat angestrebten Zielvorgabe von 98,5 %. Deutschland lag mit 96,86 % sogar noch unter dem Durchschnitt der Mitgliedstaaten.11 Auch was die Vertragsverletzungen anbelangt, liegt Deutschland bestenfalls im Mittelfeld, was sich aus der Übersicht im Anhang IV ergibt.12 Auf jeden Fall ist 8

Anhang III ist die Tabelle 16 von S. 184 des Jahresberichts 2002 des EuGH. Jahresbericht 2002 des EuGH, Tabelle 17, S. 185. 10 19. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftrechts (2001 ) vom 28.6.2002, KOM(2002) 324 endg. 11 19. Kommissionsbericht, S. 11 (mit Tabelle über die Aufschlüsselung nach Mitgliedstaaten). 12 Anhang IV ist die Tabelle 2.1. des Anhangs II zum 19. Jahresbericht der Kommission über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2001). 9

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mit diesen Zahlen die ständig wiederholte These widerlegt, in Brüssel würden die Rechtsakte gemacht, in Neapel würde darüber gelacht - was sogar stimmen mag und nur in Deutschland würden sie angewandt, was in dieser Apodiktik also nicht stimmt.

G. Grundzüge und Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes Es ist schon oft zu Recht gesagt worden, der EuGH sei durch seine Rechtsprechung ein Motor der europäischen Integration. Früher war er dies mit Sicherheit, als das europäische Recht noch viele Lücken aufwies, die im Wege der Rechtsfortbildung durch teleologische Überlegungen und durch Analogieschlüsse zu schließen waren. Da das europäische Recht inzwischen aber eine dem nationalen Recht vergleichbare Regelungsdichte erreicht hat, nimmt sich der Gerichtshof neuerdings deutlich zurück. Anders ausgedrückt: Er geht davon aus, dass dann, wenn etwas nicht ausdrücklich geregelt ist, es vom Gesetzgeber auch nicht geregelt werden wollte. Wenn allerdings entsprechende Normen erlassen worden sind, wendet sie der Gerichtshof ausgesprochen „europafreundlich" an, was viele fälschlicherweise mit einer Bevorzugung der europäischen Institutionen durch den Gerichtshof gleichsetzen. Dies ist bestimmt nicht der Fall. Um den falschen Eindruck zu vermeiden, wäre es deshalb wohl auch besser, statt von „europafreundlich" von „gemeinschaftsrechtsfreundlich" zu sprechen. Ein Beispiel einer solchen Rechtsprechung ist das Centros-Urteil. 13 Im Ausgangsfall dieser Rechtssache gründete ein dänisches Ehepaar in Großbritannien eine Gesellschaft und beabsichtigte, von dort aus eine Zweigniederlassung in Dänemark zu errichten, von der aus die Geschäfte ausschließlich betrieben werden sollten; die Limited im Vereinigten Königreich war nur eine Briefkastenfirma. Natürlich sollte über diese Konstruktion die Notwendigkeit des hohen Mindestkapitals in Dänemark umgangen werden. Der Gerichtshof, der die Gründungstheorie bestätigte, beanstandete jedoch die Wahrnehmung der nach dem europäischen Recht günstigsten Möglichkeit nicht, solange keine Betrugsabsichten erkennbar seien. Natürlich wurde dieses Urteil von den Anhängern der Sitztheorie heftigst kritisiert und dem EuGH vorgeworfen, er 13

Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg. 1999,1-1459). Siehe zu diesem Fragenkomplex auch das Urteil vom 5. November 2002 in der Rechtssache C-208/00 (Überseering BV, Slg. 2002,1-9919) und meine Schlussanträge vom 30. Januar 2003 sowie das Urteil vom 30. September 2003 in der Rechtssache C-167/01 (Inspire Art, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, aber unter http://www.curia.eu.int abrufbar).

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betreibe damit eine Harmonisierung durch die Hintertür, und zwar - run to the bottom - auf niedrigstem Niveau. Eine gemeinschaftsrechtsfreundliche Rechtsprechung ist jedoch m.E. nicht zu beanstanden. Wenn ich nun gefragt würde, in welchen Bereichen und durch welche Urteile die Rechtsprechung des EuGHrichtungsweisendwar, würde ich Folgendes antworten: Am entscheidendsten war die Urteilsfindung - für die vorrangige Geltung des europäischen Rechts, - für die Schaffung des Binnenmarktes und vor allem - für die Rechte der Bürger.

I. Der Vorrang des europäischen Rechts

Die Vorrangswirkung des europäischen Rechts vor dem nationalen hat natürlich die größten Auswirkungen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Dieser Grundsatz des Vorrangs ist vom Europäischen Gerichtshof aus Effizienzgründen entwickelt worden, da sonst das Europarecht unterlaufen und in seiner Einheitlichkeit und Geltung beeinträchtigt werden könnte. Der EG-Vertrag selbst sagt - wenn man von Artikel 249 EG absieht - dazu nichts; es gibt keine dem Artikel 31 GG entsprechende Bestimmung. Dort heißt es, dass Bundesrecht Landesrecht bricht. Nirgends ist festgelegt, dass Europarecht nationales Recht bricht. Auch zu Artikel 25 GG, der den Vorrang des Völkerrechts festlegt, gibt es im Hinblick auf das Europarecht keine Pendantbestimmung. Inzwischen ist der Vorrang zumindest versteckt und mittelbar in die Verträge aufgenommen worden. Im - dem Amsterdamer Vertrag beigefügten - Protokoll Nr. 21 „über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" heißt es in der Ziffer 2, dass diese Grundsätze angewandt werden und dass „dabei [...] die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze für das Verhältnis zwischen einzelstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht berührt [werden] ...". ,4 Aber erst mit der kommenden EU-Verfassung wird dieser Grundsatz ausdrücklich und eindeutig normiert werden. Der künftige Artikel 1-10 Abs. 1 der Verfassung soll wie folgt lauten: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen von der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten." Das grundlegende Urteil zur Vorrangswirkung war das schon 1964 in der Rechtssache Costa/E.N.E.L ergangene, das den Vorrang des europäischen Rechts 14

Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (ABl. 1997, C 340, 105).

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festgelegt hat.15 Im Urteil in der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft vom Jahre 1970 wurde dieser Vorrang sogar gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ausgesprochen.16 Diese Klarstellung war zu begrüßen; denn würde man das nationale Verfassungsrecht generell als „tabu" ansehen, könnte so leicht Europarecht umgangen werden. Beispielsweise sind in der vorletzten Legislaturperiode in Österreich während der Großen Koalition aus innenpolitischen Gründen viele Gesetze mit Verfassungsrang versehen worden, damit sie nicht mehr so leicht abgeändert werden konnten. Durch solche Praktiken könnte - würde man insoweit dem Europarecht den Vorrang verwehren - dieses Recht wirkungslos gemacht werden. Im Urteil Internationale Handelsgesellschaft heißt es in der Randnummer 3: „Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidimg über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden ... Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt". Kritiker dieser Rechtsprechung des EuGH sehen in dieser Aussage eine Kompetenzüberschreitung. Sie verschweigen aber, dass der Gerichtshof in der Randnummer 4 des gleichen Urteils ausgeführt hat: „Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat...". Dies bedeutet doch, dass der EuGH dem Europarecht keine pauschale und generelle Vorrangstellung einräumt, sondern gegebenenfalls selbst prüft, ob wesentliche Rechtsgrundsätze des EU- oder Gemeinschaftsrechts verletzt worden sind. Im Übrigen wird nicht nur der EuGH, sondern in der Praxis auch der europäische Gesetzgeber zugleich die wesentlichen nationalen Verfassungsgrundsätze beachten, so dass die Frage des Widerstreits sowieso eher nur hypothetischer Natur ist. Das deutsche Bundesverfassungsgericht respektiert diese Rechtsprechung und weist deshalb entsprechende Verfasssungsbeschwerden u.U. zurück. Wörtlich heißt es im ersten Leitsatz des Beschlusses vom 7. Juni 2000 (zur Bananen-Marktordnung):

15

Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64 (Costa/KN.KL., Slg. 1964,1251). Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970,1125). 16

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Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange Ii-Entscheidung... unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei.17

Das für die Vorrangswirkung ebenfalls wichtige Urteil Simmenthai habe ich eingangs schon erwähnt.18 Zur Vorrangswirkung sei noch gesagt, dass das europäische Recht allerdings keinen Geltungsvorrang genießt, der bedeuten würde, dass jedes ihm entgegenstehende nationale Recht ungültig würde, sondern es hat lediglich Anwendungsvorrang, d.h., im Kollisionsfalle mit mitgliedstaatlichem Recht müssen nationale Behörden und Gerichte Gemeinschaftsrecht anwenden und ihr nationales Recht unangewendet lassen. Dies ist ein besonderes Wesensmerkmal der europäischen Rechtsordnung. Früher war laut Montesquieu ein Gericht nur das Sprachrohr des Gesetzes. Heute ist auch der nationale Richter zugleich Europarichter und in diesem Zusammenhang ist er nicht nur Sprachrohr seines nationalen Rechts, sondern er muss gleichzeitig gewichten und entscheiden, welches Recht gilt: das nationale oder das europäische. Auch wenn der Zivilrichter dies im Bereich des Internationalen Privatrechts immer schon tun musste, so ist es im jetzigen Umfang doch neu und damit eine Funktion, die weit über die bisherige Rolle eines Gerichts hinausgeht. Eine Folge der Vorrangswirkung ist das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 234 EG, gemäß dem der Gerichtshof über die Auslegung des EG-Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft (Parlament, Rat, Kommission, Rechnungshof) und der Europäischen Zentralbank entscheidet. Tritt eine derartige Auslegungsfrage in einem innerstaatlichen Gerichtsverfahren auf und hält das befasste Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen; ist gegen die Entscheidung eines Gerichts ein Rechtsmittel nicht mehr möglich, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes sogar verpflichtet. Der EuGH hat insoweit die Letzt-Auslegungskompetenz. Auch ein nicht-letztinstanzliches Gericht muss vorlegen, wenn es nicht bloß um die Auslegung, sondern um die Gültigkeit einer europarechtlichen Bestimmung geht, denn in diesem Fall hat der EuGH das Allein-Verwerfungsmonopol. 19 17 18 19

4199).

BVerfGE 102, 147. Siehe Anm. 1. Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85 (Foto-Frost, Slg. 1987,

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Trotz der generellen Letzt-Auslegungskompetenz des EuGH brauchen letztinstanzliche Gerichte in folgenden drei Fällen nicht vorzulegen, sondern können die Frage selbst beantworten: Wenn die Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, oder wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Antwort auf die Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (acte clair). 20 Wenn dennoch vorgelegt wird, kann der Gerichtshof durch Beschluss statt durch Urteil entscheiden (s. hierzu Art. 104 § 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes). Unzulässig wird die Frage also nicht. Die Vorlage durch den nationalen Richter kann allerdings von den Parteien des nationalen Verfahrens nicht erzwungen werden. Wenn aber nicht vorgelegt wird, obwohl vorgelegt hätte werden müssen, ist das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt, da der EuGH als solcher gilt.21

II. Der Binnenmarkt

Der zweite Bereich, zu dessen Verwirklichung die Rechtsprechung entscheidend beigetragen hat, ist der Binnenmarkt. Anstoß hierfür war das Urteil Rewe, besser bekannt unter dem Begriff Cassis de Dijon? 1 Cassis ist ein Johannisbeersirup mit 16-18 % Alkoholgehalt. Er dient als Grundlage für das neue französische Nationalgetränk, den Kir. Deutschland hatte den Import von Cassis verboten, weil er wegen des Alkoholgehalts kein bloßer Sirup mehr sei, er aber auch nicht als Likör eingestuft werden könne, weil dazu ein noch höherer Alkoholgehalt nötig wäre. Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein solches Importverbot unzulässig sei. Es laufe dem Sinne des Binnenmarktes zuwider, wenn der Import von Produkten verboten werden könnte, deren Herstellung im Ursprungsland erlaubt sei. Solange keine europäische Harmonisierung der Produktherstellung vorliege, müssten gewisse Unterschiede und Verschiedenheiten akzeptiert werden, wenn dadurch keine Handelshemmnisse oder Wettbewerbsverzerrungen entstünden. Der Gerichtshof schuf so den Begriff der „Deregulierung", der den „Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung" beinhaltet. Ausgehend von dieser Rechtsprechung versteht es sich von selbst, dass der Gerichtshof die dem Binnenmarkt zugrunde liegenden vier Grundfreiheiten, 20

Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81 (C.I.L.F.I.T.,

Slg. 1982,

3415). 21 22

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Januar 2001 in: NJW 2001, 1267. Urteil vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 (Rewe, Slg. 1979, 649).

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nämlich die Freizügigkeit der Waren, der Dienstleistungen, des Kapitals und der Arbeit - hinzukommt noch die Niederlassungsfreiheit - besonders schützt und Beschränkungen nur in einem engen Rahmen zulässt und auch nur dann, wenn Rechtfertigungsgründe dafür vorliegen.23

I I I . Die Rechte der Bürger

Die Rechte der Bürger stellen den sicher vornehmsten Teil der europäischen Rechts- und Werteordnung dar. Auch hier war es die Rechtsprechung, die die entscheidenden Anstöße gegeben hat. So heißt es schon 1963 im dritten Leitsatz des Urteils van Gend & Loos:24 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrecht[e] eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.

Die hier angesprochene unmittelbare Wirkung einer europarechtlichen Bestimmung besagt, dass die Vorschrift dem Bürger Rechte verleihen kann, auch wenn sie sich nicht direkt an ihn, sondern an die Mitgliedstaatenrichtet.Der Gerichtshof legte schon in diesem Urteil fest, dass eine Bestimmung „nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut ... auszulegen ist ..." (so der fünfte Leitsatz des genannten Urteils). Weitere Urteile, die Rechte der Bürger betreffen, kamen hinzu. Erwähnt seien nur die bedeutendsten, nämlich van Duyn, 25 Defrenne II, 26 Francovich 27 und Dillenkofer, 28 In den beiden letztgenannten wurden dem Bürger sogar Schadens23

Zu den Voraussetzungen für mögliche Rechtfertigungsgründe siehe Urteil vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94 (Gebhard, Slg. 1995,1-4165). 24 Urteil vom 5. Februar 1963 in der Rechtssache 26/62 (van Gend & Loos, Slg. 1963, 1). 25 Urteil vom 4. Dezember 1974 in der Rechtssache 41/74 (van Duyn, Slg. 1974,1337). 26 Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75 (Defrenne //, Slg. 1976,455). 27 Urteil vom 19. November 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich, Slg. 1991,1-5357). 28 Urteil vom 8. Oktober 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-178/94 und ΟΙ 79/94 und C-188/94 bis C-190/94 0Dillenkofer, Slg. 1996,1-4845).

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ersatzansprüche gegen einen Mitgliedstaat zugebilligt, der eine Richtlinie nicht in der vorgeschriebenen Zeit umgesetzt hatte. Die Leitsätze all dieser Urteile gelten noch immer; sie sind nicht überholt, sondern werden durch die aktuelle Rechtsprechimg immer wieder bestätigt. Was die Haftung der Mitgliedstaaten bei einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts anbelangt, so findet sich im europäischen Recht (naturgemäß) keine Bestimmung über die Staatshaftung. (Die Haftung der Europäischen Gemeinschaft selbst ist dagegen in Art. 288 EG geregelt.) Die Voraussetzungen zur Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegenüber den Mitgliedstaaten sind deshalb vom EuGH entwickelt worden. Die entsprechende Rechtsprechung reicht in Ansätzen bis Ende der siebziger Jahre zurück. Zum eigentlichen Standardurteil ist jedoch das Urteil Francovich geworden.29 In der Randnummer 40 dieses Urteils heißt es: Erstens muss das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung von Rechten an einzelne beinhalten. Zweitens muss der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Drittens muss ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem den Geschädigten entstandenen Schaden bestehen.

Eine weitere Voraussetzung wird im Urteil Brasserie du Pêcheur aufgestellt. Dort hat der Gerichtshof erstmals festgehalten, dass der Verstoß (auch) hinreichendqualifiziert sein müsse30 (Hervorhebungen jeweils durch den Verfasser). Abschließend sei zu diesem Bereich noch gesagt, dass man sich bei einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise durch die nicht fristgemäße Umsetzung einer Richtlinie, zwar dem säumigen Mitgliedstaat gegenüber auf die Richtlinie berufen bzw. Schadensersatz fordern kann. Die so genannte vertikale Wirkung der Richtlinie wird also vom Gerichtshof anerkannt, (noch) nicht jedoch die horizontale, da nicht umgesetzte Richtlinien Dritte nicht verpflichten können. Auch die Pflicht zur Beachtung der Grundrechte durch die europäischen Organe ist vom Gerichtshof festgelegt worden. Erstmals 1969 hat der EuGH im Urteil Stauder 31 von den Grundrechten gesprochen, die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung enthalten seien, deren Wahrung er zu sichern

29

Siehe Anm. 23. Urteil vom 5. März 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996,1-1029, vierter Leitsatz, Randnr. 51 und 55 ff. sowie Tenor Ziffer 2). 31 Urteil vom 12. November 1969 in der Rechtssache 29/69 (Stauder, Slg. 1969, 419, zweiter Leitsatz und siebenter Entscheidungsgrund). 30

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habe. Im Urteil NolcP 2 von 1974 erweiterte der Gerichtshof diese Aussage und präzisierte, „... daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und daß er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat [...]". Zudem wurde ausgeführt: „[...] Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt [...] sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind [...]". Im Urteil Rutiii 33 von 1975 wurde erstmals die EMRK erwähnt und dabei von der „Ausprägung eines allgemeinen] Grundsatzes" gesprochen, „der in den Artikeln [...] der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten und von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [...] verankert ist [...]". Diese Aussagen finden sich in vielen späteren Urteilen wieder und fanden schließlich - fast wörtlich Aufnahme in den Artikel 6 Abs. 2 EU-Vertrag. Der EuGH hat, wie sich in Artikel 6 Abs. 2 EU zeigt, die Grundrechte, die ja in der Tat - bis auf einige wenige - noch nicht ausdrücklich in den Römischen Verträgen normiert sind, bislang aus der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten abgeleitet. Es ist nun sehr erfreulich, dass der Konvent zur Ausarbeitung der Europäischen Verfassung vorschlagen wird, die bislang unverbindliche Charta der Grundrechte der Europäischen Union in die kommende Verfassung aufzunehmen und damit verbindlich und zu einem Teil der Europäischen Rechtsordnimg zu machen. In diesem Zusammenhang wird auch darüber diskutiert, ob künftig auf europäischer Ebene eine Grundrechtsbeschwerde - vergleichbar der deutschen Verfassungsbeschwerde - eingeführt werden soll. Dies würde sicher zu einer enormen Zusatzbelastung der europäischen Gerichtsbarkeit führen, wenn man bedenkt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit bis zu 20.000 Eingaben pro Jahr „bedacht" wird. Um dem zu begegnen, hat nun der Präsident des Bundesverfassungsgerichts angeregt, im Umkehrschluss zu Solange II solche europäischen Rechtsbeschwerden von nationalen Gerichten prüfen zu lassen.34 Darüber könnte man sicher reden, wenn damit nicht gewollt wäre, langsam die europäische Rechtsprechung zu renationalisieren. Beim Präsidenten Papier denke ich aber nicht, dass er solche Hintergedanken hat.

32

Urteil vom 14. Mai 1974 in der Rechtssache 4/73 (Nold y Slg. 1974,491, Randnr. 32). Urteil vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache 36/75 (Rutili, Slg. 1975, 1219, Randnr. 32). 34 EuGRZ 2003, 85. 33

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Zu den Rechten der Bürger gehört auch das Klagerecht beim EuGH. Nach dem bisherigen Wortlaut des Artikels 230 Abs. 4 EG können aber z.B. Privatpersonen eine Nichtigkeitsklage nur dann erheben, wenn sie unmittelbar und individuell betroffen sind. Bei Verordnungen, die sich ja an allerichten,fehlt es aber i.d.R. an der individuellen Betroffenheit. Nun sind jedoch einige Verordnungen „selfexecuting", so dass sie keiner weiteren Durchführungsmaßnahme bedürfen. Um in einem solchen Falle Rechtsschutz zu erreichen, müsste also der Betroffene zunächst gegen die Verordnung verstoßen, was ihm nicht zugemutet werden kann. Um dieses Problem ging bzw. geht es in den aktuellen Rechtssachen Jégo-Quéré? s und Union Pequeftos Agricultores. 36 Generalanwalt Jacobs machte entsprechende Änderungsvorschläge,37 die der Gerichtshof jedoch nicht aufgegriffen hat. Wohl aber hat er daraufhingewiesen, dass der Gesetzgeber am Zuge sei. Dankenswerterweise hat der Verfassungskonvent die Problematik erkannt und schlägt im Hinblick auf Artikel 230 Abs. 4 EG in Art. III-270 Abs. 3 der Verfassung folgende Formulierung vor: „Jede natürliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen [...] gegen die an sie ergangenen oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben."

H. Auswirkungen des europäischen Rechts auf nationale Rechtsbereiche, für die allein die Mitgliedstaaten zuständig sind Wie oben angedeutet, hat das Europarecht - vor allem über das Verbot gemäß Artikel 12 EG, niemanden aufgrund der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren Auswirkungen auf das nationale Recht auch in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft keine Kompetenzen besitzt. Schon im Urteil Casagrande von 197438 35

Urteil des Gerichts erster Instanz vom 3. Mai 2002 in der Rechtssache T-l77/01 (Jégo-Quéré, Slg. 2002,11-2365) und beim EuGH noch anhängige Rechtssache C-263/02 Ρ (Jégo-Quéré, unter http://www.curia.eu.int abrufbar). 36 Beschluss des Gerichts erster Instanz vom 23. November 1999 in der Rechtssache ΤΙ 73/98 (Union de Pequeüos Agricultores, Slg. 1999,11-3357) sowie Urteil des Gerichtshofes vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache C-50/00 Ρ (Union de Ρ eque fio s Agricultores , Slg. 2002,1-6677). 37 Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 21. März 2002 in der Rechtssache C50/00 Ρ (Union de Pequefios Agricultores, Slg. 2002,1-6677). 38 Urteil vom 3. Juli 1974 in der Rechtssache 9/74 (Casagrande/Landeshauptstadt München, Slg. 1974, 773).

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hat der Gerichtshof in der Randnummer 6 im Hinblick auf die Bildungspolitik ausgeführt, „dass die Ausübung der der Gemeinschaft übertragenen Befugnisse irgendwie eingeschränkt wäre, wenn sie sich auf Maßnahmen auswirken kann, die zur Durchführung etwa der Bildungspolitik ergriffen worden sind". Im damaligen Fall ging es um einen Betrag zur Ausbildungsförderung, den die Stadt München einem Gastarbeiterkind nicht bezahlen wollte. In der genannten Randnummer sagte der Gerichtshof zudem: „Wenn es also auch Sache der nach innerstaatlichem Recht zuständigen Organe ist, die [...] Bedingungen festzusetzen, so müssen diese dennoch angewandt werden ohne Diskriminierung zwischen den Kindern der einheimischen Arbeitnehmer und denen der Arbeitnehmer eines anderen Mitgliedstaates, die im Inland wohnen". In der Rechtssache Lawrie-Blum 39 ging es um eine britische Staatsangehörige, die in Baden-Württemberg als Studienreferendarin eingestellt werden wollte. Das Land lehnte dies mit der Begründung ab, der Schuldienst sei eine hoheitliche Tätigkeit; die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gelte daher nicht, da Artikel 48 Abs. 4 EWG (jetzt Artikel 39 Abs. 4 EG) ausdrücklich besage, dass der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer regelnde Artikel auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung keine Anwendung finde. Der Gerichtshof gab aber Frau Lawrie-Blum Recht und sagte in der Randnummer 27 des Urteils, dass vom Geltungsbereich des Artikels nur diejenigen Stellen ausgenommen seien, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und [Hervorhebung durch den Verfasser] an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Ausgenommen sind nur die Stellen, die in Anbetracht der mit ihnen verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten die Merkmale der spezifischen Tätigkeiten der Verwaltung auf den genannten Gebieten aufweisen können.

Auch dieses Urteil hatte weit reichende Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung. Infolge des Urteils können nunmehr auch solche Tätigkeiten von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wahrgenommen werden, die i.d.R. hoheitlich ausgeübt werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Tätigkeiten auch privatrechtlich ausgeübt werden können bzw. könnten, wie z.B. das Vermessungswesen oder die Tätigkeit eines Amtsarztes usw. Der Nicht-Deutsche kann aber nicht Beamter, sondern „nur" Angestellter im öffentlichen Dienst werden.

39

Urteil vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 66/85 {Lawrie-Blum/BadenSlg. 1986,2121).

Württemberg,

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Auch auf das rein nationale Steuerrecht hat das Europarecht mittelbare Auswirkungen. Beispielsweise heißt es in der Randnummer 21 des Urteils Schumackert „Zur Beantwortung dieser Frage ist festzustellen, dass zwar der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenen Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen [...]". In der Rechtssache Calfa 41 ging es scheinbar um nationales Strafrecht, in Wirklichkeit aber um eine verbotene Diskriminierung. Die Italienerin Calfa wurde in Griechenland wegen Drogenbesitzes bestraft und bekam ein lebenslanges Aufenthaltsverbot für ganz Griechenland. Wäre sie Griechin gewesen, hätte gegen sie nur ein zeitlich befristetes und auf bestimmte Orte beschränktes Aufenthaltsverbot verhängt werden können. Griechenland meinte, dass das Diskriminierungsverbot gar nicht gelte, da das Strafrecht national sei. Der Gerichtshof führte dazu aber aus, dass die den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenzen zwar nicht angetastet würden, dass sie aber gemeinschaftsrechtskonform ausgeübt werden müssten. Frau Calfa war also einer Griechin gleichzustellen, weil die strengere Bestrafung eine Behinderung einer Grundfreiheit - der Dienstleistungsfreiheit - darstellte. Wörtlich heißt es in der Randnummer 17 des Urteils: „Für das Strafrecht sind zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig, jedoch setzt das Gemeinschaftsrecht dieser Zuständigkeit nach ständiger Rechtsprechung Schranken. Das Strafrecht darf nämlich nicht die durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken [...]". Der Gerichtshof verneinte auch die Möglichkeit der Rechtfertigung einer strengeren Maßnahme gegenüber den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten. Im Falle Krombach 42 ging es um die Vollstreckung eines französischen Urteils in Deutschland. Herr Krombach ist Arzt in Deutschland. Er hat dort eine Französin behandelt, die entweder an den Behandlungsmethoden oder aber an der Krankheit verstorben ist; man weiß also nicht genau woran. Auf jeden Fall haben Angehörige der Verstorbenen in Frankreich Strafanzeige erstattet. Der Beschuldigte ist vorsichtshalber nicht nach Frankreich zum Termin erschienen, sondern ließ sich durch einen Anwalt vertreten, der jedoch vom Gericht nicht akzeptiert wurde. Im französischen Prozessrecht gibt es aber bei Nichterscheinen die Möglichkeit einer hohen Bestrafung. Herr Krombach wurde in Frankreich sodann auch wegen eines Tö40

Urteil vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93 (Schumacker, Slg. 1995, 1-225). 41 Urteil vom 19. Januar 1999 in der Rechtssache C-348/96 (Calfa, Slg. 1999, 11). 42 Urteil vom 28. März 2000 in der Rechtssache C-7/98 (Krombach, Slg. 2000,1-1935).

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tungsdelikts zu einer Freiheitsstrafe von IS Jahren und zur Leistung eines hohen Schadensersatzes verurteilt. In Deutschland wurde ein gleiches Verfahren mangels Beweises eingestellt. Im Hinblick auf die Vollstreckung des Schadensersatzurteils hatte der vorlegende Bundesgerichtshof Zweifel bezüglich des Brüsseler Übereinkommens über die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. Es ging dabei um die Frage, ob die Exequatur zur Vollstreckung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung abgelehnt werde konnte, da das Verfahren in Frankreich das „Recht auf einen fairen Prozess" verletzte. Im ersten Leitsatz des Urteils sagte der Gerichtshof, dass die Vertragsstaaten des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zwar selbst festlegen könnten, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, doch gehört die Abgrenzung dieses Begriffes zur Auslegung des Übereinkommens. Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen.

Weil der Gerichtshof das „Recht auf einen fairen Prozess" als verletzt ansah, sagte er in der Ziffer 2 des Urteilstenors: Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf im Rahmen der Ordre public-Klausel [...] im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, berücksichtigen, dass das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen.

Im Falle Tanja Kreil, 43 der ja hinlänglich bekannt ist, ging der Gerichtshof dagegen gar nicht auf die Wehrverfassung und auch nicht auf das deutsche Grundgesetz ein, sondern entschied den Fall ausschließlich anhand der Richtlinie 76/207 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung. Wegen der Unvereinbarkeit der deutschen Regelung mit dieser Richtlinie hätte er es Frau Kreil ermöglicht, Berufssoldatin werden zu können, was diese aber anschließend gar nicht mehr wollte, da sie inzwischen aufgrund ihres durch den Rechtsstreit erhaltenen Bekanntheitsgrades eine bessere Stelle in der Industrie gefunden hatte.

43

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Urteil vom 11. Januar 2000 in der Rechtssache C-285/98 (Tanja Kreil, Slg. 2000,1-

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Umgekehrt hat der Gerichtshof in der Rechtssache Dory 44 dagegen festgehalten, dass das Gemeinschaftsrecht der deutschen Wehrpflicht nur für Männer nicht entgegensteht, da Entscheidungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der militärischen Organisation, die die Verteidigung ihres Hoheitsgebiets oder ihrer unabdingbaren Interessen zum Ziel haben, nicht unter das Gemeinschaftsrecht fallen (so Randnr. 35 des Urteils). In diesem Urteil ging der EuGH also gar nicht erst auf die Gleichstellungsrichtlinie ein, obwohl Herr Dory durch die Ableistung des Wehrdienstes im Vergleich zu Frauen einen späteren Zugang zum Beruf hat und dadurch diskriminiert ist. Der Gerichtshof sagte dazu in der Randnummer 41 des Urteils lakonisch:, JDie Verzögerung in der beruflichen Laufbahn der Einberufenen ist aber eine unvermeidbare Konsequenz der Entscheidung des Mitgliedstaats hinsichtlich der militärischen Organisation und führt nicht dazu, dass diese Entscheidung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt". Der EuGH wiederholte also im Zusammenhang mit der Wehrpflicht nicht den sonst üblichen Standardsatz, dass die Mitgliedstaaten die ihnen verbleibenden Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen. Fast könnte man darin eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung sehen, wenn man nicht davon ausgehen würde, dass in diesem Fall die Diskriminierung eine „unvermeidbare Konsequenz" der getroffenen Entscheidung ist, was für die anderen Fälle ja nicht zutraf. In der Rechtssache Carpenter 45 ging es um das britische Staatsangehörigkeitsrecht. Frau Carpenter, eine Philippinin, reiste als Touristin in das Vereinigte Königreich ein und blieb auch nach Ablauf des Visums dort. Sie lernte zwischenzeitlich Herrn Carpenter kennen, den sie auch heiratete und dessen Kinder aus erster Ehe sie betreut. Nach britischem Recht bekommt ein Drittstaatler aber kein Aufenthaltsrecht in Folge der Eheschließung wie sonst üblich, wenn er sich zum Zeitpunkt der Eheschließung illegal im Land aufgehalten hat. Frau Carpenter drohte also die Ausweisung. Da Herr Carpenter in der Werbebranche tätig ist und in dieser Eigenschaft oft Kunden in anderen Mitgliedstaaten aufsucht, prüfte der Gerichtshof die Richtlinie 73/148 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs. Nach dieser Richtlinie dürfte Herr Carpenter seine Ehefrau in die anderen 14 Mitgliedstaaten mitnehmen. In der Randnummer 36 des Urteils heißt es: „Da in der Richtlinie das Recht der Familienmitglieder eines Dienstleistungserbringers auf Aufenthalt in dessen Herkunftsmitgliedstaat nicht geregelt ist, hängt die Antwort auf 44

Urteil vom 11. März 2003 in der Rechtssache C-86/01 (Alexander Dory, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, aber unter http://www.curia.eu.int abrufbar). 45 Urteil vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00 (Carpenter, Slg. 2002,1-6279).

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die Vorlagefrage somit davon ab, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein Aufenthaltsrecht zugunsten des Ehegatten aus den Grundsätzen oder anderen Normen des Gemeinschaftsrechts hergeleitet werden kann". Der Gerichtshof stellte nun auf den Schutz des Familienlebens ab, und da es sich nicht um eine Scheinehe handelte, führte er im Tenor des Urteils aus: Artikel 49 EG ist im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens dahin auszulegen, dass er es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens verbietet, dass der Herkunftsmitgliedstaat eines in diesem Staat ansässigen Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungen für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Empfänger erbringt, dessen Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet verwehrt.

Dieses Urteil ist nicht nur wegen des Eingriffs in nationales Staatsangehörigkeitsrecht heftig kritisiert worden. Auch die dogmatische Begründung sei wegen der Verknüpfung von Dingen, die nicht zusammen gehörten, nicht überzeugend. Streng genommen mag dies so sein; dieses Urteil ist aber ein Beweis dafür, dass es dem EuGH auch darum geht, Einzelfallgerechtigkeit zu praktizieren. Dies sollte man immer auch bedenken, wenn man Urteile des EuGH aus dogmatischer Sicht beanstandet. Ich muss immer noch über die Reaktion eines Richterkollegen schmunzeln, dem ein Wissenschaftler vorwarf, aus den Urteilen des EuGH sei keine Doktrin ersichtlich. Er entgegnete: „Hören Sie mal, der EuGH entscheidet Fälle und entwickelt keine Doktrinen." Dies mag zwar überpointiert sein, doch kann man umgekehrt mitunter schon den Eindruck haben, dass manche so in eine Doktrin verliebt sind, dass sie souverän den Sachverhalt vernachlässigen. Entscheidend ist der Mittelweg. Und den geht der EuGH konsequent, so dass man sagen kann, dass er seiner Aufgabe bestens nachkommt, die nach Artikel 220 EG darin besteht, bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages das Recht zu wahren und damit zum inneren Frieden und zur Rechtssicherheit in Europa beizutragen.

Der Internationale Strafgerichtshof - Das Vermächtnis von Nürnberg Von Hans-Peter Kauf

Am 17. Juli 1998 wurde in Rom nach jahrelangen, sehr intensiven Verhandlungen die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) beschlossen. Das neue Weltstrafgericht ist zuständig für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, mithin für schwerste Verbrechen, welche die Menschheit als Ganzes betreffen. 1 Ein halbes Jahrhundert nach dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg, ad hoc zuständig für die Hauptverantwortlichen der Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, wurde die Idee internationaler Strafgerichtsbarkeit auf eine neue Ebene universeller, allgemeiner und zukunftsgerichteter Gerichtsbarkeit gehoben. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs stellt insoweit den bisherigen Höhepunkt und vorläufigen Abschluss der Kristallisation völkerstrafrechtlicher Regeln dar.2 Allerdings ist die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nur dann eröffnet, Der Verfasser dieses Beitrags war sieben Jahre lang von 1996-2003 der Leiter der deutschen Strafgerichtshofdelegation. Er hat nach seiner Wahl zum Richter am Internationalen Strafgerichtshof im Februar 2003 seinen Sitz in Den Haag im September 2003 bezogen und die Arbeit als erster deutscher Richter am Internationalen Strafgerichtshof aufgenommen. Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 21. Oktober 2003 im historischen Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes gehalten hat, in dem vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 das Verfahren gegen 24 Hauptverantwortliche des nationalsozialistischen Regimes stattfand. Es handelte sich um eine Veranstaltung des DeutschAmerikanischen Instituts in Nürnberg unter Leitung von Professor William Sheldon. Einige Fußnoten wurden eingefügt. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. 1 Siehe Andreas Zimmermann, The Creation of a Permanent International Criminal Court, Max Planck Yearbook of United Nations Law, vol. 2 (1998), 169 ff.; Hans-Peter Kaul, Auf dem Weg zum Weltstrafgerichtshof, Verhandlungen und Perspektiven, Vereinte Nationen (VN) 1997, 177 ff.; ders., Durchbruch in Rom - Der Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof, VN 1998, 125 ff.; ders., Der Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs, Schwierigkeiten und Fortschritte, VN 2001, 215 ff. 2 So auch Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2003, 2 ff.

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wenn betroffene Staaten zu einer Strafverfolgung nicht bereit oder nicht fähig sind. Seit der Annahme des Römischen Statuts durch die Staatenkonferenz in Rom 1998 sind weitere große und ermutigende Fortschritte erreicht worden. So hat die in Rom beschlossene Vorbereitungskommission im Juli 2002 programmgemäß das ihr übertragene immense Pensum an weiteren Arbeiten abgeschlossen, darunter etwa die Verfahrens- und Beweisordnung des neuen Gerichts. Bereits am 1. Juli 2002 und damit schneller als erwartet ist das Römische Statut in Kraft getreten. Mittlerweile ist die Zahl der Mitgliedsstaaten auf 92 angewachsen und die Tendenz ist trotz gegenteiliger Bemühungen der derzeitigen US-Regierung3 weiter steigend. Seit dem 10. September 2002 befindet sich die neue internationale Organisation des IStGH in Den Haag im Aufbau. Es handelt sich dabei um einen Prozess, dessen Komplexität und immanente Schwierigkeit nicht zu unterschätzen ist, besonders weil der IStGH nach dem Römischen Statut schon in sich eine hochkomplexe Institution ist und weil es darüber hinaus naturgemäß eine große Schwierigkeit darstellt, mit Personal aus vielen Ländern eine solche Organisation bei Null beginnend aufzubauen. Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg, sein Statut, das Urteil vom 30. September/1. Oktober 1946,4 die Nürnberger Prozesse - ein Begriff, der die 12 Folgeprozesse einschließt - , die damit verbundenen Fragen und Lehren5 wie nicht zuletzt die Erinnerung ehemaliger Beteiligter haben diese Entwicklung entscheidend mitgeprägt. Sie bildeten eine Grundlage der deutschen Verhandlungsposition während des gesamten Zeitraums und waren vielen Delegierten Inspiration und Verpflichtung zugleich. Unzählige Male haben sich deutsche Vertreter während der Verhandlungen auf das Nürnberger Erbe bezogen, unzählige Male haben dies auch Delegierte anderer Staaten getan. Die historischen Fotos und Filmaufnahmen besonders des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesses waren dabei allgegenwärtig. Ohne Nürnberg wäre der IStGH in der Form, wie er sich derzeit in Den Haag im Aufbau befindet, nicht möglich gewesen. Bei aller Befriedigung über das bisher Erreichte darf jedoch eines nicht außer Acht gelassen werden: Erfolgreicher Aufbau und erfolgreiche Arbeit des Gerichts3

Siehe Andreas Zimmermann/Holger Scheel, Zwischen Konfrontation und Kooperation, Die Vereinigten Staaten und der Internationale Strafgerichtshof, Vereinte Nationen 2002,137 ff. 4 Das Urteil lieg im amtlichen Wortlaut in deutscher Sprache auch vor als Taschenbuchausgabe: Das Urteil von Nürnberg 1946,4. Auflage 1996. 5 Zusammenfassend Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse, 1992; Georg Ginsbergs/ V.N. Kudriavtsev (eds.), The Nuremberg Trial and International Law, 1990; Klaus Kastner, Von den Siegern zur Rechenschaft gezogen - Die Nürnberger Prozesse, 2001.

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hofs sind noch nicht gesichert. Gleich zu Beginn muss daher an dieser Stelle eine Mahnung ausgesprochen werden: Wer überzeugt ist, dass der IStGH zu mehr internationaler Gerechtigkeit beitragen kann, der muss dieses Vorhaben auch in den nächsten Jahren unterstützen, konsequent und mit langem Atem. Jeder Einzelne ist dabei aufgerufen, den Aufbau und die Arbeit des neuen Weltgerichts mit Wort und Tat nach Kräften zu unterstützen und voranzutreiben. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst soll auf die allgemeinen Verhandlungen, die zu dem Gesamtkompromiss des Vertragswerks von Rom gefuhrt haben, eingegangen werden. Dabei werden nochmals einige Grundprinzipien des Römischen Statuts in Erinnerung gerufen. Für das Verständnis der neuen internationalen Organisation ist eine Vorstellung ihrer Funktionsweise wie auch der begrenzten Reichweite und Zuständigkeit des IStGH unabdingbar. Denn überzogene Erwartungen können dem Vorhaben genauso schaden wie z.B. die nicht mehr nachvollziehbaren Befürchtungen anderer Kreise und besonders der derzeitigen US-Regierung. Der zweite Teil ist konkreten Beispielen und Belegen gewidmet, die zeigen, wie sehr das Internationale Militärtribunal von Nürnberg und das damalige Gerichtshof-Statut die Arbeiten für den IStGH beeinflusst haben. Dabei geht es auch um den Rat und die Unterstützung, die drei ehemalige Mitarbeiter des Nürnberger Tribunals, Justice Robert H. Jackson, 6 die US-Ankläger Prof. Whitney R. Harris, 1 St. Louis, jetzt 91 Jahre, Prof. Henry T. King* Cleveland, Ohio, ca. 85 Jahre alt, und Prof. Benjamin Ferencz, 9 New York, 83 Jahre alt, dem StrafgerichtshofVorhaben und der deutschen Seite gewährt haben und bis heute gewähren. Dieser Abschnitt ist besonders deshalb von Bedeutung, weil vor allem die in Nürnberg gemachten Erfahrungen im Umgang mit den Gräueltaten des NS-Re-

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Siehe Robert H. Jackson, The Nürnberg Case, as Presented by Robert Η. Jackson, 1947. 7 Siehe Whitney R. Harris/Robert Storey/Robert H Jackson, Tyranny on Trial: T Trial of the Major German War Criminals at the End of the World War II at Nuremberg Germany 1945-46, 1998; ders., A Call for an International War Crimes Court: Learning from Nuremberg, The University of Toledo Law Review, vol. 23 (1992), 229 ff. 8 Siehe etwa Henry T. King, The Meaning of Nuremberg, Case Western Reserve Journal of International Law, vol. 30 (1998), 143 ff.; ders., The Judgments and Legacy of Nuremberg, The Yale Journal of International Law, vol. 22 (1997), 213 ff. 9 Siehe etwa Benjamin Ferencz, The Nuremberg Precedent of the Prosecution of Statesponsored Mass Murder, New York Law School Journal of International and Comparative Law, vol. 3 (1990), 325 ff.

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gimes einer der Gründe dafür waren, warum Deutschland sich von Beginn an und mit großer Konsequenz für das Projekt des IStGH eingesetzt hat.10 In einem dritten Abschnitt soll die derzeitige Lage von Römischem Statut und IStGH nach Abschluss der Zweiten Vertragsstaatenversammlung Anfang September 200311 erörtert werden. Dabei geht es auch darum, einige Aspekte der Haltung der derzeitigen US-Regierung gegenüber der Errungenschaft des Weltstrafgerichtshofs in Erinnerung zu rufen und einen Überblick über Aufgaben, offene Fragen und Probleme zu geben, mit denen sich der Strafgerichtshof und seine Mitglieder derzeit und in den nächsten Jahren auseinandersetzen müssen.

A. Verhandlungsergebnisse Zunächst eine knappe Rückblende: Wie war die Verhandlungslage, die zu dem Römischen Statut führte? Was sind tragende Prinzipien, Schwächen und Stärken des in Rom ausgehandelten Vertragswerks? Die Verhandlungslage in den entscheidenden Jahren von 1994 bis 1998 in New York und später in Rom war schwierig: Für die sogenannten gerichtshoffreundlichen Staaten mit Deutschland in einer führenden Rolle ging es darum, einen effektiven, funktionsfähigen, unabhängigen und damit glaubwürdigen internationalen Gerichtshof zu schaffen. Diese Staaten wollten ein System möglichst klarer und obligatorischer Zuständigkeiten errichten, das auch Kriegsverbrechen in nicht-internationalen, internen bewaffneten Konflikten als strafbar erfassen würde. Jedoch war bald erkennbar, dass dieser Gruppe von gerichtshoffreundlichen Staaten, der insbesondere die EU-Staaten angehörten, eine Gruppe von Staaten gegenüberstand, die primär um ihre Souveränität besorgt in eine andere Richtung arbeiteten. Indem sie - angeblich nur „für den Anfang" - einen schwachen, symbolischen Gerichtshof anstrebten, dessen Tätigwerden möglichst von der Einzelfallerlaubnis betroffener Staaten oder des VN-Sicherheitsrates abhängen sollte, zielten diese Kräfte de facto auf einen schwachen und verwässerten Gerichtshof ab. In immer neuen Vorschlägen versuchten sie, ihre Vorstellungen mit, Absiche-

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Siehe Klaus Kinkel, Der Internationale Strafgerichtshof: Ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1998, 2650 ff.; ders., Für einen funktionsfähigen Weltstrafgerichtshof, NJW 1997, 2860. 11 Der Text der Beschlüsse der Vertragsstaatenversammlung ist abrufbar auf der Homepage des IStGH unter http://www.icc-cpi.int/php/show.php?id=asprecords.

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rungen" durchzusetzen, welche die Jurisdiktion des Gerichtshofs 12 für eigene Staatsangehörige ausschließen oder die Verfahrenseinleitung an die Zustimmung der betroffenen Staaten binden sollte, und nahmen damit die Gegenposition zu den gerichtshoffreundlichen Staaten ein. Die politischen Realitäten während der Verhandlungen in Rom führten dazu, dass die „Mütter und Väter" des Römischen Statuts einige ungünstige Kompromissregelungen hinnehmen mussten. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass es sich bei dem IStGH um keine umfassende, keine globale Superstrafinstanz handelt. Die Zuständigkeit des IStGH ist vielmehr klar begrenzt. Sie umfasst insbesondere nicht jede - sei es auch schwere - Menschenrechtsverletzung. Vielmehr unterstehen der Gerichtsbarkeit des IStGH nach Art. 5 Abs. 1 des Römischen Statuts in materieller Hinsicht ausschließlich Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen des Angriffskrieges. Letzteres muss allerdings noch tatbestandlich definiert werden, und es muss darüber hinaus auch im Verhältnis zum VN-Sicherheitsrat (siehe besonders Art. 39 VN-Charta) geklärt werden, unter welchen Bedingungen der IStGH seine Gerichtsbarkeit ausüben kann.13 Dabei handelt es sich jedoch um kein leichtes Unterfangen, rechnet das Verbot des Angriffskrieges doch zu den umstrittensten und am wenigsten geklärten Tatbeständen des Völkerstrafrechts. Nicht zuletzt über die Frage, ob die Feststellung einer Angriffshandlung durch den VN-Sicherheitsrat notwendige Voraussetzung für eine Strafverfolgung sein soll, herrscht weiter Dissens. Solange eine präzise tatbestandliche Umschreibung des Aggressionstatbestandes nicht existiert, wird es in diesem Punkt keine Verfahren vor dem IStGH geben. In zeitlicher Hinsicht ist der IStGH nur zuständig für Taten, die nach Inkrafttreten des Römischen Statuts begangen wurden. Insofern ist der IStGH keine Institution, die historisches Unrecht wird aufarbeiten können. Auch in diesem Punkt sollten keine falschen Erwartungen gehegt oder gefördert werden. Dies sei auch deshalb betont, weil ein beachtlicher Teil der bislang in Den Haag eingegangenen Mitteilungen erkennbar Sachverhalte betrifft, die sich vor dem 1. Juli 2002 ereignet haben. Wenn die Anklagebehörde bis heute noch keine Ermittlungen führt, so hat dies auch hierin seine Ursache. Freilich wird die zeitliche Begrenzung der Gerichtsbarkeit des IStGH in der Zukunft mehr und mehr an Bedeutung verlieren. 12

Siehe Hans-Peter Kaul, Preconditions to the Exercise of Jurisdiction, in: Antonio Cassese/Paola Gaeta/John R. W. D. Jones (eds.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, 2002, vol. 1, 583 ff. 13 Siehe Oliver Fixson/Gerd Westdickenberg, Das Verbrechen der Aggression im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in: Jochen Frowein/Klaus Scharioth/Ingo Winkelmann/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden/Negotiating for Peace - Festschrift für Tono Eitel, 2003,483 ff.

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Die Zuständigkeit des IStGH hinsichtlich des Personenkreises schließlich, die Gerichtsbarkeit rationepersonae, ist ebenfalls nicht umfassend. Sie ist vielmehr sieht man von der Überweisung einer „Situation", in der anscheinend Kernverbrechen begangen werden, durch den VN-Sicherheitsrat ab - grundsätzlich nur in zwei Fällen eröffnet: zum einen, wenn die genannten Verbrechen auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen werden, und zum anderen, wenn sie durch eine Person verübt werden, die Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist. Im Ansatz folgt das Römische Statut damit dem so genannten Tatort- (Territorialitäts-) prinzip einerseits und dem Täter- (aktiven Personalitäts-) prinzip andererseits. Weitere Voraussetzung für die Ausübimg der Zuständigkeit ist, dass kein Staat, der Gerichtsbarkeit über eine Sache hat, willens oder in der Lage ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben. Wenn ein Staat also seine Verpflichtung zur Verfolgung schwerster Verbrechen ernst nimmt, ist der IStGH von vornherein nicht zuständig. Die Strafverfolgung durch nationale Gerichte hat Vorrang. Der IStGH ist eine Art Reserveinstitution, ein Gericht für den Notfall, dass nationale Strafrechtssysteme versagen. Bei diesem sogenannten Prinzip der Komplementarität handelt es sich um das wichtigste Funktionsprinzip, ja sogar die entscheidende Grundlage des IStGH. Neben diesen Begrenzungen konzeptioneller Natur gibt es weitere Restriktionen, welche die gerichtshofkritischen Kräfte im Laufe der Verhandlungen im Statut verankern konnten. Zwei davon sollen an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden. So konnte, erstens, nicht erreicht werden, dass in Übereinstimmung mit dem sogenannten Universalitäts- oder Weltrechtsgrundsatz auch die Statutsmitgliedschaft des sogenannten Gewahrsamsstaates, d.h. des Staates, der des mutmaßlichen Täters eines der im Statut genannten Verbrechen habhaft wird, die Zuständigkeit des Gerichtshofs begründet. Dadurch entsteht eine empfindliche Lücke. Denn bei Verbrechen in internen Konflikten ist nunmehr keine Gerichtsbarkeit gegeben, wenn der betreffende Staat nicht Vertragspartei ist - sieht man von dem derzeit wenig wahrscheinlichen Fall ab, dass der VN-Sicherheitsrat von seiner Befugnis Gebrauch macht, dem IStGH die Situation zu überantworten. Wenn auf die Mitgliedschaft des Gewahrsamsstaates abgestellt worden wäre, hätten mutmaßliche Täter dem Gerichtshof wenigstens dann überstellt werden können, wenn sie in Vertragsstaaten inhaftiert worden sind.14 Zweitens schränkt auch eine Übergangsregelung für Kriegsverbrechen nach Art. 124 des Römischen Statuts die Gerichtsbarkeit des IStGH ein. Danach haben Vertragsstaaten die Möglichkeit, für sieben Jahre ab Vertragsbeitritt für sich die Verfolgung von Kriegsverbrechen auszuschließen. 14

Siehe Kaul (Anm. 12).

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Neben diesen Restriktionen ist es in Rom aber auch gelungen, wesentliche Prinzipien im Gründungsvertrag des IStGH zu erreichen, die für die Effektivität des IStGH von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehört zum einen, dass das Römische Statut für die universell strafbaren Kernverbrechen erstmals völkervertragliche, präzise ausgehandelte und genau umschriebene Verbrechenstatbestände enthält.15 Es ist zu erwarten, dass diese Straftatbestände die Durchsetzungsfähigkeit des Völkerstrafrechts entscheidend stärken werden. Dies zeigt sich etwa auch an den Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten, welche die Straftatbestände des Römischen Statuts in nationales Recht gießen.16 Auch akzeptiert ein Staat, der Vertragspartei ist, nach Art. 12 des Römischen Statuts hierdurch die (komplementäre) Zuständigkeit für die genannten Kernverbrechen. Dass dem IStGH damit sogenannte automatische und nicht nur fakultative Jurisdiktion zukommt, ist auf einen deutschen Vorschlag zurückzuführen. Die Gerichtsbarkeit des IStGH ist damit, abweichend von dem ansonsten im Völkerrecht üblichen Modell, obligatorisch. Hervorzuheben ist zudem die Befugnis des Chefanklägers, 17 von sich aus ex officio Ermittlungen aufzunehmen, auch wenn er hierbei der Kontrolle der Vorverfahrenskammer unterliegt. Der IStGH ist gegenüber dem VN-Sicherheitsrat unabhängig: Es wurde vermieden, dass ein Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates das Tätigwerden des Strafgerichtshofs blockieren kann. Auf der anderen Seite ist für die Wirksamkeit des IStGH entscheidend, dass im Statut ausdrücklich die Möglichkeit des Sicherheitsrates verankert wurde, kritische „Ländersituationen" dem Gerichtshof zu überweisen. Eines der positiven Elemente von großer Bedeutung für die Effektivität des Gerichtshofs ist zudem die internationale Zusammenarbeit.18 Da der IStGH über keine eigene Polizei oder Vollzugsgewalt verfügt und er völlig von der Unterstützung der Vertragsstaaten abhängen wird, war eine klare Regelung der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Zusammenarbeit sehr wichtig. In Rom konnte ein ordentliches Regime effektiver und zügiger strafrechtlicher Zusammenarbeit mit dem Gerichts15

Werle (Anm. 2), 3, spricht von der „ersten umfassenden Kodifikation des Völkerstrafrechts". 16 Vgl. die entsprechenden nationalen Ausführungsgesetze z.B. in Deutschland, Belgien, Niederlande, Irland etc. 17 Es handelt sich hierbei um einen gemeinsamen Vorschlag von Argentinien und Deutschland. Siehe Silvia A. Fernandez de Gurmendi, The Role of the International Prosecutor, in: Roy Lee (ed.), The International Criminal Court: The Making of the Rome Statute: Issues, Negotiations, Results, 1999, 175 ff. 18 Siehe Hans-Peter Kaul/Claus Kreß, Jurisdiction and Cooperation in the Statute of the International Criminal Court, Principles and Compromises, Yearbook of International Humanitarian Law, vol. 2 (1999), 143 ff.

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hof erreicht werden, das insbesondere keine Gründe anerkennt, die zur Verweigerung der Zusammenarbeit berechtigen, und Vorbehalte ausdrücklich ausschließt. Wenn man - auch aus Gründen einer angemessenen historischen Perspektive um etwas Abstand bemüht ist, so wird insgesamt deutlich: Am 17. Juli 1998 wurde mit dem Römischen Statut - nach unendlichen Mühen, fast wider Erwarten - erstmals eine vertragliche Grundlage für ein neues System komplementärer universeller Strafgerichtsbarkeit geschaffen. 19 Dabei ist absolut entscheidend, dass das neue Weltgericht auf dem allgemeinen Rechtsgrundsatz von „Gleichheit vor dem Recht, gleiches Rechts für alle!" beruht und weiterhin beruhen muss, wie dies schon 1945 einer der Hauptankläger des Nürnberger Tribunals, Justice Robert H. Jackson, postuliert hat.

B. Nürnberger Erbe Wie sehr das Nürnberger Erbe zur Entstehung des IStGH beigetragen hat, können exemplarisch vier Beispiele veranschaulichen. Das Internationale Militärtribunal hat zunächst - und das ist ein fortwirkender Prozess - das internationale Rechtsbewusstsein und damit auch den Vertrag über den Strafgerichtshof entscheidend beeinflusst und vorgeprägt. Der ideengeschichtliche Betrag und die rechtsfortbildende Wirkung des Internationalen Militärtribunals und der Nürnberger Prinzipien, mit ihrer nachhaltigen Wirkung bis heute, sind so offenkundig, dass das Viele, was hierzu gesagt und geschrieben wurde, nicht noch einmal gesagt werden muss. Ohne Nürnberg würde es kein Ad-hocTribunal zum ehemaligen Jugoslawien geben und keinen IStGH. Es würde auch keine Anerkennung für das jetzt weltweit anerkannte Prinzip geben, wonach schwerste Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, nicht straflos bleiben dürfen, und zwar ohne Rücksicht darauf, welche Nationalität oder welchen Rang die Verantwortlichen haben und im Namen welcher Ideologie die Verbrechen begangen werden. Zweitens: Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle. Nicht allen ist bekannt und in Erinnerung, dass es im Vorfeld der Errichtung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg 20 auch starke Tendenzen unter den Siegermächten 19

Siehe Christian Tomuschat, Das Statut von Rom für den Internationalen Strafgerichtshof, Die Friedenswarte 1998, 335 ff. 20 Siehe die interessante rechtshistorische Darstellung von Richard Overy, The Nuremberg Trials: International Law in the Making, in: Philippe Sands (ed.), From Nuremberg to The Hague - The Future of International Criminal Justice, 2003, 1 ff.

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gab, das Gericht und die dort praktizierten Strafnormen und Verfahren ausschließlich als einmaliges Sondertribunal gegen die fraglichen deutschen Täter und Kriegsverbrecher zu sehen und auszulegen. Dem stand jedoch die insbesondere von dem amerikanischen Chefankläger Justice Robert H. Jackson postulierte Forderung nach allgemeiner Geltung der Prinzipien von Nürnberg und nach „Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle!" gegenüber, die sich letztlich durchsetzte. So führte Justice Jackson in seiner Eröffnungsrede im Jahre 1945 aus: Das Gesetz muss auch die erreichen, die eine große Macht an sich reißen und sich ihrer mit Vorsatz und in gemeinsamem Ratschlag bedienen, um ein Unheil hervorzurufen, das kein Heim in der Welt unberührt lässt. (...) Der letzte Schritt, periodisch wiederkehrende Kriege zu verhüten, ist, die Staatsmänner vor dem Gesetz verantwortlich zu machen. Und lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muss, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen.

Das Zitat verdeutlicht, dass es in Nürnberg keinesfalls - wie gelegentlich behauptet - allein um die Ausübung von Siegeijustiz ging. Im Gegenteil sollte wenigstens im Prinzip der Grundstein zu einer alle Staaten und Menschen gleichermaßen betreffenden Ordnung mit gleichem Recht für alle gelegt werden. Auch weisen die Worte Jacksons bereits daraufhin, dass zwischen der Ahndung internationaler Verbrechen und dem zwischenstaatlichen Frieden ein Zusammenhang besteht. Sie enthalten damit eine Erkenntnis, die rund 50 Jahre später zur Errichtung der beiden Ad-hoc-Straftribunale der Vereinten Nationen führte und die auch in der Präambel des Römischen Statuts ihren Niederschlag gefunden hat.21 Es ist entscheidend herauszustellen, dass der IStGH diese Prinzipien durch seinen grundsätzlich auf Universalität zielenden Ansatz, sein System automatischer Jurisdiktion und obligatorischer Zuständigkeit sowie durch die Gesamtheit der im Römischen Statut enthaltenen Normen des materiellen Völkerstrafrechts wie auch Verfahrensrechts, die jeweils allgemeine, universelle Geltung beanspruchen, weiterführt und verwirklicht. Auch in dem Prinzip individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit, bei der die amtliche Eigenschaft etwa als Staats- und Regierungschef gemäß Art. 27 des Römischen Statuts unerheblich ist, findet sich ein bedeutendes Nürnberger Erbe wieder. Ein dritter Beleg sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Die Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind erstmals im Gerichtshofsstatut von Nürnberg 22 enthalten und angewandt worden. Von ihnen 21

Vgl. Präambel des Römischen Statuts: „(...) in der Erkenntnis, dass solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Gewissen der Menschheit bedrohen". 22 Siehe besonders M. Cherif Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law, 1992.

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führt eine direkte Linie zu Art. 7 des Römischen Statuts betreffend Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch zu Art. 7 des neuen deutschen Völkerstrafgesetzbuchs. Auch wenn diese Definitionen und Verbrechenstatbestände für Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiterentwickelt worden sind, so sind die anerkannten konstitutiven Bestandteile der Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch immer - und das ist entscheidend - ein weit ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung (Gesamttat) und die einzelnen Verbrechenstatbestände (Einzeltaten). Im Hinblick auf das Verbrechen des Völkermordes23 waren u.a. die im Nürnberger Einsatzgruppenprozess24 geahndeten Massentötungen einer der Gründe, der zu der 1948 beschlossenen Völkermordkonvention führte, die ihrerseits in Art. VI die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichts vorsah. Viertes und letztes Beispiel: Verbrechen des Angriffskriegs bzw. der Aggression. Ohne die „Verbrechen gegen den Frieden", wie sie im Nürnberger Gerichtshofsstatut enthalten sind, wäre es der deutschen Delegation wahrscheinlich nicht gelungen zu erreichen, dass in Art. 5 des Römischen Statuts das Verbrechen der Aggression aufgenommen und damit als schweres Völkerrechtsverbrechen grundsätzlich anerkannt wurde. Ein gemeinsam von Deutschland und etwa zehn weiteren Staaten eingereichter Defmitionsvorschlag war der letzte, der der Konferenz in Rom Anfang Juli 1998 noch vorlag.25 Zwar konnte über diese Definition und die darin vorgesehene Rolle des VN-Sicherheitsrats kein Einvernehmen erreicht werden. Doch konnte immerhin als Kompromiss erreichen werden, dass das Verbrechen des Angriffskriegs in Art. 5 des Römischen Statuts26 wenigstens als solches grundsätzlich anerkannt wurde. Gerade die deutsche Position war während der Konferenz in Rom entscheidend durch das Nürnberger Vermächtnis geprägt: Während der sechswöchigen Verhandlungen haben die beiden früheren US-Ankläger Prof. Ferencz und Prof. Harris mit der deutschen Delegation kontinuierlich Kontakt gehalten und diese immer wieder ermutigt und unterstützt. Die beiden ehemaligen US-Ankläger waren aus eigener Initiative und auf eigene Kosten in Rom. Sie haben die Verhandlungen täglich von früh bis spät genau mitverfolgt und sich als Folge der restriktiven Haltung der US-Delegation, die dann auch am 17. Juli 1998 mit 23

Siehe William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, 2003. Siehe Ferencz (Anm. 9). 25 Siehe UN Doc. PCNICC/1999/INF.2 betreffend die Compilation of proposals on the crime of Aggression. 26 Siehe Andreas Zimmermann, Crimes within the Jurisdiction of the Court, Article 5, in: Otto Triffterer (ed.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court: Observers' Notes, Article by Article, 1999, 97 ff. 24

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„Nein" abstimmte, im Maße des Möglichen intensiv für die deutsche Delegation eingesetzt. Sie haben darüber hinaus die deutsche Verhandlungsposition auch dadurch gestärkt, dass sie die deutsche Delegation beraten und immer wieder ermutigt haben, in ihren Bemühungen um einen effektiven, unabhängigen und glaubwürdigen Strafgerichtshof nicht nachzulassen. Zur Untermalung der engen Beziehung zwischen den ehemaligen Nürnberger US-Anklägern und der deutschen Delegation kann auch eine Begebenheit herangezogen werden, die den Verfasser dieses Beitrags damals menschlich sehr berührt hat: Im Oktober 2000 ist Prof. Harris 27 eigens zur Verabschiedung des Strafgerichtshofgesetzes im Bundestag aus St. Louis nach Berlin gekommen, um ebenfalls diesem Akt beizuwohnen. Am 28. Oktober 2000, bei der einstimmigen Annahme dieses Gesetzes, saß er auf der Ehrentribüne im Reichstag, der Verfasser auf der Bank hinter der Bundesregierung. Um Prof. Harris zu begrüßen und seine Arbeit und die des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg zu würdigen, erhoben sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gemeinsam von ihren Plätzen und applaudierten - eine in Anbetracht der historischen Zusammenhänge bemerkenswerte Szene. Am Abend lud Prof. Harris zum Feiern ins Hotel, Adlon" am Brandenburger Tor ein. Dabei sagte er, und das bleibt in Erinnerung:,»Dass gerade Deutschland so maßgeblich den Internationalen Strafgerichtshof unterstützt, das erfüllt mich als früheren Nürnberger Ankläger mit besonderer Befriedigung. Der Kreis hat sich geschlossen. Unser Vermächtnis ist erfüllt".

C. Stand und Ausblick Wo stehen wir heute? Welche Probleme und Aufgaben müssen noch gelöst werden, damit der IStGH tatsächlich seine Funktion erfüllen und im Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster Verbrechen zu mehr Gerechtigkeit beitragen kann? Der Gerichtshof hat nach der Vereidigung seiner 18 Richter im März 2003 und seines Chefanklägers, des Argentiniers Luis Moreno-Ocampo, inzwischen seine Arbeit aufgenommen. Mit der Wahl des belgischen Generalstaatsanwalts Serge Brammertz zum stellvertretenden Ankläger für Ermittlungen wurde eine weitere kompetente und erfahrene Persönlichkeit für die Gerichtsarbeit gewonnen. Die im September 2003 zu Ende gegangene zweite Versammlung der Vertragsstaaten des Römischen Statuts hat die Grundlagen dafür gelegt, dass der IStGH in absehbarer Zeit, spätestens 2005, voll funktionsfähig sein wird. Ihr Schwerpunkt lag auf der Regelung administrativer Fragen, die insgesamt weithin zufrieden27

Siehe oben, Anm. 7.

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stellend gelöst werden konnten. Mit der Verabschiedung des nur geringfügig gekürzten Haushalts für 2004 konnte ein zügiger weiterer Ausbau des Gerichtshofs gesichert werden, so dass erste Vorermittlungen, möglicherweise besonders die jüngsten Verbrechen im Ostkongo (Ituri) betreffend, eingeleitet werden können. Obwohl dies von der Arbeit des Chefanklägers und von anderen Umständen, etwa der Frage von Verhaftungen, abhängt, ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass der IStGH 2005 den ersten größeren Fall haben wird. Bemerkenswert war auch die auffallend engagierte Mitarbeit einiger Nichtvertragsstaaten bei der Konferenz in New York. Sie lässt darauf hoffen, dass die Unterstützung für den IStGH in der Zukunft allmählich weiter wachsen wird. Die aktive Ablehnungspolitik der derzeitigen US-Administration stellt offenbar eines der größten Probleme für den IStGH dar. Die ablehnende Haltung der BushRegierung ist mittlerweile weltweit so bekannt, dass es genügt, einige Fakten hierzu in Erinnerung zu rufen. Wie in den Medien hinreichend berichtet wurde, hat sich die ablehnende Haltung der USA, die, wie die meisten glauben, von Anbeginn an nur einen ständigen Ad-hoc-Strafgerichtshof mit dem Sicherheitsrat als „Herrn und Meister" angestrebt hatten, seit dem Amtsantritt der Bush-Administration erheblich verhärtet. Die USA haben nicht nur ihre Unterschrift unter das Römische Statut im Mai 2002 formlich zurückgenommen, sondern darüber hinaus weitere aktive Maßnahmen gegen den IStGH ergriffen, darunter besonders die Verabschiedung des gegen den Strafgerichtshof gerichteten Gesetzes des American Service Members Protection Act" (ASPA). Es ist auch durch die Informationstätigkeit von US-Kreisen und Gruppen in den USA wie etwa die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die den IStGH nachdrücklich unterstützen, allgemein bekannt, dass diese Maßnahmen den IStGH schwächen und letztlich irrelevant machen sollen. Der wesentliche Inhalt des ASPA besteht darin, dass den US-Behörden eine Zusammenarbeit mit dem IStGH untersagt ist und dass Militärhilfe an Staaten, die mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten, ausgesetzt werden kann. Ausgenommen hiervon sind NATO-Staaten und andere enge Verbündete. Des Weiteren beinhaltet das ASPA-Gesetz die weitreichende Ermächtigimg, alle notwendigen Schritte, auch militärische, zu unternehmen, um US-Staatsangehörige erforderlichenfalls vor dem IStGH zu schützen. In diesen Kontext gehört auch die außerordentlich umstrittene Resolution 142228 des VN-Sicherheitsrats vom Juli 2002, die im Jahr 2003 mit der Resolution 28

Siehe Claus Kreß, Der Internationale Strafgerichtshof und die USA - Hintergründe der Sicherheitsratsresolution 1422, Blätter für deutsche und internationale Politik 2002, 1087 ff.; Carsten Stahn, Gute Nachbarschaft um jeden Preis? Einige Anmerkungen zur Anbindung der USA an das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 36 (2000), 631 ff.

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1487, inhaltlich identisch, erneut durchgesetzt wurde. Die Resolution beinhaltet, dass etwaige Verfahren vor dem IStGH gegen Teilnehmer an von den Vereinten Nationen mandatierten und auch autorisierten Missionen, die aus Nicht-Vertragsstaaten stammen, für 12 Monate ausgesetzt werden. Völkerrechtswissenschaftler halten diese Resolution für mit der Charta der Vereinten Nationen wie dem Römischen Statut nicht vereinbar und für äußerstfragwürdig: Sie argumentieren, dass die Resolution nachträglich die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten des Römischen Statuts modifiziert habe. Darüber hinaus habe der Sicherheitsrat gehandelt, ohne dass er nach der Satzung der VN dazu ermächtigt wäre, denn der IStGH stelle wohl keine Friedensbedrohung oder Friedensbruch im Sinne von Kapitel VII der VN-Charta dar. Zur Flankierung ihrer aktiven Ablehnungspolitik bemühen sich die USA weiterhin um ein möglichst weltweites Netz bilateraler Immunitätsabkommen,29 in denen die Überstellung von US-Bürgern an den IStGH durch den jeweiligen Vertragspartner ausgeschlossen wird. Deutschland hat den Abschluss eines solchen so genannten Nichtüberstellungsabkommens mit den USA abgelehnt. Darüber hinaus gibt es weiterhin offenbar auch eine systematische negative „public policy" gegen den IStGH, bei der Sprecher der derzeitigen US-Regierung diesen immer wieder zu diskreditieren suchen. Behauptet werden dabei neben dem Risiko politisch motivierter Strafverfahren, besonders durch den angeblich unkontrollierbaren Chefankläger, auch eine mangelnde Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens vor dem IStGH sowie die Verletzung amerikanischer Souveränität. Viele, darunter besonders auch Stimmen in den USA selbst,30 haben bereits darauf hingewiesen, dass diese Behauptungen auch dadurch nicht zutreffender werden, wenn sie immer wieder stereotyp und mit großer Lautstärke wiederholt werden. Zugleich sollte niemand übersehen, dass es auch in den USA breite Unterstützung für den IStGH gibt: Nicht nur die Nicht-Regierungsorganisationen und eine kleine Gruppe ehemaliger Nürnberger Ankläger, sondern auch Senatoren, Abgeordnete, wichtige US-Medien wie die „New York Times", derriesige amerikanische Anwaltsverein mit seinen fast 400.000 Mitgliedern sowie viele Universitäten und Professoren unterstützen den Strafgerichtshof. Die Hoffnung, dass auch die amerikanischen Partner eines Tages an Bord sein werden, erscheint also 29

Siehe hierzu etwa das Gutachten des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission vom 13. August 2002, abgedruckt in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 2002, 469 ff. 30 Siehe hierzu statt vieler Beispiele Monroe Leigh, The United States and the Statute of Rome, American Journal of International Law, vol. 95 (2001), 124 ff. Bemerkenswert auch der Beitrag des früheren US-Chefunterhändlers David Scheffer, Staying the Course with the International Criminal Court, Cornell International Law Journal, vol. 35 (2002), 47 ff.

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durchaus berechtigt. Dass es sich dabei um eine enorme und willkommene Stärkung für den IStGH handeln wird, liegt auf der Hand. Ein zweiter kritischer Punkt für den IStGH besteht darin, dass 94 Vertragsstaaten des Römischen Statuts natürlich nicht genug sind.31 Um die internationale Legitimität des Strafgerichtshofs, weltweite strafrechtliche Zusammenarbeit und damit die Effizienz des neuen Weltgerichtshofs zu sichern, sind mehr Vertragsstaaten notwendig. Es geht darum, die Zahl der Staaten, die das Römische Statut für sich als verbindlich achten, Schritt für Schritt zu steigern, um allmählich Universalität zu erreichen. Zu den Lichtblicken in diesem Zusammenhang gehört, dass sich derzeit z.B. auch Japan und China32 spürbar auf den Strafgerichtshof zu bewegen. Eine Unterstützung des IStGH etwa durch China und Japan würde sicherlich die Anerkennung auch durch viele andere Staaten nach sich ziehen. Eine weitere große Aufgabe und Herausforderung, mit der der IStGH derzeit zu tun hat, ist sein eigener Aufbau 33 zu einer effizienten Organisation, zu einem wirklich funktionsfähigen internationalen Gericht. Der Aufbau einer neuen internationalen Organisation, noch dazu einer so komplizierten Einrichtung wie der des IStGH, ist ein fast unvorstellbar schwieriger Vorgang. Um Funktionsfähigkeit und Effizienz des IStGH zu gewährleisten, muss jedes Rädchen ineinander greifen: die Strafkammern, die Kanzlei, die Behörde des Chefanklägers, die Abteilung der Opfer und Zeugen, die der Verteidigung und so fort. Darüber hinaus müssen in allen Bereichen differenzierte Systeme und Regelwerke für die Gerichtsorganisation, für das Personal- und Beschaffungswesen und die allgemeine Verwaltung entwickelt und eingeführt werden. Zudem geht es um eine auf die besonderen Bedürfnisse des IStGH zugeschnittene Informationstechnologie, die sicherstellen soll, dass der Strafgerichtshof gegebenenfalls mit zehntausenden von unterschiedlichen Dokumenten und Beweisstücken fertig wird. Bewältigt werden müssen diese komplexen Aufgaben von einem derzeit ständig wachsenden Personal aus 35 Staaten, aus unterschiedlichen Kulturen, Sprachbereichen und mit unterschiedlichen Erfahrungen. Den 18 Richtern aus fünf Weltregionen, von denen nur neun derzeit bereits Vollzeitrichter in Den Haag sind, kommt dabei die gewichtige Aufgabe zu, gemäß Art. 52 des Römischen Statuts die Geschäftsordnung des Gerichts zu erarbeiten. Dabei handelt es sich um ein absolut entscheidendes 31

Unterzeichnet haben das Römische Statut 139 Staaten. Im Oktober 2003 hat die erste, sehr ermutigende und positive Konferenz über den Internationalen Strafgerichtshof in Peking, China, stattgefunden, an der neben dem Präsidenten des Gerichtshofs Philippe Kirsch auch der Verfasser dieses Beitrags teilgenommen hat. 33 Siehe Hans-Peter Kaul, Der Internationale Strafgerichtshof: Eine Bestandsaufnahme im Frühjahr 2003, Die Friedenswarte 2003, 11 ff. 32

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Dokument, welches die Basis der künftigen gerichtlichen Arbeit bilden wird. Um Effizienz wie Transparenz dieser Arbeiten zufördern, wurden auf der Website des IStGH durch sorgfältig formulierte Fragen zur Arbeit der Vorverfahrenskammer, zur Rolle der Verteidigung sowie auch zur Rolle von Opfern und Zeugen Stellungnahmen der interessierten Öffentlichkeit erbeten, die in diese Arbeiten einfließen. Bei der Bewältigung dieser für einen Außenstehenden kaum vorstellbaren Aufgaben und Probleme bewahrheitet sich erneut, was schon in den vorangegangenen sieben Jahren der Vorbereitung immer wieder zu Tage getreten ist: Nur wenn alle Kräfte, die inner- und außerhalb des Gerichtshofs die Idee eines wirksamen Weltstrafgerichts unterstützen, zusammenarbeiten, werden die großen Schwierigkeiten und Herausforderungen bewältigt werden können. Die Aufgaben und Probleme, mit denen der IStGH derzeit konfrontiert wird, sind insoweit immens. Sie sind aber nicht unlösbar. Es bleibt dabei: Der Tag wird kommen, an dem der Internationale Strafgerichtshof durch rechtsstaatliche Verfahren und durch überzeugende Entscheidungen rechtliche und moralische Standards setzt und bekräftigt, die große internationale Ausstrahlung haben und zu mehr internationaler Gerechtigkeit beitragen werden. Oder, wie der ehemalige Nürnberg-Ankläger Professor Harris in Berlin gesagt hat: „Der Kreis hat sich geschlossen. Das Vermächtnis von Nürnberg, es wirkt fort".

Das Streitbeilegungssystem des Seerechtsübereinkommens Von Rüdiger Wolfrum

A. Vorbemerkung Die Entstehung des Internationalen Seegerichtshofs ist das Resultat einer weitgehenden Neuformulierung des traditionellen Seerechts. War dieses ein ursprüngliches Recht zur Koordinierung staatlicher Aktivitäten, so hat das neue Seerecht in hohem Umfang Verwaltungs- und Verteilungsfunktionen von Ansprüchen. Diese Neuformulierung des Seerechts trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Formen der Nutzung der See in den vergangenen Jahren deutlich intensiviert haben. Die Koordination der verschiedenen Nutzungsformen und die Notwendigkeit, die See vor einer Übernutzung zu bewahren, machten die Schaffung verschiedener internationaler Verwaltungs- und Rechtsprechungsgremien notwendig. Eine dieser Institutionen ist der Internationale Seegerichtshof. Er ist, wie die Internationale Meeresbodenbehörde und die Kommission über die Festlandsockelgrenzen eines der Gremien, die durch das Internationale Seerechtsübereinkommen von 1982 (SRÜ) geschaffen wurden. Er tritt als internationales Gericht neben den Internationalen Gerichtshof (IGH) sowie die internationalen Strafgerichte, die allerdings wegen ihrer besonderen Funktionen hier außer Betracht bleiben sollen. Das SRÜ hat ein eigenständiges System für eine verbindliche Beilegung von Rechtsstreitigkeiten geschaffen, das zwar auf dem tradierten allgemeinen Streitbeilegungssystem des Völkerrechts beruht, jedoch auch auf einige seiner Defizite reagiert. Ob sich dieses vom Seerechtsübereinkommen geschaffene System, das grundsätzlich von einer Streitbeilegung

unter Einschaltung unabhängiger In-

stitutionen ausgeht, wie dies für die allgemeinen völkerrechtlichen Streitbeilegungssysteme typisch ist, bewährt, bleibt abzuwarten. Bislang sind nur wenige Fälle im Rahmen dieses Systems entschieden worden, die meisten von ihnen durch

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den Internationalen Seegerichtshof (ISGH).1 Zumindest belegen aber die Erfahrungen der ersten sieben Jahre des ISGH,2 dass dem seerechtlichen Streitbeilegungssystem nicht der gleiche Anfangserfolg beschieden ist wie dem System der Streitbeilegung im Rahmen der World Trade Organization (WTO). Die Schaffung des Internationalen Seegerichtshofs ist nicht isoliert zu sehen; das Seerechtsübereinkommen entwickelt ein komplexes System der friedlichen Streitbeilegung, das bestehende Verfahren und Institutionen, vor allem den Internationalen Gerichtshof, mit einbezieht und sie durch neue Institutionen und Verfahren ergänzt. Neben dem Seegerichtshof gehören zu den neuen Verfahren Schiedsgerichte, besondere Schiedsgerichte sowie Vergleichsverfahren. Insgesamt belegen die Regelungen zur seerechtlichen Streitbeilegung, dass diese einen Beitrag zur Rechtssicherheit auf See zu leisten haben; außerdem sind sie ein Instrument, um völkerrechtliche Normen für die Nutzung der See durchzusetzen. Das Seerechtsübereinkommen ist erst im November 1994 in Kraft getreten, und aufgrund einer Vereinbarung im Zusammenhang mit dem Durchführungsübereinkommen3 vom 28.07.1994 steht der ISGH den Parteien erst seit 1996 zur Verfügung.

1

M/V „Saiga" (No 1) (Saint Vincent and the Grenadines ν. Guinea), International Tribunal for the Law of the Sea, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders (ITLOS Reports) 1997,4; M/V „ Saiga " (No 2) (Saint Vincent and the Grenadines v. Guinea) ITLOS Reports 1999,7; Southern Bluefln Tuna (New Zealand v. Japan; Australia v. Japan), ITLOS Reports 1999,280; „ Camouco " (Panama v. France), ITLOS Reports 2000,4; „ Monte Confurco" (Seychelles v. France), ITLOS Reports 2000, 80; „GrandPrince" (Belize v. France), ITLOS Reports 2001,11 ; MOXPlant (Ireland v. United Kingdom), ITLOS Reports 2001, 89; „Volga" (Russian Federation v. Australia), ITLOS Reports 2002, 4; Case concerning Land Reclamation by Singapore and Around the Straits of Johor (Malaysia v. Singapore), http://www.itlos.org/case_documents/2003/document_en_230.pdf. 2 P. Chandrasekhara Rao, ITLOS: The First Six Years, Max Planck Yearbook of United Nations Law 6 (2002), 183 ff.; V Lowe/R. Churchill , The International Tribunal for the Law of the Sea: Survey for 2001, The International Journal of Marine and Coastal Law (IJMCL) 17 (2002), 463 ff.; Th. A. Mensah, The International Tribunal for the Law of the Sea: A Review of the First Five Years, in: Canadian Council on International Law (Hrsg.), Globalism, People, Profits and Progress, 2002,106 ff.; T. Treves , The International Tribunal for the Law of the Sea (1996-2000), The Italian Yearbook of International Law (IYIL) X (2000), 233 ff.; dersThe International Tribunal for the Law of the Sea (2001), IYIL XI (2001), 165 ff.; ders ., The International Tribunal for the Law of the Sea (2002), IYIL XII (2002), 207 ff.; G. Eiriksson, The International Tribunal for the Law of the Sea, 2000. 3 Übereinkommen zur Durchführung des Teiles XI des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 vom 28.07.1994, International Legal Materials (ILM) 33 (1994), 1309; BGBl 1994 II, 2566.

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B. Entstehungsgeschichte der Regeln zur seerechtlichen Streitbeilegung Schon zu Beginn der 3. VN-Seerechtskonferenz wurde betont, dass die Errichtung eines ISGH notwendig sei, um eine konsistente Interpretation des Seerechtsübereinkommens sicherzustellen. Hierüber bestand weitgehende Einigkeit. Es bestand außerdem Einvernehmen darüber, dass es nur bei einer wesentlichen Änderung der Verfahrensordnung des IGH möglich sein würde, die für eine Anwendung des Seerechtsübereinkommens notwendigen Verfahren zu entscheiden.4 Zugleich wurde von Anfang an deutlich, dass die Staaten nicht bereit waren, sich in allen seerechtlichen Fragen einer verbindlichen Streitbeilegung zu unterwerfen. Soweit sie Küsten- oder Inselstaaten waren, fürchteten sie, dass ihre im materiellen Recht gemachten Zugewinne - z.B. die Ausdehnung küstenstaatlicher Kompetenzen - wieder in Frage gestellt werden könnten. Die Verfahren einer verbindlichen Streitbeilegung für das Seerechtsübereinkommen wurden in zwei Gremien der 3. VN-Seerechtskonferenz verhandelt: in einer informellen Gruppe, die von dem Präsidenten der Konferenz geleitet wurde, sowie im Ersten Ausschuss der Konferenz, der ein Regime für den Tiefseebergbau zu entwickeln hatte. Diese Parallelität bzw. Zweispurigkeit des Ansatzes ist in der heutigen Struktur des ISGH noch deutlich spürbar. Am Ende der 3. Session der Konferenz legte der Konferenzpräsident, Hamilton Shirley Amerasinghe, einen ersten „Informal Single Negotiating Text" (ISNT) vor, der auch die wesentlichen Regelungen für ein Streitbeilegungsverfahren umfasste.5 Dieser Text war letztlich die Basis für die weiteren Verhandlungen zu diesem Komplex. Er wurde in der Folgezeit überarbeitet, ohne dass eine Regelung des Verhältnisses dieses Gerichts zu dem für Streitigkeiten hinsichtlich der Nutzung des Tiefseebodens vorgesehenen Gericht mit aufgenommen worden wäre. Nach dem Entwurf sollte es ein Spezialgericht zur Entscheidung aller Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Tiefseebergbau geben.6 Dieses war als Organ der Internationalen Meeresbodenbehörde konzipiert. Eine weitere Ausarbeitung des Textes zu einem Gericht für Streitigkeiten in Bezug auf die Nutzung des Tiefseebodens erfolgte in Teil I des „Revised Single Negotiating Text" (RSNT).7 Dieser sah bereits eine, wenn auch begrenzte Parteifähigkeit 4

L. B. Sohnt A Tribunal for the Sea-Bed or the Oceans, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 32 (1972), 252 (263). 5 UN Doc. A/Conf.62/WP.9. Zu den Motiven für die Entstehung dieses Textes siehe UN Doc. A/Conf.62/WP.9, Add.l, Memorandum by the President of the Conference. 6 UN Doc. A/Conf.62/WP.8. Dazu A. O. Ade de, Law of the Sea - Developing Countries' Contributions to the Development of the Institutional Arrangements for the International Sea-Bed Authority, Brooklyn Journal of International Law 4 (1977), 1 ff. 7 UN Doc. A/Conf.62/WP.8, Rev.l.

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von natürlichen und juristischen Personen in Verfahren vor dem Gerichtshof für Tiefseebodenstreitigkeiten vor - eine innovative Abweichung von der traditionellen internationalen Streitbeilegung. Das Nebeneinander der beiden unterschiedlichen Gerichtssysteme wurde im „Informal Composite Negotiating Text" (ICNT) vom 15.07.19778 teilweise aufgelöst. Erst in der „Draft Convention on the Law of the Sea" (Informal Text) vom 11.04.19809 wurde die endgültige Bezeichnung International Tribunal for the Law of the Sea festgelegt und ein einheitliches Gericht, wenn auch mit einem „Gericht im Gericht", der Kammer fär Meeresbodenstreitigkeiten, geschaffen. Deutschland hat an diesen Beratungen insbesondere durch Professor Günther Jaenicke intensiv mitgewirkt. Die grundsätzliche Zustimmung der Teilnehmer der 3. VN-Seerechtskonferenz zu einer obligatorischen Streitbeilegung konnte nur dadurch erreicht werden, dass gleichzeitig weitgehende Rücksicht auf die Dispositionsfreiheit der Staaten hinsichtlich einer Auswahl der jeweiligen Entscheidungskörper genommen wurde. Dies geschieht auf dreifache Weise. Gemäß Art. 280 SRÜ können Staaten ihre Rechtsstreitigkeiten auf jede zwischen ihnen vereinbarte Weise regeln. Darüber hinaus besteht eine Freiheit der Wahl innerhalb des Streitbeilegungssystems des SRÜ.10 Schließlich werden eine Reihe von Streitigkeiten von der obligatorischen Streitbeilegung ausgenommen oder können von dieser ausgenommen werden.11 Die Wahl der Richter erfolgte am 1. August 1996; der Gerichtshof konstituierte sich am 1. Oktober 1996; die feierliche Verpflichtung der Richter geschah auf seiner ersten öffentlichen Sitzung am 18. Oktober 1996. Dass die Errichtung eines neuen Gerichts auch manche Provisorien mit sich bringt, belegt bereits die Tatsache, dass die Richter sich in den blauen Roben der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit vereidigen ließen. Der Seegerichtshof ist eine eigenständige internationale Organisation. Er ist kein Organ der Vereinten Nationen. Die Regelungen zu dem Seegerichtshof finden sich in einem speziellen Teil des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982. Trotz der umfassenden Regelungen für den Seegerichtshof in der Konvention waren damit seine Grundlagen noch nicht vollständig geschaffen. Daher war es eine seiner ersten Aufgaben, sich eine Verfahrensordnung zu geben, für die ein Entwurf vorlag. Diese Arbeit ist abgeschlossen. Aufgabe dieser Verfahrensordnung ist es sicherzustellen, dass Verfahren vor dem Gerichtshof möglichst schnell und effektiv 8

UN Doc. A/Conf.62/WP. 10. UN Doc. A/Conf.62/L.78. 10 Vgl. Art. 287 SRÜ. n Vgl. Art. 297,298 SRÜ.

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abgewickelt werden können. Einzelne Verfahren sind so angelegt, dass sie ohne weiteres mit nationalen Gerichtsverfahren vergleichbar sind. Dies ist bei der internationalen Gerichtsbarkeit im Regelfall nicht gegeben.

C. Das Streitbeilegungssystem des Seerechtsübereinkommens Art. 279 SRÜ verpflichtet die Staaten, ihre Rechtsstreitigkeiten (disputes) durch friedliche Mittel beizulegen. Der ISGH hatte in den Southern Bluefin Tuna Cases Gelegenheit, zu der Frage Stellung zu nehmen, was eine Rechtsstreitigkeit im Sinne des Seerechtsübereinkommens ist.12 Er stellte fest, dass eine Rechtsstreitigkeit vorliegt, wenn zwischen den Parteien eine Nichtübereinstimmung über einen rechtlichen Punkt oder eine Tatsache besteht, wobei es sich um einen Streit über die rechtliche Sichtweise oder Interessen handeln muss. Zusätzlich wird verlangt, dass gegensätzliche Positionen vertreten werden. Mit dieser Rechtsprechung liegt der ISGH auf der gleichen Linie wie der IGH. Dennoch ist damit nicht immer eine klare Abgrenzung zu Gutachterfragen möglich. Art. 279 SRÜ statuiert eine Verpflichtung zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten. Insofern ist von einer obligatorischen Streitbeilegungför seerechtliche Streitigkeiten zu sprechen. Erst wenn von den Parteien selbstgewählte Streitbeilegungsmechanismen, vor allem solche diplomatischer Art, nicht zu einem Ergebnis geführt haben, greifen die vom Seerechtsübereinkommen geschaffenen obligatorischen Verfahren. Trotz der Verbindlichkeit des seerechtlichen Streitbeilegungsverfahrens wird damit durch Art. 280 SRÜ der Dispositionsfreiheit der Staaten hinsichtlich der Streitbeilegung Rechnung getragen. Insgesamt stehen den Staaten folgende Optionen zur Beilegung von seerechtlichen Streitigkeiten zur Verfügung. Nach Art. 282 SRÜ können Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des SRÜ im Rahmen einer allgemeinen regionalen oder zweiseitigen Übereinkunft einem Verfahren unterworfen werden, das zu einer bindenden Entscheidung führt. Voraussetzung ist also auch hier, dass in diesem Rahmen bindende Entscheidungen getroffen werden. Mit dieser Frage hatte sich der ISGH in den Southern Bluefin Tuna Cases zu befassen. Er war der Ansicht, dass die zwischen den Parteien vereinbarte Schiedsgerichtsbarkeit keine verbindliche Entscheidung treffen könne und deswegen die Jurisdiktion des ISGH nicht verdränge.13 Eine andere Position ist von dem Schiedsgericht in demselben Falle vertreten worden.14 Dieses 12

Southern Bluefin Tuna (Anm. 1), para. 44. Paras. 53 ff. 14 Southern Bluefin Tuna (Australia ν. Japan, New Zealand ν. Japan), ILM 39 (2000), 1359, paras. 38 ff. 13

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verkennt die entscheidende Vorgabe, dass nach dem Scheitern anderer, insbesondere nichtverbindlicher Streitbeilegungsverfahren das im SRÜ vorgesehene verbindliche Verfahren nur noch durch ein seinerseits verbindliches Verfahren ersetzt werden kann. Letztlich führt diese Rechtsprechung des Schiedsgerichts zu einer Einschränkung der verbindlichen Streitbeilegung unter dem SRÜ und ist in der Literatur dafür teilweise - und zwar nachdrücklich - kritisiert worden.15 Daneben besteht die Möglichkeit, eine Streitigkeit einem Vergleichsverfahren zuzuweisen. Welches Forum letztlich zur Entscheidung eines konkreten Streitfalls zuständig ist,richtet sich nach den entsprechenden Erklärungen der Parteien bzw. nach dem Streitgegenstand. Die entsprechende Norm - ein Kernstück des Streitbeilegungsverfahrens - ist Art. 287 SRÜ. Nach Art. 287 SRÜ kann jeder Staat eine Erklärung abgeben, welches Forum er für die Streitbeilegung favorisiert. Als Foren werden, in dieser Reihenfolge, genannt: der ISGH, der IGH, die Schiedsgerichtsbarkeit gemäß Annex VII SRÜ und die spezielle Schiedsgerichtsbarkeit gemäß Annex VIII SRÜ. Eine Pflicht zur Abgabe einer derartigen Erklärung besteht nicht. In einem konkreten Rechtsstreit ist dasjenige Forum zur Entscheidung berufen, das die Streitparteien gewählt haben. Gibt es keine gemeinsame Erklärung, erfolgt die Beilegung der Streitigkeit - es sei denn, diese Streitigkeit ist dem ISGH ausdrücklich zugewiesen - durch ein Schiedsgericht gemäß Annex VII SRÜ.16 Dies gilt sowohl für die Fälle nicht übereinstimmender Erklärungen als auch für die fehlender Erklärungen. Die Kompetenzen der Meeresbodenkammer werden von dieser Wahlmöglichkeit nicht berührt.

Die Besonderheit des Streitbeilegungsverfahrens unter dem SRÜ liegt - auch im Vergleich zum IGH - darin, dass mit dem Beitritt zum SRÜ eine uneingeschränkte Unterwerfung unter eine verbindliche Streitbeilegung erfolgt. Zwa steht nicht bereits mit dem Beitritt zum bzw. der Ratifikation des SRÜ fest, welches Forum zur Streitentscheidung eines konkreten Falles berufen ist. Diese Entscheidimg fällt aber automatisch, sobald die Parteien eines konkreten Streitfalls feststehen. Abgesehen von Meeresbodenstreitigkeiten, die ausschließlich der Meeresbodenkammer zugewiesen sind und nicht vor andere internationale Gerichte getragen werden können, werden einzelne Verfahren primär vom ISGH entschieden. Dazu gehören bestimmte einstweilige Anordnungen und in der Praxis die Schiffsfreigabeverfahren. Insoweit hat der ISGH ein Verfahrensmonopol. 15

Positiv zu dem Urteil B. Kwiatkowska , International Decisions, AHL 95 (2001), 162 ff.; grundlegend kritisch D. A. Colson/P. Hoyle , Satisfying the Procedural Prerequisites to the Compulsory Dispute Settlement Mechanisms of the 1982 Law of the Sea Convention: Did the Southern Bluefin Tuna Tribunal Get It Right?, Ocean Development and International Law 34 (2003), 59 (70 f.). 16 Vgl. Art. 287 Abs. 5 SRÜ.

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Auch wenn unterschiedliche Foren für die verschiedenen Beilegungen von Streitigkeiten zur Verfügung stehen, besteht doch eine Gemeinsamkeit: Alle Foren fällen verbindliche Entscheidungen. Dieses ist von zentraler Bedeutung und unterscheidet das Streitbeilegungssystem des SRÜ von dem nach allgemeinem Völkerrecht. Es gibt für die Parteien auch - worauf bereits verwiesen wurde keine Möglichkeit, sich einer verbindlichen Streitbeilegung zu entziehen. In Grundzügen gelten zumindest für die gerichtliche und die schiedsgerichtliche Entscheidung gleiche Verfahrensgrundsätze. Maßstab ist für alle Rechtsstreitigkeiten das SRÜ und das mit diesem zu vereinbarende Völkerrecht.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Seerechtsübereinkommen das internationale Streitbeilegungssystem substantiell fortentwickelt hat, indem es - über die Manila-Deklaration17 hinausgehend - eine Verpflichtung enthält, sich einem verbindlichen Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zu unterwerfen. Dieses System der Streitbeilegung hat insoweit Anerkennung gefunden, als es vom Übereinkommen zur Durchführung der Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 über die Erhaltung und Bewirtschaftung von gebietsübergreifenden Fischbeständen und Beständen weit wandernder Fische vom 4.08.199518 übernommen wurde. Dies gilt auch für weitere Abkommen.19

D. Zuständigkeit der Institutionen zur Beilegung seerechtlicher Streitigkeiten Grundsätzlich ist jeder Gerichtshof oder jedes Gericht, d.h. auch jedes Schiedsgericht, für jede Rechtsstreitigkeit über die Auslegung oder die Anwendung des 17

UNDoc. A/RES/37/10 vom 15.11.1982. BGBl 2000 II, 1022. 19 Protokoll vom 07.11.1996 (BGBl 1998 II, 1345) zum (Londoner) Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen vom 29.12.1972 (BGBl 1977 II, 180; Änderung vom 12.10.1978 in BGBl 1987 II, 118); Übereinkommen zur Förderung der Einhaltung internationaler Erhaltungsund Bewirtschaftungsmaßnahmen auf Hoher See vom 23.11.1993 (ILM 33 [1994], 969); Agreement for the Conservation of Fishery Resources in the High Seas of the South-East Pacific vom 14.08.2000; Art. 31 der Convention on the Conservation and Management of Highly Migratory Fish Stocks in the Western and Central Pacific Ocean vom 05.09.2000 (ILM 40 [2001 ], 278); Art. 24 der Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage vom 02.11.2001 (ILM 41 [2002], 40); Convention on the Conservation and Management of Fishery Resources in the South-East Atlantic Ocean vom 20.04.2001 (ILM 41 [2002], 257). Vgl. auch die Synopse der einschlägigen Bestimmungen unter http://www.itlos.org/procedings/competence/provisions_en.pdf. 18

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SRÜ zuständig (Art. 288 Abs. 1 SRÜ). Eingeschlossen sind Rechtsstreitigkeiten über die Auslegung und Anwendung anderer internationaler Verträge, die im Zusammenhang mit den Zielen des SRÜ stehen (Art. 288 Abs. 2 SRÜ). Schließlich sieht für den ISGH Art. 21 ISGH-Statut vor, dass dieser in allen Fällen befasst werden kann, für die seine Zuständigkeit vereinbart wurde. Ob die Parteiautonomie insoweit wirklich unbegrenzt ist, erscheint, trotz dieses Wortlauts, zweifelhaft. Eine Verbindung zum Seerecht müsste die Voraussetzung sein. Nach Art. 288 Abs. 1 SRÜ ist ein Gerichtshof oder ein Gericht grundsätzlich allzuständig, d.h. die Zuständigkeit erfasst alle Rechtsstreitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des SRÜ. Insoweit gibt es allerdings eine Ausnahme: Für Streitigkeiten aus dem Tiefseebergbauregime ist nur die Meeresbodenkammer zuständig. Damit ist ausgeschlossen, dass alle anderen Gerichtshöfe oder Gerichte, die zur Entscheidung seerechtlicher Streitigkeiten berufen sind, derartige Rechtsstreitigkeiten entscheiden. Auf weitere Ausnahmen wurde bereits verwiesen. Art. 297 und Art. 298 SRÜ sehen Einschränkungen hinsichtlich einer obligatorischen Streitbeilegung für Rechtsstreitigkeiten zu bestimmten Streitgegenständen vor. Diese Einschränkungen ergeben sich entweder aus dem Seerechtsübereinkommen unmittelbar oder aus einer entsprechenden Erklärung der Staaten gemäß Art. 298 SRÜ. Grundsätzlich gilt, dass nach Art. 297 SRÜ Rechtsstreitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des SRÜ hinsichtlich der Ausübung der küstenstaatlichen Souveränitätsrechte nur eingeschränkt der obligatorischen Streitbeilegung unterstellt sind. Der Katalog des Art. 297 SRÜ ist vom Ansatz her so konzipiert, dass diese Rechtsstreitigkeiten einer verbindlichen Streitbeilegung nur dann unterworfen sind, wenn sie in der Positivliste des Art. 297 SRÜ genannt werden. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss: Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung und Ausübung von küstenstaatlichen Hoheitsrechten unterliegen nicht der obligatorischen Streitbeilegung, es sei denn, sie sind in Art. 297 SRÜ als Ausnahmen von diesem Grundsatz genannt. Schließlich kann ein Staat bestimmte Streitigkeiten von einer verbindlichen Streitentscheidung ausnehmen, und zwar solche hinsichtlich der Abgrenzung des Küstenmeers, der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) und des Festlandsockels zwischen Staaten mit gegenüberliegenden oder angrenzenden Küsten, Streitigkeiten über historische Buchten oder über historische Rechtstitel, Streitigkeiten über militärische Aktivitäten, Streitigkeiten über Vollstreckungshandlungen des Küstenstaats in Bezug auf die Meeresforschung in der AWZ und Streitigkeiten, bei denen der Sicherheitsrat die ihm in der VN-Charta übertragenen Rechte wahrnimmt. Die Möglichkeiten nach Art. 298 Abs. 1 SRÜ haben bislang nur wenige Staaten genutzt. Das internationale Streitbeilegungssystem des SRÜ entscheidet in erster Linie auf der Basis des SRÜ (Art. 293 SRÜ). Erst in zweiter Linie ist allgemeines

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Völkerrecht anwendbar, soweit es mit dem SRÜ in Einklang steht.20 Insoweit entsteht eine Normenhierarchie, für die es im Streitbeilegungssystem der WTO eine Parallele gibt. Der Konzentration auf das SRÜ entspricht die generelle Funktion dieses Streitbeilegungssystems, Rechtsstreitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des SRÜ zu entscheiden. Problematisch wird diese Regelung, wenn der IGH Rechtsstreitigkeiten im Rahmen des SRÜ entscheidet, denn damit wird Art. 38 IGH-Statut modifiziert. Eine Besonderheit gilt schließlich für die seerechtliche Streitbeilegung hinsichtlich nationalen Rechts. Normalerweise kann nationales Recht nicht zur Grundlage einer Entscheidung einer internationalen Rechtsstreitigkeit werden. Für das Seerecht gilt in Einzelfällen etwas anderes. Nach Art. 297 Abs. 1 lit. b SRÜ kann beispielsweise geltend gemacht werden, dass ein Schiff küstenstaatliche Normen verletzt hat, die im Einklang mit dem SRÜ stehen. Der Hintergrund hierfür ist, dass das nationale Recht ein wesentlicher Mechanismus für die Implementierung des SRÜ ist. Nationales Recht und das SRÜ sind daher nicht stets scharf trennbar. Die Entscheidungen aller zur Beilegung von Streitigkeiten aufgerufenen Foren sind im Grundsatz endgültig;21 die Überprüfung einer Entscheidungsinstanz durch eine andere ist also nicht vorgesehen. Sind die Entscheidungen gefallen, kann auch ein derartiges Verfahren nicht mehr vor dem IGH eingeleitet werden. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings eine wesentliche Ausnahme: Nach Art. 290 Abs. 5 SRÜ kann der ISGH einstweilige Anordnungen treffen, bevor ein zur Entscheidung in der Hauptsache berufenes Schiedsgericht eingesetzt ist. Diesem steht dann die Möglichkeit zu, eine derartige einstweilige Anordnung zu modifizieren oder aufzuheben. Dies ist letztlich nur konsequent: Mit seiner Entscheidung nimmt der ISGH die Kompetenzen des Schiedsgerichts wahr. Er muss daher auch prüfen, ob das Schiedsgericht prima facie zuständig ist.22

E. Der Internationale Seegerichtshof, Zugang und Verfahren I. Der Internationale Seegerichtshof

Der Gerichtshof besteht aus 21 unabhängigen Mitgliedern (Richtern), die durch die Vertragsstaaten des Seerechtsübereinkommens benannt und von ihnen mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Ein Recht zur Nomination haben nur Vertragsstaaten. Als Qualifikation werden u.a. Unparteilichkeit und anerkannte 20

Vgl. dazu J. V. Sola, The International Tribunal for the Law of the Sea, 1986, 66. Vgl. Art. 296 SRÜ. 22 Vgl. hierzu S. M. Schwebel, The Southern Bluefin Tuna Case, in: Ν. Ando/E. McWhinney/R. Wolfrum (Hrsg.), Liber Amicorum Judge Shigeru Oda, 2002, 743. 21

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fachliche Eignung auf dem Gebiet des Seerechts genannt. In dem Seegerichtshof sollen alle hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt vertreten sein, und dessen Zusammensetzung muss dem Prinzip der gerechten geographischen Verteilung entsprechen, ein Grundsatz, der generell für die Besetzung von Organen der Vereinten Nationen gilt. Die Staatsangehörigkeit eines Richters ist dagegen als Kriterium für die Berufung an den Internationalen Seegerichtshof nur insoweit ausschlaggebend, als nicht zwei Richter der gleichen Staatsangehörigkeit dem Seegerichtshof angehören dürfen. Die Besetzung der Richterschaft in dem Seegerichtshof weicht in einem Punkt von derjenigen des Internationalen Gerichtshofs ab. Die regionale Verteilung der Sitze in dem Internationalen Gerichtshof richtet sich nach einem eingespielten Verteilungsschlüssel. Im Ergebnis entspricht dessen geographische Zusammensetzung derjenigen des Sicherheitsrates. Von den 15 Richtern des IGH kommen fünf aus Westeuropa. Im Vergleich dazu werden bei der Verteilung der Sitze für den Seegerichtshof die Entwicklungsländer stärker berücksichtigt. Von den 21 Richtern stammen fünf aus Afrika, fünf aus Asien, vier aus Lateinamerika, vier aus Westeuropa, das Australien und Neuseeland mit erfasst, und drei aus Osteuropa. Dies wurde auf der ersten Wahl so festgeschrieben. Diese Sitzverteilung ist dann problematisch, wenn Kandidaturen aus Staaten vorliegen, die keiner dieser Regionen zuzuordnen sind. Dies war bei der ersten Wahl zum Seegerichtshof der Fall, da ein Kandidat aus Israel (nominiert von Österreich) zur Wahl stand. Die Sitzverteilung war formal nur für die erste Wahl zum Seegerichtshof verbindlich; sie wurde aber bei den Wahlen 1999 und 2002 nicht in Frage gestellt. Die Richter des Seegerichtshofes werden für die Dauer von neun Jahren gewählt; eine Wiederwahl ist zulässig. Um eine Rotation zu gewährleisten, schieden allerdings von den Richtern der ersten Generation je sieben nach drei bzw. sechs Jahren aus. Die ausscheidenden Richter wurden durch Los bestimmt, für sie war eine Wiederwahl zulässig.

II. Zugang

Das Seerechtsübereinkommen geht davon aus, dass Staaten die primären Nutzer des ISGH sind.23 Dies gilt zunächst für die Vertragsstaaten des Seerechtsübereinkommens. Der Begriff des Vertragsstaats ist allerdings irreführend. Er umfasst nach Art. 1 i.V.m. Art. 305 SRÜ auch Gebiete, sofern diese sich selbst verwalten, sowie bestimmte internationale Organisationen. Abgesehen davon ist der ISGH auch zuständig für die Entscheidung von Streitigkeiten von Staaten mit Privatper23

Vgl. Art. 291 SRÜ.

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sonen oder sogar zwischen Privatpersonen. Hierbei sind verschiedene Fälle zu unterscheiden. Zum einen besteht diese Möglichkeit in den Fällen der Schiffsfreigabe (Art. 292 SRÜ). Außerdem erlauben Art. 20 und 21 ISGH-Statut eine entsprechende Befassung des ISGH, wenn Private innerhalb eines Abkommens die Kompetenz des ISGH begründen.

I I I . Verfahren vor dem ISGH

1. Vorbemerkung Das Statut des ISGH unterscheidet verschiedene Verfahrensarten, die teils eigenen Verfahrensregeln folgen. Dazu gehören das Hauptsacheverfahren, das Verfahren zur Freigabe von Schiffen, das Verfahren der einstweiligen Anordnung und das Verfahren vor der Meeresbodenkammer. Die Verfahrensregeln finden sich teils in Teil XV SRÜ, in dessen Statut (Anlage VI SRÜ) oder in seiner Verfahrensordnung (Rules of the Tribunal). Das Verfahren vor dem ISGH ist strikt zweigeteilt in ein schriftliches und in ein mündliches Verfahren, 24 Nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens dürfen außer mit Genehmigung der Gegenseite - keine neuen Dokumente mehr eingebracht werden.25 Widerspricht die Gegenseite der Vorlage eines neuen Dokuments, kann der ISGH die Vorlage dennoch für zulässig erklären, soweit er sie für notwendig hält. Der Ablauf der mündlichen Verhandlung ist für alle Verhandlungsarten gleich. In der mündlichen Verhandlung vor dem ISGH kommt das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens deutlich zum Ausdruck. Es ist zunächst Aufgabe der Parteien selbst, die für relevant gehaltenen Tatsachen vorzutragen und durch Zeugen, Experten oder Dokumente zu belegen. Allerdings hat der ISGH auch die Möglichkeit, die Parteien zur Vorlage weiterer Beweismittel aufzufordern. Der Gerichtshof kann sich sogar die erforderliche Information selbst verschaffen. 26 Von der Möglichkeit, die Parteien zur Beibringung von Beweismaterial aufzufordern, ist bislang nur sparsam Gebrauch gemacht worden. Die mündliche Verhandlung wird protokolliert; die Parteien können diese Protokolle korrigieren. Am Ende der mündlichen Verhandlung müssen die 24

Vgl. Art. 69 Rules of the Tribunal. Vgl. Art. 71 Rules of the Tribunal. 26 Vgl. Art. 77 Abs. 1 Rules of the Tribunal. Hierfür besteht die Möglichkeit einer Beweisaufnahme durch den Gerichtshof selbst (vgl. Art. 81,82 Rules of the Tribunal) oder durch Auskünfte einer internationalen Organisation (vgl. Art. 84 Rules of the Tribunal). 25

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Schlussanträge schriftlich und mündlich vorgelegt werden. Die mündlichen Verhandlungen vor dem ISGH sind öffentlich. 2. Normales Hauptsacheverfahren Ein Hauptsacheverfahren wird vor dem ISGH durch einen entsprechenden Antrag eingeleitet. Dieser Antrag bezeichnet die klagende und die beklagte Partei und die Rechtsstreitigkeit. Anders als vor dem IGH muss der Antrag bereits deutlich substantiiert sein.27 Wenn die Zustimmung der Gegenseite zur Jurisdiktion des ISGH noch nicht vorliegt, so wird der Fall erst mit Eingang dieser Zustimmung anhängig. Es besteht auch die Möglichkeit, dass zwei Streitparteien einen Rechtsstreit gemeinsam vorlegen bzw. dass dieser auf der Basis eines besonderen Abkommens (