Rechtsstaatliches Strafen: Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017 [1 ed.] 9783428546299, 9783428146291

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka, der Jubilar dieser Festschrift, Professor für Strafrecht an der Kansai-Univer

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Rechtsstaatliches Strafen: Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017 [1 ed.]
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Schriften zum Strafrecht Band 307

Rechtsstaatliches Strafen Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017

Herausgegeben von

Jan C. Joerden und Kurt Schmoller

Duncker & Humblot · Berlin

JOERDEN/SCHMOLLER (Hrsg.)

Rechtsstaatliches Strafen

Schriften zum Strafrecht Band 307

Rechtsstaatliches Strafen Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017

Herausgegeben von

Jan C. Joerden und Kurt Schmoller

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14629-1 (Print) ISBN 978-3-428-54629-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84629-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Keiichi Yamanaka, der Jubilar dieser Festschrift, gehört zum engsten Kreis der einflussreichsten Repräsentanten einer rechtsvergleichenden Kooperation zwischen der Strafrechtswissenschaft in Japan und jener in Deutschland bzw. Österreich. In einer Kontinuität von über 30 Jahren hat er sich neben der Bearbeitung des japanischen Strafrechts vor allem auch der deutschsprachigen Strafrechtsdogmatik gewidmet und durch rechtsvergleichende Untersuchungen diese Strafrechtsordnungen einander nahe gebracht. Dabei liegt ein Schwerpunkt seiner Forschungen auf dem Allgemeinen Teil des Strafrechts und hier auf den Fragen der Kausalität im Rahmen des strafrechtlichen Deliktsaufbaus und der sogenannten objektiven Zurechnung. Gerade dieses Feld der strafrechtlichen Grundstrukturen hat Yamanaka schon ganz zu Beginn dieser für das Strafrecht außerordentlich wichtigen Neuausrichtung des objektiven Tatbestands einer Straftat wesentlich mit beeinflusst. Seine Veröffentlichungen waren auf diesem und weiteren Feldern der strafrechtlichen Kategorien- und Begriffsbildung für das japanische Strafrecht wohl von ähnlich wegweisender Bedeutung wie etwa die von Claus Roxin für das deutsche Strafrecht. Dabei hat der Jubilar sich schon früh – nicht zuletzt im Rahmen von Forschungsaufenthalten, die ihm insbesondere von der Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglicht wurden – mit deutschsprachigen Arbeiten in die strafrechtswissenschaftliche Diskussion in Deutschland eingeschaltet und die hiesige Diskussion mitbestimmt. Das kann schon deshalb als herausragende Leistung gelten, weil die deutsche Strafrechtswissenschaft eher dazu neigt, ihre Erkenntnisse zu exportieren, als sich importierte Erkenntnisse anzueignen. Eine ähnliche wechselseitige Beeinflussung des deutschen und des japanischen Strafrechts hat Yamanaka auch auf dem Gebiet des Medizinstrafrechts induziert, auf dem er vor allem in den letzten Jahren verstärkt publiziert hat, insbesondere etwa zu Grund und Grenzen der ärztlichen Aufklärungspflichten, deren Erfüllung bekanntlich für die Wirksamkeit einer Einwilligung des Patienten in einen ärztlichen Eingriff von entscheidender Bedeutung ist. Inzwischen liegen über 50 Veröffentlichungen (darunter vier Buchpublikationen) Yamanakas zum deutschen und japanischen Strafrecht in deutscher Sprache vor, die durchweg in fachwissenschaftlich anerkannten Publikationsorganen erschienen sind, darunter eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in Festschriften, die in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland einen besonderen Platz einnehmen (nähere Angaben zu den Veröffentlichungen im Anhang am Ende dieses Bandes). Von diesen Publikationen sind ca. 20 Beiträge in den letzten fünf Jahren erschienen. Auf die wesentlich längere Veröffentlichungsliste von Yamanaka mit Werken in japanischer Sprache kann hier nur hingewiesen werden

VI

Vorwort

(auch dazu mehr im Anhang). Besonders hervorgehoben sei noch der jüngst (2012) im renommierten Verlag Walter de Gruyter erschienene Band „Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft“ (420 S.), in dem der Jubilar einen tiefen Einblick in das japanische Strafrecht gibt, und zwar in fünf Teilen: Zur allgemeinen Dogmengeschichte der japanischen Strafrechtswissenschaft, zu aktuellen Problemen der japanischen Strafrechtsdogmatik, zur Lehre von der objektiven Zurechnung, zu Aufgaben und Tendenzen der japanischen Strafrechtswissenschaft sowie zu Kriminalitätstendenzen und der Justizreform in Japan. – Dass die Arbeiten von Yamanaka nicht nur für die deutschsprachige und japanische Strafrechtswissenschaft von herausragender Bedeutung sind, sondern auch in anderen Ländern eindrucksvollen Widerhall gefunden haben, wird nicht zuletzt durch die beiden Ehrendoktorwürden bezeugt, die dem Jubilar in Polen (Białystok) und in Peru (Huanuco) verliehen wurden. Darüber hinaus liegen Veröffentlichungen des Jubilars in den USA, Polen, Finnland, Spanien, China und Korea vor. Kürzlich ist dem Jubilar auch noch die große Ehre einer Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen zuteil geworden. Möglich war dies alles nur, weil Yamanaka sich gewissermaßen auf ein Leben zwischen verschiedenen Rechtskulturen, insbesondere der japanischen und der deutschen, eingelassen hat, wie sich dies in seinem Lebenslauf eindrucksvoll widerspiegelt. Daher zu diesem Lebenslauf nachfolgend eine knappe Übersicht. Keiichi Yamanaka wurde am 16. März 1947 in Osaka geboren. Er studierte von 1966 bis 1970 Rechtswissenschaften an der Kansai Universität in Osaka. Dem folgten bis 1972 ein Forschungskurs (Magisterkurs) an der Kansai Universität sowie bis 1975 ein weiterer Forschungskurs (Doktorkurs) an der Universität Kyoto. 1975 wurde Yamanaka zum planmäßigen Dozenten an der Juristischen Fakultät der Kansai Universität ernannt. Es folgte 1978 die Ernennung zum Associate-Professor an der Juristischen Fakultät der Kansai Universität. Seinen ersten längeren Auslandsaufenthalt nahm Yamanaka von 1980 bis 1982 als Stipendiat der Alexander von HumboldtStiftung bei Professor Claus Roxin an der Universität in München wahr. 1985 wurde er zum ordentlichen Professor an der Juristischen Fakultät der Kansai Universität ernannt. Dem schloss sich in demselben Jahr ein viermonatiger Forschungsaufenthalt mit einem Heinrich Hertz-Stipendium an der Universität zu Köln bei Professor HansJoachim Hirsch an. Von 1988 bis 1990 war Yamanaka zu einem weiteren Forschungsaufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar mit einem Stipendium der Kansai Universität. Jeweils ein Jahr verbrachte er dabei an der Universität München und der Universität zu Köln. Von 1993 bis 1994 folgte eine Wiedereinladung seitens der Alexander von Humboldt-Stiftung, dieses Mal mit einem dreimonatigen Aufenthalt bei Professor Hans-Ludwig Günther an der Universität Tübingen. 1994 bis 2002 war Yamanaka als Prüfer im Rahmen des (alten) Staatsexamens im Fach Strafrecht in Osaka tätig und zudem von 1996 bis 1998 Dekan der Juristischen Fakultät an der Kansai Universität. Von 1997 bis 2000 war er Vorstand der strafrechtswissenschaftlichen

Vorwort

VII

Gesellschaft Japans. In den Jahren 1998 bis 1999 nahm er einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Belgien an der Catholic University Leuven wahr. Am 24. September 1999 wurde Yamanaka von der Universität Kyoto die Doktorwürde (Dr. iur.) verliehen. Von 2001 bis 2012 war er zudem als Dozent für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Polizei-Akademie für die Kinki-Gebiete (d. h. Osaka, Kyoto, Hyogo, Nara, Wakayama und Shiga-Präfekturen) tätig. Von 2003 bis 2009 wurde er Geschäftsführender Vorstand der strafrechtswissenschaftlichen Gesellschaft Japans. Von 2002 bis 2004 war Yamanaka Mitglied des strafrechtlichen Fachkomitees des Beratungsausschusses zur Gesetzgebung (1. Organisierte Kriminalität, 2. Bekämpfung der hochtechnisierten Straftaten, 3. Verhinderung schwerer Straftaten und 4. Straftaten gegen die menschliche Freiheit). Von 2004 bis 2007 war Yamanaka Dekan der neu gegründeten Law School an der Kansai Universität in Osaka und von 2006 bis 2007 auch Prüfer im neuen Staatsexamen (Strafrecht). Am 9. November 2007 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Białystok in Polen verliehen. Von 2007 bis 2011 war er Vorstand des Law School-Vereins in Japan. Im Jahre 2008 folgte für fünf Monate ein weiterer Forschungsaufenthalt in Deutschland, und zwar an der Universität Frankfurt am Main bei Professor Ulfrid Neumann. Am 18. Juni 2009 verlieh ihm die Universität Huanuco in Peru die Ehrendoktorwürde. Auf Wiedereinladung der Alexander von Humboldt-Stiftung war Yamanaka in diesem Jahr auch für drei Monate bei Professor Gerhard Werle an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach war er für drei Jahre (2009 bis 2012) als Gastprofessor an der Wuhan Universität in China tätig. Am 21. März 2014 wurde Yamanaka mit dem Reimar Lüst-Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgezeichnet. Am 5. Mai 2014 folgte die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Juristische Fakultät der Universität Göttingen. Von 2014 bis 2017 hielt sich Yamanaka aus Anlass des Preises der Alexander von Humboldt-Stiftung (mit Unterbrechungen) wieder zu Forschungsaufenthalten in Deutschland auf, und zwar für insgesamt vier Monate an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) bei Professor Jan C. Joerden, für drei Monate an der Humboldt-Universität zu Berlin bei Professor Gerhard Werle, für drei Monate an der Universität Göttingen bei Professor Jörg-Martin Jehle und für zwei Monate an der Universität Frankfurt am Main bei Professor Ulfrid Neumann. In all den Jahren hat Keiichi Yamanaka immer wieder auch Österreich, vor allem Wien und Salzburg, besucht und dabei viel beachtete Gastvorträge gehalten. Dem Jubilar ist zu wünschen, dass er – weiterhin bei bester Gesundheit – seine zum Teil jahrzehntelangen wissenschaftlichen Kontakte, insbesondere zu den deutschen und österreichischen Juristischen Fakultäten, weiter vertieft und mit neuen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in deutscher Sprache zum besseren Verständnis des Japanischen Strafrechtsdenkens im deutschsprachigen Raum wie schon bisher Wesentliches beiträgt. Hier können zweifellos die Strafrechtsordnungen in Japan und Deutschland bzw. Österreich unter Vermittlung gerade auch der Arbeiten von Yamanaka erheblich voneinander lernen und dadurch in Wissenschaft und Gesetz-

VIII

Vorwort

gebung voneinander profitieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Jubilar sich in den letzten Jahrzehnten mit einer von herausragender Intensität getragenen Leidenschaft der Strafrechtsvergleichung zwischen Japan und Deutschland bzw. Österreich gewidmet hat und dass von ihm zu diesem Wirkungsgebiet noch mit vielen stimulierenden, wissenschaftlich ausgezeichneten Veröffentlichungen gerechnet werden kann. In diesem Sinne ist und bleibt Keiichi Yamanaka hoffentlich noch viele Jahre ein ungewöhnlicher Glücksfall für die deutsch-japanische Wissenschaftskooperation vor allem auf dem Gebiet des Strafrechts. Frankfurt (Oder) und Salzburg im Januar 2017 Jan C. Joerden und Kurt Schmoller

Tabula Gratulatoria Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag am 16. März 2017 Kai Ambos, Göttingen

Maciej Małolepszy, Słubice

Joerg Brammsen, Bayreuth

James Maxeiner, Baltimore

José de Sousa e Brito, Lissabon

Francisco Muñoz-Conde, Sevilla

Joanna Długosz, Frankfurt (Oder)

Uwe Murmann, Göttingen

Massimo Donini, Modena

Ulfrid Neumann, Frankfurt am Main

Gunnar Duttge, Göttingen

Emil Pływaczewski, Białystok

Wolfgang Frisch, Freiburg

Rudolf Rengier, Konstanz

Karl-Heinz Gössel, München

Joachim Renzikowski, Halle

Ewa Guzik-Makaruk, Białystok

Henning Rosenau, Halle

Volker Haas, Heidelberg

Claus Roxin, München

Wolfgang Heinz, Konstanz

Imme Roxin, München

Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder) Frank Saliger, München Eleonora Hübner, Salzburg

Kurt Schmoller, Salzburg

Günther Jakobs, Bonn

Heinz Schöch, München

Jörg-Martin Jehle, Göttingen

Ulrich Schroth, München

Jan C. Joerden, Frankfurt (Oder)

Bernd Schünemann, München

Tomasz Kaczmarek, Wrocław

Andrzej J. Szwarc, Poznan´

Urs Kindhäuser, Bonn

Yener Ünver, Istanbul

Ewa Kowalewska-Borys, Białystok

Moritz Vormbaum, Berlin

Lothar Kuhlen, Mannheim

Thomas Vormbaum, Hagen

Witold Kulesza, Łódz´

Gerhard Werle, Berlin

Otto Lagodny, Salzburg

Roland Wittmann, Berlin

Raimo Lahti, Helsinki

Junko Yamanaka, Nagano

Manfred Maiwald, Göttingen

Yuri Yamanaka, Osaka

Inhaltsverzeichnis

Zum Allgemeinen Teil des Strafrechts Joerg Brammsen Einverständnis und Einwilligung. Der materielle Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Gunnar Duttge Das Fahrlässigkeitsdelikt im Zeitalter moderner „Katastrophen“ . . . . . . . . . . . .

29

Wolfgang Frisch Zur Problematik und zur Notwendigkeit einer Neufundierung der Notwehrdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Volker Haas Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tat bei Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen des Opfers. Zugleich eine Besprechung von BGH 1 StR 518/08 vom 29. 04. 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Gudrun Hochmayr Strafsanktionen gegen Unternehmen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Günther Jakobs Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Tomasz Kaczmarek Kriterien einer objektiven Erfolgszurechnung als Kodifizierungsfrage (gegen ihre gesetzliche Regelung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Raimo Lahti Über die strafrechtliche Verantwortung der juristischen Person und die Organund Vertreterhaftung in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Manfred Maiwald Kein Vorsatz ohne Fahrlässigkeit. Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der italienischen Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ulfrid Neumann Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“ . . . . . . . . . . . 171

XII

Inhaltsverzeichnis

Joachim Renzikowski Der Gegenstand des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Kurt Schmoller Ratenweiser Giftmord mit vorzeitigem Todeseintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Zum Besonderen Teil des Strafrechts Kai Ambos Besitz als Straftat und die Funktion der subjektiven Tatseite. Überlegungen aus einer vergleichenden Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Joanna Długosz Die Tendenzen zur Erweiterung der Kriminalisierung im Bereich der Tötungsdelikte am Beispiel der Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids im deutschen und polnischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Massimo Donini Die Notwendigkeit unglücklicher Rechte. Die Grundrechte der Kranken und die Regelung der Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Lothar Kuhlen Zur Verbindlichkeit eines religiös motivierten Behandlungsvetos des Patienten für den Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Uwe Murmann Paternalismus und defizitäre Opferentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Rudolf Rengier Zum Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte: Soll die Heimtücke nicht sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Henning Rosenau Wider die Strafbarkeit des assistierten Suizids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ulrich Schroth (Medizinisch) assistierter Suizid aus juristischer und ethischer Sicht . . . . . . . . . 345 Roland Wittmann Die unterlassene Hilfeleistung aus rechtsvergleichender und rechtsethischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Junko Yamanaka Zur Anwendungsgrenze des Betruges in Japan anhand der Fälle über die Boryokudan-Ausschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Inhaltsverzeichnis

XIII

Zu Strafrechtsphilosophie und -theorie José de Sousa e Brito Vergeltung als relativer Strafzweck bei Plato und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . 391 Karl Heinz Gössel Grund-Folgeverhältnisse als Bausteine des Strafrechtssystems . . . . . . . . . . . . . . 407 Jan C. Joerden Zur Rolle des Satzes ultra posse nemo obligatur bei lobender und tadelnder (insbes. strafender) Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Urs Kindhäuser Zu Gegenstand und Aufgabe der Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Claus Roxin Die präventive Bestrafungsnotwendigkeit als Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Frank Saliger Institutionelle Tatsachen und pluralistische Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Bernd Schünemann Sinn und Zweck der Strafe – eine unendliche Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Zum Strafprozessrecht Ewa M. Guzik-Makaruk und Ewa Kowalewska-Borys Grundprinzipien der inländischen Gerichtsbarkeit und des Strafprozessrechts in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Eleonora Hübner Forensische Aussagepsychologie im Dienste eines wahren Opferschutzes oder Fachwissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Gerichtsgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Otto Lagodny Konstellationen transnationaler Strafverfolgung von Konzerngesellschaften . . . 575 Imme Roxin Criminal Compliance, Internal Investigations und die strafprozessualen Beschuldigtenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

XIV

Inhaltsverzeichnis

Yener Ünver Ist die Teilnahme eines Staatsanwalts im Rahmen eines Strafverfahrens überflüssig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

Zu Strafrechtspolitik, Strafvollstreckung und Kriminologie Wolfgang Heinz Evidenzbasierte Kriminalpolitik in punitiven Zeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Jörg-Martin Jehle Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich. Ansatz und Ertrag des European Sourcebook of Criminal Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Maciej Małolepszy Der Rechtsstaat auf dem Prüfstand. Über die Probleme der Isolation der Verurteilten nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Emil W. Pływaczewski Die EU und ihre Tätigkeit im Bereich Bürgersicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Heinz Schöch Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Andrzej J. Szwarc Außerhalb des Strafrechts vorgesehene Repressivmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Yuri Yamanaka Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan. Eine Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721

Zur Strafrechtsgeschichte Witold Kulesza Die Ermordung von Kriegsgefangenen während des 2. Weltkriegs. Ein Kriegsverbrechen oder eine Überschreitung von Berechtigungen? . . . . . . . . . . . . . . . . 745 James R. Maxeiner The First Humboldtian Research Trip into the Polis. J. L. Tellkampf in the United States 1838 – 1847 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 Francisco Muñoz-Conde Strafrechtliche Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien: Der Fall Garzón

795

Inhaltsverzeichnis

XV

Thomas Vormbaum Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 819 Gerhard Werle und Moritz Vormbaum Die Herstellung der Strafrechtseinheit nach der deutschen Vereinigung . . . . . . . 833 Anhang: Verzeichnis der Schriften von Keiichi Yamanaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883

Zum Allgemeinen Teil des Strafrechts

Einverständnis und Einwilligung Der materielle Weg Joerg Brammsen Keiichi Yamanaka hat in seinem inzwischen weit über 40-jährigen wissenschaftlichen Œuvre ein beeindruckend umfangreiches Werk vorgelegt, das nahezu alle Problembereiche der deutschen und der japanischen Strafrechtslehre einer tiefschürfenden Betrachtung unterworfen hat. Dabei hat er, ausgehend von seinem schon frühzeitig aufgegriffenen „Zentralthema“ der (täter- und/oder teilnehmerschaftlichen) objektiven Zurechnung,1 eine Vielzahl von Themenstellungen ungeachtet ihrer Vielgestaltigkeit auf der Suche nach den maßstabsetzenden Leitaspekten immer auch unter systematischen respektive übergeordneten Zusammenhängen analysiert und erläutert. Eine solche enge, von struktureller Ordnung und Leistung geprägte einheitsschaffende Verbundenheit kennzeichnet auch die dem verehrten Jubilar in jahrzehntelanger Freundschaft gewidmete Abhandlung, die sich mit der Charakterisierung und Beziehung zweier Rechtsinstitute befasst, deren sachliche Verknüpfung an der Schnittstelle von tatbestandlicher und unrechtsbezogener (Erfolgs-)Zurechnung trotz zahlreicher einschlägiger Vorarbeiten noch immer Gegenstand höchst kontroverser Diskussionen ist – das Verhältnis von Einverständnis und Einwilligung.2 Geleitet von einer besonderen, in Abgrenzung zu allen anderen Erscheinungsformen haftungsbefreiender „Gestattungen“, materiellen Aufeinanderbezogenheit erhellt ihre nähere Betrachtung ein nachgeradezu klassisch ausgeformtes Gegensatzpaar, das von dem (grundrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht getragenen) gemeinsamen Leitkriterium des „Schutzverzichts“ des berechtigten Zuordnungssubjekts sowohl geeint als auch unterschieden wird. Zu seiner Aufdeckung in Würdigung der großen Verdienste des Jubilars um die Rechtsvergleichung und Fortentwicklung der Strafrechtswissenschaft beizutragen, ist – ungeachtet unseres oftmals gegensätzlichen Standpunktes – Ausdruck meines großen Dankes an Keiichi Yamanaka für vielfältige Anregungen und immerwährende großzügige Diskussionsbereitschaft. Der Verfasser ist glücklich, sich zu Deinen Freunden und Wegbegleitern zählen zu dürfen. Mögen Dir Deine Schaffenskraft, Neugier und (Welt-)Offenheit noch lange erhalten bleiben. Ad multos annos Keiichi watashi no yujin.

1 Monographisch erstmals in: Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, 1984 (in japanischer Sprache). 2 Ausführlich zum Meinungsstreit LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 151 ff.

4

Joerg Brammsen

I. Einleitung Im Anschluss an die grundlegende Untersuchung von Geerds3 werden seit nunmehr über 60 Jahren zur dogmatischen Einordnung und Ausgestaltung von Einwilligung und Einverständnis (abgesehen von vereinzelten weitergehenden Aufteilungen)4 zwei divergente Konzepte vorgeschlagen:5 Ein dualistischer Ansatz, der das Einverständnis der Tatbestands-, die Einwilligung hingegen der Rechtswidrigkeitsebene zuweist6 und ein monistischer Ansatz, der beide Rechtsinstitute gleichermaßen dem Tatbestand zuordnet, ihnen jedoch verschiedene Wirksamkeitsvoraussetzungen abverlangt.7 Beide Konzeptionen sind zunächst in ihren wesentlichen Grundgedanken, sodann beide Zustimmungsformen mit ihren jeweiligen Entstehungsvoraussetzungen vorzustellen (II.). Anschließend sind jene Hindernisse aufzudecken, die seit jeher der Erstellung einer ebenso praktikablen wie sachgerechten Zuordnung entgegenstehen (III.). Ihrem materiellen Leitkriterium ist nachzugehen und zu erhellen, dass beide Rechtsinstitute – Einwilligung wie Einverständnis – lediglich Ausprägungen eines gemeinsamen Grundgedankens diesbezüglicher Zugriffsgestattungen sind (IV.). Dessen auch für weitere interne Ausdifferenzierungen offene Ordnungs- und Gestaltungskraft bestätigt eine ergänzende Exemplifikation der Einverständnisdelikte (V.). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse beschließt den Beitrag (VI.).

II. Die klassischen Zuordnungsansätze Ausgangspunkt der unterschiedlichen tatbestands- und unrechtsbezogenen Einordnung von Einwilligung und Einverständnis ist weniger der Streit um die Rückführung der haftungsfreistellenden Wirkung auf das Verzichts- oder Vorrangprinzip,8 ist 3

Geerds, Einwilligung; s. auch ders., GA 1954, 262 ff.; ZStW 72 (1960), 42 ff. Zusätzliche Unterteilungen bzw. Zuordnungen betreffen vornehmlich die weitere Ausdifferenzierung der Einwilligung in eine tatbestands- und eine unrechtsausschließende Variante; so etwa Jakobs, AT 7/109 ff. 5 Komprimierte Darstellung des Streitstands u. a. bei Heinrich, AT, Rn. 440 ff.; Kindhäuser § 12 Rn. 2 ff.; Kühl § 9 Rn. 20 ff.; MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 124; Schönke/ Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 29 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 361 ff. 6 So u. a. Fischer Vor § 32 Rn. 3b; Gropp § 5 Rn. 108, 113; Heinrich, AT, Rn. 442 f.; Kühl § 9 Rn. 25; Lesch, in: FS Wessing, 2015, S. 223, 224; Murmann § 25 Rn. 119, 123; Otto, AT, § 8 Rn. 123, 127; Rengier § 23 Rn. 1 ff.; Satzger/Schmitt/Widmaier/Rosenau Vor §§ 32 ff. Rn. 34; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 29 ff.; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rn. 7 ff., 11; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 366, 370. 7 Jäger, AT, Rn. 135; Kindhäuser § 6 Rn. 5; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 156 ff.; MKStGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 124 ff.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 12 ff. 8 Näher dazu Albrecht, S. 106 f.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 151 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 608 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 33; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rn. 3 ff. 4

Einverständnis und Einwilligung

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ersteres doch lediglich die konsequent strikt subjektiv ausgerichtete Ausformung des (auch vom Selbstbestimmungsrecht mitgeprägten) allgemeinen Rechtfertigungsprinzips der überwiegenden bzw. höheren (= vorrangigen) Interessen.9 Ausgangspunkt des Zuordnungsstreits ist vielmehr das divergierende Leitkriterium der jeweils präferierten zwei- oder einstufigen Zuordnung: Ein strikt gesetzespositivistisch-formeller Tatbestandsansatz (ersterenfalls) oder ein individualistisch-dispositionszentriert gehaltenes Rechtsgutsverständnis (letzterenfalls). Beide determinieren die jeweilige Einordnung und sind deshalb kurz „gegenständlich“ (1.) und in ihren Voraussetzungen (2.) zu skizzieren. 1. Die herkömmliche Konturierung von Einwilligung und Einverständnis a) Das Einverständnis Bekanntlich gilt das Einverständnis als Besonderheit derjenigen Straftatbestände, die am besten als (formale) „Willensbruchdelikte“10 bezeichnet werden. Die Eigenart dieser Strafvorschriften – gemeinhin werden etwa die §§ 123, 177, 201 ff., 235 ff. (a.F.), 239 f., 242 genannt11 – besteht in der Art des Rechtsgüterschutzes: Grundsätzlich schützen sie das jeweilige Angriffsobjekt nicht global, sondern nur gegen Verhaltensweisen, die (bereits begrifflich) eine Überwindung des tatsächlichen Willens voraussetzen, wie zB Eindringen, Nötigen oder Wegnehmen.12 Immer muss ein real entgegenstehender Wille gebrochen werden, der allerdings weder ausdrücklich erklärt noch konkludent zum Ausdruck gebracht worden sein muss.13 Ein solcher Wille wird von dem Gesetzgeber in den einschlägigen Straftatbeständen als Regelfall und keines positiven Nachweises bedürftig angesehen, weil sein Dasein im sozialen Alltagsleben ein selbstverständliches, allgemein gebräuchliches und alltagsübliches Verhalten darstellt. Sein faktisches Fehlen reicht aus, um die Realisierung des tatbestandlichen Erfolges für den Täter unmöglich zu machen. Ist nun aber das willensbildende Subjekt, welches mit dem Opfer nicht zwingend identisch sein muss, mit der konkreten fremdnützigen Verletzung des Angriffsobjekts in dem Tatzeitpunkt einverstanden, so fehlt es an dem tatbestandlichen Erfordernis des real entgegenstehenden Willens. Ohne entgegenstehenden Willen besteht kein in con-

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Im Ergebnis wie hier Otto, AT, § 8 Rn. 127. Vgl. Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606. 11 Näher und m. w. Beispielen Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606 f.; Schönke/Schröder/ Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 31; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 366. 12 Grundlegend i.d.S. Geerds, GA 1954, 262, 264 f.; vgl. auch Fischer Vor § 32 Rn. 3b; Kindhäuser § 12 Rn. 33; Kühl § 9 Rn. 25; Murmann § 25 Rn. 118 f.; Sternberg-Lieben, Einwilligung, S. 202 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 366. Speziell zu § 201 Lenckner, in: FS Baumann, 1992, S. 135, 146 ff. 13 Vgl. dazu Geerds, GA 1954, 262, 266; Murmann § 25 Rn. 120; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606; differenzierend Kindhäuser § 12 Rn. 56 ff. 10

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creto taugliches Angriffsobjekt, d. h. das Einverständnis entzieht das betreffende Angriffsobjekt dem Anwendungsbereich der jeweiligen Strafnorm. Dabei kann es je nach Rechtsgut, Angriffsobjekt und Angriffshandlung zu erheblichen Unterschieden kommen: So entfällt beispielsweise mit dem Einverständnis bei der Wegnahme einer Sache grundsätzlich der Gewahrsam des Subjekts. Hier scheidet deshalb ein erneuter späterer Schutz hinsichtlich dieser konkreten Sache, abgesehen von dem Fall der Wiedererlangung des Gewahrsams, regelmäßig für dieses Subjekt aus. Demgegenüber umfasst die Zustimmung zu einem außerehelichen Beischlaf unter den Voraussetzungen des § 177 Abs. II Satz 2 Nr. 1 nur die konkrete Tat und schließt den Schutz in anderen Situationen für das konkrete Subjekt keineswegs aus.14 Damit ist der Weg zu einer weitergehenden „Binnendifferenzierung“ zwischen einem begrifflich-formalen und einem kontextuell-materiellen Verständnis des Einverständnisses und einer deshalb notwendig werdenden „objektsvariierenden Bestimmung“ seiner Voraussetzungen vorgezeichnet,15 die mit der rechtfertigenden Einwilligung alle anderen Fälle einer nicht bereits tatbestandlich geforderten Überwindung eines tatsächlich entgegenstehenden Willens übereinstimmend der „Unrechtsebene“ zuweist.16 Es bleibt anzumerken, dass strenggenommen die Redeweise vom „Tatbestandsausschluss“ ungenau ist, beseitigt das wirksame Einverständnis doch nicht eine „an sich“ gegebene Tatbestandsmäßigkeit oder hebt sie auf. Vielmehr kann im Falle eines Einverständnisses der objektive Tatbestand einer Strafvorschrift gar nicht verwirklicht werden, ist ein tatbestandsmäßiges Verhalten von vornherein unmöglich. Es ist deshalb sachlich exakter, von einem „Tatbestandshindernis“ bzw. einer „Tatbestandssperre“ zu reden. b) Die Einwilligung Im Gegensatz zu der vorstehenden zweistufigen Einordnung bemisst der neuere einstufige Ansatz – übrigens im auffälligen „Gleichklang“ mit der gleichfalls monistisch gehaltenen Ausrichtung des Zivilrechts17 – beiden Rechtsinstituten eine einheit14 Zum „Tatbestandsausschluss“ bei § 201 überzeugend Lenckner, in: FS Baumann, 1992, S. 135, 146 ff.; dem folgend MK-StGB/Graf § 201 Rn. 40 f. 15 Dazu näher Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606 ff. 16 Vgl. etwa Fischer Vor § 32 Rn. 3b; Gropp § 5 Rn. 108; Heinrich, AT, Rn. 41; Kühl § 9 Rn. 22, 25; Murmann § 25 Rn. 118 f., 123; Otto, AT, § 8 Rn. 127; ders., in: FS Geerds, 1995, S. 603, 608 ff., 613; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 29, 33; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 366, 370. 17 Im Verwaltungs- und Zivilrecht ist die Differenzierung zwischen „tatbestandsausschließendem“ Einverständnis und „unrechtsausschließender“ Einwilligung bis heute ungebräuchlich. Dort wird das Einverständnis nur unspezifiziert zur Erläuterung der Einwilligung verwendet; vgl. nur Bamberger/Roth/Spindler § 823 Rn. 14; Erman/Maier-Reimer Vor § 182 Rn. 2; MK-BGB/Bayreuther Vor § 182 Rn. 2, 9; MK-UWG/Leible § 7 Rn. 232 ff., 240; Oh-

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liche Zuordnung zu. Während im Zivilrecht allerdings eine undifferenzierte Zuordnung zur Unrechtsebene weitgehend unangefochten ist,18 verhält es sich im Strafrecht genau umgekehrt: Hier dominiert unter den Anhängern einer einheitlichen Einordnung von Einwilligung und Einverständnis ungeachtet divergierender Ableitungen die Tatbestandsebene als alleiniger Zuordnungspunkt absolut.19 Getragen wird die gleichfallsige „Erhebung“ der Einwilligung zu einem eigenständigen Tatbestandsausschluss von einem besonderen „individualisierten“ Rechtsgutsverständnis, das die konkrete Willensbeziehung einer von einer Rechtsgutsbeeinträchtigung bedrohten Person neben der betroffenen Beziehung zu den Ausgestaltungen rechtlich anerkannter Güter- bzw. Sach(verhalts-)werte20 in sinnlich objektivgenerell erfahrbaren Gütern bzw. Wertträgern21 (den sog. Angriffsobjekten), dh. der eine reale Wertteilhabe äußernden Beziehung, zusätzlich auf die rechtliche Disponibilität des jeweiligen Rechtsgutssubjekt und damit letztendlich auf die individuelle Selbstbestimmung als additives Konstituens stützt.22 Bei jeder strafrechtlich vertatbestandlichten Rechtsgutsbeeinträchtigung (nicht: Rechtsgutsverletzung)23 ist demzufolge die fehlende eigene Zustimmung des berechtigten Subjekts ein notwendiges lenburg, NVwZ 2005, 18; Palandt/Ellenberger, Einf. vor § 182 Rn. 1; Ring, in: FS Stauder, S. 207, 215 ff.; Rozijn, NZG 2001, 494, 499; Soergel/Leptien Vor § 182 Rn. 1. Hingegen ist im Handelsrecht mit § 469 Abs. 1 HGB die Sammellagerung zutreffend an das Erfordernis eines Einverständnisses geknüpft. 18 Vgl. nur MK-BGB/Wagner § 823 Rn. 66, 761 ff.; Palandt/Sprau § 823 Rn. 38 f. 19 In neuerer Zeit dominiert zunehmend die gegenläufige Tendenz einer folgenorientierten „Gleichsetzung“, die sowohl dem Einverständnis wie der Einwilligung tatbestandsausschließende Wirkung beimisst; vgl. etwa Braun-Hülsmann, S. 50 ff., 79 ff., 180; Edlbauer, S. 143 ff., 463 f.; Heinrich, S. 38 ff., 131 f.; Hellmann, ZiS 2007, 435, 437; Kindhäuser § 12 Rn. 5, 34; Maurach/Zipf § 17 Rn. 32 ff.; MK-Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 32 ff., 124 ff.; Pesch, S. 170 ff.; Rinck, S. 28 ff.; Rönnau, S. 140 f. m.w.N. auf S. 16 f.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 1 ff.; ders., in: FS Amelung, 2009, S. 269, 271 ff.; Schmidhäuser, StuB AT 5/106; Weigend, ZStW 98 (1986), 44, 61; aus dem Zivilrecht Ohly, S. 124 ff., 138 ff.; Tinnefeld, S. 195 ff. Zur Kritik an diesen, von einem bestimmten Rechtsgutsverständnis geleiteten „Vereinheitlichungsbestrebungen“ Disput, S. 71 ff., 77 ff.; Dölling, in: FS Gössel, 2002, S. 209, 216; Fisch, S. 61 ff.; Ohly, in: FS Jakobs, 2007, S. 451, 457 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 608 ff.; ders., AT, § 8 Rn. 125 ff.; Satzger/Schmitt/Widmaier/Rosenau Vor §§ 32 Rn. 34; Sternberg-Lieben, S. 60 ff. 20 Z. B. Besitz, Ehre, Eigentum, Frieden, Gerechtigkeit, körperliche Unversehrtheit, Ordnung, Sicherheit, Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit. 21 Wertträger kann beispielsweise ein körperlicher oder ein immaterieller Gegenstand, ein Vorgang oder ein Zustand sein, aber auch, obwohl begrifflich schief, ein Mensch – der Mensch als solcher hat nämlich nicht Wert, ist keine werthafte Verkörperung eines Menschen, sondern ist selbst ein Wert. Wertträger/Güter sind keine Werte, sie dokumentieren lediglich deren geistige Realität nach außen. 22 I.d.S. etwa Jäger, Zurechnung, S. 22 f.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 154 ff.; ders., S. 16 f., 124 ff.; Pesch, S. 170 f.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 12 f.; Weigend, ZStW 98 (1986), 44, 61. 23 Als reale Seinsgegebenheiten geistiger Art und kollektiver „Natur“ sind Rechtsgüter weder materieller Beeinträchtigung zugänglich noch situativ einzelnen Personen(-mehrheiten) oder Institutionen isoliert zuordbar. Realiter durch eine Straftat unantastbar können sie weder gefährdet, verletzt oder zerstört, aber auch nicht benutzt oder verwertet werden.

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Grundelement der generell-abstrakt missbilligten Beziehungsstörung, die personale Entfaltung in einer Rechtsgutsbeziehung mithin behindert bzw. aufgehoben, wertentfaltende Teilhabe und/in Selbstbestimmung realiter nicht verwirklicht.24 Ähnlich scheitert auch der gleichfalls rechtsgutszentriert allein an die Dispositionsmacht des Zustimmenden anknüpfende „alethische“ Erklärungsansatz, der die Unterscheidung zwischen Einverständnis und Einwilligung auf einen aufgespaltenen Rechtsgutsgehalt (ausschließend bzw. lediglich kumulativ) der Dispositionsfreiheit gründet. Dieser von Hoyer im Rahmen seines pflichtenentkleideten Strafrechtskonzepts vorgestellte Differenzierungsansatz sieht in der zum Rechtsgut erhobenen „Dispositionsmacht“ den entscheidenden Differenzierungsgrund: Bei den „Einverständnisdelikten“ sei sie das alleinige Rechtsgut, während die „Einwilligungsdelikte“ daneben mit einem weiteren „materiellen“ Belang, etwa der körperlichen Integrität (§§ 223 ff.), noch ein zweites gleichberechtigt unrechtskonstituierendes Rechtsgut hätten. Dessen Beeinträchtigung reiche allerdings bei einer Zustimmung des Dispositionsberechtigten nicht allein zur Konstituierung des „vollen“ deliktsspezifischen Unrechts aus: Die getroffene Disposition wirke als Einwilligung nicht rechtfertigend, da die tatbestandliche Beeinträchtigung nur eines Rechtsguts „aufgehoben“ werde.25 Idealtypisch konzipiert versagt der Ansatz zum einen in all jenen Fällen, in denen ein Zugriff auf das tatbestandlich geschützte Angriffsobjekt wahlweise maximaler oder nur begrenzter Gestattung zugänglich ist.26 Zum anderen ist die bestimmungsgemäße Nutzung gesetzlich zuerkannter/geschützter Individualinteressen keine materielle Verletzung – alles andere identifiziert Rechtsgut und Angriffsobjekt und degradiert den freiverantwortlich disponierenden Eigner zum bedauernswerten Opfer seiner selbst. 2. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen von Einwilligung und Einverständnis Der Streit um die richtige (dogmatische Begründung der jeweils präferierten) Einordnung der Einwilligung harrt bislang seiner stichhaltigen Auflösung, obwohl die Anerkennung der prinzipiellen Beziehungsstruktur der strafrechtlichen Rechtsgüter zahlreichen Anhängern der divergierenden Erklärungsansätze durchaus gemein ist.27 Diese auffällige Übereinstimmung setzt sich fort in dem nachfolgenden Streit um die unterschiedlichen objektiven Wirksamkeitsvoraussetzungen dieser einander als ge24 Vgl. nur Amelung/Lorenz, in: FS Otto, 2007, S. 527, 530; Pesch, S. 171; Rönnau, S. 91 ff.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 17 f. 25 Vgl. Hoyer, S. 216 ff., 224 ff. 26 Zur Verknüpfung von Rechtsgut und Dispositionsrecht im Zivilrecht Albrecht, S. 121 ff.; s. auch Ohly, S. 139 f., 191 ff., der aber auf die Unstimmigkeiten dieser „Rechtsguts-Individualisierung“ (Fn. 23) nicht eingeht. 27 Vgl. etwa (aus der monistischen Lehre) Jäger, in: FS Jung, 2007, S. 345, 349; Rönnau, S. 85 ff., 429 f.; Roxin, AT I, § 2 Rn. 7; Schroth, in: FS Volk, 2009, S. 719, 721 f.; (aus der dualistischen Lehre) Otto, AT, § 1 Rn. 32; Sternberg-Lieben, S. 377 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 115; ders., AT, Rn. 24 ff.

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gensätzlich gegenüber gestellten Rechtsinstitute: Beide Seiten propagieren ungeachtet ihrer kontroversen Einordnungsfrage für beide Zustimmungsarten jeweils unterschiedliche Erfolgsbedingungen.28 Die Aufdeckung und Konkretisierung dieser besonderen Gemeinsamkeit vermag deshalb trotz etwaiger singulärer Abweichungen als deutliches Indiz respektive Spiegelbild einer übergeordneten materiellen Grundlage der divergierenden deliktssystematischen Ein- bzw. Zuordnung zu fungieren. a) Die Voraussetzungen der Einwilligung Die Einwilligung29 ist die vom Dispositionsbefugten30 aus beliebigen Gründen31 freiwillig und willensmängelfrei32 erklärte Gestattung fremder begrenzter Eingriffs-, Gebrauchs-, Nutzungs- oder Verwendungshandlungen vor bzw. während deren Vornahme.33 Vom Berechtigten im Bewusstsein34 unveränderter Rechtsinhaberschaft und verbleibender weiter bestehender Bestimmungsmacht35 nach außen hin aus28 Komprimierte Überblicke u. a. bei Gropp § 5 Rn. 71 ff., 113 ff.; Heinrich, AT, Rn. 444 ff., 453 ff.; Kindhäuser § 12 Rn. 9 ff., 34 ff.; Kühl § 9 Rn. 27 ff., 42 ff.; Wessels/ Beulke/Satzger, Rn. 366 ff., 370 ff.; a. A. (einheitlich) Jescheck/Weigend § 34 I 2a; MK-StGB/ Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 126 ff., 132 f. 29 Eingehender zu ihren Wirksamkeitsvoraussetzungen Braun-Hülsmann, S. 63 ff., 185 ff.; Corsten, S. 33 ff.; Disput, S. 71 ff.; Frister, 15. Kap., Rn. 4 ff.; Jäger, AT, Rn. 136 ff.; Kindhäuser § 12 Rn. 9 ff.; Kühl § 9 Rn. 27 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 146 ff.; MK-StGB/ Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 134 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 35 ff.; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rn. 13 ff.; Waßmer, S. 38 ff.; Wessels/Beulke/ Satzger, Rn. 371 ff.; s. auch Ohly, S. 293 ff.; ders., in: FS Jakobs, 2007, S. 451 ff.; Tinnefeld, S. 102 ff., 113 ff.; Pesch, S. 172 ff. (zur Due Diligence). 30 Eingehender zu dieser Voraussetzung und den damit verbundenen Problemen Kühl § 9 Rn. 28 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 178 ff. sowie – speziell zur Frage einer „Stellvertretung“ bei der Einwilligung – Amelung/Eymann, JuS 2001, 939, 940 f.; Kindhäuser §12 Rn. 16 ff.; Pesch, S. 173 ff. (zur AG); Roxin, AT I, § 13 Rn. 92 ff. 31 Eine Einschränkung findet sich mit dem Gebot der Sittenkonformität (§ 228) lediglich bei den Körperverletzungsdelikten, auf die sie beschränkt ist; vgl. Frister, 15. Kap., Rn. 30; Kühl § 9 Rn. 35 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 188; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 612, 618 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 37; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rn. 21 f.; s. aber auch MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 137 ff. 32 Näher zu diesen Erfordernissen Amelung/Eymann, JuS 2001, 939, 943 f.; Frister, 15. Kap., Rn. 16 ff.; Jäger, AT, Rn. 138 ff.; Kindhäuser § 12 Rn. 21 ff.; Kühl § 9 Rn. 28 ff.; LKStGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 198 ff.; MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 148 ff., 153 ff.; Murmann § 25 Rn. 127 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 614 ff.; Satzger/Schmitt/Widmaier/Rosenau Vor §§ 32 ff. Rn. 40; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 376 f. 33 Vgl. Amelung/Eymann, JuS 2001, 939, 941 ff.; Heinrich, AT, Rn. 460; Kühl § 9 Rn. 32; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 171; Otto, AT, § 8 Rn. 107; Schönke/Schröder/Lenckner/ Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 44. 34 Eingehender zu diesem notwendigen Wirksamkeitsaspekt Pesch, S. 176 ff.; Roxin, AT I, § 13 Rn. 51 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 39 ff.; Stief, S. 21 ff., 81 ff., 130 ff., alle m.w.N. 35 Damit ist nicht etwa das sog. „Widerrufsrecht“ (dazu näher Amelung/Eymann, JuS 2001, 939, 945 f.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 173; Ohly, S. 344 ff.) angesprochen, obwohl es

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drücklich oder konkludent ausgesprochen36 lässt sie in Bezug auf das „Angriffsobjekt“ sowohl die rechtliche (Ertrags-)Zuordnung als auch die Möglichkeit, dem oder anderen Ermächtigten weitergehende Kompetenzen einzuräumen, grundsätzlich fortbestehen.37 Der zustimmende Wille bezieht sich immer nur auf Tathandlungen an einem dem (den) Autorisierten in concreto tatsächlich zur Rechtsgutsbeeinträchtigung38 geeigneten Angriffsobjekt. b) Die Voraussetzungen des Einverständnisses Wie die Einwilligung, so kennzeichnet auch das Einverständnis39 die aus beliebigen Gründen40 vom fortlebenden (§ 216!) Dispositionsbefugten41 freiwillig42 und spätestens zugleich43 mit einer fremden Einwirkungs- oder Nutzungshandlung „einverständnisfähig“44 erklärte Zustimmung.

auch deren „Ausfluss“ ist. Gemeint ist vielmehr die Kompetenz, dem „Bevollmächtigten“ oder Dritten entsprechende bzw. weitergehende Eingriffs-, Gebrauchs-, Nutzungs- oder Verwendungshandlungen zu gestatten – etwa bei Hausfriedensbruch die Erlaubnis des Hausherrn, den Zutritt auch anderen Personen zu gestatten. 36 Eingehender zur (konkludenten) Kundgabe der Einwilligung Amelung/Eymann, JuS 2001, 939, 941; Frister, 15. Kap., Rn. 5 ff.; Heinrich, AT, Rn. 457; Kühl § 9 Rn. 31; LK-StGB/ Rönnau Vor § 32 Rn. 161 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 43; Stief, S. 15 ff.; Stratenwerth § 9 Rn. 29; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 378, alle m.w.N.; anders MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 14b, Pesch, S. 180 f. („innere“ Zustimmung genügt). Zum Zivilrecht statt vieler Deutsch, Rn. 282; Ohly, S. 357 ff.; ders., in: FS Jakobs, 2007, S. 451, 461 ff. 37 Zwingende Konsequenz konstanter Rechtsinhaberschaft; s. auch Amelung, ZStW 109 (1997), 495. Prägnante Beispiele sind etwa das Überlassen von Schmuckstücken im Juweliergeschäft zur besseren Ansicht oder eines Fernglases auf der Rennbahn an den Nachbarn; vgl. LK-StGB/Vogel § 242 Rn. 120, der hier zutreffend ein Einverständnis ablehnt. 38 Z. B. Ehrverletzung, Geheimnisoffenbarung, Körperverletzung oder Vermögensverlust (Begründung eigener Sachherrschaft). 39 Eingehender zu seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen Heinrich, AT, Rn. 444 ff.; Kindhäuser § 12 Rn. 35 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 158 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/ Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32 a-g; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 366 ff. 40 Im Gegensatz zur Einwilligung unterliegen die Motive und Beweggründe des Zustimmenden hier keiner objektiven Einschränkung durch sittliche Maßstäbe. 41 Näher zu dieser in ihrer Tragweite oft verkannten Voraussetzung am Beispiel des GmbHGeschäftsführers bereits Brammsen, DB 1989, 1614 f. 42 Vgl. Heinrich, AT, Rn. 447; Jakobs, AT 7/107; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 367. 43 Das Einverständnis muss vor oder gleichzeitig mit der „Tat“ vorliegen; vgl. nur Heinrich, AT, Rn. 448; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 160; MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 132, 157 ff. 44 Hier gilt das zur „Einwilligungsfähigkeit“ Gesagte (Fn. 34) Gesagte entsprechend; a. A. (sog. natürlicher Wille genügt) Disput, S. 144 f.; Geerds, GA 1954, 262, 265 f.; Lesch, in: FS Wessing, 2015, S. 223, 229; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 367; unentschieden (Einzelfall) u. a. Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 39 ff. m.w.N.

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Es ist nämlich nicht Aufgabe des Strafrechts, Minderjährigen oder anderen, in ihrer Geschäfts-, Steuerungs- bzw. Urteilsfähigkeit bzw. Verfügungsbefugnis beschränkten Personen einen rechtlichen Handlungsspielraum zu eröffnen, den das Zivil- und/oder das öffentliche Recht als primäres Ordnungssystem ihnen gerade nicht zubilligt und der zudem nicht einmal eine Rückabwicklung (etwa nach Bereicherungsgrundsätzen) gestattet. Andernfalls wird lediglich der geschickten Manipulation bzw. Ausnutzung beschränkt Geschäftsfähiger bzw. Geschäfts-, Steuerungs-, Urteilsunfähiger etc. Tor und Tür geöffnet. Damit erschöpfen sich allerdings auch schon die gemeinsamen Wirksamkeitsvoraussetzungen.45 Anders als die Einwilligung braucht das Einverständnis keineswegs immer vom Bewusstsein andauernder Rechtsinhaberschaft und verbleibender weitergehender „objektsbezogener“ Bestimmungsmacht46 getragen zu sein. Ebenso wenig ist in jedem Fall eine ausdrückliche oder konkludente Willenskundgabe47 oder die Willensmängelfreiheit der „Zugriffsgestattung“ gefordert.48 3. Resümee Die nähere Betrachtung der gängigen deliktssystematischen Einordnungen von Einwilligung und Einverständnis erbrachte keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn. So konnte den beiden vorherrschenden Erklärungsansätzen kein befriedigender materieller Grund für die gemeinsame „tatbestandsausschließende“ Wirkung des Einverständnisses und die vorgenommene Abgrenzung zur (gleichfalls „tatbestands-“ oder nachgeordnet unrechtsausschließenden) Einwilligung entnommen werden: Die herkömmliche „zweistufige“ Zuordnung belässt ihre primär formal be45

Ihre Unterschiedlichkeit wird durchweg besonders betont; vgl. etwa LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 158; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 365, 367 f.; a. A. Jescheck/Weigend § 34 I 2a; MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 126 ff., 132 f. 46 Auch hier ist wiederum nicht – wie schon bei der Einwilligung (Fn. 35) – das sog. „Widerrufsrecht“ gemeint, dessen Ausübung zudem keineswegs einheitliche Wirkung entfaltet (zutreffend dargelegt von Jakobs, AT 7/110). Gemeint ist allein die Möglichkeit zur Einräumung von Kompetenzen an den „Bevollmächtigten“ oder Dritte, die umfangmäßig über die bisherige Gestattung hinausgehen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass keineswegs bei allen „Einverständnisdelikten“ die Dispositionsbefugnis und Rechtsinhaberschaft beim Disponierenden verbleiben (müssen). 47 Zur (unterschiedlichen) Objektivierungsbedürftigkeit eines Einverständnisses Gropp § 5 Rn. 119; Jakobs, AT 7/110; Kindhäuser § 12 Rn. 55 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 159; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32c sowie das unten Fn. 52 angegebene Schrifttum. 48 Gemeinhin werden Willensmängel für die Wirksamkeit eines Einverständnisses als irrelevant erachtet; vgl. Fischer Vor § 32 Rn. 3b; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 159; MKStGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 132 f., 153 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, 603, 605 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32 f.; Wessels/Beulke/ Satzger, Rn. 367. Dagegen für eine Berücksichtigung differenzierend Kindhäuser § 12 Rn. 49 ff.

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stimmte Unterscheidung mit einem Rekurs auf einen begrifflich bzw. angriffstypisch bestimmten Ansatz materiell unbegründet, während die monistische (= einstufige) Zuordnung beider Rechtsinstitute zum Tatbestand die nachfolgende Unterteilung mit den Vorgaben eines bestimmten Rechtsgutsverständnisses und einem überbetonten Selbstbestimmungsrecht überfrachtet. Jenseits ihrer Vergegenständlichung in „nutzbaren“ Gütern sind Rechtsgüter als abstrakte Funktionseinheiten/Wertbeziehungen jedoch prinzipiell einer individuellen Dispositionskompetenz nicht zugänglich, weder beim Einverständnis noch bei der Einwilligung.49 Auch aus dem beiden Erklärungsansätzen gemeinsamen Rekurs auf divergierende objektive Wirksamkeitsvoraussetzungen lassen sich keine Anhaltspunkte für eine materielle Abgrenzung und Verortung von Einwilligung und Einverständnis ableiten: Weder die kongruenten noch die disgruenten Zustimmungsmerkmale bezeichnen tonangebende Akzente oder zentrale Strukturelemente eines Ordnungsgefüges. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Bedeutung des Einordnungsstreits inzwischen mitunter auf die Auflösung von Irrtumsfragen reduziert wird.50 Unter der Geltung der (wie auch immer) eingeschränkten Schuldtheorie lassen sich daraus aber keine weiterführenden Erkenntnisse aufdecken,51 zumal andernfalls subjektive Aspekte die objektive Einordnung im Deliktsaufbau und damit die Tatbestandslosigkeit bzw. Rechtmäßigkeit eines Verhaltens determinieren würden. Die Suche nach der materiellen Begründung der Unterscheidung von Einwilligung und Einverständnis muss folglich jenseits der herkömmlichen Erklärungsansätze fortgeführt werden.

III. Die Hindernisse der sachgerechten Unterscheidung Auch wenn angesichts zahlloser gegenteiliger Äußerungen in Rechtsprechung und Literatur die völlige Verbannung der tradierten Begründungsansätze auf den ersten Blick vielleicht etwas vermessen erscheinen mag, an dem längst überfälligen „Ruf nach dem großen Sarge“ führt kein Weg vorbei. Sind erst einmal die Hürden der langjährigen, von begrifflichen wie rechtsgutsverkürzenden Erwägungen getragenen Diskussionen beseitigt und der Blick in funktionale Bahnen gelenkt, so lässt sich die fehlende Existenzberechtigung kaum noch übersehen. Ihre offensichtliche Überflüssigkeit liegt praktisch auf der Hand, ist die zwingende Folge aus der systematischen Analyse ihrer Funktion. Es bedarf lediglich einer Erweiterung des Blickwinkels auf den späteren Zeitpunkt der das Angriffsobjekt „verletzenden“ Tat und einer stärkeren Beachtung der Funktion konträrer Willensäußerungen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, drängen sich Parallelen zu entsprechenden Problemgestal49 Eingehender zur Kritik der „verfügungszentriert“ monistischen Zustimmungslehren Albrecht, S. 113 ff., 121 ff. 50 Vgl. etwa Kindhäuser § 12 Rn. 6; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rn. 12. 51 Zur Auflösung der Irrtumsproblematik statt vieler Heinrich, AT, Rn. 449 ff., 463 f. Zu den Ungereimtheiten der variantenreich eingeschränkten Schuldtheorie komprimiert Otto, AT, § 15 Rn. 18 ff., 25 ff.

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tungen bei allen einschlägigen Straftatbeständen so sehr auf, dass das richtige Ergebnis nicht mehr verfehlt werden kann. 1. Die ungelöste materielle Abgrenzung zur Einwilligung Die allein sachgerechte Einordnung des fremdhändige Erlangung, Benutzung und/oder Verwendung gestattenden Willens als (tatbestandsausschließendes) Einverständnis bzw. (rechtfertigende) Einwilligung hat gleich zwei eng miteinander verflochtene dogmatische Hürden zu überwinden: Die noch immer nicht befriedigend gelungene materielle Bestimmung des Einverständnisses und seine ebenso wenig überzeugend durchgeführte Abgrenzung von der rechtfertigenden Einwilligung. Beide Ungeklärtheiten haben bislang die Erkenntnis verhindert, dass die Bekundung eines Einverständnisses nicht bei allen „Einverständnisdelikten“ einheitlichen Grundsätzen folgt.52 Es gibt nämlich einige „Delikte gegen den Willen des Betroffenen“,53 die für ganz bestimmte Einverständniserklärungen deren Objektivierung bzw. objektive Erkennbarkeit voraussetzen, ansonsten aber, wie alle anderen „Einverständnisdelikte“ auch, die Wirksamkeit des Einverständnisses nicht an ausdrückliche oder konkludente Willensbetätigungen knüpfen. Zu diesen besonderen „Einverständnisdelikten“ gehören etwa die Wirtschaftsgeheimnisdelikte mit ihrem bekundungsbedürftigen Offenbarungswillen. Die Übereinstimmung der geheimnisspezifischen Willensproblematik mit den Grundstrukturen des Einverständnisses ist frappierend. Ist das Zuordnungssubjekt an dem Fortbestand des Geheimnisses und der ihm vorbehaltenen Bestimmungsund Nutzungsbefugnis nicht (mehr) interessiert, so verzichtet es auf den gesetzlichen Schutz vermögensrelevanter Geheimheit. Dieser fehlende Geheimhaltungswille, der in Anlehnung an die neuere Begriffsbildung bei der Geheimheit auch als Offenbarungswille bezeichnet werden kann, stellt nichts anderes dar als einen Anwendungsfall der Willensbruchdelikte: Das Fehlen eines der (geheimheitsaufhebenden) Objektverletzung und fremdnütziger Kenntnisverwendung real entgegenstehenden Willens ist der Standardfall des Einverständnisses, während die Gestattung der Kenntniserlangung und -verwertung im alleinigen Vermögensinteresse des Geheimnissubjekts und bei gewollter grundsätzlicher Aufrechterhaltung der bisherigen ausschließlich eigenen Bestimmungs- und Nutzungskompetenz den Grundsätzen der Einwilligung unterfällt.54 Der fehlende „Freigabewille“ ist keine begriffliche Besonderheit des Geheimnisbegriffs und kein negativ gefasstes Begriffselement.55 52 So wird beispielsweise von den Anhängern der formalen Einverständnislehre einerseits die Irrelevanz einer Willensbekundung betont (Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 368), andererseits aber im Rahmen des als formales Willensbruchdelikt qualifizierten § 242 dort für ein sog. „bedingtes Einverständnis“ eine Objektivierung der Bedingung und damit inzidenter auch des Einverständnisses selbst gefordert (Otto, JR 1987, 222 f.; Wessels/Hillenkamp, Rn. 107 f.; s. auch MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 91 m.w.N.). 53 Formulierung im Anschluss an Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606. 54 Dazu näher Brammsen, in: FS Otto, 2007, S. 1081, 1083 ff., 1087 ff., 1096 ff.

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Unabhängig davon, ob negativ oder positiv ausgestaltet: Wie bei den „Einverständnisdelikten“ allgemein üblich kommt dem Willenselement keine für das jeweilige tatbestandliche Angriffsobjekt konstitutive Funktion zu – mag dieses nun eine bewegliche Sache, eine Wohnung, ein Geheimnis oder, wie bei den §§ 177 f., 223 ff., 235 ff. (a.F.), 239 f. eine natürliche Person sein. 2. Der real existierende Erhaltungswille Die reale Existenz des den „Einverständnisdelikten“ zugrundeliegenden entgegenstehenden „Erhaltungswillens“ lässt sich ohne weiteres aufzeigen. Wozu soll eigentlich ein – tatbestands- oder unrechtsausschließender – zustimmender Wille überhaupt erforderlich sein, wenn nicht für den gesetzlichen Grundfall der Tatbestandsmäßigkeit/Rechtswidrigkeit eines angriffsobjektverletzenden Verhaltens von einem real entgegenstehenden Willen auszugehen wäre? Erst auf der Basis eines alltagsüblichen, der Objektverletzung real entgegenstehenden Willens erlangen Einwilligung und Einverständnis überhaupt die ihnen zuerkannte eigenständige Bedeutung als Ausnahmen von dem regelmäßigen staatlichen Rechtsgüterschutz. Und in diesem, die Verkehrstypik zum Ausgangspunkt machenden Sinne dürfte auch Tiedemann zu verstehen sein, wenn er ausführt, „daß das Strafrecht .. großzügig mit der Annahme konkludenter Erklärungen umgeht, und den realen Willen des Opfers häufig durch eine normative Deutung auf der Grundlage der Verkehrsanschauung ergänzt oder ersetzt“.56 Im Übrigen müsste die gegenteilige Annahme eines fingierten Erhaltungs-/fehlenden Freigabewillens konsequenterweise in allen Anwendungsfällen der Willensbruchdelikte immer eine entsprechende Willensfiktion annehmen – im Bereich der §§ 177 f., 235 ff. (a.F.), 239 f. ein unakzeptables Ergebnis. Schon von daher spricht eine lebensnahe Betrachtungsweise für die reale Existenz eines real entgegenstehenden Willens bei allen „Einverständnisdelikten“. Zu ihrem Nachweis genügt es nicht, die bloße Konkludenz eines Verhaltens aufzuspüren. Vielmehr ist das in dieser Situation übliche und typische Alltagsverhalten genauer zu analysieren. In einer Situation faktischer Gutszuordnung wird dann recht schnell deutlich, dass sein Zuordnungssubjekt regelmäßig das betreffende Angriffsobjekt/Gut auch er- bzw. behalten will – sein Hausrecht, seine Bewegungsfreiheit, seine sexuelle Selbstbestimmung, seine tatsächliche Sachherrschaft, seine körperliche Integrität usw. Es handelt sich hier um eine solche Selbstverständlichkeit – und nicht um eine Fiktion, die im Übrigen den oben aufgezeigten Widerspruch beim Einverständnis nicht auszulösen vermag – in einem alltäglichen, typischen und üblichen Verhalten, dass die reale Existenz des diesbezüglichen Erhaltungswillens nur noch im Ausnahmefall im aktuellen Bewusstsein wieder als tatsächliche Regelmäßigkeit 55 Die Unsinnigkeit negativer Begriffsbildung hat Hardwig (S. 21) beispielhaft an der Lehre von den „ negativen Tatbestandsmerkmalen“ aufgezeigt. Seine stringente Argumentation ist vorbehaltlos auf den Geheimnisbegriff zu übertragen; a. A. zuletzt Scholz/Tiedemann/ Rönnau, GmbHG, § 85 Rn. 22: „Echtes negatives Tatbestandsmerkmal“. 56 Vgl. Tiedemann, ZStW 94 (1982), 299, 322.

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deutlich wird. Erst die Abweichung von dem sachgedanklich jederzeit mitbewussten Regelfall offenbart das situationsspezifisch-verkehrsübliche Verhalten, an dem sich die Rechtsgenossen bei der Gestaltung ihres alltäglichen Soziallebens und bei der Abstimmung ihres Verhaltens untereinander mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit orientieren. Erst auf der unausgesprochenen Basis eines als selbstverständlich angesehenen Erhaltungswillens wird er zu einem vorausberechenbaren und determinierten Faktor im sozialen Miteinander, so dass er zur Verringerung der Komplexität situationspezifischer Verhaltensalternativen eingesetzt werden kann. Erst mit ihm als Grundelement kann ein bestimmtes Verhalten zur allgemein geltenden Regel ausgestaltet und als Norm institutionalisiert werden, um sodann durch Pönalisierung bestimmter regelmißachtender Verhaltensweisen stabilisiert als Strafrechtsnorm zur Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerung beizutragen.57

IV. Der materielle Grund Das gemeinsame Grundkonstituens von Einwilligung und Einverständnis Begründung, Einordnung und Unterteilung der beiden Zustimmungsformen Einwilligung und Einverständnis haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt, der sich prägnant im Streit um die abweichenden Wirksamkeitsvoraussetzungen des Einverständnisses widerspiegelt.58 Als Ausdruck unterschiedlicher „Kompetenz(weite)“ eröffnet er gewissermaßen den Weg zur Identifikation des gemeinsamen wie auch unterteilenden materiellen Grundes dieser „Rechtsträger zentrierten“ Strafhaftungsfreistellungsformen. 1. Die Charakterisierung des Einverständnisses Die Uneinheitlichkeit der spezifischen Einverständnisvoraussetzungen59 nimmt ihren Ursprung allein darin, dass ein Einverständnis je nach Eigenart des „Zugriffsobjekts“ und des darin verkörperten Rechtsguts unterschiedliche, immer jedoch die weitest mögliche tatsächliche Einwirkung/Nutzung zubilligt: Das Einverständnis ist die unbegrenzte selbstbestimmte Ausübung von autarker personaler Entfaltung in 57 Eingehender zu den Grundstrukturen der Regelsetzung Brammsen, Garantenpflichten, S. 95 ff. 58 Dazu oben II. 2. b) nach Fn. 45. 59 Sie wird in der strafrechtsdogmatischen Literatur von verschiedenen Stimmen betont; vgl. etwa Kindhäuser § 12 Rn. 35 ff.; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 158; Schönke/Schröder/ Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 365, 367 f. Demgegenüber gehen die Anhänger der begrifflich formalen „Differenzierungslehre“ davon aus, dass die spezifischen Einverständnisvoraussetzungen sich bei den „Einverständnisdelikten“ nicht unterscheiden; vgl. nur (grundlegend) Geerds, GA 1954, 262 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606, 608.

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einer rechtlich geschützten Wertbeziehung. Beim Einverständnis gestattet der zustimmende Wille Dritten (auch eigennützige) Aktivitäten, die die gesamten faktischen Entfaltungsmöglichkeiten umfassen, die das konkrete Angriffsobjekt bietet.60 Durch diese unbegrenzte Gebrauchs- und Verwendungskompetenz verliert das Angriffsobjekt allerdings für den/die Autorisierten seine Eignung zur Rechtsgutsbeeinträchtigung:61 Ihm wird, wenn auch nur mittelbar über die gesetzlich beschriebene Tathandlung,62 die Angriffstauglichkeit genommen63 und damit eine Rechtsgutsverletzung objektiv unmöglich gemacht – der betroffene Täter(kreis) scheidet als Delinquent einer strafbewehrten Beziehungsstörung per se aus.64 Bei denjenigen Einverständnisdelikten, bei denen der Ermächtigte realiter mit dem Dispositionsbefugten zusammenwirken muss – Beispiele sind etwa die §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 177, 178, 237 (2. u. 3. Alt.), 240 –, fehlt es mangels Alleintäterschaft schon an der Tathandlung: Da letzterer die ihm von der Rechtsordnung eingeräumte Entfaltungskompetenz, wenn auch unter Zuhilfenahme eines Dritten, wahrnimmt, verwirklicht er bewusst seine Wertteilhabe und damit Erfolgswert – bei einem Mitwirken des Dritten in Kenntnis des Einverständnisses in Form der Mittäterschaft, bei dessen fehlender Kenntnis als mittelbarer Täter (Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal). Deshalb kann der Dritte, eben weil er Erfolgswert (mit)produziert, realiter auch niemals „Täter“ der tatbestandlich beschriebenen Angriffshandlung sein, sondern immer nur in seiner Vorstellung (untauglicher Versuch) – es fehlt das Grundkonstituens strafrechtlicher Täterschaft, das Gefahrschaffungselement.65 Die vollinhaltlich von der Rechtsordnung gebilligte personale Entfaltung schließt das Bestehen einer Erfolgsvermeidepflicht mithin schon objektiv aus – es fehlt schlichtweg an einer auf Nichtbeeinträchtigung gerichteten Verhaltensanforderung.

60 Dem Ermächtigten(kreis) wird praktisch das „Nutzziehungsrecht“ bzw. die Gestaltung von (fremder) Wertteilhabe an von der Rechtsordnung anerkannten, zur personalen Entfaltung dienenden Gütern/Werten eingeräumt. 61 Also zur Beeinträchtigung fremden Hausrechts, fremden Vermögens, fremder sexueller Selbstbestimmung, fremder Sachherrschaft, fremder Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit usw. 62 Diese „verwandelt sich“ keineswegs deshalb „in einen normalen Vorgang zwischen Rechtsgenossen im Rahmen der überlieferten Sozialordnung“ (Jescheck/Weigend § 34 I 1b), ist doch eine einverständliche „Vergewaltigung“ kaum als „normal“ zu bezeichnen. 63 So unmissverständlich bereits grundlegend Binding, S. 717: „… dem angegriffenen Rechtsgut die Tauglichkeit für den deliktischen Abgriff benimmt“. Meine Bemerkung, das Einverständnis führe „zur Beseitigung des Angriffsobjekts“ (DB 1989, 1609, 1614) war sprachlich ungenau, da das „Zugriffsobjekt“ als Seinsgegenstand real erhalten bleibt – es verliert nur seine rechtsspezifische Funktion. 64 Demgegenüber beseitigt die Einwilligung die objektive Eignung des Angriffsobjekt zur Beeinträchtigung fremder Rechtsgüter für den Befugten nicht generell. Ihm wird lediglich seine Tauglichkeit zur Rechtsgutsbeeinträchtigung über eine „partielle Erfolgsunwerttauglichkeit“ des Angriffsobjekts genommen; s. sogleich unten IV.2. 65 Vgl. Brammsen, Garantenpflichten, S. 424 ff.

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Prägnant kann das tatbestandsausschließende Einverständnis daher auch als situativ66 bzw. definitiv67 unbegrenzter Verzicht auf rechtlichen Güterschutz bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Einwilligung suspendiert das Einverständnis also nicht erst das unbedingte Befolgungsverlangen des Ansinnens einer strafrechtlichen Erfolgsvermeidepflicht, sondern schon das Ansinnen und damit die Pflicht selbst. Eine solche existiert überhaupt nicht – entweder weil es an einer rechtlichen Verhaltensanforderung fehlt (Beispiele sind etwa herrenlose Sachen oder der allgemeinen Zugänglichkeit zugeführte Geheimnisse) oder weil die rechtlich dem Rechtssubjekt zugebilligte Persönlichkeitsentfaltung durch „Nutzungsteilung“ dessen Wertteilhabe verwirklicht und damit zur Begründung der genau gegenläufigen Erfolgsvermeidepflichten objektiv ungeeignet ist. In beiden Fällen fehlt es an der Schaffung/Erhöhung einer objektiv vorhersehbaren, mindestens abstrakten Gefahr für ein tatbestandlich geschütztes Rechtsgut, ist doch das Verhalten des Ermächtigten nicht Ursache eines „malum“, sondern eines „bonum“. 2. Die Charakterisierung der Einwilligung Anders als das Einverständnis beseitigt die Einwilligung nicht die reale „Verletzungstauglichkeit“ des Tatobjekts als Angriffsobjekt fremden deliktischen Verhaltens. Die Einwilligung gibt dem Begünstigten grundsätzlich weniger Kompetenzen als das Einverständnis. Ihm werden beim Einverständnis die mit dem faktischen Haben/Gebrauch eines bestimmten Angriffsobjekts maximal erzielbaren Vorteile zur eigenen „Nutzziehung“ überlassen, während bei der Einwilligung nur ein begrenzter Zugriff gestattet ist, der weder die Dispositionsmöglichkeiten des Berechtigten erschöpft noch dessen Wertteilhabe beseitigt.68 Demgemäß bleibt auch der gesetzliche Rechtsschutz faktisch ebenso erhalten wie die auf Nichtbeeinträchtigung des (verkörperten) Rechtsguts gerichtete Erfolgsvermeidepflicht des Täters. Vielmehr wird deren Ansinnen in seinem unbedingten Befolgungsverlangen durch das Selbstbestimmungsrecht69 lediglich suspendiert, dem Verhalten also von vornherein

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240.

So durchweg in den Fällen der §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 177, 178, 237 (2. und 3. Alt.),

67 Diese Alternative des Einverständnisses ist nur bei bestimmten Delikten möglich (nicht aber notwendig), nämlich bei den §§ 201 ff., 242, 246, 249, 250, 303 sowie den nebenstrafrechtlichen Wirtschaftsgeheimnisdelikten. 68 Vgl. auch Jäger, JZ 2003, 1049, 1051; LK-StGB/Schünemann § 203 Rn. 93; Schweyer, S. 468 f.; Spindler/Stilz/Hefendehl, AktG, § 404 Rn. 33, die aus dieser Erkenntnis jedoch keine Konsequenzen ableiten. 69 Daneben treten regelmäßig noch andere Interessen des Berechtigten/Dispositionsbefugten, so dass die betreffende Erfolgsvermeidepflicht gleich mit mehreren „gegenläufigen“ Erfolgsvermeidepflichten kollidieren kann.

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seine („primäre“) Rechtswidrigkeit genommen.70 Prägnant kann die rechtfertigende Einwilligung auch als begrenzter Teilverzicht auf rechtlichen Güterschutz bezeichnet werden.71 3. Ergebnis Der materielle Grund, warum das Einverständnis im Strafrecht mit dem sog. „Tatbestandsausschluss“ eine völlig andere Wirkung als die „nur“ rechtfertigende Einwilligung entfaltet, liegt in dem unterschiedlich weiten Umfang dieser „Zugriffsgestattungen“. Allein die unterschiedlich weite Reichweite der eingeräumten „Zugriffsposition“ trägt die Differenzierung zwischen zwei Rechtsinstituten, die in der Dispositionsbefugnis des Rechtssubjekts72 über die ihm zugeordneten Güter eine gemeinsame Grundlage haben.73 Dabei bestimmt grundsätzlich die Eigenart des tatbestandlich genannten Angriffsobjekts74 iVm dem geschützten Rechtsgut,75 ob bei einem sog. „Individualdelikt“76 Zugriffsgestattungen nur in Form des Einver-

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Zu Handlungsunrecht und Voraussetzungen der „primären Rechtswidrigkeit“ komprimiert Brammsen, Garantenpflichten, S. 424 ff. 71 Im Ergebnis ist es sachlich durchaus zutreffend, in der Einwilligung eine vom Selbstbestimmungsrecht und Gutsinhaberschaft getragene vorrangige (umfangmäßig begrenzte) Aufgabe des Rechtsschutzwillens i.S.e. „Ausübungsverzichts“ zu sehen; vgl. etwa BGHSt 17, 359, 360; Albrecht, S. 130 f.; Fischer Vor § 32 Rn. 3b; Geerds, GA 1954, 262 f.; Lackner/Kühl Vor § 32 Rn. 10; Murmann § 25 Rn. 126; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 608, 612 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 33; Wessels/Beulke/ Satzger, Rn. 372. Umfassend zum Streitstand LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 151 ff. Zum andersartigen Grundrechtsverzicht Merten, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 53 ff. 72 Bzw. seines Willensmittlers (gesetzlicher Vertreter, Partei kraft Amtes, privater Organwalter); s. auch MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 32 ff. Rn. 113 ff., 118 f. 73 Zur Rückführung der Einwilligung auf die dem Rechtssubjekt mit dem verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Dispositionsbefugnis über die tatbestandlich genannten, ihm zur personalen Entfaltung (grund-)rechtlich zugeordneten Handlungs- bzw. Angriffsobjekte statt vieler Albrecht, S. 130; Amelung/Eymann, JuS 2001, 938 f.; Kühl § 9 Rn. 20 ff.; Ohly, S. 84 ff.; ders., in: FS Jakobs, 2007, S. 451, 453 ff.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 608 ff.; Sternberg-Lieben, S. 17 ff., jeweils m.w.N. Für das Einverständnis gilt nichts anderes – außer dass seine Wirkungen eben umfassender sind. 74 Dieses kann beispielsweise der Mensch selbst, d. h. die Person eines Anderen, eine (un) bewegliche Sache oder eine (geheime) Information sein. 75 Wichtige einverständnis- bzw. einwilligungsfähige Rechtsgüter sind die Ehre, das Eigentum, das Hausrecht, die körperliche Integrität, die personale Geheimsphäre, die Sachherrschaft, die sexuelle Selbstbestimmung, das Vermögen und die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit. Zur Definition des Rechtsguts als abstrakt-personale Beziehung statt vieler Otto, AT, § 1 Rn. 31 ff. 76 Es ist allgemein anerkannt, dass die Einwilligung nur bei solchen Delikten in Betracht kommt, die vorrangig dem Schutz der individuellen Interessen des Einzelnen zu dienen bestimmt sind; vgl. nur Amelung/Eymann, JuS 2001, 939 f.; Disput, S. 126 f; Jakobs, AT 7/111; Kühl § 9 Rn. 27; LK-StGB/Rönnau Vor § 32 Rn. 176; MK-StGB/Schlehofer Vor §§ 22 ff. Rn. 135; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 36; SternbergLieben, S. 81 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 372. Für das Einverständnis gilt nichts anderes.

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ständnisses,77 nur in Form der Einwilligung78 oder wahlweise in beiden Formen79 erklärt werden können. Hingegen ist der wiederholt vorgetragene Umstand, dass der objektive Tatbestand einer Strafvorschrift begrifflich formal den Bruch eines der Tathandlung real entgegenstehenden Willens verlangt,80 zur Begründung der propagierten Unterscheidung nicht geeignet. Damit wird lediglich das Einverständnis auf seine Idealfälle begrenzt, nicht jedoch der materielle Grund seiner schon „tatbestandsausschließenden“ Wirkung offengelegt.

V. Bekundungsfreie und bekundungspflichtige Zustimmung 1. Die Unterteilung der „Einverständnisdelikte“ Es verbleibt der „in concreto“ wohl wichtigste Streitpunkt der Einwilligungs- und Einverständnislehre, die Frage nach der eventuellen Notwendigkeit einer von dem berechtigten Zustimmungssubjekt zu entäußernden Zustimmungserklärung. Von den Anhängern der „begrifflich-formalen Einverständnislehre“ ebenso wie die Willensmängelfreiheit gemeinhin für irrelevant erachtet81 wird die Wirksamkeit des Einverständnisses gleichwohl nicht ausnahmslos an einen inneren zustimmenden Willen, sondern mitunter auch an dessen Objektivierung geknüpft.82 Allerdings geben auch die Anhänger des mehr „materiell orientierten Einverständnisses“ für eine unterschiedliche deliktsspezifische Anforderung keine nachvollziehbare Begründung,83 können also mangels eines einheitlichen materiellen Kriteriums nicht als Vertreter einer „materiellen“ Lehre bezeichnet werden.

77 So insbesondere in den Fällen der §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 177, 178, 237 (2. und 3. Alt.), 239 Abs. 1 (1. Alt.), 240. 78 So etwa bei den Beleidigungsdelikten (§§ 185 ff.), den Körperverletzungsdelikten (§§ 223 ff.) oder dem unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§ 142). 79 Hierzu zählen u. a. neben den Straftatbeständen der §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 201 ff., 242, 246, 266 vor allem die verschiedenen Wirtschaftsgeheimnisdelikte des Nebenstrafrechts. 80 Als Charakteristikum der Einverständnisdelikte erachtet u. a. von Fischer Vor § 32 Rn. 3b; Geerds, GA 1954, 262 ff.; Gropp § 6 Rn. 59; LK-StGB/Hirsch Vor § 32 Rn. 96; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 606; Sternberg-Lieben, S. 202 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 361, 366. 81 Vgl. etwa Gropp § 5 Rn. 119; Murmann § 25 Rn. 119 f.; Otto, in: FS Geerds, 1995, S. 603, 605 f.; Wessels/Beulke/Satzger, Rn. 367 f. 82 So für die Objektivierung der Bedingung und damit inzidenter auch des Einverständnisses selbst eines sog. „bedingten Einverständnisses“ im Rahmen der als formales Willensbruchdelikt qualifizierten Diebstahls (§ 242) u. a. Fischer § 242 Rn. 22; Otto, JR 1987, 222; Wessels/Hillenkamp, BT-2, Rn. 107; kritisch zum dortigen Streitstand Rönnau, in: FS Roxin II, 2011, S. 487, 497 ff. 83 Vgl. etwa Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 32c; s. auch NK-StGB/Kindhäuser, § 242 Rn. 41 und MK-StGB/Schmitz § 242 Rn. 91.

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2. Situative oder definitive Freigabe – Die Ableitung der Unterteilung Auf der Basis der hier entwickelten Abgrenzungslehre bereitet die Aufklärung der unterschiedlichen Entäußerungsvorgaben der verschiedenen Einverständnisdelikte keine nennenswerten Schwierigkeiten. Das Einverständnis als unbegrenzter Güterschutzverzicht bedarf nur in bestimmten Sonderfällen einer ausdrücklichen oder konkludenten Willensbekundung,84 wenn der zustimmende Wille eines anderen als den „gewöhnlichen“ Inhalt hat. Einige „Einverständnisdelikte“ weisen nämlich die Besonderheit auf, mit dem Angriffsobjekt nicht ein absolutes Recht, sondern ein annähernd umfassendes tatsächliches Herrschaftsverhältnis vor bestimmten bestandsbeeinträchtigenden Angriffshandlungen zu schützen. Zu ihnen gehören jene „Einverständnisdelikte“, die ein übertragbares, von der Person des Rechtsinhabers abgelöstes und rechtlich als selbständig anerkanntes Gut zum Angriffsobjekt haben – u. a. die §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 201 ff., 242, 249 f., 266 sowie die nebenstrafrechtlichen Wirtschaftsgeheimnisdelikte. Dieser vorverlagerte, personale Entfaltung in rechtlich anerkannten Wertbeziehungen unabhängig von einer Eignerschaft gewährleistende Güterschutz hat zur Folge, dass sich hier das Einverständnis auch auf die umfassenderen Eignerrechte beziehen kann (nicht: muss). Deshalb kennen diese „janusköpfigen Einverständnisdelikte“ auch neben der Grundform des Einverständnisses, der situativ auf eine bestimmte Person bezogenen und von jeglichen Willensentäußerungen unabhängigen „Zugriffsgestattung“, noch zwei weitere Einverständnisformen, die jeweils eine Objektivierung des zustimmenden Willens erfordern. Funktion dieses Kundgabemoments ist es, den weitergehenden, die Eignerrechte betreffenden Verzicht und damit den Willen zur Änderung der rechtlichen Zuordnung zu dokumentieren, um dadurch nach außen hin klarzustellen, dass abweichend von der Grundform des Einverständnisses nicht nur situativ, sondern (bedingungslos bzw. unter bestimmten Voraussetzungen) definitiv auf den rechtlichen Schutz der Eignerschaft verzichtet wird. a) Die Grundform: Das situative (bekundungsfreie) Einverständnis Seinen Ursprung, längst jedoch nicht mehr seinen Hauptanwendungsfall, nimmt das Einverständnis in den hier sog. „Selbstbestimmungsdelikten“, die die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit (gegen aufgezwungene Preisgabe) und damit den freien Menschen als Angriffsobjekt schützen. Prototypen der „Einverständnisdelikte“ sind deshalb auch nicht zufällig jene Strafvorschriften, die selbst von der „formalen Einverständnislehre“ anerkannt werden, nämlich die §§ 177, 178, 237 (2. u. 3. Alt.), 240. Bei diesen Delikten ist das Einverständnis deshalb in seiner „bekundungsfreien“ Grundform wirksam, weil das geschützte Rechtsgut untrennbar mit der Person des dispositionsbefugten Rechteinhabers verbunden, Wertteilhabe ihm also nur über 84

Vgl. bereits oben III. 1. bei Fn. 52.

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den eigenen Körper realisierbar ist. Diese unauflösbare Konnexität von Angriffsobjekt, Rechtsgut und Rechteinhaber erklärt zwanglos die insoweit allseits zutreffend angenommene Entbehrlichkeit von Willensentäußerungen:85 Die im Einklang mit den rechtlichen Wertsetzungen stattfindende „fremdgestützte“ Rechtsgutsverwirklichung unterliegt nämlich fortwährend der Bestimmungsgewalt des Berechtigten, so dass die innere Zustimmung jederzeit widerrufen werden kann. Als Beendigung der gewollten (mit)bewirkten Rechtsgutsverwirklichung bedarf der Widerruf aber ausdrücklicher oder konkludenter Bekundung, denn sie allein vermittelt dem Ermächtigten und Dritten objektiv erkennbar, dass die Fortsetzung seines Verhaltens nicht mehr vom Willen des Rechtsinhabers getragen und damit, wenn nicht andere Rechtfertigungsgründe die damit entstandene Erfolgsvermeidepflicht begrenzen, rechtswidrig ist. Eine Ausnahme bildet wiederum der § 239, kann es hier doch – vorstellungsgemäß – an der Anwesenheit des Ermächtigten und damit an der Möglichkeit zur jederzeitigen Wiedererlangung der (potentiellen) Bewegungsfreiheit fehlen. Da dies dem Rechtsinhaber jedoch bekannt war, ist insoweit mit dem Einverständnis auch sein Widerrufsrecht suspendiert. Da zudem ein (weitergehender) Verzicht auf die Rechtsinhaberschaft von der Rechtsordnung nicht gestattet ist, bedarf es auch keiner Offenlegung dieser diesbezüglichen „Zustimmung“. Bei den „klassischen“ Einverständnisdelikten ist der Güterschutzverzicht folglich notwendig situativ, weil die Veränderung der Rechtsinhaberschaft objektiv unmöglich ist, die vorhandene und Jedermann erkennbare rechtliche Zuordnung also überhaupt nicht umgestaltet wird. Die Beibehaltung einer bestehenden Rechtsträgerschaft bei eigen(mit)bewirkter „Nutzziehung“ zu einem „bekundungspflichtigen“ Vorgang zu machen, ist schlichtweg unnütz: Sie übersteigt die Aufnahmekapazität der Rechtsgenossen um ein Vielfaches und ist für das tägliche Miteinander in einer auf Kooperation angelegten (Rechts)Gemeinschaft alles andere, nur nicht sinnvoll. b) Die Sonderform: Das definitive (bekundungsbedürftige) Einverständnis Als Grundform findet das „bekundungsfreie“ Einverständnis bei allen nur situativ unbegrenzt gewollten Güterschutzverzichten Anwendung. Dies gilt auch bei jenen „Einverständnisdelikten“, die, wie z. B. die §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 201 ff., 242, 266,86 ein übertragbares Gut zum Angriffsobjekt haben. Da bei ihnen Angriffsobjekt, Rechtsgut und Eignerschaft auseinanderfallen (können, nicht müssen), bedarf es zur 85 Lediglich bei § 239 ist dies streitig. Grund ist, dass die „formale Einverständnislehre“ die Freiheitsberaubung wegen möglicher listiger Begehung nicht als „Einverständnisdelikt“ anerkennt (vgl. Otto, BT, § 28 Rn. 9 m.w.N.). Insoweit ist ihr zuzustimmen, fehlt es doch an einer von Manipulation freien Disposition. 86 Oder bei den nebenstrafrechtlichen Wirtschaftsgeheimnisdelikten.

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Neugründung des tatbestandlichen Güterschutzes neben dem bekundungsbedürftigen Widerruf des Einverständnisses nach Wiedererlangung der Innehabung der faktischen Bestimmungs- bzw. Herrschaftsmacht über das überlassene Angriffsobjekt. Ist bei letzteren Delikten der zustimmende Wille darüber hinaus auf Beendigung der eigenen Rechtsinhaberschaft gerichtet,87 so ist er entweder als „bedingtes“ oder als „unbedingtes“ Einverständnis nach außen hin zu erklären/manifestieren: Für die völlige Aufgabe einer eignerschaftlichen Rechtsstellung ist die Objektivierung anheimgestellter „Zugriffsgestattung“ als Publizitätszeichen eine zusätzliche Wirksamkeitsvoraussetzung. Ohne prägnante Bekundung88 im äußeren Bereich kann der Erklärungsgehalt des konkreten Willens nicht exakt ermittelt, kann der nur situativ unbegrenzte nicht von dem definitiv unbegrenzten Verzicht unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist sowohl aus Rechtssicherheitsgründen wie zur effektiven Wahrung rechtlicher Schutzsphären notwendig: Nur wenn die Zugehörigkeit eines (Angriffs-)Gutes zu einem Rechtssubjekt objektiv ersichtlich ist, kann überhaupt erkannt werden, ob es einem Rechtsträger zugeordnet oder ob es gegebenenfalls freiem Zu- und Eingriff überlassen ist. Bei den übertragbaren Gütern ist deshalb für den (nur hier möglichen) „Rechtsinhaberverzicht“ eine ausdrückliche oder konkludente Bekundung des Aufgabewillens schlechterdings unerlässlich, eine Folge der insoweit unabänderlichen Akzessorietät des Strafrechts: Die Bestimmung der Rechtsinhaberschaft bzw. ihrer definitiven „Aufgabe“ richtet sich bei privaten Gütern primär nach den spezifischen Vorschriften des Zivilrechts – das Strafrecht hat hier, will es nicht den gemeinsamen Güterschutz aufheben, keine abändernde Zuordnungskompetenz. Anhang: Das „(un)bedingte“ Einverständnis Das „bedingte“ Einverständnis ist eine im Rahmen des Diebstahls allgemein anerkannte Form „tatbestandsausschließender“ Zustimmung.89 Dort betrifft es die vom Sachherrn und Eigentümer gewollte Überlassung von Eigentum und Gewahrsam an seinen Sachen unter der Voraussetzung, dass bestimmte, objektiv technisierte Mechanismen ordnungsgemäß betätigt, die Sachen also auf eine (im Voraus vom Berechtigten exakt festgelegte) bestimmte Weise erlangt werden. Bei Einhaltung der Bedingungen ist der Übernehmer ein zur Bewirkung von Erfolgsunwert absolut untaugliches Subjekt, da sein Angriffsobjekt (nur für ihn und deshalb lediglich) ein relativ untaugliches Angriffsobjekt ist.90 Das „unbedingte“ Einverständnis ist dadurch gekennzeichnet, dass der „Sachherr“ und Eigentümer bereits vor dem Zugriffsentschluss (beliebiger) Dritter auf 87 Diese Disposition ist hier, anders als bei den personengebundenen „Einverständnisdelikten“, dem Berechtigten von der Rechtsordnung gestattet. 88 Ihr objektiver Erklärungsgehalt ist der Auslegung zugänglich, oftmals sogar bedürftig. 89 Vgl. LK-StGB/Vogel § 242 Rn. 114 f.; Schönke/Schröder/Eser/Bosch § 242 Rn. 36a. 90 Vgl. bereits das oben IV.1. nach Fn. 64 und 67 Gesagte.

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seine Rechtsinhaberschaft und Herrschaftsmacht und damit auf jedwede weitere Nutzziehung/Wertteilhabe durch „Freigabe“ des Angriffsobjekts zur beliebigen Aneignung verzichtet hat. Diese Umwandlung des Angriffsobjekts in ein hier sog. „freies Gut“ ist dem Rechtsinhaber von der Rechtsordnung gestattet, wenn auch mitunter nur unter bestimmten Voraussetzungen. Sie bewirkt, dass dem Angriffsobjekt seine rechtliche Zuordnung und damit die Angriffstauglichkeit genommen wird, jegliches tatbestandsmäßiges Verhalten also absolut unmöglich ist. Obwohl in seinem Vorkommen keineswegs nur auf Sachen beschränkt, sondern ebenso gut bei anderen Separata (Briefe, Daten, Geheimnisse, Passwörter) möglich, hat das „unbedingte“ Einverständnis bislang nur für die Eigentumsaufgabe an Sachen in der Dereliktion (§§ 928, 959 BGB) rechtliche Regelung erfahren. Da das Strafrecht zu seiner deliktssystematischen Einordnung kein eigenständiges Institut entwickelt hat, es aber andererseits wie die „klassischen“ Formen des (bedingten) Einverständnisses dem Zugreifenden durch die – hier allerdings absolute (!) – Untauglichkeit des Angriffsobjekts zur Rechtsgutsbeeinträchtigung ein tatbestandsmäßiges Verhalten von vornherein unmöglich macht, erscheint es nicht übermäßig unsachgemäß, den „Eigentumsverzicht“ beim tatbestandsausschließenden Einverständnis einzureihen, zumal damit keine dogmatischen „Verbiegungen“ der materiellen Einverständnislehre verbunden sind. 3. Resümee Obwohl also bei Delikten mit übertragbaren Angriffsobjekten die rechtfertigende Einwilligung ebenso wie das (auf sie beschränkte) definitiv unbegrenzte Einverständnis nur bei objektiviertem zustimmenden Willen wirksam sind, bereitet die Einordnung und Unterteilung beider Zustimmungsformen keine Schwierigkeiten: Tatbestandsausschließend ist der Freigabewille des Einverständnisses in Form des „Rechtsinhaberverzichts“. In allen anderen Fällen einer freiwilligen „Zugriffsgestattung“, in denen der Berechtigte91 den Zugriff eines Dritten und/oder dessen fremdnützige Nutzung ausdrücklich erlaubt oder stillschweigend zulässt – in all diesen Fällen ist der Wille nicht auf Aufhebung und Verlust jedweder Nutzziehungsmöglichkeiten/Bestimmungsgewalt gerichtet, sondern impliziert deren Erhaltung. Ebenso wenig wie der Einwilligende will der situativ unbegrenzt auf rechtlichen Güterschutz verzichtende Einverständnisgeber die „Dereliktion“ seines Gutes bzw. ihr auch nur irgendwie Vorschub leisten, im Gegenteil: Beiden ist vielmehr daran gelegen, ihre Herrschafts- und Eignerposition und damit verbundene Entfaltungsmöglichkeiten weiterhin ungestört ausüben zu können. Von einem Freigabewillen kann daher nicht schon dann ausgegangen werden, wenn der Fortbestand seines Gutes trotz gewollt vergrößerter „Mitteilhaberschar“ gesichert ist, sondern erst, wenn der Berechtigte sein Desinteresse an der ihm rechtlich zugeordneten Gutsherrschaft nach außen hin durch entsprechende Publikationsmaßnahmen betätigt (hat).

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Oder sein dispositionsbefugter Willensmittler.

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VI. Zusammenfassung Tatbestands- und/oder Unrechtsausschluss – die dogmatische Einordnung der beiden Zustimmungsformen Einwilligung und Einverständnis ist in der aktuellen deutschen Strafrechtslehre noch immer heftig umstritten. Eine in sich schlüssige Lösung scheitert bislang vor allem daran, dass die vorgetragenen Erklärungsansätze – monistisch (stets Tatbestandsausschluss) oder dualistisch (Einverständnis: Tatbestands-, Einwilligung: Unrechtsausschluss) mit ihrem Rekurs auf eine dispositionszentrierte bzw. eine (begrifflich formal bzw. kontextgestützte Wortlaut-)Ausdeutung keine materiell trag- wie verallgemeinerungsfähige Begründungen zu geben vermögen. Selbst eine zusätzliche Einbeziehung der (teilweise auffällig übereinstimmend benannten) Wirksamkeitsvoraussetzungen eröffnet keine klare Ableitung und Differenzierung. Gleichwohl lassen sich die Grundlagen und Abschichtungen der Unterteilung von Einwilligung und Einverständnis einer strukturellen Ordnung zuführen, deren gemeinsamer Ausgangs- wie Trennpunkt das weitgehend anerkannte interessenzentrierte „(Rechtsschutz-) Verzichtsprinzip“ je nach Umfang die selbstbestimmte „Entäußerung“ des tatbestandlich geschützten Angriffsobjekts ist: Das tatbestandsausschließende Einverständnis ist der unbegrenzte Verzicht auf Strafrechtsschutz, der das jeweilige Angriffsobjekt im Rahmen der gesetzlichen Gestattung (§ 216 StGB) situativ bzw. definitiv einem deliktseröffnenden Zugriff Dritter entzieht, die rechtfertigende Einwilligung der umfangmäßig begrenzte „Teilverzicht“, der dem Rechtsinhaber das teiltangierte Angriffsobjekt zu anderweitiger zusätzlicher (eigener oder fremder) Nutzung, Teilhabe und Verwendung oblässt, die Fortexistenz seiner ursprünglich zugeordneten Bestimmungsmacht des Berechtigten also prinzipiell voraussetzt. „Reine“ Einverständnisdelikte sind etwa die §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 177 f., 237 (2. und 3. Alt.), 239 Abs. 1 (1. Alt.), 240, „reine“ Einwilligungsdelikte die §§ 142, 185 ff., 223 ff., „beidförmige“ Zustimmungsdelikte die §§ 201 ff., 242, 246, 266 StGB. Die Ausrichtung der Einordnung und Unterteilung der Einwilligungs- und Einverständnisdelikte am Umfang des gutsspezifischen Rechtsschutzverzichts determiniert darüber hinaus die ungelöste Streitfrage einer eventuell kundgabepflichtigen Einverständniserklärung. Gemeinhin nicht notwendig bedarf es lediglich bei Delikten mit übertragbarem Angriffsobjekt einer Offenlegung, kann doch andernfalls ein über die bloße Gutsherrschaft (über das Angriffsobjekt) hinausgehender Wille auf Aufgabe der konkreten Rechtsposition mangels Objektivierung der Zugriffsgestattung dem „Rechtsinhaberverzicht“ nicht als Publizitätszeichen fungieren. Bei den insoweit einschlägigen Delikten der §§ 123 Abs. 1 (1. Alt.), 201 ff., 242, 266 ist deshalb mangels zuordnungsabändernder Bestimmungskompetenz des Strafrechts die ausdrückliche oder konkludente Entäußerung des Freigabewillens ein konstitutives Wirksamkeitsmerkmal des Rechtsschutzverzichts. Andernfalls hat sich der Rechtsinhaber seiner Eignerposition nicht tatbestandsausschließend begeben. So zeigen sich auch am Beispiel des bekundungspflichtigen Einverständnisses die Vorteile einer auch vom

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Jubilar immer wieder präferierten Systembildung, die den Zustimmungsformen Einwilligung und Einverständnis strukturellen Charakter zuweist.

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– Einwilligung und „Einheit der Rechtsordnung“, in: FS Jakobs, 2007, S. 451. Otto, Harro: Zum Bankautomatenmißbrauch nach Inkrafttreten des 2. WiKG, JR 1987, 221. – Einverständnis, Einwilligung und eigenverantwortliche Selbstgefährdung, in: FS Geerds, 1995, S. 603. – Grundkurs Strafrecht BT. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005. – Grundkurs Strafrecht AT. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch Kommentar, 75. Aufl. 2016 (Palandt/Bearbeiter). Pesch, Benjamin: Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Erwägungen zur Bereitstellung von Informationen vor Pakettransaktionen, 2015. Rengier, Rudolf: Strafrecht AT, 7. Aufl. 2015. Rinck, Klaus: Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000. Ring, Gerhard: Telefonwerbung gegenüber Verbrauchern – Oder der Telefonanschluss als Einfallstor der Öffentlichkeit und der großen Welt in die Privatsphäre? FS Stauder, 2011, S. 207. Rönnau, Thomas: Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001. – Zur Lehre vom bedingten Einverständnis, in: FS Roxin II, 2011, S. 487. Roxin, Claus: Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006. – Einwilligung, Persönlichkeitsautonomie und tatbestandliches Rechtsgut, in: FS Amelung 2009, S. 269. Rozijn, Michael: Geheimhaltungspflichten und Kapitalschutz beim Abschluss von M&ADienstleistungsverträgen, NZG 2001, 494. Satzger, Helmut/Schmitt, Bertram/Widmaier, Gunter (Hrsg.): StGB Strafgesetzbuch Kommentar, 2. Aufl. 2014 (Satzger/Schmitt/Widmaier/Bearbeiter). Schmidhäuser, Eberhard: Strafrecht, Allgemeiner Teil Studienbuch, 2. Aufl. 1984. Scholz, Franz: Kommentar zum GmbH-Gesetz, 11. Aufl. 2015 (Scholz/Bearbeiter GmbHG). Schönke, Adolf/Schröder, Horst: StGB, 29. Aufl. 2014 (Schönke/Schröder/Bearbeiter). Schroth, Ulrich: Die Einwilligung in eine nicht-indizierte Körperbeeinträchtigung zur Selbstverwirklichung – insbesondere die Einwilligung in Lebendspende, Schönheitsoperation und Piercing, in: FS Volk, 2009, S. 719. Schweyer, Florian: Die rechtliche Bewertung des Reverse Engineering in Deutschland und den USA, 2012. Soergel, Hans Theodor: BGB, Bd. 1, hrsg. von Wolf, 13. Aufl. 1999 (Soergel/Bearbeiter). Spindler, Gerald/Stilz, Eberhard: Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015 (Spindler/Stilz/ Bearbeiter). Sternberg-Lieben, Detlev: Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997. Stief, Matthias: Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht, 2012. Stratenwerth, Günter/Kuhlen, Lothar: Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011. Tiedemann, Klaus: Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969.

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– Literaturbericht Nebenstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, ZStW 94 (1982), 299 ff. – Wirtschaftsstrafrecht AT, 4. Aufl. 2014. Tinnefeld, Robert: Die Einwilligung in urheberrechtliche Nutzungen im Internet, 2012. Waßmer, Martin Paul: Untreue bei Risikogeschäften, 1997. Weigend, Thomas: Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, ZStW 98 (1986), 44. Wessels, Johannes/Beulke, Werner/Satzger, Helmut: Strafrecht AT, 45. Aufl. 2015. Wessels, Johannes/Hillenkamp, Thomas: Strafrecht BT-2, 38. Aufl. 2015.

Das Fahrlässigkeitsdelikt im Zeitalter moderner „Katastrophen“ Gunnar Duttge

I. Fahrlässigkeit und „Risikogesellschaft“ Nicht erst seit den jüngsten Anschlägen islamistischer Terroristen1 in Paris, Istanbul und Nizza sieht sich der moderne, wohlstandsverwöhnte Mensch des 21. Jahrhunderts unverhofft in einer ausnehmend unbehaglichen „Risikogesellschaft“2 wieder, in der er sich des Schutzes vor Gefährdungen selbst seines Lebens an keinem Ort und zu keiner Zeit mehr sicher sein kann. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten sind die „neuen Risiken“ aber von einer völlig anderen Qualität: Sie sind zum einen „globalisiert“3 und zum anderen von einer derartigen Zerstörungskraft, dass – sofern erst einmal die Büchse der Pandora geöffnet ist – gefahrabwehrendes „Handeln im Nachhinein praktisch unmöglich wird“4. In seiner Ohnmacht wird der in seiner Existenz getroffene Mensch um so mehr danach fragen, wer für das Desaster verantwortlich ist – und alsbald feststellen, dass in einer vielfältig arbeitsteilig verflochtenen (Welt-)Gesellschaft die Verantwortungszuschreibung an eine konkrete Person zunehmend schwerfällt. In einem hochdifferenzierten System zahlreich zusammenwirkender, aber stets nur eng begrenzt „zuständiger“ Personen scheinen sich die jeweils konkreten Ursachen „in einer allgemeinen Wechselhaftigkeit von Akteuren und Bedingungen“ zu verflüchtigen und diese „allgemeine Komplizenschaft“ in eine „allgemeine Verantwortungslosigkeit“5 zu münden. Das gilt nicht etwa allein für Großkatastrophen wie in Fukushima,6 Galtür (Tirol)7 oder Bhopal (Indien)8, sondern eben1 Zur Ideologie und zur Entstehungsgeschichte näher Möller, Islamismus und terroristische Gewalt, 2004; Sukhni, Die ,Märtyreroperation‘ im Dschihad: Ursprung und innerislamischer Diskurs, 2011; Tibi, in: Backes/Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie (Bd. 14), 2002, S. 27 ff. 2 Eine grundlegende soziologische Beschreibung findet sich bekanntlich in Beck, 1986. 3 Beck (Fn. 2), S. 48 ff. 4 Beck (Fn. 2), S. 44. 5 Beck (Fn. 2), S. 43. 6 Ausführlicher Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fuku shima. 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Lawinenkatastrophe_von_Galtür. 8 https://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophe_von_Bhopal: mindestens 3.800 Tote.

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so für die „kleineren“, etwas alltäglicheren, mögen sie im Straßen-, Luft- oder Eisenbahnverkehr (Eschede,9 Amagasaki10), beim Betrieb einer Schwebebahn,11 einer Eissporthalle12 oder etwa im Krankenhaus geschehen. Es dürfte keineswegs eine Forderung allein der japanischen „Stimme des Volkes“13 sein, in diesen oder vergleichbaren Schadensfällen mit tödlichem Ausgang eine „harte Bestrafung“ desjenigen zu fordern, der für die Errichtung oder den Betrieb der gefahrenträchtigen Anlage generell „zuständig“ war. Inwieweit das Innehaben einer sozialen Rolle solcher Art freilich schon für eine strafrechtliche Sanktionierung im Gewande eines Fahrlässigkeitsdelikts ausreicht, ist eine Frage, die zwar in höchstem Maße praktisch relevant ist, aber offenbar nicht ohne Weiteres klar und eindeutig beantwortet werden kann. So sehr das Strafrecht dabei das Vergeltungsbedürfnis vor allem der Angehörigen zu befriedigen vermag, begründet seine Aktivierung jedoch zugleich Gefahren für den eigenen Geltungsanspruch: wenn – gerade bei den ohnehin bestehenden Unsicherheiten von Fahrlässigkeitsdogmatik wie Fahrlässigkeitsbegriff – der eigentliche Kerngehalt seiner Normen verfehlt wird, was mit einer Umdeutung von personal nicht vermeidbarem „Unglück“ in „Unrecht“ notwendig einherginge.14 Ganz in diesem Sinne hat schon vor 20 Jahren Hermann Lübbe Anzeichen für eine „irrationale Zurechenbarkeitsexpansion“ infolge jener „spezifisch modernen Inkongruenz von technisch und sozial vermittelten … Handlungsfolgen einerseits und konstatierbarer Schuld handelnd beteiligter Subjekte andererseits“ erkannt, so dass „die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen an die Adresse speziell verantwortlicher individueller … Personen“ immer mehr zu einer bloßen „Fiktion“ werde.15 Damit geht jedoch zwangsläufig zugleich der mit dem Rückgriff auf das Fahrlässigkeitsstrafrecht bezweckte Präventionseffekt ins Leere, der – wie Keiichi Yamanaka nachdrücklich betont hat – ohnehin zweifelhaft ist.16 Damit scheint es letztlich auf eine Wahl zwischen Scylla und Charybdis hinauszulaufen: dass bei komplexen Schadensverläufen das Fahrlässigkeitsdelikt entweder eine „stumpfe Waffe“17 bleibt oder aber zugunsten eines „modernen Risikostrafrechts“ so weit „flexibilisiert“18 wird, dass es am Ende eben doch nicht zum Rechts-„Versagen“ kommt – allerdings um den Preis, dass von der Kernsubstanz des Fahrlässigkeitsvorwurfs – die Zuschreibung einer realen Vermeidbarkeit der

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https://de.wikipedia.org/wiki/ICE-Unfall_von_Eschede#Menschliches_Versagen. https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenbahnunfall_von_Amagasaki. 11 BGHSt 47, 224 ff. 12 BGH NJW 2010, 1087 ff. 13 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (120). 14 Treffend Schlüchter, S. 6. 15 H. Lübbe, in: W. Lübbe (Hrsg.), S. 289 (292 ff.). 16 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (121). 17 Rengier, Wolter-FS, S. 199 (214). 18 Hassemer, Neue Kriminalpolitik 1989, 46 (48). 10

Das Fahrlässigkeitsdelikt im Zeitalter moderner „Katastrophen“

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Schadensfolgen (,Vermeidepflichtverletzung‘)19 als Grundlage des täterindividuellen Handlungsunrechts – kaum noch etwas übrig bleibt. Wenn Yamanaka, der verehrte Jubilar, dennoch nach einem „Ausgleich“20 sucht, und zwar in vertiefter Analyse der japanischen Rechtsprechung und Fahrlässigkeitsdogmatik, so muss schon allein dies das besondere Interesse der deutschen Strafrechtsdogmatik wecken. Das gilt um so mehr, als Yamanaka zu den intimsten Kennern der – auch deutschen – Fahrlässigkeitsdogmatik zählt, wie seine zahlreichen einschlägigen Beiträge der letzten Jahren eindrucksvoll belegen.21 Ihm seien daher die nachfolgenden Überlegungen in großer Hochachtung und im Gefühl der besonderen persönlichen wie kollegialen Verbundenheit gewidmet.

II. Zur Aktualität und Relevanz der Fragestellung Zur näheren Veranschaulichung sei exemplarisch ein Katastrophengeschehen in Bezug genommen, bei dem eine nachvollziehbare Adressierung strafrechtlicher Verantwortlichkeit trotz mehrjähriger Ermittlungen bis heute aussteht: Die Todesfälle und Verletzungen anlässlich der „Love Parade“ 2010 in Duisburg22 resultierten letztlich aus dem „unglücklichen“ Zusammenwirken eines risikofreudig planenden (privaten) Eventveranstalters mit angesichts des erwünschten Großereignisses wohl nicht unbefangenen Mitarbeitern der Stadtverwaltung sowie von Polizeibeamten, die vor Ort ohne Gesamtüberblick und mutmaßlich von der eigenen Führung nicht adäquat informiert Absperrmaßnahmen vornahmen, welche die bereits erhöhte Gefahrensituation endgültig zu einer tödlichen Katastrophe werden ließ.23 Typisch „modern“ ist ein solches Großschadensereignis dabei deshalb, weil sich das Geschehen gerade nicht (in toto) als ein von vornherein unbeherrschbares Naturereignis (wie etwa bei den durch Erdbeben ausgelösten Tsunamis im Indischen Ozean 200424 oder an der japanischen Küste, im Unterschied jedoch zu den Folgeschäden und -risiken aufgrund des Betriebs eines Atomkraftwerks an der Meeresküste von Fukushima)25 auffassen lässt (für das allenfalls ein „unheilvolles Schicksal“ oder ein „Gott“ angeklagt werden könnte), sondern – jedenfalls auch – „Menschenwerk“ ist. Keine Klarheit besteht jedoch darüber, welchen der daran in concreto mitbetei19

MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 88, 94 f.; Otto, GS Schlüchter, 77 (89 f.). Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (121). 21 Insbesondere: Yamanaka, Szwarc-FS, S. 279 ff. 22 Zu den Einzelheiten siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Unglück_bei_der_Loveparade_ 2010; instruktive Auflistung der konkreten organisatorischen Schwachstellen in: http://blog. beck.de/2010/09/23/love-parade-unglueck-zwei-monate-nach-den-tragischen-ereignissen-im-in ternet-weitgehend-aufgeklaert. 23 Instruktive Erläuterungen dazu: http://blog.beck.de/2014/08/31/loveparade-2010-zweifelam-gutachten. 24 https://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeben_im_Indischen_Ozean_2004. 25 Zutreffend unterschieden bei Rengier, Wolter-FS, S. 199 (202). 20

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ligten Entscheidungsträgern, die für sich jeweils nur begrenzt „zuständig“, fachlich „kompetent“ und mit „Beherrschungsmacht“ ausgestattet waren, die letztlich ausgelösten Folgeschäden (vor allem auch die Tötung und Verletzung von Menschen) als „eigenes Werk“ zugerechnet werden können. Die vor Ort eingesetzten Polizeibeamten verweisen zu ihrer Entlastung auf den Umstand, dass sie allein der (zudem gegenüber dem Personal des privaten Veranstalters nur subsidiär vorgesehenen) Vollzugs- und nicht der Planungsebene zugehören und deshalb für generelle Fehlplanungen und/oder defizitäre Kommunikation in der organisatorischen Leitung nicht verantwortlich gemacht werden könnten; die Mitarbeiter der Stadtverwaltung exkulpieren sich mit fehlenden eigenen Vorerfahrungen bzgl. eines solchen Großereignisses und zeigen auf die Expertise des privaten Veranstalters, dieser macht wiederum geltend, dass es zur Katastrophe erst durch ein Fehlverhalten der Polizeikräfte vor Ort oder gar durch „unvernünftiges“ Verhalten der Besucher selbst gekommen sei.26 Ein in das „Sicherheitskonzept“ eingebundener Verkehrsforscher sucht sich schließlich mit der Erwägung zu exkulpieren, dass er „nur im Vorfeld nach Papierlage“ geurteilt habe, die tatsächliche Durchführung der Veranstaltung aber unter Missachtung jener Planungen erfolgt sei.27 Endet also am Ende jeder Versuch einer (straf-)rechtlichen Inverantwortungnahme von „Verantwortungsträgern“ regelmäßig in einem „Schwarze-Peter-Roulette“ ad infinitum?28 Auch mehr als fünf Jahre nach dem Katastrophengeschehen ist das Hauptverfahren noch immer nicht eröffnet; ungeduldig sind nicht nur die Angehörigen der Opfer und die Bevölkerung, sondern mittlerweile auch die mit den geltend gemachten Schadensersatzansprüchen befassten Zivilgerichte, die nach zwischenzeitlicher Verfahrensaussetzung (vgl. § 149 ZPO) offenbar nicht mehr länger zuwarten mögen.29 Die Besonderheit von Fallgestaltungen wie der soeben Skizzierten besteht ersichtlich darin, dass eine Vielzahl menschlicher Handlungen und konkret-situativer Entscheidungen in einer hyperkomplexen Weise zusammenwirken und sich dadurch die Risikoträchtigkeit des einzelnen (aktiv oder durch Unterlassen begangenen) Tatbeitrags aus der jeweils individuellen Perspektive ex ante nicht oder nur noch sehr grobschlächtig antizipieren lässt. Wo sich der potentiell schädigende Kausalverlauf aber nicht mehr in leicht voraussagbaren eindimensionalen Wirkzusammenhängen 26 So der städtische Ordnungsdezernent, vgl. http://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/loveparade-19-tote-342-verletzte. 27 http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/trauerspiel-nach-der-tragoedie-aid-1.108 2694. 28 Das Ende Juli 2010 ursprünglich gegen 16 Mitarbeiter der Stadtverwaltung Duisburg sowie gegen verantwortliche Mitarbeiter des Veranstalters und der Polizei eingeleitete Ermittlungsverfahren der Duisburger Staatsanwaltschaft führte erst im Februar 2014 zu einer Anklage gegen einen reduzierten Personenkreis (nicht gegen den Firmeninhaber des Veranstalters, nicht gegen den Oberbürgermeister und nicht gegen Polizeibeamte, auch nicht gegen den Einsatzleiter der Polizei). Inzwischen hat die zuständige Kammer die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt; über die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde (§ 210 Abs. 2 StPO) ist bislang (Manuskriptschluss) noch nicht entschieden. 29 https://www.tagesschau.de/inland/loveparade-prozess-101.html.

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im Verhältnis von einem Täter und einem Opfer erschöpft, sondern erst hernach und häufig nur mit sachverständiger Hilfe30 aufklären lässt, wird die rechtliche Grundlage für die Zuschreibung fahrlässiger Erfolgsherbeiführung an die Adresse dieser oder jener in das Gesamtgeschehen verstrickten Einzelperson brüchig. Dieser Effekt lässt sich am soeben skizzierten Katastrophenbeispiel gut demonstrieren: Ersichtlich hat sich die zuständige Staatsanwaltschaft jene Mitarbeiter auf Seiten des Eventveranstalters wie der Stadtverwaltung ausgesucht, die mit den Planungen insbesondere am sog. Sicherheitskonzept intensiv befasst waren. Warum aber etwa der Inhaber des veranstaltenden Unternehmens ebenso wenig beschuldigt wurde wie etwa die Einsatzleitung der Polizei, weckt in der Außenwirkung prima vista den Anschein der Willkürlichkeit.31 Denn wenn die gefährliche Verdichtung von Menschenmassen am Ende auch durch Einrichten oder Versäumen von polizeilichen Absperrmaßnahmen verursacht oder verschärft worden sein könnte, wenn die mangelhafte Kommunikation innerhalb der Polizeikräfte aufgrund fehlender Funkgeräte eine rechtzeitige rettende Intervention in der Akutsituation maßgeblich vereitelt hatte, wenn die zu kleinen Ausweichflächen in Abweichung vom Sicherheitskonzept auch noch durch abgestellte Polizeifahrzeuge weiter verkleinert waren, dann liegt die Annahme „sorgfaltsgemäßen“ Handelns nicht gerade nahe. Gleiches gilt mit Blick auf den Veranstalter für die weithin unstreitigen Mängel im Planungskonzept (insbesondere infolge des vorgesehenen gemeinsamen Ein- und Ausgangs mitsamt des dadurch leicht voraussehbaren Zusammenprallens der sich in gegensätzlicher Richtung bewegenden Menschenmassen): Wenn diese als gravierend eingeschätzt werden müssen, weil schon einfachste Berechnungsmodelle die Fehlerträchtigkeit der spekulativen Annahmen und erhöhte Risikoträchtigkeit des Vorhabens erwiesen hätten, wie sollte dann der für die ordnungsgemäße Auswahl und Instruktion seiner Mitarbeiter verantwortliche Unternehmensleiter in Bezug auf derart schwere Fehler – unabhängig von evtl. ihm direkt zurechenbaren Einsparmaßnahmen – von vornherein (vgl. § 152 II StPO) frei von jedweder Verantwortung erscheinen können? Gewiss: Rechtsprechung und Dogmatik zum Fahrlässigkeitsdelikt im strafrechtlichen Sinne verlangen mit großem Recht mehr als bloß den Nachweis einer Mitursächlichkeit für den eingetretenen tatbestandsmäßigen Erfolg: Erforderlich ist viel-

30 Das kontrovers aufgenommene „Gutachten“ im Kontext der „Love-Parade“-Katastrophe stammt aus der Feder eines an der Buckinghamshire New University lehrenden Professors für Massendynamik und Massenmanagement: http://docunews.org/loveparade/dokumente-zur-lo veparade-duisburg-2010/das-versagen-des-systems-war-vorhersehbar/ (Kurzgutachten) und http://www.derwesten-recherche.org/2013/07/loveparade-die-geplante-katastrophe-das-still-gut achten-zum-download/ (erweitertes Gutachten). 31 Dementsprechend plädierte der Regensburger Kollege H.E. Müller frühzeitig für eine gleichzeitige Erfolgszurechnung in Nebentäterschaft zu Lasten von Personen aller drei Verantwortungsbereiche (Veranstalter/Stadt/Polizei), http://blog.beck.de/2010/07/28/love-parade-wie-wurde-die-katastrophe-verursacht-ein-zwischenfazit-mit-updates?page=8.

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mehr eine – erfolgsspezifische32 – „Pflichtwidrigkeit“ des Verhaltens ex ante sowie die Feststellung, dass der Beschuldigte nicht nur dieses Defizit in seiner Handlungsweise, sondern dadurch auch den tatbestandsmäßigen Erfolg mit an Sicherheit grenzender (oder jedenfalls überwiegender) Wahrscheinlichkeit hätte vermeiden können („Vermeidbarkeitstheorie“)33. Beide dieser zentralen Elemente des Fahrlässigkeitsunrechts stehen bei einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Personen und Kausalfaktoren in Frage, weil erstens die Voraussehbarkeit eines solchen Geschehensverlaufs – noch dazu bei Individualisierung des Blickfeldes auf dasjenige, was überhaupt nur der konkret Beschuldigte in seiner konkreten Tatsituation erkennen konnte34 – deutlich geschmälert ist und zweitens die Kumulation von Erfolgsbedingungen tendenziell dazu führt, dass sich der einzelne Tatbeitrag hinsichtlich seiner Erfolgsrelevanz unschwer auch als irgendwie „unerheblich“ deklarieren lässt. Allerdings besteht weithin Gewissheit darüber, dass nur das vorsätzliche Dazwischentreten eines anderen in den bereits pflichtwidrig ausgelösten Schadensverlauf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zum Erstverursacher sicher zerschlagen kann;35 soweit es sich jedoch um potentiell (nur) fahrlässiges „Anschlussverhalten“ weiterer Akteure handelt, muss dies weder für diese noch für den Erstverursacher einer Zurechnung des Erfolges entgegenstehen, so wie auch ein leichtfertiges selbstgefährdendes Opferverhalten – sofern durch das Ausgangsverhalten „herausgefordert“ – den Zurechnungszusammenhang in der Regel (innerhalb des „vernünftigerweise“ noch Erwartbaren) nicht beseitigt.36 Es lässt sich freilich nicht übersehen, dass beim Zusammenwirken mehrerer potentiell pflichtwidriger (unvorsätzlich gesetzter) Kausalfaktoren die Rechtslage bis heute unsicher ist: So spricht etwa Roxin von der „schwierigsten und ungeklärtesten Fallgruppe“ (der objektiven Zurechnungslehre), bei der die Ansichten weit auseinandergehen.37 Und mehr noch: Es besteht insoweit gar keine Grundgewissheit darüber, anhand welchen Maßstabes und welcher strafrechtsdogmatischen Strukturen derartige Fälle überhaupt bewertet werden sollten. In Betracht käme zum einen eine strikte Separierung der „Zuständigkeiten“ in je begrenzte „Verantwortungsbereiche“ entsprechend der jeweiligen sozialen Rolle, so dass sich die für die Erfolgszurechnung ausschlaggebende Frage der „Gefahrrealisierung“ stets an der jeweiligen Risikotypizität („Modellgefahr“) orientierte. Zum zwei32 Zu dieser bedeutsamen Konkretisierung des Kreises möglicher „Sorgfaltspflichten“ z. B. Seher, Frisch-FS, S. 207 (215); Sternberg-Lieben, Schlüchter-GS, S. 217 (222); ebenso Yamanaka, Szwarc-FS, S. 279 (287). 33 Dazu im Überblick MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 160, 178 ff. 34 Zur Individualisierung auch des fahrlässigkeitsbezogenen Handlungsunrechts nach der inzwischen im Vordringen befindlichen Gegenauffassung zur tradierten Sichtweise: MüKo/ Duttge, § 15 StGB Rn. 95 ff. (m.w.N.). 35 Jedenfalls soweit nicht die „erkennbare Tatgeneigtheit“ des Vorsatztäters gefördert wurde, näher dazu MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 148 ff. (m.w.N.). 36 Zu diesen sog. „Retterfällen“ siehe näher MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 156 ff.; leading cases: BGHSt 39, 322 ff.; OLG Stuttgart NJW 2008, 1971 f. 37 Roxin, Strafrecht AT/I, § 11 Rn. 141.

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ten ließe sich die Zurechnungsfrage aber auch anhand des Kriteriums der („objektiven“) „Voraussehbarkeit“ entscheiden, was allerdings auf Grundlage des nach h.M. geltenden „komplexen Fahrlässigkeitsbegriffs“38 die Divergenz zum fahrlässigkeitsspezifischen Handlungsunrecht („Sorgfaltspflichtverletzung“) einebnete. Drittens schließlich ließe sich die Erfolgszurechnung auch anhand einer Art „Abwägungslehre“ nach Maßgabe genuin strafrechtlicher Grundkategorien beurteilen, was in der Fallgruppe des „vorsätzlichen Dazwischentretens Dritter“ manifestiert sein könnte. Oder aber man kann die vorstehenden unterschiedlichen Konzepte auch miteinander kombinieren, z. B. im vielbesprochenen Klassiker des ärztlichen Kunstfehlers nach pflichtwidrig herbeigeführtem Verkehrsunfall39 mit Roxin in einem ersten Schritt nach der typischen Risikodimension und deren Relevanz für den Erfolgseintritt fragen, bevor in einem zweiten Schritt das normative Gewicht beider Fehlverhalten (nach strafrechtlichen Maximen) miteinander verglichen wird: „Kommen […] zwei etwa gleichgewichtige fahrlässige Verhaltensweisen zusammen, die sich beide im Erfolg verwirklicht haben […], ist es richtig, beide [Verursacher] wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen. Wenn dagegen eine normalerweise leicht zu heilende Verletzung nur infolge grober ärztlicher Fahrlässigkeit zum Tode führt, erlangt das ärztliche Fehlverhalten ein solches Übergewicht, das kriminalpolitisch kein Bedürfnis besteht, den Enderfolg zusätzlich auch noch dem Täter des Ausgangsdeliktes zuzurechnen“40. Bei komplexeren Ereignissen dürfte allerdings der jeweilige „normative Anteil“ der mehreren am tatbestandsmäßigen Erfolg kausal irgendwie Mitbeteiligten weit weniger rechtssicher eingeschätzt werden können, abgesehen davon, dass die vorgeschlagene kriminalrechtlich bzw. -politisch orientierte „Abwägung“ aufgrund der ihr immanenten Vorabbeurteilung des jeweiligen Maßes an (leichter/mittlerer/grober) „Fahrlässigkeit“ leicht zu einem tautologischen Unterfangen mutieren kann. Vor dem Hintergrund dieser strafrechtsdogmatischen Unwägbarkeiten lassen sich jetzt weit besser die besonderen Schwierigkeiten der in der Strafrechtspraxis begegnenden „Auswahlentscheidungen“ in Bezug auf jene Handlungssubjekte verstehen, denen der „Enderfolg“ zugeschrieben oder eben nicht zugeschrieben werden soll. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

III. Blick auf die japanische Fahrlässigkeitsdogmatik Es ist daher ein in zweifacher Weise glücklicher Umstand, dass sich zu eben dieser Zurechnungsproblematik weiterführende Überlegungen in der japanischen Strafrechtsdogmatik finden, die der deutschen Strafrechtswissenschaft gleichsam durch den „Brückenbauer“ Keiichi Yamanaka auch zugänglich sind: Danach lassen sich 38

Wonach sich die „Fahrlässigkeit“ in ein „objektives“ (= Unrechtstatbestand) und ein „subjektives“ (= Schuldtatbestand) Strafbarkeitselement aufspalten soll, dazu m.w.N. und Kritik: MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 95 ff. 39 Vgl. OLG Celle NJW 1958, 271. 40 Roxin (Fn. 37), § 11 Rn. 143.

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neben den durch eine „persönliche Sorgfaltswidrigkeit“ ausgelösten Schadensfällen auch „strukturell bedingte Katastrophen“ ausmachen, bei denen die Ursachen für das Schadensereignis – jedenfalls auch – „in der modernen Sozialstruktur“ zu finden sind. Dies zwinge jedoch nicht zu einer Exkulpation der beteiligten Einzelpersonen, sondern vielmehr zu einer Weiterentwicklung der Fahrlässigkeitsdogmatik in Richtung einer „Organisationsfahrlässigkeit“41. Bei dieser liege der Schwerpunkt der Pflichtwidrigkeit „in der Systemgestaltungshaftung der Organisatoren“42. Im Einzelnen lasse sich dabei zwischen einer „Aufsichts-“ (Kantokukashitsu) und einer „Leitungs- oder Verwaltungsfahrlässigkeit“43 (Kanrikasitu) unterscheiden: Während erstere eine mangelhafte oder unterbliebene Aufsicht über menschliches Verhalten zum Gegenstand hat, ist für letztere die Missachtung von Sorgfaltsregeln bei der Überwachung gefährlicher Sachen (Tiere), Anstalten oder Organisationseinheiten (einschließlich der Personalverwaltung) charakteristisch.44 Diese kann wiederum zum einen erst während der konkreten („kritischen“) Gefahrensituation oder auch schon in einem früheren Stadium (der sog. „Systemgestaltungsphase“) begegnen, z. B. durch fehlerhafte oder unterbliebene Feueralarmübungen mit den Angestellten eines Kaufhauses.45 Bei dieser sog. „Organisationsfahrlässigkeit im engeren Sinne“ ist die „fahrlässige Handlung … von der des direkten Täters unabhängig, auch wenn der Erfolg [unmittelbar, Zusatz G.D.] durch die Handlung des direkten Täters verursacht wurde“46. Ungeachtet dieser begrifflichen Differenzierung bleibt jedoch die zentrale Frage noch immer ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen davon ausgegangen werden darf, dass sich jenes Risiko auch im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert hat. Die japanische Fahrlässigkeitsdogmatik scheint diese Frage nach Maßgabe des Bestehens einer Garantenstellung entscheiden zu wollen, was jedoch schon deshalb nicht überzeugen kann, weil dann ehemalige „Systemgestalter“ für spätere Katastrophen per se nicht mehr verantwortlich gemacht werden könnten.47 Yamanaka plädiert demgegenüber dafür, „dieses Problem mit der Lehre von der objektiven Zurechnung zu lösen, weil die Begriffsinstrumente der unerlaubten Gefahrschaffung und Gefahrverwirklichung aus dem Begriffsfundus der objektiven Zurechnung stammen“48. In concreto soll es daher maßgeblich auf „die Größe des Risikos, der Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens mit der potentiellen Gefahr und seinem Anteil an der Erfolgsverur41

Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (122 ff., 124). Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (126). 43 Den Begriff „Verwaltungsfahrlässigkeit“ bevorzugend: Yamanaka, in: Duttge/Tadaki, S. 7 Fn. 26 (Manuskriptfassung). 44 Ebd. 45 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (127). 46 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (128). 47 Dies nachdrücklich kritisierend Yamanaka, in: Duttge/Tadaki, S. 12 (Manuskriptfassung). 48 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (129). 42

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sachung“ ankommen,49 aber ebenso auf das Innehaben der „Befugnis zur konkreten Organisation der … Sicherheitsmaßnahmen“50. Hieraus ergebe sich im „Akashi-Fußgängerüberführungsfall“51, welcher mit der „Love-Parade“-Katastrophe einige Ähnlichkeit hat, eine „Organisationsfahrlässigkeit“ sowohl des leitenden Polizeichefs als auch des Präsidenten der beauftragten Wachfirma, weil beiden „Verantwortungsträgern“ noch rechtzeitig vor der akuten Paniksituation die Notwendigkeit einer Gefahrabwendung erkennbar war und die Todes- und Verletzungsfolgen zahlreicher Besucher jenes Sommerfestes von ihnen somit hätten vermieden werden können.52 Es ist bemerkenswert, dass hier also im japanischen Vergleichsfall diametral gegenläufig zum Anklagevorwurf im „Love-Parade“-Verfahren53 allein die Säumnisse in der Akutsituation zum Anknüpfungspunkt für den Vorwurf strafbarer Fahrlässigkeit genommen wurden. Dies erscheint prima vista auch durchaus naheliegend, weil sich der schadensträchtige Verlauf in der konkreten Gefahrensituation zumeist wesentlich besser erkennen lässt. Dies gibt dem jeweiligen Verantwortungsträger dann zugleich einen weit „triftigeren Anlass“ zu gefahrabwendenden Maßnahmen als lediglich die tatferne Erkenntnis von abstrakten Risiken dem Planer oder „Systemgestalter“ im mehr oder weniger weiten Vorfeld des Katastrophenereignisses. Damit ist allerdings noch nicht mehr als nur die „erste Hälfte“ das Fahrlässigkeitsunrechts in den Blick genommen, das für sich – mangels Strafbarkeit des „fahrlässigen Versuchs“54 – noch nicht zur Verhängung einer Strafsanktion berechtigt. Daran ändert auch die in der japanischen Strafrechtswissenschaft beachtenswert entwickelte Ausdifferenzierung der fahrlässigkeitsspezifischen „Sorgfaltspflichtverletzung“ für Konstellationen moderner arbeitsteiliger Organisationen und Systeme nichts, weil auch eine „moderne Organisationsfahrlässigkeitsdogmatik“55 nicht darauf verzichten kann, den einem fahrlässigen Erfolgsdelikt immanenten „Verwirklichungszusammenhang“ als Kennzeichnung des erfolgreichen Normbruches56 festzustellen. Das Innehaben einer spezifischen Aufsichtspflicht oder Sicherungsfunktion in Bezug auf gefahrenträchtige „Betriebe“ (i.w.S.) beschreibt zwar die normative Erwartung, die an die jeweilige soziale Rolle geknüpft ist, und kann bei Eintritt eines betriebsbedingten Schadensfalles u. U. – aber keineswegs zwingend – die Annahme einer „Pflichtwidrigkeit“ begründen; erschöpfte sich das Fahrlässigkeitsdelikt aber darin schon, so käme dies – wie vor allem die zivilrechtliche Dogmatik der sog. „Verkehrspflichten“ 49

Yamanaka, in: Loos/Jehle, S. 57 (70). Yamanaka, in: Duttge/Tadaki, S. 15 (Manuskriptfassung). 51 LG Kobe (erste Instanz), Urteil v. 17. 12. 2004; OG Osaka (zweite Instanz), Urteil v. 6. 4. 2007, Keishu Bd. 64, H. 4, S. 623; OGH, Beschluss v. 31. 5. 2010, Keishu Bd. 64, H. 4, S. 447. 52 Yamanaka, in: Duttge/Tadaki, S. 14 f. (Manuskriptfassung). 53 Siehe o. bei Fn. 22 ff. 54 Statt vieler nur MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 215. 55 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (122). 56 Bei Yamanaka als „vollkommener Normbruch“ bezeichnet, siehe in Szwarc-FS, S. 279 (291 und 294). 50

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(z. B. für Wege und Gebäude, den Betrieb einer Eisenbahn, das Halten eines Tieres oder das Inverkehrbringen von Produkten etc.) zeigt57 – einer Verkürzung des Erfolgsunrechts in Richtung einer bloßen Gefährdungshaftung gleich. In letzter Konsequenz würde damit sogar der unhintergehbare rechtsgutsspezifische Erfolgsbezug einer jeden Verhaltensnorm missachtet. Damit die Auswahl potentieller Fahrlässigkeitstäter aus einem größeren Kreis von Mitbeteiligten (im naturgesetzlichen Sinne) nicht dem „Gesetz des Zufalls“ oder der „Intuition“ der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft unterworfen bleibt, bedarf es einsichtiger Regeln der Erfolgszurechnung, die eine sachgerechte Zuordnung der „Anteile“ am tatbestandsmäßigen „Gesamtwerk“ ermöglichen. Diese in der japanischen Strafrechtsdogmatik als sog. „Konkurrenz der Fahrlässigkeitsdelikte“ bereits bekannte Fragestellung wird dort danach beurteilt, ob die mehreren individuellen Handlungen im Rahmen eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens (nach den Regeln der horizontalen oder vertikalen Arbeitsteilung)58 oder aber „zufällig“, d. h. unabhängig voneinander, gleichzeitig oder nacheinander, getätigt werden. Bei einer solchen „parallelen Konkurrenz“ sei – so Yamanaka – „jede fahrlässige Handlung unabhängig voneinander ursächlich für den Erfolg“ und „stehen die beiden Handlungen im Verhältnis der fahrlässigen Mittäterschaft“59. Für den „Tenroku-GasexplosionsFall“60 hat dies etwa zur Folge, dass „die zuständigen Personen des Bauunternehmens, des Gaswerks und des Stadtverkehrsamtes“ gleichermaßen wegen fahrlässiger Tötung (im Betrieb, § 211 jStGB a.F.) angeklagt wurden, weil „alle drei Organisationen dafür verantwortlich [waren], dass das Gasrohr ohne … Schutzmaßnahmen verlegt und dadurch die Katastrophe verursacht wurde“61. Anders soll es nur dann liegen, wenn „das geschaffene Risiko schon quasi-neutralisiert wurde, … [wenn] es also eine Unterbrechung des Geschehensverlaufs gibt“62. Diese Hinweise werfen allerdings mehr Fragen auf, als sie klären: Vordergründig scheint es so, als ob nach Feststellung einer in abstracto gefahrspezifischen Verkehrs(-sicherungs-)pflicht jeder tatbestandliche Erfolg allen zugerechnet würde, die mit diesem in naturgesetzlicher Kausalität verbunden sind. Eine derart expansive Erfolgszurechnung ist aber von Yamanaka ersichtlich nicht gemeint, wenn er von einer „Quasi-Neutralisierung“ des „Risikos“ (und nicht etwa der kausalen Handlung) spricht. Nur stellt sich dann – wie auch schon beim Bezugsmerkmal der „Risikodimension“ innerhalb der deutschen Zurechnungsdogmatik63 – die Frage, anhand welchen Maßstabes und welcher 57

Dazu etwa Deutsch/Ahrens, Rn. 328 ff. Zu diesen Regeln näher Duttge, ZIS 2011, 349 ff. 59 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (125). 60 Urteil des LG Osaka v. 17. 4. 1985, Hanrei Jiho Nr. 1165, S. 28 ff.; Urteil des OG Osaka v. 22. 3. 1991, Hanrei Jiho Nr. 1458, S. 18; näher zu diesem Fall Yamanaka, Jurist Nr. 840, 1985, S. 26 ff. 61 Yamanaka, in: Rengier (Hrsg.), S. 115 (123). 62 Yamanaka, in: Loos/Jehle, S. 57 (71): z. B. das durch ein nachfolgendes Auto nochmals erfasstes Opfer eines Verkehrsunfalls sich dem Gefahrenbereich bereits entzogen hatte. 63 Siehe o. nach Fn. 37. 58

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Kriterien sich die beliebig konstruierbaren Risikosphären voneinander willkürfrei abgrenzen lassen sollen. Denn rein ontologisch betrachtet liegt jedweder Geschehensfortgang innerhalb der zu Beginn eröffneten „Risikodimension“, schlicht weil es dem Hinzutretenden eben möglich war, den weiteren Kausalverlauf im geschehenen Sinne zu beeinflussen. Will man dies aber nicht gelten lassen, weil damit de facto auf das Grunderfordernis der „Risikoverwirklichung“ verzichtet würde, so muss das im Rahmen der intendierten Begrenzung des normativen Zurechnungszusammenhangs in Anspruch genommene Grenzkriterium auch klar benannt werden. Soweit dabei – auch von Yamanaka64 – auf die „Typizität“ des Risikos verwiesen wird, dürfte die hiermit in Bezug genommene Eigenschaft des „Charakteristischen“, „Eigentümlichen“65 letztendlich auf die Vorstellung von einer objektiven Adäquanz der Risikoverwirklichung nach „allgemeiner Lebenserfahrung“ rekurrieren, die nach der vorherrschenden Fahrlässigkeitsdogmatik aber bereits die „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“ (bzw. „unerlaubte Risikoschaffung“) als Kern des Handlungsunrechts ausmachen oder jedenfalls mitbedingen soll.66 Träfe das zu, so könnte dasselbe Kriterium aber nicht zugleich auch den „Risikoverwirklichungszusammenhang“ als zentrale Ausprägung des Erfolgsunrechts begrenzen und liefe jedweder Begrenzungsversuch damit in der Sache ins Leere.

IV. Deliktsstrukturelle Klärungen Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass sich Maßstab und Kriterien der fahrlässigkeitsspezifischen Erfolgszurechnung in einer ganzheitlich systematisierten Deliktsstruktur nicht unabhängig von den strafrechtsdogmatischen Annahmen zur verhaltensbezogenen „Sorgfaltspflichtverletzung“ klären lassen. Die Schlüsselfrage ist dabei, ob hierzu auch die „objektive Voraussehbarkeit“ zählen soll oder diese nicht vielmehr generaliter die „objektive Tatseite“ des deliktischen Unrechts zum Gegenstand hat, auf das sich dann die täterindividuelle Fahrlässigkeit ebenso wie der Vorsatz zu beziehen hat. Es ist bemerkenswert, dass Yamanaka zwar einerseits den generalisierenden Risikolehren folgt,67 jedoch andererseits deutlich festhält, dass „die Fahrlässigkeit im eigentlichen Sinne … nur als die individuelle Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit“ angesehen werden kann.68 Mit Recht: Denn wenn die Erfolgszu64 Yamanaka, in: Loos/Jehle, S. 57 (71): „Tritt ein medizinischer Fehler dazwischen, der nicht typisch […] ist, so muss die Risikoverwirklichung verneint werden“. 65 Grimm/Grimm, Sp. 1961. 66 Siehe o. bei Fn. 38. 67 Deutlich vor allem in: ZStW 102 (1990), 352 ff.; siehe auch Yamanaka, Szwarc-FS, S. 279 (280): „Die objektive Fahrlässigkeit ist … in der Lehre von der objektiven Zurechnung aufzulösen“. 68 Vgl. Yamanaka, Szwarc-FS, S. 279 (293) – allerdings mit der Konsequenz, diese Fahrlässigkeit „im eigentlichen Sinne“ der Schuldebene zuzurechnen. Zur Kritik an dieser überholten Verbrechensstruktur aus Sicht des (vollständig) „personalisierten Unrechts“: Duttge, in: Jehle/Lipp/Yamanaka, S. 195 ff.

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rechnung aus der generalisierten Sicht eines objektiven Beobachters den objektiven Tatbestand eines jeden Erfolgsdelikts prägen soll, dann kann die „objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit“ nicht zugleich die differentia specifica sein, durch welche sich fahrlässige und vorsätzliche Erfolgsherbeiführung wechselseitig ausschließen.69 Daraus folgt notwendig, dass fahrlässigkeitsspezifisch nicht etwa eine „rechtliche Missbilligung“ als solche, sondern allein jene sein kann, „die sich mit Blick auf ein situativ und personal konkretisiertes Tatsubjekt begründen lässt“70. Konkreter gefasst: „Wenn sich das Handeln in individuell unvermeidbarer Fehleinschätzung des Risikos niemals als Ausdruck einer Nichtanerkennung der rechtlichen Freiheiten und Güter anderer interpretieren lässt, kann erst und nur die individuelle Erkennbarkeit des konkret schadensträchtigen Verlaufs (aufgrund einer kognitiv-situativen „Veranlassung“71) als Pendant zum individuellen Wissen (und nach h.M. Wollen) beim Vorsatz den spezifischen Unwert des Fahrlässigkeitsdelikts (im strafrechtlichen Sinne) ausmachen“72. Damit scheidet das Kriterium der „Voraussehbarkeit“ sowohl in seiner generalisierenden als auch individualisierenden Fassung zur Kennzeichnung des Erfolgsunrechts („Risikoverwirklichungszusammenhang“) zwangsläufig aus. Gleiches gilt aber auch für die nähere Aufgabenzuschreibung des sozialen Rollenträgers etwa aufgrund seiner Amtsstellung, der vertraglich übernommenen Sicherungsaufgaben etc., die in gleicher Weise schon das Ausmaß des (individuellen) Erkennen-Könnens und -Müssens, also die Reichweite des Verhaltensgebots kennzeichnet (und indiziell begrenzt)73, dessen Missachtung daher bereits das Handlungsunrecht eines Fahrlässigkeitsdelikts konstituiert. Eben hierin liegt begründet, warum in Katastrophenszenarien auf der Suche nach potentiell Verantwortlichen von Beginn an vor allem diejenigen ins Blickfeld geraten, die generaliter mit der Durchführung und/oder Planung des betreffenden Großereignisses befasst waren: Von ihnen lässt sich am ehesten annehmen, dass sie aufgrund ihrer besonderen Befassung und Expertise das Kommende wesentlich deutlicher als völlig Unbeteiligte erkennen konnten. Diese – in ihrer Ausschlusswirkung allerdings keineswegs zwingende74 – Blickrichtung bei der ex-postBeurteilung des schadensträchtigen Geschehens ist allerdings in zweifacher Weise 69

Überzeugend Burkhardt, in: Wolter/Freund, S. 99 (128). MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 107. 71 Zu diesem „Veranlassungsmoment“ als zentrales Erfordernis eines individualisierten Fahrlässigkeitskonzepts im Einzelnen Duttge, Bestimmtheit, S. 373 ff., 389 ff., 423 ff.; aus der japanischen Strafrechtswissenschaft grds. zustimmend: Yamamoto, in: Duttge/Tadaki (Hrsg.), S. 19 (Manuskriptfassung). 72 Duttge, Nacke-FS, S. 167 (176), dort insbesondere auch zur Folgeproblematik einer Grenzziehung zwischen (individualisiertem) Fahrlässigkeitsunrecht und -schuld. 73 Zur indiziellen Begrenzung des „erlaubten Risikos“ durch „konkrete Sondernormen“ näher MüKo/Duttge, § 15 StGB Rn. 137 ff. 74 So ist es durchaus nicht per se ausgeschlossen, dass auch generell „Unbeteiligte“ den schadensträchtigen Kausalverlauf maßgeblich beeinflussen können: Man stelle sich nur vor, dass die konkrete Paniksituation im Rahmen der „Love Parade“ erst durch das leichtfertige Handeln eines Besuchers provoziert worden wäre. 70

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nicht mehr als eine erste Annäherung beim Versuch einer Klärung der fahrlässigkeitsspezifischen Verantwortlichkeiten, weil erstens auch das Innehaben einer mit jenem Ereignis verknüpften Aufgabe noch nicht zur Annahme einer konkret-individuellen Erkennbarkeit des betreffenden Schadensverlaufes ex ante zwingt und zweitens selbst bei „triftigem Anlass“ zur schadensabwehrenden Intervention der Taterfolg – um so mehr bei komplexen Geschehensverläufen unter Beteiligung mehrerer oder vieler Personen – keineswegs per se auch und gerade durch diese (individuelle) Pflichtwidrigkeit bedingt sein muss. Hierdurch offenbart sich zugleich, dass die Erfolgszurechnung bei Hinzutreten weiterer Personen – entgegen ganz h.M. – auch nicht vom Ausmaß an jeweiliger täterindividueller Pflichtwidrigkeit abhängt, von der Beliebigkeit und mangelhaften Begründung75 einer solcherart „vergleichenden Abwägung“ einmal ganz abgesehen: Denn das leichtere Erkennen oder gar „sichere“ Wissen um die bevorstehende Katastrophe erhöht zwar den rechtlich erwarteten Vermeideimpuls, verschafft dem Erkennenden aber nicht automatisch auch die nötige Vermeidemacht, um den Lauf des Geschehens in eine rechtsgutsirrelevante Richtung zu beeinflussen. Man stelle sich nur einen vorübergehend mit den Planungen befassten Experten für Massendynamik und Massenmanagement76 vor, der mit seiner Kritik am Sicherheitskonzept der „Love-Parade“ vergeblich Gehör zu erlangen suchte und schließlich das Geschehen am heimischen Fernseher tatenlos verfolgen muss: Hier käme wohl niemand auf den Gedanken, ihm ungeachtet seiner Vermeideaktivitäten den vorausgesehenen Taterfolg als „vorsätzlich“ oder auch nur „fahrlässig“ zuzurechnen, sofern er den ihm eröffneten Möglichkeitsraum ausgeschöpft hat. Ganz anders wird man es aber sehen, wenn er die Fehlplanung aufgrund seines Expertenstatus sehr wohl hätte abwenden können, dies aber um sachfremder Interessen willen bewusst unterlassen oder leichtfertig versäumt hat. Hieran zeigt sich: Die Erfolgszurechnung entscheidet sich stets nach Maßgabe der jeweiligen Tatbeherrschung. Um dem Handelnden die Wirkung seiner Akte als Urheber zurechnen zu können, muss dieser nach Maßgabe der tatbestandlichen Relevanz als „personales Aktionszentrum“77 in Erscheinung treten, d. h. als ein „Subjekt des Tatgeschehens“78, das die Veränderungen seiner Mitwelt realiter bewirkt.79 Bei aller Konkretisierungsbedürftigkeit des Tatherrschaftskriteriums80 entspricht es inzwischen der in Rspr. und Lehre vorherrschenden Sichtweise, dass hierin das zentrale 75

Es bleibt für das Szenario der nachfolgenden ärztlichen Behandlung (o. bei Fn. 40) insbesondere die Behauptung zweifelhaft, dass mit „einfachen Behandlungsfehlern“ ohne Weiteres gerechnet werden müsse (SK/StGB-Rudolphi/Jäger Vor § 1 Rn. 127; vgl. dagegen § 630a Abs. 2 BGB: Behandlung lege artis geschuldet; zu den strafrechtlichen Folgen: Prütting/Duttge, § 223 StGB Rn. 12); im Übrigen taugt diese Begründung, da dezidiert auf die Besonderheiten ärztlichen Handelns abhebend, auch nicht für sonstige Fallgestaltungen. 76 Oben Fn. 30. 77 Welzel, S. 98. 78 Otto, Schlüchter-GS, S. 77, 92. 79 Otto, Wolff-FS, S. 395 (416). 80 Krit. zuletzt u. a. Renzikowski, Schünemann-FS, S. 495 (499 ff.).

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Unterscheidungskriterium auch für nicht-vorsätzliches Begehen zu finden ist, welches insbesondere auch die eigenverantwortliche Selbst- von der einverständlichen Fremdgefährdung trennt.81 Wenn dies aber für die potentiell tatbestandsausschließende Wirkung des Opferverhaltens gilt, kann es für die Kehrseite – die Frage nach einer tatbestandsbegründenden Wirkung der tatverursachenden Beiträge – nicht anders liegen. Mit dieser Weichenstellung ist allerdings eine sachangemessene Lösung einschlägiger Fallkonstellationen noch keineswegs sichergestellt, sondern es stellen sich – mindestens – zwei Folgeprobleme: Zum einen lassen sich natürlich die erheblichen Unwägbarkeiten bei der rechtspraktischen Operationalisierung des „Tatherrschafts“-Kriteriums schlechterdings nicht übersehen, zum anderen fragt es sich, ob nicht die Sonderkategorie der „Pflichtdelikte“82 im Sinne einer Art „normativen Tatherrschaft“ beim Fahrlässigkeitsdelikt zur generellen Annahme einer täterschaftlichen Tatbegehung drängt. Versteht man unter den letztgenannten freilich allein solche Delikte, bei denen die Täterperson notwendig eine „tatbestandsspezifische Sonderpflicht“ verletzt haben muss, die also per definitionem „nicht jedermann“ trifft (sondern ausschließlich Garanten i.S.d. § 13 StGB, Vermögensbetreuungspflichtige i.S.d. § 266 StGB etc.),83 so hat diese Sonderkategorie für das (aktiv begangene) Fahrlässigkeitsdelikt keine Relevanz84 (und kommt es auf evtl. grundsätzliche Bedenken gegen die Kategorie der „Pflichtdelikte“85 nicht mehr an). Es bleibt jedoch die Aufgabe, Bezugspunkt und Kriterien einer solchen „Tatbeherrschung“ in Situationen nicht-vorsätzlicher Tatbegehungen trennschärfer zu erfassen. Gewiss ist dabei die Ausgangsintuition einleuchtend, dass als Täter nur derjenige gelten kann, der verglichen mit anderen Beteiligten als „Zentralgestalt des Geschehens“ (Roxin) in Erscheinung tritt, d. h. als „Macher“ den Geschehensverlauf „in Händen hält“ (Maurach), qua „Ausübung von Macht“ (Sinn, Lampe) nach eigenem Belieben zu „gestalten“ (Bottke) vermag und auf diese Weise einen wesentlichen „Grund für den [tatbestandsmäßigen] Erfolg“ (Schünemann) setzt.86 Für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte bereitet dieses Grundverständnis allerdings besondere Schwierigkeiten, denn es weckt den Anschein, als ob einem solchen „Beherrschen“ notwendig eine intentionale Sinnkomponente eigen sein könnte, die aber nur bei vorsätzlichem (und jedenfalls nicht bei unbewusst fahrlässigem) Handeln zu finden wäre.87 Die Substanz dieses Einwands ist allerdings nicht von kategorischer Natur, sondern er verweist vielmehr auf eine insoweit noch wenig entwickelte Strafrechts81 Aus der Rspr. insbesondere BGHSt 53 55 ff. (Autorennen-Fall); dazu näher Beulke, OttoFS, S. 207 (210 ff.); Duttge, Otto-FS, S. 227 (238 ff.); Jäger, Schünemann-FS, S. 421 (423). 82 Eingehend Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 352 ff., 739 ff. 83 Roxin, Strafrecht AT/II, § 25 Rn. 14. 84 Siehe dazu aufschlussreich Putzke, Roxin-FS, S. 425 (433 f.). 85 Z. B. MüKo/Freund, Vor §§ 13 ff. Rn. 436 f. und § 13 Rn. 76 ff. 86 Zu den verschiedenen Ausprägungen der Tatherrschaftslehren eingehend Schild, 2009. 87 So z. B. Bottke, in: Coimbra-Symposium, S. 235 (241): „Nur wer weiß, dass er machtvoll im Geschehen steht …, kann das Geschehen bewerken und Täter sein“.

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dogmatik:88 Denn wenn es richtig sein sollte, dass die „Tatherrschaft“ konstitutives Merkmal jeder täterschaftlichen Tatbegehung ist, so muss dies selbstredend auch für das Fahrlässigkeitsdelikt gelten; offen ist dann „nur“, wie sich der konkretisierungsbedürftige Oberbegriff sachadäquat in den Fahrlässigkeitsbereich transferieren lässt. Der Gedanke einer „Risikoherrschaft“89 kann dabei nicht mehr als einen – obgleich zutreffenden – Ausgangspunkt darstellen, weil es erst einer vertieften Analyse bedarf, welche kriteriologischen „Falldimensionen“ hierfür im Einzelnen überhaupt relevant sind und welche Intensität („Ausprägung“) diese im konkreten Fall erreichen müssen, um die normativen Anforderungen zu erfüllen.90 Ohne dass diese Aufgabe im hiesigen Rahmen auch nur ansatzweise geleistet werden könnte, dürfte im Sinne einer ersten Annäherung jedenfalls diese Leitfrage richtungsweisend sein: Ist die Katastrophe in ihrem tatbestandlichen Effekt maßgeblich (auch) auf den Tatbeitrag (Tun oder Unterlassen) dieser Person zurückzuführen, findet sich hierin also ein wesentliches Momentum, das den Ausgang mit Rücksicht auf die obwaltenden naturgesetzlichen wie sozialen Gegebenheiten im Kern zu erklären vermag? Dies wiederum lässt sich am ehesten durch jene Hypothesenbildung eruieren, die dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang ohnehin zu eigen ist.91 Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zum Fahrlässigkeitsdelikt kann dabei Anknüpfungspunkt nicht etwa allein ein Verhalten im Stadium der „kritischen Gefahrenlage“ sein, sondern dieser sehr wohl auch – bei allerdings erhöhten Anforderungen an die Annahme individueller Prognostizierbarkeit der Katastrophe – im vorgelagerten (z. B. Planungs-)Stadium liegen.92 Mehrere „wesentliche“ Tatbeiträge schließen sich nicht etwa wechselseitig aus, sondern stehen im Verhältnis der Nebentäterschaft zueinander. In Bezug auf das eingangs skizzierte Geschehen anlässlich der „Love Parade“ 201093 dürfte es so nach allen dazu bekannten Informationen sowohl für sämtliche mit den Planungen dieses Großereignisses befassten Personen (auf Seiten des Eventveranstalters ebenso wie der Stadtverwaltung) als auch für den Einsatzleiter der Polizei liegen, während es den unmittelbar vor Ort tätigen Polizeibeamten (bei Auslösen der Katastrophe zwar nicht an der „Risikobeherrschungsmacht“, aber) mutmaßlich an der individuellen Möglichkeit fehlte, die Wirkungen ihres Tuns (oder Unterlassens) hinreichend abzuschätzen. Ein solches Zusammentreffen mehrerer täterschaftlicher Tatbeiträge im Rahmen desselben Katastrophengeschehens mag man – wenngleich missverständlich – als „fahrlässige Mittäterschaft“ bezeichnen,94 wenn die mehreren je für sich nicht unwesentlich den tatbestandlichen Erfolg (unvorsätzlich) mitverursachenden Delinquen88

Zutreffend Cuerda Riezu, in: Coimbra-Symposium, S. 259 (263). Schneider, insbes. S. 194 ff., 233 ff. 90 Näher zu diesem typologischen Begriffsverständnis Duttge, in: JRE 11 (2003), S. 103 ff. 91 Siehe etwa MüKo/Duttge, § 15 Rn. 166 ff. 92 Statt vieler nur MüKo/Duttge, § 15 Rn. 131 ff. 93 Oben bei Fn. 22 ff. 94 Siehe o. Fn. 59. 89

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ten nicht etwa zufällig zusammentreffen, sondern bereits jenseits ihrer deliktischen Beteiligung in einem gemeinsamen (als solches sozialadäquaten) Vorhaben arbeitsteilig miteinander verbunden waren. Strafrechtsdogmatische und -praktische Relevanz kommt dem Streit um die neue Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft aber erst dann zu, wenn auf die Feststellung eines tatherrschaftlichen Mitbewirkens bei jedem einzelnen Beteiligten verzichtet werden und schon das außerdeliktische Zusammenwirken ausreichen soll, um für den von einem Fahrlässigkeitstäter (oder einem abgeschlossenen Personenkreis) zurechenbar bewirkten Erfolg auch die anderen (mit-)täterschaftlich zur Verantwortung zu ziehen. Fern des nachvollziehbaren „praktischen Bedürfnisses“95 spricht hiergegen jedoch ein fundamentales Legitimationsproblem, aber nicht minder die de lege lata entgegenstehende Strafgesetzlichkeit: Zu ersterem lässt sich nicht erkennen, wie ein rechtsirrelevantes Zusammenwirken – im Unterschied zur deliktsbezogenen „Gemeinschaftlichkeit“ beim Vorsatzdelikt – als hinreichende Kompensation für das fehlende eigenhändige Bewirken täterschaftlichen Unrechts begründet werden könnte. Dass die dadurch bewirkte Ausweitung der Strafbarkeit dem in einer modernen, hochspezialisierten Gesellschaft gesteigerten Bedürfnis an arbeitsteiligem Miteinander hochspezialisierter Einzelner nicht zuträglich sein kann, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Soweit sich die Gemeinsamkeit aber auch auf die „Pflichtwidrigkeit“ erstrecken soll,96 dürfte es regelmäßig an der postulierten „Strafbarkeitslücke“ fehlen,97 zumal eine „verabredete Pflichtwidrigkeit“98 sogar dolus eventualis nahelegen könnte. Es mangelt aber in rechtsstaatlicher Hinsicht auch an der nötigen gesetzlichen Grundlage, weil § 25 Abs. 2 StGB als Manifestation eines restriktiven Täterbegriffs zwar die mittäterschaftliche Zurechnung beim Vorsatz-, nicht aber beim Fahrlässigkeitsdelikt ermöglicht. Sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch Gesetzessystematik – siehe § 30 Abs. 2 StGB – und Gesetzesmaterialien sprechen deutlich dafür, die hier in Bezug genommene „Gemeinschaftlichkeit“ als eine solche des gemeinsamen deliktischen Strebens zu begreifen und darauf auch zu beschränken.99 Wollte der Gesetzgeber hingegen künftig jedes beliebige pflichtwidrige Mitverursachen des tatbestandlichen Erfolges sanktioniert wissen, so müsste er dies eigens anordnen.

95 An dem es allerdings im bekannten, vielzitierten „rolling stones“-Fall (Schweizerisches Bundesgericht BGE IV 1987, 58 ff.) fehlt, dazu zutr. Roxin, Strafrecht AT/II, § 25 Rn. 240: nebentäterschaftlich begangene fahrlässige Tötung entweder durch Herabrollen des Steines oder durch mitherrschaftliche Beteiligung am Entschluss hierzu. 96 So die Kennzeichnung des Anwendungsfeldes bei MüKo/Joecks, § 25 Rn. 276. 97 Wie hier bereits überzeugend Rotsch, Puppe-FS, S. 887 (905, 907). 98 MüKo/Joecks, § 25 Rn. 279. 99 Dazu näher Puppe, Spinellis-FS, S. 915 (927 f.); grds. auch Schlehofer, Herzberg-FS, S. 355 (367), dann aber im Anschluss unter Verzicht auf das nach h.M. geltende Erfordernis des „gemeinsamen Tatentschlusses“ eine Einbeziehung fahrlässiger Straftaten für möglich haltend.

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V. Ausblick In seiner jüngsten Abhandlung zur Dogmatik des Fahrlässigkeitsdelikts kommt Yamanaka zu dem Schluss, dass die vertiefte theoretische Begründung einer „Organisationsfahrlässigkeit“ und die dazu nötige Entfaltung ihrer Kriterien im Lichte der modernen Risikogesellschaft eine fortbestehende Aufgabe der Strafrechtswissenschaft bleibt.100 Dass diese Aufgabe keine nationale, sondern eine gemeinsame im internationalen Diskurs ist, und der wechselseitige Austausch insbesondere zwischen der japanischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft in besonderer Weise Erkenntnisfortschritte verheißt, dafür steht der verehrte Jubilar wie kaum ein anderer. Es ist ihm – und der deutschen Strafrechtswissenschaft – daher zu wünschen, dass er insbesondere auch die dringliche Fortentwicklung der Fahrlässigkeitsdogmatik wie schon in der Vergangenheit auch künftig weiter vorantreibt; und vielleicht kann der hiesige Beitrag dazu inspirieren.

Literatur Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986 Beulke, Werner: Opferautonomie im Strafrecht, in: Festschrift für Harro Otto, Köln 2007, S. 207 Bottke, Wilfried: Die Struktur von Täterschaft bei aktiver Begehung und Unterlassung als Baustein eines gemeineuropäischen Strafrechtssystems, in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine eines europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, Köln u. a. 1995, S. 235 Burkhardt, Björn: Tatbestandsmäßiges Verhalten und ex-amte-Betrachtung – Zugleich ein Beitrag wider die „Verwirrung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven“, in: Wolter/ Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, Heidelberg 1996, S. 99 Cuerda Riezu, Antonio: Struktur der Täterschaft bei Begehung und Unterlassung im spanischen Strafrecht, in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine eines europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, Köln u. a. 1995, S. 259 Deutsch, Erwin/Ahrens, Hans-Jürgen: Deliktsrecht, 6. Aufl., München 2014 Duttge, Gunnar: Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, Tübingen 2001 – Zum typologischen Denken im Strafrecht – Ein Beitrag zur „Wiederbelebung“ der juristischen Methodenlehre, in: Joerden/Byrd/Hruschka (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik (JRE), Bd. 11 (2003), S. 103 – Erfolgszurechnung und Opferverhalten, in: Festschrift für Harro Otto, Köln 2007, S. 227 – Personales Unrecht: Entwicklungslinien, gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven, in: Jehle/Lipp/Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, Göttingen 2008, S. 195 100

Yamanaka, in: Duttge/Tadaki, S. 16 (Manuskriptfassung).

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– Arbeitsteilige Medizin zwischen Vertrauen und strafbarer Fahrlässigkeit, ZIS 2011, 349 – Subjektive Zurechnung: Funktion und Kriterien, in: Petrova (Hrsg.), Ausgleichende Gerechtigkeit. Festschrift für August Nacke (Processus Criminalis Europeus, Bd. 4), Plovdiv 2016, S. 167 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Teilbd. 22, Leipzig 1952 Lübbe, Hermann: Moralismus oder fingierte Handlungssubjektivität in komplexen historischen Prozessen, in: Weyma Lübbe (Hrsg.), Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, Berlin/New York 1994, S. 289 Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (Hrsg. Joecks/Miebach), Bd. 1, 3. Aufl., München 2016 Otto, Harro: Kausalität und Zurechnung, in: Festschrift für Ernst Amadeus Wolff, Berlin u. a. 1998, S. 395 – Grundlagen der strafrechtlichen Haftung für fahrlässiges Verhalten, in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, Köln u. a. 2002, S. 77 Puppe, Ingeborg: Der gemeinsame Tatplan der Mittäter, in: Festschrift für Dionysios Spinellis, Athen und Komotini 2001, Bd. 2, S. 915 Putzke, Holm: Pflichtdelikte und objektive Zurechnung, in: Festschrift für Claus Roxin, München 2011, Bd. 1, S. 425 Prütting, Dorothea (Hrsg.): Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 4. Aufl., Köln 2016 Rengier, Rudolf: Zur Rolle und Reichweite des Strafrechts bei Katastrophen, in: Festschrift für Jürgen Wolter, Berlin 2013, S. 199 Renzikowski, Joachim: Zurück in die Steinzeit? – Aporien der Tatherrschaftslehre, in: Festschrift für Bernd Schünemann, München 2014, S. 495 Rotsch, Thomas: „Gemeinsames Versagen“ – Zu Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft, in: Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin 2011, S. 887 Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I: Grundlagen – Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., München 2006 Schild, Wolfgang: Tatherrschaftslehren, Frankfurt/Main 2009 – Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II: Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003 – Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl., Berlin 2006 Schlehofer, Horst: Täterschaftliche Fahrlässigkeit, in: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S. 355 Schlüchter, Ellen: Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, Thüngersheim/Frankfurt 1996 Schneider, Steffen: Das Täterschaftsattribut der Risikoherrschaft und die Beteiligungsformen der fahrlässigen Erfolgsdelikte, Berlin 2003 Seher, Gerhard: Bestimmung und Zurechnung von Handlungen und Erfolgen, in: Festschrift für Wolfgang Frisch, Berlin 2013, S. 207

Das Fahrlässigkeitsdelikt im Zeitalter moderner „Katastrophen“

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Sternberg-Lieben, Detlev: Grenzen fahrlässiger actio libera in causa, in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002, S. 217 Systematischer Kommentar zum StGB (Hrsg. Rudolphi/Horn/Samson u. a.), 8. Aufl., Stand: 146. Lfg., Köln 2014 Welzel, Hans: Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., Berlin 1969 Yamamoto, Hiroyuki: Der Wandel der Fahrlässigkeitslehre in Japan, in: Duttge/Tadaki (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungslinien des japanischen Strafrechts im 21. Jahrhundert, 2016 [im Erscheinen] Yamanaka, Keiichi: Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, ZStW 102 (1990), 352 – Gasexplosionsunfälle und strafrechtliche Verantwortung, Jurist Nr. 840, 1985, S. 26 – Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Loos/Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart (Manfred Maiwald zu ehren), Heidelberg 2007, S. 57 (= ders., Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 147) – Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte. Betrachtungen der Fahrlässigkeitsdogmatik anhand der japanischen Entscheidungen, in: Festschrift für Andrezei Szwarc, 2009, S. 279 (= ders., Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 169) – Die strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur. Eine vorbereitende Betrachtung der Begründung der Garantenpflicht bei Unterlassungsdelikten, in: Review of Law and Politics, Nr. 32, 2011, S. 17 (= Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 341) – Katastrophen und Fahrlässigkeitsdelikte – Strafrechtliche Organisationshaftung, in: Rengier (Hrsg.), Die Rolle des Rechts bei der Bewältigung von Katastrophen, 2013 (online: http:// kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/23709/BAND_5.pdf?sequence=1&isAllowed=y), S. 115 – Kurzer Rückblick auf die Fahrlässigkeitsdelikte anhand der Rechtsprechung in Japan, in: Duttge/Tadaki (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungslinien des japanischen Strafrechts im 21. Jahrhundert, 2016 [im Erscheinen]

Zur Problematik und zur Notwendigkeit einer Neufundierung der Notwehrdogmatik Wolfgang Frisch

Einleitung Das Notwehrrecht ist nicht nur das älteste und bekannteste Notrecht, es ist auch eines, das weltweit anerkannt ist. Daraus zu schließen, dass es auch ein besonders gut abgeklärtes und weitgehend identisch gesehenes Recht ist, wäre freilich verfehlt. Nicht nur, dass die Regelungen und die Vorstellungen über die Reichweite dieses Rechts weltweit erheblich divergieren.1 Auch innerhalb ein und desselben Landes finden sich in Bezug auf die Reichweite, das Fundament, die Grenzen und die zentralen Begriffe des Notwehrrechts sehr unterschiedliche Vorstellungen. Keiichi Yamanaka, der verehrte Jubilar, hat dies vor nicht allzu langer Zeit für Japan aufgezeigt;2 wer es für Deutschland bestätigt sehen möchte, braucht nur einen Blick in ein großes Lehrbuch oder einen Kommentar zu werfen. Er wird dann feststellen, dass nicht nur über eine Reihe von Detailfragen des Notwehrrechts Streit besteht. Auch die Berechtigung und das Fundament des üblicherweise so bezeichneten „schneidigen“, nämlich sehr weit gehenden deutschen Notwehrrechts sind nicht unumstritten, desgleichen die Berechtigung, der Anwendungsbereich und die Begründung gewisser Beschränkungen des Notwehrrechts. Der kritische Leser gewinnt alsbald den Eindruck, dass es wohl weniger um Einschränkungen des schneidigen Notwehrrechts als um verschiedene Notwehrrechte für verschiedene Sachverhalte geht. Auch der zentrale Begriff des „rechtswidrigen Angriffs“, gegen den der Angegriffene sich mit dem schneidigen Notwehrrecht soll wehren dürfen, ist nur ganz unzureichend ausgearbeitet: Was man dazu an Definitionen liest,3 ist für eine überzeugende 1 Vgl. den knappen, aber überaus instruktiven Überblick über das Notwehrrecht in Österreich, der Schweiz, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich sowie Brasilien bei Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 350 f. und die eingeh. Darstellung der „Notwehr im internationalen Rechtskontext“ bei LK-Rönnau/Hohn, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 6 – 45. 2 Yamanaka, Zur Entwicklung der Notwehrlehre in der japanischen Judikatur. Der Streit um den Fall der selbst herbeigeführten Notwehrlage, Festschrift für Frisch, 2013, S. 511 ff. 3 Vgl. dazu (vorläufig) etwa Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht. Allg. Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 4 – 9; Bockelmann/Volk, Strafrecht. Allg. Teil, 4. Aufl. 1987, S. 90; LK/Spendel, 11. Aufl. 1992, § 32 Rn. 62; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 341, die auf die bloß drohende, nicht hinzunehmende Verletzung eines Gutes durch ein menschliches Verhalten ab-

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Begründung des schneidigen Notwehrrechts schlicht nicht tragfähig – statt diesen Begriff tragfähig zu konturieren, zieht die herrschende Meinung sich auf vage Erwägungen zur Bedeutung eines durch den rechtswidrigen Angriff zusätzlich verletzten Universalgutes zurück. Die folgende Untersuchung will nicht nur die Schwächen der gegenwärtigen Fundierung des schneidigen Notwehrrechts sowie der Fundierung und Begrenzung der so genannten Notwehreinschränkungen aufdecken. Sie will über die Kritik hinaus auch einen Beitrag zu einer überzeugenderen Fundierung des so genannten schneidigen Notwehrrechts und ansatzweise auch jenes schwächeren Notwehrrechts liefern, das sich hinter den so genannten sozialethischen Einschränkungen verbirgt. Zu diesem Zweck muss vor allem jener rechtswidrige Angriff, der im Lichte einer legitimationsbezogenen Betrachtung die Gewährung eines schneidigen Notwehrrechts zu rechtfertigen vermag, viel stärker präzisiert werden, als dies bislang geschieht. Präzise aufgedeckt werden muss weiter, warum bei Gegebensein dieser Voraussetzungen ein schneidiges Notwehrrecht gegeben werden kann, ja vielleicht sogar – aus Gründen sachgerechter Freiheitsdistribution4 – gegeben werden muss. Wo diese Gründe nicht tragen, kommt nur ein sehr viel beschränkteres Not(wehr)recht in Betracht. Freilich bilden die Fälle des eingeschränkten Notwehrrechts nicht nur die Kehrseite der Nichterfüllung der Voraussetzungen des schneidigen Notwehrrechts. Einschränkungen des Notwehrrechts über das Maß der herrschenden Meinung hinaus ergeben sich auch bei einer Rückbesinnung auf den Hintergrund des Notwehrrechts; eine solche Rückbesinnung deckt Beschränkungen des Notwehrrechts auf, welche sich schon aus staatstheoretischen Erwägungen ergeben. Den damit umrissenen Fragen in einer Festschrift für Keiichi Yamanaka nachzugehen, liegt nicht nur deshalb nahe, weil sich der verehrte Jubilar selbst schon früher und erst vor kurzem wieder eingehend mit grundsätzlichen Fragen der Notwehr befasst und dabei ein eindrucksvolles Bild von der Diskussion in Japan gezeichnet hat. Die deutliche Sympathie, die der Jubilar in seinem Beitrag für eine rationale, rechtsprinzipielle Betrachtung der Notwehrproblematik zum Ausdruck gebracht hat, war es, die mich selbst zum nochmaligen Nachdenken über die deutsche Lösung inspiriert, dabei alte Zweifel neu entfacht und so schließlich zur Entstehung dieser Untersuchung beigetragen hat. stellen, womit sogar an sich nicht sorgfaltswidriges Verhalten erfasst wäre. Die im Schrifttum vordringende Auffassung fordert zwar ein Verhalten mit Handlungsunwert (vgl. Roxin, Strafrecht. Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 14 m.w.N.), lehnt aber eine Beschränkung auf finales oder schuldhaftes Verhalten ab (Roxin, a.a.O. Rn. 10, 17 m.w.N.) – womit bereits ein Versehen, das zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung zu führen droht, ein im Prinzip für das schneidige Notwehrrecht ausreichender Angriff wäre. Hier ist durch die Weite des rechtswidrigen Angriffs die Notwendigkeit einer „Lehre zur Beschränkung des Notwehrrechts“ bereits vorprogrammiert und der eigentliche, das schneidige Notwehrrecht tragende Angriff bleibt undefiniert (näher unten III.). 4 Zur Bedeutung angemessener Freiheitsdistribution für das Ausmaß von Notrechten eingeh. Wilenmann, Freiheitsdistribution und Verantwortungsbegriff, 2014.

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I. Die herrschende Meinung zum schneidigen Notwehrrecht und ihre Problematik 1. Das schneidige Notwehrrecht und seine Begründung durch die herrschende Meinung Nach der in Deutschland noch immer herrschenden, insbesondere auch von der ständigen Rechtsprechung vertretenen Auffassung ist das Notwehrrecht ein außerordentlich weit gehendes und schneidiges Recht. Es unterscheidet sich deutlich vom Notstandsrecht, insbesondere auch von den Befugnissen dessen, der sich in einem Defensivnotstand befindet.5 Wer von einem anderen rechtswidrig angegriffen wird, ist – sofern nicht ein Fall der Notwehreinschränkung vorliegt – nach § 32 StGB berechtigt, das zur sofortigen, sicheren und endgültigen Beendigung des Angriffs Erforderliche zu tun. Er darf also dem Angriff entgegentreten und ihn mit Zwang beenden, auch wenn er ihm (z. B. durch Flucht) ausweichen und seine Güter dadurch retten könnte.6 Dem nur im Notstand Befindlichen wird demgegenüber angesonnen, auf Eingriffe in ihn gefährdende fremde Güter zu verzichten, wenn er seine bedrohten Güter auch durch (zumutbares) Ausweichen erhalten kann. Ein zweiter wichtiger Unterschied, der zugleich die Schärfe des Notwehrrechts kennzeichnet, liegt darin, dass das Notwehrrecht – anders als die Handlungsbefugnis im Notstand – nicht an ein Proportionalitätserfordernis gebunden ist. Erlaubt ist, was zur sofortigen, sicheren und endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich ist.7 Notwendig ist nur, dass sich der Angegriffene auf das mildeste zur sofortigen und sicheren Abwehr erforderliche Mittel beschränkt. Unter dieser Voraussetzung ist nach der herrschenden Meinung auch die Verteidigung von Sachgütern durch massiven körperlichen Zwang und den Einsatz etwa verfügbarer Waffen zulässig.8 Die erforderliche Abwehr ist nach ihr selbst dann gerechtfertigt, wenn die zur Abwehr erforderliche Maßnahme mit tödlichen Risiken für den Angreifer verbunden ist.9 Anders ist 5 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Freund, Strafrecht. Allg. Teil, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 84; Frister, Strafrecht. Allg. Teil, 7. Aufl. 2015, 16/4, 17/21; ders., GA 1988, 291 (292 f.); LKRönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn. 62 ff.; eingeh. Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 13 ff. mit Kritik an der herkömmlichen Erklärung dieses Unterschieds. 6 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 24; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 343 f.; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 49, je m.w.N.; anders, nämlich i. S. einer allg. Ausweichregel (außerhalb der eigenen Wohnung) S. Walther, JZ 2003, 55. 7 So die bei weitem überwiegende Meinung; aus der Rspr. z. B. RGSt 55, 82, (85 f.); 69, 308 (310); 72, 57 (58); BGH GA 1968, 182 (183); 1969, 23 (24); BGH JZ 2003, 963; aus der Lit. z. B. Baumann/Weber/Mitsch ,Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 25; Bockelmann/Volk, Allg. Teil (Fn. 3), S. 91; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 343; Kindhäuser, Strafrecht. Allg. Teil, 7. Aufl. 2015, § 16 Rn. 27 ff.; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 47; abw. aber z. B. Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 (326). 8 Vgl. statt vieler Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 35; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 343; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 47; aus der Rspr. z. B. RGSt 55, 82 (85). 9 RGSt 55, 82 (85); 69, 308 (310); 72, 57 (58); Roxin Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 47.

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dies erst, wenn zwischen dem, was verteidigt wird, und dem, was durch die erforderlichen Verteidigungsmaßnahmen an Gütern des Angreifers beeinträchtigt wird, ein krasses, unerträgliches Missverhältnis (also nicht nur eine Disproportionalität) besteht.10 Zur Begründung dieses außerordentlich weit gehenden Notwehrrechts bedient sich die herrschende Meinung einer „Zwei-Güter(Elemente)-Lehre“. Der durch einen anderen rechtswidrig Angegriffene verteidigt danach durch seine Verteidigungshandlungen nicht nur sein von dem Angreifer rechtswidrig angegriffenes Individualgut (sein Leben, seine körperliche Integrität, sein Eigentum usw.). Er verteidigt durch sein Handeln zugleich ein wichtiges Allgemeingut – nämlich die (Geltung der) Rechtsordnung11. Durch dieses zum Individualgut hinzutretende, ebenfalls verteidigte Allgemeingut sieht die herrschende Meinung nicht nur das Gewicht der für die Verteidigungshandlung sprechenden Interessen entscheidend verstärkt – sodass Handlungen legitimierbar werden, die im Interesse der Erhaltung allein des Individualgutes nicht legitimiert werden könnten12. Das Verständnis der Verteidigungshandlung als Handeln zur Bewährung oder Durchsetzung (der Geltung) der Rechtsordnung ermöglicht es auch, das Verteidigungshandeln einschließlich seiner Schärfe über ein offenbar unangreifbares ehrwürdiges Prinzip zu legitimieren: den Satz, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen müsse.13 Denn das Recht müsste dem Unrecht weichen, wenn es dem rechtswidrig Angegriffenen verboten wäre, sich dem Angriff ent10 So z. B. Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 348 m. Beisp. aus der Rspr.; Maurach/ Zipf, Strafrecht. Allg. Teil I, 6. Aufl. 1983, § 26 Rn. 39; LK/Spendel (Fn. 3), § 32 Rn. 313 ff.; auch gegen diese Einschränkung noch Schmidhäuser, Festschrift für Honig, 1970, S. 185 (198) und Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 36. 11 Vgl. BGHSt 24, 356 (359); 48, 207 (212); BGH MDR 1972, 791 (792); aus der Lit. z. B. Bockelmann/Volk, Allg. Teil (Fn. 3); S. 88 f.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, Nr. 10 A Rn. 4; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 337; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 1 ff.; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl. 2014, § 32 Rn. 1 und 1a; Wessels/Beulke/ Satzger, Strafrecht Allg. Teil, 45. Aufl. 2015, Rn. 481, je m.w.N.; krit. zur h.M. z. B. SKStGB/Günther, 8. Aufl. 2012 (31. EL, Sept. 1999), § 32 Rn. 11 ff.; Freund, Allg. Teil (Fn. 5), § 3 Rn. 86, 91 ff.; Frister, GA 1988, 291 (295); Kargl, ZStW 110 (1998), 38 (39 f., 43 f.); Mitsch, GA 1986, 533 (545); ders., JA 1989, 79 (84); ders. , Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 334 ff.; Pawlik ZStW 114 (2002), 259 (282 ff.); allein i.S. einer monistisch überindividuellen Notwehrkonzeption Schmidhäuser, Studienbuch Strafrecht AT, 2. Aufl. 1985, 6/51; ders. , GA 1991, 97 ff.; i.S. einer monistisch individualrechtlichen Konzeption Freund, Frister, Günther und Mitsch jeweils a,.a.O.; MK-StGB/Erb, 2. Aufl. 2011, § 32 Rn. 18; i.S. eines auf die Philosophie Kants und Hegels zurückführbaren interpersonalen Verständnisses Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 ff. 12 I.d.S. z. B. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 29 f.; ders,. GA 1961, 299 (307, 309); Otto, Grundkurs Strafrecht. Allg. Teil, 7. Aufl. 2004, S. 123 f.; Roxin, ZStW 93 (1981), 68 (76); Rudolphi, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 371 (394). 13 Beispielhaft für diese Querverbindung als Vertreter einer dualistischen Lehre Kühl, Strafrecht. Allg. Teil. 7. Aufl. 2012, § 7 Rn. 10, 12, 13; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 2; i.S. einer analytischen Aufdeckung des Zusammenhangs LK-Rönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn. 62, 65 f. und Kindhäuser, Festschrift für Frisch, 2013, S. 493 – 495, der auf S. 495 f. zugleich der Genese der Formel „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ nachgeht; s. dazu auch Koriath, Festschrift für Müller-Dietz, 2001, S. 361 (363 ff.).

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gegenzustellen und diesen sofort und endgültig abzuwehren – er stattdessen gehalten wäre, seine Güter durch Flucht zu retten. Desgleichen müsste das Recht dem Unrecht weichen, wenn die Erhaltung bestimmter Güter und die Durchsetzung des Rechts nur bei Vornahme bestimmter (insoweit erforderlicher) Handlungen möglich ist, diese dem Angegriffenen aber wegen ihrer Gefährlichkeit für den Angreifer oder einer ungünstigen Relation zwischen der dem Angegriffenen drohenden Beeinträchtigung und den Verletzungen, die dem Angreifer bei Vornahme der erforderlichen Verteidigungshandlung zugefügt würden, verboten ist. Das eben skizzierte außerordentlich schneidige Notwehrrecht (wie auch deren Begründung) ist nicht unumstritten. Der herrschenden Meinung stehen seit langem Auffassungen gegenüber, die das Notwehrrecht stärker begrenzen und an eine Art Proportionalitätserfordernis binden wollen.14 Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem die These, dass zur Verteidigung des Sacheigentums erforderlichenfalls auch Handlungen – wie z. B. der Schuss auf den mit der Beute fliehenden Dieb – zulässig sein sollen, die den Angreifer in Lebensgefahr bringen und unter Umständen zu dessen Tod führen.15 Ob diese Kritik an der herrschenden Meinung im Ergebnis berechtigt ist, muss hier zunächst offen bleiben – dazu bedarf es einer Perspektive, die mehr in den Blick nimmt als die durch den Angriff betroffenen bisher erwähnten Güter. Schon hier lässt sich jedoch sagen, dass die Begründung der herrschenden Meinung für das schneidige Notwehrrecht dieses nicht zu tragen vermag. 2. Die mangelnde Tragfähigkeit der Begründung der herrschenden Meinung Bedenken gegen die Tragfähigkeit der von der herrschenden Meinung vertretenen „Zwei-Güter(Elemente)-Lehre“ weckt zunächst schon ein leicht erkennbarer Befund. Tatsächlich ist der Sachverhalt, dass eine Person mit ihrem Handeln nicht nur fremde Individualgüter oder -interessen, sondern auch das Allgemeingut des Rechts oder dessen Geltung verletzt, ja keineswegs auf die Konstellationen der Notwehr beschränkt. Es gibt ihn auch jenseits der Notwehr. So verletzt der Mieter, der 14 Auch in den Reformarbeiten zum StGB ist wiederholt versucht worden, das Notwehrrecht stärker zu begrenzen, als dies die heutige h.M. tut – so etwa im Radbruch-Entwurf von 1922 und im E 1927 sowie im E 1936, der nur das Notwehrrecht gestatten wollte, das sich in den Grenzen des „gesunden Volksempfindens“ hält. Für eine grundsätzliche Bindung der Notwehr an Proportionalitätsanforderungen aus neuerer Zeit z. B. Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 (326); Schroeder, Festschrift für Maurach, 1972, S. 127 (139) (möglicherweise einschränkend ders., JZ 1988, 567 f.); Schröder, in: Schönke/Schröder, StGB, 17. Aufl. 1974, § 53 Rn. 21: Anlehnung an die Relation des Defensivnotstands in § 228 BGB (gegen diese Beschränkung aber Lenckner ab der 18. Aufl. 1976 in § 32 Anm. 50); aus der Rspr. z. B. BayObLG NJW 1963, 824 (825); s. erg. auch die Zitate in der folgenden Fn. 15 Ablehnend insoweit – meist unter Berufung auf Art. 2 EMRK – z. B. OLG Köln OLGSt § 32 S. 1; Echterhölter, JZ 1956, 142 (143); Frister, Allg. Teil (Fn. 5), 16/27; ders., GA 1985, 553 ff.; Schönke/Schröder/Perron, StGB (Fn. 11), § 32 Rn. 62, dort auch weit. Nachw.; speziell zu den Fällen lebensgefährdender Schüsse auf den fliehenden Dieb näher Perron, Festschrift für Eser, 2005, S. 1019 (1021 f.).

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vertragswidrig die Wohnung weiterbewohnt, die er längst geräumt haben müsste, evidentermaßen das Eigentumsrecht des Vermieters wie (in der Regel durchaus bewusst, vielleicht sogar provozierend) die Rechtsordnung als Universalgut. Gleichwohl versagt die herrschende Meinung dem Eigentümer hier nicht nur ein Notwehrrecht,16 sondern auch ein vergleichbares anderes schneidiges Recht, die Beeinträchtigung seines Eigentumsrechts sofort, sicher und endgültig durch die dazu erforderlichen eigenen Zwangsmaßnahmen zu beenden. Der Eigentümer hat vielmehr gegen die Beeinträchtigung seines Eigentums und die in ihr zugleich liegende Missachtung der Rechtsordnung im Wege der Klage vorzugehen; die Beeinträchtigung seines Eigentums bis zur Vollstreckung des Urteils wird ihm zugemutet – er hat noch nicht einmal ein Selbsthilferecht.17 – In anderen Fällen hat er zwar gegenüber dem, der sein Eigentumsrecht beeinträchtigt und sich zugleich bewusst gegen die Rechtsordnung stellt und diese negiert, ein Selbsthilferecht – wie dann, wenn er den Dieb einer ihm vor einigen Tagen gestohlenen Sache im Besitz dieser Sache trifft und der Dieb sich anschickt, mit der Sache zu fliehen. Aber das insoweit gegebene Selbsthilferecht (§ 229 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) bleibt doch deutlich hinter dem schneidigen Notwehrrecht der herrschenden Meinung zurück. Der Eigentümer hat das Recht, den Dieb festzunehmen oder diesem gewaltsam die Sache wieder abzunehmen.18 Das Recht, den Dieb durch lebensgefährliche Handlungen (z. B. den Einsatz von Schusswaffen) an der Flucht zu hindern, hat er nicht19 – obwohl dieser sein Eigentum (weiter) beeinträchtigt und die Rechtsordnung bewusst missachtet. Die Beeinträchtigung des Individualgutes und des Universalgutes der Rechtsordnung ist so gesehen ersichtlich keine hinreichende Bedingung zur Begründung des schneidigen Notwehrrechts. Offenbar hat dessen Gewährung und dessen etwaige Legitimierbarkeit noch mit anderen Erwägungen zu tun. Gegen die Begründbarkeit des schneidigen Notwehrrechts mit Hilfe der „ZweiGüter-Lehre“ spricht freilich nicht nur, dass die Rechtsordnung in anderen Fällen, in denen Verhaltensweisen sowohl ein Individualgut als auch das Allgemeingut des Rechts beeinträchtigen, kein vergleichbar schneidiges Recht gibt. Die Begründung mit Hilfe der „Zwei-Güter-Lehre“ lässt auch weitgehend im Dunkel, auf welch konstruktivem Weg die hinzutretende Verletzung der Rechtsordnung als Allgemeingut es schaffen soll, dass eine Abwehrhandlung, die als Schutz allein eines 16

Vgl. LK/Spendel (Fn. 3), § 32 Rn. 48 ff.; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 12; Lagodny, GA 1991, 300 (320). 17 Denn dessen Voraussetzungen (nach § 229 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Nicht rechtzeitige Erreichbarkeit obrigkeitlicher Hilfe“ und „Gefahr, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert würde“, wenn bestimmte Selbsthilfemaßnahmen nicht vorgenommen werden) sind hier regelmäßig nicht erfüllt; s. erg. Lagodny, GA 1991, 300 (309 ff., 319 f.). 18 Vgl. statt vieler Grothe, in: Münchener Komm. zum BGB, 7. Aufl. 2015, Rn. 8; Palandt/ Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 75. Aufl. 2016 § 229 Rn. 8. 19 So schon RGSt 69, 308 (311 f.); Palandt/Ellenberger, BGB (Fn. 17), § 229 Rn. 7; Repgen, in: Staudinger, Bürgerliches Gesetzbuch, Komm., 2014, Rn. 37.

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Individualgutes (z. B. wegen Unverhältnismäßigkeit) nicht legitimierbar wäre,20 wegen der Betroffenheit des Universalguts der Rechtsordnung legitimiert werden kann.21 Soweit der Angegriffene dem Angriff nicht ausweichen kann, also bei Gegebensein einer (dem Angegriffenen aufgezwungenen) Kollision zwischen den Gütern und Rechten des Angegriffenen und des Angreifers wäre es vielleicht vorstellbar, dass sich durch den hinzutretenden Angriff auf das Allgemeingut das Gewicht der für die Zulässigkeit der Verteidigung streitenden Interessen so verschiebt, dass das im Interesse allein der Individualgüter nicht Legitimierbare nunmehr legitimierbar wird. Freilich bleibt schon hier vieles vage und spekulativ: Kann man wirklich belegen, dass sich eine mit Lebensgefahr für den Angreifer verbundene Maßnahme zur Verhinderung einer Entziehung von Sacheigentum, die ohne zugleich gegebene Missachtung der Rechtsordnung als Allgemeingut unverhältnismäßig und damit unzulässig wäre, bei zugleich gegebener Verletzung des Rechts als Allgemeingut wegen des Gewichts dieses Rechtsguts in eine (verhältnismäßige und) legitimierbare Verteidigung verwandelt? Einleuchtend wäre das nur, wenn die (Geltung der) Rechtsordnung als Gut von so hohem Rang wäre, dass sie jede Abwägung für sich entschiede. Aber ist das wirklich so?22 Ist das Universalgut der Rechtsordnung tatsächlich ein zur Verletzung des individuellen Rechts hinzutretender weiterer gewichtiger Legitimationsfaktor und nicht nur eine bloße generelle Formulierung des in concreto verletzten Individualrechts? Und was den Rang und das alles aufwiegende Gewicht dieses Universalguts betrifft: Der Vergleich der Strafdrohungen der Straftatbestände zum Schutz des Lebens und der zum Schutz des Rechts (oder der Rechtsordnung) lässt an dieser Stelle erhebliche Zweifel aufkommen. Doch mag das dahinstehen. Evident ist jedenfalls, dass sich mit der Einstellung auch des Gewichts der durch die vorstehende Tat ebenfalls verletzten Rechtsordnung in den Legitimationsansatz nicht überzeugend erklären und begründen lässt, warum der Angegriffene dem Angriff auf sein Gut auch in den Fällen mit Gewalt entgegentreten darf, in denen er die drohende Beeinträchtigung seines Gutes ohne Weiteres durch ein Ausweichen (Flucht) vermeiden könnte (die Verteidigungshandlung zur Erhaltung des vom Angreifer bedrohten Gutes also gar nicht erforderlich ist). Diese Seite des schneidigen Notwehrrecht lässt sich vielmehr allenfalls noch über jenen bekannten Satz erklären und begründen, der einen Teil des Verhältnisses von Recht und Unrecht beschreibt – nämlich den Satz, dass das Recht dem Unrecht nicht 20 Wäre es anders, so bräuchte man die zusätzliche Legitimation in Gestalt der Bewährung der Rechtsordnung ja nicht; zutr. Koriath, Festschrift für Müller-Dietz (Fn. 13), S. 361 (373). 21 Eingehende Analyse der dem „Rechtsbewährungsprinzip“ insoweit anhaftenden Unklarheiten, Denkfehler und Überhöhungen bei Koriath, Festschrift für Müller-Dietz (Fn. 13), S. 361 (363 ff., 367 ff.); Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten (Fn. 11), S. 334 ff. und Frister, GA 1988, 291 (296 ff.). 22 Treffende Kritik an einer solchen Sicht bei Frister, GA 1988, 291 (297 ff.); LK-Rönnau/ Hohn (Fn. 1); § 32 Rn. 66 m.w.N.; MK-StGB/Erb (Fn. 11), § 32 Rn. 17; Neumann, in: Lüderssen/Nestler-Tremel/E. Weigend (Hrsg.), Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, 1990, S. 215 (222 f.); Koriath, Festschrift für Müller-Dietz (Fn. 13), S. 361 (371) und Renzikowski (Fn. 5), S. 81 ff.

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weichen müsse.23 Dieser Satz wird denn auch von der herrschenden Meinung an eben dieser Stelle gerne zur Begründung herangezogen. Der rechtswidrig Angegriffene müsse dem Angriff deshalb nicht ausweichen, sondern dürfe ihm mit der zur Abwehr erforderlichen Gewalt entgegentreten, weil sonst das Recht dem Unrecht weichen müsste.24 Doch so sehr das auf den ersten Blick plausibel erscheint – bei näherer Betrachtung erweist sich diese Art der Argumentation und Beweisführung als verkappter Zirkelschluss. Konkret: Der in dieser Argumentation zur Begründung des nicht Ausweichenmüssens und der Zulässigkeit der erforderlichen Abwehrmaßnahmen bemühte Satz, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen müsse, ist zunächst einmal nicht mehr als eine – überdies höchst vage und konkretisierungsbedürftige – Behauptung, die selbst der Begründung bedarf.25 Verwendet man diese ihrerseits begründungsbedürftige allgemeine Aussage (Nichtweichenmüssen des Rechts gegenüber dem Unrecht) zur Begründung der normativen Richtigkeit einer spezielleren Aussage, die sich semantisch als Unterfall der allgemeinen Aussage verstehen lässt (nämlich dass man gegenüber dem Unrecht nicht ausweichen muss, sondern befugt ist, ihm entgegenzutreten und es sofort und sicher mit den erforderlichen Gewalthandlungen zu beenden), so begeht man im Grunde zwei Fehler: Man übersieht erstens, dass die semantische Verstehbarkeit der spezielleren Aussage als Unterfall der allgemeinen Aussage noch nichts über die normative Richtigkeit der spezielleren Aussage besagt. Und man verkennt zweitens, dass sich die Richtigkeit der spezielleren Aussage nicht dadurch begründen lässt, dass man zu ihrer Begründung einfach auf eine sie einschließende, ihrerseits begründungsbedürftige allgemeine Aussage verweist. Das Ganze ist nichts weiter als ein verkappter Zirkelschluss.26 Freilich darf die Tragweite dieser Kritik auch nicht überschätzt werden: Die Einsicht, dass der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ selbst nur eine noch begründungsbedürftige Aussage ist, schließt es zwar aus, diese Aussage als zureichende Begründung für das schneidige Notwehrrecht durchgehen zu lassen. Sie schließt es jedoch nicht aus, dass sich diese Aussage durch die Anführung von sie stützenden Sachgründen als zutreffend erweisen lässt. Allerdings werden unsere späteren Überlegungen zeigen, dass sie in der üblichen Formulierung viel zu weit geht 23 Zum Ursprung dieses Satzes in der Notwehrtheorie Berners (in: Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1848, S. 547 [554 ff., 570 ff.]) näher Kindhäuser, Festschrift für Frisch (Fn. 13), S. 493 (495 ff.); Koriath, Festschrift für Müller-Dietz (Fn. 13), S. 361 (371); zur Fehldeutung dieser Theorie i.S. einer überindividualistischen Notwehrtheorie Pawlik ZStW 114 (2002), 259 (282 ff., 292 f.). 24 Vgl. statt vieler Schönke/Schröder/Perron, StGB (Fn. 11), § 32 Rn. 1a und 40; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 49, je m.w.N. 25 Zutr. Renzikowski (Fn. 5), S. 80; zust., aber noch weitergehend (die Formel sei „völlig leer“) Koriath, Festschrift für Müller-Dietz (Fn. 13), S. 361 (366); zur heute nicht mehr tragfähigen Begründung des Satzes aus einem absoluten Staatsverständnis vgl. Frister, GA 1988, 291 (295 f.). 26 Die Zirkularität der Ableitungen der h.M. aus ihrem dualistischen Ansatz bemerkt zutr. auch Pawlik, ZStW 114 (2007), 259 (261, 262).

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und nur einen berechtigten Kern hat. Im Grunde hätte das die herrschende Meinung längst selbst bemerken müssen, geht sie doch zugleich davon aus, dass das schneidige Notwehrrecht gegenüber bestimmten rechtswidrigen Angriffen nicht besteht, der Angegriffene hier vielmehr ausweichen muss.

II. Einschränkungen des Notwehrrechts aus „sozialethischen Gründen“ und ihre wahre Bedeutung: Zweierlei Notwehrrecht Dem rechtswidrigen Angriff und damit dem Unrecht ausweichen muss der Angegriffene zunächst dann, wenn der rechtswidrige Angriff von einer nicht verantwortlichen oder (schuldlos) irrenden Person ausgeht; ist ein Ausweichen nicht möglich, so hat der Angegriffene hier nach h.M. das hinzunehmen, was mit der allein gestatteten Schutzwehr nicht abgewehrt werden kann.27 Gleiches wird dem rechtswidrig Angegriffenen von der h.M. dann zugemutet, wenn er den Angriff durch sein rechtswidriges Vorverhalten provoziert oder verursacht hat.28 Begründet wird die Gewährung eines nur bedingten und außerdem eingeschränkten Notwehrrechts dabei im ersten Fall damit, dass der Angriff seitens nicht verantwortlicher oder irrender Personen keinen oder doch jedenfalls keinen wesentlichen Angriff auf die Geltung der Rechtsordnung enthält;29 bei der Provokation oder Verursachung des Angriffs durch rechtswidriges Vorverhalten des Angegriffenen selbst werden als Begründung Erwägungen des Rechtsmissbrauchs30 und die fehlende „Berufenheit“ des Angegriffenen zur Wahrung der Geltung der Rechtsordnung genannt.31 Eine dritte Einschränkung soll darin liegen, dass auch dem Angegriffenen, der nicht ausweichen muss und sich durch Trutzwehr verteidigen darf, trotz fehlender Begrenzung des Notwehrrechts durch ein allgemeines Proportionalitätserfordernis doch solche Verteidigungshandlungen nicht mehr gestattet seien, bei denen die durch die Verteidigungshandlung herbeigeführte Beeinträchtigung des Angreifers in krassem, unerträglichem

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Vgl. zu dieser „Einschränkung“ des Notwehrrechts statt vieler Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 345 f.; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 61 ff.; Schönke/Schröder/Perron, StGB (Fn. 11), § 32 Rn. 52, je m.w.N. (auch der Rspr.). 28 BGH NStZ 1983, 452; BGH JZ 2001, 664 (665); 2003, 961 (964); Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 346 f.; Roxin, Allg. Teil I, § 15 Rn. 65 ff., 69 ff.; Schönke/Schröder/ Perron, StGB (Fn. 11), § 32 Rn. 55 ff., 58 ff. 29 Vgl. etwa Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 345 f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil (Fn. 3), S. 84 f.; Schmidhäuser, Strafrecht. Allg. Teil, 2. Aufl. 1975, 9/104. 30 Vgl. z. B. (für die Fälle der Absichtsprovokation) BGH NStZ 1983, 452; zust. Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 65; ders., ZStW 75 (1963), 541 (580 f.); Wessels/Beulke/Satzger, Allg. Teil (Fn. 11), Rn. 347; s. auch BGHSt 48, 207 (210 f.). 31 Vgl. etwa Roxin, ZStW 75 (1963), 541 (582); mehr sozialpsychologisch argumentierend ders., ZStW 93 (1981), 68 (87 f.); ders., Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 69; Rudolphi JuS 1969, 461 (464); Schönke/Schröder/Perron, StGB (Fn. 11), § 32 Rn. 47, 59 (dort Rn. 54 auch Überblick über weitere Begrenzungsansätze).

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Missverhältnis zu dem durch die Verteidigung abgewehrten Unrecht steht32 – was u. a. damit begründet wird, dass die Einhaltung eines gewissen Maßes dem Wesen eines Rechts schon grundsätzlich entspreche.33 Es fehlt hier der Raum, um der Problematik der Begründung dieser Einschränkungen und gewisser Ungenauigkeiten dieser Einschränkungen oder Grenzen im Einzelnen nachzugehen.34 Das ist für die Zwecke dieser Untersuchung, in der der Schwerpunkt auf der Fundierung des schneidigen Notwehrrechts und der Erfassung der fundierenden Gründe liegt, freilich auch nicht nötig. Insoweit genügt vielmehr zunächst die – durch die Redeweise von den sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts freilich eher verschleierte35 – Erkenntnis, dass die h.M. letztlich (zumindest zwei) verschieden dimensionierte Notwehrrechte kennt: ein so genanntes schneidiges Notwehrrecht, das die zur Abwehr des rechtswidrigen Angriffs erforderliche Verteidigung zugesteht, und ein bedingtes und deutlich reduziertes Notwehrrecht, das im Grunde den Befugnissen des Defensivnotstands entspricht.36 Beide ganz unterschiedlich dimensionierten Notwehrrechte sind dabei offensichtlich unterschiedlichen Sachverhalten rechtswidriger Angriffe zugeordnet. Das wird nur deshalb nicht so recht deutlich, weil die h.M. zwar gewisse Sachverhalte des eingeschränkten Notwehrrechts durch Angabe spezifischer Merkmale benennt, die Sachverhalte aber, in denen dem rechtswidrig Angegriffenen ein schneidiges Notwehrrecht gegeben ist, nicht mehr näher positiv umschreibt. Es wird zudem dadurch verschleiert, dass eine der drei Einschränkungen als Verbot krass unverhältnismäßiger Verteidigungshandlungen formuliert ist – was verdeckt, dass (auch) sie in Wahrheit nur für bestimmte

32 Vgl. z. B. BGH NStZ 1981, 22 (23); 2011, 630 (631); Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, Rn. 39 m.w.N.; Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 81 ff.; engere Grenzen des Notwehrrechts z. B. bei Schönke/Schröder/Perron (Fn. 11), § 32 Rn. 50 a.E.; gegen eine Einschränkung des Notwehrrechts in dieser Hinsicht überhaupt aber Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 36. 33 Vgl. Schönke/Schröder/Perron (Fn. 11), § 32 Rn. 50; Lenckner, GA 1968, 1 (4); zu anderen Begründungen Frister, GA 1988, 291 (310 ff.), der selbst eine Begründung auf der Basis eines individuellen Verständnisses des Notwehrrechts entwickelt (aaO. S. 312 ff.), und LKRönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn. 232. 34 s. dazu z. B. Frister, GA 1988, 291 (307 ff.); Renzikowski (Fn. 5), S. 108 ff. m.w.N. 35 Kritisch zur Problembeschreibung und -lösung durch sog. „sozialethische“ Grenzen des Notwehrrechts auch Marxen, Die „sozialethischen“ Grenzen der Notwehr, 1979, S. 24 ff., 56 ff. 36 Am deutlichsten wird diese Zweiteilung daran, dass manche Autoren bei bestimmten Sachverhalten (z. B. Angriffen von schuldunfähigen Personen oder Irrenden) von vornherein (mangels Angriffs i.S. des § 32) sogleich nur ein Recht aus § 228 BGB geben wollen (vgl. etwa Schmidhäuser, Festschrift für Honig [Fn. 10], S. 185 [196]; SK-StGB/Samson [bis zur 30. EL]), § 32 Rn. 33 – 35; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht. Allg. Teil, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 87); es zeigt sich aber auch, wenn die zugestandenen Befugnisse der Notwehr praktisch auf das Niveau des § 228 StGB (i.V.m. § 34 StGB) abgesenkt werden (vgl. etwa Baumann/ Weber/Mitsch, Allg. Teil [Fn. 3] § 17 Rn. 40).

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Sachverhalte gedacht ist (bzw. nur insoweit relevant wird), für die sich allein ein deutlich reduziertes Notwehrrecht überzeugend begründen lässt.37

III. Defizite in der Konturierung der das schneidige Notwehrrecht eröffnenden Sachverhalte Der Blick auf die sog. sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts macht freilich nicht nur klar, dass der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ nur begrenzt richtig ist, es rechtswidrige Angriffe gibt, denen das Recht – zumindest partiell – weichen muss. Er offenbart zugleich ein zentrales Defizit der gegenwärtigen (deutschen) Notwehrdogmatik: In dieser sind zwar – unter dem irreführenden Titel „sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts“ – die Sachverhalte etwas näher bestimmt, bei deren Gegebensein der rechtswidrig Angegriffene nur ein eingeschränktes Notwehrrecht haben soll. Ersichtlich unzureichend konturiert sind jedoch die Sachverhalte, bei deren Gegebensein der rechtswidrig Angegriffene ein schneidiges Notwehrrecht besitzen soll. Die h.M. versucht nicht einmal im Ansatz, die Sachverhalte, in denen der Angegriffene ein schneidiges Notwehrrecht haben soll, im Hinblick auf diese Rechtsfolge – sofortige, sichere Beendigung des Angriffs – so durch Merkmale zu verdeutlichen, dass es mit Bezug auf sie überzeugend legitimierbar ist, dem rechtswidrig Angegriffenen bei dieser Sachlage ein schneidiges Notwehrrecht zu geben und den Angreifer mit den Folgen der so gestatteten Verteidigungshandlung zu belasten. Stattdessen lässt sie als das schneidige Notwehrrecht auslösenden Angriff das durchgehen, was nach einer zunächst sehr weiten Definition des rechtswidrigen Angriffs (z. B. als drohende Güterbeeinträchtigung, die der Angegriffene nicht hinzunehmen hat38) übrig bleibt, nachdem die etwas näher definierten Sachverhalte des eingeschränkten Notwehrrechts ausgenommen worden sind. Ein solches Verfahren ist nicht nur unter methodischem Aspekt ganz unzulänglich. Es führt auch zu ersichtlich fehlerhaften Konsequenzen, weil damit sogar das fahrlässige Fehlverhalten einer verantwortlichen Person ein schneidiges Notwehrrecht des hierdurch „Angegriffenen“ auslösen könnte39 – obwohl noch nicht einmal durch dif37 Sachlich geht es vor allem um Angriffe auf das Sacheigentum und die Ehre sowie die Unfugabwehr. 38 Vgl. dazu statt vieler Bockelmann/Volk, Allg. Teil (Fn. 3), S. 90; Jescheck/Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 341. Die Bedenken des Textes gelten dabei auch dann noch, wenn man – wie eine verbreitete Lehre – für den (rechtswidrigen) Angriff ein gewisses Handlungsunrecht in Gestalt eines „wenigstens objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens“ verlangt (wie z. B. Roxin, Allg. Teil I [Fn. 3], § 15 Rn. 15; Hirsch Festschrift für Dreher, 1977, S. 211 [224 ff.]), denn auch das ist zur Legitimation des schneidigen Notwehrrechts nicht ausreichend; s. den folgenden Text. Überblick über die unterschiedlichen zum „rechtswidrigen Angriff“ vertretenen Auffassungen bei Frister, GA 1988, 291 (303 f.). 39 Nach manchen (vgl. z. B. Jescheck/Weigend, Allg. Teil [Fn. 1], S. 338, 341 m.w.N.) soll sogar noch nicht einmal objektiv sorgfaltswidriges Verhalten erforderlich sein.

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ferenzierte rechtsfolgenorientierte Erwägungen abgesichert ist, dass auch nur jeder vorsätzliche (nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckte) Angriff auf ein rechtlich geschütztes Gut wirklich ein schneidiges Notwehrrecht zu legitimieren vermag. Diese Defizite in der positiven Umgrenzung jener Sachverhalte, die ein schneidiges Notwehrrecht legitimieren, werden auch nicht dadurch kompensiert, dass die h.M. die das schneidige Notwehrrecht eröffnenden Sachverhalte als „Angriffe auf die Geltung der Rechtsordnung“ kennzeichnet – während es bei den mit einem beschränkten Notwehrrecht bedachten Sachverhalten entweder an einem solchen Angriff auf die Geltung der Rechtsordnung oder an der Berufenheit des Angegriffenen zur Abwehr dieses Angriffs fehlen soll. Dies ist nicht nur deshalb keine ausreichende Präzisierung, weil damit an Stelle der die verschiedenen Rechtsfolgen auslösenden Merkmale des jeweiligen Angriffs schlicht Wertungen benannt werden. Der Versuch, die Sachverhalte, die ein schneidiges Notwehrrecht auslösen, über den Angriff auf die Geltung der Rechtsordnung zu kennzeichnen, enthält auch deswegen keine zureichende Kennzeichnung der ein schneidiges Notwehrrecht auslösenden Sachverhalte, weil das Kriterium des im Verhalten des Angreifers liegenden Angriffs auf die Geltung der Rechtsordnung nach dem früher Gesagten als Fundierung des schneidigen Notwehrechts nicht überzeugen kann.40 In Wahrheit sind es – wie sich alsbald zeigen wird – andere Kriterien und Erwägungen, die das schneidige Notwehrrecht legitimieren. Dementsprechend treffen auch die für das nur eingeschränkte Notwehrrecht angeführten Begründungen, soweit sie sich am Kriterium des Angriffs auf die Geltung der Rechtsordnung (im Sinne des Fehlens eines solchen Angriffs) orientieren, nicht das Entscheidende (nämlich das Nichtgegebensein der wahren, das schneidige Notwehrrecht rechtfertigenden Kriterien). Damit ist zugleich der weitere Gang der Überlegungen vorgezeichnet: Klärungsbedürftig ist, was – unter dem Aspekt der Legitimation des schneidigen Notwehrrechts – das Besondere jener (rechtswidrigen) Angriffe ausmacht, gegen die es sachgerecht, weil zu legitimieren (und vielleicht sogar geboten) ist, ein schneidiges Notwehrrecht zu geben.41 Klarheit in diesem Punkt erleichtert auch eine überzeugende Begründung dafür, warum bei gewissen (anderen) Sachverhalten des rechtswidrigen Angriffs nur beschränkte Notwehrechte (und z. T. noch nicht einmal solche) gegeben werden können.

IV. Die im schneidigen Notwehrrecht stillschweigend vorausgesetzten Angriffe und ihre besondere Relevanz Wer die Spezifika jenes Angriffs erfassen will, zu dessen Abwehr die Gewährung eines schneidigen Notwehrrechts sachgerecht erscheint, muss diametral anders ansetzen, als das in der herrschenden Dogmatik des Notwehrrechts üblich ist. Er darf den Begriff nicht so bestimmen, dass dieser möglichst weit ist und auch noch 40 41

Vgl. oben I. 2. So im methodischen Ansatz auch Jakobs Strafrecht. Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, 12/16 ff.

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alle Fälle des bedingten und eingeschränkten Notwehrrechts einschließt. Er muss den Blick vielmehr von vornherein auf jenen engeren Kreis von Sachverhalten richten, an die man bei der Zubilligung eines schneidigen Notwehrrechts intuitiv denkt, und muss deren Spezifika hervorheben. Nur so wird auch deutlich, was solche Angriffe für das angegriffene Opfer bedeuten und warum es gegen sie ein schneidiges Notwehrrecht geben muss. Unter phänomenologischem Aspekt geht es um Sachverhalte, in denen der Angreifer sein Opfer, dessen Rechte und Güter ganz bewusst,42 meist absichtlich, angreift und diese Rechte (und das Recht überhaupt) damit missachtet: Der Angreifer misshandelt das Opfers; er entzieht ihm die Freiheit, um ihm seinen Willen aufzuzwingen; er will es töten oder vergewaltigen; er versucht, sich dessen Sacheigentum zu verschaffen und geht zu diesem Zweck mit Gewalt gegen das Opfer vor usw. In personaler Hinsicht ist dabei nicht an nicht zurechnungsfähige Täter, sondern an Personen gedacht, die für die Organisation ihres Verhaltens voll verantwortlich sind. Und da es sich im Kern dieser für das schneidige Notwehrrecht in Betracht kommenden Fälle um relativ einfache Sachverhalte handelt, deren Unrechtscharakter jeder verantwortlichen Person geläufig zu sein pflegt, handelt es sich dabei regelmäßig auch um Sachverhalte, deren Unrechtscharakter dem Angreifer bewusst ist43 und von denen dieser weiß, dass er sie (sofort) zu unterlassen hat. Freilich zeichnen sich die Fälle, an die bei der Gewährung des schneidigen Notwehrrechts gedacht ist, nicht nur durch eine (bewusste) Missachtung der Rechte des Opfers und eine Missachtung des Rechts überhaupt aus. Ihnen ist auch ein Weiteres eigentümlich: Der Angreifer versucht über seinen Angriff das angegriffene Opfer seiner Willkür zu unterwerfen; er erhebt sich über dieses und denaturiert es zum Objekt, indem er es unter Verletzung von dessen Rechtsstatus nach seiner eigenen (rechtsverletzenden) Willkür behandelt (bzw. zu behandeln versucht). Das gilt nicht nur – mag es insoweit auch besonders offensichtlich sein –, soweit das Opfer im Rahmen des rechtswidrigen Angriffs zum Objekt oder Mittel der Bedürfnisbefriedigung des Täters gemacht wird (oder gemacht werden soll) – wie in den Fällen der Vergewaltigung oder der Aufnötigung sonstiger sexueller Handlungen, den Fällen, in denen der Angreifer an wildfremden Personen oder Personen, die ihm (unmittelbar) vor der Tat nichts getan haben, seine Wut auslässt, sich abreagiert oder sich durch die intendierte Bestrafung des Opfers über dieses erhebt. Es gilt nicht weniger überall dort, wo der Angriff auf das Opfer der Beseitigung oder Ausschal42

I.S. einer solchen Beschränkung auf die bewusste Missachtung der Rechte und Güter anderer vor allem alle die, die für den rechtswidrigen Angriff i.S. der Notwehr vorsätzliche Güterbeeinträchtigungen fordern (H. Mayer, Strafrecht. Allg. Teil, 1953, S. 204; Renzikowski [Fn. 5], S. 282 ff.; Schaffstein MDR 1952, 132 [136]); doch kann von einer solchen bewussten Missachtung auch bei bewusst fahrlässiger Güterbedrohung die Rede sein (so Frister GA 1988, 291 [305] und wohl auch Freund, Allg. Teil [Fn. 5], § 3 Rn. 98 f.) 43 Durchaus zutreffend daher Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S. 189 (202), der das „Bewusstsein der Regelwidrigkeit“ als für den Angriff i.S. des Notwehrrechts wesentlich ansieht.

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tung eines Hindernisses in der Lebensplanung oder Bedürfnisbefriedigung des Angreifers dient – angefangen bei dem Fall, in dem der Angreifer über seinen Angriff einen unliebsamen Mitwisser loswerden will, bis hin zu den Fällen, in denen die Präsenz des Opfers dem Angreifer den Zugriff auf Sachen oder sonstiges erschwert und das Opfer daher durch Gewalt oder Bedrohung ausgeschaltet oder eingeschüchtert wird. Zum Objekt denaturiert, nämlich seiner Selbstbestimmung beraubt und instrumentalisiert, wird das Opfer auch dann, wenn es durch Schläge, Freiheitsentziehung oder direkte körperliche Bedrohung44 zur Vornahme von Handlungen gebracht werden soll – angefangen bei der Herausgabe von Sachen des Opfers, an die der Angreifer allein nicht kommt, bis hin zur Preisgabe von Informationen usw. Nichts anderes gilt endlich aber auch dann, wenn der Angreifer das Opfer ohne erkennbaren Grund zusammenschlägt oder seinem Willen zu unterwerfen versucht – auch darin liegt eine Missachtung des Opfers als Rechtsperson und eine Verletzung seiner Würde. Der im schneidigen Notwehrrecht vorausgesetzte Angriff ist nach allem mit dem bloßen (auch bewussten) Angriff auf ein Individualgut und zugleich das Universalgut der Rechtsordnung bei Weitem unterbestimmt.45 Was ihn kennzeichnet, ist – über die Verletzung eines auf den Bestand eines Gutes bezogenen Rechts (einer Freiheit) des angegriffenen Opfers und damit zusammenfallend der (Geltung der) Rechtsordnung hinaus – die Missachtung des Opfers als Rechtsperson, dessen Demütigung durch den Angreifer, der sich über das Opfer erhebt und dieses, indem er es seiner Willkür zu unterwerfen versucht, in seiner Personwürde verletzt.46 Dieser in der gegenwärtigen Notwehrdogmatik weitgehend fehlende Aspekt der Missachtung der Personwürde des Opfers ist nicht nur das, was man intuitiv vor Augen hat, wenn man an Konstellationen denkt, die für ein schneidiges Notwehrrecht in Betracht kommen. Er ist in Wahrheit auch das, was in der zutreffenden Begründung des schneidigen Notwehrrechts eine entscheidende Rolle spielt (siehe anschließend V.) und zugleich für die Grenzen des schneidigen Notwehrrechts von Bedeutung ist (VI.).

V. Zur (Neu-)Fundierung des schneidigen Notwehrrechts 1. Vor dem Hintergrund des eben präzisierten Wesens jener rechtswidrigen Angriffe, die im schneidigen Notwehrrecht prinzipiell vorausgesetzt sind, wird klar, 44 Auf die sehr speziellen Probleme einer Bedrohung durch Anzeige und der Schweigegelderpressung kann an dieser Stelle aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden (s. dazu z. B. Amelung GA 1982, 381 ff.; ders. NStZ 1998, 70; Roxin, Allg. Teil I [Fn. 3], Rn. 100 ff.; Kroß, Notwehr gegen Schweigegelderpressung, 2004). 45 Denn das würde auch die Sachverhalte des bewussten Angriffs auf Sacheigentum, den Besitz usw. umfassen; dazu noch unten VI. 3. 46 Der Gesichtspunkt der Missachtung des anderen als Rechtsperson (weniger deutlich der der Missachtung der Personwürde) klingt auch an bei Kargl ZStW 110 (1998), 38 (60 ff.); Köhler, Strafrecht. Allg. Teil, 1997, S. 261 f., (271 f.); Neumann (Fn. 21), S. 215 (225); Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (265, 274) und Stratenwerth, ZStW 68 (1956), 46 (64); s. auch Renzikowski (Fn. 5), S. 275.

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warum es dieses Recht gibt und in seiner Schneidigkeit geradezu geben muss. Der Angegriffene hat gegenüber dem Staat im Blick auf die allgemeinen Aufgaben des Staates nicht nur einen Anspruch auf den Schutz seiner Güter und Rechte,47 sondern kann (in Deutschland) nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes vor allem auch verlangen, dass der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz der menschlichen Würde nachkommt, die nach der Verfassung unantastbar ist und durch den fortschreitenden Angriff beeinträchtigt wird. Kann der Staat diese Verpflichtung mangels Präsenz seiner Institutionen am Ort des Angriffs nicht selbst erfüllen, so muss er daher dem Angegriffenen das Recht geben, der diesem gegenüber erfolgenden Beeinträchtigung seines Rechtsstatus und seiner Würde sofort und endgültig ein Ende zu setzen und so die ihm gegenüber erfolgende unerträgliche Zumutung sofort zu beenden. Würde der Staat das von ihm eingeräumte Notwehrrecht so ausgestalten, dass dieses dem Angegriffenen zumutete, gewisse Beeinträchtigungen seiner Personwürde weiterhin zu ertragen, so würde der Staat selbst damit seine in der Verfassung verankerte Verpflichtung, die unantastbare Würde zu achten und zu schützen, verletzen (jedenfalls wenn sich für eine solche Zumutung nicht ein noch stärkerer verfassungsrechtlich zu beachtender Grund ergibt).48 Schon daraus folgt, dass das Notwehrrecht gegenüber den oben IV. beschriebenen Konstellationen in der Bundesrepublik Deutschland49 ein schneidiges Recht sein muss, das dem Angegriffenen die Befugnis gibt, die ihm gegenüber erfolgende unerträgliche Zumutung sofort, sicher und endgültig zu beenden. Fraglich kann allein sein, ob das unter Umständen einer Relativierung bedarf, wenn die dafür erforderlichen Maßnahmen mit erheblichen Beeinträchtigungen, vielleicht sogar mit erheblicher Lebensgefahr für den rechtswidrigen Angreifer verbunden sind, und ob es auch dann noch gilt, wenn der rechtswidrig Angegriffene dem Angriff ausweichen könnte. 2. Bei der Entscheidung darüber, ob zur Vermeidung gravierender Beeinträchtigungen oder gar einer etwaigen Tötung des Angreifers eine Relativierung des schneidigen Notwehrrechts angezeigt ist, gilt es zunächst eines zu bedenken, was in vielen Plädoyers für eine Einschränkung des Notwehrrechts, die aus der Retrospektive der geschehenen Notwehrausübung mit gravierenden Folgen für den Angreifer argumentieren, nicht hinreichend bedacht wird: Jede Relativierung des schneidigen Notwehrrechts im Interesse der Güter des rechtswidrigen Angreifers bedeutet, dass dem 47 Zur Schutzaufgabe als Grundaufgabe des Staates vgl. etwa BVerfGE 39, 1 (47); 123, 267 (408); weiterer Überblick über die Rspr. des BVerfG bei Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 62 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 137 ff., 145 ff., 254 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Jäger, Vor § 1 Rn. 1 ff. (144. Lfg. 2014); Landau, NStZ 2007, 121 (125, 127). 48 Die oben skizzierte öffentlich-rechtliche, staatstheoretische Dimension der Problematik wird in der strafrechtlichen Diskussion leider weitgehend vernachlässigt; s. dazu auch noch unten VI. 3. 49 Gleiches muss in allen anderen Staaten gelten, die von einer grundsätzlichen Schutzpflicht des Staates und von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde (sowie der Verpflichtung des Staates zu deren Achtung und Schutz) ausgehen.

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in seinem Rechtsstatus und seiner Personwürde betroffenen Opfer die Hinnahme gewisser Beeinträchtigungen zugemutet wird – nämlich die Hinnahme der Beeinträchtigungen, die nur durch den Zugriff auf die sofort und sicher wirkenden, dem Opfer aber versagten Verteidigungsmaßnahmen abgewendet werden können. Der Staat selbst würde damit dem Opfer für diese Fälle nicht nur hinreichenden Schutz seiner Rechte und seiner Personwürde vor Beeinträchtigungen versagen, sondern durch diese Rechtsgestaltung dem angegriffenen Opfer zugleich die Hinnahme von Beeinträchtigungen seines Rechtsstatus und seiner Personwürde zumuten. Eine solche Freiheitsverteilung könnte – wenn überhaupt – allenfalls dann legitimierbar sein, wenn für eine solche Rechtsgestaltung noch wichtigere Rechtsgründe (als die Rechte und die Personwürde des Opfers) sprächen und diese eine solche Rechtsgestaltung unabweisbar notwendig machten. Das ist nicht der Fall. Schon dass die Rechtsgründe, die für eine solche Lösung sprechen, nämlich die Vermeidung von gravierenden Beeinträchtigungen eines rechtswidrigen Angreifers, wichtigere Rechtsgründe seien, lässt sich angesichts des hohen Rangwerts der Personwürde nach unserer Verfassung bezweifeln; doch mag das dahinstehen. Denn jedenfalls fehlt es an der Notwendigkeit, zur Vermeidung von gravierenden Verletzungen (oder von Lebensgefahr) des Angreifers die Verteidigungsmöglichkeit des rechtswidrig Angegriffenen einzuschränken und diesem daher zuzumuten, mangels Zulässigkeit der zur Abwehr erforderlichen Mittel weitere Verletzungen und Beeinträchtigungen seiner Personwürde hinzunehmen. Denn der rechtswidrige Angreifer kann sich vor den gravierenden Folgen, zu denen es bei Gestattung der erforderlichen Verteidigungshandlungen kommt, ohne Weiteres selbst schützen – indem er das tut, was die Rechtsordnung von ihm ohnehin erwartet: nämlich seinen Angriff unterlässt bzw. sofort abbricht.50 Soweit das Opfer zu dem rechtswidrigen Angriff keinen Anlass gegeben hat, gibt es auch keinen Grund, an der alleinigen Zuständigkeit des Angreifers zur Vermeidung der für ihn vermeidbaren Folgen zu zweifeln.51 Dementsprechend hat er sich als verantwortliche Person die Folgen der zum Schutz der Rechte und der Personwürde des rechtswidrig Angegriffenen notwendigen Maßnahmen als Folge seines (bewussten) Angriffs auf das rechtswidrig angegriffene Opfer selbst zuzuschreiben.52 Bei dieser Sachlage dem rechtswidrig angegriffenen Opfer Verteidigungshandlungen zu versagen und ihm damit (weitere) Rechtsbeeinträchtigungen und Beeinträchtigungen seiner Würde zuzumuten, wäre eine Lösung, die aus rechtsprinzipieller Sicht aus mehreren Gründen (Vernachlässigung der Eigenverantwort50

Übereinstimmend Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 1, 36; Frister, GA 1988, 291 (302); Kretschmer, Jura 2002, 114 (117); in der Sache wohl auch Freund, Allg. Teil (Fn. 5), § 3 Rn. 92; Jakobs, Allg. Teil (Fn. 41), 12/18 a.E. 51 Dass der Angegriffene zum Angriff durch sein rechtswidriges Vorverhalten Anlass gegeben hat, ist so gesehen nicht nur ein Fall, in dem das Notwehrrecht eingeschränkt ist (unten VI. 2.), sondern das Nichtvorliegen solcher Veranlassung ist in Wahrheit schon eine stillschweigende Voraussetzung des schneidigen Notwehrrechts, die als solche in manchen Rechtsordnungen auch besonders betont wird; vgl. z. B. den spanischen Código penal Art 20 Ziff 4 (Fehlen einer ausreichenden Provokation auf Seiten des Verteidigers). 52 Ähnliche Zurechnungserwägungen bei Wilenmann, Freiheitsdistribution (Fn. 4), S. 166 ff.

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lichkeit des Angreifers für die Integrität seiner Güter, unvertretbare Hintansetzung des Rechts und der Personwürde des angegriffenen Opfers) verfehlt ist. 3. Aus ganz entsprechenden Gründen geht es (im Normalfall) auch nicht an, dem rechtswidrig Angegriffenen aufzuerlegen, er möge dem Angriff ausweichen, wenn er auf diese Weise sein bedrohtes Gut erhalten kann. Zwar könnte er durch ein solches Ausweichen sein bedrohtes Gut erhalten und zugleich eine Eskalation vermeiden, doch nur um den Preis des Verzichts auf sein Recht zu bleiben und eine dahingehende Autonomie.53 Wie dies legitimiert werden soll, ist nicht zu sehen. Im Interesse des Opfers selbst (vor den Folgen einer Eskalation an den eigenen Gütern) lässt sich ein solcher Rechtsverlust schwerlich legitimieren – die Entscheidung darüber, welches eigene Recht oder Gut ihm wichtiger erscheint, unterliegt prinzipiell allein der Autonomie des Opfers. Zielte das Gebot, dem Angriff auszuweichen, aber auf die Vermeidung von (unter Umständen gravierenden) Folgen beim rechtswidrigen Angreifer, so handelte es sich wiederum um eine völlig inakzeptable Freiheitsdistribution, wenn der bewusst das Opfer Angreifende eine verantwortliche (zurechnungsfähige) Person ist.54 Denn durch die Auferlegung einer solchen Pflicht würde das Opfer hier in seiner Autonomie und Freiheit beschränkt, ohne dass dafür aus normativer Sicht eine Notwendigkeit besteht. Auch hier kann sich der Angreifer vor den mit einer Verteidigungshandlung des (nicht ausweichenden, sondern sich verteidigenden) Opfers etwa verbundenen Folgen ja jederzeit selbst schützen, wenn er nur das tut, was ohnehin von ihm erwartet wird, nämlich den Angriff unterlässt.55 Hat das Opfer ihm zu seinem rechtswidrigen Angriff keinen Anlass gegeben, so ist er (allein) auch derjenige, der dafür zuständig ist und dem durch die Abstandnahme von seinem Angriff Rechnung zu tragen hat, dass es wegen etwaiger Verteidigungshandlungen des Opfers nicht zu Beeinträchtigungen an seinen eigenen Gütern kommt. Trägt er dem nicht Rechnung und kommt es deshalb im Gefolge der Verteidigungshandlung des Angegriffenen an seinen eigenen Gütern zu Beeinträchtigungen, so hat er sich diese Folgen wiederum selbst zuzuschreiben. Bei dieser Sachlage zu seinem Schutz die Rechte des rechtswidrig Angegriffenen durch eine Ausweichpflicht zu beschränken, bedeutete eine nicht legitimierbare Beschränkung der Rechtsstellung des angegriffenen Opfers und eine unangemessene Freiheitsdistribution.56

53 Zu dieser Betroffenheit der Handlungsfreiheit (und Autonomie) auch Freund, Allg. Teil (Fn. 5), § 3 Rn. 93 f.; Wagner, Individualistische und überindividualistische Notwehrbegründung, 1984, S. 30 ff. (insb. 32, 57); Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (273) m.w.N. 54 Zu dem Fall, in dem diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, vgl. unten VI. 1. 55 In der Sache übereinstimmend Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 1; Frister GA 1988, 291 (301 f.). 56 Dazu, dass es auch im Rahmen der Notwehr um ein Problem der Freiheitsdistribution geht. vgl. z. B. Jakobs, Allg. Teil (Fn. 41), 12/16 („Verteilung der Lasten für die Lösung eines sozialen Konflikts“), 30 ff.; eingehend Wilenmann, Freiheitsdistribution (Fn. 4), S. 33 ff., 150 ff., 160 ff.

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Hinzu kommt, dass das Opfer durch eine solche Ausweichpflicht gegenüber dem bewussten Angriff einer verantwortlichen Person zu einem Verhalten gezwungen würde, das viele als Demütigung empfinden.57 Würde ein rechtswidrig Angreifender das Opfer durch seinen Angriff willentlich in die Flucht jagen, so wäre schwerlich daran zu zweifeln, dass der Angreifer das Opfer hier seiner Willkür unterwirft und damit in seiner Personwürde verletzt. Ändert sich daran wirklich Entscheidendes, wenn die Flucht (euphemistisch: das Ausweichen) nicht dem direkten Willen des rechtswidrigen Angreifers entspricht, sondern zu dessen Schutz vom Staat erzwungen würde? 4. Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ in Bezug auf bestimmte rechtswidrige Angriffe im Prinzip richtig ist. Freilich enthält der Satz nur eine Beschreibung oder Behauptung, die selbst der Begründung bedarf; und er trifft auch nur in Bezug auf bestimmte rechtswidrige Angriffe, längst nicht für alle, zu.58 Der Satz ist insoweit richtig, als (und weil) der rechtswidrig Angegriffene aus (den vorstehend genannten) eigenständigen Rechtsgründen gegenüber bestimmten Angriffen von Rechts wegen weder zu einem Ausweichen noch zu einem Verzicht auf gewisse (gefährliche) zur Abwehr des Angriffs erforderliche Verteidigungshandlungen verpflichtet werden darf. Die Angriffe, für die das zutrifft, sind die bewussten Angriffe verantwortlicher (zurechnungsfähiger) Personen, die über eine Verletzung der Rechte des Opfers hinaus auch eine Verletzung der Personwürde des Opfers enthalten. Diese nicht hinnehmen zu müssen und sofort unterbinden zu dürfen, darf das Opfer vom Staat verlangen. Richtig ist der Schutz in Bezug auf derartige Angriffe deshalb, weil sich hier eine Pflicht des Opfers zum Ausweichen oder zum Verzicht auf erforderliche Verteidigungshandlungen im Interesse der Güter des Angreifers nicht begründen lässt, da dieser seine Güter durch einen Verzicht auf den Angriff oder dessen Fortsetzung jederzeit selbst schützen kann und dafür auch allein zuständig ist,59 wenn das angegriffene Opfer dem Angreifer keinerlei Anlass zu dessen rechtswidrigem Angriff gegeben hat. Die Dinge ändern sich, wenn diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. Hier ist es durchaus denkbar, dass das Recht dem Unrecht (einem rechtswidrigen Angriff) – zumindest partiell – weichen muss.

57 Die heute gern kritisierte Formel des Reichsgerichts, dass eine „schimpfliche Flucht“ dem Opfer nicht zugemutet werden könne (RGSt 66, 244 [245]; ebenso BGH NJW 1980, 2263), hat so gesehen einen durchaus berechtigten Kern. 58 Zu Fällen rechtswidriger Angriffe, für die der Satz nicht gilt, vgl. unten VI. 3. und schon oben I. 2. 59 Dazu, dass es im Normalfall der Notwehr um eine Zuständigkeit des Angreifers für die Lasten der Erledigung eines sozialen Konflikts geht, vgl. auch Jakobs, Allg. Teil (Fn. 41), 12/ 17 und Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (264).

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VI. Einige Bemerkungen zu den Gründen und Sachverhalten eines eingeschränkten Notwehrrechts 1. Partiell weichen muss das Recht dem Unrecht zunächst dann, wenn es um rechtswidrige Angriffe von Personen geht, gegenüber denen nicht mehr argumentiert werden kann, dass sie sich die Folgen, die bei erforderlichen Verteidigungshandlungen an ihren eigenen Gütern eintreten, selbst (nämlich ihrer autonomen Entscheidung) zuzuschreiben haben, weil sie diese jederzeit hätten vermeiden können, wenn sie nur das getan hätten, was von ihnen ohnehin erwartet wurde – nämlich ihre rechtswidrige Tat zu unterlassen. Diese Argumentation ist nicht mehr möglich, wenn es sich bei den Angreifern um Personen handelt, denen die Fähigkeit fehlt, das rechtlich Erwartete zu erfassen und ihr Handeln hieran auszurichten, also nicht zurechnungsfähigen (schuldfähigen) Personen (wie Geisteskranken, Kindern, Betrunkenen) oder über die Qualität ihres Handelns als rechtswidriger Angriff Irrenden. Da diese Personen die Erhaltung ihrer Rechte und Güter durch die richtigen Entscheidungen in der Situation nicht selbst verantwortlich wahrnehmen können,60 muss die Rechtsordnung hier dem Angegriffenen im Interesse des Schutzes der Güter und Rechte des nicht verantwortlichen Angreifers gebieten, auszuweichen, wenn dies möglich ist und er so seine eigenen Güter erhalten kann; im Übrigen muss die Rechtsordnung ihn zur Verhinderung gravierender Verletzungen des Nichtverantwortlichen auf Schutzwehr beschränken. Dies und nicht die fehlende Notwendigkeit der Bewährung der Rechtsordnung wegen des Fehlens eines Angriffs auf deren Geltung ist der Grund dafür, dass es in diesen Fällen nur ein eingeschränktes und zudem bedingtes Notwehrrecht gibt.61 2. Beschränkt ist das Notwehrrecht weiter dann, wenn der rechtswidrig Angreifende für die Vermeidung der im Zuge von erforderlichen Verteidigungshandlungen bei ihm etwa eintretenden Güterbeeinträchtigungen nicht allein zuständig ist, sondern eine gewisse Zuständigkeit dafür auch den Angegriffenen trifft. So liegt es, wenn dieser den rechtswidrigen Angriff durch eigenes rechtswidriges Vorverhalten (voraussehbar) ausgelöst hat. Da er in diesem Fall den Konflikt und die drohende Eskalation mitverursacht hat, ist er hier auch mit dafür zuständig (und kann deshalb zu geeigneten Maßnahmen angehalten werden), dass es nicht zur Eskalation und den im Gefolge erforderlicher Verteidigungshandlungen bei dem Angreifer eintretenden Folgen kommt.62 Wo Ausweichen (und auf diese Weise auch die Erhaltung der eigenen Güter) möglich ist, kann dies am besten durch Ausweichen erreicht werden, 60 Übereinstimmend Baumann/Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 90; SK-StGB/ Günther (Fn. 11), § 32 Rn. 119. 61 Ebenso Baumann/Weber/Mitsch , Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 40; dass es in den im Text genannten Fällen auch an einer Missachtung der Person des Angegriffenen (dazu oben IV.) fehlt (so Pawlik ZStW 114 [2002], 259 [274]), ist dagegen richtig. 62 In der Sache übereinstimmend Jakobs, Allg. Teil (Fn. 41), 12/49 ff. (Mitzuständigkeit für den Angriff, Rn. 54); nicht überzeugend insoweit Baumann/Weber/Mitsch Allg. Teil (Fn. 3); Mitsch, GA 1986, 533 (545); Frister GA 1988, 291 (310), die auch hier ausschließlich darauf abstellen, dass der Angreifer sich vor den ihn treffenden Folgen ja selbst schützen könne.

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wozu der Veranlasser des Angriffs dementsprechend bei dieser Sachlage auch verpflichtet werden kann; sonst, indem die Notwehr auf weniger gefährliche Abwehrmaßnahmen, insbesondere Schutzwehr, beschränkt wird. Die von Teilen der h.M. behauptete fehlende Berufenheit des Veranlassers zur Verteidigung der Rechtsordnung63 trifft diesen wahren Grund für die Gewährung eines nur bedingten und überdies beschränkten Notwehrrechts dagegen ebenso wenig wie die Argumentation aus dem Gedanken des Rechtsmissbrauchs.64 3. Nur ein (freilich unbedingtes) beschränktes und kein schneidiges Notwehrrecht kommt auch dann in Betracht, wenn zwar keiner der eben genannten Sachverhalte vorliegt, der Angriff selbst aber nicht zum Kreis der rechtswidrigen Angriffe gehört, die als unerträgliche Zumutung für die Rechtsperson (oben IV.) sofort, sicher und endgültig mit den dafür erforderlichen Mitteln müssen beendet werden dürfen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der rechtswidrige Angriff keine Beeinträchtigung der Person und ihrer Würde enthält, sondern sich in der Entziehung, der Beeinträchtigung oder der Beschädigung von Sacheigentum, der Störung des Besitzes oder sonstiger Vermögensrechte erschöpft. Zwar kann sich der rechtswidrig Angegriffene auch gegen solche Angriffe in der Regel65 sofort (also unbedingt) mit Gewalt zur Wehr setzen – denn zur Wiedererlangung der Sache kann er unter bestimmten Voraussetzungen ja sogar noch nach der Beendigung des Angriffs in Form der Selbsthilfe (§ 229 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) Gewalt anwenden und zur Verhütung entsprechender Entziehungen kann er im Rahmen und in den Grenzen des Defensivnotstands (§ 228 BGB) schon vor dem drohenden Angriff Maßnahmen mit Gewaltwirkung ergreifen.66 Wie im Rahmen dieser Befugnisse können dem rechtswidrig Angegriffenen dabei allerdings auch in der Notwehrsituation nur Verteidigungsmaßnahmen zugestanden werden, die nicht unverhältnismäßig sind – jedenfalls wenn und solange aus dem Angriff auf die Sache nicht auch ein Angriff auf die Person wird.67 Denn es lässt sich wohl kaum überzeugend begründen, weshalb die bloße Anwesenheit des Opfers (oder dessen Hinzukommen) während des Zugriffs auf die Sache, ohne dass es zu irgendeinem Angriff auch auf die Person des Opfers kommt, weitergehende Rechte (auf die Ergreifung auch erforderlicher unverhältnismäßiger Maßnahmen) soll begründen können. Der lebensgefährliche Schuss auf den Dieb, der nichts weiter im Sinn hat, als eilends mit der Beute zu fliehen, ist daher nicht mehr durch Notwehr 63

Vgl. etwa Roxin, ZStW 75 (1963), 541 (582); Rudolphi, JuS 1969, 461 (464). Von einem solchen könnte vielmehr allenfalls in den praktisch kaum bedeutsamen Fällen der Absichtsprovokation die Rede sein. 65 Zu Ausnahmen im Blick auf die Subsidiarität des Notwehrrechts oben I. 2. und eingeh. Lagodny, GA 1991, 300 (309 ff., 312, 319 f.). 66 Eine andere Lösung wäre hier die über das erlaubte Risiko; dazu Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 52 f. 67 Greift der überraschte Dieb das Opfer dagegen an oder übt er Gewalt gegen dieses, wenn dieses ihm das Diebesgut abzunehmen versucht, so liegt darin selbstverständlich ein das schneidige Notwehrrecht legitimierender Angriff. 64

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gedeckt68 – und zwar nicht nur dann nicht, wenn der Dieb mit irgendwelchen Kleinigkeiten (also im Fall eines so genannten krassen, unerträglichen Missverhältnisses),69 sondern auch dann, wenn er mit der prall gefüllten Brieftasche flieht (nach h.M. wohl eine „bloße“ Unverhältnismäßigkeit und damit noch vom Notwehrrecht gedeckt). Die Verweigerung des (schneidigen) Notwehrrechts nur bei Maßnahmen, die zu krass unerträglichen Folgen führen, beschreibt so gesehen die Grenzen zwischen Gestattetem und nicht Gestattetem nicht zutreffend (und macht auch nicht deutlich, dass die Beschränkung des Notwehrrechts nur für solche Angriffe gelten kann, die die Personwürde unberührt lassen70). Bestätigt wird die Zubilligung nur eines (zwar nicht bedingten, aber) beschränkten Notwehrrechts in diesen Fällen durch eine Rückbesinnung auf den staatstheoretischen Hintergrund des Notwehrrechts71 (die sich zugleich auch für andere Rechtsgutsangriffe als weiterführend erweist72). Das Notwehrrecht soll dem von einem rechtswidrigen Angriff Betroffenen ein Recht auf Verteidigung seiner Güter und Rechte geben, wenn der (zu seinem Schutz verpflichtete) Staat ihn gegen die Angriffe mangels Präsenz seiner Organe nicht schützen kann.73 Hieraus ergibt sich zugleich eine Grenze für ein subsidiär verstandenes Notwehrrecht: Dieses kann nicht über das hinausgehen, was der Staat selbst bei gedachter Präsenz an Maßnahmen gegen den Angriff und den Angreifer ergreifen dürfte – mehr als er selbst darf, kann der Staat dem Angegriffenen an Rechten nicht übertragen.74 Da der Staat in einem die Grund68 Übereinstimmend Schönke/Schröder/Perron (Fn. 11), § 32 Rn. 62 m. eingeh. weit. Nachw.; aus der Rspr. z. B. OLG Köln OLGSt § 32 S. 1; LG München NJW 1988, 1860 (1862). 69 Hier entspräche dies ja auch der Auffassung der durchaus h.M.; vgl. statt vieler Jescheck/ Weigend, Allg. Teil (Fn. 1), S. 347 f. m. Beisp. aus der Rspr.; Roxin, Allg. Teil I (Fn 3), § 15 Rn. 83 f. m. Beisp. in Rn. 89. – A.A. (volles schneidiges Notwehrrecht) selbst hier Baumann/ Weber/Mitsch, Allg. Teil (Fn. 3), § 17 Rn. 40. 70 Was auch für die Fälle der sog. „Unfugabwehr“ (dazu Jescheck/Weigend, Allg. Teil [Fn. 1], S. 348) zutrifft – sofern sich hier überhaupt von einem „Angriff“ sprechen lässt. 71 Der staatstheoretische Hintergrund des Notwehrrechts und die sich daraus ergebenden Restriktionen werden in der strafrechtlichen Diskussion um das Notwehrrecht leider fast vollständig vernachlässigt – die Diskussion ist, wenn sie tiefer ansetzt, praktisch auf die horizontale Ebene (Angreifer/Opfer) beschränkt und blendet den staatstheoretischen Hintergrund des Notwehrrechts praktisch aus. Vgl. allerdings Sengbusch, Die Subsidiarität der Notwehr, 2008, insbes. S. 112 ff.; Kroß, Notwehr gegen Schweigegelderpressung, 2004, S. 34 ff.; auch Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 (306 ff., 309). 72 Etwa für Angriffe auf die Ehre, für Unfugabwehr usw. 73 Zu der darin liegenden Durchbrechung des dem staatlichen Gewaltmonopol korrespondierenden Gewaltverbots unter Privaten vgl. Sengbusch, Subsidiarität (Fn. 71), S. 122 f. m.w.N. 74 Dies gilt, entgegen Sengbusch, Subsidiarität (Fn. 71), S. 115 ff. (insbes. 123), unabhängig davon, ob man in der Ermächtigung des Bürgers zur gewaltsamen Abwehr des Angriffs eine „Beleihung mit staatlicher Macht“ sieht oder nicht; zutr. schon v. Buri, GS 30 (1879), S. 434 (463); gegen „sonderbare“ Differenzierungen zwischen privaten und staatlichen Befugnissen auch Roxin, Allg. Teil I (Fn. 3), § 15 Rn. 87. – Der Gedanke des „Wiederauflebens des status naturalis“ (s. die Nachw. bei Sengbusch a.a.O.), der sich übrigens auch nicht mit der

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rechte achtenden Rechtsstaat auf die Ergreifung verhältnismäßiger (i.S. von nicht unverhältnismäßigen) Maßnahmen beschränkt ist, bedeutet dies, dass er auch seinen Bürgern für Notwehrsituationen keine umfassenderen Rechte übertragen kann. Das wirkt sich zwar dort nicht aus, wo von dem rechtswidrigen Angriff besonders hochwertige Güter betroffen sind und der Angriff auch die Würde der Person beeinträchtigt – hier sind angesichts der im Angriff liegenden unerträglichen Zumutung die zur sofortigen Beendigung dieser Zumutung erforderlichen Mittel auch dann nicht unverhältnismäßig, wenn sie mit der Gefahr der Beeinträchtigung wichtiger personaler Güter (Leib, Leben) des Angreifers verbunden sind.75 Es wirkt sich jedoch dort aus, wo vom Angriff nur wesentlich weniger gewichtige Güter betroffen sind und die Zurückweisung des Angriffs allein über die Beeinträchtigung weitaus wichtigerer Güter (oder Interessen) des Angreifers möglich ist. So liegt es insbesondere dann, wenn der Angriff lediglich das Sacheigentum betrifft, eine Abwehr jedoch Maßnahmen erforderlich machen würde, die mit der Gefahr des Todes des Angreifers verbunden sind. Solche Maßnahmen wären dem Staat selbst verwehrt – das sehen auch die Polizeigesetze entsprechend, die dabei ihrerseits dem Grundgesetz und dem Artikel 2 der EMRK Rechnung tragen: Der Einsatz tödlich wirkender Mittel ist danach u. a. auf Maßnahmen zum Schutz von Personen vor Gewalt beschränkt (Absatz 2a); der Schutz von Sacheigentum rechtfertigt entsprechende staatliche Maßnahmen nicht. Dann kann auch ein Notwehrrecht des Angegriffenen, das sich als Surrogat für staatliche Befugnisse in bestimmten Situationen versteht und insoweit an die Grenzen des dem Staat selbst Erlaubten gebunden ist, nicht das Recht umfassen, drohende Verletzungen des Sacheigentums mit unter Umständen tödlich wirkenden Mitteln abzuwehren.76 Es wäre interessant, diese Überlegungen in Richtung auf einige andere, immer wieder diskutierte Angriffe (z. B. auf die Ehre, auf kollektive Rechtsgüter) weiterzuführen. Das muss hier aus Raumgründen unterbleiben. Ich widme diese Zeilen Keiichi Yamanaka, dem verehrten, lieben Freund, als Zeichen des Dankes für viele interessante Begegnungen und fruchtbare Gespräche in den letzten mehr als zwei Jahrzehnten, verbunden mit den besten Wünschen zur Vollendung des 70. Lebensjahres und für die Zeit als Emeritus.

Grenze der „krassen Unverhältnismäßigkeit“ verträgt (woher sollte diese im Naturzustand kommen?), ist nichts weiter als eine unbewiesene (Zweck-)Behauptung. S. dazu weiterführend Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 (279 ff.); Renzikowski (Fn. 5), S. 222 ff., 231. 75 Weshalb staatlichen Organen in bestimmten Fällen unter engen Voraussetzungen auch die Tötung des Angreifers (z. B. im Falle eines anders nicht zu beendenden Menschenraubes mit Todesgefahr für das Opfer) gestattet ist, s. dazu z. B. Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2015, Rn. 727 ff.; Rachor, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Rn. 918 ff., 928 ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2016, Rn. 560 ff., je m.w.N. 76 So im Ergebnis auch Schönke/Schröder/Perron (Fn. 11), § 32 Rn. 62; Frister, Allg. Teil (Fn. 5), 16/27; ders. , GA 1985, 553 ff.; ders., GA 1988, 291 (314); bei beiden eingeh. weit. Nachw. der Vertreter dieser Auffassung.

Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tat bei Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen des Opfers Zugleich eine Besprechung von BGH 1 StR 518/08 vom 29. 04. 2009 Volker Haas

I. Einleitung Die freundschaftliche Verbundenheit zwischen dem verehrten Jubilar und mir reicht bis in die Tübinger Zeit zurück. Damals haben wir oft miteinander kontrovers diskutiert. Die Diskussionen bestanden häufig darin, dass der Jubilar mir einen schwierigen bzw. kniffligen Fall vorstellte und mich anschließend fragte, wie ich diesen Fall zu lösen gedenke. Die Wahl des Falles erfolgte nicht zufällig: Zumeist diente er dazu, meine theoretischen Grundannahmen, die von der herrschenden, auch vom Jubilar geteilten Lehre abwichen, in Zweifel zu ziehen. Meine Bemühungen waren offensichtlich nicht besonders erfolgreich. Noch heute ist der Jubilar einer der prominentesten Vertreter der objektiven Zurechnungslehre. Er hat ihr wichtige Impulse vermittelt und maßgeblich zur Verbreitung dieser Doktrin in Japan beigetragen.1 Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tat bei Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen des Opfers und betrifft damit einen zentralen Anwendungsbereich der objektiven Zurechnungslehre. Dabei soll das Procedere nunmehr umgekehrt werden. Der Untersuchung wird daher ein – in Deutschland viel zu wenig beachteter – Fall vorangestellt, den der Bundesgerichtshof im Jahre 2009 zu entscheiden hatte. Zunächst wird wiedergegeben, aus welchem Grund die Rechtsprechung Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen des Opfers berücksichtigt und wie der Bundesgerichtshof den Fall gelöst hat. Anschließend geht der Beitrag auf die in der Literatur vertretenen dogmatischen Grundansätze und Lösungsvorschläge ein. Nach kritischer Analyse der vorgefundenen Positionen schließt die Untersuchung mit der Skizze eines eigenen Modells und zeigt, wie der vom Bundesgerichtshof entschiedene Sachverhalt zu lösen ist.

1 Yamanaka, Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht, 1997; ders., Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 57 ff.

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In der Nacht zum 21. Januar 2006 kamen B K und Ü Y überein, gemeinsam Kokain zu konsumieren. B K wandte sich daher an den Angeklagten, von dem er wusste, dass man bei ihm Kokain erhalten konnte. Dieser erklärte sich bereit, B K und Ü Y Kokain zu überlassen, holte aus seinem Vorrat Rauschgift und portionierte dieses in zwei zusammengerollten Zehn-Euro-Scheinen, die er B K und Ü Y zum Konsum übergab. Er wusste jedoch nicht, dass es sich bei dem von ihm übergebenen Rauschgift nicht um Kokain handelte, sondern um reines Heroin. Entweder hatte er das Heroin von seinem Lieferanten als das entsprechende Kokaingemisch erhalten oder er hatte sowohl Kokain als auch Heroin vorrätig und die Mengen beim Herausnehmen aus seinem Vorrat verwechselt. B K konsumierte das Heroin und verstarb wenige Stunden später infolge eines ausschließlich hierdurch verursachten zentralen Regulationsversagens.

II. Dogmatischer Begründungsansatz und Lösung der Rechtsprechung Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB durch das Landgericht bestätigt und die Rechtsansicht des Generalbundesanwalts, dass sich der Angeklagte lediglich an einer vorsätzlichen Selbstgefährdung des B K beteiligt habe, zurückgewiesen. Zwar treffe es zu, dass eigenverantwortlich gewollte, mithin zumindest in Kauf genommene Selbstgefährdungen und Selbstverletzungen nicht dem Tatbestand eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts unterfielen. Wer sich daran beteilige, nehme an einem Vorgang teil, der – soweit es um die Strafbarkeit wegen eines solchen Delikts gehe – keine Tat im Sinne der §§ 25, 26, 27 I StGB darstelle. Der sich vorsätzlich Beteiligende könne daher infolgedessen nicht als Anstifter oder Gehilfe bestraft werden. Wer das zumindest selbst gefährdende, eigenverantwortliche Verhalten eines anderen fahrlässig veranlasse, ermögliche oder fördere, könne zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs nicht strafbar sein, wenn er sich im Falle vorsätzlichen Handelns nicht strafbar machen würde.2 Der Bundesgerichtshof übernimmt damit die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, die sich expressiv verbis auf die Beteiligungslehre bzw. auf die Trennung zwischen Täterschaft und Teilnahme sowie auf das in den §§ 15, 18 StGB zum Ausdruck kommende Stufenverhältnis der Schuldformen beruft.3 Allerdings soll sich der Angeklagte bei Anwendung dieser Maßstäbe wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben. Die Straflosigkeit setze voraus, dass das Opfer sich frei und eigenverantwortlich selbst gefährdet habe. Daran fehle es nicht nur, wenn ein autonomes Handeln beispielsweise in Folge einer Intoxikationspsychose ausgeschlossen sei, sondern auch bei einem die Selbstverantwort2

BGHSt 53, 288 ff. BGHSt 24, 342, 344; 32, 262, 264 f.; BGH, NStZ 1984, S. 452; 1985, S. 25; 1986, S. 266, 267; 1987, S. 406; 1992, S. 489; 2001, S. 205; BGHSt 53, 55 ff.; BGH, NStZ 2011, S. 341 ff.; BGHSt 59, 150 ff.; 59, 292. 3

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lichkeit betreffenden Irrtum. Einem derartigen rechtserheblichen Irrtum sei das Opfer B K unterlegen, obwohl den am illegalen Umgang mit Betäubungsmitteln beteiligten Personen die Wirkstoffkonzentrationen und der Gehalt eventuell beigemengter Stoffe regelmäßig nicht bekannt seien. Das festgestellte Geschehen habe aber außerhalb eines solch üblichen Gefahrenbereichs gelegen, da B K nicht wie gewünscht Kokain, sondern Heroin erhalten und daher das eingegangene Risiko grundlegend verkannt habe. Hätte der Angeklagte dem Opfer B K vorsätzlich reines Heroin zum Konsumieren ausgehändigt, wäre er nach Auffassung des Bundesgerichtshofs wegen eines in mittelbarer Täterschaft begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikts zu verurteilen gewesen. Das Teilnahmeargument gehe somit fehl, weil B K irrtumsbedingt das tatsächliche Risiko verkannt habe.4 Der Bundesgerichtshof bejaht schließlich auch die Sorgfaltswidrigkeit. Der Angeklagte habe zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei dem Rauschgift um Kokain handele. Eine derartige Erklärung habe er jedoch nur abgeben dürfen, wenn er sich zuvor vergewissert, dass es sich tatsächlich um dieses Rauschgift handele. Einer derartigen Prüfungspflicht stehe nicht entgegen, dass der unerlaubte Umgang mit Betäubungsmitteln unter Strafe gestellt sei. Andernfalls würde derjenige, der sich in ohnehin strafbarer Weise verhalte, gegenüber demjenigen besser gestellt, der grundsätzlich erlaubt potenziell risikobehaftete Stoffe an andere weitergebe. Beispielsweise hätten Ärzte und Apotheker zuvor zu prüfen, ob sie dem Kunden das richtige Medikament aushändigen würden. Eine Ablehnung der Prüfungspflicht laufe darüber hinaus dem vom Gesetzgeber verfolgten Schutzzweck zuwider, gerade die durch unerlaubte Betäubungsmittel verursachten Gefahren einzudämmen. Ob sich diese Prüfungspflicht auch auf den jeweiligen Wirkstoffgehalt des von dem Beteiligten zutreffend eingestuften Rauschgifts erstreckt, hat der Bundesgerichtshof offen gelassen.5 Die Übereinstimmung der Entscheidung mit der bis dato ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zweifelhaft. Denn der Bundesgerichtshof hatte zuvor stets betont, dass die Strafbarkeit erst dort beginnen könne, wo der Sich-Beteiligende das Risiko besser erfasse als der Sich-selbst-Gefährdende.6 In der grundlegenden Ausgangsentscheidung und in einer weiteren Entscheidung scheint der Bundesgerichtshof die Ansicht zu vertreten, dass die bessere Erfassung des Risikos die entsprechende Kenntnis des Täters voraussetzt. Er verneint jeweils das überlegene Sachwissen, weil der Täter das Risiko nicht besser erkannt hatte.7 Von diesem Erfordernis weicht der Bundesgerichtshof nunmehr ab, ohne diese Abweichung explizit zu benennen.8 Allerdings beruft sich der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung auf die Kommentierung von Jähnke und dieser lässt für das überlegene Sachwissen 4

BGHSt 53, 288, 290 ff. BGHSt 53, 288, 291 f. 6 BGHSt 32, 262, 265; BGH, NStZ 1985, S. 25, 26; 1986, S. 265, 267; 1987, S. 406; 2001, S. 205; 2011, S. 41, 342; 2014, S. 709. 7 BGHSt 32, 262, 265; BGH, NStZ 1986, S. 265, 267. 8 Darauf hat Walther, HRRS 2009, S. 560, 561 ff., zutreffend aufmerksam gemacht. 5

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des Täters genügen, dass für den Täter die mangelhafte Erfassung der Gefahrensituation durch das Opfer erkennbar war.9 Die Ambiguität in den Ausführungen des Bundesgerichtshofs lässt sich rückblickend kaum auflösen. Dieser Punkt – so erwähnenswert er ist – soll daher nicht weiter verfolgt werden.

III. Dogmatischer Grundansatz und Lösung der Literatur Die herrschende Meinung in der Literatur verneint bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstschädigung die objektive Zurechnung des Erfolgs.10 Vielfach wird in einem derartigen Fall die unerlaubte Risikoschaffung bzw. die Sorgfaltswidrigkeit in Abrede gestellt.11 Als Begründung wird die Anerkennung der Opferautonomie bzw. die Handlungsfreiheit des Verletzten12 sowie das Bevormundungsverbot gegenüber mündigen Bürgern13 angeführt. Diese Gründe sollen der Legitimation einer Verhaltensmissbilligung entgegenstehen. Puppe stützt den Ausschluss der objektiven Zurechnung darauf, dass der Rechtsgutsträger sein Interesse am Schutz des Tatobjekts verloren habe, und wendet sich aus diesem Grund gegen die Gleichbehandlung von Selbstschädigung und Selbstgefährdung.14 Der Jubilar scheint in den einschlägigen Fällen jedoch erst den Risikoverwirklichungszusammenhang zu verneinen.15 Der Rechtsprechung wird zwar ganz überwiegend im Ergebnis, nicht aber in der Herleitung ihres Standpunkts gefolgt. Die Beteiligungslehre sei nicht der relevante dogmatische Anker. Maßgeblich sei vielmehr die von der 9

Jähnke, in: Leipziger Kommentar, Bd. 5, 11. Auflage, § 211 Rn. 21. Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Auflage, 2015, § 4 Rn. 101; Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Auflage, 2014, Rn. 1047; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Auflage, 2006, § 11 Rn. 106 ff.; Walter, in: Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Auflage, 2006, Vor § 13 Rn. 112. 11 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 155 ff.; ders., NStZ 1992, S. 1, 5; ders., JuS 2011, S. 116, 119 f.; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Auflage, 2015, 10/15; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 45. Auflage, 2015, Rn. 262; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 335; Puppe, ZIS 2007, S. 247, 250; Beulke, Opferautonomie im Strafrecht. Zum Einfluss der Einwilligung auf die Beurteilung der einverständlichen Fremdgefährdung, in: Festschrift für Otto, 2007, S. 207 f.; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 2009, § 5 Rn. 71, 73 f., der nicht nur die missbilligte Risikoschaffung verneint, sondern infolgedessen auch die Erfüllung jeweils des Tatbestandsmerkmals „durch Fahrlässigkeit“ in den §§ 222, 229 StGB. 12 Frisch (Fn. 11), S. 154 ff.; ders., JuS 2011, S. 116, 119; Frister (Fn. 11), 10/15; Murmann (Fn. 11), S. 334 f.; Radtke, Objektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht bei Mitwirkung des Verletzten und Dritter an der Herbeiführung des Erfolges, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 831, 837. 13 Freund (Fn. 11), § 5 Rn. 74; einschränkend Puppe, ZIS 247, 249, dass es nicht grundsätzlich Aufgabe der Rechtsordnung sei, den mündigen Bürger gegen seinen Willen zu schützen. 14 Puppe, ZIS 2007, S. 247, 249, ohne den Zusammenhang mit dem von ihr selbst postulierten Ausnahmecharakter paternalistischer Sorgfaltspflichten zu erörtern. 15 Yamanaka (Fn. 1), 2007, S. 57, 67, 72. 10

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Beteiligungslehre unabhängige Frage, ob der Außenstehende einen Unrechtstatbestand erfüllt habe. Es sei unschlüssig, aus der Straflosigkeit der Teilnahme Folgerungen für die täterschaftliche Begehung beim Fahrlässigkeitsdelikt zu ziehen.16 Beim Fahrlässigkeitsdelikt könne aufgrund der Geltung des Einheitstäterbegriffs zwischen Täterschaft und Beihilfe gerade nicht unterschieden werden.17 Das Argument entbehre zudem der Angabe eines materialen Grundes für die Versagung des strafrechtlichen Schutzes.18 Ferner wird der auf das Stufenverhältnis der Schuldformen gestützte Erst-Recht-Schluss der Rechtsprechung als logisch verfehlt zurückgewiesen, weil die Strafe für fahrlässiges Verhalten gegenüber derjenigen für vorsätzliches Verhalten gemildert ist.19 Unter welchen Voraussetzungen eine Fahrlässigkeitshaftung in Betracht kommt, ist freilich umstritten. Ein Teil der Literatur verlangt ein überlegenes Sachwissen, kraft dessen der Täter das Risiko tatsächlich besser überblickt als das Opfer. Andernfalls – so die Argumentation von Roxin, der den Erst-Recht-Schluss der Rechtsprechung für zutreffend hält20 – würde der Tatbestand bei Fahrlässigkeit eine größere Reichweite als bei Vorsatz erhalten.21 Unter Anerkennung dieser Prämisse wird daher eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten verneint, weil dieser das Risiko nur in gleichem Maße wie das Opfer überblickt hat. Dies sei typisch für die Konstellation der freiverantwortlichen Selbstgefährdung. Sowohl Täter wie auch Opfer seien von der Vorstellung ausgegangen, irgendeine Substanz zu sich zu nehmen, die sich im Erfolg realisieren könne.22 Häufig wird jedoch in der Literatur eine Fahrlässigkeitshaftung des Mitwirkenden schon dann bejaht, wenn dieser bei gebotener Sorgfalt hätte erkennen können, dass sich der andere in nicht eigenverantwortlicher Weise selbst gefährdet oder verletzt.23 Demnach würden diese Literaturstimmen im vorangestellten Fall zu demselben Ergebnis gelangen wie der Bundesgerichtshof. Vereinzelt wird jedoch dieser Standpunkt nur unter Einschränkungen anerkannt. So soll nach Ansicht von Satzger bei weitgehend gleicher Informationsgrundlage der 16 Frisch (Fn. 11), S. 159; Murmann (Fn. 11), S. 332; Radtke (Fn. 12), S. 831, 837; ablehnend auch Weißer, Zur Zurechnung von Verletzungserfolgen beim Konsum illegaler Betäubungsmittel, Deutsche Dogmatik und europäische Bekämpfungsstrategien, in: Festschrift für Wolter, 2013, S. 541, 549. 17 Puppe, ZIS 2007, S. 247, 249. 18 Frisch, NStZ 1992, S. 1, 5. 19 Walter, in: LK (Fn. 10), Vor § 13 Rn. 112. 20 So schon Roxin, Bemerkungen zum Regressverbot, in: Festschrift für Tröndle, 1989, S. 177, 185 f. 21 Roxin (Fn. 10), § 11 Rn. 107, 113. 22 Stam, StV 2011, S. 536, 538. 23 Hardtung, in: Münchener Kommentar, 2. Auflage, 2012, § 222 Rn. 23; ders., NStZ 2011, S. 206 f.; Rönnau, in: Leipziger Kommentar. Bd. 2, 12. Auflage, 2006, Vor § 32 Rn. 167; Frisch (Fn. 11), S. 155, unter der Voraussetzung, dass die fehlende Verantwortung klar zutage liegt.

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Täter nur dann wegen fahrlässiger Erfolgsherbeiführung strafbar und der Erfolg das Werk des Täters sein, wenn es nur diesem möglich ist, das konkrete Risiko vollständig zu erfassen, und er seine besseren Erkenntnismöglichkeiten nicht ausschöpft.24 Auch Satzger befürwortet im Ausgangsfall gleichwohl eine fahrlässige Tötung. Ob dem Angeklagten bessere Aufklärungsoptionen zu Gebote standen, ist freilich überhaupt nicht festgestellt worden. Schließlich wird von Walther die Auffassung vertreten, dass der Rechtsgutsträger jene Risiken übernehme, mit denen er nach den konkreten Umständen zu rechnen habe. Dies soll jedoch nur bei typischen Gefahren der Fall sein, wozu beim Drogenkonsum die Möglichkeit gehören soll, dass die verkaufte Droge einen erhöhten Wirkstoffgehalt aufweist oder mit beigemengten Zusatzstoffen versetzt ist. Demgegenüber soll jedoch der Umstand, dass es sich um eine der Art nach vollständig andere Droge handelt, in den Verantwortungsbereich des Täters fallen. Dieser habe seinerseits nicht darauf vertrauen dürfen, vom Lieferanten die richtige Droge zu erhalten. Ein derartiger Vertrauensgrundsatz sei beim illegalen Drogenhandel nicht anzuerkennen.25

IV. Analyse und Bewertung der dogmatischen Grundansätze von Rechtsprechung und Literatur Soweit das Panorama der vertretenen dogmatischen Grundpositionen und Lösungen des vorangestellten Falls. Die von Teilen der Literatur geäußerte Kritik an der Ableitung der Straflosigkeit der fahrlässigen Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstschädigung seitens der Rechtsprechung ist im Kern unberechtigt. Die Beteiligungslehre ist durchaus involviert, da diese insbesondere bei den reinen Erfolgsdelikten stets intendiert hat, Täterschaft von Teilnahme abzugrenzen. Insoweit hat die Beteiligungslehre zumindest implizit immer auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet, wie insbesondere der Tatbestand bei den reinen Erfolgsdelikten konturiert und damit was Tatbestandserfüllung ist. Auch ist möglicherweise die Ablehnung der sich auf das Stufenverhältnis von Vorsatz und Fahrlässigkeit stützenden Argumentation der Rechtsprechung voreilig. Denn versteht man die Fahrlässigkeit als Substitut für den fehlenden Vorsatz – nämlich als Rechtsfigur der außerordentlichen Verhaltenszurechnung, die dem Täter die Berufung auf den fehlenden Vorsatz versagt26 –, dann wäre es in der Tat wertungswidersprüchlich, die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Fahrlässigkeit weiter reichen zu lassen als bei Vorsatz. Dies ist selbst dann zutreffend, wenn man mit der herr-

24 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 271; vgl. auch Lackner/Kühl, StGB, 28. Auflage, 2014, Vor § 211 Rn. 12. 25 Walther, HRRS 2009, S. 560, 561 ff. 26 Kindhäuser, GA 1994, S. 197 ff., in Anschluss an Hruschka, Strafrecht nach logischanalytischer Methode, 2. Auflage, 1988, S. 182 ff.; ebenso Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 219 ff.; Haas, GA 2015, S. 86, 92 ff.

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schenden Meinung beim Fahrlässigkeitsdelikt den Einheitstäterbegriff anerkennt.27 Rein positiv-rechtlich hängt allerdings die Validität des a maiore ad minus Arguments davon ab, ob die Fahrlässigkeitstatbestände wie die §§ 222, 229 StGB das geschützte Rechtsgut auch gegen Einwirkungen des Rechtsgutsträgers selbst schützen. Wäre dies der Fall und würde man beim Fahrlässigkeitsdelikt den Einheitstäterbegriff vertreten, wäre trotz des diagnostizierten Wertungswiderspruchs die Strafbarkeit zu bejahen. Allerdings schützen die Fahrlässigkeitstatbestände des deutschen Strafgesetzbuchs das Rechtsgut nicht gegen Einwirkungen des Rechtsgutsträgers. Immerhin ist der Kritik zuzugestehen, dass es an Ausführungen fehlt, welche Rückwirkungen der diagnostizierte Wertungswiderspruch auf die tatbestandlichen Grenzen der betreffenden Fahrlässigkeitsdelikte hat. Offen bleibt, an welchem Tatbestandsmerkmal die Erfüllung des Tatbestandes scheitert.28 Die Literatur versucht – wie oben schon dargelegt – die freiverantwortliche Selbstgefährdung und Selbstschädigung als zentrale Bausteine der objektiven Zurechnungslehre auszuweisen. Es soll damit die Lücke geschlossen werden, die die Rechtsprechung belässt. Der Beitrag muss sich daher nunmehr der Frage zuwenden, ob die objektive Zurechnungslehre überhaupt tauglich ist, den Tatbestand zu konturieren. Es soll heute zum gesicherten Bestand der Strafrechtsdogmatik gehören, dass die uferlose Weite der Bedingungstheorie einer haftungseinschränkenden Korrektur bedarf.29 Aus dieser negativen Begrenzungsfunktion der Kategorie der objektiven Zurechnung, die bei der freiwilligen Selbstgefährdung und Selbstschädigung besonders augenfällig wird, kann schon eine erste, durchaus problematische Schlussfolgerung gezogen werden: Konsequent wäre es allein, das Setzen eines unerlaubten Risikos immer dann anzunehmen, wenn der Täter aufgrund der ihm bekannten oder erkennbaren Tatsachen mit einer Rechtsgutsverletzung des Opfers rechnen muss, und das Setzen eines unerlaubten Risikos ausnahmsweise nur dann abzulehnen, wenn der Täter aufgrund konkreter Umstände annehmen darf, dass das Opfer eigenverantwortlich handelt. Die graduell durchaus divergierende, möglicherweise vorzugswürdige Alternative bestünde darin zu postulieren, dass der Täter nur dann sorgfaltswidrig handelt, wenn er konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass das Opfer an einem Defekt leidet, der die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung und Selbstschädigung ausschließt. Ein weiterer Kritikpunkt ist zu nennen: Der Status der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und Selbstschädigung scheint innerhalb der Lehre der objektiven 27 So insbesondere jüngst wieder Puppe, ZIS 2007, S. 247, 249; dies., GA 2009, S. 289, 290 ff.; dagegen jedoch Renzikowski (Fn. 26), S. 261 ff.; vgl. auch Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 141 ff. 28 Vgl. die Kritik von Freund (Fn. 11), § 5 Rn. 71, § 10 Rn. 96, dass die Formulierung der Rechtsprechung, derjenige sei nicht strafbar, der fahrlässig den Tod eines Selbstmörders verursache, in Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes stehe. 29 Schünemann, GA 1999, S. 207, 209; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 42. Auflage, 2012, Rn. 178; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Auflage, 2012, § 4, Rn. 36 ff.

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Zurechnung keinesfalls eindeutig zu sein. Ein Teil der Literatur begreift den Ausschluss der objektiven Zurechnung als Resultat der Abschichtung von Verantwortungsbereichen:30 Entweder verwirklicht sich im Erfolg das vom Täter gesetzte unerlaubte Risiko, für das diesem die Verantwortung auferlegt wird, oder es verwirklicht sich das vom Opfer gesetzte bzw. übernommene Risiko, für das jenes selbst die Verantwortung trägt.31 Anders formuliert: Entweder ist der Erfolg dem Täter oder dem Opfer objektiv zuzurechnen. Bei einer derartigen komplementären Gegenüberstellung kann die eigenverantwortliche Selbstgefährdung und Selbstschädigung allerdings nicht auf die Fälle beschränkt werden, in denen das Opfer die Tatherrschaft über den unmittelbar lebensbeenden Akt besitzt,32 das heißt, in denen es das tatsächliche Risiko vollständig erfasst, sich der Realisierung des Risikos entziehen kann und überdies fähig ist, die Tragweite der eigenen Entscheidung zu überblicken. Denn es ist ohne Weiteres möglich, dass der Täter auf die Eigenverantwortlichkeit des Opfers vertrauen durfte, ein unerlaubtes Risiko durch den Täter also nicht ins Leben gerufen wurde, beim Opfer aber gleichwohl ein unerkennbares Herrschaftsdefizit vorliegt. Diese Einsicht wird durch die schon oben erwähnte Ansicht bestätigt, dass der Rauschgiftkonsument die typischen Gefahren zu tragen hat, die mit dem Erwerb der Betäubungsmittel verbunden sind wie ein etwaiger erhöhter Wirkstoffgehalt oder die Verunreinigung der Drogen mit beigemengten Fremdstoffen. Insoweit sollen ihn Selbstschutzobliegenheiten treffen. Verletzt der Rauschgiftkonsument seine Selbstschutzobliegenheiten, hebt selbst ein Irrtum über die Gefährlichkeit der Betäubungsmittel die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung oder Selbstverletzung nicht auf.33 Allerdings ist dieses Konzept schon im Grundansatz wenig überzeugend, weil es für den Fall, dass der Täter einen Erfolgseintritt nicht in Rechnung zu stellen hat, des Konstrukts einer Zurechnung der Rechtsgutsverletzung gegenüber dem Verletzten kraft eigenverantwortlicher Selbstgefährdung oder Selbstschädigung nicht bedarf. Der Verletzte ist Opfer des Zufalls geworden und hat daher ohnehin die Beeinträchtigung seines Rechtsguts zu tragen: Casum sentit dominus. Speziell die Abschichtung von Verantwortungsbereichen mit Hilfe des Kriteriums der Gefahrentypizität ist – dies sei hinzugefügt – kontraintuitiv und begegnet prima facie Bedenken. Denn je typischer ein Umstand ist, der eine Rechtsgutsverletzung auslösen kann, desto eher ist er auch vom Täter in Rechnung zu stellen. Und umgekehrt gilt: Je untypischer ein derartiger Umstand ist, desto eher darf er unberücksichtigt gelassen 30

Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Auflage, 2015, § 13 Rn. 77; Weißer (Fn. 16), S. 541, 547; Walther, HRRS 2009, S. 560, 562; Eisele, JuS 2012, S. 577, 578; ders., in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, Vor § 13 Rn. 100; Kühl (Fn. 29), § 4 Rn. 83; Radtke (Fn. 12), S. 831, 832, 836. 31 Vgl. die Formulierung bei Gropp (Fn. 10), § 4 Rn. 101: Verwirklichung nicht des vom Täter, sondern des vom Opfer gesetzten Risikos. 32 Pars pro toto Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage, 2006, S. 568 f.; Dölling, GA 1984, S. 76, 78; Kargl, JZ 2002, S. 389, 393; Neumann, JA 1987, S. 245, 249; Otto, Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung und -gefährdung, Festschrift für Tröndle, 1989, S. 157, 162 f. 33 Walther, HRRS 2009, S. 560, 562 f.; Weißer (Fn. 16), S. 541, 547.

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werden. Gleichwohl könnte dem Ansatz ein berechtigter Kern innewohnen. Die Üblichkeit von Schwankungen des Wirkstoffgehalts oder des Verunreinigungsgrades der Drogen hat eine Rückwirkung auf die Auslegung des Vertrags. Bewegen sich der Wirkstoffgehalt und der Verunreinigungsgrad aufgrund ihrer Üblichkeit im Rahmen der Soll-Beschaffenheit, darf der Täter – trotz Nichtigkeit des Vertrags nach § 134 BGB aufgrund des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz – offenbar innerhalb dieses Spektrums mit Varianzen rechnen. Werden aber Wirkstoffgehalt und Verunreinigungsgrad ungeachtet empirischer Erwartungswerte vertraglich konkret festgelegt, besteht kein Grund, allein schon aufgrund der Typizität der Abweichung zur Soll-Beschaffenheit das Risiko einer derartigen Devianz dem Verantwortungsbereich des Konsumenten zuzuordnen. Nun hat Murmann unter Zugrundelegung eines begrüßenswerten Denkens in Rechtsverhältnissen darauf aufmerksam gemacht, dass im Falle einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstschädigung das Verhalten schon nach der „Primärordnung“ erlaubt sei. Unabhängig von der subjektiven Einstellung des Täters – also unabhängig davon, ob er „vorsätzlich“ oder „fahrlässig“ gehandelt habe – fehle es schon an der deliktischen Relevanz des die Selbstgefährdung oder die Selbstschädigung ermöglichenden oder veranlassenden Verhaltens.34 Anders formuliert: Es fehlt schon an einem Geschehen, das vermieden werden soll, und damit an den objektiven Voraussetzungen der Tat. Allerdings stellt sich die Schwierigkeit, dass die auch von Murmann zugrunde gelegte objektive Zurechnungslehre nicht zwischen dem Zurechnungsgegenstand – den objektiven Merkmalen der Tat – und dem Zurechnungsgrund – den personalen Zurechnungsvoraussetzungen der Tat – trennt. Zwischen dem Zu-Vermeidenden, also dem, wofür dem Täter gegebenenfalls strafrechtliche Verantwortung auferlegt wird, und dem Vermeidenden, das legitimiert, den Täter überhaupt verantwortlich zu machen, kann durch die objektive Zurechnungslehre schon konzeptionell nicht differenziert werden. Dieser Vorwurf ist im Folgenden zu belegen. Die durch die objektive Zurechnungslehre bezweckte Einschränkung strafrechtlicher Verantwortlichkeit soll dadurch gewährleistet werden, dass die Verhaltensnormen, die den Tatbeständen zugrunde liegen, nicht als Verursachungsverbote aufgefasst werden, sondern als Verbote, unerlaubte Risiken für den tatbestandlichen Erfolg ins Leben zu rufen. Die Imperative lauten also nicht: „Es ist verboten, den tatbestandlichen Erfolg zu bedingen!“ sondern „Es ist verboten, ein unerlaubtes Risiko zu setzen, dass der tatbestandliche Erfolg eintritt“ Doch worin besteht nun aber das unerlaubte Risiko? Eine in sich schlüssige Theorie müsste – anders als die objektive Zurechnungslehre – den Inhalt des Risikos begrifflich umschreiben. Da als Kausalitätstheorie ausschließlich die Äquivalenztheorie anerkannt ist, kann der Inhalt des Risikos bei den Erfolgsdelikten nur darin bestehen, dass der Täter durch sein Verhalten eine Bedingung für den tatbestandlichen Erfolg setzt. Denn die objektive Zurechnungslehre geht gerade davon aus, dass weder ontologisch noch normativ zwischen verschiedenen Bedingungen 34

Murmann (Fn. 11), S. 333 ff.

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unterschieden werden kann bzw. soll. Individualisierenden Kausalitätstheorien wird einhellig eine Absage erteilt.35 Sie finden in den meisten Lehrbüchern keine Erwähnung mehr. Versteht man die objektive Zurechnungslehre in dieser Weise, begrenzt sie im Vergleich zu objektiv gefassten Verursachungsverboten die strafrechtliche Verantwortlichkeit allerdings keineswegs. Zwar ist zuzugestehen, dass ein objektiv gefasstes Verursachungsverbot auch dann übertreten wird, wenn die Möglichkeit der Erfolgsverursachung ex-ante nicht hätte in Rechnung gestellt werden müssen, es also am Setzen eines unerlaubten Risikos fehlt. Allerdings berücksichtigt das System, das objektiv gefasste Verursachungsverbote zugrunde legt, die Frage, ob der Täter die Rechtsgutsschädigung hätte in Rechnung stellen müssen, im Rahmen der Sorgfaltswidrigkeit. In den Fällen, in denen die objektive Zurechnungslehre das Setzen eines unerlaubten Risikos verneinen würde, würde die Alternativtheorie dem Täter die Übertretung der Verbotsnorm und damit den so genannten Erfolgsunwert nicht als sorgfaltswidrig personal zurechnen. Das in dem Zurechnungsgrund der Sorgfaltswidrigkeit liegende Handlungsunrecht wird bei der objektiven Zurechnungslehre lediglich in das strafrechtlich bewehrte Verbot integriert. Betrachtet man hingegen das Geschehen ex-post vom Standpunkt der schon eingetretenen Rechtsgutsverletzung aus, fallen beide Konzeptionen sogar zusammen: Es besteht jeweils in der Realisierung eines bloßen Bedingungszusammenhangs, durch den der Erfolgsunwert als Zurechnungsgegenstand in die Welt gesetzt wird. Da die Äquivalenztheorie den Zurechnungsgegenstand jedoch viel zu weit fasst, wäre zu erwägen, die objektive Zurechnungslehre anders zu verstehen. Konkret: Man könnte erwägen, dass das Setzen bestimmter Risiken ex-ante deswegen unerlaubt ist, weil die betreffenden Erfolgsbedingungen aus der ex-post Perspektive rechtlich missbillig sind. Prämisse dieser Modifikation wäre also, dass retrospektiv betrachtet nur einige, nicht aber alle Erfolgsbedingungen zu vermeiden sind. Dieser denkbare Ausweg würde aber in Widerspruch zur Äquivalenztheorie geraten, weil dann nicht mehr alle Bedingungen als ontologisch gleichartig bzw. zumindest als normativ gleichwertig gelten könnten. Man würde unter der Hand wiederum zwischen Ursache und Bedingung unterscheiden und damit eine individualisierende Kausalitätstheorie etablieren, nachdem man diese zuvor als historisch überwunden und sogar als logisch undurchführbar hingestellt hat.36 Vielleicht entspricht es daher vielmehr der Intention der objektiven Zurechnungslehre, der Kategorie des unerlaubten Risikos die Aufgabe zuzuweisen, einzelne Bedingungen herauszugreifen und zu entscheiden, ob diese überhaupt vermieden werden sollen. Erst kraft des unerlaubten Risikos würde aus einer wertindifferenten Bedingungsrelation ein rechtswidriger Kausalzusammenhang konstituiert. Diese Strategie der Haftungsbegründung würde jedoch einen infiniten Regress auslösen, weil sich damit das unerlaubte Risiko auf sich selbst beziehen und zum Inhalt seiner selbst werden würde. Dies allerdings 35 36

Roxin (Fn. 10), § 11 Rn. 7. Roxin (Fn. 10), § 11 Rn. 7.

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wären die Kosten, die zu tragen wären, wenn man die Kategorie des Zurechnungsgegenstandes – also das, was vermieden werden soll – unter Rückgriff auf den Zurechnungsgrund – also das, was vermeiden soll – begrenzt.37 Die mangelnde Unterscheidung zwischen dem Zu-Vermeidenden und dem Vermeidenden wird in der hier erörterten Fallkonstellation der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und der Selbstschädigung auch daran sichtbar, dass einfach nur pauschal das Setzen eines unerlaubten Risikos, die Sorgfaltswidrigkeit oder die Fahrlässigkeit verneint wird, statt das Vorliegen eines rechtswidrigen Geschehens zu leugnen, das überhaupt in Rechnung zu stellen ist.38 Dies gilt – trotz seiner zutreffenden Einsicht – ebenso für den Standpunkt von Murmann. Führt man die notwendige Abschichtung durch, stellt sich das Problem, ob überhaupt jede Selbstgefährdung oder Selbstschädigung, die auf einem Willensmangel beruht, vom Täter zu vermeiden ist. Davon gehen jedoch die meisten Anhänger der objektiven Zurechnungslehre aus.39 Dies muss jedoch – wie am Ende des Beitrags deutlich werden sollte – nicht unbedingt der Fall sein. Ein letzter Einwand ist zu beachten: Anerkennt man die Prämisse, dass der Inhalt des Risikos bei den Erfolgsdelikten nur darin bestehen kann, dass der Täter durch sein Verhalten eine Bedingung für den tatbestandlichen Erfolg setzt, kann die objektive Zurechnungslehre überdies noch nicht einmal die freiwillige Selbstgefährdung und Selbstschädigung von der einverständlichen Fremdgefährdung und Fremdschädigung unterscheiden.40 Um den Ausgangsfall aufzugreifen: Behauptet wird, dass die objektive Zurechnungslehre zwischen der Fallkonstellation, dass der Täter dem Opfer das Rauschgift übergibt und das Opfer aufgrund des Eigenkonsums eine Rechtsgutsverletzung erleidet, und der Fallkonstellation, dass der Täter dem Opfer das Betäubungsmittel unmittelbar verabreicht und das Opfer dadurch eine Rechtsgutsverletzung zugefügt wird, nicht zu trennen vermag. Zwar würde die objektive Zurechnungslehre in dem ersten Fall, in dem der Täter lediglich eine Bedingung für eine Selbstgefährdung oder Selbstschädigung des Verletzten setzt, von einem mittelbaren bzw. indirekten Risiko sprechen.41 Es fehlt jedoch an einem begrifflichen Anknüpfungspunkt für diese Differenzierung. Voraussetzung für eine Abgrenzung beider Fallkonstellationen wäre, dass es sich um unterschiedliche Risiken 37

Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S.284 ff.; ders., Die strafrechtliche Lehre von der objektiven Zurechnung – eine Grundsatzkritik, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2004, S. 193, 209 ff.; ders., Kausalität, in: Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, S. 1363 ff., Rn. 7 ff. 38 Normtheoretisch korrespondiert die fehlende Unterscheidung mit der Gleichsetzung von Rechtswidrigkeit und objektiver Pflichtwidrigkeit; siehe zum Beispiel Mir Puig, ZStW 108 (1996), S. 759, 775; kritisch dazu Haas (Fn. 37), 2002, S.295 ff. 39 Besonders deutlich Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Auflage, 1996, S. 575; Freund (Fn. 11), § 5 Rn. 73. 40 Siehe schon Haas (Fn. 37), 2013, S. 1363 ff., Rn. 7 ff. 41 Vgl. nur Eisele, in: Sch/Sch (Fn. 30), Vor § 13 Rn. 101 ff.; Yamanaka (Fn. 1), 2007, S. 57, 67 ff.

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handelt. Doch wodurch kann die objektive Zurechnungslehre Risiken unterscheiden? Es ist zunächst die Prognosebasis. Diese ist jedoch in beiden Fallkonstellationen identisch. Zugrunde gelegt werden jeweils die dem Täter bekannten und erkennbaren Tatumstände.42 Es ist sodann die Höhe der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts. Auch diese bietet aber keinen Anlass für eine abweichende Bewertung. Es kann unterstellt werden, dass ex-ante die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts jeweils eine gleiche, ausreichende Höhe besitzt. Schließlich besteht die Möglichkeit, Risiken mit Hilfe ihres Inhalts zu differenzieren. Aber auch insoweit gleichen sich beide Fallkonstellationen. Es handelt sich jeweils um das Risiko, dass der Täter durch sein Verhalten im Sinne der Lehre von der conditio-sine-qua-non eine Rechtsgutsverletzung verursacht. Eine weitere Option, Risiken voneinander zu unterscheiden, existiert für die objektive Zurechnungslehre nicht. Ihr zufolge hat sich ex-post betrachtet in beiden Fallkonstellationen dasselbe ereignet: Jeweils hat der Täter eine Bedingung für die Rechtsgutsverletzung des Opfers gesetzt. Die offensichtliche Differenz beider Vorgänge, dass nämlich der Täter in der ersten Fallkonstellation durch die Übergabe der Betäubungsmittel es dem Opfer lediglich ermöglicht, durch eigenes Verhalten auf seine eigene Rechtssphäre einzuwirken, während er in der anderen Fallkonstellation selbst unmittelbar auf die Rechtssphäre des Opfers einwirkt, wird durch die Äquivalenztheorie überspielt. Damit stimmt überein, dass ein Regressverbot auf Kausalitätsebene von der herrschenden Lehre gerade abgelehnt wird.43 Die Redeweise von einem mittelbaren bzw. einem indirekten Risiko kann daher nur ein rein terminologischer Verweis auf den Umstand sein, dass eine Folgebedingung in dem Verhalten einer anderen Person besteht. In der Strafrechtswissenschaft wird offenbar teilweise die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Selbstgefährdung und Selbstschädigung einerseits, Fremdgefährdung und Fremdschädigung andererseits in Zweifel gezogen.44 Dieser Standpunkt ist allerdings im Hinblick auf die Kriterien der Unrechtsbegründung und des Unrechtsausschlusses wenig überzeugend. An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, dass es nur bei einer Fremdgefährdung und Fremdschädigung einer Einwilligung als Unrechtsausschließungsgrund bedarf. Diese kann trotz fehlender Willensdefizite unter Umständen aufgrund der mangelnden Dispositionsbefugnis des Opfers über das an sich ihm zugewiesene Rechtsgut unwirksam sein – wie dies zum Beispiel im deutschen Strafrecht bei § 216 StGB der Fall ist –, während die mangelnde Dispositionsbefugnis die Straflosigkeit der Veranlassung oder Ermöglichung der freiverantwortlichen Selbstgefährdung und Selbstschädigung richtiger Ansicht nach völlig unberührt lässt, falls – was für das deutsche Strafrecht

42 Roxin (Fn. 10), § 11 Rn. 56; Mir Puig, ZStW 108 (1996), S. 759; 766; Jakobs, Bemerkungen zur objektiven Zurechnung, Festschrift für Hirsch, 1999, S. 47, 55; vgl. Yamanaka (Fn. 1), 2007, S. 57, 60 f., 69. 43 Siehe Roxin (Fn. 10), § 11 Rn. 28; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 11), Rn. 236. 44 Vgl. nur Frisch (Fn. 11), S. 148 ff.; siehe dazu auch Beulke (Fn. 11), S. 207, 217 und Grünewald, GA 2012, S. 364, 366.

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oben schon verneint wurde – kein Straftatbestand existiert, der das Rechtsgut gegen Angriffe des Rechtsgutsträgers selbst schützt.

V. Skizze des eigenen dogmatischen Grundansatzes Es soll nunmehr schemenhaft das eigene Straftatmodell umrissen werden, bevor sich der Beitrag dann im letzten Teil vor dem Hintergrund dieser Vorgaben noch einmal der Lösung des Ausgangsfalls zuwendet. Im Folgenden wird von der schon mehrfach begründeten Auffassung ausgegangen, dass die strafrechtlich bewährten Verhaltensnormen der Allgemeinheit Rechtsverhältnisse schützen. Es handelt sich bei den Rechtsverhältnissen einerseits um private subjektive Rechte – herkömmlicherweise sprechen wir von Individualrechtsgütern – andererseits um öffentliche Rechtspositionen, die gemeinhin als Allgemeinrechtsgüter qualifiziert werden. Die gesamte Rechtsordnung kann als Inbegriff von Rechtsverhältnissen verstanden werden. Der Begriff des Rechtsverhältnisses beschreibt eine dreistellige Relation zwischen einem bestimmten materiellen oder immateriellen Substrat und zwei Rechtssubjekten: Sie besteht darin, dass ein Rechtssubjekt die Rechtsmacht besitzt, die anderen Rechtssubjekte kraft seines Willens aus seinem Rechtskreis auszuschließen. Akzeptiert man diese dogmatische Zugangsweise, setzt die unmittelbare Täterschaft stets eine Verletzung des tatbestandlich geschützten Rechtsverhältnisses durch das Verhalten des Täters voraus. Anders formuliert: Der Täter überschreitet schon durch sein Verhalten den Zuweisungsgehalt des eigenen Rechtskreises. Er vollzieht ein Verhalten, dem gegenüber das Opfer als Rechtsinhaber einen Anspruch auf Unterlassen hat. Eine Tat impliziert somit stets eine Störung der durch den Tatbestand geschützten Rechtsposition. Sie – die Tat in ihrer objektiven Dimension – bildet daher als Ganzes den Zurechnungsgegenstand. Welche Konsequenzen hat nun dieses Modell bei den Erfolgsdelikten für den Kausalitätsbegriff? Er verliert seinen vorrechtlichen Status, den er in der strafrechtsdogmatischen Doktrin bisher eingenommen hat. Er besitzt nunmehr die normative Funktion, die Reichweite der tatbestandlich geschützten Rechtspositionen zu definieren.45 Damit aber erweist sich die Notwendigkeit, zwischen eigentlichen Ursachen und bloßen Bedingungen zu unterscheiden. So heißt es in § 903 BGB, dass der Eigentümer andere von der Einwirkung auf die Sache ausschließen kann. Entsprechendes gilt für andere Rechtspositionen wie Leib und Leben. Konsequenz der hier vertretenen Konzeption ist also ein restriktiver Tatbegriff. Aus dem Gesagten folgt, dass die Äquivalenztheorie verabschiedet werden muss. Es ist weder wahr, dass jede Bedingung ontologisch gleichartig ist, noch ist es wahr, dass jede Bedingung normativ gleichwertig ist. Beispielsweise verletzt nicht jeder, der eine Bedingung für einen Sachbeschädigungserfolg im Sinne des § 303 StGB setzt, den Unterlas45 Siehe Haas (Fn. 37), 2002, S.185 ff.; ders. (Fn. 37), 2004, S. 193, 218 ff.; ders. (Fn. 27), S. 58 ff., 65 ff.; ders. (Fn. 37), 2013, S. 1363 ff., Rn. 7 ff.

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sungsanspruch des Eigentümers. Der Begriff der Bedingung, der so etwas wie empirische Abhängigkeit umschreibt, bringt den Zurechnungsgegenstand – also, das was der Täter zu vermeiden hat, nämlich den Ursachenverlauf in seiner Gesamtheit – nicht adäquat auf den Begriff. Die Äquivalenztheorie ist mit der Einteilung unserer Welt in Rechtssphären unvereinbar. Es ist keine unabdingbare Voraussetzung strafrechtlicher Haftung, dass zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg stets eine derartig eng definierte Kausalbeziehung besteht. So ist zum Beispiel Voraussetzung für die Begehung eines Totschlags grundsätzlich nur, dass der Täter gemäß der Definition rechtswidrig auf die Rechtssphäre des Opfers eingewirkt hat. Was den nachfolgenden Geschehensverlauf anbetrifft, reicht jede Form empirischer Abhängigkeit aus. Denn innerhalb ein- und derselben Rechtssphäre zählt jede Folge gleich. Einer Unterscheidung von Ursache und Bedingung bedarf es daher insoweit nicht. Wirkt der Täter nicht unmittelbar auf die Rechtssphäre des betroffenen Opfers ein, so reicht dessen Rechtsposition hingegen nicht aus, die strafrechtliche Haftung des Täters für eine etwaige Schädigung des Opfers zu erklären. Dies bedeutet aber nicht, dass der Täter damit zwangsläufig von strafrechtlicher Haftung freigestellt wäre. Allerdings bedarf es eines zusätzlichen Aufwandes, das Unrecht und die Verantwortlichkeit des Täters für die Rechtsgutsschädigung des Opfers zu begründen. Möglicherweise kann der Täter so behandelt werden, als habe er ein Verhalten vollzogen, dem gegenüber der Verletzte einen Abwehranspruch geltend machen kann. Die Unrechtsbegründung verläuft daher im Vergleich zur herrschenden Lehre tendenziell umgekehrt. Die herrschende Lehre versucht, Gründe aufzuzeigen, warum nachträglich die zu große Weite der Äquivalenztheorie normativ einer eingrenzenden Korrektur bedarf. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen der Kausalverlauf sich über das Verhalten einer weiteren Person vollzieht.46 Einen derartigen Ausnahmefall bildet beispielweise die eigenverantwortliche Selbstgefährdung und die Selbstschädigung.47 Nach der hier vertretenen Konzeption bedarf es hingegen einer Rechtfertigung, warum der Täter ausnahmsweise für eine Rechtsgutsverletzung auch dann strafrechtlich verantwortlich gemacht werden darf, wenn er nicht unmittelbar auf das tatbestandlich geschützte Rechtsgut eingewirkt hat. Eine derartige begründungsbedürftige Ausweitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit kann auch bei einer Selbstgefährdung oder Selbstschädigung des Opfers angezeigt sein. Kriterium für eine derartige Selbstgefährdung oder Selbstschädigung des Opfers ist, dass nur das Opfer selbst durch sein Verhalten auf die eigene Rechtssphäre einwirkt oder sich doch zumindest der Einwirkung auf seine Rechtssphäre durch sein Verhalten – sei es ein Tun, sei es ein Unterlassen – objektiv entziehen kann. In einem solchen Fall bedarf es eines Grundes, warum dem Täter die Selbstgefährdung oder Selbstschädigung des Opfers wie eine Fremdgefährdung oder Fremdschädigung mit der 46

So zum Beispiel im Ansatz Jakobs, ZStW 89 (1977), S. 1 ff. Vgl. die ähnliche Diagnose von Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 110. 47

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Folge außerordentlich zugerechnet werden kann, dass er so behandelt wird, als habe er selbst rechtswidrig auf die Rechtssphäre des Opfers eingewirkt. Eine derartige Zurechnungsfigur etabliert im deutschen Strafrecht die in § 25 I 2. Var. StGB geregelte mittelbare Täterschaft, die in ihrem Kern natürlich Drei-Personen-Konstellationen erfasst, aber auch Zwei-Personen-Konstellationen, in denen Tatmittler und Opfer identisch sind. Beim Vorsatzdelikt ist dies im Grundsatz unstrittig und bedarf daher keiner weiteren Ausführungen. Nach dem eben Gesagten sollte jedoch deutlich geworden sein, dass es einer Unrechtsbegründung im Wege einer derartigen außerordentlichen Zurechnung auch beim Fahrlässigkeitsdelikt bedarf. So plädiert Renzikowski für die Anerkennung der fahrlässigen mittelbaren Täterschaft, die er auf die überlegene Vermeidemacht des Hintermanns stützt.48 Es bedürfte daher einer eigenen Untersuchung, ob § 25 I 2. Var. StGB de lege lata auch auf das Fahrlässigkeitsdelikt anwendbar ist. Ungeachtet dessen ist in materialer Hinsicht darauf hinzuweisen, dass es einer defizitären Entscheidung des Opfers bedarf, die der Hintermann als mittelbarer Täter zu vermeiden hat und mit der er aufgrund konkreter Anhaltspunkte hätte rechnen müssen. Ein vollständiges Tableau möglicher Gründe für eine Verantwortlichkeit des Hintermanns für den Entschluss des sich selbst schädigenden Vordermanns kann in diesem Beitrag nicht ausgearbeitet werden. Es ist jedoch lohnend, sich noch einmal zum Abschluss der Lösung des Ausgangsfalls zuzuwenden.

VI. Die Lösung des Ausgangsfalls Ob in dem vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist zweifelhaft. Denn Kaufvertrag und Übereignung des Rauschgifts waren nach deutschem Recht wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gemäß § 134 BGB nichtig. Das Opfer B K besaß daher von vornherein keinen vertraglichen Anspruch auf Übereignung und Übergabe von Kokain. Konnte aber das Opfer B K nicht die Übereignung und Übergabe des Kaufgegenstandes mit der vereinbarten Soll-Beschaffenheit verlangen, stellt sich das Problem, ob sein Vertrauen in das Vorliegen der vertragsgemäßen Eigenschaften des ihm ausgehändigten Rauschgifts von Rechts wegen überhaupt schutzwürdig gewesen ist. Krass wertungswidersprüchlich ist die oben wiedergegebene Begründung von Walther dafür, dass die Aushändigung der richtigen Drogenart in den Verantwortungsbereich des Täters fallen soll. Denn Walther geht davon aus, dass der Angeklagte seinerseits nicht habe darauf 48

Renzikowski (Fn. 26), S. 262 ff.; für die Anerkennung fahrlässiger mittelbarer Täterschaft schon Exner, Fahrlässiges Zusammenwirken, in: Festgabe für Reinhard Frank, Bd. 1, 1930, S. 569 ff.; Schumann (Fn. 47), S. 108, zufolge ist es eine Frage terminologischen Beliebens, von fahrlässiger mittelbarer Täterschaft zu sprechen, auch wenn für die Verwendung dieser Kategorie sprechen soll, dass es sich aus normativer Sicht um eine Ausnahmeerscheinung handelt. Dieser Einschätzung ist zu widersprechen, da nur mit Hilfe der Figur der außerordentlichen Zurechnung der Zurechnungsgegenstand begrifflich kohärent beschrieben werden kann.

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vertrauen dürfen, vom Lieferanten die vereinbarte Droge erhalten zu haben. Ein derartiger Vertrauensgrundsatz sei beim illegalen Drogenhandel nicht anzuerkennen. Walther verkennt, dass das Opfer B K gegenüber dem Angeklagten in demselben Verhältnis stand wie der Angeklagte gegenüber seinem Lieferanten. Aufgrund der Nichtigkeit des Vertrags stellt sich zudem die Frage, auf welches normative Fundament sich die Sorgfaltspflichten stützen, die der Angeklagte verletzt haben soll. Das Billigkeitsargument des Bundesgerichtshofs, die Illegalität des Rauschgifthandels stehe einer Prüfungspflicht nicht entgegen, weil andernfalls derjenige, der sich ohnehin in strafbarer Weise verhalte, gegenüber demjenigen besser gestellt werden würde, der erlaubt potenziell risikobehaftete Stoffe an andere weitergebe, enthebt nicht von der Notwendigkeit, eine Rechtsgrundlage für eine derartige Handlungspflicht aufzufinden. Man könnte darauf verweisen, dass die Nichtigkeit des Vertrags in Übereinstimmung mit der ratio des § 134 BGB nur die Haftung auf das Äquivalenzinteresse ausschließt, die Haftung auf das Integritätsinteresse aber unberührt lässt. So erkennt die zivilrechtliche Dogmatik die Möglichkeit einer Haftung auf das negative Interesse aufgrund der Verletzung von Neben- bzw. Schutzpflichten auch bei Nichtigkeit des Vertrags nach § 134 BGB im Grundsatz an (siehe die §§ 241 II, 311 II BGB).49 Die Nichtigkeit des Vertrags schließt nur die Haftung auf das positive Interesse aus. Allerdings wird vereinzelt vertreten, dass dies nicht dann gelten soll, wenn die Rechtsordnung die Erreichung des Vertragszwecks missbilligt oder der Geschädigte sich seinerseits strafbar macht.50 Beides wäre im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall zu bejahen, weil sich das Opfer B K seinerseits durch den Ankauf und die Inbesitznahme nach § 29 I BtMG strafbar gemacht hat. Ohnehin bliebe die Verwirklichung des § 222 StGB gleichwohl klärungsbedürftig, weil die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die irrtumsbedingte Selbstschädigung nicht unmittelbar auf die Verletzung eines gesetzlichen Schuldverhältnisses gegründet werden kann, wie es bei der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit für die Beeinträchtigung von Integritätsinteressen aufgrund der Verletzung von Nebenpflichten der Fall ist. Dies gilt ums so mehr, als die Nebenpflichten im Zivilrecht auch auf das Gebot der Rücksichtnahme gestützt werden (vgl. § 241 II BGB). Insoweit ist die Argumentation des Bundesgerichtshofs, der Angeklagte habe erklärt, dass es sich bei dem Rauschgift um Kokain handele, von entscheidender Relevanz. Denn es lässt sich in der Tat die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten nur dann legitimieren, wenn man unterstellt, dass sein Verhalten unter Zugrundelegung des Empfängerhorizonts so verstanden werden durfte, als habe der Angeklagte dem Opfer B K im Wege der Selbstverpflichtung konkludent die verbindliche Zusage geben wollen, dass das übergebene Rauschgift der Soll-Beschaffenheit entspricht. Verbindlich heißt, dass der Angeklagte dem Empfänger einen Anspruch 49 Emmerich, in: Münchener Kommentar, BGB, 6. Auflage, 2012, § 311 Rn. 53; Kindl, in: Ermann, BGB, 14. Auflage, 2014, § 311 Rn. 22. 50 Krebs, in: Nomos Kommentar, BGB, 2. Auflage, 2012, § 331 Rn. 101.

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auf Richtigkeit seiner Auskunft einräumen wolle. Nur wenn der Angeklagte dem Opfer B K die Richtigkeit seiner konkludenten Auskunft geschuldet hat, war dessen Vertrauen auf die Wahrheit des Erklärten schutzwürdig und sein etwaiger Irrtum vom Angeklagten zu vermeiden. Man wird bei einem Kauf im Hinblick auf die Integritätsinteressen des Käufers grundsätzlich von einer derartigen konkludenten Erklärung auszugehen haben, die im Übrigen auch Voraussetzung des echten Erfüllungsbetrugs ist. Denn zum einen dient die Transaktion gerade der Überführung des Verkaufsgegenstandes in den Besitz des Käufers. Zum anderen besteht eine Informationsasymmetrie, weil der Käufer im Unterschied zum Verkäufer die Umstände nicht kennt, die der Erfüllung vorausgehen, deren Kenntnis aber erforderlich ist, um beurteilen zu können, ob die Erwartung, dass Ist-Beschaffenheit und Soll-Beschaffenheit übereinstimmen, berechtigt ist. Allerdings gilt im deutschen bürgerlichen Recht der Grundsatz, dass man anderen Privatrechtssubjekten kein Recht aufdrängen kann. So hat bei einem Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 BGB der Dritte gemäß § 333 BGB die Befugnis, das Recht mit Wirkung ex-tunc zurückzuweisen. So bedürfen die Schenkung nach § 516 BGB, die Leihe nach § 598 BGB, der Auftrag nach § 662 BGB sowie die Bürgschaft nach § 765 BGB trotz Unentgeltlichkeit eines Vertrags als causa. Einzige allerdings umstrittene Ausnahme ist die Auslobung gemäß § 657 BGB. Ob und welche Konsequenzen sich aus dieser Rechtslage für die Konstruktion der Selbstverpflichtung ergeben – ob es eines Vertrags bedarf oder eine einseitige verpflichtende Erklärung genügt – kann hier nicht näher vertieft werden.51 Wie auch immer: Fraglich ist jedenfalls die Schlussfolgerung des Bundesgerichtshofs, dass der Angeklagte diese Erklärung nur hätte abgeben dürfen, wenn er sich zuvor über die Art des Rauschgifts vergewissert hätte. Zur Begründung rekurriert der Senat auf die Pflicht von Ärzten und Apothekern, zuvor zu prüfen, ob sie dem Kunden das richtige Medikament aushändigen würden. Gegen diese Parallelisierung ist einzuwenden, dass für den Verkäufer grundsätzlich keine Untersuchungspflicht besteht.52 Auch liegt kein Ausnahmefall vor. So hat der Angeklagte als Gelegenheitsdealer – anders als beispielsweise bei Apothekern – für sich gerade keine besondere Sachkunde in Anspruch genommen. Der Bundesgerichtshof zeigt auch nicht auf, dass in Abweichung zu den sonstigen Gepflogenheiten beim illegalen Rauschgifthandel eine Verkehrssitte existiert, die beim Konsumenten überhaupt die vertragsrechtliche Erwartung einer Überprüfung der Drogen durch den Dealer auslöst.53 Es ist wenig plausibel, dass die Pflichten des Verkäufers im Hinblick auf das positive Erfüllungsinteresse weniger weit reichen als im Hinblick auf das negative Integritäts51 Vgl. das Konzept von Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S. 174 ff.; ebenso Schumann (Fn. 47), S. 114; kritisch F. Müller, Auskunftshaftung nach deutschem und englischem Recht, 1995, S. 138 ff. 52 BGH, NJW 2009, S. 2674; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 74. Auflage, 2015, § 433 Rn. 31; Westermann, in: Münchener Kommentar, BGB, 6. Auflage, 2012, § 433 Rn. 67; Harke, in: Soergel, BGB, 13. Auflage, 2014, Bd. 5/1a, 2014, § 311 Rn. 45. 53 Weidenkaff, in: Palandt, BGB (Fn. 52), § 433 Rn. 31; Beckmann, in: Staudinger, BGB, 2014, § 433 Rn. 147.

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interesse. Die Behauptung des Bundesgerichtshofs, die Ablehnung einer Prüfungspflicht widerstreite dem vom Gesetzgeber verfolgten Schutzzweck, die durch unerlaubte Betäubungsmittel verursachten Gefahren einzudämmen, missachtet, dass das deutsche Betäubungsmittelgesetz den Schutz der Volksgesundheit – so die begriffliche Umschreibung des nicht unumstrittenen Rechtsguts durch die Rechtsprechung54 – auf ganz andere Art, nämlich durch die Aussonderung der Drogen aus dem legalen Markt zu erreichen sucht. Die Zusage des Angeklagten, Rauschgift mit der vereinbarten Soll-Beschaffenheit zu übergeben, hat daher lediglich Relevanz im Hinblick auf die Einhaltung sonstiger Sorgfaltspflichten wie zum Beispiel bei der Auswahl des eigenen Lieferanten oder bei der Entnahme des Rauschgifts aus den eigenen Beständen etc.

VII. Schlussbemerkung Abschließend sei festgehalten: Es reicht für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Selbstgefährdungen oder Selbstschädigungen nicht aus, wenn der Täter dem Opfer durch sein Verhalten lediglich faktisch die Möglichkeit eröffnet, ein selbstgefährdendes oder selbstschädigendes Verhalten zu vollziehen. Vertraut das Opfer beim Vollzug eines derartigen Verhaltens auf bestimmte Umstände, die nach seiner Vorstellung eine Selbstgefährdung oder eine Selbstschädigung ausschließen, dann muss das Opfer dazu stets einen berechtigten Grund haben. Ist dies nicht der Fall, ist sein Vertrauen nicht schutzwürdig. Das Risiko, sich irrtumsbedingt selbst zu gefährden oder zu schädigen, fällt dann in den ausschließlichen Verantwortungsbereich des Opfers. Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder Selbstschädigung, die vom Täter nicht zu vermeiden ist, kann also auch dann vorliegen, wenn sich das Opfer in einem Irrtum befindet und daher sein Wille an einem Mangel leidet.55 Dies gilt übrigens auch in der Abwandlung des Ausgangsfalls, in dem sich das Opfers über die Konzentration oder die Reinheit des Rauschgifts irrt. Wenn das Opfer von einer niedrigeren Konzentration oder einer höheren Reinheit des Rauschgifts ausgeht, die tatsächliche Konzentration oder Reinheit sich aber noch im Rahmen der vereinbarten Soll-Beschaffenheit bewegt, fehlt es an einer zu vermeidenden Tat. Der Käufer, der darauf vertraut, dass der Kaufgegenstand eine bestimmte Eigenschaft nicht aufweist, die mit der Soll-Beschaffenheit in Einklang steht, vertraut auf eigene Gefahr. Den Verkäufer gleichwohl strafrechtliche Verantwortlichkeit für das selbstgefährdende oder selbstschädigende Verhalten des Opfers aufzuerlegen, würde bedeuten, ihn zum Hüter seines Nächsten zu bestellen. Dies wäre jedoch mit den Grundprinzipien einer freiheitlichen Rechtsordnung nicht zu vereinbaren.

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BGHSt 37, 179, 182. Zu weit ist auch aus diesem Grund der von Hruschka, ZStW 110 (1998), S. 581 ff., vertretene starke Ursachenbegriff, demzufolge sich ein deterministischer Kausalprozess auch dann vollziehen soll, wenn der Vordermann aufgrund eines Zurechnungsdefekts unfrei handelt; vgl. auch Schumann (Fn. 47), S. 103 ff. 55

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Im Normalfall beruht die Berechtigung des Vertrauens darauf, dass der Täter dem Opfer im Wege der Selbstverpflichtung einen Anspruch auf Richtigkeit einer Auskunft einräumt. Ob dies nur aufgrund eines Vertrags oder auch durch einseitige Erklärung erfolgen kann, sei hier dahingestellt. Ungeachtet dessen ist im deutschen Recht § 675 II BGB zu beachten. Dieser Vorschrift zufolge ist derjenige, der einem anderen einen Rat oder eine Empfehlung erteilt, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältnis, einer unerlaubten Handlung oder einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatz des aus der Befolgung des Rates oder Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet. Die Vorschrift bezieht sich entgegen dem missverständlichen Wortlaut auf sämtliche Auskünfte.56 Eigentlich soll der Vorschrift aufgrund ihres Inhalts nur eine deklaratorische Bedeutung zukommen.57 Ihr wird jedoch gleichwohl der Aussagehalt entnommen, dass die Auskunftserteilung grundsätzlich als unverbindliche Gefälligkeit zu qualifizieren ist, die Unverbindlichkeit der Auskunftserteilung also die Regel und ihre Verbindlichkeit die begründungsbedürftige Ausnahme ist. Infolgedessen übernimmt die Norm die Funktion einer Auslegungsregel.58 Zusagen im Zusammenhang eines Kaufvertrags wird man jedoch wohl grundsätzlich Verbindlichkeit zuzuerkennen haben. Es bedarf einer weiteren dogmatischen Untersuchung, um ganz allgemein und losgelöst von der vorangestellten konkreten Entscheidung zu klären, unter welchen Umständen ausnahmsweise von einer rechtlichen Verpflichtung des Auskunftsgebers auszugehen ist, wahrheitsgemäß zu informieren – auch wenn es an der primären Leistungspflicht fehlen mag, den Adressaten überhaupt mit einer Information zu versorgen –, auf die seine Verantwortlichkeit für die defizitäre Entscheidung des Opfers und im weiteren für die außerordentliche Zurechnung dessen selbstgefährdenden oder selbstschädigenden Verhaltens gestützt werden könnte. Mit diesen gewiss noch nicht abschließenden Bemerkungen, die eher den Charakter einer Problemskizze tragen, soll es sein Bewenden haben. Hoffentlich habe ich in Zukunft noch häufiger Gelegenheiten, mit dem Jubilar über diese und andere dogmatische Probleme kontrovers diskutieren zu können. Ich kenne niemanden in der strafrechtswissenschaftlichen Gemeinde, der schönere und kniffligere Fälle bilden könnte. So bleibt mir nur noch zu wünschen: Ad multos annos!

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So Martinek, in: Staudinger, BGB, 2006, § 675 Rn. C 6. Heermann, in: Münchener Kommentar, BGB, Bd. 4, 6. Auflage, 2012, § 675 Rn. 12; Martinek, in: Staudinger, BGB (Fn. 56), § 675 Rn. C 6 ff. 58 Martinek, in: Staudinger, BGB (Fn. 56), § 675 Rn. C 6 ff. 57

Strafsanktionen gegen Unternehmen in Europa Gudrun Hochmayr

I. Einleitung Wie der Jubilar in seinem instruktiven Beitrag über die „Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen“ darlegt, hat die Strafbarkeit juristischer Personen in Japan eine lange Tradition. Zahlreiche Vorschriften des Nebenstrafrechts sehen zusätzlich eine Kriminalstrafe gegen den Betriebsinhaber vor, wenn eine Straftat von einem Vertreter, Arbeitnehmer oder sonstigen Angestellten eines Betriebsinhabers bei der Betriebstätigkeit begangen wurde. Auch gegen eine juristische Person kann eine Geldstrafe verhängt werden, wenn sie Betriebsinhaber ist.1 In der Europäischen Union ist die Strafbarkeit juristischer Personen ein vergleichsweise junges Phänomen. Mittlerweile haben die meisten Mitgliedstaaten Sanktionen gegen Unternehmen im Bereich des klassischen Strafrechts eingeführt.2 Jene Mitgliedstaaten, die über ein echtes Unternehmensstrafrecht verfügen, sehen als kleinsten gemeinsamen Nenner Geldsanktionen gegen juristische Personen vor. Zu beobachten ist, dass verbreitet Unsicherheit darüber besteht, ob die Geldsanktionen eine Strafe oder eine strafrechtliche Sanktion anderer Art sind.3 Vor diesem Hintergrund werden zunächst die Anforderungen des Unionsrechts an die Sanktionierung von Unternehmen dargestellt. Sodann wird geklärt, ob sich aus einem europäischen Grundrecht, nämlich der Unschuldsvermutung, oder aus einem ungeschriebenen europäischen Schuldprinzip Schranken für eine echte Unternehmensstrafe ergeben. Abschließend wird am Beispiel der österreichischen Verbandsverantwortlichkeit erörtert, ob die vorgesehene Geldsanktion eine Strafe ist.4

1 Yamanaka, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, Zeitschrift für japanisches Recht 2002, Heft 14, 191 (195 ff.). 2 Deutschland gehört zu den wenigen Mitgliedstaaten, die sich auf eine Sanktionierung außerhalb des Kriminalstrafrechts beschränken; siehe § 30 OWiG. Es wird aber seit längerem intensiv über eine echte Unternehmensstrafe diskutiert. 3 Siehe z. B. für Österreich die Nachweise in Fn. 57; für Polen E. Weigend, in: Sieber/ Cornils, Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, 2010, S. 449 (453 f.); Zachuta, Specyfika odpowiedzialnos´ci podmiotów zbiorowych za czyny zabronione pod groz´ba˛ kary, Prokuratura i Prawo Heft 11, 2003, 147 (148) m.w.N. 4 Teile der Ausarbeitung entsprechen dem Beitrag der Verf. in ZIS 2016, 226.

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II. Vorgaben des Unionsrechts Das Recht der Europäischen Union stellt nur geringe Anforderungen an die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen. Die Rahmenbeschlüsse und Richtlinien zur Strafrechtsharmonisierung verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, sicherzustellen, dass juristische Personen für bestimmte Straftaten verantwortlich gemacht und sanktioniert werden können.5 Zur Verantwortung zu ziehen sind nur juristische Personen,6 nicht auch andere Unternehmen. Die Verantwortlichkeit hat dann einzugreifen, wenn eine bestimmte Straftat zu Gunsten7 der juristischen Person begangen worden ist. Es wird an zwei Tätergruppen angeknüpft: Personen in leitender Stellung8 und Untergebene. Straftaten von Leitungspersonen begründen unmittelbar eine Verantwortlichkeit der juristischen Person. Für Straftaten Untergebener ist die juristische Person zur Verantwortung zu ziehen, wenn die Begehung der Straftat durch die mangelnde Überwachung oder Kontrolle durch eine Leitungsperson ermöglicht wurde. Die Anknüpfung an das Fehlverhalten einer Leitungsperson entspricht dem Repräsentations- bzw. Zurechnungsmodell.9 Eine umfassendere, d. h. strengere, Konzeption der Strafbarkeit von Unternehmen ist möglich, da die Rechtsakte nur Mindestvorschriften vorsehen. Zu den Rechtsfolgen enthalten die Rechtsakte die allgemeine Vorgabe, eine wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion vorzusehen. Darüber hinaus verlangt die Mehrheit der Rechtsakte, dass zumindest eine nichtstrafrechtliche Geld-

5 Für einen detaillierten Überblick über die Rechtsakte sei auf Engelhart, Unternehmensstrafbarkeit im europäischen und internationalen Recht, eucrim 2012, 110 ff. verwiesen. 6 Überwiegend nehmen die Rechtsakte Staaten, sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts in Ausübung hoheitlicher Rechte sowie öffentlich-rechtliche internationale Organisationen aus. Der Begriff der juristischen Person richtet sich grundsätzlich nach dem nationalen Recht; siehe nur Art. 1 lit. d Zweites Protokoll aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1997, C 221/11. 7 Abweichend heißt es in den französischen Texten „pour le compte“ (auf Rechnung); anders nur Art. 5 Abs. 1 Décision-Cadre 2005/667/JAI du Conseil du 12 juillet 2005 visant à renforcer le cadre pénal pour la répression de la pollution causée par les navires, JO 2005, L 255/164 und Art. 8 Abs. 1 Décision-Cadre 2005/222/JAI du Conseil du 24 février 2005 relative aux attaques visant les systèmes d’information, JO 2005, L 69/67: („à leur profit“); uneinheitlich Décision-Cadre 2003/568/JAI du Conseil du 22 juillet 2003 relative à la lutte contre la corruption dans le secteur privé, JO 2003, L 192/54 (Art. 5: „à leur bénéfice“; Art. 7 c: „pour le compte“). 8 Im Einzelnen Personen, die befugt sind, die juristische Person zu vertreten, in ihrem Namen Entscheidungen zu treffen, oder die eine Kontrollbefugnis innerhalb der juristischen Person haben. Die Person muss entweder alleine oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt haben. 9 Für eine Übersicht der Modelle der Unternehmensverantwortlichkeit siehe Böse, Strafbarkeit juristischer Personen – Selbstverständlichkeit oder Paradigmenwechsel im Strafrecht, ZStW 126 (2014), 132 (136 ff.).

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sanktion (oder gleichbedeutend: eine Geldbuße)10 verhängt werden kann.11 Es wird also keine Kriminalstrafe vorgeschrieben. Diesem Befund entspricht, dass die Rechtsakte nicht von einer „Strafbarkeit juristischer Personen“, sondern neutral von der „Verantwortlichkeit juristischer Personen“ sprechen. Den Anforderungen kann eine Sanktionierung im Verwaltungsstrafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht genügen. Je nach Ausgestaltung der Rechtsordnung kann sogar ein Bußgeldverfahren vor Zivilgerichten, ähnlich dem Kartellverfahren, oder ein Strafschadensersatz ausreichen. Die Rechtsakte sind durch eine Zurückhaltung geprägt, die nationale Vorbehalte gegenüber einer echten Unternehmensstrafe berücksichtigt. Um die Anforderung einer wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktion zu erfüllen, erscheint es allerdings unabdingbar, dass die Sanktion eine pönale Komponente aufweist. Eine Sicherungsmaßnahme, wie eine Unternehmenskuratel,12 würde als alleinige Sanktion den Rahmenbeschlüssen und Richtlinien nicht entsprechen, weil sie an anderen Voraussetzungen zu orientieren wäre. Sie wäre an eine, in einer unternehmensbezogenen Straftat zum Ausdruck kommende, fortbestehende Gefährlichkeit des Unternehmens anzuknüpfen. Es müsste zusätzlich zur unternehmensbezogenen Straftat ein kriminogenes Organisationsdefizit nachweisbar sein. Diese Ausgestaltung würde hinter den Mindestanforderungen des Unionsrechts zurückbleiben. Auch eine Sanktion, die sich auf die Abschöpfung der Bereicherung beschränkt, wäre unzureichend. Es würde dem Unternehmen lediglich der finanzielle Vorteil entzogen, den dieses aus der oder für die Straftat erlangt hat. Dies hätte eine Sanktionslücke zur Folge, wenn mit der Straftat kein Vermögensvorteil für das Unternehmen verbunden war, etwa weil es beim Versuch geblieben ist oder ein wirtschaftlicher Vorteil letztlich ausgeblieben ist. Selbst wenn man diese Fälle ausklammert, kommt der Sanktion keine ausreichende abschreckende Wirkung13 zu. Das Unternehmen hätte als schlimmste Konsequenz einer Aufdeckung der Straftat nur zu befürchten, in finanzieller Hinsicht auf den Stand vor der Begehung der Straftat zurückversetzt zu werden.14 Der durch die Straftat erzielbare Gewinn würde das geringe Strafverfolgungsrisiko mehr als aufwiegen. Deshalb würde die Sanktion keine aus10 Es ist kein begrifflicher Unterschied gegeben. Es handelt sich um divergierende Übersetzungen des englischen Ausdrucks „non-criminal fine“; Engelhart, eucrim 2012, 113. 11 Diese Vorgabe ist zumeist auf die Begehung einer Straftat durch eine Führungsperson beschränkt. 12 Siehe den Vorschlag von Schünemann, Die aktuelle Forderung eines Verbandsstrafrechts – Ein kriminalpolitischer Zombie, ZIS 2014, 1 (7). 13 Damit dürfte vor allem die negative Generalprävention gemeint sein; Frisch, Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, GA 2009, 385 (403). 14 Dies gilt selbst dann, wenn der Verfall nach dem Bruttoprinzip erfolgt, da einer Abschöpfung des Erlöses über den Gewinn hinaus nach hier vertretener Ansicht kein Strafcharakter zukommt; näher Hochmayr, Neue Kriminalsanktionen im Rechtsvergleich. Zur Einordnung von Konfiskation, Verfall, chemischer Zwangsbehandlung von Sexualstraftätern und „Wiedergutmachungsstrafe“, ZStW 124 (2012), 64 (68).

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reichende motivierende Wirkung auf das betroffene und andere Unternehmen entfalten, künftig entsprechende Verhaltensweisen zu unterlassen.

III. Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung Eine juristische Person kann nicht selbst handeln. Sie ist darauf angewiesen, dass eine natürliche Person für sie tätig wird. Mangels der Fähigkeit, eine Strafbarkeit durch eigenes freies Verhalten zu vermeiden, kann diesem rechtlichen Gebilde keine Schuld im herkömmlichen Sinn vorgeworfen werden. Die Verhängung einer Kriminalstrafe gegen eine juristische Person könnte deshalb gegen das Schuldprinzip verstoßen. Das Schuldprinzip wird in der EMRK und in der GRCh nicht ausdrücklich garantiert. Es könnte sich aber aus der Unschuldsvermutung ableiten lassen.15 Im Folgenden wird geprüft, ob die Unschuldsvermutung die Vermeidbarkeit der Strafbarkeit durch persönliches Handeln voraussetzt. Wegen der Unterschiede im Wortlaut und in der Systematik wird auf die europäischen Gewährleistungen der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1 GRCh gesondert eingegangen. 1. Art. 6 Abs. 2 EMRK Die Reichweite der in der EMRK garantierten Rechte wird maßgeblich durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmt. Der Analyse der EGMR-Judikatur ist vorauszuschicken, dass der Gerichtshof bislang nicht über die Vereinbarkeit eines Unternehmensstrafrechts mit der Unschuldsvermutung entschieden hat. Der Anwendungsbereich der Konventionsgarantie ist eröffnet. Die Unschuldsvermutung ist ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.16 Und eine Kriminalstrafe für juristische Personen ist jedenfalls eine „Strafe“ i.S. der Konventionsgarantie.17 Die Unschuldsvermutung ist in Art. 6 Abs. 2 EMRK als Verfahrensgarantie konzipiert und auch der EGMR versteht sie hauptsächlich verfahrensbezogen als ein Ele-

15 So geht Generalanwältin Kokott (Schlussanträge v. 28. 02. 2013 zu Rs. C-681/11, Schenker & Co. AG u. a., Rz. 41) davon aus, dass der Grundsatz nulla poena sine culpa „notwendige Voraussetzung der Unschuldsvermutung“ ist und „implizit sowohl in Art. 48 Abs. 1 der Charta als auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK enthalten ist […]. Letztlich können diese beiden Bestimmungen der Charta und der EMRK als verfahrensrechtliche Ausprägung des Grundsatzes nulla poena sine culpa angesehen werden.“ 16 Einhellige Meinung; siehe nur Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz/MRK/IPBPR, 26. Aufl. (2012) Art. 14 Rz. 14; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Kommentar, 2. Aufl. (2015) Art. 6 Rz. 6. 17 Zu den Kriterien einer „Strafe“ i.S. von Art. 6 EMRK EGMRUrteil v. 08. 06. 1976, Engel u.a./Niederlande, Nrn. 5100/71, 5101/71 u. a., Z. 82.

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ment des Rechts auf ein faires Verfahren.18 Er beurteilt nicht, ob die angewandten Strafvorschriften mit der Konvention vereinbar sind, sondern ob die Art und Weise, in der die Strafvorschriften angewandt wurden, mit der Unschuldsvermutung und dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sind.19 Aus der Unschuldsvermutung folgert der Gerichtshof, dass die Strafverfolgungsbehörden die Strafbarkeitsvoraussetzungen nachzuweisen haben. Was im Einzelnen nachzuweisen ist, richtet sich grundsätzlich nach dem innerstaatlichen Recht.20 Anhand der Rechtssache Salabiaku gegen Frankreich hat der EGMR jedoch eine materielle Ausstrahlungswirkung der Unschuldsvermutung entwickelt. Ausgangspunkt ist das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Der Richter muss in der Lage sein, die Stichhaltigkeit der Anklage unparteiisch und unvoreingenommen zu beurteilen. Dies setzt eine Ausgestaltung der Strafvorschrift voraus, die dem Richter einen effektiven Beurteilungsspielraum belässt. Mit anderen Worten: Die Strafbarkeit darf nicht schon von vornherein feststehen. Der „Umfang des zu Beweisenden“ darf durch das materielle Recht nicht derart verkürzt werden, dass die Garantie des unvoreingenommenen Richters praktisch ausgehöhlt wird.21 Hierbei stellt der EGMR keine Mindestanforderungen an die Ausgestaltung einer Strafvorschrift (etwa im Sinne der Vermeidbarkeit der Strafbarkeit), sondern bleibt seiner verfahrensrechtlichen Sicht treu. Er hält sogar gesetzliche Tatsachen- oder Rechtsvermutungen für zulässig, wenn sie sich im Rahmen vernünftiger Grenzen bewegen, das Gewicht des Vorwurfs berücksichtigen und die Rechte der Verteidigung wahren.22 In der weit überwiegenden Anzahl der Fälle wurde ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung verneint, weil dem Beschwerdeführer Verteidigungsmöglichkeiten geblieben sind. So sah es der EGMR als ausreichend an, dass der Beschwerdeführer sich auf mildernde Umstände oder höhere Gewalt,23 18

Siehe nur EGMR Urteil v. 23. 07. 2002, Janosevic/Schweden, Nr. 34619/97, Z. 96. EGMR Urteil v. 25. 09. 1992, Pham Hoang/Frankreich, Nr. 13191/87, Z. 33. 20 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 Rz. 161. 21 EGMR Urteil v. 07. 10. 1988, Salabiaku/Frankreich, Nr. 10519/83, Z. 28: „If … paragraph 2 of Article 6 (art. 6 – 2) merely laid down a guarantee to be respected by the courts in the conduct of legal proceedings, its requirements would in practice overlap with the duty of impartiality imposed in paragraph 1 (art. 6 – 1). Above all, the national legislature would be free to strip the trial court of any genuine power of assessment and deprive the presumption of innocence of its substance, if the words ,according to law‘ were construed exclusively with reference to domestic law.“ Vgl. Lewisch, Verfassung und Strafrecht. Verfassungsrechtliche Schranken der Strafgesetzgebung (1993), S. 285, 287 ff. 22 EGMR Salabiaku/Frankreich, Z. 28: „Article 6 para. 2 (art. 6 – 2) does not therefore regard presumptions of fact or of law provided for in the criminal law with indifference. It requires States to confine them within reasonable limits which take into account the importance of what is at stake and maintain the rights of the defence.“ 23 EGMR Salabiaku/Frankreich, Z. 29: „Even though the ,person in possession‘ is ,deemed liable for the offence‘ this does not mean that he is left entirely without a means of defence. The competent court may accord him the benefit of extenuating circumstances …, and it must acquit him if he succeeds in establishing a case of force majeure.“ Kritisch hierzu Lewisch (Fn. 21) S. 295 f. 19

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das Vorliegen von Notstand oder eines unvermeidbaren Irrtums berufen konnte.24 Er wertete es als mit der Unschuldsvermutung vereinbar, dass von der Verhängung einer Sanktion abgesehen werden konnte, wenn das Verhalten entschuldbar oder die Sanktion als offensichtlich unangemessen erschien.25 Auch die Möglichkeit, sich auf die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems zu berufen, wurde als ausreichend beurteilt.26 Für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen ist das Urteil Radio France von besonderem Interesse, weil die Strafbarkeit an die Stellung des Beschwerdeführers angeknüpft wurde. Ein Sendungsverantwortlicher wurde ohne eigenen Schuldnachweis wegen einer diffamierenden Rundfunksendung zu einer Geldstrafe verurteilt. Der EGMR betonte, dass die Strafvorschrift den Zweck hat, den Sendungsverantwortlichen zu einer Vorabkontrolle des Inhalts der Rundfunksendung zu veranlassen, um diffamierende oder beleidigende Behauptungen in den Medien zu verhindern. Dass der Sendungsverantwortliche keine Möglichkeit hatte, sich durch den Nachweis wirksamer Kontrolle zu exkulpieren, beanstandete der EGMR nicht. Er erachtete es als genügend, dass sich der Verantwortliche darauf berufen konnte, dass die Äußerung nicht schon vor der Rundfunksendung festgestanden sei oder dass der Autor der Rundfunksendung die Äußerung in gutem Glauben gemacht habe.27 Aus dem Überblick über die Rechtsprechung des EGMR wird deutlich, dass der Gerichtshof aus der Unschuldsvermutung nicht das Erfordernis eigener Schuld des Angeklagten ableitet. Auf die Strafbarkeit von juristischen Personen übertragen, folgt daraus: Es verstößt nicht gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK, dass die juristische Person die Strafbarkeit nicht durch persönliches Handeln vermeiden kann. Die Begründung der Strafbarkeit von juristischen Personen über ein Zurechnungsmodell oder ein Organisationsversagen ist mit der Unschuldsvermutung vereinbar, weil der juristischen

24 EGMR Pham Hoang/Frankreich, Z. 34: „Mr Pham Hoang was not, in fact, deprived of all means of defending himself; under paragraph 3 of Article 399, he could try to demonstrate that he had ,acted from necessity or as a result of unavoidable mistake‘ … The presumption of his responsibility was not an irrebuttable one.“ 25 EGMR Janosevic/Schweden, Z. 100; EGMR Urteil v. 23. 07. 2002, Västberga Taxi Aktiebolag u. a./Schweden, Nr. 36985/97, Z. 112, 114: „… the Court acknowledges that the applicants were faced with a presumption that was difficult to rebut. However, they were not left without any means of defence. … Thus, they have been able to claim, as an alternative line of defence, that, even if they were found to have furnished incorrect information to the Tax Authority, it was excusable in the circumstances or that, in any event, the imposition of surcharges would be manifestly unreasonable.“ 26 EGMR Urteil v. 05. 10. 2006, Müller/Österreich (1), Nr. 12555/03, Z. 34; EGMR Urteil v. 18. 09. 2008, Müller/Österreich (2), Nr. 28034/04, Z. 40: „… the applicant was not left without any means of defence, as he had the opportunity to show that he had established an effective control system ensuring that the workers employed by the M company were informed about safety regulations and that compliance with such regulations was checked.“ 27 EGMR Urteil v. 30. 03. 2004, Radio France u. a./Frankreich, Nr. 53984/00, Z. 24.

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Person hinreichende Verteidigungsmöglichkeiten verbleiben.28 Selbst ein System bloß objektiver Verantwortlichkeit dürfte dem Mindeststandard des EGMR entsprechen, wenn es noch genügende Verteidigungsmöglichkeiten, wie den Einwand, ein effektives Compliance-System errichtet zu haben, gibt. 2. Art. 48 Abs. 1 GRCh Nach den Erläuterungen zur GRCh hat die in Art. 48 Abs. 1 GRCh enthaltene Unschuldsvermutung dieselbe Tragweite und Bedeutung wie nach der EMRK.29 Die Erläuterungen, die gemäß Absatz 5 der Präambel der GRCh gebührend zu berücksichtigen sind, sprechen sich also für die Anwendbarkeit der Kongruenzsicherungsklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh aus. Die Unschuldsvermutung nach Art. 48 Abs. 1 GRCh unterscheidet sich aber in zwei Punkten deutlich von Art. 6 Abs. 2 EMRK. Erstens ist die Unschuldsvermutung in der Europäischen Grundrechtecharta umfassender formuliert. Während es in der EMRK heißt: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“,30 bestimmt die GRCh: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“ Es wird mithin gefordert, dass die Schuld auf rechtsstaatliche Weise nachgewiesen wird. Damit werden Schuldvermutungen engere Grenzen als durch die EMRK gesetzt.31 Zweitens garantiert die GRCh die Unschuldsvermutung nicht als eine Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern trennt sie systematisch vom „Fair Trial“-Grundsatz, der in Art. 47 Abs. 2 GRCh behandelt wird. Die abweichende Formulierung und die Abschichtung vom Recht auf ein faires Verfahren eröffnen gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh die Möglichkeit einer Auslegung, die einen weiter gehenden Schutz gewährt. Es bleibt abzuwarten, ob sich der EuGH wegen der gewichtigen Unterschiede von der Rechtsprechung des EGMR emanzipieren und die Unschuldsvermutung stärken wird. Betrachtet man die Judikatur des EuGH zu Geldbußen gegen Unternehmen im EU-Wettbewerbsrecht,32 erscheint es unwahrscheinlich, dass sich der EuGH für das Erfordernis einer Vermeidbarkeit der Strafbarkeit durch persönliches Verhalten aus-

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A.A. Holzinger/Moringer, Zur Frage der Verfassungswidrigkeit des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes (VbVG), ÖJZ 2015, 403 (406 f.), aber ohne ausreichende Bezugnahme auf die Rspr. des EGMR. 29 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007, C 303/30. 30 In der authentischen englischen Fassung: „… until proved guilty according to law“. 31 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. (2014) Art. 48 Rz. 16; vgl. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006) § 52 Rz. 20. 32 Zur Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung im Wettbewerbsrecht EuG Urteil v. 05. 04. 2006, Rs. T- 279/02, Slg. 2006, II- 897, Degussa/Kommission, Rz. 115.

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sprechen wird.33 Der EuGH bejaht nämlich eine vorsätzliche oder fahrlässige Zuwiderhandlung eines Unternehmens schon dann, wenn die Handlung durch eine Person, die befugtermaßen für das Unternehmen tätig wurde, vorgenommen wurde. Er rechnet also dem Unternehmen das Fehlverhalten natürlicher Personen zu, die nicht der Leitungsebene angehören müssen. Auf eine Handlung oder die Kenntnisse des Inhabers oder Geschäftsführers des Unternehmens soll es nicht ankommen.34 Der EuGH anerkennt zwar einen allgemeinen „Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit“. Dieser kommt aber nur bei der Frage zur Anwendung, welches Unternehmen für eine Wettbewerbsverletzung bestraft werden kann. Einer Zurechnung des Handelns natürlicher Personen steht der Grundsatz nicht entgegen.35 Die Unschuldsvermutung selbst begreift der EuGH als einen rein prozessualen Grundsatz.36 3. Ergebnis In der Interpretation der europäischen Gerichte gewährleistet die Unschuldsvermutung nicht die Vermeidbarkeit der Strafbarkeit. Die Unschuldsvermutung steht deshalb einer Kriminalstrafe gegen Unternehmen nicht entgegen.

33 Anzumerken ist, dass auch im Schrifttum in Frage gestellt wird, ob die Unschuldsvermutung das Schuldprinzip (im Sinne einer persönlichen Vorwerfbarkeit) gewährleistet; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 Rz. 161; Lewisch (Fn. 21) S. 294 f.: „keine Garantie des Schuldprinzips i.w.S.“, sondern nur ein „inhaltlicher Zusammenhang“; verneinend Schaut, Europäische Strafrechtsprinzipien (2012) S. 223 ff.; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1998) S. 512 f.; befürwortend Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. (2014) § 10 Rz. 25; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren. EMRK und IPBPR (2005) Art. 6 Rz. 103. 34 Ständige Rspr., beginnend mit EuGH Urteil v. 07. 07. 1983, Rs. 100 – 103/80, Slg. 1983, I- 1825, Musique diffusion francaise u. a./Kommission, Rz. 97 f.; siehe EuG Urteil v. 17. 05. 2013, Rs. T- 146/09, Parker ITR und Parker-Hannifin/Kommission, Rz. 151. Siehe dazu Vogel/Brodowski, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. (2014) § 5 Rz. 69 f. 35 EuGH Urteil v. 08. 07. 1999, Rs. C-49/92 P, Slg. 1999, I- 4125, Kommission/Anic Partecipazioni, Rz. 146; EuGH Urteil v. 11. 12. 2007, Rs. C-280/06, Slg. 2007, I- 10893, ETI u. a., Rz. 40 ff.; siehe auch EuG Urteil v. 23. 01. 2014, Rs. T-391/09, Evonik Degussa und AlzChem/Kommission, Rz. 30 ff., 37 f., unter Nennung des „Schuldprinzips“. 36 EuGH Urteil v. 08. 07. 1999, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I- 4287, Hüls/Kommission, Rz. 149 f., 155; EuGH Urteil v. 08. 07. 1999, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I- 4539, Montecatini/ Kommission, Rz. 175 ff. Siehe auch EuG Degussa/Kommission, Rz. 115; EuG Urteil v. 13. 07. 2011, Rs. T-138/07, Schilder Holding u. a./Kommission, Rz. 159 ff.; EuG Evonik Degussa und AlzChem/Kommission, Rz. 34.

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IV. Vereinbarkeit mit einem ungeschriebenen europäischen Schuldgrundsatz Im Schrifttum wird verbreitet davon ausgegangen, dass der Schuldgrundsatz als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt sei.37 Allerdings findet in der Rechtsprechung des EuGH der Schuldgrundsatz als allgemeiner Rechtsgrundsatz, soweit ersichtlich, kaum Erwähnung.38 Allenfalls lässt sich dem Champignon Hofmeister-Urteil des EuGH eine mittelbare Anerkennung des Schuldprinzips entnehmen. Der EuGH stellt fest, dass die betreffende Sanktion „nur dann gegen den Grundsatz ,nulla poena sine culpa‘ verstoßen kann, wenn sie strafrechtlicher Natur ist“. Im konkreten Fall wurde ein Verstoß mangels strafrechtlicher Natur verneint.39 Es gibt umgekehrt (ältere) Judikate, die gegen die Anerkennung eines entsprechenden Rechtsgrundsatzes sprechen. In den Fällen Hansen und Vandevenne kam der EuGH zum Ergebnis, dass allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht entgegenstehen.40 Selbst wenn man zumindest für das Kriminalstrafrecht von der Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes „nulla poena sine culpa“ ausgeht, deutet nichts darauf hin, dass sich der EuGH einem strengen Verständnis des Schuldgrundsatzes im deutschen Sinn41 anschließen und die Fähigkeit, persönlich anders handeln zu können, verlangen würde.42 In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen im Fall Schenker & Co. AG voraussetzt, dass ein Vergehen einem Unternehmen subjektiv vorwerfbar sein und ein Unternehmen 37 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. (2012) Art. 83 Rz. 18; Esser, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht, § 55 Rz. 62; Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. (2015) Art. 83 Rz. 27; Schaut (Fn. 33) S. 232 ff.; Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 57. Ergänzungslieferung (Aug. 2015) Art. 83 Rz. 35, 46. 38 In EuG Degussa/Kommission bezieht sich das Parteivorbringen teilweise auf nulla poena sine culpa (Rz. 35, 258); das EuG geht hierauf inhaltlich aber nicht ein. In EuGH Urteil v. 18. 11. 1987, Rs. 137/85, Slg. 1987, I- 4587, Maizena/BALM, Rz. 14 wird nulla poena sine culpa als „typisch strafrechtliche[r]“ Grundsatz bezeichnet. 39 EuGH Urteil v. 11. 07. 2002, Rs. C-210/00, Slg. 2002, I- 6453, Champignon Hofmeister, Rz. 35, 44. 40 EuGH Urteil v. 10. 07. 1990, Rs. C-326/88, Slg. 1990, I- 2911, Hansen, Rz. 16, 20 und EuGH Urteil v. 02. 10. 1991, Rs. C-7/90, Slg. 1991, I- 4371, Vandevenne, Rz. 18. 41 Siehe hierzu BVerfGE 123, 267 (413). 42 Vgl. Weigend, Mindestanforderungen an ein europaweit geltendes harmonisiertes Strafrecht, in: Zieschang, Strafrecht und Kriminalität in Europa (2003) S. 57 (72), der feststellt, „dass jedenfalls die spezifisch deutsche strenge Ausprägung des Schuldgedankens […] europäisch gesehen ein Schuldprinzip de luxe ist, das sich in dieser Form kaum allgemeinverbindlich durchsetzen lassen wird.“; vgl. auch Meyer in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 83 Rz. 27: „Angesichts der europaweit recht unterschiedlichen Verständnisse und Zuschreibungen von Inhalten zum Schuldbegriff, erscheint allerdings eine differenzierte Betrachtung notwendig, die den Unionsgrundsatz nicht mit (gewünschten) nationalen Rechtsinhalten auflädt, sondern enger an einem unionsweit konsentierten und anschlussfähigen Konzept persönlicher Verantwortlichkeit orientiert.“

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einem schuldausschließenden Verbotsirrtum unterliegen könne. Sie geht also wie selbstverständlich davon aus, dass das Handeln der für das Unternehmen tätigen Personen dem Unternehmen zurechenbar sei.43 Es kann damit festgehalten werden, dass die Vereinbarkeit einer echten Unternehmensstrafe mit dem Schuldprinzip kein europäisches, sondern ein innerstaatliches strafrechtsdogmatisches, allenfalls verfassungsrechtliches Problem ist.

V. Der Sanktionscharakter am Beispiel der österreichischen Verbandsgeldbuße Das österreichische Modell einer Verbandsverantwortlichkeit44 folgt in der Begründung der Verantwortlichkeit den unionsrechtlichen Mindestvorgaben: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit knüpft an die Begehung einer Straftat durch einen Entscheidungsträger oder durch einen Mitarbeiter an, wobei die Mitarbeitertat durch eine Organisationspflichtverletzung eines Entscheidungsträgers ermöglicht oder wesentlich erleichtert worden sein muss. Die allgemeinen Voraussetzungen der Verbandsverantwortlichkeit gehen über die Anforderungen der Rechtsakte der EU hinaus: Nicht nur die Tatbegehung zugunsten des Verbandes, auch die Begehung der Tat unter Verletzung der Verbandspflichten löst die Verantwortlichkeit aus.45 Verantwortlich sind neben juristischen Personen eingetragene Personengesellschaften und Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigungen.46 Ist der Verband für die Straftat verantwortlich, wird er zu einer Verbandsgeldbuße verurteilt. Die Buße ist in Tagessätzen zu bemessen; die Höhe des Tagessatzes richtet sich nach der Ertragslage des Verbandes.47

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Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 28. 02. 2013 zu Rs. C-681/11, Schenker & Co. AG u. a., Rz. 44: „Aus dem Grundsatz nulla poena sine culpa folgt, dass ein Unternehmen für ein Kartellvergehen, welches es bei rein objektiver Betrachtung begangen hat, nur dann zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn ihm dieses Vergehen auch in subjektiver Hinsicht vorwerfbar ist. Unterlag das Unternehmen hingegen einem schuldausschließenden Verbotsirrtum, so kann ihm gegenüber weder eine Zuwiderhandlung festgestellt werden, noch kann sie zur Grundlage für die Verhängung von Sanktionen wie etwa Geldbußen gemacht werden.“ 44 Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz – VbVG), BGBl. I Nr. 151/2005, in Kraft getreten am 01. 01. 2006. 45 § 3 Abs. 1 VbVG. Die Umschreibung ist angelehnt an § 30 OWiG; EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 21. 46 § 1 Abs. 2 VbVG. Zur Begründung wird auf die starke Annäherung der genannten Vereinigungen an juristische Personen verwiesen; EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 17. Zu den von der Verantwortlichkeit ausgenommenen Verbänden siehe § 1 Abs. 3 VbVG. 47 § 4 VbVG. Die Höchstgrenze eines Tagessatzes wurde abweichend von der Regierungsvorlage auf 10.000 E begrenzt (§ 4 Abs. 4 VbVG). Die Verbandsgeldbuße kann daher maximal 1,8 Mio E betragen. Berechtigte Kritik an der Begrenzung bei Hilf/Zeder, in: Höpfel/ Ratz, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 73. Ergänzungslieferung (Juni 2010) § 4 VbVG Rz. 16.

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Ob die Verbandsgeldbuße eine Strafe oder eine strafgerichtliche Sanktion anderer Art ist, wird kontrovers diskutiert. Der Gesetzgeber hat es vermieden, Begriffe zu verwenden, mit denen eine Festlegung auf einen Strafcharakter verbunden wäre.48 Statt von Strafbarkeit wird von einer Verantwortlichkeit für Straftaten gesprochen, statt von Geldstrafe von Verbandsgeldbuße, statt vom beschuldigten Verband vom belangten Verband. Allein aus der Begrifflichkeit abzuleiten, dass die Verbandsgeldbuße keine Strafe sei,49 griffe indes zu kurz. Der Gesetzgeber wählte bewusst neutrale Begriffe, die keine Präferenz für die eine oder die andere Lösung ausdrücken sollten.50 Betrachtet man die Art und Weise, in der die Verbandsgeldbuße verhängt wird, scheint das Ergebnis auf der Hand zu liegen. Gegen den Verband wird ein Strafverfahren geführt, das regelmäßig mit dem Strafverfahren gegen die natürliche Person verbunden wird. Dem Verband kommen im Verfahren die Rechte des Beschuldigten zu (§ 13 Abs. 1 VbVG). Die allgemeinen Bestimmungen über das Strafverfahren sind auf das Verfahren gegen den Verband anwendbar, soweit sich nicht aus dem VbVG etwas anderes ergibt. Dabei steht der Begriff „Strafe“ für die Verbandsgeldbuße (§ 14 VbVG). Die Gesetzesbegründung betont, dass der Vorwurf gegen den belangten Verband eine strafrechtliche Anklage i.S. von Art. 6 EMRK darstellt.51 Wird der Verband als für die Straftat verantwortlich befunden, ist er zu verurteilen.52 Mit der Verurteilung durch ein Strafgericht wird ein sozialethisches Unwerturteil über den Verband gefällt.53 Ein Unterschied zwischen der Verhängung einer Geldbuße und einer Strafe ist nicht ersichtlich. Die Bemessung der Verbandsgeldbuße richtet sich wie bei einer Strafe gegen eine natürliche Person nach der Schwere des verwirklichten Delikts.54 Die Anzahl der Tagessätze korreliert mit der Schwere des Vorwurfs. Je größer die Schädigung oder Ge48 Dagegen war in einem ersten Entwurf des zuständigen Referenten des BMJ noch von einer „Geldstrafe“ die Rede; Entwurf eines Bundesgesetzes über die Strafbarkeit juristischer Personen (JPStrG); siehe Zeder, Ein Strafrecht juristischer Personen: Grundzüge einer Regelung in Österreich, ÖJZ 2001, 630 (641 f.). Für die eindeutige Bezeichnung „Verbandsgeldstrafe“ hat sich der Gesetzgeber von Liechtenstein entschieden (§ 74b liechtStGB), der sich im Übrigen stark am österreichischen VbVG orientiert; dazu Hilf, Das neue Unternehmensstrafrecht in Liechtenstein im Spiegel seiner Nachbarrechtsordnungen, ZStrR 2011, 129 (258 ff.). 49 So aber Schünemann, ZIS 2014, 12. 50 Vgl. EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 20; Schick, „Kartellstrafrecht“ in Österreich oder Falsa demonstratio non nocet, FS für Tiedemann (2008) S. 851 (859): „Der Begriff ,Verbandsgeldbuße‘ ist das Ergebnis eines Kompromisses, der – allerdings nur terminologisch – Abschied nimmt von der ursprünglich vorgesehenen ,Verbandsstrafbarkeit‘.“ 51 EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 31. 52 § 22 Abs. 4 VbVG („im Fall einer Verurteilung“). 53 EBRV 994 BlgNR 22. GP, S. 24. Die Gesetzesbegründung sieht sogar die Aufnahme der Verurteilung ins Strafregister vor (a.a.O. S. 15); die dafür erforderlichen Änderungen insbesondere des Strafregistergesetzes wurden allerdings bis heute nicht vorgenommen. 54 Zur Umrechnung einer angedrohten Freiheitsstrafe in Tagessätze siehe § 4 Abs. 3 VbVG.

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fährdung, für die der Verband verantwortlich ist, umso höher hat die Anzahl der Tagessätze auszufallen. Umgekehrt begrenzt der Umfang der zu verantwortenden Folgen der Tat die Höhe der Sanktion. Aufschläge sind nicht zulässig. Ein aus der Straftat erzielter Gewinn wird nicht mittels der Verbandsgeldbuße abgeschöpft, sondern ist unabhängig von dieser für verfallen zu erklären.55 Die Verknüpfung der Schwere der Sanktion mit dem Ausmaß des Vorwurfs ist kennzeichnend für eine Strafe.56 Hinzu tritt, dass die Verbandsgeldbuße wie eine Freiheits- oder Geldstrafe bedingt nachgesehen, d. h. (in der Terminologie der deutschen Rechtsordnung) eine „Bewährungsstrafe“ verhängt werden kann (§ 6 VbVG). Diese Möglichkeit gibt es im österreichischen Sanktionenrecht nur bei einer Strafe, nicht bei anderen Sanktionen, wie einer vorbeugenden (sichernden) Maßnahme oder der Gewinnabschöpfung. In der Gesamtschau erfüllt die Sanktion alle Kriterien einer Strafe: Sie ist die gezielte Zufügung eines Übels als Ausdruck der staatlichen Missbilligung der Straftat.57 Nun ist es auch in der österreichischen Strafrechtsdogmatik anerkannt, dass eine Strafe Schuld voraussetzt. Eine schuldhafte Tatbegehung ist Bedingung für die Verhängung einer Strafe. Die Schuld begrenzt zugleich die Höhe der Strafe. Es darf in der Strafe kein höherer Unrechtsvorwurf zum Ausdruck kommen, als dem Verurteilten zur Last fällt.58 Im VbVG wurde das Zurechnungsmodell verwirklicht.59 Der Verband muss sich das Verhalten eines Entscheidungsträgers nicht nur im Zivil- und Verwaltungsrecht, sondern auch im Strafrecht als eigenes Verhalten zurechnen lassen. Damit führt der Streit um die Einordnung der Verbandsgeldbuße auf die Grundsatz-

55 §§ 20 ff. öStGB i.V.m. § 12 Abs. 1 VbVG; EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 30. Der Erschwerungsgrund in § 5 Abs. 2 Nr. 2 VbVG, der sich an der Höhe des vom Verband erlangten Vorteils orientiert, dient nicht der Gewinnabschöpfung. 56 Schmoller, Verbandsgeldbußen in Österreich und Deutschland, FS für Küper (2007) S. 519 (525 f.). 57 Für die Einordnung als Strafe auch Maleczky, Strafrecht AT II, 18. Aufl. (2015) S. 81; Schick, FS für Tiedemann, S. 859 f.; Schmoller, Strafe ohne Schuld?, FS für Otto (2007) S. 453 (459); Steininger, Verbandsverantwortlichkeitsgesetz. Kommentar (2006) § 4 Rz. 6; siehe auch Boller, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden nach dem VbVG (2007) S. 211 („strafähnliche Rechtsfolge“). Ablehnend Moos, Die Strafbarkeit juristischer Personen und der Schuldgrundsatz, RZ 2004, 98 (103 f.), der in der Verbandsgeldbuße eine dritte Spur neben Strafen und vorbeugenden (sichernden) Maßnahmen sieht, die Ähnlichkeiten zur Gewinnabschöpfung aufweist; Schünemann, ZIS 2014, 12 („Geldbuße, aber keine Strafe“). Die Rechtsnatur offen lassend Hilf/Zeder, in: WK-StGB § 4 VbVG Rz. 1. 58 Siehe nur Fuchs, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 8. Aufl. (2012) 2. Kapitel Rz. 24. Ob der in § 4 öStGB auf einfachgesetzlicher Ebene normierte Schuldgrundsatz verfassungsrechtlich abgesichert ist, ist nicht abschließend geklärt; dazu Moos, Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Lieferung (Apr. 2004) § 4 Rz. 12 ff. 59 Hilf/Zeder, WK-StGB § 3 VbVG Rz. 3 konzedieren die Nähe zu den Zurechnungsmodellen, sind aber der Ansicht, der Gesetzestext sei auch für eine Interpretation als originäres Modell offen; in diese Richtung auch EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 22. Gegen eine Deutung als Verantwortlichkeit für ein Organisationsversagen ist einzuwenden, dass sich der Verband nicht wirksam auf die Einhaltung ausreichender Sorgfalt zur Verhinderung der Entscheidungsträgertat berufen kann.

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frage zurück, ob es dem Schuldprinzip genügt, dass der Verband mittels der für ihn handelnden Personen eine Strafbarkeit vermeiden kann. Zu beachten ist, dass das Zurechnungsmodell in Österreich nicht konsequent ausgeformt wurde. Die Verbandsverantwortlichkeit für Straftaten eines Entscheidungsträgers setzt voraus, dass dieser tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat (§ 3 Abs. 2 VbVG). Für Straftaten von Mitarbeitern scheint das VbVG dagegen auf ein schuldhaftes Verhalten der für den Verband handelnden Person zu verzichten. Nach dem Wortlaut genügt es, dass ein Mitarbeiter den objektiven Tatbestand rechtswidrig verwirklicht hat. Handelt es sich um ein Vorsatzdelikt, muss der Mitarbeiter vorsätzlich, bei einem Fahrlässigkeitsdelikt objektiv sorgfaltswidrig gehandelt haben. Zusätzlich muss der Entscheidungsträger die Straftat objektiv sorgfaltswidrig im Rahmen des Zumutbaren nicht verhindert haben (§ 3 Abs. 3 VbVG). Ein subjektiv sorgfaltswidriges und schuldhaftes Verhalten eines Entscheidungsträgers ist dem Gesetzeswortlaut zufolge nicht erforderlich.60 Der Verband hätte nicht einmal die Möglichkeit, mit Hilfe eines Entscheidungsträgers die Strafbarkeit zu vermeiden. Der Fehler kann, wie gezeigt wurde, durch die Auslegung behoben werden. Auf Seiten des Entscheidungsträgers ist ein auch subjektiv sorgfaltswidriges und schuldhaftes Verhalten zu fordern.61 Mit dieser Korrektur handelt es sich um ein folgerichtiges Zurechnungsmodell, das mit einem modifizierten Schuldprinzip zu vereinbaren sein dürfte.

VI. Zusammenfassung Das Recht der Europäischen Union gebietet gegenwärtig keine Sanktionierung von juristischen Personen mittels Kriminalstrafe. Auch andere Sanktionen können den Vorgaben der Rahmenbeschlüsse und Richtlinien entsprechen. Nicht ausreichend sind Maßregeln, die sich ausschließlich an der Gefährlichkeit orientieren, oder Sanktionen, die sich auf die Abschöpfung finanzieller Vorteile beschränken. Sie entsprechen nicht der Anforderung einer wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktion. Der EGMR und der EuGH leiten aus der Unschuldsvermutung nicht das Erfordernis ab, dass die Strafbarkeit individuell vermeidbar sein muss. Eine echte Unternehmensstrafe verstößt deshalb nicht gegen die Unschuldsvermutung. Auch ein Verstoß gegen das Schuldprinzip als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz des Unionsrechts lässt sich nicht feststellen. Die österreichische Verbandsgeldbuße stellt sich als Strafe dar. Sie ist mit dem innerstaatlichen Schuldprinzip vereinbar, wenn man für dieses modifiziert die Zurechenbarkeit der Schuld eines Entscheidungsträgers genügen lässt. 60

Explizit EBRV 944 BlgNR 22. GP, S. 23: es sei nicht „von Bedeutung, ob die Maßnahmen vorsätzlich, fahrlässig oder nicht schuldhaft unterlassen worden sind“. 61 Näher Schmoller, FS für Otto, S. 463 ff.; daran anschließend Köck, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. (2010) S. 304.

Akzessorietät Günther Jakobs

I. Arbeitsteilung Beteiligung ist eine Form der Arbeitsteilung. Bei der trennenden Variante erledigt jede Person ihre Aufgabe, und wie von einer anderen daran angeschlossen wird, geht sie nichts an, insbesondere nicht bei einem deliktischen Anschluss; denn die Erledigung der Aufgabe bedeutet nicht, ein deliktischer Anschluss werde folgen. Beispielhaft, ob der Käufer einer handelsüblichen Reitpeitsche damit ein Pferd antreiben oder eine Frau schlagen wird, muss der Verkäufer beim Verkauf nicht berücksichtigen: Regressverbot, was heißt, bei der Suche, wie die Verletzung der Frau zu erklären ist, dürfe nicht auf den Verkauf des Tatmittels zurückgegriffen werden. Anders verhält es sich bei der verbindenden Arbeitsteilung; hier trägt der Beitrag die Bedeutung, ein deliktischer Anschluss werde vorangebracht. Bei dieser verbindenden Arbeitsteilung handelt es sich um den Bereich der Beteiligung, in dem mehrere Personen – nicht notwendig absichtlich und gleichfalls nicht notwendig in wechselseitiger Kenntnis ihrer Beiträge – ein gemeinsames Werk verrichten. Die Gemeinsamkeit wird dadurch gestiftet, dass die einzelnen Beiträge dieselbe Bedeutung aufweisen, nämlich ein deliktischer Anschluss werde vorangebracht. Es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle nicht die gesamte Problematik der Beteiligung erörtert werden kann; vielmehr soll nur die Beantwortung einer Frage versucht werden: Warum geht eine Person, die nicht als letzte agiert, die Aktion der letzten etwas an? Die Antwort lautet knapp gefasst, weil die normative Struktur der Gesellschaft gemeinsame Unternehmungen kennt, und zwar in Gestalt der Zurechnung fremdhändiger Tätigkeit als eigene. Die übliche Bezeichnung für diesen Zurechnungsvorgang lautet „Akzessorietät“.

II. Yamanaka zur Diskussion in Japan Yamanaka hat sich – auch in deutscher Sprache – immer wieder zu Problemen der Beteiligung geäußert,1 und zwar mindestens zweimal speziell zur Akzessorietät.2 1 Yamanaka, Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine Mindermeinung, in: Plywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, 1998,

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Yamanaka berichtet von einem „dreigeteilt(en) Begriff der Akzessorietät“ – eine Differenzierung, die, wie dem Verf. dieser Zeilen mehrfach von bestens unterrichteten Kollegen bestätigt wurde, zu einem wesentlichen Teil auf seinen Untersuchungen fußt. Der Begriff „enthält erstens die Frage nach der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit von der Tatausführung, zweitens die Frage nach der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit von der Art der Straftat und drittens die Frage nach der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit von der Strafbarkeit des Täters“.3 Wenn Yamanaka vorträgt, „der Schlüsselbegriff der Akzessorietät muss wissenschaftlich ,entzaubert‘ werden“,4 so formuliert er damit das auch im hiesigen Beitrag verfolgte Anliegen. In Japan unterscheidet man nach dem kritischen Bericht Yamanakas zwischen einer „Unabhängigkeitstheorie“ und einer „Abhängigkeitstheorie“,5 wobei sich die Unabhängigkeit oder Abhängigkeit auf das Verhältnis von Beteiligung und Haupttat bezieht. Wenn zur Bestrafung des Beteiligten die Haupttat wenigstens das Versuchsstadium erreicht haben muss, so handelt es sich um Abhängigkeit, wenn aber nicht, so um Unabhängigkeit.6 Weitere Theorien, wohl innerhalb der Abhängigkeitstheorie, unterscheiden nach einer Straftatgemeinsamkeit und einer Tatgemeinsamkeit.7 Ein Beispiel nach Yamanaka:8 Verprügeln zwei Personen ein Opfer, aber nur eine von ihnen handelt mit Tötungsvorsatz, so begehen nach der Theorie der Straftatgemeinsamkeit beide einen Totschlag, den die bezüglich der Tötung undolose Person aber nur als Körperverletzung zu verantworten hat, während nach der Theorie der Tatgemeinsamkeit zu der, was die Tötung angeht, undolosen Person keine auch nur virtuelle Zurechnung der Tötung stattfindet. Um Yamanakas eigene Theorie zu verstehen, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass mittelbare Täterschaft ausgeschlossen sein soll, wenn der Ausführende „normative Schranken“ überschreitet;9 wiederum beispielhaft: Die Verleitung zu einer fahrS. 583 ff.; ders., Erscheinungsformen der Tatbeteiligung mehrerer unter besonderer Berücksichtigung von organisierter Kriminalität wie auch krimineller Aktivitäten von Organisationen, in: Eser u. a. (Hrsg.), Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, 2001, S. 127 ff.; ders., Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen – Betrachtungen anhand der japanischen Diskussion, in: Pawlik u. a. (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 767 ff.; ders., Abgrenzung von Beihilfe und Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten, in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Strafrecht aus Leidenschaft. Festschrift für Bernd Schünemann, 2014, S. 561 ff. 2 Ausführlich und durchgehend in „Gedanken“ (Fn. 1), aber auch in „Erscheinungsformen“ (Fn. 1), S. 128 f. 3 Yamanaka, Erscheinungsformen (Fn. 1), S. 129. 4 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 606. 5 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 583 und immer wieder; ders., Erscheinungsformen (Fn. 1), S. 128. 6 Im letzteren Fall könnte man das Erreichen der Haupttat zwar nicht als Bestandteil des Unrechts, aber doch als objektive Bedingung der Strafbarkeit behandeln. 7 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 586 f. 8 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 587. 9 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 590 ff.

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lässigen Tötung ist Anstiftung zum Totschlag, nicht aber Totschlag in mittelbarer Täterschaft,10 dies nach Yamanaka aber nur, wenn die Ausführung ein „strafwürdiges“ Verhalten ist,11 also insbesondere nicht im Fall des Verleitens zu einer unvorsätzlichen Selbstverletzung,12 in dem dann die mittelbare Täterschaft „greift“.13 Yamanaka versteht sich als ein Vertreter der Tatgemeinsamkeitstheorie, aber eben beschränkt auf die Tat,14 und er beharrt auf der Mitverursachung „strafwürdigen“ Unrechts im Gegensatz zur Verursachung der „rein faktischen Haupttat“.15 Eben deshalb soll die Verleitung zu einer Selbstverletzung, wie zuvor schon ausgeführt wurde, als mittelbare Täterschaft und nicht als Täterschaft im allgemeinen Sinn zu bewerten sein. Im Ergebnis steht Yamanaka, wie er selbst bemerkt, einer Verursachungstheorie nahe: „Die Tatgemeinsamkeitstheorie … setzt die Verursachungstheorie voraus.“16 Die Theorie enthält also nicht nur Ursächlichkeit als eines von mehreren Elementen, vielmehr als Basis, auf der die „gemeinsame Tat“ und das „strafwürdige Unrecht“ aufruhen. Damit bleibt es bei einer faktischen Verbindung der einzelnen Beiträge. Es handelt sich also um eine hauptsächlich, wenn auch nicht nur, gesellschaftsexterne Theorie: Wer wird für welches (allerdings: strafwürdige) Geschehen ursächlich? – Demgegenüber soll hier eine gesellschaftsinterne Deutung der Beteiligung vorgeschlagen werden (der Yamanaka in seinem Beitrag „Objektive Zurechnung“17 ja auch durchaus nahegekommen ist), dies nicht, um den Jubilar zu kritisieren oder gar zu widerlegen, sondern um – vielleicht – in eine intensivere Diskussion mit ihm zu gelangen.

III. Modelle Ein Gesetzgeber, der vor der Aufgabe steht, die Beteiligung18 normativ zu organisieren, kann zwei Wege (nebst Zwischenwegen, deren Verfolgung aber regelmäßig in einen der beiden Wege oder in einen Kreisel einmündet) einschlagen. Auf dem 10

Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 591. Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 590, 598 und passim. 12 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 591 ff. 13 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 590. 14 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 590. 15 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 590 (Hervorhebung nicht original). 16 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 598. 17 Yamanaka, Fn. 1. 18 Unter Beteiligung wird hier auch die Mittäterschaft verstanden (Jakobs, Mittäterschaft als Beteiligung, in: Paeffgen u. a. [Hrsg.], Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 547 ff.), nicht aber die mittelbare Täterschaft (ders., Theorie der Beteiligung, 2014, S. 37 ff.). – Übrigens entspricht die Gleichsetzung von Beteiligung und Mittäterschaft einer alten Lehre, wie dem Umstand zu entnehmen ist, dass seinerzeit auch bei Mittäterschaft auf Akzessorietät abgestellt wurde: Birkmeyer, Teilnahme am Verbrechen, in: ders. u. a., VDAT, Bd. II, S. 1 ff., 4; Mezger, Strafrecht, 2. Auflage, 1933, S. 446 ff., u.a.m. 11

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ersten Weg – demjenigen der Verursachungstheorie nebst ihren Varianten – wandelt Yamanaka, und zwar mit dem Argument der „individuellen Verantwortungszurechnung des modernen Strafrechts“.19 Aber was soll hier „individuell“ heißen? Die am schärfsten individuelle Gestaltung der Beteiligung bestünde darin, das Beteiligungsverhalten als ein eigenes Unrecht auszugestalten. Der Beteiligte verstieße dann gegen eine Norm des Inhalts (erstens): „Vollziehe kein Verhalten, das die Ausführung eines anderen voranbringen kann.“20 Mit dem Aus-der-Hand-Geben21 der eine Ausführung voranbringenden Leistung wäre die Beteiligung vollendet; allenfalls mag die Ausführung als objektive Bedingung der Strafbarkeit hinzutreten, und damit bliebe die Beteiligung straffrei, die nicht eine Ausführung bewirkt. Jedenfalls wäre die Beteiligung ein abstraktes Gefährdungsdelikt, wobei es sich um die Gefahr des bloßen Zustandekommens der Ausführung oder aber des Erfolgseintritts der Ausführung handeln kann. – Die Norm könnte aber auch lauten (zweitens): „Gib nichts aus der Hand, was eine Ausführung voranbringt.“ Die (zumindest versuchte) Ausführung ist in dieser Variante der Erfolg des Beteiligungsverhaltens; Versuch der Beteiligung bliebe möglich. – Eine weitere Variante wäre die folgende Norm (drittens): „Gib nichts aus der Hand, was die Ausführung eines anderen voranbringt und dadurch zur Verletzung eines fremden Gutes führt.“ Die Beteiligung wäre dann erst mit der Vollendung der Haupttat ihrerseits vollendet und bliebe ansonsten im Versuch stecken, wenn zum Aus-der-Hand-Geben mindestens angesetzt wurde. Einer Akzessorietät bedarf es bei allen drei skizzierten Normen nicht: Es geht (in den Fällen zwei und drei) allein um faktische Sequenzen (Fall eins kennt keine Sequenz). Selbst bei Sonderdelikten kann der Beitrag eines Nichtqualifizierten über die Ausführung eines Qualifizierten faktisch das durch ein Sonderdelikt angegriffene Gut erreichen;22 so urteilt wohl auch Yamanaka, der sogar in der Umkehrung – der Qualifizierte bringt das Verhalten des Nichtqualifizierten voran – eine Beteiligung ohne Haupttat anerkennt.23 Die Beteiligung erweist sich als eine bestimmte Art kausaler Verknüpfung. Unrechtes Verhalten ist bei dieser Lösung das Beteiligungsverhalten selbst. Ergänzt man die bloß äußerliche Beschreibung des Verhaltens (etwa, der Beteiligte gibt dem später Ausführenden eine Pistole) um seine gesellschaftliche, also 19

Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 587. Es sei denn, das Verhalten unterfalle dem Regressverbot. 21 Also wird die Tatvorbereitung durch den Ausführenden selbst nicht als strafbare Beteiligung am eigenen Verhalten erfasst, aber sehr wohl kann sie zugerechnet werden, wenn es zur Ausführung kommt. Dazu Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 9 ff. – Für die Beteiligung an der Beteiligung, wenn der später Ausführende den Beteiligten auffordert oder unterstützt, dürfte das Gleiche gelten. 22 Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 11: Abhängigkeit „rein faktischer Natur“; modifizierend ders., Der Typus des Teilnehmertatbestandes, in: Kühne (Hrsg.), Festschrift für Koichi Myazawa, 1995, S. 449 ff.; siehe auch Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 1975, 14/57. 23 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 596 ff. 20

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kommunikative Bedeutung (etwa dass die Hingabe bedeutet, der Empfänger möge ausführen), so kommt zum faktischen Verlauf die Stellungnahme zur Gestaltung der Welt hinzu. Als Konsequenz dieser Ergänzung muss das Beteiligungsverhalten voll zurechenbar, schuldhaft, erfolgen, weil es sich ansonsten nicht um eine gesellschaftlich gültige Stellungnahme handeln würde, also nicht um gesellschaftlich relevanten Sinn, sondern um Natur.24 Aber von Akzessorietät kann trotzdem nicht die Rede sein, da das Beteiligungsverhalten nunmehr zwar eine gesellschaftlich maßgebliche Äußerung ist, aber nach wie vor seinerseits Unrecht. Der Einbezug der Bedeutung bringt allerdings die Möglichkeit, die Fälle des Regressverbots aus der Beteiligung auszuscheiden; dabei handelt es sich um ein Verhalten mit harmloser Bedeutung, das ein anderer mit einem deliktischen Kontext überzieht, ohne dass der Sich-Verhaltende diesen als seinen eigenen Kontext akzeptieren müsste.25

IV. Eigenes Unrecht durch fremde Hand Nunmehr zum zweiten Weg! Es gibt zwar kein Apriori, ohne Akzessorietät lasse sich Beteiligung nicht konstruieren (auch im hiesigen Beitrag wird der Akzessorietät eine vom üblichen Verständnis durchaus abweichende Bedeutung gegeben), aber doch, bei Konstruktionen seien die Bedingungen des Systems, in dem konstruiert wird (genauer: das konstruiert), zu beachten, und dass sich der Inhalt des Rechts, nicht nur des Strafrechts, beim Zusammenwirken mehrerer Personen in einer Sequenz kausal verbundener und jeweils eigenhändig geschaffener Ereignisse erschöpfe, ist schlechthin nicht plausibel: Warum sollten das Staatsrecht die Repräsentation, das Zivilrecht die Stellvertretung und diese Rechtsgebiete wie auch andere einen Reichtum an Formen des (dem anderen zurechenbaren) Handelns für einen anderen entwickelt haben,26 das Strafrecht aber auf seinem naturalistischen Abstellen auf Eigenhändigkeit oder Fremdhändigkeit beharren dürfen? Das heißt nicht, gegebenenfalls handele es sich um Haftung für fremde Schuld,27 vielmehr um eine eigene Tatausführung durch fremde Hand. Dafür, die Ausführung durch fremde Hand als eigene zuzurechnen, muss es einen Grund geben, und den gibt es auch, allerdings in der modernen Welt28 nur als zu verantwortender Grund, also als voll zurechenbares Verhalten, nicht als schicksalhafte Verknüpfung (wie etwa bei der Sippenhaft). Grund ist das Verhalten vor der Ausfüh24

Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 59 ff. Yamanaka, Objektive Zurechnung (Fn. 1), S. 776 ff. (für einzelne Fallgruppen); Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 28 ff. 26 Etwas eingehender insbesondere zum zivilrechtlichen (und strafrechtlich nicht übergehbaren) Verständnis des Handelns für einen anderen: Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 15 ff. 27 Zur historischen Lage: Maihold, Haftung für fremde Schuld, 2005, mit einer Zusammenfassung der von ihm herausgearbeiteten Haftungsgründe S. 352. 28 Jakobs (Fn. 24), S. 20 f. 25

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rung oder – bei gemeinsamer Ausführung – bei derselben, wenn es die Bedeutung hat, die Ausführung möge sich ereignen oder vollenden. Bei dem Verhalten vor der Ausführung handelt es sich nicht um Unrecht, sondern um die Grundlegung dafür, die Ausführung durch fremde Hand als eigene Ausführung zuzurechnen, und bei dem Verhalten während der Ausführung um die Grundlegung dafür, nicht nur für den eigenhändig vollzogenen Teil, sondern zudem für das von fremder Hand Vollzogene zuständig zu sein. Beispielhaft, die Hingabe einer Pistole ist kein Tötungsunrecht (von einem Unrecht nach waffenrechtlichen Vorschriften ist hier nicht zu handeln), aber ein Grund, das kommende, durch fremde Hand vollzogene Tötungsunrecht auch als eigenes Unrecht zuzurechnen. Unrecht ist allein die Ausführung,29 aber diese geschieht nicht nur für den eigenhändig Agierenden, sondern zugleich für alle, die das Geschehen im Vorfeld (oder in einem früheren Ausführungsstadium) vorangebracht haben.30 Die Eigenhändigkeit einer Ausführung mag in einer wenig komplexen Gesellschaft einen unabdingbaren Bestandteil der Zurechnung bilden, aber in einer hinreichend komplexen Gesellschaft kann auch das Verhalten eines anderen als eigenes zugerechnet werden. Das soll anhand eines Beispiels erläutert werden: Eine Person finanziert eine von anderen Personen durchgeführte Unternehmung in großzügiger Art und Weise; sowohl die Durchführung wie auch deren Erfolg sind dann auch ihr eigenes Werk, und es ist völlig gleichgültig, ob es sich bei der Unternehmung um den Bau und Betrieb eines Krankenhauses in einem Notstandsgebiet handelt oder um den Bau und Betrieb eines Bordells oder einer nach nationalem wie internationalem Recht illegalen Anlage zur Produktion von Giftgas. Im erstgenannten Fall hat der Finanzier es verdient, dass Bau und Betrieb des Krankenhauses ihm als auch sein Werk lobend zugerechnet werden, im zweiten geht es analog um moralisch tadelnde Zurechnung und im dritten ist die Straftat auch seine eigene, selbst wenn es keinen Tatbestand geben sollte, der schon die Finanzierung des Verbrechens für sich erfasst. Im Ergebnis ist „Akzessorietät“ die Bezeichnung für eine der Figuren in der nun einmal gegebenen normativen Struktur der arbeitsteiligen Gesellschaft; demnach wird einer Person, deren Verhalten die Bedeutung aufweist, das tatbestandsmäßige Verhalten einer anderen Person voranzubringen, die Tatbestandsverwirklichung als 29

Das wird für denjenigen Täter, der vor Versuchsbeginn seine eigene – spätere – Ausführung fördert, auch nicht bestritten, sollte dann aber auch für Beteiligte anerkannt werden. Dass der später selbst Ausführende das Geschehen noch bis zum Versuchsbeginn in der Hand hält (wenn er nicht vorher endgültig gescheitert ist!), heißt, so man Vorfeldunrecht anerkennt, nur, er könne zurücktreten, was aber ein Beteiligter je nach Fallgestaltung auch kann (etwa durch Warnung des Opfers oder Benachrichtigung der Polizei), und wenn nicht, bleibt die „Beauftragung“ des Ausführenden eben ohne die Möglichkeit einer Rücknahme wirksam. – Irgendwelche Lücken in der Strafdrohung entstehen nicht: Nach der lex lata ist die Drohung nur, aber immerhin auch bedingt vorhanden, mag man das Vorfeldverhalten als unrechtes Verhalten deuten oder nur als Grund, kommendes Unrecht als eigenes zuzurechnen. 30 Zum Voranbringen Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 22 ff.

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eigene, wenn auch fremdhändig vollzogene, zugerechnet.31 Dieses Verständnis der Akzessorietät ist die einzige Möglichkeit, das Unrecht auf die Ausführung im Sinn der Tatbestandsverwirklichung zu begrenzen und trotzdem eine Beteiligung zu konstruieren. Allerdings muss noch näher dargelegt werden, welche rechtliche Bedeutung das Beteiligungsverhalten aufweist, bevor es zur Ausführung oder zu deren Abschluss kommt. Ein komplettes Unrecht kann es nicht sein, denn es verwirklicht nicht (komplett) einen Tatbestand. Geht man aber davon aus, die Beteiligungsvorschriften des Allgemeinen Teils seien Tatbestandserweiterungen, so würde jeder Grund fehlen, bei der Vorfeldbeteiligung das dann mit dem Beteiligungsverhalten vorliegende Unrecht noch durch eine Haupttat zu bedingen. Es bleibt nur ein Weg: Das Beteiligungsverhalten im Vorfeld verwirklicht kein Unrecht und dasjenige bei der Ausführung, aber vor dem letzten Akt, kein komplettes Unrecht, versetzt jedoch die Sich-Beteiligenden in die Lage, von der nachfolgenden Unrechtsverwirklichung (oder -komplettierung) nicht distanziert werden zu können, sodass dieses Nachfolgende als ein durch fremde Hand vollzogenes eigenes Unrecht zu bewerten ist. Man mag dieses SichVersetzen in eine später Rechtsnachteile bringende Lage, eben tadelnde Zurechnung von fremder Hand vollzogenen Unrechts als eigenes, dem Begriff der Obliegenheitsverletzung zuordnen.32

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Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 18 und passim. Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 18 und passim. – Bei einer Obliegenheitsverletzung handelt es sich im Strafrecht um ein Verhalten, das, mag es per se Unrecht darstellen oder nicht, jedenfalls (auch) den Grund dafür bildet, kommendes Unrecht oder kommende Unrechtsteile als eigene zuzurechnen, mit anderen Worten, die Obliegenheitsverletzung bringt den SichVerhaltenden in eine Lage, vom (noch) kommenden Unrecht nicht distanziert werden zu können. – Dagegen wendet sich Montiel (Obliegenheiten im Strafrecht, ZStW 126 [2014], S. 592 ff.) wie folgt: „Das Verbot, eine fremde Straftat im Vorfeld zu unterstützen, dient auch dem Schutz von Rechtsgütern Dritter. … Die Obliegenheitsverletzung ist somit eine Verletzung des Grundsatzes neminem laedere.“ (S. 607) Das „Verbot“ wäre allerdings erst einmal zu begründen! Aber es lässt sich – abgesehen von Sondervorschriften, etwa abstrakten Gefährdungsverboten – nicht begründen; denn das Vorfeldverhalten ist für den später Ausführenden wie für den Beteiligten ein Verhalten innerhalb des eigenen Organisationskreises oder innerhalb des mit einer anderen Organisation verbundenen Kreises. (Deshalb ist § 30 dStGB [Verbrechensvorbereitung] jedenfalls mit seiner hohen Strafdrohung rechtsstaatlich nicht korrekt.) – Gäbe es ein „Verbot“, so ließe sich nicht begründen, weshalb seine Übertretung nicht per se bestraft wird. Montiels Hinweis auf das Prinzip der Akzessorietät (S. 609) ist ein Zirkel: Warum gibt es dieses Prinzip? Die Antwort lautet, weil ein Vorfeldverhalten kein Unrecht darstellt. – Das klarste Beispiel für eine Obliegenheitsverletzung im Strafrecht dürfte der Fall des beendeten Versuchs bilden (eines Versuchs, dessen Wirkungen nicht mehr beeinflusst werden können; so das treffende Verständnis bei Loos, Dogmenhistorische Bemerkungen zum Rücktritt vom Versuch, in: Pawlik u. a. [Hrsg.], Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 347 ff., 354 ff., 357 ff.): Der Täter kann vom nachfolgenden Erfolgseintritt nicht distanziert werden, weil er ihn vermeidbar angestoßen hat (Jakobs [Fn. 24], S. 69 f. mit Nachweis der subjektivierenden Ansichten). 32

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Damit ist die Akzessorietät „entzaubert“, dies wahrscheinlich stärker, als Yamanaka beim Postulat der „Entzauberung“ vorschwebte.33 – Die immerhin noch ehrlichste Art und Weise, mit der Akzessorietät umzugehen, bestünde im Eingeständnis, man könne sie nicht erklären, was allerdings nie offen erfolgt, vielmehr hinter den Floskeln verborgen wird, „wer überhaupt am Begriff der Teilnahme festhält“, müsse sie anerkennen,34 oder die Akzessorietät folge schlicht und einfach „aus dem Wesen der Teilnahme“.35 Vergleichbar steht es mit der Berufung auf den „innersten Grund für die Bestrafung des Teilnehmers“, scil. auf die Veranlassung oder Förderung der Haupttat.36 Auch wird formuliert, „die Teilnahme“ trage „ihren vollen Unrechtsgehalt nicht in sich selbst“ (aber zu wie viel Prozent eben doch?), sondern beziehe ihn „aus der fremden Tat“.37 Statt mit „Begriff“ und „Wesen“ mag man auch mit dem positiven Recht argumentieren: Dass die Beteiligung „im Sinne der Akzessorietät geregelt ist, kann de lege lata nicht bezweifelt werden“.38 Wenig erklärungsmächtig ist auch die Formulierung, das „Unrecht der Teilnahme“ bestehe „in der Mitverursachung bzw. Förderung der Haupttat durch gemeinsame Sache des Teilnehmers mit dem Haupttäter, wodurch auch die Haupttat zum Werk des Teilnehmers wird“.39 Das liest sich, als bestehe das Unrecht der Teilnahme in der – vom gesellschaftlichen Verständnis unabhängigen – Produktion, genauer: Mitproduktion, der Haupttat.40 Dabei handelt es sich um zirkelhaft verwendete Begriffe oder Auslegungen des geltenden Rechts. Der Mangel dieser und ähnlicher Lehren liegt darin, die Beteiligung vorgesellschaftlich, begriffs- und wesensjuristisch erfassen zu wollen, statt nach der gegebenen (wenn auch durch die Zeit nicht fixen) normativen Struktur der Gesellschaft, als gäbe es ein „Wesen“, einen „Begriff“, einen „inneren Grund“ oder doch einen von der Gesellschaftsstruktur unabhängigen Gesetzgeber. Vielmehr muss erst einmal der – auch andere Rechtsgebiete umfassende – normative Stand der Gesellschaft ermittelt werden, was die Bedeutung von Arbeitsteilung angeht. „Entzaubert“ ist auch die – sit venia verbo – „halbe“ Akzessorietät der heute überwiegend vertretenen Lehre, nämlich derjenigen vom akzessorischen Rechtsgutsangriff. Danach soll das Unrecht der Beteiligung teils aus einem teilnehmereigenen Rechtsgutsangriff und teils aus der Haupttat herzuleiten sein,41 also als Mixtur 33

Yamanaka, wie Fn. 4. Birkmeyer (Fn. 18), S. 4. 35 Mezger (Fn. 18), S. 447. 36 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage, 1969, S. 115. 37 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Auflage, 1995, S. 657. 38 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, 18. Auflage, 1931, S. 121 (zur Anstiftung), 126 (zur Beihilfe). 39 Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Auflage, 2011, 38/16. 40 Klarer jedenfalls Kindhäuser zur Mittäterschaft: Repräsentation. Kindhäuser, Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft, in: Bohnert u. a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 627 ff. 41 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, 2003, 26/11; grundlegend ders., Zum Strafgrund der Teilnahme, in: Küper u. a. (Hrsg.), Bei34

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gemäß einer „gemischten Theorie“. Aber warum ist dann der Strang des Rechtsgutsangriffs nicht schon vor dem Vollzug der Haupttat Unrecht und strafbar, und wie wandelt sich die fremdhändig vollzogene Haupttat in eigenes Unrecht? Mehr noch, ist das angegriffene Gut gegenüber dem Beteiligten nicht geschützt,42 wohl aber gegenüber dem Ausführenden, warum bleibt dann nicht das Unrecht des akzessorischen Strangs bestehen, sodass seinetwegen gestraft werden kann? Eine Mischtheorie oder zusammengesetzte Theorie verweist per se auf einen topischen Lösungsweg (was allerdings nicht zu unbrauchbaren Ergebnissen führen muss: Es gibt treffliche topische Argumentationen.). Soll aber eine Lösung systematisch entwickelt werden, müssen die gemischten Elemente auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt werden, und dies wird hier dadurch erreicht, dass die Bedeutung der naturalistischen Differenz von Eigenhändigkeit und Fremdhändigkeit eliminiert wird. Mit der Bedeutungslosigkeit dieser zurechnungsexternen Differenz entfällt allerdings, wie offen eingeräumt sei, die Möglichkeit, zwischen Beteiligung und Ausführung qualitative Unterschiede auszumachen; die Beteiligungsformen mutieren zu Metaphern für stereotype Muster der Strafzumessung,43 und das ist so auch richtig; denn es gibt keinen vor jeder gesellschaftlichen Struktur gültigen Satz des Inhalts, eigenhändig verwirklichtes Unrecht wiege im Zweifel schwerer als fremdhändig verwirklichtes, aber eben eigenes Unrecht. Das verhält sich bei der strafrechtlichen Zurechnung nicht anders als bei der zivilrechtlichen oder der Zurechnung militärischer Aktionen. Beispielhaft, ein produzierender oder ausliefernder Mitarbeiter eines Unternehmens ist für den Betrieb nicht stärker zuständig als der Unternehmensvorstand. Die Wiederholung eines bereits literarisch verwendeten Beispiels möge erlaubt sein:44 Wenn eine erste Person ermittelt, wann sich im Landhaus eines wohlhabenden Kaufmanns gewiss niemand aufhält, zudem einen passenden Hausschlüssel besorgt und die Kombination des Tresors mitteilt, woraufhin eine zweite „seelenruhig“ zu dem Haus geht, aufschließt, den Tresor leerräumt und sogar noch Muße findet, sich an der Bar des Hauses einiges einzuverleiben, tritt die eigenhändige Wegnahme hinter der perfekten Vorbereitung zurück. – Eigenhändig verwirklichtes Unrecht und fremdhändig verwirklichtes eigenes Unrecht sind bei aller phänotypischen Differenz normativ dasselbe.

träge zur Rechtswissenschaft. Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels, 1993, S. 365 ff.; SK-Hoyer (Wolter [Hrsg.], Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 8. Auflage), vor § 26 Rn. 21. 42 Die von den Vertretern der in Rede stehenden Theorie gewünschte Konsequenz, das angegriffene Gut müsse gegenüber dem Beteiligten geschützt sein, leistet die hier vertretene Theorie glatter: Da der fremdhändige Rechtsgutsangriff als eigener zugerechnet wird, steht der Beteiligte so, als greife er selbst an. 43 Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 50 ff. 44 Jakobs, Theorie (Fn. 18), S. 51.

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V. Positive Pflichten Das Ausgeführte gilt nur für die Verletzung negativer Pflichten, also solcher, die auf der Norm beruhen, den eigenen Organisationskreis nicht zulasten der Kreise anderer Personen auszudehnen oder ausgedehnt zu lassen: Neminem laede! Neben dem Tun erfasst diese Norm auch das Unterlassen in Organisationszuständigkeit45 (Verkehrssicherungspflicht46, Ingerenz, Übernahme).47 Die diesen Pflichten zugrunde liegende allgemeine Institution ist der gesellschaftlich verfestigte Zusammenhang von Verhaltensfreiheit und Folgenverantwortung. Daneben treten positive Pflichten, die der Herstellung positiv bewerteter Zustände48 dienen und auf besonderen Institutionen beruhen: Elternschaft, Rechtspflege, Rechtlichkeit der öffentlichen Verwaltung, bereichsweise auch Rollenkonstanz49 und anderes mehr. Diese Pflichten, die nur Garantenpflichten sind, wenn sie die Struktur der Gesellschaft so intensiv prägen, wie der Zusammenhang von Freiheit und Selbstverantwortung sie prägt, sind vor mehr als fünfzig Jahren von Roxin herausgearbeitet worden50 und haben die Eigenschaft, Akzessorietät zu „überspringen“,51 was heißt, der positiv Pflichtige stehe dem zu schützenden Gut stets unvermittelt gegenüber. Beispielhaft,52 der im Sinn des Tatbestands der Untreue Pflichtige begeht täterschaftliche Untreue, mag er selbst in die Kasse greifen, einen anderen dazu auffordern oder auch nur nicht hindernd eingreifen, wenn ein anderer sua sponte zum Griff ansetzt. Unter Vernachlässigung von Einzelheiten53 soll hier nur zwei Fragen nachgegangen werden, erstens wie die Beteiligung eines nicht Sonderpflichtigen (eines Extraneus) an der Ausführung durch einen Sonderpflichtigen (einen Intraneus) zu behandeln ist und zweitens vice versa. Bei der ersten Frage gilt es zunächst zu klären, ob die Sonderpflicht überhaupt auf einen Extranen „abfärben“ kann. Das kann sie; denn es geht bei der strafbaren Ver45 Der Zuordnung von Yamanaka (Abgrenzung [Fn. 1], S. 573), „fast alle Unterlassenden würden nach dem überwiegenden Verständnis in der deutschen Strafrechtslehre ein Pflichtdelikt begehen“, ist, was die hiesige Theorie angeht, also zu widersprechen. 46 Ein Tun ist die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für den eigenen Körper. 47 Dazu Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Auflage, 1991, 29/29 ff. 48 Das oft anzutreffende Verständnis, etwa die ordnungsgemäße Rechtspflege werde durch ein Fehlurteil verletzt, liegt neben der Sache: Ohne ein richtiges Urteil fehlt die ordnungsgemäße Rechtspflege. Diese lässt sich beispielsweise verletzen, wenn man das Gerichtsgebäude in die Luft sprengt, was allerdings von einem Fehlurteil qualitativ weit entfernt ist. – Dieses Nichtherstellen einer intakten Institution liegt allen Pflichtdelikten zugrunde; dazu Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 16 f. 49 „Besonderes Vertrauen“; dazu Jakobs (Fn. 47), 29/67 ff. 50 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Auflage, 1963, S. 352 ff. 51 Jakobs (Fn. 47), 21/116. 52 Nach Roxin (Fn. 50), S. 353 f. 53 Zum Verhältnis von Pflichtdelikt und Beteiligung durch Unterlassen jüngst: Yamanaka, Abgrenzung (Fn. 1), S. 561, 570 ff., 572 ff.

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letzung dieser Pflichten stets um solche von genereller gesellschaftlicher Bedeutung, nicht nur von Bedeutung für Gesellschaftsteile, wenn nicht gar nur für andere Gesellschaften. Beispielhaft, ordnungsgemäße Rechtspflege ist ein von allen zu respektierendes Gut, nicht nur von Personen, die zu der Entscheidung einer Rechtssache berufen sind. Bei dieser Lage mag man sogar bezweifeln, ob die Milderung für den Extranen nach § 50 Abs. 1 dStGB (stets) angebracht ist.54 – Die Zurechnung zum Extranen erfolgt nach den Regeln der Akzessorietät: Die Ausführung des Intranen wird eigene Ausführung des Extranen, der auf diesem Weg eine ihn ansonsten nicht treffende Pflicht verletzt. Was die zweite Frage betrifft – der Intrane lässt den Extranen agieren –, so nimmt Yamanaka Teilnahme ohne Täterschaft an.55 Nach der hier zu den Pflichtdelikten skizzierten Theorie (diese Delikte „überspringen“ die Akzessorietät)56 erfolgt in allen Fällen, in denen nicht ein eigenhändiges Agieren des Intranen gefordert wird,57 sein Verhalten täterschaftlich, und an diesem Verhalten beteiligt sich der Extrane. Für diese Lösung – Täterschaft des Intranen – bedarf es keiner Akzessorietät, da der Intrane ohnehin stets Täter ist. Allerdings erfolgt die Zurechnung seines Verhaltens zum nachfolgend agierenden Extranen nach den Regeln der Akzessorietät.

VI. Zusammenfassung 1. Die Bedeutung, selbst die Notwendigkeit des Begriffs der Akzessorietät werden in Japan wie in Deutschland kontrovers behandelt (II.). Es lassen sich diverse Modelle konstruieren (III.). 2. Eine Lösung muss beim gesellschaftlichen Verständnis von Arbeitsteilung ansetzen, und deshalb darf die naturalistische Differenz von Eigenhändigkeit und Fremdhändigkeit als eben naturalistisch nicht den Ansatz der Lösung bilden (IV.). 3. Dass ein eigenes Werk fremdhändig vollzogen werden kann, ist, setzt man beim gesellschaftlichen Verständnis an, geradezu trivial (IV.). 4. „Akzessorietät“ ist die Bezeichnung für eine der Figuren in der nun einmal gegebenen normativen Struktur der arbeitsteiligen Gesellschaft; demnach wird einer Person, die das tatbestandsmäßige Verhalten einer anderen Person vorangebracht 54

Für den Fall des § 50 Abs. 2 dStGB hat Sánchez-Vera dargelegt (Pflichtdelikt und Beteiligung. Zugleich ein Beitrag zur Einheitlichkeit der Zurechnung bei Tun und Unterlassen, 1999, S. 147 ff., 167 ff., 180 ff., 195 ff.), dass der Pflichtige bei sogenannten unechten Amtsdelikten, also bei Qualifizierungen eines Allgemeindelikts durch die Verletzung einer Amtspflicht (etwa Körperverletzung im Amt, § 340 dStGB), nicht teils ein Allgemeindelikt und teils ein Amtsdelikt begeht, vielmehr nur ein Amtsdelikt, sodass § 50 Abs. 1 dStGB anzuwenden ist, nicht aber Abs. 2 der Vorschrift (auch Jakobs, Theorie [Fn. 18], S. 63 ff., 65). 55 Yamanaka, Gedanken (Fn. 1), S. 596. 56 Oben Text zu Fn. 52. 57 Beispiele: Körperverletzung im Amt; zweifelhaft bei Falschbeurkundung im Amt; nicht beim Erlass eines Fehlurteils.

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hat, die Tatbestandsverwirklichung als eigene, wenn auch fremdhändig vollzogene, zugerechnet (IV.). 5. Den negativen Pflichten stehen positive gegenüber, bei deren Verletzung die Zurechnung eigenen Regeln folgt; insbesondere wird die Akzessorietät vom Sonderpflichtigen „übersprungen“. Die Beteiligung eines Extranen am Sonderdelikt folgt den Regeln der Akzessorietät (V.).

Kriterien einer objektiven Erfolgszurechnung als Kodifizierungsfrage (gegen ihre gesetzliche Regelung) Tomasz Kaczmarek Dem verehrten Jubilar, der in seinem wissenschaftlichen Werk seit Jahren die Prämissen strafrechtlicher Verantwortlichkeit erforscht und reflektiert, widme ich – in Erinnerung unserer nicht verjährten Freundschaft – diese Skizze zu den Kriterien der objektiven Erfolgszurechnung.

I. Die in neueren Werken der Erkenntnistheorie formulierten Antworten auf die Frage, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind, damit jemandem als Täter eine strafrechtlich relevante Folge anzulasten ist, haben zu einem Meinungsstreit in der Rechtswissenschaft geführt. Dieser bezieht sich auf die grundlegende Frage, ob sich das System des Strafrechts auf tatsächlich Existierendes stützen kann, d. h. auf Kausalität oder Finalität, oder ob seine gegenwärtige Gestalt eher durch normative Maßstäbe bestimmt ist, die auf axiologischen oder kriminalpolitischen Wertentscheidungen verweisen.1 Die in dieser Hinsicht erteilten Antworten und Erläuterungen sind unterschiedlich. Unter allen möglichen Antworten liegt mir gedanklich der Standpunkt am nächsten, der für die objektive Erfolgszurechnung im Strafrecht sowohl ontische als auch normative Grundlagen voraussetzt. Nach diesem Standpunkt wird auf eine, wie ich denke, berechtigte Weise angenommen, dass solange, als Menschen für durch ihr Verhalten hervorgerufene Folgen verantwortlich sein sollen, die objektive Kausalität unverzichtbar ist, auch wenn man sich mit ihr nicht zufrieden geben darf. Folglich ist die Anerkennung eines Menschen als Täter nur dann möglich, wenn man nachweisen kann, dass das bestimmte Verhalten des Menschen im rein kausalen Sinn eine Ursache darstellt (ontische Bedingung) und die kausal verursachte Folge Ergebnis (an dieser Stelle werde ich mich vorerst allgemein äußern) eines sozial inakzeptablen Verhaltens ist (normative Bedingung).2 1

Vgl. u. a. Roxin, Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, in: HonigFestschrift, Göttingen 1970, S. 133 ff.; Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil, Berlin/New York 1983, S. 152 ff. 2 Vgl. u. a. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, München 1992, S. 218 ff.; Rudolphi, Der Zweck staatlichen Strafrechts und die strafrechtlichen Zurechnungsformen, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin/New York 1984, S. 82 ff.;

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Von diesem Standpunkt aus liegt mir auch die Auffassung nahe, dass es nicht die Kausalität ist, die die Grenzen der Erfolgszurechnung absteckt; es ist gerade umgekehrt – die normativen Kriterien der Zurechnung entscheiden darüber, ob und in welchem Umfang die Kausalität an dieser Stelle erforderlich ist. Ein solches „Glaubensbekenntnis“ lässt sich selbstverständlich auch aus anderen als den theoretischen Werken zur Zurechnungslehre ableiten und verteidigen, beispielsweise unter anderem aus den für die Bedürfnisse der Rechtslehre aufgestellten Theorien eines sog. besonderen Kausalzusammenhanges, unter denen ich nicht nur an die Adäquanztheorie denke, sondern etwa auch an die im polnischen Strafrecht verbreitete Theorie der sozial gefährlichen Täterschaft von Leszek Lernell, mit dem Vorbehalt allerdings, dass diese Theorien entgegen den Meinungen ihrer Schöpfer selbstverständlich nicht als Erläuterung der Kausalität, sondern als Theorien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu verstehen sind. Fehlerhaft ist die Überzeugung, dass eine von ihrer Natur her objektive Kausalität beliebig um normativ wertende Kriterien angereichert werden könne. Sie kann im Hinblick auf methodologische Ordnung der Konkurrenz mit der Zurechnungslehre nicht standhalten, die zutreffend die Kausalität selbst von der Frage der objektiven Zurechnung, d. h. von der Anerkennung der rechtlichen relevanten Folge als „Werk“ des Täters, unterscheidet.

II. In der polnischen Fachliteratur wurde seit den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Zurechnungslehre zum Gegenstand von eingehenden Analysen und Studien und erlebte viele wertvolle Ausarbeitungen, darunter auch monografische Arbeiten3. Maßgebend dafür war insbesondere das deutsch-polnische Seminar zu theoretischen Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, das ich – was nicht unbescheiden

Ebert/Kühl, Kausalität und objektive Zurechnung, Jura Nr. 11/1979 S. 561 ff.; Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, Berlin 1990. 3 Giezek, Przyczynowos´c´ oraz przypisanie skutku w prawie karnym [Kausalität und Erfolgszurechnung im Strafrecht], Wrocław 1994, S. 234; De˛ bski, Pozaustawowe znamiona przeste˛ pstwa [Außergesetzliche Straftatmerkmale], Łódz´ 1995, S. 132 ff.; Majewski, Prawno karne przypisywanie skutku przy zaniechaniu (zagadnienia we˛ złowe) [Strafrechtliche Erfolgszurechnung bei Unterlassung], Kraków 1997, S. 150 und Bielski, Obiektywna przypisywalnos´c´ skutku w prawie karnym [Objektive Erfolgszurechnung im Strafrecht] (Dissertation verteidigt 2010 an der Universität Krakau, wird zum Druck vorbereitet). Zum steigenden Interesse und dem Stand der Diskussion in diesem Bereich vgl. auch die Unterlagen zum wissenschaftlichen Bielaner Kolloquium für Strafrecht in: Majewski (Hrsg.), Podstawy odpowiedzialnos´ci karnej za przeste˛ pstwo skutkowe [Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für ein Erfolgsdelikt], Sonderausgabe der Quartalschrift Kwartalnika Prawa Publicznego Nr. 4/2004 S. 5 – 165.

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klingen soll – zusammen mit Claus Roxin und Hans Joachim Rudolphi in Radków veranstalten durfte.4 Auch die Rechtsprechung nimmt immer öfter auf Kriterien der objektiven Erfolgszurechnung Bezug,5 nach manchen Autoren geschieht dies aber oft intuitiv oder rein deklarativ, wodurch häufig der Eindruck entsteht, dass nur die Ornamentik übernommen wird. Dabei werden zwar die Urteilsgründe unter Anwendung des Begriffsnetzes der Zurechnungslehre verfasst, tatsächlich stützen sie sich aber auf den Test der conditio sine qua non.6 Zudem begann durch die Autoren aus Krakau die Idee einer gesetzlichen Regelung der Kriterien einer objektiven Zurechnung heranzureifen, d. h. diese auch in Gesetzesform zu fassen, was W. Wróbel während des VIII. Bielaner Kolloquiums im Mai 2011 diskret andeutete, ohne jedoch die Urheber zu nennen. Eine öffentliche Initiative, die objektive Zurechnung gesetzlich zu „dekretieren“, wurde einige Monate später im Beitrag von A. Zoll ergriffen (Nowelizacja cze˛ s´ci ogólnej Kodeksu karnego – Novellierung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, vorgetragen am 9. Dezember 2011 in der wissenschaftlichen Sitzung des Lehrstuhls für Strafrecht der Jagiellonen-Universität7). Dies befreit nicht davon, zunächst zwei allgemeinere Fragen zu stellen.

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Kaczmarek (Hrsg.), Teoretyczne problemy odpowiedzialnos´ci karnej w polskim i niemieckim prawie karnym [Theoretische Probleme der Strafbarkeit im polnischen und im deutschen Strafrecht. Deutsch-polnische Unterlagen zum Strafrechtsseminar], Wrocław 1990, S. 6 ff. – mit Beiträgen von der deutschen Seite von Roxin, Jakobs, Rudolphi und Marquart, und von der polnischen Seite von Buchała, Kaczmarek, Giezek, Zoll und Wa˛sek. Siehe zur Bedeutung dieses Seminars Zabłocki, Zagadnienie przypisywalnos´ci skutku w najnowszym orzecznictwie (Frage der Erfolgszurechnung in der neuesten Rechtsprechung des Obersten Gerichtes], Quartalschrift Kwartalnik Prawa Publicznego Nr. 4/2004 S. 34. 5 Vgl. u. a. Urteil des OG vom 8. 3. 2000, III KKN 231/98, OSNKW Heft 5-6/2000. Pos. 45; Urteil des OG vom 1. 12. 2000, Sign. IVKKN 509/98, OSNKW H. 5-6/2001, Pos. 45; Urteil des OG vom 5. 11. 2002, Sign. IVKKN 347/99. LEX Nr. 74394; Urteil des OG vom 1. 12. 2000, Sign. IVKKN 509/98, OSNKW H. 5-6/2001, Pos. 45; Urteil des OG vom 24. 2. 2005, V.KK 375/04, OSNKW H. 3/2005, Pos. 31. Zabłocki, Szersze omówienie problematyki obiektywnej przypisywalnos´ci skutku w orzecznictwie [Breitere Behandlung der Frage der Erfolgszurechnung in der Rechtsprechung des OG] (wie Fn. 4), S. 33 – 48, 130 – 131 ff., 149 und 150. 6 Siehe Giezek, Glosse zum Urteil des OG vom 28. 3. 2000, PiP Nr. 6/2001, S. 109; ders, Zgodne z prawem zachowanie alternatywne jako kryterium przypisania skutku [Rechtsmäßiges Verhalten als Kriterium der Erfolgszurechnung], Quartalschrift Kwartalnik Prawa Publicznego Nr. 4/2004 S. 67 – 68; Majewski, Glosse zu demselben Urteil des OG, OSP Nr. 10/ 2001 S. 493 und ders., Diskussionsbeitrag, in: Majewski (Hrsg.), Nieumys´lnos´c´ Pokłosie VIII Bielan´skiego Kolokwium Karnistcznego [Fahrlässigkeit. Früchte des VIII. Bielaner Kolloquiums für Strafrecht], Torun´ 2012, S. 98 – 99. 7 Der Beitragstext und der Bericht von Sroka über den Ablauf der Diskussion sowie eine Videoaufnahme der ganzen Sitzung sind im Internet auf der Seite der Zeitschrift „e Czasopisma Prawa Karnego i Nauk Penalnych“ zugänglich.

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Zum Ersten: Würde die gesetzliche Regelung nicht die Diskussion abschließen, die andauert und die jedenfalls noch weitergeführt werden sollte? Denn das Verständnis der normativen Bedingungen der objektiven Zurechnung, darunter die Bestimmung insbesondere des Status und des Ortes der „Sorgfaltsregel“ in der Struktur des Deliktes, scheinen weiterhin Gegenstand lebhafter Diskussionen sowie noch nicht ausgeräumten Zweifel und zahlreicher Kontroversen zu sein. Dies trifft gerade für deutsche Autoren zu, die seit Jahren Spitzenreiter in der Entwicklung der Zurechnungslehre sind, was, wie ich meine, bereits eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich einer voreiligen gesetzlichen Regelung nahelegt. Zum Zweiten: Lassen sich die im juristischen Schrifttum formulierten Kriterien der objektiven Erfolgszurechnung in die Sprache des Gesetzes auf eine ausreichend präzise und exakte Weise übertragen, wie sie für die Entscheidung der Erfolgszurechnung in bestimmten Fällen notwendig wäre?

III. Nicht leicht ist die Bestimmung möglichst einheitlicher Kriterien, auf deren Grundlage präzise abgegrenzt werden kann zwischen dem, was zulässig (akzeptiert) ist, und dem, was keinesfalls akzeptiert werden kann. Dementsprechend wurde in der Lehre von der objektiven Zurechnung bisher keine Einigkeit erzielt. Die größten Unterschiede betreffen Detailfragen der objektiven Zurechnung, etwa die Fallgruppe, bei der das Opfer durch autonomes Verhalten die Gefahr selbst eingegangen ist, ferner jene, bei der die Gefahrenvorbeugung zu den beruflichen Pflichten Dritter gehört oder Dritte diese Pflichten übernommen haben, oder jene Fälle, in denen durch Risikoverringerung eine schädlichere Folge vermieden und eine weniger schädliche Folge ausgelöst wurde.8 Bei den allgemeinen Kriterien der objektiven Zurechnung beobachten wir sowohl im deutschsprachigen als auch im polnischen Schrifttum eine gewisse Annäherung der Meinungen,9 was selbstverständlich noch nicht bedeutet, dass in diesem Bereich eine vollständige und zweifelsfreie Abfolge von Kriterien oder Voraussetzungen existiert, die über eine objektive Erfolgszurechnung entscheiden. An die normative Zurechnung werden meistens drei Anforderungen gestellt: 1. die Adäquanz des Kausalverlaufs, 2. die Verletzung einer Schutznorm und 3. die Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigem Alternativverhalten.10 8 Vgl. dazu Roxin, Problematyka obiektywnego przypisania [Probleme der objektiven Zurechnung], in: Kaczmarek (Hrsg.) (wie Fn. 4), S. 16 ff. sowie Buchała/Zoll, Polskie prawo karne [Polnisches Strafrecht], Warszawa 1995, S. 183 – 185. 9 Siehe mehr dazu De˛ bski, Pozaustawowe … [Außergesetzliche …] (wie Fn. 3), S. 171 ff. 10 Vgl. u. a. Zoll, Odpowiedzialnos´c´ karna lekarza za niepowodzenia leczenia [Strafrechtliche Verantwortung des Arztes für den Misserfolg der Therapie], Warszawa 1988, S. 49 ff. und Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, Heidelberg 1987, S. 53 – 54.

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An dieser Stelle möchte ich meine Aufmerksamkeit auf die zwei letzten Kriterien konzentrieren. Dort, wo die Bedeutung der Sorgfaltsregeln sowohl in der polnischen wie auch in der deutschen Literatur hervorgehoben wird, wird darauf hingewiesen, dass mit der Verletzung von Sorgfaltsregeln lediglich die Vermutung der Vollendung der verbotenen Tat einhergeht und sie aus diesem Grunde gerade keine allgemeine Grundlage der strafrechtlichen Erfolgszurechnung darstellen kann. Auf diese Weise wird angenommen, dass die in verschiedenen Lebensbereichen entwickelten Regeln eines sorgfältigen Umgangs mit einem Rechtsgut lediglich eine Indizfunktion erfüllen und mit ihrer Hilfe die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale nur mehr oder weniger wahrscheinlich gemacht, keinesfalls aber ausdrücklich bestätigt werden kann. Es ist auch anzumerken, dass in der Fachliteratur die Verletzung der Sorgfaltsregeln auf eine – wie ich meine – berechtigte Weise vor allem als eine vorläufige Normierungsbedingung wahrgenommen wird, die die Grenzen der sanktionierten Norm bestimmt und ihren Inhalt präzisiert. Dies findet Ausdruck in dem Grundsatz, dass unter allen möglichen Verhaltensweisen des Menschen ausschließlich jene unter Strafe stehen können, die den Regeln eines („sorgfältigen“) Umgangs mit dem Rechtsgut widersprechen. Bei derartiger Bestimmung dieser Regeln stellt sich sofort die rhetorische Frage, warum eine der vielen vorläufigen Normierungsbedingungen auf eine besondere Weise zu behandeln ist und in der Supposition eines selbständig gewordenen normativen Kriteriums der objektiven Erfolgszurechnung auftreten soll? Seinerzeit bemerkte J. Majewski zutreffend, dass gerade deshalb, weil auch das, was das lateinische Sprichwort impossibilium nulla obligatio ausdrückt, nach allgemeiner Ansicht eine vorläufige Normierungsbedingung darstellt, niemandem einfällt, in das Strafgesetzbuch den Grundsatz einzutragen: „niemand ist zu Unmöglichem verpflichtet“. Wenn man das Problem auf diese Weise sieht, so hat es keinen Sinn, die Verletzung der genannten Sorgfaltsregeln in einer eigenen Vorschrift (Art. 9 § 2 StGB) zu erfassen, da sie als Bedingung der vorläufigen Normierung ohnehin bereits den Inhalt der sanktionierten Norm mitbestimmt.11 Die Skepsis bezüglich des Sinnes dieser Norm ergibt sich zum Teil aus negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Definition der fahrlässigen Begehung in Art. 9 § 2 StGB, die von einer „infolge der Verletzung der unter den gegebenen Um11 Siehe Majewski, Prawnokarne przypisywanie skutku przy zaniechaniu [Strafrechtliche Erfolgszurechnung bei Unterlassung], Kraków 1997, S. 78 ff. sowie Majewski (Hrsg.), Nieumys´lnos´c´ … [Fahrlässigkeit …] (wie Fn. 6), S. 45, 99 – 100; siehe auch Pohl, Struktura normy sankcjonowanej w prawie karnym [Struktur der sanktionierten Norm im Strafrecht], Poznan´ 2007, S. 95 ff. Kaczmarek, Kryteria obiektywnego przypisania skutku jako problem kodyfikacyjny [Kriterien einer objektiven Erfolgszurechnung als Kodifizierungsfrage], in: Nauki Penalne wobec szybkich przemian socjokulturowych [Pönallehre gegenüber schnellen soziokulturellen Veränderungen], Ksie˛ ga Jubileuszowa Profesora Mariana Filara [Festschrift f. Prof. M. Filar, Bd. 1], Torun´ 2012, S. 181 ff.

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ständen erforderlichen Sorgfalt“ verwirklichten Tat spricht. Dies hat eine allgemeine Diskussion zum Status und zur Funktion der Grundlagen eines angemessenen Vorgehens bezüglich des Rechtsguts sowie zu ihrer Einordnung in die Deliktstruktur hervorgerufen.12 Die Kontroversen in diesem Bereich haben – was noch schlimmer ist – deutlich unzutreffende Auslegungen selbst der Bestimmung des Art. 9 § 2 StGB hervorgerufen. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die verbreitete Meinung, dass die in dieser Vorschrift genannten objektbezogenen Merkmale der „Verletzung der erforderlichen Sorgfalt“ einen Bestandteil bilden, der die Fahrlässigkeit selbst erzeugt, d. h. eine subjektbezogene Eigenschaft der Tat, was selbstverständlich einen Fehler der kategorienmäßigen Begriffsverwirrung darstellt.13 Im Kontext der Überlegungen zu dieser Vorschrift erweckt vor allem die – nicht ohne erhebliche Beteiligung von A. Zoll getroffene – Annahme der Vollendung einer verbotenen Tat „infolge der Verletzung der erforderlichen Sorgfalt“ Widerspruch, weil sie die Ursache einer negativen Folge umschreibt und nicht den Umstand, dass der Täter auf eine inakzeptable Weise das Risiko des Eintretens dieser Folge erhöht. Folglich hat die Vorschrift, die ebenfalls die normativen Grundlagen der Erfolgszurechnung bestimmen sollte, in der Tat, durch eine unzutreffende Formulierung, eine kausale Wirkung der Zurechnung hervorgehoben oder nahegelegt.14

12 Siehe mehr dazu: Giezek, Naruszenie obowia˛zku ostroz˙ nos´ci jako przesłanka urzeczywistnienia znamion przestepstwa nieumys´lnego [Verletzung der Sorgfaltspflicht als Voraussetzung für die Verwirklichung der Merkmale eines fahrlässigen Deliktes], PiP 1/92, S. 117 ff.; ders., Przyczynowos´c´ … [Kausalität …] (wie Fn. 3), S. 85 – 117 sowie dort angegebene Literatur. Vgl. auch die Beiträge des VIII. Bielaner Kolloquiums für Strafrecht: Marek/ Lachowski, Struktura nieumyslnosci w kodeksie karnym z 1997 r [Struktur der Fahrlässigkeit im Strafgesetzbuch von 1997]; Majewski, Nieumys´lnos´c´ a brak nieumys´lnos´ci [Fahrlässigkeit und Mangel an Fahrlässigkeit]; Zoll, Typ czynu zabronionego charakteryzujacy sie˛ nieumys´lnos´cia˛ [Typ einer verbotenen Tat, der sich durch Fahrlässigkeit kennzeichnet]; Pohl, Niezachowanie wymaganej ostroz˙ nos´ci – znamie˛ typu czynu zabronionego czy odre˛ bny element w strukturze przeste˛ pstwa? [Verletzung der erforderlichen Sorgfalt – Tatbestandsmerkmal oder getrenntes Element in der Deliktstruktur?], in: Nieumys´lnos´c´ … [Fahrlässigkeit …] (wie Fn. 6), S. 9 – 86 sowie Diskussion über die Beiträge S. 87 – 125. 13 Siehe dazu Kaczmarek, in: Nieumys´lnos´c´ … [Fahrlässigkeit …] (wie Fn. 6), 87 – 88. 14 Es ist nicht gelungen, die Unbeholfenheit dieser Formulierung auch in weiteren Entwürfen zur Änderung des StGB vom 4. 4. 2013, vom 10. 12. 2013 und vom 6. 3. 2014 zu korrigieren, und die dort vorgeschlagene neue Fassung des Art. 2 § 1 hat noch mehr Zweifel erweckt. Siehe die scharfe Kritik dieses Projektes bei Giezek/Kaczmarek, Przeciwko ustawowej regulacji kryteriów obiektywnego przypisania skutku [Gegen die gesetzliche Regelung der Kriterien einer objektiven Erfolgszurechnung], PiP H. 5/2013, S. 79 ff.; Pohl, W sprawie proponowanych zmian w cze˛ s´ci ogólnej kodeksu karnego (wybrane zagadnienia) [Zu den vorgeschlagenen Änderungen im Allgemeinen Teil des StGB], PiP H. 8/2013, S. 105 ff.; Tokarczyk, Spory wokół obiektywnego przypisania w s´wietle projektu kodeksu karnego [Streit um die objektive Zurechnung im Lichte des Entwurfes des Strafgesetzbuches], PiP H. 10/ 2013, S. 101 ff.; Lachowski, Ocena projektowanych zmian art. 9 k.k. [Beurteilung der vorgeschlagenen Änderungen des Art. 9 StGB], PiP H. 1/ 2014, S. 84 ff.

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An dieser Stelle ist anzumerken, dass in der polnischen Fachliteratur die Verletzung der Sorgfaltspflicht meist und immer noch – hauptsächlich wegen der Krakauer Autoren – als eine fast unwiderlegbare und endgültige Erklärung des Wesens eines fahrlässigen Deliktes15 behandelt wurde und wird. In der deutschen Dogmatik, die bereits wesentlich früher die Lehre über die erforderliche Sorgfaltspflicht entwickelte, wird hingegen derzeit die Nützlichkeit der Verletzung der Sorgfaltspflicht als Prämisse der negativen Bewertung des Verhaltens in Frage gestellt. Kritische Aussagen zu diesem Thema kommen dabei von Autoren aus der „ersten Reihe“ der deutschen Strafrechtslehre, unter anderem von E. Schmidhäuser, G. Jakobs, J. Wolter oder F.-Ch. Schroeder, die auf verschiedenste Weisen zeigen, dass manchmal der Bezug auf eine Verletzung der Sorgfaltswidrigkeit als Charakteristik fahrlässig begangener Straftaten nicht nur sinnlos, sondern für die Beurteilung sogar schädlich ist, weil manchmal ganz merkwürdige Schlüsse gezogen werden.16 Indem wir annehmen, dass ein Fahrlässigkeitsdelikt Ergebnis der Verletzung der erforderlichen Sorgfalt ist, müssten wir allen Ernstes annehmen, dass beispielsweise ein Student, der fahrlässig Körperverletzungen seines Kollegen dadurch verursachte, dass er aus Spaß den Stuhl hinter seinem Rücken wegschob, nur dadurch seinen Fall und als Folge die erwähnte Verletzung verursachte, dass er unter den gegebenen Umständen den Stuhl nicht vorsichtig genug wegschob. Man braucht nicht vorzubringen, dass gerade die Verantwortlichkeit für das fahrlässige Vorgehen in diesem Fall nicht von der Feststellung abhängt, ob der Täter den Stuhl mehr oder weniger vorsichtig wegschob, sondern davon, dass er dies überhaupt getan hat, indem er durch sein Handeln eine Gefahr herbeiführte, die sich in der hervorgerufenen Folge verwirklichte. Aus dieser Sicht müssen alle Versuche, die unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfaltsregeln zu formulieren, z. B.: „wenn man aus Spaß den Stuhl wegschiebt, sollte man es unter Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt tun, damit der sich Setzende es rechtzeitig bemerken kann“ – im besten Fall grotesk klingen. Beispiele, in denen eine Formulierung sinnvoller Sorgfaltsregeln schwierig ist, gibt es nach Schmidhäuser noch viele mehr. Sie tauchen überall dort auf, wo die Sorgfalt verlangt, das geplante Handeln zur Gänze aufzugeben, weil sogar das kleinste Risiko, das damit zusammenhängt, nicht akzeptabel ist. Selbstverständlich liegen keine Regeln vor, die beispielsweise bestimmen würden, wie sorgfältig eine Speise aus giftigen Pilzen zubereitet werden muss bzw. wie man mit einer geladenen Pistole spielt.17 15 Siehe auch Uzasadnienie do projektu kodeksu karnego [Begründung zum Entwurf des StGB], PiP Beilage zu Heft 3/1994, S. 7. 16 Siehe mehr dazu; Giezek, Przyczynowos´c´ … [Kausalität …] (wie Fn. 3), S. 105, die dort angegebene Literatur sowie De˛ bski, Pozaustawowe … [Außergesetzliche …] (wie Fn. 3), S. 160 ff. 17 Schmidhäuser, Fahrlässige Straftat ohne Sorgfaltspflichtverletzung, in: SchaffsteinFestschrift, Götttingen 1975, S. 129 ff.

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Recht hat natürlich auch G. Jakobs, wenn er feststellt, dass insbesondere jene Formulierungen, die bei Begehungsdelikten gebraucht werden, dass der Täter die erforderliche Sorgfalt verletzte, vom Standpunkt der Normlogik aus falsch sind. Denn im Bereich gerade dieser Delikte ist der Täter nicht verpflichtet, sorgfältig zu handeln, sondern eine unsorgfältige Handlung zu unterlassen. Beispielsweise wird nicht geboten, mit Streichhölzern vorsichtig umzugehen, sondern es wird verboten, mit ihnen unvorsichtig umzugehen.18 Nach F.-Ch. Schroeder lassen sich die Regeln eines sorgfältigen Verhaltens fast nie in ausführlicher Weise bestimmen. In manchen Fällen ist ihre Anzahl praktisch unbeschränkt: Wenn der Täter ex post gesehen eine zu hohe Wahrscheinlichkeit geschaffen hat, eine negative Folge herbeizuführen, lässt sich immer eine Regel konstruieren, die zur bestimmten Situation passt, um dann ohne Schwierigkeiten feststellen zu können, dass diese Regel verletzt wurde. Dies liegt daran, dass eine beliebig nach Bedarf konstruierte Regel nur eine dekorative Funktion der Beschreibung des Verhaltens des Täters erfüllt, keinesfalls aber die Grundlage für eine objektive Zurechnung einer negativen Folge sein kann.19 In dieser Hinsicht berechtigt erscheint der Standpunkt von unter anderem B. Schünemann und C. Roxin sowie in der polnischen Literatur am stärksten jener von J. Giezek, dass mit der Verletzung dieser Regeln ausschließlich eine Vermutung der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale eingreift und aus eben diesem Grunde jene Regeln keine allgemeine Grundlage der strafrechtlichen Erfolgszurechnung bilden können. Es ist anzunehmen, dass die in vielen Lebensbereichen entwickelten Regeln eines sorgfältigen Umgangs mit einem Rechtsgut, weil sie nur eine Indizfunktion erfüllen, lediglich ein Hilfsmittel darstellen, mit dem die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale mehr oder weniger wahrscheinlich gemacht, keinesfalls aber ausdrücklich bestätigt werden kann.20

IV. Von diesem Standpunkt aus könnte man glauben, dass wesentlich sicherer, wenngleich hauptsächlich intuitiv, jenes Kriterium zu sein scheint, das eine objektive Zurechnung davon abhängig macht, ob der Täter durch sein unangemessenes Verhalten das Risiko des Eintretens einer negativen Folge über das sozial akzeptable Maß erhöht hat. Aber es wird sich wohl schon bald erweisen, dass die Antwort auf die grundlegende Frage, um welches Quantum das Risiko (die Wahrscheinlichkeit) der Herbeiführung der Folge im Vergleich zu einem rechtmäßigen Alternativverhalten zu erhöhen

18

Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 1. Auflage, Berlin/New York 1983, S. 260. Schroeder, Fahrlässigkeit als Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung, Juristenzeitung 1989, S. 776 ff. 20 Kritisch zu diesem Standpunkt Bielski, Obiektywna … [Objektive …] (wie Fn. 3), S. 193 – 194. 19

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ist, um diese im Falle ihres tatsächlichen Eintretens als Werk des Täters anzuerkennen, auf seltsame Schwierigkeiten stößt. Diese ergeben sich zum Teil auch aus allgemeineren Gründen. Ein solcher Grund liegt etwa darin, dass sich aufgrund der einzelnen Risikotheorien die Auslegung dieses Begriffes selbst, im Unterschied zu formellen Eigenschaften der Wahrscheinlichkeit, unterschiedlich zeigt, je nachdem, ob man sich der „häufigkeitsbezogenen“, „logischen“ oder „personalistischen“ Auslegung der Wahrscheinlichkeit von L.J. Savage bedient, nach der die Wahrscheinlichkeit den Grad der Überzeugung (degree of belief) einer ideellen d. h. rationellen Person bedeutet.21 Wiederum bewirkt der Mangel an eindeutigen Methoden zur Risikomessung, dass der Mindestgrad, um den das durch ein unangemessenes Verhalten des Täters verursachte Risiko der Herbeiführung des Erfolges erhöht werden muss, äußerst schwer präzise zu definieren ist. Statistische oder mathematische Methoden zur Messung des Wahrscheinlichkeitsgrades des Eintretens des betreffenden Ereignisses – unter relativ konstanten Bedingungen und bei in kurzen Zeitabständen relevant auftretenden Ereignissen – versagen oder sind nutzlos bei der Ermittlung des Wahrscheinlichkeitsgrades einzelner sozialer Ereignisse, um die es sich doch bei der Anwendung des Strafrechtes ausschließlich handelt. Daher sprechen die Anhänger des erforderlichen Risikoanstiegs allgemein – wohl aus Notwendigkeit – von einem „deutlichen“, „messbaren“, „bedeutenden“, oder „nachweisbaren“ Risikoanstieg, sie benutzen also Begriffe, deren Objektivität sich nicht verifizieren lässt und deren Unschärfe auch die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unscharf macht. Bei dieser Auffassung entstehen unter anderem Zweifel, ob der Täter auch dann zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden kann, wenn für das Gericht gar nicht sicher ist, ob die Folge im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu vermeiden war. Es wird somit ein Vorwurf erhoben, dass die Annahme einer Risikoerhöhung als Grundlage für die Erfolgszurechnung das juristische Prinzip in dubio pro reo verletzt, sofern angenommen wird, dass es dort, wo der Täter die Grenzen des zulässigen Risikos überschritten hat, keinen Platz mehr für nicht verifizierbare Vermutungen bzw. Zweifel gibt, die zu seinem Gunsten wirken würden. Erhoben wird auch der Vorwurf, dass die Lehre über die Risikoerhöhung sämtliche Verletzungsdelikte unzulässigerweise in Gefährdungsdelikte umwandelt, was im Endergebnis den Erfolg ausschließlich auf die Rolle einer objektiven Strafbarkeitsbedingung beschränkt. Ohne die möglichen Zweifel weiter zu nennen, verbergen manche Gegner der Lehre der objektiven Zurechnung manchmal nicht, dass sie den Eindruck haben, 21 Siehe mehr dazu Kozielecki, Psychologiczna teoria decyzji [Psychologische Theorie der Entscheidung], Warszawa 1975, S. 123 – 151; O’Shaughnessy, Metodologia decyzji [Methodologie der Entscheidung], Warszawa 1975, S. 175 – 186; sowie Spotowski, Funkcja niebezpieczen´stwa w prawie karnym [Gefahrfunktion im Strafrecht], Warszawa 1990, S. 67 – 71.

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dass die Anhänger dieser Konzeption – nachdem sie zuvor die Strafbarkeitsgrenze abgesteckt haben – die Faktoren einer objektiven Zurechnung so bezeichnen, dass sie das beabsichtigte Ergebnis, vom Gefühl der Richtigkeit oder Gerechtigkeit diktiert, erhalten. Die Benutzung des Begriffes der Gefahr (des Risikos) in diesem Kontext „gibt nur den Anschein der Beständigkeit der Entscheidungen, denn wegen des in diesem Begriff enthaltenen Faktors der Unbestimmtheit stellt er kein sicheres und präzises Kriterium dar. Es scheint nun, dass man an diese Konzeption mit einer sehr großen Vorsicht herangehen sollte, denn sie verspricht – wie ich meine – mehr als sie erfüllen kann.“22 Ich denke, die Klärung der in Ausnahmefällen strittigen Frage der objektiven Erfolgszurechnung sollte man lieber der Wissenschaft und der Judikatur überlassen, als die Art ihres Verständnisses durch eine gesetzliche Bestimmung zu dekretieren. Jedenfalls sollte der Grad des inakzeptablen Risikos des Auslösens einer negativen Folge nicht gesetzlich festgelegt werden, weil er in der Praxis mangels objektivierter Quantifikatoren seiner Messung ohnehin erst durch abschließende Beurteilung anhand der Intuition und dem gesunden Verstand des Richters (der übrigens selten im Übermaß auftritt) festgelegt werden kann.

V. Indem man sich dessen bewusst ist, dass die Anpassung der theoretischen Voraussetzungen der Zurechnungslehre an die Bedürfnisse der Praxis sowohl Zeit als auch eine vollkommen bewusste Gestaltung der Judikatur erfordert, bleibt die Frage offen, ob gerade der Gesetzgeber zur Entscheidung über die nicht abgeschlossenen Streite und wissenschaftlichen Diskussionen berufen ist, deren Ergebnisse ja keineswegs dazu anregen, die im juristischen Schrifttum formulierten Kriterien einer objektiven Zurechnung in die Sprache des Gesetzes zu übertragen. Die Skepsis in diesem Bereich ist umso größer, wenn man nicht aus den Augen verliert, dass selbst die Anhänger einer gesetzlichen Regelung der normativen Grundlagen der Erfolgszurechnung – nachdem nicht ohne Mühe ein Konsens über die Elemente der gesetzlichen Abgrenzung gefunden wird – es bereits geschafft haben, sich darüber zu entzweien, ob der Umfang der geplanten Regelung alle in diesem Bereich ausgearbeiteten Kriterien oder nur manche von ihnen umfassen sollte.23 22

Spotowski, Funkcja niebezpieczen´stwa … [Gefahrfunktion …] (wie Fn. 21), S. 325; vgl. auch Kaufmann, Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie, in: Jescheck-Festschrift, Berlin 1985, S. 275 ff. 23 Vgl. dazu den Verlauf der Diskussion über den bei Fußnote 7 zitierten Beitrag von Zoll. Der Beitragsinhalt, ein Bericht von Sroka sowie die Video-Aufnahme der ganzen Sitzung sind abrufbar auf der Webseite „e-Czasopisma Prawa Karnego i nauk penalnych” {http:// www.czpk.pl}. Siehe auch auf der gleichen Seite die spätere Paneldiskussion während der Beratungen der Allgemeinpolnischen Tagung der Lehrstühle für Strafrecht in Krakau vom 5.–7. September 2012 über das Bedürfnis einer gesetzlichen Regelung der Kriterien einer

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Im Kreis des Kodifizierungsausschusses selbst, in seinen Entwürfen vom 4. April und vom 10. Dezember 2013 – und analog im Entwurf vom 8. März 2014 – wurde, ohne die Gründe zu nennen, das Hauptkriterium der Erfolgszurechnung (in der deutschen Doktrin), nämlich die „Risikoerhöhung“, eliminiert, und in Art. 2 § 1 des Entwurfes wurde entschieden: „Wegen eines Erfolgsdeliktes ist nur derjenige strafbar, der unter Verletzung der Verhaltensregeln gegenüber einem Rechtsgut, die unter den gegebenen Umständen bindend sind, infolge Verletzung dieser Regeln die im Gesetz beschriebene Folge verursacht“. Eine solche Formulierung weist aber nur – ähnlich wie es übrigens Art. 9 § 2 polStGB tut – auf kausale Aspekte hin, deren Bedeutung die Zurechnungslehre selbstverständlich nicht in Frage stellt, doch gibt sie sich damit nicht zufrieden. Der Versuch einer solchen „Dekretierung“ der Kriterien einer normativen Erfolgszurechnung stieß in der Fachliteratur, was bereits erwähnt wurde, auf Kritik.24 Es distanzierte sich überdies auch das Komitee der Regierung von solchen Versuchen. In der Begründung des Regierungsprojektes zu den Änderungen des Strafgesetzbuches vom 17. April 2014 lesen wir: „das Regierungsprojekt stimmt aber nicht völlig mit den Vorhaben der Kodifizierungskommission des Strafrechtes überein (…) und umfasst – trotz deren Empfehlungen – nur manche Änderungen zu den Grundlagen der Verantwortlichkeit, die die Struktur des Strafgesetzbuches bilden. Das Projekt berücksichtigt nur Änderungen, die auf dieser Etappe des Gesetzgebungsverfahrens als notwendig bzw. angezeigt anzuerkennen sind und sich für eine effiziente In-

objektiven Zurechnung. Zoll bezieht sich in seinem Ausgangsvorschlag sowohl auf die „Vorgehensregeln mit einem Rechtsgut“ wie auch auf das Kriterium „des erhöhten Risikos“, indem er folgenden Wortlaut der betreffenden Bestimmung vorschlägt: Art. 2 § 1. Wegen eines Erfolgsdeliktes ist nur derjenige strafbar, der unter Verletzung der Verhaltensregeln gegenüber einem Rechtsgut, die unter den gegebenen Umständen bindend sind, infolge Verletzung dieser Regeln eine bedeutende Risikoerhöhung für ein Rechtsgut verursacht. Eine Bedingung für die Verantwortlichkeit ist, dass der Täter die Möglichkeit des Auftretens der Folge voraussieht bzw. das Auftreten der Folge vorhersehbar war. § 2. Wegen eines durch Unterlassen begangenen Erfolgsdeliktes ist nur derjenige strafbar, auf dem eine besondere Rechtspflicht ruhte, der Folge vorzubeugen. Eine solche Formulierung, was auch in der Diskussion hervorgehoben wurde, kann – abgesehen von der ontischen Bedingung der Erfolgszurechnung – eine, wie ich meine, unbeabsichtigte Überzeugung verursachen, dass, um die strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen tatbestandsmäßigen Erfolg anzunehmen, nur die Festlegung eines normativen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten und seiner Folge reicht, ohne Festlegung eines rein kausalen Zusammenhangs. Die vorgeschlagene Textfassung kann u. a. Zweifel erwecken, auch in Bezug darauf, ob es gerade das Strafgesetzbuch ist, das bei der Bestimmung der normativen Grundlage der Verantwortlichkeit gleichzeitig auch über das Verfahren zur Bestimmung eines normativen Zusammenhangs ausschließlich aufgrund der Konzeption eines erhöhten Risikos unter Außerachtlassung der Analyse einer hypothetischen Wahrscheinlichkeit der Begrenzung der negativen Folge im Falle eines rechtmäßigen Alternativverhaltens zu entscheiden hat. Mehr dazu und kritisch Kaczmarek, Kryteria … [Kriterien …] (wie Fn. 11), S. 169 – 188. 24 Siehe die in Fußnote 14 angegebene Literatur.

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ternalisierung durch die Praxis eignen.“25 In dem am 20. Februar 2015 erlassenen Novellierungsgesetz26 wurde gegen die Empfehlungen der Kodifizierungskommisson für Strafrecht der bisherige Wortlaut der Art. 1, 2 und 9 polStGB belassen.

VI. Die verständliche Forderung nach einer gewissen Zurückhaltung gegenüber einer Konzeption, die theoretisch noch nicht unumstritten ist und deren praktische Anwendung auf eine ganze Reihe von Schwierigkeiten stoßen kann, nimmt ja der objektiven Zurechnungslehre ihre Attraktivität und vor allem die Richtigkeit ihrer grundlegenden Botschaft nicht weg, dass es im Strafrecht nicht möglich ist, die Tat und ihre Folgen ausschließlich in Kategorien einer ontologischen Beschreibung unter Weglassung der normativen Beurteilungen, die sich auf diese Folgen beziehen können, zu erläutern. Im Gegenteil, wenn man diese negativen Eigenschaften der Tat und ihrer Folgen, die als Ergebnis der normativen Beurteilung auftauchen, weglassen würde, könnte man weder unter allen möglichen Verhaltensweisen diejenigen aussondern, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen, noch das Wesen und den Sinn der strafrechtlichen Verantwortlichkeit selbst für die Auslösung der im Gesetz beschriebenen Folge begreifen. Ich denke jedoch, dass gerade diese grundlegende Botschaft der Zurechnungslehre ihren ausreichenden Ausdruck im Gesetz findet. Tatsächlich, was ich hervorheben möchte, vertreten C. Roxin selbst sowie die Anhänger seiner Risikoerhöhungslehre, indem sie sich für den Standpunkt aussprechen, dass nicht die faktische Existenz (d. h. Kausalität oder Finalität), sondern eher die normativen Maßstäbe das System des Strafrechts aufzubauen haben, dass die einfachste Formel der normativen Kriterien der Zurechnung einer strafrechtlichen relevanten Folge nicht die Schaffung der Gefahr selbst, sondern die Unerlaubtheit dieser Gefahr ist.27 Mit anderen Worten wird das normative Kriterium einer objektiven Zurechnung in diesem Fall mit Recht nicht als Verursachung der Gefahr bezeichnet, sondern als Verursachung einer „verbotenen“, „unerlaubten“ oder „rechtlich missbilligten“ Gefahr.28

25

Regierungsprojekt eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs und mancher anderen Gesetze, Gesetz vom 17. April 2014. Begründung S. 1 und 7. 26 GBl. Dz. U. Nr. 88 z 20. 2. 2015. 27 Roxin, Problematyka … [Probleme …] (wie Fn. 4), S. 6 – 7; ders., Gedanken zur Problematik, Fußnote 1, S. 138; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, Berlin 1978, S. 231; Rudolphi, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Allg. Teil, Frankfurt am Main 1983, Vor § 1 Rz 5 bis 7. 28 Hervorgehoben auch von De˛ bski, Pozaustawowe … [Außergesetzliche …] (wie Fn. 3), S. 208.

Kriterien einer objektiven Erfolgszurechnung als Kodifizierungsfrage

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Von diesem Standpunkt aus lässt sich ohne Zweifel sagen, dass eine scheinbar banale Feststellung die größte Bedeutung für die Bestimmung der normativen Grundlagen der Erfolgszurechnung hat, nämlich dass über die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale in jedem Fall die Überschreitung der Rechtsnorm entscheidet. Daraus ergibt sich nämlich offensichtlich, dass nur ein rechtswidriges Verhalten des Subjektes die Grundlage für die Zurechnung eines Erfolgs bilden kann. Dies bedeutet wiederum, dass gerade dieses Kriterium der Rechtswidrigkeit auf eine, wie ich meine, sehr leserliche Weise transparente und unüberschreitbare Grenzen setzt, außerhalb deren niemand als Straftäter anerkannt werden kann. In diesem Sinne erscheint die Rechtswidrigkeit des Verhaltens als ursprüngliches normatives Kriterium der Erfolgszurechnung als ein universelles Kriterium, denn es ist dem Handeln und dem Unterlassen gemeinsam.29 Und es kann tatsächlich nicht anders sein, sofern, was H. J. Rudolphi mit Recht betont, die den gesetzlichen Merkmalen zugrundeliegenden Verhaltensnormen nicht gegen jede Tat gerichtet sind, die zu einem Risiko des Auslösens eines strafrechtlichen Erfolgs führt, sondern nur gegen solche Taten, die entweder generell nicht im Rahmen des erlaubten Risikos liegen oder den Umfang des rechtlich zugelassenen Risikos überschreiten. Dies bedeutet, dass objektiv zurechenbar nur eine Folge ist, die durch ein solches Verhalten des Menschen verursacht ist, das eine rechtlich missbilligte Gefahr ausgelöst hat.30 Die Akzeptanz einer solchen Prämisse erlaubt, wie ich meine, unter den normativen Kriterien der Erfolgszurechnung in weiterer Folge auch die Schuld als Vorwerfbarkeit einer Straftat zu nennen, was ich an dieser Stelle aus Platzgründen nur andeuten kann, wobei ich mir bewusst bin, dass dieser Gedanke noch einer weiteren detaillierten Erläuterung bedarf.

29

Majewski (wie Fn. 12), S. 63 ff. Rudolphi (wie Fn. 27). Noch deutlicher formuliert Jescheck die grundlegende These der Zurechnungslehre, indem er schreibt: „die durch die Tat des Menschen ausgelöste Folge kann nur dann objektiv zugrechnet werden, wenn diese Tat eine rechtlich verurteilte Gefahr verursachte, welche sich in der den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen entsprechenden Folge verwirklichte“ (wie Fn. 27), S. 231. 30

Über die strafrechtliche Verantwortung der juristischen Person und die Organ- und Vertreterhaftung in Finnland1 Raimo Lahti

I. Die Einführung der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Person als ein Beispiel der Verstärkung und Differenzierung des Wirtschaftsstrafrechts In Finnland wurde in den Jahren 1972 – 2003 eine Gesamtreform des Strafrechtes verwirklicht, bei der das Wirtschaftsstrafrecht einen zentralen Teil gebildet hat. Von der Gesamtreform steht die Überprüfung einiger Vorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzes sowie die gesamte Kapitelsystematik des Besonderen Teils noch aus, aber ansonsten konnte die Rekodifizierung des aus dem Jahre 1889 stammenden Strafgesetzes im Jahre 2003 zu einem faktischen Abschluss gebracht werden.2 Die Wirtschaftsstrafvorschriften wurden in den Jahren 1990, 1995 und 2003 in drei Gesetzgebungspaketen reformiert. Die grundlegenden Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortung in der Form der echten Kriminalstrafbarkeit juristischer Personen finden sich im 9. Kapitel des reformierten StGB (GBl. 743/1995). Die wichtigsten den Allgemeinen Teil des Strafrechts betreffenden Vorschriften wurden in 2003 novelliert. Die Ziele, Wirkungen und Grenzen des Wirtschaftsstrafrechts haben auch die Regelung der strafrechtlichen Verantwortung juristischen Personen beeinflusst. Die Ziele des reformierten Wirtschaftsstrafrechtes sind vor dem Hintergrund der allgemeinen Ziele der Gesamtreform des Strafrechtes zu sehen. Die wichtigste Aufgabe, die der Reformarbeit des Strafrechtskomitees gestellt worden war, hat darin bestanden, Überlegungen darüber anzustellen, was strafbar sein sollte und wie streng für die 1

Eine frühere Version dieses Artikels ist in japanischer Sprache erschienen; Lahti, Comparative Law Review (Waseda University, Japan), Vol. 48, No. 3, 2015, S. 187 ff. Siehe auch Lahti, Über die Regelung der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Person. In: Ays¸e Nuhog˘ lu (Ed.), Sanktionen gegen juristische Personen, Max-Planck-Institute for Foreign and International Criminal Law and Bahçes¸ehir University Joint Research Group, Volume T 2, 2013, S. 115 ff. 2 Siehe jetzt Das Finnische Strafgesetz (nach dem Stand vom 1. 10. 2005). Übersetzung und Einführung von Karin Cornils, Dan Frände und Jussi Matikkala. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, 2006.

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einzelnen Delikte zu bestrafen sei. Für die Bestimmung der Strafbarkeit der Taten und der festzusetzenden Strafdrohungen wurde ein Modell vorgeschlagen, nach dem zuerst die Nachteiligkeit und Vorwerfbarkeit der Tattypen zu beurteilen und dann die Vor- und Nachteile einer eventuellen Kriminalisierung im Vergleich zu den übrigen Regulierungsalternativen abzuwägen sei. Das Komitee betonte die das strafrechtliche System kennzeichnende Wirkung: die mittelbare Wirkung und die symbolische Bedeutung der Strafdrohungen. Mit den Strafvorschriften wird aufgezeigt, welches die für die Gesellschaft zentralen Ver- und Gebote seien. Durch die Existenz der Strafdrohungen und ihre Anwendung in der Praxis wird die autoritative Missbilligung der Gesellschaft ausgedrückt und somit Einfluss auf die Herausbildung der Rechts- und Moralvorstellungen der Bürger genommen.3 Die Vorarbeiten zur Strafrechtsreform spiegeln den begründeten Glauben an die generalpräventive Wirkung des strafrechtlichen Systems sowie an die Wichtigkeit der Prinzipien Gerechtigkeit und Humanität für die Legitimität des Strafrechtssystems wieder. Die Reduzierung der Kriminalität und ihrer Nachteile setzt eine vielseitige und wirkungsvolle Kriminalitätsbekämpfung und ein effektives strafrechtliches Kontrollsystem voraus. Von dem strafrechtlichen Kontrollsystem wird Glaubwürdigkeit und Legitimität erwartet, mit anderen Worten: man muss an die Funktionsfähigkeit des Systems glauben und auf seine Richtigkeit und Billigkeit vertrauen können. Der Schweregrad der Strafdrohungen bzw. der einzelnen Strafen bildet jedoch nur einen Teil der Umstände, die einen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems haben. Es ist somit offenbar, dass man allein dadurch, dass man die Wirtschaftsstrafvorschriften aktualisiert und deren Strafdrohungen in ein gerechtes Verhältnis zu den Strafdrohungen der konventionellen Vermögensdelikte stellt, die angestrebte Wirksamkeit der Wirtschaftskriminalitätsprävention und -kontrolle nicht erreicht. Die Wirksamkeit des strafrechtlichen Systems ist maßgeblich von dem gesamten Strafprozess, d. h. von den Tätigkeitsvoraussetzungen der verschiedenen Behörden (der Aufsichts-, Polizei- und Anklagebehörden sowie der Gerichte) abhängig, die dafür zuständig sind, die Täter zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Die mit Strafdrohungen bewehrten Strafvorschriften spielen bei der Bekämpfung und Kontrolle der Wirtschaftskriminalität dennoch eine eigene wichtige Rolle, wie das Strafrechtskomitee die Sachlage ausgedrückt hat. Allerdings hat man bei der Ausarbeitung der Strafrechtsreformen in Finnland, wie auch in anderen Ländern, eine lebhafte kritische Diskussion darüber geführt, ob das strafrechtliche System zur Vorbeugung und Kontrolle des Missbrauchs wirtschaftlicher Tätigkeit oder zur

3 Siehe Komiteebericht 1976:72, Kapitel II–IV. Siehe auch im allgemeinen Lahti/Nuotio (Hrsg.), Criminal Law Theory in Transition/Strafrechtstheorie im Umbruch. Finnish Lawyers‘ Publishing Company, Helsinki 1992; Lahti, Das Wirtschaftsstrafrecht in der Gesamtreform des Strafrechts. Festschrift für Klaus Tiedemann, Carl Heymanns Verlag, 2008, S. 61 ff.

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Förderung der Arbeitssicherheit und des Umweltschutzes geeignet sei oder ob dem Strafrecht nur eine rein symbolische Bedeutung zukomme.4 Ein spürbares administratives Bußgeld – die Buße für Wettbewerbsverstöße – wurde gemäß dem Vorbild des Wettbewerbsrechts der Europäischen Gemeinschaft in einem Gesetz über die Wettbewerbseinschränkungen (GBl. 480/1992) in Gebrauch genommen. Jedoch war es ein großer Mangel in Finnland, dass diejenigen punitiven administrativen Sanktionen, die besonders im Wettbewerbs- und Wertpapiermarktrecht wegen der Vorbildwirkung der EU in Gebrauch genommen worden sind, bei der Gesamtreform des Strafrechts keine reale Beachtung fanden und darum die Vor- und Nachtteile der punitiven administrativen Sanktionen im Verhältnis zu Kriminalstrafen im Gebiete des Wirtschafstrafrechts nicht systematisch erörtert wurden.5

II. Zur Strafverantwortung der juristischen Person in Finnland Zu den aus rechtsideologischer und internationaler Sicht betrachtet bedeutenden Reformgedanken des Strafrechtskomitees (1977) hat der Vorschlag über die Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Kollektiven gehört: Die strafrechtliche Verantwortung müsste man auch dem Kollektiv selbst, der juristischen Person, zuweisen können. Diesem Gedanken folgend wurde im Jahre 1995 die Strafverantwortung der juristischen Person eingeführt (StGB Kapitel 9; 743/1995).6 Über die in Frage kommenden, bei der Tätigkeit der juristischen Person begangenen Delikte wurden separate Vorschriften erlassen (StGB 9:1.1). Zu solchen Delikten wurden in der Anfangsphase die Bestechungsdelikte (StGB 16:18; 563/1998), die Beihilfedelikte (StGB 29:10), die meisten der Gewerbedelikte im Kapitel 30 des StGB (StGB 30:13), die Geldwäsche und die sonstigen schweren Hehlereidelikte (StGB 33:8), die Rationierungsdelikte und der Schmuggel (StGB 46:14) sowie die Umweltdelikte (StGB 48:9) bestimmt. Man erachtete den Bedarf dieser neuen Verantwortungsform für am offenbarsten bei der im weiten Sinne definierten Wirtschaftskriminalität, aber nicht alle Deliktstypen dieser Kriminalität – zum Beispiel Steuer-, Buchhaltungs-, Schuldner- oder Arbeitsdelikte – sind in den Kreis der neuen 4 Siehe u. a. die kritischen Beiträge im Forschungskolloquium „Finnisches Strafgesetz 100 Jahre“. In: Lahti/Nuotio (Hrsg.), Criminal Law Theory in Transition, a.a.O. (Fn 3), insb. Kap. II und Hassemer, Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts, S. 113 ff. 5 Siehe näher Lahti, Das moderne Strafrecht und das ultima-ratio-Prinzip. Festschrift für Winfried Hassemer, C. F. Müller Verlag, 2010, S. 439 ff. 6 Siehe auch Riihijärvi, Criminal Liability of Corporations – Finland. In: de Doelder/ Tiedemann (Hrsg.), La Criminalisation du Comportement Collectif, 1996, S. 203 ff.; Jaatinen, Corporate Criminal Liability and Neo-Classical Criminal Policy. Turku Law Journal 1/1999, S. 103 ff.; Frände, Strafbarkeit juristischer Personen aus finnischer Sicht. In: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften? Duncker & Humblot 2001, S. 228 ff.; Tolvanen, Trust. Business Ethics and Crime Prevention – Corporate Criminal Liability in Finland. Fudan Law Yournal 4/2009, S. 99 ff.

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strafrechtlichen Verantwortlichkeit mit einbezogen worden. In den Begründungen zum Gesetz wird die Bedeutung der Erwägung der kriminalpolitischen Notwendigkeit und des Behutsamkeitsprinzips betont. Seitdem ist der Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Person insbesondere aufgrund der Vorschriften der Europäischen Union erweitert und diese Verantwortungsform auch auf Arbeitsschutzdelikte ausgedehnt worden. Die Rechtsvorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person sind in Finnland nun seit 20 Jahren in Kraft. Die in den Gesetzesbegründungen geäußerte Annahme, dass man nur selten Körperschaftsgeldstrafen verhängen würde, traf besonders in den Anfangsjahren zu. Damals wurden vor den Gerichten nur einige wenige Fälle der kollektiven Verantwortung gemäß Kapitel 9 des StGB verhandelt. Zum Teil hatte darauf der Umstand einen Einfluss, dass der Staatsanwalt kraft Kapitel 9 des StGB bis zur Gesetzesänderung des Jahres 2003 reichlich Ermessensspielraum hinsichtlich einer sanktionsartigen Verfolgung hatte. Danach ist es häufiger geworden, dass juristische Personen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, und u. a. die Präjudizien OGH (KKO) 2008:22 und 2009:1 des Obersten Gerichtshofs haben diesbezüglich eine steuernde Wirkung ausgeübt. Als eine Erklärung für die recht gering gebliebene Anwendungspraxis lässt sich behaupten, dass das Kapitel 9 des StGB eine kritikanfällige symbolische Strafgesetzgebung repräsentiere. Zunächst einmal ist bei den in Frage kommenden Deliktstypen ganz allgemein eine strafrechtliche Verfolgung recht selten. Zum zweiten verlangt die Anwendung dieses recht diffizilen Vorschriftenwerks, dass die Verwirklichung der kollektiven Verantwortung zum Schwerpunktgebiet der Tätigkeit der Überwachungs-, Ermittlungs- und Anklagebehörden gemacht wird. Das würde verlangen, dass man den zuständigen Behörden Schulung über die Prinzipien der neuen Verantwortungsform zukommen lässt und Ressourcen in die Untersuchung der Voraussetzungen der kollektiven Verantwortung und das Ermessen betreffend die Anklageerhebung investiert. Für den sparsamen Gebrauch der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Person spricht – außer der schwachen Funktionsfähigkeit der Klärung der Verwirklichung der kollektiven Verantwortung – auch die Entwicklung von alternativen Mitteln für diese. Das Strafrechtskomitee hat in seinem Bericht derartige Mittel behandelt, und zwar als zentrales von ihnen die Effektivierung der individuellen Verantwortung. Neben der Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Körperschaften sollte man auch eine solche Regulierung entwickeln, die die individuelle strafrechtliche Verantwortung für die bei der Tätigkeit der Körperschaft begangenen Delikte betonen und die Klärung der individuellen Schuld effektivieren würde. Derselbe Standpunkt wurde auch in der späteren Regierungsvorlage hervorgehoben. Obgleich es also möglich sein muss, die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person selbst zuzuweisen, so müsste man auch diejenigen Prinzipien genauer herausarbeiten, nach denen man die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer oder

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mehreren natürlichen Personen zuweisen könnte, die im Namen und/oder zugunsten einer juristischen Person gehandelt haben. Es ist angebracht, diesen Ausgangspunkt der Vorarbeiten des Gesetzes weiter zu präzisieren. Eine gesetzgeberische Klärung ist dabei keine ausreichende Maßnahme. Ein zu empfehlendes Mittel besteht darin, dass man die Verantwortungslehre betreffend die in der Tätigkeit einer juristischen Person begangenen Delikte mittels strafrechtstheoretischer Forschung zur kohärenten Anwendung weiterentwickelt. Die gewachsene gesellschaftliche Bedeutung von Unternehmen und allgemeiner von Organisationen hat auch ansonsten den Bedarf verstärkt, die Organisations- oder Körperschaftsdelikte und deren Regulierung zu erforschen. Dieser Entwicklungszug ist ein Beispiel für die Modernisierung des Strafrechts, wie sie für den Wohlfahrtsstaat typisch ist. Das Strafrechtssystem wird bei diesem Wandel nicht in einheitlicher Form erhalten bleiben, sondern es wird eine gewisse Differenzierung eintreten – gleich ob man nun mit dem System den juristischen Systemaspekt oder den soziologische Kontrollmechanismus meint. In der ausländischen Rechtsliteratur hat man entsprechend in zunehmendem Maße die Probleme der strafrechtlichen Unternehmerverantwortung und/oder des Körperschaftsstrafrechts untersucht. Diese Betrachtung ist eng mit dem Wirtschaftskriminalrecht verbunden gewesen, da im Allgemeinen das Augenmerk auf in unternehmerischer oder gewerblicher Tätigkeit begangene Delikte gerichtet wurde, bei denen es sich typischerweise um Wirtschaftsdelikte handelt. Bemerkenswert ist der Umstand, dass man bei einer solchen juristischen Analyse parallel zueinander ebenso die Voraussetzungen und Sanktionen der kollektiven wie der individuellen Verantwortung erörtert hat. Man sollte auch in der finnischen Diskussion beide Verantwortungsformen als interaktive Teile eines neuartigen Verantwortlichkeitssystems sehen, die sich auf der Basis eines parallelen strafrechtstheoretischen Denkmodells evaluieren lassen. Und zwar ungeachtet dessen, dass man bei der Verabschiedung des Kapitels 9 des StGB nicht bestrebt gewesen war, die fraglichen Verantwortungsformen systematisch aneinander anzupassen. Für einen Vergleich ist der schwedische Gesetzesentwurf (1997) über die Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die juristische Person von Interesse, der nicht verwirklicht worden ist, sondern man hat in Schweden für die juristische Person als eine verhängbare Sanktion eine Sicherungsmaßnahme beschlossen, die mit der Konfiskation vergleichbar ist. Dem besagten Entwurf zufolge wäre die Möglichkeit, eine Körperschaftsgeldstrafe zu verhängen, in erster Linie mit solchen in gewerblicher Tätigkeit begangenen Delikten verbunden, für die man eine natürliche Person aufgrund der Prinzipien über die unternehmerische Verantwortung (die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit) verurteilen kann. Die wichtigsten Prinzipien dieser Verantwortung hätte man im Gesetz niederschreiben müssen, und bei weniger schweren Delikten wäre es die erstrangige Verfolgungsalternative gewesen, die juristische Person strafrechtlich verantwortlich zu machen.

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Eine solche in Schweden vorgeschlagene Regulierungsweise zur Harmonisierung von körperschaftlicher und individueller Verantwortlichkeit würde auch in der finnischen Gesetzgebung eine Verbesserung darstellen. Sie würde die Anwendungspraxis der Behörden erleichtern und vereinheitlichen. Man könnte eine solche Entscheidung auch mit einem solch gleichartigen grundsätzlichen Aspekt befürworten wie dem finnischen Modell über die körperschaftliche Verantwortung. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person hat somit Berührungspunkte mit den die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit betreffenden Prinzipien, und die Wahl zwischen diesen Verantwortungsformen müsste man deutlicher als bisher gestalten.

III. Über die Wechselwirkung zwischen der Verantwortlichkeit von natürlichen und nicht-natürlichen Personen für Straftaten in Unternehmen, Verbänden und anderen Kollektiven7 Gleichzeitig mit der Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Person wurden bei der Reformierung des Strafgesetzes (578/1995) in die neuen Kapitel über Arbeits- und Umweltdelikte, in den § 7 des Kapitels 47 StGB und in den § 7 des Kapitels 48 StGB Regeln über die Zuweisung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit (d. h. über die Organ- und Vertreterhaftung) aufgenommen. Bei der Erwägung der Voraussetzungen dieser Verantwortungsform wird das Augenmerk auf Delikte gerichtet, die von einer juristischen Person oder einer mit ihr vergleichbaren Instanz bei unternehmerischer oder sonstiger organisierter Tätigkeit begangen werden. Die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist in den klassischen Allgemeinen Lehren des Strafgesetzes in erster Linie mit den Grundsätzen über die Teilnahme, die Unterlassungshaftung und die Fahrlässigkeit verbunden. Die Regulierung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Organisationsstraftaten ist in dem Strafgesetzprojekt – der Projektorganisation des Justizministeriums, die die Gesamtreform des Strafgesetzes ausgearbeitet hat – die letzte Frage der strafrechtlichen Verantwortungslehre gewesen. Die vom Strafgesetzprojekt eingesetzte Arbeitsgruppe hatte zwei alternative Regulierungsvorschläge ausgearbeitet. Dem ersten, siegreich gebliebenen Vorschlag zufolge ist es ausreichend, dass im Kapitel über den Versuch und die Teilnahme über das Handeln für einen anderen bestimmt wird, während zugleich in das neue Strafgesetz eine allgemeine Vorschrift über die Strafbarkeit der Unterlassung aufgenommen wird. Dem zweiten Vorschlag zufolge sollte man in den Allgemeinen Teil des Strafgesetzes auch eine Gesetzesstelle mit aufnehmen, die den Rechtsvorschriften der §§ 47:7 und 48:7 des 7 Vgl. im allgemeinen Yamanaka, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen. In: Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft. Nomos 2008, S. 78 ff.

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StGB entspricht und die besonderen Regeln weitgehend ersetzt. Die Rechtsvorschrift (StGB, 5:8), die im Jahre 2003 im Zusammenhang mit der Reformierung des Allgemeinen Teils des StGB in das Strafgesetz aufgenommen wurde, hat den folgenden Inhalt: Handeln für eine juristische Person. (1) Wer einem gesetzlich vorgeschriebenen Organ oder der Leitung einer Gesellschaft, einer Stiftung oder einer anderen juristischen Person angehört sowie wer innerhalb einer juristischen Person tatsächlich Entscheidungsbefugnis ausübt oder aufgrund eines Amtsstellungs- oder Dienstverhältnisses oder Auftrags sonst für die juristische Person handelt, kann wegen einer im Rahmen ihrer Tätigkeit begangenen Straftat bestraft werden, auch wenn er die besonderen für den Täter geltenden tatbestandsmäßigen Voraussetzungen nicht erfüllt, sofern die juristische Person diese Voraussetzungen erfüllt. (2) Ist eine Straftat in dem Geschäft eines Gewerbetreibenden oder im Rahmen einer anderen mit der Tätigkeit einer juristischen Person gleichzustellenden organisierten Tätigkeit begangen worden, so sind die Vorschriften des Absatzes 1 über eine im Rahmen der Tätigkeit einer juristischen Person begangene Straftat entsprechend anzuwenden. (3) Die Vorschriften dieses Paragraphen finden keine Anwendung, sofern an anderer Stelle gesetzlich etwas anderes vorgesehen ist.8

Im Folgenden ist es mein Ziel, diese mit der Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und deren Regulierung verbundenen rechtlichen Probleme zu erörtern und ihren Hintergrund zu skizzieren. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Versuch, das Verhältnis zwischen kollektiver und individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit sowie die Prinzipien, die darauf einen Einfluss haben, zu klären. Ich beleuchte diese Abhandlung anhand von Präjudizien des Obersten Gerichtshofes. Es ist anzumerken, dass mit der individuellen und gemeinschaftlichen Strafbarkeit von im Rahmen der Tätigkeit einer juristischen Person begangenen Straftaten besondere Züge verbunden sind, die sich weder mit den konventionellen Teilnahmevorschriften noch mit der Lehre über die Unterlassungsverantwortlichkeit handhaben lassen. Die Ingebrauchnahme der echten Kriminalstrafbarkeit der juristischen Person in 1995 hat die Annahme einer neuen Verantwortungsform bei diesen so genannten Unternehmensdelikten bedeutet, weil die individuelle Strafbarkeit traditionell in der Rechtspraxis und Doktrin anerkannt worden ist. In die Kapitel über die Arbeits- und Umweltdelikte wurden besondere, die Zuweisung der individuellen Verantwortung betreffende Vorschriften (StGB Kap. 47 § 7 und Kap. 48 § 7) aufgenommen. Bei der 8

Die Rechtsvorschrift, für die sich die Minderheit ausgesprochen hatte, lautet wie folgt: Die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgrund einer in der Tätigkeit einer juristischen Person begangenen Straftat (1. Absatz wie in der von der Mehrheit unterstützen Vorschrift.) (2) Ist in der Tätigkeit einer juristischen Person oder für diese eine Straftat begangen worden, so wird derjenige als Täter zu einer Strafe verurteilt, dem die Verwirklichung der Straftat durch eine Handlung oder Unterlassung anzurechnen ist. Bei der Einschätzung dessen sind neben den sich aus dem Straftatbestand ergebenden Voraussetzungen auch die Position der betreffenden Person in der juristischen Person, die Art, der Umfang und die Klarheit seiner Aufgaben und Befugnisse sowie seine berufliche Qualifikation zu berücksichtigen. (3. Absatz wie in Absatz 2 der von der Mehrheit angenommenen Vorschrift.).

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Reform der Allgemeinen Lehren des Strafrechtes (2003) wurde in den Zusammenhang mit den Vorschriften über die Teilnahme eine Vorschrift über das Handeln für eine juristische Person (StGB 5:8) aufgenommen. Das Problem dieser neuen Vorschrift (StGB 5:8), die auf dem Vorbild des deutschen Strafrechtes (dStGB § 14) basiert, besteht indes darin, dass sie die Prinzipien der Zuweisung der Verantwortung bzw. die Maßstäbe völlig undefiniert lässt, auch wenn man aus der neuen Vorschrift über die Strafbarkeit der Unterlassung und die Teilnahmevorschriften einen ergänzenden Auslegungshinweis erhält. Durch den Erlass des § 8 im Kapitel 5 des StGB ist auf jeden Fall anerkannt worden, dass die mit unternehmerischer Tätigkeit verbundenen (wirtschaftlichen) Straftaten solche mit der Konstruierung der Verantwortung zusammenhängenden besonderen Züge aufweisen, die die Aufnahme einer Vorschrift in den Allgemeinen Teil des Strafrechtes begründen. Diese Vorschrift klärt auf jeden Fall die Bestimmung des Täterkreises und verstärkt die eingebürgerte Rechtspraxis, bei der der faktische Geschäftsführer mit der Leitungsperson in der Organstellung gleichgesetzt wird (siehe OGH 2000:74 sowie OGH 2001:80 und 85 – 86). Man sollte theoretisch die besonderen Züge der Unternehmensdelikte sowie das Verhältnis zwischen gemeinschaftlicher und individueller strafrechtlicher Verantwortung bei diesen Delikten erwägen. Gegenwärtig besteht die strafrechtliche Verantwortung des Individuums für im Auftrag oder zu Gunsten der juristischen Person begangene Delikte (d. h. die Organ- oder Vertreterhaftung) parallel zur Verantwortung der juristischen Person. Es besteht die Gefahr, dass diese parallel zur Verfügung stehenden Verantwortungsformen zu einer tatsächlichen Sanktionskumulation führen können (siehe OGH 2002:39; vgl OGH 2009:1). Man kann sich auch fragen, ob es prozessökonomisch wünschenswert wäre, dass die Staatanwaltschaft mehr Ermessensspielraum hätte, um der mehr zweckentsprechenden Verantwortungsform den Vorrang in der Strafverfolgung zu geben (vgl. die Praxis in Dänemark). Die in den Forschungsprojekten zu dem Corpus Juris und den Europa-Delikten gemachten Vorschläge zu Vorschriften über die Regulierung der individuellen strafrechtlichen Verantwortung von Unternehmensleitern können hierfür beachtenswerte Vorbilder abgeben.9

IV. Über die Zurechnungsstruktur der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Person10 Die Zurechnungsstruktur der echten Kriminalstrafbarkeit ist im Kapitel 9 des finnischen StGB nicht ganz klar (siehe auch Anlage). In erster Linie denkt man, dass die 9 Siehe Delmas-Marty/Vervaele (Hrsg.), The Implementation of the Corpus Juris I–IV. Intersentia 2000 – 2001, Appendix III, Article 12; Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, Freiburg-Symposium. Carl Heymanns Verlag 2002, Kap. E, Art. 15. 10 Vgl. z. B. Böse, Strafbarkeit juristischer Personen – Selbstverständlichkeit oder Paradigmenwechsel im Strafrecht? ZStW 2014; 126(1), S. 132 ff., 136 ff.

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juristische Person aufgrund der Tat eines individuellen (in Ausnahmefällen auch anonymen) Täters bestraft wird, aber andererseits ist in der Regelung eine gewisse kollektive, „gemeinschaftliche“ Schuld oder Zurechenbarkeit erkennbar. Zunächst einmal ist mit dem Verantwortungsobjekt eine Körperschaft, Stiftung oder sonstige juristische Person gemeint. Als Sanktion für die Straftat kommt nur eine gemeinschaftliche Geldstrafe in Frage. Juristische Personen zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, ist nur dann möglich, wenn dies im StGB bei dem jeweiligen Deliktstyp gesondert vorgesehen ist. Solche Deliktstypen sind typischerweise solche Wirtschaftsdelikte wie Gewerbedelikte, Subventionsdelikte, Geldwäschedelikte, Umweltdelikte und Arbeitsschutzdelikte. Als zweite Grundvoraussetzung für die gemeinschaftliche Verantwortung gilt, dass eine Straftat im Rahmen der Tätigkeit der juristischen Person begangen wurde. Diese Verantwortungsform kommt jedoch nicht in Frage, wenn das Delikt bei der Ausübung öffentlicher Gewalt begangen wurde. Das Delikt gilt als im Rahmen der Tätigkeit der juristischen Person begangen, wenn der Täter im Auftrag oder zu Gunsten der juristischen Person gehandelt hat, wenn er der Leitung der juristischen Person angehört oder zu dieser in einem Angestellten- oder Dienstverhältnis steht oder wenn er aufgrund eines Auftrags gehandelt hat, den er von einem Vertreter der juristischen Person erhalten hat. Es ist jedoch nicht unbedingt notwendig, dass ein solcher individueller Täter ermittelt oder bestraft wird. Zum dritten setzt die gemeinschaftliche Verantwortung die oben genannte gemeinschaftliche Schuld (durch Identifizierung oder Geschäftsherrnhaftung) voraus. Eine zu einem gesetzmäßigen Organ oder zur sonstigen Leitung der juristischen Person gehörende Person muss an der Straftat beteiligt sein oder die Tat zugelassen haben, es sei denn, dass im Rahmen der Tätigkeit der juristischen Person nicht die gegebene Sorgfalt und Vorsicht zur Verhütung der Straftat gewahrt wurde. Bei einem Ölraffineriefall (OGH 2008:33) war die Streitfrage, ob die Angeklagten einer solchen Leitung gehörten, d. h. ob sie eine ausreichende selbstständige und bedeutende Beschlussfassung in der Aktiengesellschaft ausübten oder nicht. Zum vierten lagen die Strafverfolgung sowie die Bestrafung der juristischen Person im weiten Ermessen der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. Diese Regelung führte dazu, dass in den ersten zehn Jahren nur ungefähr zehn Fälle in den Untergerichten behandelt wurden. Die strafrechtliche Verantwortung wurde also vorwiegend als eine symbolische gesetzliche Regelung dargestellt. Mit einer neuen Gesetzesänderung (61/2003), die den Ermessensspielraum für die Bestrafung vermindert, bezweckte man die Zahl der Strafverfolgungen zu vermehren, und eine solche Entwicklung ist auch wahrnehmbar.

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V. Über die Grundzüge der Regelung der Organ- und Vertreterhaftung Welches sind nun die für die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit charakteristischen Züge, die möglicherweise von den Grundsätzen des klassischen Strafrechts abweichen? Eine Antwort auf diese Frage setzt die Analyse der inhaltlichen Tatbestände und des Grundgedankens der strafrechtlichen Verantwortlichkeit voraus. Aus den Gesetzen 47:7 und 48:7 des StGB lässt sich ein solcher Grundgedanke nicht leicht herauslesen. Der Hauptinhalt der erstgenannten Gesetzesstelle wird mit einem Satz ausgedrückt, dem zufolge bei einer im Kapitel 47 des StGB als strafbar bestimmten Handlungsweise des Arbeitgebers oder dessen Repräsentanten derjenige zu einer Strafe verurteilt wird, gegen dessen Pflichten die Tat oder Unterlassung verstößt. Entsprechend wird in der zweiten Gesetzesstelle gesagt, dass für eine im Kapitel 48 des StGB als strafbar bestimmte Handlungsweise derjenige bestraft wird, gegen dessen Pflichten die Tat oder Unterlassung verstößt. Beide Gesetzesstellen enthalten zudem einen Hinweis darauf, was bei der Zuweisung der Verantwortlichkeit zu berücksichtigen sei: die Position der betreffenden natürlichen Person, die Art und der Umfang ihrer Aufgaben und Befugnisse sowie ansonsten ihr Anteil an der Entstehung oder der Fortdauer des gesetzwidrigen Zustands. Aus den Begründungen der Vorschriften geht ihr Zweck hervor. Das Vorbild hat der Absatz 4 (im Gesetz 27/1987) des § 49 des Arbeitsschutzgesetzes (299/1958) abgegeben, welcher sich wiederum auf eingebürgerte Rechtspraxis gestützt hat. In den Begründungen des Kapitels über Arbeitsdelikte wie auch des Kapitels über Umweltdelikte wird vorgebracht, dass die Regulierung der Zuweisung der Verantwortlichkeit zur Bestimmung der Verantwortungssubjekte bei Straftaten, die in der unternehmerischen oder sonstigen organisierten Tätigkeit begangen werden, vonnöten ist. Die Arbeitsgesetzgebung bezieht sich typischerweise auf Arbeitgeber in Form von Körperschaften sowie auf interne Strukturen innerhalb dieser, die Umweltschutzgesetzgebung wiederum auf Unternehmen, die Produktionstätigkeit ausüben. Entsprechend richten sich die Ge- und Verbote in denjenigen Strafvorschriften, die zur Effektivierung der Arbeits- und Umweltschutzgesetzgebung erlassen worden sind, an erster Stelle auf diejenigen Personen, die für die besagte Tätigkeit – und weniger auf die bei einer solchen Tätigkeit geschehenen einzelnen Taten oder Unterlassungen – verantwortlich sind. Als Hintergrundgedanke in der schwedischen Lehre über die Verantwortung des Unternehmers hat der Bedarf gegolten, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen natürlichen Person bzw. denjenigen natürlichen Personen zuzuweisen, die über die besten Möglichkeiten verfügen, die bei der unternehmerischen Tätigkeit vorkommenden Straftaten zu verhindern, indem sie die Tätigkeit in zweckmäßiger Weise leiten, organisieren und überwachen. Somit sollte die Möglichkeit gegeben sein, ausdrücklich die der Leitung des Unternehmens angehörende(n) Person(en) zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, und zwar nicht nur für ihr eigenes unmittelbares Handeln, sondern auch für andere bei der Tätigkeit

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des Unternehmens vorkommende Gesetzesverstöße, die für ihren Teil aus Nachlässigkeiten in der Leitung, der Organisierung und letztendlich der Überwachung der Tätigkeit erwachsen sind. Ein entsprechender, kriminalpolitisch begründeter Hintergrundgedanke über die Wichtigkeit, die „richtigen Personen“ strafrechtlich verantwortlich zu machen, geht auch aus den Vorarbeiten der Gesetze 47:7 und 48:7 des StGB hervor. Als zentrale Frage der strafrechtlichen Zurechnungslehre erhebt sich die Frage danach, ob man in der Lage ist, die Prinzipien über die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in einer Körperschaft in zufriedenstellender Weise mit den Allgemeinen Lehren der herkömmlichen individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit – in erster Linie mit der Verantwortlichkeit für die Teilnahme, die Unterlassung und die Fahrlässigkeit – in Übereinstimmung zu bringen. In welchem Maße sind diese Zurechnungslehren des herkömmlichen Strafrechts modifiziert oder differenziert worden bei der Bestimmung von Verantwortungssubjekten in Organisationsdelikten? Wo stößt man an die Grenzen des rechtsstaatlichen Strafrechtes? Die Modernisierung des Strafrechtes kann im Prinzip zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Straf- und Strafprozessrechtes führen (zum Beispiel danach, ob es sich um die Kriminalität von Einzelnen oder von Organisationen handelt). Man könnte auch meinen, dass es vielmehr die neuen Kriminalitätsphänomene seien, die das klassische Straf- und Strafprozessrecht modifizieren. Zwischen diesen beiden Basisalternativen bestehen unterschiedlich große graduelle Unterschiede, vor allem da der Differenzierungsentwicklung u. a. durch die Menschenrechtsnormen Grenzen gesetzt werden. Wenn ich nun über die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in einer Körperschaft rede, halte ich es nicht für wichtig, in gründlicher und eindeutiger Weise dazu Stellung zu beziehen, ob die diese betreffende Lehre eine selbstständige (mit eigenen Begriffen und Prinzipien) ist oder nicht. Es wäre indes angebracht, diese Frage zu analysieren, und eine solche Erörterung wäre z. B. bei der Erwägung der Notwendigkeit von Sondervorschriften für die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Bedeutung. In den Begründungen des Gesetzes 47:7 des StGB wird konstatiert, dass außer dem in dieser Gesetzesstelle Gesagten ebenso die Prinzipien über die Vorsätzlichkeit und Fahrlässigkeit, die Teilnahme und die Unterlassungshaftung wie auch die übrigen allgemeinen Prinzipien der Anwendung der Strafvorschriften einen zentralen Einfluss auf die Zuweisung der Verantwortlichkeit hätten. Es wäre treffender zu sagen, dass die Ermessung der Zuweisung der Verantwortlichkeit außer aufgrund der aus dem betreffenden Straftatbestand hervorgehenden Voraussetzungen auch auf der Basis der herkömmlichen allgemeinen Prinzipien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit erfolge, wobei die Lehren über die Teilnahme, die Unterlassungshaftung und die Fahrlässigkeit von besonderer Bedeutung gewesen sind. Mit einer allgemeinen Verantwortlichkeitszuweisungsvorschrift nach Art des Gesetzes 5:8 StGB oder

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einer besonderen Verantwortlichkeitszuweisungsvorschrift nach Art des Gesetzes 48:7 kann die Präzisierung einer solchen Erwägung oder Ergänzung gemeint sein. Sind mit der Erwägung des Zur-Verantwortung-Ziehens für Organisationsdelikte (wobei also auf den ersten Blick mehrere Verantwortungssubjekte möglich sind) auch noch andere die allgemeinen Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betreffende besondere Probleme verbunden, die den typischen Problemen der Verantwortungszuweisung gleichzustellen wären und aufgrund deren es natürlicher wäre, neutral von der Definierung und Aufzeigung der Haftungsgrundlagen zu sprechen? Man könnte auch fragen, ob man für die Zuweisung der Verantwortlichkeit eine besondere Regulierung benötigt und für welchen Teil. In der Rechtsliteratur ist ein kritisches Augenmerk auf den in der Praxis zugenommenen Druck gerichtet worden, die Prinzipien der individuellen Strafverantwortlichkeit zu modifizieren, damit diese in einer umfassenderen Weise als zuvor die bei organisierter (kollektiver) Tätigkeit begangenen Gesetzeswidrigkeiten abdeckt. In dieser Kritik ist man der Ansicht gewesen, dass die klassischen Verantwortlichkeitsprinzipien zerbröckeln und dass man sogar dabei ist, neben dem individualistischen Deliktsbegriff stufenweise die kollektive Straftat einzuführen. Bei einer in der Tätigkeit einer juristischen Person begangenen Straftat und der Bestimmung der individuellen Verantwortung ist somit der Bereich solcher Kategorien der Schuldzuweisung wie die Kausalität, das Täterhandeln und die Unterlassungshaftung erweitert worden. Die allgemeine Tendenz des Strafrechts hat konstant darin bestanden, die Stellung der Tat des Einzelnen als Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zu betonen und eine zurückhaltende Einstellung zum Beispiel zur Erweiterung der Verantwortung betreffend die Teilnahme an den Aktivitäten einer kriminellen Gruppe zu beziehen. Die organisierte Kriminalität ist in der internationalen Kriminalpolitik am deutlichsten dasjenige Teilgebiet gewesen, auf dem man unter Verweis auf Effektivitäts- oder Präventionsargumente Änderungen in der straf- und strafprozessrechtlichen Gesetzgebung gefordert hat. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Einführung der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Person faktisch das Zueigenmachen eines kollektiven, von der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit abweichenden Straftat- und Schuldbegriffs bedeutet hat, auch wenn das vom Kapitel 9 des StGB vertretene Zurechnungsmodell Raum für unterschiedliche Auslegungen lässt. Die Kritik an der Regulierung der Organisationsdelikte hat sich weitgehend auf in gewissem Maße variierende Auffassungen darüber gestützt, welche Grenzen der Differenzierung des Strafrechts vor allem von den fundamentalen Prinzipien der Gesetzlichkeit, des Tatstrafrechts und der Schuld gesetzt werden. Wenn es um die Verantwortung einer natürlichen Person für Gesetzeswidrigkeiten in organisierter Tätigkeit geht, so setzt das Gesetzlichkeitsprinzip voraus, dass sich die Verantwortungsgrundlagen mit hinreichender Genauigkeit aus den (vom Parlament verabschiedeten) Gesetzen ergeben, während das Prinzip des Tatstrafrechts und das Schuldprinzip wiederum voraussetzen, dass diesem Täter oder Mittäter sowohl objektiv als auch sub-

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jektiv ein zuzurechnender Anteil an der in der Organisation geschehenen Gesetzwidrigkeit aufgezeigt werden kann. Somit befindet sich ein solches Zurechnungsmodell nicht in Übereinstimmung mit dem Tatstrafrechts- und Schuldprinzip, bei dem vorausgesetzt wird, dass ein Einzelner für die Tat eines anderen ohne seine eigene, ihm (abhängig von der Tat) als vorsätzlich oder fahrlässig anzurechnende Mitwirkung verantwortlich ist. In Anbetracht dessen bezieht man in denjenigen Ländern – wie etwa in Finnland – , die diese Prinzipien betonen, eine ablehnende Einstellung zum Beispiel gegenüber einer solchen strafrechtlichen Unternehmerverantwortung, bei der man nicht zumindest eine dem Unternehmer als fahrlässig anzurechnende Unterlassung seiner Überwachungspflicht verlangen würde.

VI. Nähere Betrachtung der Vorschriften über die Organ- und Vertreterhaftung Bei der Gesamtreform des Strafgesetzes ist man im Geiste des Gesetzlichkeitsprinzips bestrebt gewesen, diejenigen Verantwortungsgrundlagen zu präzisieren und zu ergänzen, die angewendet werden, wenn für eine in der Tätigkeit einer juristischen Person (oder in damit vergleichbarer organisatorischer Tätigkeit) begangene Straftat eine Strafe verhängt wird. Die Alternativen, die bei der Ausarbeitung von § 8 Kapitel 5 des StGB zur Sprache gebracht wurden, repräsentierten unterschiedliche Auffassungen darüber, in welchem Maße ein Bedarf an einer solchen Präzisierung durch Sondervorschriften besteht. Das in das StGB aufgenommene Gesetz 5:8 reguliert nach dem Vorbild von § 14 des deutschen Strafgesetzbuches die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vertreters, wenn auch in einem weiteren Sinne, als es die Überschrift „Handeln für einen anderen“ nahelegt. Der Zweck dieser Rechtsvorschrift war es, bei Organisationsdelikten die Evaluierung derjenigen teilnahmedogmatischen Haftungssituationen zu klären und zu vereinheitlichen, bei denen der Tätertatbestand der Strafvorschrift in der Weise einschränkend gefasst wurde, dass nur eine in einer bestimmten Position oder in einem bestimmten Verhältnis befindliche Person als Täter strafbar sein kann (sog. Sonderstraftaten). In denjenigen Fällen, wo in der Tätigkeit einer juristischen Person eine solche den Tatbestand erfüllende Straftat begangen wurde und sich die Strafvorschrift wegen des einschränkenden Tätertatbestandes nur gegen die juristische Person als solche richten würde, stellt die neue Vorschrift mit der juristischen Person als Verantwortungssubjekte ihren gesetzlichen Vertreter, ein Mitglied ihres beschlussfassenden Organs oder eine ansonsten für sie faktisch tätige natürliche Person gleich. Die unmittelbaren Reformwirkungen einer solchen Vertreterverantwortungsvorschrift werden dadurch verringert, dass in denjenigen Fällen, die in der Praxis am wichtigsten sind, entweder der Kreis der Verantwortungssubjekte im Straftatbestand nicht eingegrenzt ist oder der ausgangspunktmäßig enge Täterkreis vor der Verab-

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schiedung der Vorschrift in den einzelnen Straftatbeständen oder mittels Sonderregulierung nicht erweitert worden war (als Beispiele können hier die Buchhaltungsund Schuldnerdelikte sowie die Arbeits- und Umweltschutzdelikte angeführt werden; die die letztgenannten betreffenden Spezialvorschriften StGB 47:7 und 48:7 wurden in Kraft gelassen). Die Vertreterverantwortungsvorschrift StGB 5:8 hat vermutlich in gewissem Maße eine indirekte Auswirkung gehabt, und zwar in soweit, als in ihr diejenigen Personen, die für die juristische Person faktisch die Entscheidungsbefugnisse ausüben, als potenziell zu bestrafende Täter genannt werden. Die Rechtspraxis bezüglich dessen, ob der faktische Leiter das Verantwortungssubjekt sein kann, ist schwankend gewesen, und zwar besonders bei Steuerdelikten. In vielen Präjudizien hat man die Steuerdelikte mit den Sonderdelikten gleichgestellt, und zwar auch dann, wenn es um einen solchen Steuerbetrug ging, bei dem der Täterkreis offen blieb (StGB 29:1 – 3), und als Begründung hat man auf diejenigen Normen verwiesen, die in der steuer- und körperschaftsrechtlichen Gesetzgebung die Verantwortungsposition definieren. Es hat sich dabei um eine analoge Anwendung der Sonderstraftatlehre gehandelt, da die strafrechtlichen Normen in den fraglichen Fällen den Kreis derjenigen Täter nicht eingeschränkt haben, denen die Verantwortung für das Handeln für die juristische Person zuzuweisen wäre. Allerdings hat es in der Rechtspraxis kurz vor der Reformierung der Vorschrift in zunehmendem Maße Fälle gegeben, wo man sich bei der Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht streng an die Normen betreffend die körperschaftsrechtliche Verantwortungsposition gehalten hat, sondern man die faktischen Leiter oder mit ihnen vergleichbare Personen als Täter verurteilt hat. Zur Unterstützung dieses Standpunktes hat man auf diverse, in dieselbe Richtung gehende Gesetzesreformen verweisen können, in denen man die faktischen Leiter mit den Personen gleichgestellt hat, die sich in der Position des Körperschaftsorgans befinden: die Objekte des Geschäftsverbots in dem betreffenden Gesetz und der Begriff des Schuldners im Konkursgesetz. Eine Schwäche im Inhalt des Gesetzes 5:8:n besteht darin, dass es keine Richtschnur für die bei der Erwägung zu berücksichtigenden Umstände über das Wirkungsverhältnis und die Gewichtung zur Aufteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unter den potenziellen Verantwortungssubjekten gibt. Bei dieser Erwägung muss man zur Ergänzung der Vorschrift die allgemeinen Prinzipien über die Teilnahme, die Unterlassungshaftung und die Fahrlässigkeit anwenden. Über die Strafbarkeit der Unterlassung und der Fahrlässigkeit wurden im Allgemeinen Teil des neuen Strafgesetzes Legaldefinitionen (StGB 3:3 und 3:7) aufgenommen, und vor allem die erstgenannte Legaldefinition stellt eine bemerkenswerte Auslegungshilfe auch bei der Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Körperschaften dar. Zum Beispiel bei Buchhaltungs-, Steuer und Schuldnerdelikten ist für die Täterverantwortung der Umstand von entscheidender Bedeutung, welche Personen in dem Unternehmen oder der Organisation in erster Linie für die Buchhaltung und die Fi-

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nanzverwaltung sowie die damit verbundenen Pflichten verantwortlich sind. Für einen in einer solchen Verantwortungsposition Befindlichen ist es unerheblich, ob er den Tatbestand des fraglichen Wirtschaftsdelikts durch aktives Handeln oder in Form eines uneigentlichen Unterlassungsdeliktes oder teilweise durch aktives Handeln und teilweise durch Unterlassung verwirklicht. In den Vorschriften des Aktiengesellschaftsgesetzes ist den Vorstandsmitgliedern und dem Geschäftsführer der Gesellschaft die erstrangige Pflicht auferlegt worden, für die Gesetzmäßigkeit der Buchhaltung und Finanzverwaltung zu sorgen, und ihre Position begründet auch die Verantwortlichkeit bei einem für die Gesellschaft begangenen Delikt, das der uneigentlichen Unterlassung gleichkommt (StGB 3:3.2). Diese Verantwortung kann ungeachtet der Arbeitsteilung, die die Vorstandsmitglieder und der Geschäftsführer untereinander vereinbart haben, erhalten bleiben (siehe OGH 2001:85). Auch die Passivität der Vorstandsmitglieder schließt die Verantwortlichkeit nicht aus, sondern diese kann wegen einer Unterlassung gemäß StGB 3:3.2 auch solchen Personen zugewiesen werden, die nicht am Beschlussfassungsprozess teilgenommen haben (siehe OGH 2005:27). Ein nicht selbstständiger, angestellter Buchhalter eines Unternehmens, der falsche Bucheintragungen vornimmt, kann sich der Teilnahme an dem Delikt schuldig machen. Vom rechtsvergleichenden Standpunkt aus kann man den im Betrugsübereinkommen der Europäischen Union (Rechtsakt des Rates vom 26. 7. 1995, 95/C 316/03) enthaltenen Artikel 3 über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleiter erwähnen. Er drückt recht klar die die erstrangigen Verantwortungssubjekte betreffende Gesetzgebungspflicht aus: Von den Mitgliedstaaten wird verlangt, dass sie ermöglichen, dass Unternehmensleiter oder andere Personen, die im Unternehmen Entscheidungsbefugnisse ausüben, gemäß den nationalen Gesetzen zur Verantwortung gezogen werden in Fällen, in denen eine ihrer Weisungsgewalt unterworfene Person einen im Artikel 1 des Übereinkommens definierten Betrug begangen hat.11 Ein inhaltlich weitergehendes und von seiner Formulierung her präziseres Ziel für die Harmonisierung der Gesetzgebung der EU-Länder ist in der im Kreise der EU abgefassten so genannten Corpus-Juris-Studie12 enthalten: „Artikel 13. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmensleiters. Der Unternehmensleiter oder sonstige Personen, die im Unternehmen Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse ausüben, sind strafrechtlich verantwortlich für eine oben (Artikel 1 – 8) beschriebene Straftat, die von einer ihrer Weisungsgewalt unterworfenen anderen Person zugunsten des Unternehmens begangen worden ist, wenn sie bewusst die Anordnung dazu gegeben haben, den Verstoß haben geschehen lassen oder die notwendige Überwachung vernachlässigt haben.

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Vgl. im allgemeinen Ligeti, Criminal Liability of Heads of Business. Eucrim (The European Criminal Law Associations’ Forum) 2015/4, S. 145 ff. 12 Siehe Delmas-Marty/Vervaele (Hrsg.), The Implementation of the Corpus Juris I-IV, a.a.O (Fn. 9).

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Die Delegierung von Kompetenzen und strafrechtlicher Verantwortung ist als Verteidigung nur dann gültig, wenn sie teilweise, exakt und besonders und für die Tätigkeit des Unternehmens unbedingt nötig ist und wenn die Personen, an die die Befugnisse delegiert wurden, sich faktisch in einer Position befinden, in der ihnen die Erfüllung der erteilten Aufgaben möglich ist. Diese Delegierung schließt die Pflichten betreffend die allgemeine Überwachung, Leitung und Personenauswahl nicht aus, und sie betrifft nicht solche für die Unternehmensleitung typischen Gebiete wie die allgemeine Organisierung der Arbeit im Unternehmen.“

In der Begründung des Vorschriftsentwurfs der Studie wird darauf verwiesen, dass der Inhalt der Rechtsordnungen der EU-Länder in dieser Frage recht stark variiert. Der oben erwähnte schwedische Gesetzgebungsvorschlag entspricht im Wesentlichen dem Vorschriftsentwurf der Corpus-Juris-Studie. In das Kapitel des Strafgesetzes über den Versuch und die Mitwirkung wäre eine Gesetzesstelle aufzunehmen, die wie im entsprechenden Absatz 1 des finnischen Gesetzes StGB 5:8 die individuelle Verantwortlichkeit für ein im Namen einer juristischen Person begangenes Verhalten der exekutiven (geschäftsführenden) Leitung zuweist. Im Absatz 2 der Gesetzesstelle würde man die Täterverantwortung gleichfalls der exekutiven Leitung der juristischen Person zuweisen, wenn in der Tätigkeit der juristischen Person wegen mangelnder Kontrolle eine Verletzung der Verantwortungsvorschrift eingetreten ist, und im 3. Absatz würde man recht detailliert die Voraussetzungen für die zulässige Delegierung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten bestimmen. In den ausländischen Vorschlägen wird etwas mehr als in der finnischen Doktrin die erstrangige Verantwortungsposition der Unternehmensleiter betont – wenn auch der Begriff des Leiters recht weit definiert wird. Auf der anderen Seite sind diese ausländischen Vorschläge inhaltlich präziser und deutlicher als die finnischen Strafgesetze 5:8 sowie 47:7 und 48:7. Entsprechend dem oben Gesagten sollte der Kreis der in verantwortlicher Position Befindlichen in einer juristischen Person (aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Organ oder zur übrigen Leitung) einheitlich definiert werden.

VII. Analyse der Präjudizien OGH 2008:33 und OGH 2009:1 Die Präjudizien OGH 2008:33 und OGH 2009:1 beleuchten die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei einem Umweltdelikt und bei Wertpapierdelikten. In beiden Fällen hatte das Gericht sowohl die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person als auch die Verantwortlichkeit der im Namen der juristischen Person tätigen Führungskräfte zu untersuchen. a) OGH 2008:33 (strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person, Umweltdelikt): Aus der Ölraffinerie der Gesellschaft war wegen Fahrlässigkeit ihrer Arbeitnehmer eine große Menge an Öl auf dem Gelände der Raffinerie in den Erdboden und weiter ins Meer gelangt. Die Arbeitnehmer waren wegen fahrlässiger Umweltverschmut-

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zung zu Strafen verurteilt worden. In der Sache ging es darum, gegen die Gesellschaft eine Körperschaftsgeldstrafe zu verhängen. Kommentierung des Falls: • Im Fall OGH 2008:33 hatten Gerichte der unteren Instanz die zur individuellen Verantwortung gezogenen Arbeitnehmer kraft StGB 48:4 wegen fahrlässiger Umweltverschmutzung verurteilt. Das erstinstanzliche Gericht war der Ansicht, dass – in aufsteigender Hierarchie aufgezählt – die Unterlassung des Operators (A) erheblich war, aber man hat sie nicht als schwere Fahrlässigkeit eingestuft. Die Fahrlässigkeit des verantwortlichen Betreibers der Abwasseranstalt (B) war laut dem Gericht erster Instanz nicht sehr erheblich, die Fahrlässigkeit des Fertigungsbetriebsleiters (C) war recht geringfügig und die Fahrlässigkeit des Leiters der Produktionsabteilung war ebenfalls nicht sehr erheblich. Da bereits zweimal zuvor beim Umpumpen von Öl wegen eines ähnlichen menschlichen Irrtums Hunderte von Litern Öl in den Erdboden gesickert waren, war es nach der Meinung der Gerichte der unteren Instanz nicht unvorhersehbar, dass das Öl auch ins Meer gelangt. • Die allgemeine Vorschrift für die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist StGB 5:8 und die die Umweltdelikte betreffende Sondervorschrift StGB 48:7. Die Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortung wird zudem von StGB 3:3.2 bestimmt, die uneigentliche Unterlassungsdelikte reguliert. • In StGB 48:1 – 4 ist der Täterkreis nicht eingeschränkt (vgl. z. B. das Arbeitsschutzdelikt, StGB 47:1). Es besteht somit laut StGB 48:4 kein Hindernis dafür – wie es die Gerichte der unteren Instanz im Fall OGH 2008:33 getan haben – die unterste Arbeitnehmerstufe A, also den Operator, zu verurteilen, der fahrlässigerweise vergessen hatte, beim Umpumpen von Öl ein Ventil zu schließen. Seine Tat, für die die Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht wesentlich war, war die unmittelbare Ursache für das verbotene Ablassen von Öl in die Umwelt. Die typische Situation bei der Zuweisung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist jedoch die, dass eine Person oder Personen zur Verantwortung gezogen werden, die hinsichtlich ihrer Position sowie der Art und des Umfangs ihrer Aufgaben und Kompetenzen der unteren Arbeitnehmerstufe übergeordnet sind, also in erster Linie Vorarbeiter oder in leitender Position befindliche Angestellte und/oder Mitglieder von Leitungsorganen. • Bei allen in den unteren Gerichtsinstanzen verurteilten Personen konnte individuell die Unterlassung von Pflichten aufgezeigt werden, die in relevanter Weise zur Umweltverschmutzung geführt haben. In der Falldarstellung waren die Positionen und Pflichten dieser Personen beschrieben worden. Laut dem Appellationsgericht Turku waren D und C dafür verantwortlich, dass man es in der Gesellschaft unterlassen hatte, zur Vermeidung von derartigen Schäden ausreichend schnelle Maßnahmen zu ergreifen. B wiederum hatte die früheren Schäden untersucht, und er hätte faktisch die Möglichkeit gehabt, die Arbeitsverfahren beim Umpumpen von Öl von einem Tank in einen anderen zu ändern, aber er hatte dies unterlassen. Außerdem hat das Appellationsgericht die zusätzlichen Begründungen des Gerichtes

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der unteren Instanz bestätigt, in denen bezüglich C dessen Verantwortung für die Funktionen und Bereitschaften der Zentralen Überwachungsstation betont wurde und bezüglich D dessen Verantwortung für die Einrichtung der Produktion in der Weise, dass über die Verantwortungsbeziehungen keine Unklarheiten bestehen und dass die Organisation auch in der Praxis funktioniert. Dem Gericht der unteren Instanz zufolge konnte man das Eintreten des Umweltdelikts genau auf eine bestimmte einzelne Funktion lokalisieren, weswegen auch in der Organisation der Gesellschaft Fahrlässigkeit und Unklarheit der Verantwortungsbeziehungen aufgetreten waren, aber keine schwere Fahrlässigkeit. • Die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person werden parallel zueinander angewandt. Es sei dennoch auf StGB 9:4 Absatz 2 Punkt 3 (im Gesetzesblatt 61/2003) über das Absehen von Verurteilung einer juristischen Person verwiesen (der die Berücksichtigung der Sanktionskumulation voraussetzt). • In OGH 2008:33 ist als Objekt des Präjudizes ausdrücklich die Frage, ob die Firma Neste Oil Oyj, die Nachfolgering der Fortum Oil Oy, zu einer Körperschaftsgeldstrafe zu verurteilen sei – anders als man in den Gerichten der unteren Instanz gemeint hatte (wo man von einer Verurteilung abgesehen hatte; siehe StGB 9:4). Allerdings war man in allen Rechtszügen der Ansicht gewesen, dass die in StGB 9:2 – 3 bestimmten Voraussetzungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person gegeben waren. • Der OGH untersuchte, ob die Voraussetzungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person gegeben waren, und betonte, dass entgegen der gegenteiligen Ansicht der Neste Oil Oy die Entscheidung nicht darauf beruhen könne, dass mehrere Arbeitnehmer der Gesellschaft gesetzkräftig für die von ihnen bei ihrer Arbeit begangene fahrlässige Umweltverschmutzung verurteilt worden waren. Der OGH evaluierte, ob die gegen die Umweltgesetzgebung verstoßende Vorgangsweise als eine in der Tätigkeit der Gesellschaft begangene fahrlässige Umweltverschmutzung einzustufen sei (StGB 9:3). Er behandelte zum einen die objektive Tatbestandsmäßigkeit des Umweltdelikts (StGB 48:4) in der oben geschilderten Weise. Auf der anderen Seite bezog der OGH dazu Standpunkt, ob es sich um eine fahrlässige Umweltverschmutzung gehandelt habe, und kam zu einem positiven Ergebnis, da der in der Anklage bezeichnete Schaden und die Schadensgefahr aus der Fahrlässigkeit von Personen erwachsen waren, die im Dienste der Gesellschaft gestanden haben. • Zusätzlich zu dem Gesagten erwog der OGH nach StGB 9:2, ob man die Handlungen der Angestellten mit der Tätigkeit der Gesellschaft gleichsetzen könne, wie es das Appellationsgericht Turku getan hatte. Der OGH kam – meiner Meinung nach überraschend – hierin jedoch zu einem negativen Ergebnis und konstatierte, dass obwohl D und C in der Ölraffinerie in ihren Tätigkeitsbereichen eigenständige Entscheidungsbefugnisse hatten (sie waren Mitglieder der Direktion, D war für die Verfolgung und Entwicklung der Funktion der Sicherheitssysteme zu-

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ständig, und C oblag die Gesamtüberwachung u. a. des Umweltschutzes), sie keine solchen eigenständigen und bedeutenden Entscheidungsbefugnisse gehabt hatten, die die Anwendung des Gleichsetzungsprinzips begründet hätte. Der Begriff „Gleichsetzung“ wird in dem Gesetzestext nicht benutzt, sondern in StGB 9:2.1 ist die Rede von der Zugehörigkeit zu einem gesetzlich vorgeschriebenen Organ oder der sonstigen Leitung. In dem Fall war dennoch die von StGB 9:2 bezeichnete Fahrlässigkeit der Gesellschaft gegeben, mit anderen Worten: in der Tätigkeit der Gesellschaft hatte man nicht die erforderliche Sorgfalt und Vorsicht zur Verhinderung des Delikts walten lassen: Die Ölbeförderungsanlagen waren nicht mit besonderen Sicherungs- und Alarmvorrichtungen ausgestattet gewesen, und man hatte es dem Operator, der das Ölumpumpen vorgenommen hatte, erlaubt, sich nach dem Öffnen des Ventils vom Ort zu entfernen, obwohl schon zweimal zuvor beim Umpumpen von Öl Fehler vorgekommen waren, die eine gleichartige Schadensgefahr verursacht hatten. Die Gesellschaft hatte es vernachlässigt, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, mit denen solche Folgen, wie sie durch Nachlässigkeiten beim Umpumpen von Öl entstehen, hätten verhindert werden können. • Bei seiner Erwägung der Verurteilung zu einer Körperschaftsgeldstrafe zählte der OGH aufgrund des alten Wortlauts des StGB 9:4 (im Gesetzesblatt 743/1995; vgl. Gbl. L 61/2003) zu den zu berücksichtigenden Aspekten die Schwere des Delikts, die sonstigen der juristischen Person durch das Delikt zugefügten Folgen und die Maßnahmen der juristischen Person zur Verhinderung solcher Delikte. Man hatte das Delikt allein schon aufgrund dessen für schwer halten können, weil eine erhebliche Menge an Öl in den Erdboden gelangt war und die Schäden sich in einem großen Gebiet ausgebreitet hatten. Außerdem hatte man zu berücksichtigen, dass man trotz der in gleicher Weise entstandenen Fehler, zu denen es früher beim Umpumpen von Öl gekommen war, die Sicherheit der Umwelt nach wie vor den Maßnahmen der Arbeiter überlassen worden war, obgleich man zu zumutbaren Kosten ein effektives Sicherheitssystem hätte aufbauen können. • Die Gesellschaft hatte zur Behebung und Entschädigung der entstandenen Schäden sowie für neue umwelttechnische Investitionen rund 4.000.000 Euro aufgewandt. Nach dem Geschehnis hatte die Gesellschaft zudem zur Verhinderung gleichartiger Umweltschäden 171.000 Euro aufgewandt, und zwar 40.000 Euro davon ausdrücklich zur Verhinderung von solchen Schäden, wie sie durch ein offen gelassenes Ventil entstehen können. Der OGH war jedoch der Ansicht, dass diese Investitionen bei der Erwägung der Verhängung einer Körperschaftsgeldstrafe nicht als mildernde Umstände berücksichtigt werden könnten. • Zusammenfassend war der OGH der Ansicht, dass die Versäumnisse der Gesellschaft und deren Folgen schwer gewesen waren. Auf der anderen Seite waren keine solchen wesentlichen Begründungen dafür zur Sprache gekommen, die Körperschaftsgeldstrafe nicht zu verhängen. Nach der Behandlung der Begründungen zur Bemessung der Körperschaftsgeldstrafe (siehe StGB 9:5 – 6) verurteilte der

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OGH die Gesellschaft zu einer Körperschaftsstrafe in Höhe von 500.000 Euro; das Höchstmaß wären 850.000 Euro gewesen (StGB 9:5; Gbl. 971/2001). b) OGH 2009:1 (strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person, Wertpapiermarktdelikt, Festsetzung der Strafe, Einzug des Nutzens): A, der Geschäftsführer der C AG und Vorstandsmitglied, sowie B, Vorsitzender des Vorstands derselben Gesellschaft, hatten vor der Emission und dem Verkauf von Aktien der C AG im Notierungsprospekt über das Ergebnis und die Zukunftsaussichten der Gesellschaft unwahre und irreführende Angaben vorgebracht und diese beim Verkauf der Aktien als Insider-Informationen ausgenutzt, wodurch sie sich eines den Wertpapiermarkt betreffenden Falschangabedeliktes und schweren Missbrauchs von Insider-Informationen schuldig gemacht haben. In dem Fall ging es um die Festsetzung der Strafen, um den Einzug des durch die Delikte erhaltenen Nutzens und um die Bemessung einer Körperschaftsstrafe. Kommentierung des Falls: • Bei den beanstandeten Vorgangsweisen in dem Fall ging es um die Verantwortung von A und B sowie der Firma C AG für Falschangabedelikte im Wertpapiermarkt (StGB 51:4) sowie schweren Missbrauch von Insider-Informationen (StGB 51:2). Da die (objektiven) Tatbestände dieser Wertpapiermarktdelikte in der Tätigkeit der C AG und zugunsten der Firma verwirklicht worden waren, war als nächstes zu erwägen, ob den natürlichen Personen A und B eine individuellen strafrechtliche Verantwortlichkeit und der Firma C AG die strafrechtliche Verantwortung der juristischen Person zuzuweisen sei. Bei Wertpapiermarktdelikten kommt laut einer Sondervorschrift (StGB 51:8) auch die letztgenannte Verantwortungsform in Frage, und die Verantwortungsformen schließen einander nicht aus. • Bei der Erwägung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und ihrer Zuweisung wurde die Rechtsvorschrift StGB 5:8 (Handeln für eine juristische Person) berücksichtigt, obgleich bei solchen Wertpapiermarktdelikten der Täterkreis im Tatbestand nicht begrenzt ist. Für den Teil, bei dem die aktive Teilnahme von A und B an den besagten Wertpapiermarktdelikten nicht bewiesen werden konnte, kam die Verantwortung für ein uneigentliches Unterlassungsdelikt nach StGB 3:3.2 in Frage, und als die darin bezeichnete Folge konnte man ein in der Tätigkeit der juristischen Person begangenes Delikt ansehen. Sowohl A als auch B haben sich in solchen gesellschaftsrechtlichen Positionen befunden (A als Geschäftsführer der Aktiengesellschaft sowie als Vorstandsmitglied und B als Vorstandsvorsitzender), dass – unter Berücksichtigung der Vorschriften 6:2.1 und 17 des Aktiengesellschaftsgesetzes (Gbl. 624/2006) – auch eine strafrechtliche Verantwortungsposition in der von StGB 3:3.2 bezeichneten Weise gegeben war. • Gemäß dem oben Gesagten hatten A und B aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Leitung der Gesellschaft eine solche verantwortliche Position inne, dass ihnen in den Grenzen ihrer Zurechenbarkeit die Täterverantwortung für die Wertpapiermarktdelikte zukam. Bezüglich der Zurechenbarkeit ist anzumerken, dass für den

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schweren Missbrauch von Insider-Informationen und das Fälschen des Kurses Vorsätzlichkeit verlangt wird, während bei Wertpapiermarktdelikten ansonsten schwere Fahrlässigkeit ausreicht. Das Appellationsgericht Helsinki hatte im Fall OGH 2009:1 unter anderem die Ansicht vertreten, dass die angeklagten Vorstandsmitglieder (bezüglich des Falschangabedeliktes) zu ihrer Entlastung nicht auf die Heranziehung der von ihnen engagierten Sachverständigen bei der Organisierung der Aktienemission verweisen konnten, da sie selbst über das Ergebnis und die finanzielle Lage der Gesellschaft, über die falschen Verbuchungen im Zwischenbericht und über die Haltlosigkeit der Ergebnisprognose Bescheid wussten. Der Irrtum über die richtige Auslegung eines zum Tatbestand gehörenden Merkmals ist ein sog. Subsumtionsirrtum, der bei der Beurteilung der Entlastung dem Verbotsirrtum gemäß StGB 4:2 gleichgesetzt wird. • Was die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Gesellschaft als juristischer Person betrifft, ist zu konstatieren, dass die fraglichen Straftaten in der Tätigkeit der Gesellschaft sowie im Namen und zugunsten der Gesellschaft begangen wurden (StGB 9:1 und 3.1) und dass die natürlichen Personen A und B der Leitung der Gesellschaft angehört haben (StGB 9:3.1). Somit wurde auch die Forderung nach Gleichstellung der Straftäter mit der Gesellschaft (A und B hatten einem gesetzlich vorgeschriebenen Organ der Gesellschaft angehört) gemäß StGB 9:2.1 erfüllt. • Im Fall OGH 2009:1 wurde die Gesellschaft zu einer Körperschaftsgeldstrafe verurteilt, wobei es in erster Linie deswegen zu einer Diskussion kam, weil zur Tatzeit die Verhängung von Körperschaftsgeldstrafen noch im Ermessen des Gerichts lag, und ebenso hatte das Gericht bei der Bemessung des Betrags der Körperschaftsgeldstrafe sein Ermessen auszuüben (das Endergebnis war eine Körperschaftsgeldstrafe in Höhe von 100.000 Euro). A und B wurden zu Freiheitsstrafen von einer Dauer von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt, und außerdem entschied das Gericht, dass sie gesamtschuldnerisch den durch die Straftat erlangten Gewinn in Höhe von knapp 8 Millionen Euro an den Staat abzuführen hatten.

VIII. Einige Schlussfolgerungen Die finnische Erfahrung zeigt, dass es eine lange Zeit erfordert, bis eine solche neue Verantwortungsform wie die echte Kriminalstrafbarkeit der juristischen Person in der Rechtspraxis ernsthaft angenommen wird. In Finnland war die Staatsanwaltschaft lange sehr passiv, und, weil bis jetzt nur ganz wenige Fälle vom OGH behandelt worden sind, sind viele strafrechtsdogmatische Auslegungsfragen relativ unklar. Kriminalpolitisch ist auch nicht genügend erörtert worden, was die richtige Sanktionspolitik in der Zukunft wäre: Sollte man eher punitive administrative Sanktionen statt der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Person einführen, und wie sollte man das Verhältnis zwischen der individuellen und körperschaftlichen Verantwortung regeln?

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Der Vertrag von Lissabon (2009) hat die Zuständigkeit der EU vermehrt, wobei die sich herausbildenden Prinzipien eines europäischen Sanktionsrechts in immer größerem Umfang sich auf die nationalen strafrechtlichen Sanktionssysteme auswirken dürften.13 Bei dem Vertrag von Lissabon spielt das sich weiter verstärkende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch bei der Angleichung der strafrechtlichen Sanktionen gleichfalls eine bedeutende Rolle. Die Stellung dieser administrativen Sanktionen und die Prinzipien ihrer Verhängung sind nun als wichtiger Teil des Sanktionsrechts der EU zu evaluieren. Anlage: Auszug aus Kapitel 9 (Über die Strafbarkeit juristischer Personen) des finnischen Strafgesetzes; GBl. 743/1995 (Übersetzung von Cornils, Frände und Matikkala, s. Fußn. 2) Kap. 9 § 1. Anwendungsbereich (1) Wegen einer Straftat, die im Rahmen der Tätigkeit einer Gesellschaft, einer Stiftung oder anderen juristischen Person begangen worden ist, ist auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine Körperschaftsgeldstrafe zu verhängen, sofern für die Straftat eine solche Sanktion in diesem Gesetz vorgesehen ist. (2) Die Vorschriften dieses Kapitels finden keine Anwendung auf eine Straftat, die bei der Ausübung öffentlicher Gewalt begangen worden ist. Kap. 9 § 2. Voraussetzungen der Strafbarkeit (1) Eine juristische Person wird zu Körperschaftsgeldstrafe verurteilt, wenn jemand, der zu einem ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Organe oder sonst zu ihrer Leitung gehört oder innerhalb der juristischen Person tatsächliche Entscheidungsbefugnis ausübt, an der Straftat beteiligt gewesen ist oder die Begehung der Straftat zugelassen hat oder wenn im Rahmen der Tätigkeit der juristischen Person nicht die erforderliche Sorgfalt und Vorschrift eingehalten worden ist, um die Straftat zu verhindern. (2) Eine Körperschaftsgeldstrafe wird auch dann verhängt, wenn der Täter nicht ermittelt werden kann oder wenn der Täter aus einem anderen Grund nicht verurteilt wird. Wegen eines Privatklagedelikts wird bei fehlendem Strafantrag des Verletzten eine Körperschaftsgeldstrafe jedoch nur dann verhängt, wenn ein besonders wichtiges öffentliches Interesse die Anklageerhebung verlangt. Kap. 9 § 3. Verhältnis zwischen Täter und juristischer Person (1) Eine Straftat gilt als im Rahmen der Tätigkeit einer juristischen Person begangen, wenn der Täter im Namen der juristischen Person oder zu deren Vorteil gehandelt hat und er zur Leistung der juristischen Person gehört oder in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zu ihr steht oder im Auftrag eines Vertreters der juristischen Person gehandelt hat. (2) Eine juristische Person hat gegen den Täter keinen Anspruch auf Erstattung einer von ihr bezahlten Körperschaftsgeldstrafe, sofern sich nicht ein Erstattungsanspruch aus dem Gesellschafts- oder Stiftungsrecht ergibt.

13 Vgl. im allgemeinen Tiedemann, Europäisierung des Strafrechts und Sanktionen gegen juristische Personen in der Europäischen Union. In: Ays¸e Nuhog˘ lu (Hrsg.), Sanktionen gegen juristische Personen, a.a.O (Fn. 1).

Kein Vorsatz ohne Fahrlässigkeit Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der italienischen Doktrin Manfred Maiwald

I. Zum Stand der Lehre von der objektiven Zurechnung in Deutschland Die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit, im Aufbau des Strafrechtssystems die Kategorie der objektiven Zurechnung zur Verfügung zu haben, ist in der deutschen Strafrechtsdogmatik weiterhin ungeklärt. Der Topos der objektiven Zurechnung pflegt zwar in den strafrechtlichen Lehrbüchern und Kommentaren ausführlich behandelt zu werden. Jedoch wird die Erörterung dieser Lehre häufig mit einer Bemerkung der Art verbunden, ihre einzelnen Kriterien seien „weder terminologisch einheitlich noch sachlich vollständig geklärt“1, oder auch, die Kritik an ihr sei „nie verstummt“2, oder es gebe „abweichende bzw. kritische“ Meinungen3. Solche abweichenden oder kritischen Meinungen sind inzwischen einigermaßen zahlreich geworden. Hingewiesen sei hier nur auf das in der Abhandlung von Hirsch gefundene Ergebnis, die von der objektiven Zurechnungslehre genannten Kriterien erwiesen sich als nicht sachentsprechend4, auf den Befund von Armin Kaufmann, ein besonderer Nexus zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und dem Täter, der sich als „objektive Zurechnung“ bezeichnen ließe, sei nicht aufweisbar5, auf die Kritik von Puppe, die Lehre von der objektiven Zurechnung leide darunter, dass allzu rasch der Rückzug auf allgemeine Wertungsformeln angetreten werde6, auf die gänzlich negative Formulierung von Hilgendorf, die objektive Zurechnung sei eine „fast beliebig einsetzbare Legitimationshülse zur Begründung intuitiv als richtig empfundener Ergebnisse“7, oder auf das lapidare Fazit von Gössel, die Lehre von der objektiven Zurechnung sei abzulehnen.8 1 Kühl, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2002, § 4 Rn. 42; entsprechend auch die Kennzeichnung in Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Rn. 14 Vor § 13. 2 Wessels/Beulke, Strafrecht, Allg. Teil, 40. Aufl. 2010, Rn. 178. 3 Schönke/Schröder /Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorb. §§ 13 ff. Rn. 91a. 4 Hirsch, Lenckner-Festschrift, 1998, S. 141. 5 Armin Kaufmann, Jescheck-Festschrift I, 1985, S. 271. 6 Puppe, ZStW 99, 1987, S. 616. 7 Hilgendorf, Weber-Festschrift, 2004, S. 35.

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Im Hinblick auf die Formulierung vieler Anhänger der Lehre von der objektiven Zurechnung, diese setze voraus, dass sich eine „rechtlich missbilligte“ Gefahr realisiert haben müsse, habe auch ich in der Festschrift für Koichi Miyazawa in dieser kritischen Richtung argumentiert. Gegenüber einer solchen Vorwegnahme der rechtlichen Missbilligung des Täterhandelns habe ich dafür plädiert, die Frage der Zurechnung eines Erfolgs von der weiteren Frage zu trennen, ob der Erfolg in rechtswidriger – „rechtlich missbilligter“ – Weise herbeigeführt worden ist: „Wie dieses Verhältnis zwischen Subjekt und Erfolg (sc. l.: der in zurechenbarer Weise herbeigeführte Erfolg) zu bewerten ist – insbesondere, ob das Geschehen als „rechtswidrig“ zu bezeichnen ist – , ist späteren Prüfungsschritten vorbehalten; die Feststellung der objektiven Zurechnung ist solchen Prüfungsschritten vorgelagert.“ Und: „Es dient der Klarheit, wenn der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils von diesem Urteil selbst getrennt wird.“9 An einem von Lenckner gebildeten Beispiel10 gezeigt: Wer bei Vorliegen aller die Notwehr begründenden Umstände den rechtswidrig Angreifenden im Rahmen des „Erforderlichen“ verletzt, dem ist der den Angreifer verletzende Erfolg nach meiner Auffassung „objektiv zuzurechnen“, obwohl derjenige, der sich verteidigt, keine „rechtlich mißbilligte“ Gefahr geschaffen hat, da es ja rechtlich nicht zu missbilligen ist, sich bei Vorliegen der Notwehrvoraussetzungen in erforderlichem Maße zu verteidigen. Aber selbstverständlich ist die sich verteidigende Person nicht zu bestrafen, weil nämlich im zweiten Prüfungsschritt – bei Prüfung des Rechtfertigungsgrunds der Notwehr – die Wertung dieses Vorgangs ergibt, dass das Geschehen nicht mit dem Prädikat „rechtswidrig“ zu versehen ist. Dagegen lässt sich nicht einwenden, ein solches „wertfreies“ Verständnis des Begriffs der objektiven Zurechnung, das dem Rechtswidrigkeitsurteil vorgelagert ist, sei dem Strafrecht nicht angemessen.11 Es geht bei diesem Verständnis gar nicht um „Wertfreiheit“. Vielmehr geht es darum, einen Begriff zu finden, der Träger des Prädikats „rechtswidrig“ oder „rechtmäßig“ sein kann. Dieser Begriff kann je nach seinem Inhalt seinerseits sehr wohl werthaltig sein. Herr Kollege Yamanaka, dem diese Zeilen in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet sind, hat diesen Umstand bereits im Jahre 1990 für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte hervorgehoben, indem er erklärte, nach der Struktur dieser Deliktskategorie begrenze die objektive Zurechnung den Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils, sei also nicht selbst ein Urteil über die Rechtswidrigkeit des Täterhandelns.12 Demgegenüber wird aber, wie schon angedeutet, von Vertretern der Lehre von der objektiven Zurechnung häufig erklärt, schon die objektive Zurechnung eines Erfolges zur Person des Handelnden setze voraus, dass dieser eine „rechtlich mißbilligte“, 8

Gössel, GA 2015, S. 23. Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 477. 10 Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 26. Aufl. 2001, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 92. 11 So aber Roxin, Maiwald-Festschrift, 2010, S. 718 ff. 12 Yamanaka, ZStW 102 (1990), S. 944.

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„rechtlich verbotene“, „unerlaubte“ Gefahr geschaffen oder das „erlaubte Risiko“ überschritten habe.13 Diese Argumentation, die auf den objektiven Tatbestand Bezug nimmt, dringt also im obigen Beispiel der Notwehr nicht mehr zur Stufe der Rechtfertigungsgründe vor: Weil der Rechtfertigungsgrund der Notwehr die rechtliche Missbilligung des Täterhandelns ausschließt, soll mangels Erfolgszurechnung schon der objektive Tatbestand ausgeschlossen sein.

II. Kritik aus Italien 1. Generelle Skepsis gegenüber der Lehre von der objektiven Zurechnung in der italienischen Doktrin Ungeachtet der eingangs dargestellten Kritik kann in Deutschland auch heute noch davon gesprochen werden, dass die „überwältigend herrschende Lehre“14 die Theorie der objektiven Zurechnung als etabliert ansieht. Blickt man hingegen rechtsvergleichend nach Italien, wo die Entwicklungen der deutschen Strafrechtsdogmatik traditionell mit Interesse zur Kenntnis genommen werden, so sieht die Sache durchaus anders aus. Statt der Sympathie, die der Lehre von der objektiven Zurechnung von der herrschenden Lehre in Deutschland entgegengebracht wird, findet man in den Stellungnahmen der italienischen Strafrechtler meist eine große Distanz zu dieser Lehre, die von deutlicher Skepsis bis zur schroffen Ablehnung reicht. Skepsis kommt etwa zum Ausdruck im Lehrbuch von Fiandaca/Musco. Die Autoren erklären hier: „Die Theorie der (objektiven) Zurechnung, … obwohl eindrucksvoll und zuweilen in der Lage, ausgewogene Lösungen vorzuschlagen, ist noch nicht zu so klaren und überzeugenden Aussagen gelangt, dass ihr eine unangefochtene Kontrolle im Kreis der Kriterien zur Kausalfeststellung zukommen würde.“15 Es sei freilich nicht unwahrscheinlich, dass sich aus der augenblicklich noch in Gang befindlichen Diskussion noch befriedigendere Entwicklungen ergeben könnten.16 Schärfer fällt das Urteil von Mantovani aus. Nach ausführlicher kritischer Darstellung der Lehre von der objektiven Zurechnung hält er als Ergebnis fest: „Die ,dogmatischen Qualen‘, die um die objektive Zurechnungslehre entstanden sind, mit einer Unzahl von inzwischen kaum noch übersehbaren Stellungnahmen, die sich aus allzu vielen Schulbeispielen ohne fruchtbare praktische Resultate speist, jedoch auf einem vielleicht einzigartigen Niveau und als Beitrag zur Vergrößerung der Dis13 Vgl. die Aufzählung dieser Begriffe bei Kühl, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2002, § 4 Rn. 43. 14 Schünemann, GA 1999, S. 212. Dort auch zahlreiche Nachweise. 15 „La teoria dell’imputazione… seppure suggestiva e talora capace di suggerire soluzioni equilibrate, non è ancora tradotta in formulazioni così rigorose e convincenti, tali di farle assegnare un ruolo indiscusso nell’ambito dei criteri dell’accertamento causale“: Fiandaca/ Musco, Diritto penale, 3. Aufl. 1999, S. 215. 16 Fiandaca/Musco, a.a.O.

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tanz zwischen Theorie und Praxis, reduziert sich letzten Endes auf ein Problem der konventionellen Verbrechenssystematik und demgemäß auf persönliche Präferenzen: Ob man die Lösung der quälenden Kasuistik der objektiven Seite des Verbrechens zuschlagen will, oder ob man sie der Stufe der Schuld vorbehalten will.“17 Und Mantovani fügt ironisch in Frageform hinzu: „Tanto rumore per nulla?“ (Viel Lärm um nichts?) – eine Frage übrigens, die auch ich bei meiner kritischen Untersuchung der Lehre von der objektiven Zurechnung gestellt habe, unabhängig von der in Italien geführten Diskussion über dieses Thema.18 Hingewiesen sei auch auf die Analyse von Donini: Dieser Autor geht zurück auf Hegel, der ja bekanntlich in Deutschland auch für Larenz den Anstoß zu dessen zivilrechtlich-dogmatischen Weichenstellungen gegeben hat, und sieht die Bedeutung des topos „objektive Zurechnung“ in der Möglichkeit, mit seiner Hilfe die tatbestandlich umschriebenen Erfolge nicht nur als objektive Bedingungen der Strafbarkeit, sondern – in der Terminologie Hegels – als „das abstrakte Prädikat des Meinigen“19 aufzufassen – was das Abstellen auf die reine Kausalverbindung zwischen Handlung und Erfolg nicht leisten könne.20 2. Die Kritik von Giorgio Marinucci in seiner Abhandlung „non c’è dolo senza colpa“ Besonderen Einfluß auf die italienische Strafrechtsdogmatik hat indessen die Stellungnahme des kürzlich verstorbenen italienischen Strafrechtslehrers Giorgio Marinucci gehabt, die im Jahre 1991 als Zeitschriftenaufsatz erschienen ist. Auf diese scharfsinnige Stellungnahme soll im folgenden näher eingegangen werden. Schon die Überschrift ist provokativ gewählt: „Non c’è dolo senza colpa“ (wörtlich: es gibt keinen Vorsatz ohne Fahrlässigkeit), und im Untertitel wird die rhetorische Frage gestellt: „Morte della ,imputazione oggettiva dell’evento’ e trasfigurazione nella colpevolezza?“ (Tod der objektiven Zurechnung des Erfolges und ihre Auferstehung in der Schuld?). Die Stellungnahme gelangt unabhängig von den oben erwähnten kritischen Stimmen in Deutschland in vielen Punkten zu Ergebnissen, die diesen kritischen Stimmen entsprechen, und sie fügt im Übrigen wichtige Aspekte hinzu, die sich aus der besonderen Struktur der italienischen Strafrechtsdogmatik ergeben. 17

„Il ,tormento dommatico‘, insorto attorno alla objektive Zurechnungslehre, con una mole di studi ormai indominabile, nutritosi di troppi esempi di scuola, privo di fruttuosi risultati prattici, ma con livelli complicatori forse unici e concorrenti ad accrescere le distanze tra teoria e prassi, si riduce, in buona misura, ad un problema di convenzionale ,sistematica del reato‘ e quindi, di preferenze personali: di anticpazione della soluzione della tormentosa casistica all’elemento oggetto del reato o a la posticipazione alla colpevolezza“: Mantovani, Diritto penale, Parte generale, 6. Aufl. 2009, S. 179 f. – Ablehnend auch Pulitanò, Diritto penale, 5. Aufl. 2013, S. 264. 18 Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 479. 19 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 115. 20 Donini, Riv. ital dir. e proc. pen. 1989, S. 594.

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III. Die Beurteilung der Fälle der Risikoverringerung 1. Der Ausgangsfall In seinen einleitenden Bemerkungen, in denen Marinucci eine inhaltliche Neubestimmung des Schuldbegriffs fordert, macht er, wie schon im Untertitel der Abhandlung, noch einmal deutlich, dass es ihm darum geht, die Ergebnisse, zu denen die Lehre von der objektiven Zurechnung gelangt, als Ergebnisse eines richtig verstandenen Schuldbegriffs einzuordnen. Darauf wird später noch näher einzugehen sein. Hier soll vielmehr der Beispielsfall zum Ausgangspunkt genommen werden, den Marinucci seiner Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung voranstellt, und der (man könnte fast sagen: wie könnte es anders sein) die unermüdlich diskutierte Konstellation der Risikoverringerung betrifft. Marinucci weist darauf hin, dass eine der Grundformeln der Lehre von der objektiven Zurechnung dahin gehe, es müsse ein unerlaubtes Risiko für das Entstehen eines tatbestandsmäßigen Erfolges geschaffen werden, nur dann sei dessen objektive Zurechnung möglich. Werde ein bestehendes Risiko sogar vermindert, sei die objektive Zurechnung nach dieser Grundformel ausgeschlossen. Werde etwa durch einen Zuruf bewirkt, dass ein auf den Kopf des Opfers gezielter Schlag nur die Schulter treffe, sei nach dieser Auffassung mangels des erforderlichen Zurechnungszusammenhangs also schon nicht der objektive Tatbestand der Körperverletzung erfüllt.21 Diese Konstellation ist nach dem üblichen Verständnis in tatsächlicher Hinsicht so aufzufassen, dass derjenige, der durch seinen Zuruf den Schlag auf die Schulter lenkt, Rettungswillen hat: Er will dem durch den Schlag Bedrohten helfen, jedoch gelingt es ihm nicht, den Bedrohten völlig vor Schaden zu bewahren – sein Zuruf führt immerhin zur Verletzung der Schulter. 2. Die Abwandlung Marinucci verändert jedoch die tatsächliche Lage im Beispiel in einem entscheidenden Punkt. Er fragt, wie denn der Fall zu lösen sei, wenn „jene geringere Verletzung an der Schulter zwar die Folge eines Zurufs sei, A diesen Zuruf aber nicht vorgenommen hat, um den angegriffenen B zu warnen, sondern um diesen abzulenken“.22 Dem Zusammenhang nach ist diese Abwandlung des Falles der Risikoverminderung wohl so zu verstehen, dass das Ablenken des Opfers dem Zweck dienen soll, den Schlag um so sicherer den Kopf treffen zu lassen. Mit anderen Worten: Derjenige, der in diesem abgewandelten Beispiel den Schaden durch seinen Zuruf ob21

Marinucci, S. 331. „… nel caso che quella meno grave lesione alla spalla fosse la conseguenza di un grido lanciato da A non per avvertire, bensì per distrarre l’aggredito B“: Marinucci a.a.O. – Auch Bustos Ramirez weist in seiner Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung im übrigen schon auf solche denkbaren Abwandlungen dieses bekannten Schulfalles hin: Bustos Ramirez, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 223 f. 22

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jektiv abgeschwächt hat, will diese Risikoverminderung gar nicht, er will vielmehr, dass das Opfer die – letztlich ausgebliebene – Verletzung am Kopf mit Sicherheit erleiden möge. Da die Lehre von der objektiven Zurechnung, soweit sie die Risikoverminderung als Kriterium verwendet, allein die objektive Lage als entscheidend ansieht, und weil die Risikoverminderung schon den objektiven Tatbestand ausschließen soll23, gelangt sie folgerichtig nicht mehr zur Prüfung der subjektiven Seite des Geschehens. Mangels Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 223 StGB bleibt der Täter nach dieser Prämisse auch im abgewandelten Fall straflos. Aber überzeugt das wirklich? Ist derjenige, der durch seinen Zuruf die schwere Verletzung am Kopf des Opfers sicherstellen wollte, freizusprechen, wenn er tatsächlich – gewissermaßen versehentlich – die leichtere Verletzung an der Schulter herbeiführt? Nach der Rechtsprechung des BGH wäre diese Konstellation als unwesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf24 anzusehen, mit der Folge, dass derjenige, der den Zuruf vornimmt, wegen Körperverletzung strafbar ist – ebenso wie ein Pistolenschütze, der sein Opfer tödlich am Kopf treffen möchte, der es jedoch nur – ohne tödliche Wirkung – an der Schulter verletzt. Wohl kaum würde im Falle des Pistolenschützen ein Freispruch erfolgen, weil der Schütze etwa durch die nicht genügend genaue Ausführung des Schusses objektiv das Risiko des Todeseintritts verringert hat. Marinucci teilt nicht mit, mit Hilfe welcher dogmatischen Konstruktion er den obigen Fall der Risikoverringerung in der Variante des Ablenkens des Opfers (damit dieses umso sicherer am Kopf getroffen werden möge) zu lösen gedenkt. Ihm kommt es in seiner Einleitung nur auf das Negativum an, dass der objektive Umstand der Risikoverringerung für sich genommen keineswegs zwingend zum Ausschluß strafrechtlicher Verantwortlichkeit führen muß: „Con l’aiuto dell’idea della ,diminuzione del rischio‘ non pare perciò che si possa arrivare alla giusta soluzione.“25 Was den „klassischen“ – nicht abgewandelten – Fall der Risikoverringerung betrifft, den Fall also, in dem jemand durch einen Zuruf einen auf den Kopf gezielten Schlag auf die Schulter ablenken will, um das Opfer vor dem Tode oder einer schweren Verletzung zu bewahren, so sieht Marinucci die Lösung in der Wertung des Geschehens als „rechtswidrig“: „In effetti, manca l’antigiuridicità.“ (In der Tat fehlt es an der Rechtswidrigkeit.) Es werde die Körperintegrität des Angegriffenen verletzt, dies jedoch, um auf notwendige und verhältnismäßige Weise dessen Leben zu verteidigen.26 Demgemäß werde nicht rechtswidrig gehandelt. 23 Vgl. etwa die Darstellung bei Kühl, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2002, § 4 Rn. 53 ff.; Roxin, Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 1997, § 11 Rn. 47 spricht vom Fehlen der deliktstypischen Rechtsgutsverletzung. 24 Vgl. etwa BGH 38, 32. 25 „Es scheint also, dass man mit Hilfe des Gedankens der ,Risikoverminderung‘ nicht zur richtigen Lösung gelangen kann“: Marinucci, S. 331. 26 Marinucci, S. 331 f.

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Diese Meinung wird inzwischen auch in Deutschland von nicht wenigen Autoren vertreten, wobei am überzeugendsten die Annahme erscheint, dass derjenige, der den Schlag mit Rettungsabsicht auf die Schulter ablenkt, die mutmaßliche Einwilligung des so dennoch – wenn auch weniger schwerwiegend – Verletzten auf seiner Seite habe, nicht anders als in jener traditionell diskutierten Konstellation, in der jemand die Fensterscheibe des Nachbarn einschlägt, um in dessen Haus zu gelangen und dort das ausströmende Wasser zu stoppen, das einen weit höheren Schaden anzurichten droht. Durch das Einschlagen des Fensters wird tatbestandlich eine Sachbeschädigung begangen, um so erheblich größere Sachschäden zu verhindern.27 Marinuccis Lösung zielt, wie der hinzugefügte Hinweis auf Art. 52 c. p. zeigt28, demgegenüber auf das Eingreifen des Rechtfertigungsgrunds der Notwehr. Dem wird man freilich widersprechen müssen, da die Notwehr nur einen Eingriff in Rechtsgüter des Angreifers – also dessen, der mit seinem Schlag auf den Kopf des Opfers zielt – rechtfertigen könnte. In dessen Rechtsgüter wird jedoch durch das Ablenken des Schlages in Rettungsabsicht nicht eingegriffen. Aber bemerkenswert – und nach meiner Auffassung zutreffend – bleibt die Annahme Marinuccis, dass erst die rechtliche Wertung auf der Stufe der Rechtfertigungsgründe zur Straflosigkeit dessen führt, der den hilfreichen Zuruf vornimmt und dadurch den Bedrohten vor dem Tode bewahrt. Einer Kategorie der objektiven Zurechnung bedarf es hierfür nicht.

IV. Sorgfaltspflichtverletzung und Schutzzweck der Norm 1. Woraus folgt die „Unerlaubtheit“ der jeweiligen Gefahr? Die Lehre von der objektiven Zurechnung hat bekanntlich einen weiten Anwendungsbereich im Zusammenhang mit den Fahrlässigkeitsdelikten gefunden. Um diesen Anwendungsbereich geht es in den weiteren Überlegungen von Marinucci vor allem. Er richtet sein Augenmerk zunächst auf den immer wieder diskutierten Problemkreis, der mit der Gefahrrealisierung zusammenhängt: Nach der in Deutschland weit verbreiteten und oben schon dargestellten Ansicht geht es bei der objektiven Zurechnung um die Realisierung einer „rechtlich relevanten“, einer „rechtlich missbilligten“, einer „rechtlich verbotenen“, einer „unerlaubten“ oder einer „über das erlaubte

27

Für diese Auffassung Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 468; ebenso Baumann/ Weber, Strafrecht, Allg. Teil, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 69; Köhler, Strafrecht, Allg. Teil, 1997, S. 148. Die im Text erwähnte „traditionelle“ Konstellation des Einschlagens des Fensters findet sich als Beispiel für die mutmaßliche Einwilligung z. B. bei Mezger, Strafrecht, 2. Aufl. 1933, S. 219. 28 Marinucci, S. 332.

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Risiko hinausgehenden“ Gefahr – die Attribute, die dem Begriff der Gefahr an die Seite gestellt werden, sind also vielfältig.29 Die Verschiedenheit ist nicht nur terminologischer Natur, sondern betrifft auch den Inhalt des jeweiligen Begriffs. So verwundert es nicht, dass Marinucci von der „Vagheit der definitorischen Formeln“ spricht, die verwendet würden, „ohne die Natur und den Zweck der rechtlichen Norm zu präzisieren, die den Ursprung der Relevanz, Missbilligung, Unerlaubtheit usw. darstellt“30. Sein Bemühen geht denn auch dahin, diese Vagheit zu überwinden: Es handle sich in Wahrheit bei den so verschieden gekennzeichneten Gefahren um nichts anderes als um die Außerachtlassung der jedem Fahrlässigkeitsdelikt zugrunde liegenden Sorgfaltspflichten. Denselben Gedanken hat in der deutschen Strafrechtsdogmatik Schünemann zum Ausdruck gebracht, indem er erklärt, die Redeweise vom rechtlich missbilligten Risiko sei eine sachlich nichts Neues bringende Umformulierung der alten Forderung, dass die für den Erfolg ursächliche Handlung objektiv sorgfaltswidrig sein müsse.31 Marinucci weist in entsprechender Weise darauf hin, daß die Überschreitung des rechtlich relevanten Risikos dann gegeben sei, „wenn und soweit (ein Verhalten) den Sorgfaltspflichten widerspricht, die gemäß den anerkannten Kriterien der modernen Theorie der Fahrlässigkeit entwickelt wurden.“32 Dagegen ist in Deutschland zwar eingewandt worden, es gehe bei der Feststellung des rechtlich missbilligten Risikos im Rahmen der objektiven Zurechnung keineswegs um das spezielle Fahrlässigkeitsproblem der Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht. Einem Autofahrer etwa, der völlig ordnungsgemäß am Straßenverkehr teilnehme, der jedoch trotzdem in einen Verkehrsunfall verwickelt werde, sei ein daraus resultierender Todeserfolg vielmehr schon nicht objektiv zuzurechnen. Eine solche Betrachtung bringe eine deutliche Rechtsvereinfachung mit sich.33 Der Einwand ist jedoch kaum überzeugend. Denn die Unterbringung der Sorgfaltspflichtsverletzung in einer der Struktur des Fahrlässigkeitsdelikts schon vorgelagerten Kategorie der objektiven Zurechnung, die ihrerseits als Sammelbecken für zahlreiche weitere Kriterien – z. B. für die obige Konstellation der Risikoverringerung – dienen soll, gibt ein Stück verbrechensanalytischer Klarheit preis, das der Stand der Dogmatik hinsichtlich der Fahrlässigkeitsdelikte zuvor schon erreicht hatte.34

29 Vgl. wieder die Zusammenstellung bei Kühl, Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 2002, § 4 Rn. 43; Marinucci gibt S. 333 ebenfalls eine Anzahl solcher Attribute wieder. 30 „… la vaghezza delle formule definitiorie … senza precisare affatto natura e scopo della norma giuridica, fonte della rilevanza, disapprovazione, riprovazione etc.“: Marinucci, S. 333. 31 Schünemann, GA 1999, S. 217. 32 „…se e in quanto contrasto con il ,dovere di diligenza‘ individuato alla stregua di collaudati criteri della moderna teoria della colpa“: Marinucci S. 333. 33 Roxin, Maiwald-Festschrift, 2010, S. 720. 34 Vgl. Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 476 ff.

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2. Normlogische Begründung statt Rückgriff auf die „objektive Zurechnung“ Auch auf das weitere, häufig im Zusammenhang mit dem Fahrlässigkeitsdelikt erörterte Problem geht Marinucci ein: auf das Problem, dass sich gerade dasjenige Risiko realisiert haben müsse, das zu verhindern die dem jeweiligen zugrunde liegende Sorgfaltsnorm bestimmt sei.35 Sicher mit Recht sieht er es als merkwürdig an, dass in Deutschland und Österreich, soweit der Lehre von der objektiven Zurechnung gefolgt wird, in strafrechtlichen Lehrbüchern und Kommentaren das Thema „Schutzbereich der Norm“ nicht selten doppelt erörtert wird, einmal als Gesichtspunkt der objektiven Zurechnung und ein zweites Mal als Erfordernis der fahrlässigen Straftat, was dann auch durch entsprechende Verweisungen innerhalb der Darstellung kenntlich gemacht werde.36 Eine solche begriffliche Doppelung sei überflüssig und gleichzeitig ein Symptom für die Unzweckmäßigkeit, die Lehre vom Schutzzweck der Norm als dem Fahrlässigkeitsdelikt im Sinne der objektiven Zurechnung vorgelagert zu betrachten. Diese Kritik entspricht dem später in Deutschland auch von Hirsch erhobenen Einwand, die Lehre von der objektiven Zurechnung bringe mit dem Abstellen auf die Realisierung einer unerlaubten Gefahr keinen Gewinn. Die Lehre stelle lediglich eine auf Generalklauseln gebrachte Zusammenfassung von Einzelpunkten dar, die durch die spezifische Struktur des fahrlässigen Delikts bedingt seien.37 Marinucci drückt das so aus, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung nur Erkenntnisse im dogmatischen Bereich verdunkle, die schon früher gewonnen worden seien.38 Insofern weist er zunächst auf die deutschen Autoren Max Ludwig Müller und Engisch hin, die den Zusammenhang zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolg aus dem Normzweck folgern. Es handle sich bei der erforderlichen Sorgfalt um den Inhalt der Verhaltensanforderungen, deren Zweck es sei, rechtsgutsverletzende Erfolge zu verhindern.39 In der Tat hatte etwa Engisch in seiner Schrift „Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände“ im Jahre 1931 erklärt: „Rechtsnormwidrig verhält sich ein Mensch nur dann, wenn er die ,objektiv erforderliche Sorgfalt‘ zur Vermeidung des von ihm zu vermeidenden Erfolges außer acht

35

Marinucci, S. 332 ff. Marinucci, S. 341. Dort Fn. 40 eine Aufzählung solcher Verweisungen innerhalb der strafrechtlichen Darstellungen gemäß den damaligen Auflagen. Unter den heutigen deutschen Darstellungen sei beispielhaft auf Schönke/Schröder, StGB. Kommentar, 29. Aufl. 2014 verwiesen: Die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung und des Schutzzwecks der Norm wird doppelt erörtert. Einmal Vorbem. §§ 13 ff Rn. 95/96 (Lenckner/Eisele) und ein zweites Mal § 15 Rn. 156 f. (Sternberg/Lieben). 37 Hirsch, Lenckner-Festschrift, 1998, S. 140. 38 „… sta infatti solo nella trascuranza di vicende dommatiche, iniziate e (si credeva) chiuse da tempo“: Marinucci, S. 334. 39 Marinucci, S. 335 verweist insofern auf Max Ludwig Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhangs im Strafrecht, 1912, S. 37 f.; Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 53 und öfter. 36

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lässt.“40 Und Engisch arbeitet ferner – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Max Ludwig Müller – den Befund heraus, dass der zu vermeidende Erfolg gerade aus der Verwirklichung derjenigen Gefahr hervorgegangen sein müsse, zu deren Ausschluß der jeweilige Tatbestand geschaffen worden sei.41 Anschließend geht Marinucci auf die italienische Strafrechtsdogmatik ein, für die bei der Analyse des Fahrlässigkeitsdelikts seit langem immer wieder betont worden sei, dass die dort vorausgesetzte Sorgfaltspflichtverletzung stets zu beziehen sei auf diejenige Art von Erfolgen, die der Gesetzgeber durch die jeweilige Fahrlässigkeitsnorm verhindern wolle. Eine lange Reihe von Autoren wird aufgezählt, die in ihren Ausführungen zum Fahrlässigkeitsdelikt den Zusammenhang zwischen dem Zweck der jeweiligen Sorgfaltspflichten und dem in concreto eingetretenen Erfolg betont haben. Hier sei nur die Formulierung von Delitala aus dem Jahr 1936 aufgenommen, der erklärte: „Die Qualifizierung als sorgfaltswidrig betrifft nicht das Verhalten für sich genommen, isoliert betrachtet, sondern bezieht sich auf das Verhalten, soweit dieses einen bestimmten Erfolg hervorbringt. Der Täter musste anders handeln, weil er durch sein tatsächliches Handeln einen Erfolg verursachen konnte, den der Gesetzgeber verhindern wollte.“42 Dieser Grundgedanke von der Relevanz des Schutzzwecks der Norm taucht, wie bemerkt, auch in den späteren Darstellungen über die Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte bis heute bei allen italienischen Autoren regelmäßig und ausdrücklich auf. Marinucci verweist im übrigen auf den Wortlaut des italienischen Strafgesetzbuchs: In Art. 43 Abs. 3 c. p. findet sich in der Definition der Fahrlässigkeit die Formulierung, fahrlässig sei ein Verhalten, „quando l’evento … si verifica a causa di negligenza o imprudenza o imperizia, ovvero per inosservanza di leggi, regolamenti, ordini o discipline.“43 Das Erfordernis „a causa“ (infolge) werde allgemein so interpretiert, dass die in der Vorschrift erwähnten Sorgfaltsverstöße gerade der Grund für das Eintreten des Erfolges sein müssten. Da dies per definitionem nicht der Fall sei, wenn die in concreto übertretene Sorgaltsnorm die Verhinderung des in concreto eingetretenen Erfolgs nicht bezwecke, könne trotz Eintritts des Erfolges nicht wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts bestraft werden, wer zwar sorgfaltswidrig handle, aber durch sein Verhalten einen außerhalb des Schutzzwecks der Norm liegenden Erfolg verursache. Ein seit langer Zeit in den italienischen Lehrbüchern immer wieder erwähntes Beispiel für diese Konstellation ist der Fall, dass ein Autofahrer entgegen der Straßenverkehrsordnung auf der linken Seite der Fahrbahn fährt und einen Stein aufwir40

Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 53. Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 61 f. 42 Delitala, Il „fatto“ nella teoria generale del reato, 1930, jetzt abgedruckt in Diritto penale, Raccolta degli scritti I, 1976, S. 65: „La qualifica di imprudente non riguarda la condotta in sè e per sè, isolatamente considerata, ma si riferisce alla condotta in quanto produttiva di un determinato evento. Si doveva agire diversamente appunto perchè, agendo come si è agito, si poteva cagionare un evento che il legislatore voleva impedire.“ 43 „… wenn der Erfolg … infolge von Nachlässigkeit, Unvorsichtigkeit, Untüchtigkeit oder auch Nichtbeachtung von Gesetzen, Verordnungen, Befehlen oder Regelungen eintritt.“ 41

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belt, der mit großer Wucht einen Fußgänger trifft und verletzt.44 : Da der Zweck des Rechtsfahrgebots in der Verhinderung von Zusammenstößen mit entgegenkommenden Fahrzeugen liege und nicht in der Verhinderung des Aufwirbelns von Steinen, führe das an sich sorgfaltswidrige Verhalten des Autofahrers nicht zu einer Verurteilung des Autofahrers. Das sei – wie Marinucci hervorhebt – keine Frage, für die man eine Lehre von der objektiven Zurechnung benötige, sondern es sei das schon lange bekannte Ergebnis einer Analyse der Strukturen des Fahrlässigkeitsdelikts.45 Einige Jahr später, nämlich im Jahr 1998 in der Festschrift für Lenckner, wird dann Hirsch dieselben Überlegungen vom Standpunkt der deutschen Dogmatik aus zum Ausdruck bringen. Hirsch weist darauf hin, dass sich die Art der Beziehung zwischen dem sorgfaltswidrigen Handeln und dem Erfolg aus der Eigenheit des fahrlässigen Erfolgsdelikts ergebe, bei dem sich im Erfolg gerade die betreffende Sorgfaltswidrigkeit realisiert haben müsse. Fahre ein Autofahrer trotz roter Ampel über eine Straßenkreuzung und komme er dadurch früher an einer einige hundert Meter weiter gelegenen Stelle an, wo er völlig ordnungsgemäß fahrend einen plötzlich verkehrswidrig auf die Straße laufenden Passanten tödlich überfährt, so sei das Überfahren der roten Ampel für den tödlichen Erfolg rechtlich irrelevant. Hirsch formuliert: „Hier geht es um ein spezifisches Fahrlässigkeitsproblem, dass nämlich die Sorgfaltswidrigkeit des Autofahrers sich nur auf den Bereich der Straßenkreuzung bezieht und deshalb der spätere Erfolg keine objektive Manifestation dieser Sorgfaltswidrigkeit darstellt.“ Und: „Die Art der Beziehung zwischen dem sorgfaltswidrigen Handeln und dem Erfolg ergibt sich… aus der Eigenheit des fahrlässigen Erfolgsdelikts.“46 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Marinucci für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte die Lehre von der objektiven Zurechnung als überflüssig, ja schädlich ansieht, da sie die normlogisch-dogmatischen Gesichtspunkte, die z. B. zum Erfordernis der Beachtung des Schutzzwecks der Norm geführt hätten, nur verdunkle. Auch in Deutschland spielt diese Kritik, wie gezeigt, einige Jahre später gegenüber der Lehre von der objektiven Zurechnung eine Rolle.

V. Die „unerlaubte Gefahr“ und der Begriffsinhalt von Vorsatz und Fahrlässigkeit 1. Struktur und Schuldgehalt von Vorsatz und Fahrlässigkeit Der entscheidende Ausgangspunkt für die Lehre von der objektiven Zurechnung ist, wie oben schon mehrfach hervorgehoben, die Formel vom Sich-Verwirklichen 44

Marinucci referiert S. 347 insofern die Darstellung von Vannini, Istituzioni di diritto penale, 1939, S. 130. 45 „… risultati raggiungibili, motivatamente, solo lungo la via della teoria della colpa“: Marinucci, S. 348. 46 Hirsch, Lenckner-Festschrift, 1998, S. 127 f.

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einer unerlaubten Gefahr. Es ist deshalb konsequent, dass diese Auffassung eine objektive Zurechnung dort ausschließt, wo der Täter bei seiner Handlung das sog. erlaubte Risiko nicht überschreitet. Sowohl für Vorsatzdelikte als auch für Fahrlässigkeitsdelikte – soweit Erfolgsdelikte – muß man also nach dieser Auffassung, bevor Vorsatz oder Fahrlässigkeit geprüft werden, zunächst prüfen, ob das erlaubte Risiko überschritten wurde.47 Allerdings wird das nicht immer klar durchgeführt, da in der Literatur bei den Vertretern dieser Auffassung zwar die rechtlich verbotene Gefährdung als Voraussetzung für die objektive Zurechnung als Kriterium genannt wird, jedoch die Überschreitung des erlaubten Risikos dann doch – ebenso wie das oben dargestellte Kriterium des Schutzbereichs der Norm – ganz unbefangen im Zusammenhang mit dem Fahrlässigkeitsdelikt als spezifisches Kriterium für die Verletzung der erforderlichen Sorgfalt aufgefasst wird.48 Gegen die Auffassung, die schon die objektive Zurechnung vom Vorliegen eines „unerlaubten Risikos“ abhängig macht, habe ich schon in der Festschrift für Miyazawa geltend gemacht, dass sie – jedenfalls gegenüber den Initiatoren der Lehre von der objektiven Zurechnung – die Dinge auf den Kopf stellt. Anstatt in der Prüfungsreihenfolge so vorzugehen, dass zunächst geprüft wird, ob ein Erfolg vorliegt, der in zurechenbarer Weise durch die Handlung einer bestimmten Person herbeigeführt wurde, und dann in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob diese Handlung als „verboten“ zu bewerten ist, wird auf diese Weise die Zurechnung des Erfolges davon abhängig gemacht, ob die Herbeiführung des Erfolges erlaubt war.49 Dieselbe kritische Haltung wird auch von Hirsch eingenommen, der das Verhältnis zwischen den beiden Attributen „zurechenbar“ und „unerlaubt“ mit den Worten kommentiert, es sei ja gerade die Frage, ob das Täterverhalten das in Bezug auf das tatbestandliche Verhalten maßgebende Verbot erfülle. Dieses Verbotensein könne nicht die Voraussetzung seiner selbst sein: „Ob eine Tötungshandlung vorliegt, ist nicht davon abhängig, ob sie verboten ist.“ Daher könne die Überschreitung des erlaubten Risikos nicht zur Voraussetzung der objektiven Zurechnung werden.50 Überlegungen dieser Art veranlassen Marinucci in seiner Abhandlung „non c’è dolo senza colpa“, seinerseits das Verhältnis zwischen dem rechtlichem Verbot und den beiden Kategorien des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit einmal von seiner grundsätzlichen Seite aus in den Blick zu nehmen. Ausgangspunkt ist für ihn die tatsächliche Konstellation, die man häufig als „vorsätzliches Handeln im erlaubten Risiko“ kennzeichnet. Marinucci nimmt Bezug auf die Aussage Roxins, dass ein er47

Was denn auch Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 93 zu der Erläuterung veranlaßt, diese Prüfung sei identisch mit der Prüfung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens in Beziehung zu dem verletzten Gut. 48 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 287 einerseits und S. 579 andererseits. 49 Vgl. Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 474 f. 50 Hirsch, Lenckner-Festschrift, 1998, S. 136. Vgl. auch schon Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 475: „Ein rechtliches Verbot kann sinnvollerweise nur ein solches Verhalten treffen, das einen Erfolg in zurechenbarer Weise verursacht.“

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laubtes Risiko auch dann nicht zur objektiven Zurechnung eines tatbestandlichen Erfolges führe, wenn der Täter – sich im erlaubten Risiko haltend – den Erfolg intendiere. Die Aussage wird durch die Person eines Chirurgen illustriert, der sich bei einer Operation mit tödlichem Ausgang völlig im Rahmen der lex artis gehalten hat, jedoch dabei von dem Willen beseelt war, sich des Patienten, der ein unerwünschter Rivale war, zu entledigen.51 Von Marinucci wird die Lösung des Falles – der Täter sei straflos – im Ergebnis als „vollkommen richtig“ bezeichnet („del tutto giusta“). Doch liege der Grund für die Annahme von Straflosigkeit keineswegs im Ausschluß der – wie auch immer definierten – objektiven Zurechnung. Vielmehr liege er in der Eigenheit der Kategorien von Unrecht und Schuld einerseits und der Begrifflichkeit von Vorsatz und Fahrlässigkeit andererseits.52 2. Die „Doppelstellung“ des Vorsatzes Insbesondere bei der Entfaltung dieser Thesen stellt Marinucci plakativ die Überschrift seiner Abhandlung in den Vordergrund: Non c’è dolo senza colpa. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass das Objekt des Vorsatzes bei einer rechtswidrigen Handlung ganz generell immer nur ein Verhalten sein könne, das das erlaubte Risiko überschreite: „Un fatto antigiuridico può essere commesso con dolo semprechè – in assenza di dolo – siano presenti, rispetto allo stesso fatto, gli estremi della colpa.“53 Der Sache nach haben dies im Übrigen – wie Marinucci im Einzelnen belegt – auch nicht wenige Autoren für den Bereich der deutschen Strafrechtsdogmatik zum Ausdruck gebracht.54 Wenn man aber zur Gewinnung dieses Ergebnisses die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht benötigt, wie Marinucci erklärt, aus welcher Begründung folgt das Ergebnis dann? Die Beantwortung dieser Frage setzt, wie schon oben angedeutet, ein näheres Eingehen auf die Begriffe „Vorsatz“ und „Fahrlässigkeit“ und auf die Scheidung zwischen Unrecht und Schuld voraus. Was das strafrechtliche Unrecht betrifft, so knüpft Marinucci an die Unterscheidung zwischen einem Strafrecht des Rechtsgüterschutzes („diritto penale della protezione dei beni giuridici“) und einem Willensstrafrecht („diritto penale della volontà“) an. Die Grundentscheidung hinsichtlich einer solchen Weichenstellung trifft er – auch entsprechend der Tradition des italienischen Strafrechts – zugunsten eines „liberalen“ Strafrechts des Rechtsgüterschutzes, ein „moralisierendes“ Willensstraf51 Beispiel bei Roxin, Honig-Festschrift, 1970, S. 144; vgl. auch Roxin, Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 1997, § 11 Rn. 59 ff. 52 Marinucci, S. 355. 53 „Eine rechtswidrige Handlung kann nur dann vorsätzlich begangen werden, wenn – ohne Vorsatz – hinsichtlich derselben Tat die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit vorliegen“: Marinucci, S. 355. 54 Vgl. Marinucci, S. 356 f., wo eine Reihe deutscher Autoren mit entsprechender Aussage zitiert werden.

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recht lehnt er ab: In der Ordnung der rechtlichen Wertungen gehe die tatbestandlich umschriebene und rechtswidrige Verletzung den Kriterien vor, welche die Schuld dessen, der die Verletzung bewirkt, begründen und graduieren. Und zu diesen die Schuld ausmachenden Kriterien gehörten Vorsatz und Fahrlässigkeit.55 Diese letztere Formulierung macht deutlich, dass Marinucci im Prinzip dem – nach der Terminologie der deutschen Strafrechtsdogmatik – klassischen Verbrechensaufbau folgt, wie denn auch eine Fußnote zeigt, die auf Beling verweist.56 Vorsatz und Fahrlässigkeit „gehören“ danach zur Schuld. Aber Marinucci betont die Tatsache, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit sich in ihrem begrifflichen Inhalt unterscheiden: „Heute herrscht Übereinstimmung dahingehend, dass der Vorsatz gegenüber der Fahrlässigkeit ein aliud ist.“57 Die Verschiedenheit bezeichnet er als strukturelle Verschiedenheit. Vorsatz erfordere, dass der Täter sich die tatbestandlichen Voraussetzungen im Sinne eines psychischen Faktums vorstelle. Fahrlässigkeit dagegen lasse die bloße Möglichkeit einer solchen Vorstellung genügen. Die Möglichkeit der Vorstellung und die tatsächliche Vorstellung seien aber zwei verschiedene Dinge.58 Von dieser strukturellen Verschiedenheit zu trennen sei aber der Umstand, dass unter dem Gesichtspunkt der Schuld, verstanden als Vorwerfbarkeit, zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ein Verhältnis der Graduierbarkeit, des Mehr zum Weniger, bestehe. Von einem normativen Gesichtspunkt aus betrachtet lägen die Dinge anders, als sie begrifflich in der obigen klassifikatorischen Logik zum Ausdruck kämen. Das ergebe sich beispielsweise schon daraus, dass – ceteris paribus – für denselben Deliktstyp eine höhere Strafe verhängt werde, wenn er vorsätzlich, als wenn er fahrlässig verwirklicht werde – sofern ein Tatbestand etwa nach dem Muster gestaltet sei „Wer vorsätzlich oder fahrlässig …“. Auch das in der italienischen Verfassung verankerte Schuldprinzip führe in seiner Auslegung durch die Corte costituzionale zu dieser Annahme: Das Schuldprinzip verlange nach dieser Auslegung „wenigstens“ Fahrlässigkeit für einen strafrechtlichen Vorwurf.59 Marinucci fasst dann seine Ausführungen in dem Satz zusammen: „Vom strukturellen Gesichtspunkt aus sind Vorsatz und Fahrlässigkeit Rechtsbegriffe, die verschiedene Phänomene ausdrücken, sie sind wechselseitig ein aliud, aber in der Ordnung der normativen Kriterien, die die

55

Marinucci, S. 362. Marinucci, S. 362 Fn. 90. 57 „Oggi vi è accordato sul punto che dolo e colpa sono, l’uno rispetto all’altra, un aliud“: Marinucci, S. 363. 58 Marinucci, S. 362 f. Dass bei dieser Argumentation Marinuccis die Problematik der Abgrenzung zwischen dolus und eventualis und bewusster Fahrlässigkeit außer Betracht bleibt, soll hier nicht weiter verfolgt werden. 59 Marinucci, S. 363 f. Die angesprochene Entscheidung der Corte costituzionale ist sent. n. 364/1988, die grundlegende Entscheidung zum Verbotsirrtum. 56

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Schuld des Täters begründen und graduieren, befinden sich Vorsatz und Fahrlässigkeit in einem Stufenverhältnis, im Verhältnis größerer oder geringerer Schuld.“60 Wie schon dargestellt, ist der Hintergrund der Ausführungen in dieser Hinsicht, dass Marinucci ebenso wie auch andere italienische Autoren den Vorsatz im Verbrechensaufbau dem Bereich der Schuld zuordnet. In seinem Lehrbuch heißt es: „Mit der Formel ,Schuld‘ bezeichnet man die Gesamtheit der Kriterien, von denen die Möglichkeit abhängt, gegen den Täter wegen der rechtswidrigen Tat einen Vorwurf zu erheben.“ Und es folgt eine Aufzählung dieser Kriterien: „Im geltenden Recht finden sich folgende Kriterien: a) Vorsatz oder Fahrlässigkeit …“61 Gegen eine so formulierte Auffassung spricht bekanntlich aus deutscher Sicht der Gedanke, dass der Gegenstand des Schuldvorwurfs – nämlich: vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt zu haben – nicht gleichzeitig die Bewertung dieses Vorwurfs konstituieren kann. Wer sich zur Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts entschlossen hat, dem wird dieser Entschluß im Rahmen der Schuld vorgeworfen. Die vorsätzliche Rechtsgutsverletzung ist also Gegenstand des Schuldvorwurfs, der Schuldvorwurf ist von diesem psychischen Ereignis zu trennen. Die „Entdeckung“ des normativen Schuldbegriffs durch Frank hat dies deutlich gemacht. In Deutschland hat diese Einsicht dann zu der von Gallas begründeten, die Systematisierung betreffenden Annahme geführt, der Vorsatz habe eine Doppelstellung. Im Bereich des Unrechts sei er Träger der Finalität und damit ein Element des Handlungsunwerts, im Bereich der Schuld dagegen drücke er den für die dolose Tatbestandsverwirklichung typischen Gesinnungsunwert der Rechtsmissachtung aus.62 Es ist nicht schwer, in der oben dargestellten Unterscheidung Marinuccis zwischen der strukturellen und der normativen Sicht auf den Vorsatz ebenfalls die Auffassung von einer Doppelstellung des Vorsatzes zu erkennen: Die Definition des Vorsatzes als „Wissen und Wollen der Tat“63 bezeichnet danach das Faktum, das in der Psyche des Täters vorhanden ist, wenn man sein Handeln als „vorsätzlich“ bezeichnet. Es bildet den Gegenstand des die Schuld betreffenden Vorwurfs, der beispielsweise dann entfällt, wenn der Täter im Sinne eines unvermeidlichen Verbotsirrtums nicht wissen konnte, dass diese „Tat“ einem rechtlichen Verbot unterliegt. Marinucci bezeichnet 60 „Dal punto di vista strutturale, dolo e colpa sono concetti giuridici che esprimono fenomeni diversi, da aliud a aliud, ma nell’ordine dei criteri normativi che fondano e graduano la colpevolezza dell’agente, dolo e colpa si trovano in rapporto scalare: da più a meno colpevole“: Marinucci, S. 364. 61 „Con la formula colpevolezza si disegna dunque l’insieme dei criteri dai quali dipende la possibilità di muovere all’agente un rimprovero per aver commesso il fatto antigiuridico. Nel diritto vigente tali criteri possono così individuarsi: a) dolo e colpa …“: Marinucci/Dolcini, Manuale di Diritto penale, Parte generale, 2004, S. 179 f. 62 Gallas, Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 170; entsprechend auch schon ZStW 67, 1955, S. 45. Vgl. die Darstellung bei Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 243 und S. 430. 63 Diese ungenaue, mit dem Begriff „Wissen“ den dolus eventualis außer Betracht lassende Definition wird hier nur aus Gründen der kurzen Darstellung verwendet.

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dies als den strukturellen Unterschied zur Fahrlässigkeit, die eben nicht durch das Wissen, sondern nur durch das Wissen-Können der „Tat“ gekennzeichnet sei.64 Dagegen soll die von Marinucci als „normativer Unterschied“ zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit bezeichnete Differenz das „größere Gewicht“ („maggior peso“) des Vorsatzes gegenüber der Fahrlässigkeit zum Ausdruck bringen – das Mehr an Vorwerfbarkeit, das beim Vorsatz gegenüber der Fahrlässigkeit vom typischen Gesinnungsunwert der Rechtsmissachtung ausgeht. Die Unterscheidung zwischen „strukturell“ und „normativ“ lässt Marinucci im Hinblick auf die Verbrechenssystematik dann den für die italienische Strafrechtsdogmatik nicht selbstverständlichen Schritt tun, eine Doppelstellung des Vorsatzes in dem Sinne anzunehmen, dass der Vorsatz in seiner strukturellen Bedeutung schon Teil des tatbestandlichen Unrechts sei: „In tutti gli illeciti dolosi, commissivi od omissivi, la figura del fatto vietato si profila con il concorso congiunto dell’elemento ,oggettivo‘ e dell’elemento ,soggettivo‘“.65 In seiner normativen Bedeutung gehöre der Vorsatz aber zur Schuld. Der Vorsatz wäre, wie Marinucci erklärt, „in sinnloser Weise verarmt, wenn man seine Bedeutung für den gegen den Täter mit der Kategorie der Schuld zu erhebenden persönlichen Vorwurf außer Betracht ließe.66

VI. Sorgfaltsverstoß als kausalitätseinschränkendes Merkmal Wie man sieht, geht es Marinucci im letzten Teil seiner Studie um verbrechenssystematische Aspekte. Auf die Lehre von der objektiven Zurechnung geht er nicht mehr ausdrücklich ein. Implizit aber haben seine Überlegungen auch hier durchaus Auswirkungen auf diese Lehre. Betrachtet man nämlich seine Grundaussage „non c’è dolo senza colpa“ und die Argumentation, mit der sie entwickelt wird, so sind sie mit ihrem Bezug auf die Sorgfaltspflichten jedenfalls für diejenigen Fallgestaltungen relevant, die in der deutschen Strafrechtsdogmatik als „abenteuerliche Kausalverläufe“ bezeichnet zu werden pflegen, also etwa für den viel zitierten Erbonkel-Fall. Da es keinen Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten bedeute, jemanden zu einem von einer anerkannten Fluglinie angebotenen Flug zu veranlassen, könne – so Marinucci – bei Tötungswillen des Neffen auch keine vorsätzliche Tötung angenommen werden, wenn das Flugzeug entgegen der Wahrscheinlichkeit abstürze und der Erbonkel ums Leben komme.67 Das oben beschriebene Mehr an Schuld, das normativ gegenüber der Fahr64

Marinucci, S. 362 f. „Bei allen Formen vorsätzlichen Unrechts, seien es Begehungs- oder Unterlassungsdelikte, bildet sich die Gestalt der verbotenen Tat mit dem gemeinsamen Auftreten des objektiven und des subjektiven Elements“: Marinucci, S. 365 unter Hinweis auf die Ausführungen in seinem Buch Il reato come azione, 1971. 66 Marinucci, S. 366. 67 Marinucci, S. 358. 65

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lässigkeit im Vorsatz liege, habe kein objektives Unrechtssubstrat, wenn beim Wollen des Erfolges etwas objektiv Erlaubtes getan werde.68 In der Sache geht es Marinucci darum, den Bereich des Unrechts zu objektivieren: Strafrechtlich verboten sein könne nur ein Verhalten, das unter Zugrundelegung der Funktion des Rechtsgüterschutzes verhindert werden muß. Ein Verhalten, das im Hinblick auf einen etwa verursachten schädlichen Erfolg nicht einmal als „sorgfaltswidrig“ eingestuft werden könne, unterliege einem strafrechtlichen Verbot nicht, auch nicht, wenn der Täter hinsichtlich des schädlichen Erfolgs vorsätzlich handle. In der deutschen Strafrechtsdogmatik ist dieser Gesichtspunkt insbesondere von Engisch entwickelt worden. In seiner Schrift „Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände“ legt er dar, dass die Verbindung zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg bei den Erfolgsdelikten einerseits nach den Kriterien der Äquivalenztheorie zu beurteilen sei. Andererseits müsse aber „die Adäquanz als besonderes Tatbestandsmerkmal neben die Kausalität“ gestellt werden, „und zwar … deshalb, weil sie als intimer Bestandteil der ,Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt’ verzahnt ist mit dem erlaubten Risiko und ähnlichen die Sorgfaltspflicht betreffenden Momenten, die außerhalb der Kausalität stehen …“69 Im Kern hat damit Engisch in der Tat die These entwickelt „non c’è dolo senza colpa“: Er versteht die „Adäquanz“ des Handelns für einen schädlichen Erfolg als Wahrscheinlichkeitsurteil im Hinblick auf den Erfolg und das „erlaubte Risiko“ als Bestimmung des Umfangs einer Handlungserlaubnis trotz der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts. „Wahrscheinlichkeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der rechtsgutsverletzende Erfolg als Ergebnis der betreffenden Handlung nach der Lebenserfahrung im Bereich des ernsthaft Möglichen liegt.70 Als Handlungsverbot könne das Recht sinnvollerweise nur an Handlungen anknüpfen, die im Hinblick auf den schädlichen Erfolg als sorgfaltswidrig oder das erlaubte Risiko überschreitend anzusehen seien, und dies gelte auch für das Verbot vorsätzlicher Erfolgsherbeiführung. Der Vorteil einer solchen Betrachtung liegt gegenüber der Lehre von der objektiven Zurechnung darin, dass sie den Grund dafür angibt, warum eigentlich in den erwähnten Fällen jeweils eine Strafbarkeit des jeweils Handelnden ausscheidet. Es sind, wie gezeigt, normlogische, auf die Funktion des Strafrechts bezogene Gründe, die es überflüssig erscheinen lassen, eine amorphe Kategorie der objektiven Zurechnung einzurichten, die dann lediglich terminologisch eine Zusammenfassung darstellt. 68 Diese Auffassung trifft sich im übrigen mit der von mir in der Jescheck-Festschrift I, 1985, S. 423 vertretenen Meinung, bei vorsätzlichem Handeln im erlaubten Risiko sei das zusätzliche Schuldelement, das vorsätzliches Handeln kennzeichne, zwar gegeben, es fehle aber am Handlungsunrecht. 69 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 59. 70 Engisch spricht davon, dass „schon ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad“ genüge, um Adäquanz anzunehmen; es sei „die Adäquanzbeziehung als eine Wahrscheinlichkeitsbeziehung geringeren Grades“ zu deuten: Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 45.

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VII. Fazit In der Abhandlung von Giorgio Marinucci, die einen Frontalangriff auf die in Deutschland von der wohl (noch) herrschenden Doktrin vertretene Lehre von der objektiven Zurechnung darstellt, geht es um das Herauspräparieren der einzelnen Gesichtspunkte, die diese Lehre zu ihren Ergebnissen führt. Zu diesem Zweck wird eine Vielzahl von Fallkategorien analysiert, die die Lehre von der objektiven Zurechnung mit dem Anspruch präsentiert, sie stelle mit dieser Kategorie einen zweckmäßigen und treffenden Lösungstopos für diese Kategorien zur Verfügung. Die Analyse führt den Autor zu der Annahme, es sei verfehlt, in die Strafrechtssystematik eine Kategorie der objektiven Zurechnung aufzunehmen. Zu einem guten Teil gelangt er zu diesem Ergebnis mit Argumenten, die erst einige Jahre später auch in der deutschen Strafrechtsdogmatik zur Sprache gebracht worden sind, so dass man sagen kann, dass er der Deutschland aufkommenden Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung zeitlich zuvorgekommen ist. Inhaltlich, im Hinblick auf jeweils kohärente Lösungsansätze, stimmt Marinucci vielen Ergebnissen der Lehre von der objektiven Zurechnung zu, vor allem im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte. Die Ergebnisse – beispielsweise der topos des Schutzzwecks der Norm – fänden ihre Begründung aber in Wahrheit in normlogischen Erwägungen, die der Schaffung fahrlässiger Erfolgsdelikte zugrunde lägen. Die Lehre von der objektiven Zurechnung verdunkle solche Einsichten und sei als eigenständige Kategorie überflüssig. Normlogische Erwägungen sind es schließlich auch, die den Autor zur Grundthese seiner Abhandlung veranlassen: non c’è dolo senza colpa. Da das Strafrecht sinnvollerweise nur solche Handlungen verbieten könne, die im Hinblick auf Rechtsgüterverletzungen als sorgfaltswidrig einzustufen seien, was eine ernsthafte Möglichkeit des Erfolgseintritts zur Voraussetzung habe, sei in diesem Punkt die Struktur des Vorsatzdelikts und des Fahrlässigkeitsdelikts gleich. Diese normlogischen Erwägungen gelte es aber beim Namen zu nennen und nicht durch eine Kategorie der objektiven Zurechnung zu verdunkeln. Dieses Grundanliegen der Abhandlung von Marinucci, insbesondere auch die Kritik an der Aussage der Lehre von der objektiven Zurechnung über die Schaffung einer „unerlaubten Gefahr“, habe auch ich in der Festschrift für Miyazawa vertreten71. Gründe der systematischen Klarheit verbieten es, derartige aus der Normlogik folgende Wertungsgesichtspunkte undifferenziert in einer Gesamtkategorie der objektiven Zurechnung zu vereinigen. Die hier vorgestellte Abhandlung von Marinucci, im Jahre 1991 aus der Sicht des italienischen Strafrechts geschrieben, macht dies in vorbildlicher Weise deutlich.

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Maiwald, Miyazawa-Festschrift, 1995, S. 465 ff.

Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“ Ulfrid Neumann

I. Einleitung Keiichi Yamanaka, dem dieser Beitrag in Hochschätzung und langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, hat die Diskussion zwischen der japanischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft gefördert wie kaum ein anderer Wissenschaftler. Zahlreiche Beiträge von ihm wurden im Original in deutscher Sprache veröffentlicht oder sind später in deutscher Übersetzung erschienen.1 Viele dieser Beiträge nehmen auf eine unterschiedliche Rechtslage oder auf unterschiedliche dogmatische Theorien in den beiden Ländern Bezug und haben insofern rechtsvergleichenden Charakter. Die Texte Yamanakas gehen aber über die Dimension rechtsvergleichender Arbeiten in doppelter Hinsicht weit hinaus. Zum einen liefern sie Beiträge zur dogmatischen Diskussion in der jeweiligen nationalen Strafrechtswissenschaft; auch die deutsche Strafrechtswissenschaft verdankt ihm wichtige Impulse. Kennzeichnend für die Arbeiten Yamanakas ist aus meiner Sicht aber vor allem das Anliegen, Strukturen strafrechtlicher Institutionen herauszuarbeiten, die hinter den Regelungen des jeweiligen positiven nationalen Strafrechts stehen. Diese Institutionen können in den unterschiedlichen nationalen Strafrechtsordnungen im Einzelnen eine unterschiedliche Ausgestaltung erfahren. Sie weisen aber strukturelle Eigenheiten auf, die es ermöglichen, sie unabhängig von diesen Differenzen in der konkreten Ausgestaltung zu identifizieren und voneinander abzugrenzen. In diesem Sinne sieht Yamanaka etwa den „Notstand“ und die „Pflichtenkollision“ als Institute, die nicht anhand der Regeln des jeweiligen nationalen Strafrechts, sondern nach strukturellen Kriterien voneinander abzugrenzen sind.2 In diesem Zusammenhang entwickelt er ein weithin trennscharfes und jedenfalls heuristisch sehr fruchtbares Abgrenzungskriterium, das darauf abstellt, ob die Gefahrenlage vor dem 1

Vgl. insbes. die Beiträge in Yamanaka, Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin/Boston 2012, sowie in Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, Baden-Baden 2008. 2 Yamanaka, Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision (2009), in: ders., Geschichte (Fn. 1), S. 105 – 127. Die im nachfolgenden Text in Klammern gesetzten Seitenverweisungen beziehen sich auf diesen Beitrag.

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Eingreifen des Täters durch das Vorliegen von nur einer Gefahr oder aber einer Mehrheit von Gefahren gekennzeichnet ist. Ich werde mich im Folgenden näher mit diesem Ansatz von Yamanaka befassen und nutze dabei die Gelegenheit, auch auf die Kritik einzugehen, die er in diesem Kontext an meinen eigenen Überlegungen zur Abgrenzung von rechtfertigendem Notstand und Pflichtenkollision3 geübt hat.

II. Rechtsfolgen der Pflichtenkollision 1. Ausschluss der Entschuldigungslösung Im Streit um die Rechtsfolgen einer Pflichtenkollision plädiert Yamanaka im Sinne der herrschenden Meinung gegen die seinerzeit etwa von Gallas prominent vertretene Auffassung, der zufolge das Institut der Pflichtenkollision lediglich einen Entschuldigungsgrund darstellt, die Handlung also generell sowohl tatbestandsmäßig als auch rechtswidrig bleibt.4 Heute wird diese Auffassung in der deutschen Strafrechtswissenschaft von verschiedenen Autoren noch für den Fall vertreten, dass es sich bei den kollidierenden Pflichten um gleichwertige Pflichten handelt.5 Auch für diese Fallkonstellation wird die „Entschuldigungslösung“ von Yamanaka mit überzeugenden Gründen zurückgewiesen. Das zentrale Argument: Die Fälle der Pflichtenkollision seien gerade dadurch gekennzeichnet, dass es dem Betroffenen unmöglich sei, beide Pflichten zu erfüllen. Die Rechtsordnung dürfe aber von niemandem ein unmögliches Verhalten verlangen. „Impossibilium nulla obligatio est“ (112). Auf ein solches Verlangen würde es aber hinauslaufen, wenn die Rechtsordnung jede Verhaltensweise, die dem Betroffenen in der konkreten Situation möglich ist, für rechtswidrig erklären würde. In der Tat: ein rechtsstaatliches Strafrecht muss sich davor hüten, seinen Bürger derartige „Normenfallen“ aufzustellen. 2. Rechtfertigung oder Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit? Die Frage, ob der Täter im Falle einer Pflichtenkollision rechtmäßig oder aber lediglich entschuldigt (und damit rechtswidrig) handelt, betrifft die rechtliche Bewertung der Handlung. Dieser Frage kann damit eine erhebliche praktische Bedeutung zukommen. Demgegenüber betrifft die Diskussion, ob im Falle einer Pflichtenkol3 Neumann, Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen – Rechte, Pflichten und Interessen als Elemente der rechtfertigenden „Pflichtenkollision“, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 421 ff.; ders., Die Moral des Rechts. Deontologische und konsequentialistische Positionen in Recht und Moral, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), S. 81 ff.; ders. In: Nomos-Kommentar zu StGB (NK), 4. Aufl. 2013, Rn. 124 – 129. 4 Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, in: Mezger-Festschrift (1954) S. 311 (S. 324, 332). 5 Vgl. etwa Fischer, Strafgesetzbuch, 62. Aufl. München 2015, Rn., 11a. Weitere Nachweise bei Yamanaka S. 105 mit Anm. 4.

Zur Struktur der „Pflichtenkollision“

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lision (erst) die Rechtswidrigkeit oder aber (schon) die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen ist, eher die Plausibilität der dogmatischen Kategorisierung als die Überzeugungskraft der rechtlichen Bewertung. Ich stimme der Einschätzung von Yamanaka, dass an der Einordnung der Pflichtenkollision als Rechtfertigungsrund festgehalten werden sollte (113/114), im Ergebnis zu,6 möchte aber an dieser Stelle auf eine nähere Diskussion der Argumente, die für die Gegenansicht vorgetragen werden und mit denen Yamanaka sich differenziert auseinandersetzt, verzichten.

III. Strukturelle Differenzen zwischen Pflichtenkollision und rechtfertigendem Notstand Ein wesentliches Ziel des Betrags von Yamanaka ist es, eine klare Abgrenzung der Pflichtenkollision zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 dStGB, § 37jStGB) zu ermöglichen. Die Notwendigkeit dieser Abgrenzung ergibt sich aus seiner These, dass die Pflichtenkollision entgegen abweichenden Auffassungen nicht als Unterfall des rechtfertigenden Notstands begriffen werden könne. Es handele sich vielmehr um einen „ganz und gar“ selbständigen Rechtfertigungsgrund (106). 1. Singularität oder Pluralität von Gefahren Das bedeutet aber nicht, dass ein scharfer Gegensatz zwischen der Kollision von Pflichten einerseits, der Kollision von Interessen oder Gütern (Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands) andererseits gesehen würde. Yamanaka stimmt vielmehr der Auffassung, dass sich die Pflichtenkollision im Wesentlichen auf die Kollision von Interessen bzw. Rechtsgütern zurückführen lasse und deshalb auch im Rahmen des Instituts der Pflichtenkollision eine Interessenabwägung stattfinde,7 ausdrücklich zu (123). Er sieht den entscheidenden Unterschied in der Struktur der Situation, die der potentielle Täter vor seiner Entscheidung, ob er in diese Situation eingreifen soll, ob er nicht eingreifen soll bzw. in welcher Weise er gegebenenfalls eingreifen soll, vorfindet. Maßgeblich sei, ob diese Situation durch das Vorliegen lediglich einer Gefahr oder aber mehrerer Gefahren gekennzeichnet sei (119 ff.). Mit diesem zentralen Gesichtspunkt steht das Unterscheidungskriterium, ob in der fraglichen Situation einem Rettungsinteresse eine Rechtsposition oder (lediglich) ein anderes Rettungsinteresse gegenüber steht,8 in einem engen Zusammenhang. Dieser Vorschlag, die Grenze zwischen dem rechtfertigenden Notstand und der Pflichtenkollision mit Hilfe des Kriteriums zu markieren, ob vor dem (potentiellen) Eingreifen des (potentiellem) Täters lediglich eine Gefahr oder aber eine Mehrheit 6

NK-Neumann (Fn. 3), § 34 Rn. 124. Mit Verweis auf NK-Neumann, § 34 Rn. 127; ders., Roxin-FS (Anm. 3) S. 421 ff.; ders., Jahrbuch für Recht und Ethik (Fn. 3) S. 92 f. 8 Dazu nachstehend unter III. 2. 7

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von Gefahren vorliegt, ist auch aus meiner Sicht jedenfalls im Ansatz überzeugend. Denn in der Tat setzt eine Pflichtenkollision voraus, dass den Täter eine prima facieVerpflichtung zur Rettung verschiedener Interessen bzw. Güter trifft, die er nur alternativ, nicht aber kumulativ vor drohenden Schädigungen bewahren kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die Konstellation der Pflichtenkollision mit Yamanaka zutreffend auf die Kollision unterschiedlicher Handlungspflichten beschränkt (108) und die Kollision von Handlungspflichten mit Unterlassungspflichten dem Bereich des rechtfertigenden Notstands zuweist. Unter dieser Voraussetzung entspricht jeder der kollidierenden Rettungspflichten eine Gefahr für ein bestimmtes Interesse oder Gut; denn die Pflicht zur Rettung eines Interesses setzt die Existenz einer Gefahr für dieses Interesse logisch voraus. Mehrere Rettungspflichten sind deshalb nur bei Vorliegen mehrerer Gefahren denkbar. Komplementär: In den Fällen des rechtfertigenden Notstands liegt vor dem Eingreifen des (potentiellen) Täters jedenfalls typischer Weise nur eine Gefahr vor.9 Das Interesse, das durch die Notstandshandlung letztlich geschädigt wird, gerät im Allgemeinen erst infolge dieser Notstandshandlung überhaupt in Gefahr. Bricht ein verirrter Wanderer in eine Berghütte ein, um sich vor drohenden Erfrierungen zu schützen, so droht die Gefahr zunächst nur der Gesundheit des Wanderers. Erst die Rettungshandlung schafft eine weitere Gefahr (für das Eigentum und das Hausrecht des Eigentümers der Hütte).

2. Rettungsinteressen und Rechtspositionen Die vorstehend rekonstruierte Analyse Yamanakas macht deutlich, dass im Fall des rechtfertigenden Notstands die Interessenlage nicht nur faktisch, sondern auch normativ anders strukturiert ist als bei der Konstellation der Pflichtenkollision. Bei der Pflichtenkollision geht es aus der Sicht der gefährdeten Personen um Rettungschancen, nicht aber um Rechtspositionen. Dagegen bedeutet die Rettungshandlung im Falle des rechtfertigenden Notstands für den Inhaber des „Eingriffsguts“, dass in seine grundsätzlich geschützte Rechtsposition eingegriffen wird. Der Eigentümer der Hütte hat nicht nur eine „Chance“, dass sein Eigentum respektiert wird, er hat auch nicht nur ein „Interesse“ daran, sondern er hat, jedenfalls grundsätzlich, ein Recht darauf.10 Diese normative Differenz zwischen einem bloßen Interesse (an der Rettung) und einem Recht (auf Respektierung der Integrität von Eigentum, Leben, Gesundheit etc.) ist jedenfalls aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung, in der die Kategorie des subjektiven Rechts eine wichtige Rolle spielt, für die Ausgestaltung der Notstandsregelung von zentraler Bedeutung. Denn sie trägt die im japanischen Strafrecht 9

Anderes gilt in den Fällen der so genannten „Gefahrengemeinschaft“, in denen mehrere Personen gefährdet sind, aber nur einige gerettet werden können. Zu diesen Fällen NK-Neumann (Fn. 3), § 34 Rn. 76 – 78. 10 Näher dazu NK-Neumann (Fn. 3), § 34 Rn. 125.

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nicht explizit formulierte Voraussetzung, dass das Interesse des Gefährdeten (das „Rettungsinteresse“) das Interesse, in das für die Rettungshandlung eingegriffen werden soll (das „Eingriffsinteresse“), wesentlich überwiegt.11 Dagegen geht es im Falle der Pflichtenkollision nicht um einen Widerstreit zwischen bloßen Interessen einerseits und Rechten andererseits. Vielmehr stehen sich hier auf beiden Seiten bloße Rettungsinteressen gegenüber. Das ist der Grund dafür, dass bei der Pflichtenkollision auf das Erfordernis eines wesentlich überwiegenden Interesses verzichtet wird und zur Rechtfertigung bereits ein leichtes Überwiegen der befolgten Pflicht, nach der von Yamanaka geteilten überzeugenden Auffassung12 auch schon die Gleichwertigkeit der kollidierenden Pflichten genügt. 3. Zwischenbilanz Yamanakas Abgrenzungskriterium, ob lediglich eine Gefahr oder aber eine Mehrheit von Gefahren vorliegt, ist demnach grundsätzlich plausibel. Es stimmt insbesondere auch weitgehend mit dem m. E. entscheidenden Gesichtspunkt überein, ob eine Kollision mehrerer Rettungsinteressen oder aber eine Kollision eines Rettungsinteresses mit dem Interesse an der Integrität eines Rechtsguts vorliegt, das die Rechtsordnung dessen Inhaber jedenfalls grundsätzlich garantiert: Einer Mehrheit von Gefahren entspricht eine Mehrheit von Rettungsinteressen. Wenn der potentielle Täter zur Rettung der gefährdeten Interessen verpflichtet ist, ergibt sich korrespondierend eine Mehrheit von Rettungspflichten. Können diese Rettungspflichten nur alternativ, nicht aber kumulativ erfüllt werden, so ist das Institut der Pflichtenkollision einschlägig. Komplementär: liegt vor der Handlung des potentiellen Täters nur eine Gefahr vor, dann ist die Rettungshandlung in den fraglichen Fällen mit einem Eingriff in die Rechtsposition eines Dritten verbunden, die nur über die Regeln des rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt werden kann. Insoweit stimme ich mit Yamanaka völlig überein. Übereinstimmung besteht ferner darin, dass es bei der Pflichtenkollision jedenfalls typischer Weise um eine Kollision von Handlungspflichten geht. Da die Verletzung einer Handlungspflicht strafrechtlich in Unterlassungstatbeständen sanktioniert wird, ist das Institut der Pflichtenkollision damit ausschließlich auf Unterlas-

11

§ 34 dStGB lautet: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Hinsichtlich der Regelung des § 37 des japanischen StGB beziehe ich mich auf Yamanaka S. 111 Fn. 23. 12 Vgl. oben unter II. 1.

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sungsdelikte anwendbar.13 Zur Rechtfertigung von aktiven Eingriffen in Interessen und Rechtspositionen anderer, also im Bereich der Begehungstatbestände, kann allein das Institut des rechtfertigenden Notstands herangezogen werden.

IV. Anwendung des Abgrenzungskriteriums Differenzen ergeben sich dagegen hinsichtlich der Voraussetzungen der Anwendbarkeit der Institute der Pflichtenkollision einerseits, des rechtfertigenden Notstands andererseits im Einzelnen. Hier geht es vor allem um zwei Fragen. Die erste betrifft die Anwendbarkeit des Instituts des rechtfertigenden Notstands auf Unterlassungen (a). Die zweite bezieht sich auf das Problem, ob die Anwendung des Instituts der Pflichtenkollision in jedem Fall eine Kollision zweier rechtlicher Pflichten voraussetzt, oder ob unter bestimmten Voraussetzungen eine Kollision von Rettungsinteressen genügt (b). 1. Anwendbarkeit des Instituts des rechtfertigenden Notstands auf Unterlassungen? Die unterschiedlichen Positionen in der Frage der Anwendbarkeit des rechtfertigenden Notstands auf Unterlassungen betreffen das Problem, ob bei einer Kollision einer Handlungspflicht (Unterlassungsdelikt) mit einer Unterlassungspflicht (Begehungsdelikt) zur Rechtfertigung der tatbestandsmäßigen Unterlassung (Verletzung der Handlungspflicht) auf das Institut des rechtfertigenden Notstands zurückgegriffen werden kann. Nach meiner Auffassung kommt jedenfalls für das deutsche Strafrecht eine Anwendung der Bestimmung über den rechtfertigenden Notstands (§ 34 dStGB) hier nicht in Betracht.14 Yamanaka hält diese Auffassung für unrichtig (S. 120 m. Fn. 60). Das Beispiel, anhand dessen er seine Kritik entfaltet, ist m. E. sehr instruktiv und soll deshalb hier aufgenommen werden. Der von ihm gebildete Fall enthält zwei Varianten. In der ersten Variante geht es darum, dass „der Täter, der die kostbare Kleidung des A getragen hat, in einen Teich hineingesprungen ist, um eine Handtasche des B mit wertvollen Akten, zu deren Aufbewahrung er verpflichtet ist, zu retten“. In der 13

Es ist deshalb folgerichtig, dass in einigen Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des Strafrechts die „Pflichtenkollision“ im Kontext der Erörterung der Unterlassungsdelikte thematisiert wird (vgl. etwa Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. München 2014, § 49 V. 14 NK-Neumann (Anm. 3) § 34 Rn. 126. Ich erörtere an dieser Stelle, auf die Yamanaka sich bezieht, ausschließlich die Konstellation der Kollision einer Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht. Zur Rechtfertigung der Verletzung einer Handlungspflicht (Unterlassungsdelikt) kann aber auch nach meiner Auffassung § 34 dStGB dann herangezogen werden, wenn der Täter seine Pflicht zur Rettung eines Interesses (Garantenpflicht) vernachlässigt, um ein wesentlich wertvolleres Interesse, zu dessen Rettung er nicht verpflichtet ist, zu schützen. Vgl. zu derartigen Fällen etwa Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. München 2012, § 18 Rn. 133.

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komplementären zweiten Variante „ist der Täter nicht in den Teich für die Rettung der Tasche hineingesprungen, weil er die kostbare Kleidung von A schützen musste“ (S. 120). Yamanaka sieht richtig, dass in beiden Fällen vor der fraglichen Handlung des Täters nur eine Gefahr vorliegt (nämlich für das Eigentum an der Handtasche und deren Inhalt) und schließt daraus, nach seinem Abgrenzungskriterium folgerichtig, dass für die Frage der Rechtfertigung des Verhaltens in beiden Varianten auf das Institut des rechtfertigenden Notstands abzustellen sei. Nach dieser Auffassung wären also §§ 34 dStGB, 37 jStGB sowohl auf das Begehungsdelikt in der ersten Fallvariante (Sachbeschädigung an der Kleidung des A durch Springen in den Teich) als auch auf das Unterlassungsdelikt in der zweiten Fallvariante (Sachbeschädigung an der Tasche und deren Inhalt durch Unterlassung der „Rettungshandlung“ in Garantenstellung) verwirklicht. Ich halte das hinsichtlich der Rechtfertigung des Begehungsdelikts in der ersten Fallvariante für zutreffend, hinsichtlich der Rechtfertigung des Unterlassungsdelikts in der zweiten Fallvariante dagegen für unzutreffend. Ich beschränke diese Kritik aber ausdrücklich auf den Versuch, diesen Fall anhand der Notstandsregelung des deutschen Strafrechts (§ 34 dStGB) zu lösen. Warum sich hinsichtlich der Notstandsregelung im japanischen Strafrecht (§ 37 jStGB) möglicherweise etwas anderes ergeben kann, wird bei der nachfolgenden Konkretisierung dieser Kritik deutlich werden. a) Das Problem der asymmetrischen Gewichtung der kollidierenden Interessen in § 34 dStGB Das zentrale Problem einer Anwendung des § 34 dStGB (auch) auf die zweite Fallvariante liegt darin, dass sie zu einem Wertungsdilemma führt, wenn das Interesse des B an der Rettung der Tasche mit den Dokumenten einerseits, das Interesse des A an der Integrität seiner Kleidung andererseits gleichwertig (oder auch nur annähernd gleichwertig) sind. In diesem Falle ist die Beschädigung der Kleidung des A durch den Sprung in den Teich nicht nach § 34 dStGB gerechtfertigt, da es an einem „wesentlichen Überwiegen“ des Interesses fehlt, das durch den Eingriff in das Eigentum des A gerettet werden könnte. Dieses Ergebnis ist nach der Wertung der deutschen Rechtsordnung sachgemäß. Eine solidarische Aufopferung seines Interesses kann von ihm nur dann verlangt werden, wenn es auf der Seite der gefährdeten Person um ein wesentlich überwiegendes Interesse geht.15 Bei dieser Konstellation einer (annähernden) Gleichwertigkeit der beteiligten Interessen wäre aber auch die Unterlassung der Rettung der Dokumente nicht gerechtfertigt, wenn man für die Frage der Rechtfertigung dieser Unterlassung gleichfalls, wie von Yamanaka vorgeschlagen, das Institut des rechtfertigenden Notstands (§ 34 dStGB) heranziehen würde. Denn es fehlt hier auch an einem „wesentlichen Über15

Näher dazu nachstehend unter IV. 1. c).

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wiegen“ des Interesses, dessen Integrität durch die Unterlassung der Rettungshandlung gewahrt wird. Verallgemeinert: Soweit ein Strafrechtssystem, wie das deutsche, als Voraussetzung für eine Rechtfertigung nach Notstandsregeln ein wesentliches Überwiegen (oder auch nur ein schlichtes Überwiegen) des gefährdeten Interesses verlangt, kann man das Institut des rechtfertigenden Notstands nicht zugleich auf die Vornahme und auf die Unterlassung der Rettungshandlung anwenden.16 Tut man das, so resultiert in den Konstellationen einer annähernden Gleichwertigkeit der Interessen, die einander gegenüberstehen, eine Normenfalle: in diesen Fällen wäre weder die Vornahme noch die Unterlassung der Rettungshandlung gerechtfertigt. Der Täter würde damit, gleichgültig, wofür er sich entscheidet, zwangsläufig eine rechtswidrige Handlung begehen. Das wäre in Hinblick auf die rechtsstaatliche Bedeutung des Grundsatzes „impossibilium nulla obligatio est“, den Yamanaka zu Recht verteidigt17, nicht akzeptabel. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei betont, dass die Anwendung des Instituts des rechtfertigenden Notstands auf Unterlassungen auch nach dem deutschen Strafgesetzbuch dann im Ergebnis unschädlich ist, wenn die Voraussetzungen der Notstandsregelung (§ 34 dStGB) vorliegen, also das Interesse, das durch die Rettungshandlung verletzt würde, das gefährdete Interesse wesentlich überwiegt. Handelt es sich im Beispielsfall von Yamanaka etwa einerseits um leicht reproduzierbare Dokumente, andererseits aber um einmalige und äußerst wertvolle historische Kostüme, die für den Venezianischen Karneval ausgeliehen wurden, so könnte man die Unterlassung der Rettung der Dokumente, vom Ergebnis her gesehen, auch über § 34 StGB rechtfertigen. Dass dies methodisch nicht der korrekte Weg ist, beweist aber die oben erörterte Konstellation der (annähernden) Gleichwertigkeit der Interessen. b) Ausschluss eines Rückgriffs auf die „Pflichtenkollision“ Allerdings ist Yamanaka darin Recht zu geben, dass ein Rückgriff auf die „Pflichtenkollision“ in beiden Varianten des Falles nicht in Betracht kommt. Denn das Institut der Pflichtenkollision setzt einen Konflikt zwischen zwei Handlungspflichten bzw. zwei verschiedenen Rettungsinteressen18 voraus, während es in dem von Yamanaka gebildeten Fall in beiden Varianten um eine Kollision einer Handlungspflicht (Rettung der Dokumente) mit einer Unterlassungspflicht (Nichtbeschädigung der Kleider) geht. Die Kollision von Handlungspflichten mit Unterlassungspflichten aber fällt, insoweit besteht Übereinstimmung, grundsätzlich in den Regelungsbe16 Das ist der Grund dafür, dass sich die Problematik im japanischen Strafecht, das in der Notstandsregelung auf die Voraussetzung eines wesentlichen Überwiegens des gefährdeten Interesses verzichtet, möglicherweise anders darstellt. 17 Siehe oben unter II. 1. 18 Dazu, dass die Anwendung des Rechtsinstituts der „Pflichtenkollision“ nicht zwangsläufig eine Kollision mehrerer rechtlicher Pflichten voraussetzt, vgl. nachstehend unter IV. 2.

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reich des rechtfertigenden Notstands. Die Notstandsregelung des § 34 dStGB kommt aber in Bezug auf Begehungstatbestände einerseits, Unterlassungsdelikte andererseits in ganz unterschiedlicher Weise zur Anwendung. c) Zur Struktur der Rechtfertigung der Unterlassung bei einer Kollision der Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht Als Rechtfertigungsgrund auf tatbestandsmäßiges Verhalten anwendbar ist § 34 dStGB nur bei Begehungsdelikten, nicht aber bei Unterlassungsdelikten. Das bedeutet: bei einer Kollision zwischen einer Handlungspflicht (Unterlassungsdelikt) und einer Unterlassungspflicht (Begehungsdelikt) ist nur die Rechtmäßigkeit der Verletzung der Unterlassungspflicht unmittelbar anhand einer Prüfung der Voraussetzungen des § 34 dStGB zu beurteilen. Am Beispiel von Yamanaka: die Beschädigung der Kleider des A ist zur Rettung der Dokumente des B dann gerechtfertigt, wenn das Interesse des B an dem Besitz der Dokumente das Interesse des A an der Unversehrtheit seiner Kleider wesentlich überwiegt. Ob den potentiellen Retter eine prima-facie-Rechtspflicht (Garantenpflicht) zur Rettung der Dokumente trifft, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Befugnis des Täters, in Rechte (Eigentum) des A einzugreifen, kann durch Verpflichtungen, die der Täter gegenüber B hat, nicht erweitert werden. Dass zur Rechtfertigung von Eingriffen in Rechtspositionen Dritter ein wesentliches Überwiegen des Interesses erforderlich ist, das durch diesen Eingriff gerettet werden soll, erklärt sich aus der schon oben19 angedeuteten Wertung, die § 34 dStGB zugrunde liegt. Ein Interesse, das dessen Inhaber von der Rechtsordnung durch ein subjektives Recht oder in Gestalt eines Rechtsguts zuerkannt wird, ist rechtlich in höherem Maße schutzwürdig als die Aussicht des Inhabers eines gefährdeten Interesses auf Rettung dieses Interesses. Diese Wertung basiert auf einem individualistischen rechtsethischen Ansatz, dem zufolge es bei der Notstandsregelung nicht um die Sicherung des maximalen gesellschaftlichen Gesamtnutzens geht, sondern um die Verpflichtung des Inhabers eines Rechtsguts, dieses Rechtsgut unter bestimmten Voraussetzungen zugunsten eines anderen solidarisch zur Verfügung zu stellen. Die Regelung des § 34 StGB basiert also nicht auf dem utilitaristischen Prinzip des maximalen Gesamtbutzens, sondern auf dem Prinzip der Solidarität. Die solidarische Aufopferung eigener rechtlich geschützter Interessen kann aber nur verlangt werden, wenn es für den anderen um die Rettung wesentlich gewichtiger Interessen geht.20 Diese für § 34 dStGB fundamentale Wertung würde in ihr Gegenteil verkehrt, wollte man für die Rechtfertigung der Unterlassung einer prima facie gebotenen Ret19

Unter III. 2. Näher dazu Neumann, Die rechtsethische Begründung des „rechtfertigenden Notstands“ auf der Basis von Utilitarismus, Solidaritätsprinzip und Loyalitätsprinzip, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 – 173. 20

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tungshandlung verlangen, dass das Interesse, in das durch die Rettungshandlung eingegriffen wird, das zu rettende Interesse wesentlich überwiegt. Das aber wäre die unvermeidliche Konsequenz, würde man über die Rechtmäßigkeit des Unterlassens der Rettungshandlung anhand der Notstandsregelung des § 34 dStGB entscheiden. Aus einer solchen Umkehrung der Wertung, die § 34 dStGB zugrunde liegt, resultieren dann die oben21 anhand des Beispiels Yamanakas aufgezeigten Paradoxien. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass als Rechtfertigungsgrund für das Unterlassen einer prima facie gebotenen Rettungshandlung (Unterlassungsdelikt) im Falle der Kollision der Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht (Begehungsdelikt) weder das Institut der Pflichtenkollision noch die Notstandsregelung des § 34 dStGB zur Verfügung steht. d) Rechtfertigung der Unterlassung bei einer Kollision der Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht Damit stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Unterlassung zu entscheiden ist. Hier besteht in der Tat eine dogmatische Grauzone, auf die der Beitrag Yamanakas verdienstvoller Weise aufmerksam macht. aa) Begrenzung der Rettungspflicht durch die Eingriffsbefugnis Ausgangspunkt muss hier der Grundsatz sein, dass Pflichten des Täters (T) zur Rettung von Interessen des B seine Befugnis, in Rechtspositionen des A einzugreifen, nicht erweitern können.22 Dieser Grundsatz ist rechtslogisch begründet. Pflichten des T, die gegenüber B bestehen, betreffen nur das Verhältnis zwischen T und B. Sie können deshalb weder im Verhältnis zwischen T und A noch im Verhältnis zwischen A und B Rechte oder rechtliche Pflichten begründen. Das heißt: aus Rettungspflichten des T gegenüber B ergeben sich weder Eingriffsrechte des T gegenüber B noch komplementäre Duldungspflichten des B. Natürlich kann sich eine Pflicht des A, den Rettungseingriff des T zu dulden, unter anderen Gesichtspunkten ergeben – insbesondere aus einer Rechtspflicht zur Solidarität gegenüber B, wie sie in § 34 dStGB statuiert ist. Die Verpflichtung des T gegenüber B als solche geht aber, nochmals gesagt, nichts an. Das bedeutet: die Solidaritätspflicht des B und ihre Grenzen ergeben sich allein aus der Bestimmung des § 34 dStGB. Da die Eingriffsrechte des T gegenüber B nicht weiter reichen können als dessen Duldungspflichten, werden auch die rechtlichen Möglichkeiten des T zur Rettung von Gütern des B durch die Grenzen der Solidaritätspflicht des A, die sich aus § 34 dStGB ergeben, limitiert. Für das Verfahren zur Prüfung, ob die Unterlassung der Rettung eines gefährdeten Guts des B rechtmäßig ist, wenn die Rettungshandlung in Rechtsgüter des A eingrei21

Oben unter IV. 1. a). Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, 5/301, 305; NK-Neumann (Fn. 3) § 34 Rn. 59, 125. 22

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fen würde, ergibt sich daraus Folgendes. Ist festgestellt, dass den T eine prima-faciePflicht zur Rettung des gefährdeten Guts trifft (etwa aus Garantenstellung oder aus einem Straftatbestand der „Unterlassenen Hilfeleistung“), ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob diese Rettungshandlung als Eingriff in Rechtsgüter des A nach § 34 dStGB gerechtfertigt wäre. Ist das nicht der Fall, so steht dem Gebot, Güter des B zu retten, das Verbot gegenüber, in Rechtspositionen des A einzugreifen. Ob man hier eine tatsächliche oder nur eine scheinbare Kollision der entsprechenden Handlungs- und Unterlassungspflicht des T annimmt, ist eine Frage der normlogischen Rekonstruktion. Man kann eine Kollision bejahen und eine Meta-Regel konstruieren, der zufolge sich das Verbot gegenüber dem Gebot durchsetzt. Man kann ebenso gut eine Kollision mit der Begründung verneinen, Handlungspflichten könnten von vornherein nur im Rahmen von Handlungsrechten (rechtlichen Handlungsbefugnissen) bestehen. Im Ergebnis steht jedenfalls fest, dass die Handlungspflicht durch die nach § 34 dStGB zu bestimmende Handlungsbefugnis begrenzt wird. Wertungsmäßig ergibt sich das aus dem Umstand, dass die Solidaritätspflicht von A gegenüber B bei der Prüfung, ob der Eingriff des T in Rechtspositionen des A nach § 34 dStGB gerechtfertigt ist, bereits umfassend berücksichtigt wurde. Ein Raum für eine weitere „Abwägung“ zwischen der Handlungspflicht und der Unterlassungspflicht des T besteht daher nicht. Yamanaka ist also in gewisser Weise dahingehend zuzustimmen, dass bei einer Kollision zwischen einer Handlungspflicht und einer Unterlassungspflicht immer auf die Bestimmung über den strafrechtlichen Notstand zurückzugreifen ist, gleichgültig, ob es um die Rechtfertigung der Handlung (Begehungsdelikt) oder der Unterlassung (Unterlassungsdelikt) geht. Die Regelung des § 34 dStGB spielt aber bei der Rechtfertigung einer Unterlassung eine ganz andere Rolle als bei der Rechtfertigung eines aktiven Tuns. Zur Rechtfertigung eines aktiven Eingriffs in die Interessen des Opfers der Notstandstat kommt § 34 dStGB unmittelbar zur Anwendung. Zu prüfen ist dabei insbesondere, ob das Interesse an der Rettung des gefährdeten Guts das Interesse des potentiellen Opfers der Notstandstat an der Integrität seiner Güter wesentlich überwiegt. Soweit es um die Rechtfertigung der Unterlassung einer prima facie gebotenen Rettungshandlung geht, ist § 34 dStGB nicht auf diese Unterlassung, sondern hypothetisch auf die Vornahme der prima facie gebotenen Rettungshandlung anzuwenden. Zu prüfen ist also, ob der Eingriff in die Rechte des potentiellen Notstandsopfers, der mit der Rettungshandlung verbunden ist, nach § 34 dStGB gerechtfertigt wäre. Ist dies zu bejahen, dann ist der Täter definitiv zur Rettung des bedrohten Interesses verpflichtet. Andernfalls ist ihm die Ausführung der Rettungshandlung nicht nur nicht geboten, sondern untersagt.

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bb) Der Rechtfertigungsgrund der rechtlichen Unmöglichkeit der Rettungshandlung In der strafrechtlichen Literatur besteht hier im Ergebnis weitgehend Einigkeit.23 Allerdings wird der entscheidende Gesichtspunkt, nämlich: dass eine konkrete rechtliche Handlungspflicht (anders als eine prima facie-Handlungspflicht) nur im Rahmen einer rechtlichen Handlungsbefugnis bestehen kann, nur selten klar herausgearbeitet.24 Noch offen ist auch die dogmatische Einordnung dieses Gesichtspunkts. Man könnte daran denken, die rechtliche Handlungsmöglichkeit der faktischen Handlungsmöglichkeit an die Seite zu stellen, die in der Dogmatik der Unterlassungsdelikte als Element des Tatbestands anerkannt ist25 und sie gleichfalls in der Tatbestandsmäßigkeit zu lokalisieren. Indes würde damit vernachlässigt, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer rechtlichen Handlungsmöglichkeit hier das Ergebnis eines Abwägungsprozesses ist (Frage des „wesentlichen Überwiegens“ des Rettungsinteresses innerhalb des § 34 dStGB), der bei Begehungsdelikten bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Handlung vorgenommen wird. Es scheint mir deshalb vorzugswürdig zu sein, auch die rechtliche Unmöglichkeit der Rettungshandlung auf der Verbrechensstufe der Rechtswidrigkeit zu lokalisieren. Man kann hier von einem Rechtfertigungsgrund der rechtlichen Unmöglichkeit der Vornahme der Rettungshandlung sprechen, der dem Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision als weiterer unterlassungsspezifischer Rechtfertigungsgrund an die Seite zu stellen ist. 2. Notwendigkeit einer Mehrheit rechtlicher Pflichten? Das zentrale Differenzierungskriterium, das Yamanaka zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche des rechtfertigenden Notstands einerseits, der Pflichtenkollision andererseits heranzieht, ist, wie gesehen, das der Singularität bzw. Pluralität der Gefahrensituation. Würde man allein auf dieses Kriterium abstellen, so könnte das Institut der „Pflichtenkollision“ auch dann eingreifen, wenn eine Rechtspflicht nur hinsichtlich der Rettung eines der bedrohten Rechtsgüter vor der drohenden Gefahr besteht. Ich halte das in der Tat für die angemessene Lösung. Sie ergibt sich aus meiner Sicht daraus, dass hinter den „Pflichten“ letztlich Rettungsinteressen stehen, es also bei der so genannten „Pflichtenkollision“ letztlich um die Frage der Vorzugswürdigkeit eines der kollidierenden Rettungsinteressen geht.26 Für die Frage dieser Vorzugswürdigkeit ist aber das Bestehen einer Rettungspflicht nicht präjudiziell. Nach mei23

Vgl. etwa Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, 4. Aufl. München 2006, § 16 Rn. 102 – 104. 24 Vgl. aber etwa Erb in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 2. Aufl. München 2011, § 34 Rn. 38. 25 Vgl. etwa Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. München 2014, § 49 III. 2; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7 Aufl. München 2012, § 18 Rn. 30. 26 Allerdings muss eine Garantenpflicht – anders als die allgemeine Hilfspflicht nach § 323c dStGB – bei der Entscheidung des potentiellen Retters ins Gewicht fallen (näher dazu NK-Neumann [Anm. 3] § 34 Rn. 129).

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ner Auffassung kann deshalb das Institut der „Pflichtenkollision“ gegebenenfalls auch dann eingreifen, wenn der Täter unter Vernachlässigung einer Rettungspflicht anderes ein Rechtsgut, zu dessen Rettung er nicht verpflichtet ist, vor einem drohenden Schaden bewahrt. Ich habe das an dem Beispiel eines als Sanitäter ausgebildeten Passanten (P) exemplifiziert, der Zeuge eines Bootsunglücks wird, in dessen Folge zwei Personen in Lebensgefahr sind: A, der sich ans Ufer retten konnte, bei dem Unglück aber lebensgefährliche Verletzungen erlitten hat, und B, der in den Fluten um sein Leben kämpft und in wenigen Augenblicken zu versinken droht.27 P ist ein schlechter Schwimmer, der sich bei dem Versuch, den B vor dem Ertrinken zu retten, selbst in Lebensgefahr begeben würde. Er ist folglich nach § 323c dStGB28 zwar zur Rettung des A (dessen lebensgefährliche Verletzungen dringend versorgt werden müssen), nicht aber zur Rettung des B verpflichtet. Der Versuch einer Rettung des B ist ihm in Hinblick auf die damit verbundene eigene Lebensgefahr nicht zumutbar. Es sei angenommen, dass in diesem Fall die Lebensgefahr für den vom Ertrinken bedrohten erkennbar akuter ist als die für A und P sich deshalb dafür entscheidet, das eigene Risiko auf sich zu nehmen und den B zu retten. Er hat damit seine allein hinsichtlich des Lebens des A bestehende Rettungspflicht vernachlässigt und eine Rettungshandlung vorgenommen, zu der er rechtlich nicht verpflichtet war. Trotzdem kann im Ergebnis kein Zweifel bestehen, dass P bei der Rettung des akuter bedrohten Lebens des A rechtmäßig gehandelt hat.29 Die Frage ist, wie dieses Ergebnis zu begründen ist. In Betracht kommt eine Lösung über die Pflichtenkollision oder über den rechtfertigenden Notstand. Es ist auf den ersten Blick überraschend, dass Yamanaka sich für eine Lösung über den rechtfertigenden Notstand entscheidet (124), obgleich eine Duplizität von Gefahren vorliegt und damit nach seinem zentralen Abgrenzungskriterium (siehe vorstehend) eigentlich ein Fall der Pflichtenkollision gegeben sein müsste. Yamanaka will aber an der Voraussetzung festhalten, dass tatsächlich eine Kollision zweier rechtlicher Pflichten vorliegt. Da P hier lediglich zur Hilfeleistung für A verpflichtet ist, kommt für ihn folgerichtig nur eine Lösung über den rechtfertigenden Notstand in Betracht.

27

NK-Neumann § 34 Rn. 127. § 323c dStGB lautet: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ 29 Für das japanische Recht, das einen Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (analog § 323c dStGB) nicht kennt, wäre dieses Beispiel dahingehend zu modifizieren, dass auch hinsichtlich des höherwertigen Interesses eine Garantestellung besteht, dem Garanten aber in Hinblick auf Gefahren, die mit der Rettungshandlung für sein eigenes Leben verbunden wären, diese Rettungshandlung nicht zumutbar ist und deshalb im Ergebnis eine Rettungspflicht entfällt. 28

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Aber diese Lösung ist jedenfalls auf der Grundlage der Notstandsregelung des deutschen Strafrechts (§ 34 dStGB) unbefriedigend. Denn falls das Rettungsinteresse des A das Rettungsinteresse des B nur leicht überwiegt, fehlt es an der Voraussetzung des „wesentlichen Überwiegens“ des geretteten Interesses. P hätte mit der Rettung des dringender schutzbedürftigen Rechtsguts also rechtswidrig gehandelt. Dieses Ergebnis wäre nicht akzeptabel. Diese Überlegungen machen nochmals deutlich, dass § 34 dStGB mit der Voraussetzung des „wesentlichen Überwiegens“ des Rettungsinteresses allein auf die Konstellation zugeschnitten ist, dass zur Rettung des gefährdeten Guts ein Eingriff in eine (grundsätzlich) geschützte Rechtsposition des Opfers der Notstandstat erforderlich ist. Geht es dagegen um einen Konflikt zwischen bloßen Rettungsinteressen, dann ermöglicht jedenfalls im Rahmen des deutschen Strafrechtssystems30 allein das Institut der Pflichtenkollision eine angemessene Lösung. Das gilt auch dann, wenn nicht jedem der kollidierenden Rettungsinteressen eine Rettungspflicht des potentiellen Retters korrespondiert.

V. Fazit Das von Yamanaka zur Abgrenzung der Pflichtenkollision vom rechtfertigenden Notstand entwickelte Kriterium der Singularität bzw. Pluralität der Gefahr (der Gefahren) markiert einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich des Anwendungsbereichs der beiden Institute. Es steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Differenz zwischen (bloßen) Rettungsinteressen einerseits, gesicherten Rechtspositionen andererseits, die für das Verständnis und die Interpretation jedenfalls der im deutschen StGB positivierten Notstandsregelung (§ 34 dStGB) maßgeblich ist. Dass man aus meiner Sicht dieses Kriterium in manchen Konstellationen noch strikter anwenden muss als dessen Urheber selbst dies tut, sollte als nachdrückliche Bestätigung seines Ansatzes verstanden werden.

30 Für das japanische Strafrecht mag infolge des oben (Fn. 16) markierten Unterschieds etwas anderes gelten.

Der Gegenstand des Unrechtsbewusstseins Joachim Renzikowski

I. Einleitung Zu den verschiedenen Problemen, die sich bei § 17 StGB stellen, gehört die Frage, worauf sich das Unrechtsbewusstsein bezieht. Einig ist man sich lediglich darüber, dass die Annahme der bloßen Sittenwidrigkeit des Verhaltens nicht ausreicht.1 Rechtsnormen und moralische Normen mögen sich in einem weiten Bereich überschneiden und die Kenntnis der Sittenwidrigkeit des eigenen Tuns mag auch Anlass dazu geben, sich seiner rechtlichen Beurteilung zu vergewissern. Jedoch entscheidet der Gesetzgeber – und nicht das Gewissen – darüber, was rechtlich verbindlich ist. Aus diesem Grund erschöpft sich das Unrechtsbewusstsein auch noch nicht in der Kenntnis der Sozialschädlichkeit des Verhaltens.2 Zwar darf das (Straf-)Recht nur sozialschädliches Verhalten verbieten, aber längst nicht alle sozialschädlichen Verhaltensweisen werden auch vom Recht untersagt. Auch hier trifft allein der Gesetzgeber die verbindliche Auswahl, was verboten und was erlaubt ist.3 Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums stehen diejenigen, die eine Kenntnis der Strafbarkeit oder zumindest das Bewusstsein verlangen, dass das fragliche Verhalten von Rechts wegen sanktioniert ist.4 Unter Berufung auf den Gesetzeswortlaut – § 17 StGB spricht von der „Einsicht, Unrecht zu tun“ – bezieht die herrschende Meinung das Unrechtsbewusstsein auf die materielle Wertordnung des Rechts, d. h. auf die Verletzung einer Rechtsnorm. Dabei soll es weder auf eine genaue Kenntnis der Norm, auf ihre Einordnung als zivilrechtlich, strafrechtlich oder öffentlich-recht1 s. BGHSt 2, 194, 202; BGH, GA 1969, 61; Joecks in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2. Aufl., München 2011, § 17 Rn. 10; Neumann in: Nomos Kommentar zum StGB, 4. Aufl., Baden-Baden 2013, § 17 Rn. 13; Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl., München 2006, § 21 Rn. 12. 2 So aber Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, Mainz 1949, S. 142 ff.; ders., Das Schuldprinzip, 2. Aufl., Heidelberg 1976, S. 130 ff.; Schmidhäuser, Über Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewußtseins, Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1966, S. 317, 329. 3 Joecks (o. Fn. 1), § 17 Rn. 11; Neumann (o. Fn. 1), § 17 Rn. 15. 4 Joecks (o. Fn. 1), § 17 Rn. 16; Neumann (o. Fn. 1), § 17 Rn. 21; Schroeder in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 1, 11. Aufl., Berlin 2003, § 17 Rn. 7; Laubenthal/Baier, Durch die Ausländereigenschaft bedingte Verbotsirrtümer und die Perspektiven europäischer Rechtsvereinheitlichung, GA 2000, 205, 207 f.

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lich, noch gar auf eine korrekte Subsumtion ankommen, solange der Handelnde nur die Bewertung als rechtlich verboten nachvollzogen hat.5 Zugleich aber, und darin liegt ein Widerspruch, soll das Unrechtsbewusstsein dergestalt teilbar sein, dass etwa die Vorstellung, eine Norm A zu verletzen, nicht zugleich Unrechtsbewusstsein im Hinblick auf den Verstoß gegen die Norm B bedeuten soll.6 Wenn es jedoch in BGHSt 10, 35, 39 heißt: „Weder das allgemeine Bewußtsein, etwas Unrechtes zu tun, noch das auf einen anderen Tatbestand bezogene Unrechtsbewußtsein kann den besonderen Schuldvorwurf für den vom Täter verletzten Tatbestand rechtfertigen“, dann bleibt von der vorherrschenden Ansicht nicht viel übrig.7 Im Folgenden soll es weniger um die Auslegung von § 17 StGB gehen, der doch nur eine kontingente Vorschrift ist, sondern um Grundlegendes, nämlich eine normtheoretische Perspektive, ergänzt durch eine Rückbesinnung auf die kantische Rechtslehre.

II. Verhaltensnormen und Sanktionsnormen Die Unterscheidung von primären Verhaltensnormen (z. B.: „Du sollst nicht töten!“), und sekundären Sanktionsnormen (z. B. § 212 Abs. 1 StGB: „Wer einen Menschen tötet, …, wird … mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“) wird gemeinhin auf Binding zurückgeführt, ist jedoch älter und findet sich ausgearbeitet schon bei Bentham.8 Binding begründet diese Unterscheidung folgendermaßen: Es ist unpräzise, das Verbrechen als Bruch des Strafgesetzes zu bezeichnen, da der Verbrecher genau das tut, was das Strafgesetz in seinem Tatbestand beschreibt.9 Das Rechtswidrigkeitsurteil setze daher logisch die Annahme von Rechtsnormen voraus, die dem Strafgesetz vorgelagert und fundamental von ihm verschieden sind. Für Binding folgt daraus: Wer das Wesen des Verbrechens verstehen will, muss sich zunächst mit den Verhaltensnormen und ihrer Übertretung befassen.10 Ähnlich hält Bentham die Verhaltensnorm und die Sanktionsnorm für „two distinct

5 BGHSt 2, 194, 196 f., 202; 10, 35, 41; 45, 97, 101 f.; Fischer, StGB, 62. Aufl., München 2015, § 17 Rn. 3; Roxin (o. Fn. 1), § 21 Rn. 12 f.; Sternberg-Lieben/Schuster in: Schönke/ Schröder, StGB, 29. Aufl., München 2014, § 17 Rn. 5; Vogel in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 1, 12. Aufl., Berlin 2007, § 17 Rn. 19. 6 Roxin (o. Fn. 1), § 21 Rn. 16; Sternberg-Lieben/Schuster (o. Fn. 5), § 17 Rn. 8. 7 So auch Gaede in: Matt/Renzikowski, StGB, München 2013, § 17 Rn. 9: inkonsequent. 8 Näher dazu Renzikowski, Die Unterscheidung zwischen primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, in: Festschrift für Karl-Heinz Gössel, Heidelberg 2002, S. 3, 7 ff. 9 Gerade deshalb ist für Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 116 f. „das Unrecht (Delikt) nicht Negation, sondern Bedingung des Rechts.“ Demnach verstößt der Verbrecher nicht gegen das Recht, sondern er erfüllt es! 10 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Erster Band: Normen und Strafgesetze, Leipzig 1872, S. 4 Fn. 2; s. ferner ders., Handbuch des Strafrechts, Erster Band, Leipzig, 1885, S. 155, 162 ff.

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laws, and not parts of one and the same law“11, obwohl beide Normen regelmäßig in einer Vorschrift zusammenfielen.12 Eine Sanktionsnorm – Bentham bezeichnet sie als „subsidiary law“ – könne nicht verstanden werden, noch wäre sie überhaupt existent ohne eine Verhaltensnorm („principal law“), auf die sie sich bezieht: „the idea of such a law being included in their very essence.“13 Bentham und Binding begründen den Unterschied zwischen den Verhaltens- und den Sanktionsnormen mit verschiedenen Adressaten: Die Verhaltensnormen befehlen dem Bürger, welche Handlungen er unterlassen und welche er vornehmen soll. Dagegen wendet sich bei Bentham der durch die Sanktionsnorm ausgedrückte „command to punish“ an den Richter,14 während Binding den Staat selbst als Adressaten ansieht.15 Den unterschiedlichen Adressaten korrespondiert ein unterschiedlicher Regelungszweck: Verhaltensnormen bringen Gehorsamspflichten des Rechtsunterworfenen gegenüber dem Staat hervor, während Sanktionsnormen das staatliche Recht auf Strafe – häufig als staatlicher Strafanspruch bezeichnet – begründen.16 Für Bentham wie für Binding liegt der entscheidende Gesichtspunkt für die Anerkennung primärer Verhaltensnormen somit im Wesen der Strafe als Unrechtsfolge. Der dualistischen Normentheorie wird vorgeworfen, sie könne die den Sanktionsnormen angeblich vorgelagerten Verhaltensnormen nicht von moralischen oder naturrechtlichen Normen unterscheiden.17 Auf Bentham jedenfalls trifft dieser Vorwurf nicht zu, da nach seiner Ansicht das Strafgesetz nicht nur bestimmte Handlungen verbietet, sondern zugleich eine Strafe für Zuwiderhandeln androht.18 Für Bentham ist gerade dieser Aspekt sehr wichtig. Das Gesetz wäre für sich allein betrachtet, d. h. ohne eine Sanktionsdrohung witzlos: „As an expression of will, it is impotent.“19 Deshalb enthält das Gesetz neben der Verhaltensnorm, gerichtet „more particularly to your understanding“, einen davon unterschiedenen Teil, „serving to make known to you what motive 11 Bentham, Of Laws in General, hrsg. v. H.L.A. Hart, London 1970, S. 139 (XI.12.) im Gegensatz etwa zu Thomas Hobbes, De Cive, 1646, Cap. XIV.6 und 7, in: Malmesburiensis Opera quae latine scripsit omnia, in unum corpus nunc primum collecta studio et labore Gulielmi Molesworth, Vol. II, London 1839, der den Verhaltensbefehl und die Sanktionsdrohung nicht als zwei verschiedene Arten von Gesetzen („duae legum species“), sondern als zwei Teile ein und desselben Gesetzes („ejusdem legis duae partes“) ansieht. 12 Bentham (o. Fn. 11), S. 143 f. (XI.18.). 13 Bentham (o. Fn. 11), S. 142 (XI.16.). Anders als Binding beschränkt Bentham die dualistische Normkonzeption nicht auf das Strafrecht. „Subsidiary laws“ sind für ihn alle „remedial laws“, d.h. Gesetze, die Rechtsfolgen für die Verletzung von Verhaltensnormen vorschreiben. Solche Rechtsfolgen sind nicht nur Strafe, sondern auch Schadensersatz oder Unterlassung (vgl. etwa § 1004 BGB), a.a.O., S. 149 ff. (XII.). 14 Bentham (o. Fn. 11), S. 140 (XI.15). 15 Binding, Normen I (o. Fn. 10), S. 6 ff., 13 ff.; ders., Handbuch (Fn. 10), S. 189 ff. 16 Binding, Handbuch (o. Fn. 12), S. 162 f. 17 Schmid, Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit aus rechtstheoretischer Sicht, Berlin 2002, S, 62 f. 18 Bentham (o. Fn. 12), S. 140 (XI.14.). 19 Bentham (o. Fn. 12), S. 137 (XI.8. und 9.).

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the legislator has furnished you for complying with that inclination“, gerichtet „to your will”.20 Binding dagegen hält die Verknüpfung der Verhaltensnorm mit der Androhung einer Strafe für einen überflüssigen Annex, weil ihn der Adressat selbst weder befolgen noch verletzen kann. Die Verbindlichkeit einer Norm ergebe sich aus sich heraus („Du sollst!“) und müsse von ihrer Wirksamkeit unterschieden werden.21 Dieser Einwand verfehlt jedoch den entscheidenden Punkt. Ob ein Strafgesetz wirksam ist, ist eine empirische Frage, die sich danach richtet, wie viele Normadressaten die Norm verletzen und dann auch bestraft werden. Bentham geht es um etwas anderes, nämlich um die Verdeutlichung der Wirkungsweise von Recht. Recht reagiert auf Konflikte. Dort, wo sich alle bereits aus moralischen Gründen richtig verhalten, sind Rechtsnormen überflüssig. Die Menschen guten Willens benötigen kein staatliches Recht.22 Rechtsnormen entfalten ihre Wirkung erst da, wo moralische Überzeugungen brüchig geworden sind oder wo die Versuchung zum Normbruch überhand zu nehmen droht. Hier versucht das Recht, durch die Androhung einer Sanktion ein wirksames Gegengewicht zu der Motivation des Adressaten zu setzen. Kurz: Rechtsnormen werden als Rechtsnormen befolgt, um unliebsame Rechtsfolgen zu vermeiden. Insofern kann man Bentham durchaus als einen Vorläufer von Feuerbachs Lehre vom psychischen Zwang verstehen.

III. Die Garantie der äußeren Freiheit durch Rechtszwang im Rechtsstaat (1) Nach Kant besteht die Aufgabe eines Rechtsstaats darin, die Freiheit der Bürger „von eines anderen nötigender Willkür“23 mit den Mitteln des Rechts zu garantieren. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“24

„Der rechtliche Zustand“ – also die rechtsstaatlich verfasste bürgerliche Gesellschaft – „ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaft werden kann.“25 Ganz im Sinne der klassischen Gesellschaftsvertragstheorien wird auch bei Kant jeder Einzelne durch die Vernunft verpflichtet, sich vom Naturzustand, d. h. einem 20

Bentham (o. Fn. 12), S. 134, 144 (XI.4., 18. und 19.). Binding, Normen I (o. Fn. 10), S. 26 ff.; ders., Handbuch (o. Fn. 10), S. 160 f. 22 Augustinus, De libero arbitrio, I.15, 31. 23 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung, Band 6, Berlin 1907, S. 203, 237. 24 Kant (o. Fn. 23), S. 230. 25 Kant (o. Fn. 23), S. 305 f. (Hervorh. von mir). 21

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Zustand ohne jegliche rechtliche Ordnung, in den rechtlichen Zustand, d. h. den Staat, zu begeben, weil er anderweitig nicht sicher ist.26 Denn man kann sich gerade nicht darauf verlassen, dass andere nur von sich aus guter Gesinnung meine Freiheitssphäre respektieren. Der Staat garantiert die Freiheit der Bürger durch das Recht, und zwar auf eine spezifische Weise. Zunächst betrifft das Recht nur das äußere Mein und Dein. Ein böser Wille als solcher ist zwar ein Verstoß gegen ein moralisches Gesetz, die persönliche Freiheit einer anderen Person ist dadurch noch nicht betroffen. Schon aus diesem Grund gibt es keinen Anlass, innere Handlungen zu verbieten. Auch lassen sich mentale Ereignisse zwar analysieren, aber nicht in ihrer Existenz überprüfen.27 Deshalb gilt: „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann.“28

Da die Motive der Rechtsadressaten nicht zum Gegenstand des Rechts gehören, bleibt als einziges Mittel zur Beeinflussung des Verhaltens der Zwang: „Ein striktes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen. Dieses gründet sich zwar auf das Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür danach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Prinzip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann.“29

Es entspräche zwar der Vernunft, wenn sich jeder für die Befolgung der moralischen Pflichten entscheiden würde, und der Mensch hat gerade auch die Möglichkeit dazu, denn im Unterschied zur tierischen Willkür, „welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar ist“, wird die menschliche Willkür zwar dadurch beeinflusst, aber eben nicht bestimmt, sondern sie kann „zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden“.30

26

Vgl. Kant (o. Fn. 23), S. 307: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande [= das Recht, etwas als das Meinige zu haben, J.R.] geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen, aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit übergehen.“ 27 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), in: Kants gesammelte Schriften, Band 3, Berlin 1911, B 373 Fußnote: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden.“ 28 Kant (o. Fn. 23), S. 219. 29 Kant (o. Fn. 23), S. 232. 30 Kant (o. Fn. 23), S. 213.

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„Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe … [sowie] das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“31

Nur aus diesem Grund ist die Rede von Normen und Pflichten überhaupt logisch möglich, denn die freie Willkür kann sich auch nach moralischen Gesetzen bestimmen.32 Wenn sich aber jemand nicht nach moralischen Gesetzen richtet, sondern seinen Neigungen folgt – Kant nennt diesen Bestimmungsgrund der Willkür „pathologisch“33 –, bleibt keine Alternative als ihm einen Nachteil anzudrohen, „weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll“.34 (2) Aufbauend auf diesen Prämissen der kantischen Rechtslehre hat Feuerbach seine Lehre vom psychologischen Zwang entwickelt.35 Die einschlägigen Passagen aus seinem Lehrbuch verdienen es, hier im Zusammenhang wiedergegeben zu werden. „§ 8. Die Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Garantie der wechselseitigen Freiheit Aller, begründet die bürgerliche Gesellschaft. Eine durch Unterwerfung unter einen gemeinschaftlichen Willen und durch Verfassung organisierte bürgerliche Gesellschaft, ist ein Staat. Sein Zweck ist die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d. h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts. – § 9. Rechtsverletzungen jeder Art widersprechen dem Staatszwecke (§ 8) … Der Staat ist also berechtigt und verbunden, Anstalten zu treffen, wodurch Rechtsverletzungen überhaupt unmöglich gemacht werden. – § 10: Die geforderten Anstalten des Staats müssen nothwendig Zwangsanstalten sein. Dahin gehört zunächst der physische Zwang des Staats, der auf doppelte Art Rechtsverletzungen aufhebt, I. zuvorkommend, indem er eine noch nicht vollendete Beleidigung verhindert, … II. der Beleidigung nachfolgend. – § 11. Physischer Zwang reicht aber nicht hin zur Verhinderung der Rechtsverletzungen überhaupt … weil [er] … von der ganz zufälligen Erkenntnis der bevorstehenden Verletzung abhängt, … – § 12. Sollen daher Rechtsverletzungen überhaupt verhindert werden, so muss neben dem physischen Zwange noch ein anderer bestehen, welcher der Vollendung der Rechtsverletzung vorhergeht, und, vom Staate ausgehend, in jedem einzelnen Falle in Wirksamkeit tritt, ohne dass dazu die Erkenntnis der jetzt bevorstehenden Verletzung vorausgesetzt wird. Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer sein.“36

Diese Passage erklärt sich weitgehend selbst. Da polizeiliche Gefahrenabwehr oder Notwehr nicht immer möglich sind und da die Bestrafung des Täters erst nach der Tat, also zu spät kommt, muss die Rechtsordnung auf eine andere Weise

31

Kant (o. Fn. 23), S. 213 f. Kant (o. Fn. 23), S. 214. 33 Kant (o. Fn. 23), S. 219. 34 Ibid. 35 Ausführlich ausgearbeitet in Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts. Erster Theil, Erfurt 1799, S. 43 ff. 36 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl., hrsg. v. Mittermaier, Gießen 1847, S. 36 ff. 32

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versuchen, Rechtsbrüche zu verhindern. Deshalb drohen Strafgesetze Strafen an.37 Dazu Feuerbach: „§ 13. Alle Uebertretungen haben ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit, inwiefern das Begehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb kann dadurch aufgehoben werden, dass Jeder weiss, auf seine That werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches grösser ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur Tat entspringt. – § 14. Damit nun die allgemeine Ueberzeugung von der nothwendigen Verhinderung solcher Uebel mit Beleidigungen begründet werde, so muss I. ein Gesetz dieselben als nothwendige Folge der That bestimmen (gesetzliche Drohung). Und damit die Realität jenes gesetzlich bestimmten idealen Zusammenhanges in der Vorstellung Aller begründet werde, muss II. jener ursachliche Zusammenhang auch in der Wirklichkeit erscheinen, mithin, sobald die Uebertretung geschehen ist, das in dem Gesetze damit verbundene Uebel zugefügt werden (Vollstreckung, Execution). Die zusammenstimmende Wirksamkeit der vollstreckenden und gesetzgebenden Macht zu dem Zwecke der Abschreckung bildet den psychologischen Zwang.“38

Feuerbach ist keineswegs so naiv, sich mit der sog. „Androhungsprävention“ zu begnügen, sondern er weiß: Ein Gesetz, das nicht angewendet wird, nimmt niemand ernst. Zum Strafgesetz gehört daher untrennbar das Legalitätsprinzip dazu. Insofern wird dann auch durch das Verbrechen „das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person … gefährdet“39, weil etwa der Dieb „aller anderer Eigentum unsicher“ macht.40 Der Straftäter testet gewissermaßen das Strafgesetz aus. Wenn der Staat nicht darauf reagiert, wie er es zuvor im Strafgesetz angekündigt hat, setzt er den rechtlichen Zustand und damit die Rechte der Bürger aufs Spiel. Psychischen Zwang kann aber nur ein Gesetz entfalten, dass dem Normadressaten bekannt ist. Darauf stützt Feuerbach nicht nur den Grundsatz „nulla poena sine lege“41, sondern auch die Zurechnung setzt die Kenntnis der Strafbarkeit voraus:

37 Bemerkenswerterweise verfährt die übliche Strafzweckdiskussion umgekehrt, indem sie zuerst die Frage aufwirft, ob und warum man bestrafen darf, und daraus die Legitimation der Androhung von Strafe ableitet – die doch sub specie Rechtsgüterschutz immer zu spät kommt. S. dazu Altenhain, Das Anschlußdelikt, Tübingen 2002, S. 326 ff. 38 Feuerbach, Lehrbuch (o. Fn. 36), S. 38. Wer weiter liest (insbes. die §§ 16 bis 18), könnte dann auch unschwer feststellen, dass Feuerbach keineswegs als Vertreter einer relativen Straftheorie der absoluten Straftheorie Kants gegenübergestellt werden kann, wie etwa bei Roxin (o. Fn. 1), § 3 Rn. 3 und 22. Vielmehr unterscheidet sich sein Strafbegriff nur in Nuancen vom kantischen, was hier aber nicht mehr ausgeführt werden kann. S. dazu demnächst Renzikowski, Strafe und Strafrecht bei Kant, in: Günther/von Hirsch/Neumann (Hrsg.), Retributive Elemente in der Straftheorie: Die Rolle der Begriffe Vergeltung und Tadel, erscheint 2016. 39 Kant (o. Fn. 23), S. 331. 40 Kant (o. Fn. 23), S. 333 – indem er sich selbst vom Recht dispensiert (s. die Fußnote zu Anmerkung A zu § 49 auf S. 321). 41 Feuerbach, Lehrbuch (o. Fn. 36), S. 41 (§ 20); krit. dazu Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 253 ff.

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„§ 85. Zum Wesen der Zurechnung wird demnach erfordert, … II. dass die (negative oder positive) Willensbestimmung, welche Ursache des Verbrechens ist, auch innerlich, d.i. im Gemüthe des Handelnden, dem Strafgesetze widerspreche, indem derselbe a. mit dem Verbrechen und deren bürgerlicher Strafbarkeit bekannt …“42

Kenntnis der Strafbarkeit ist „die Vorstellung des Gesetzes und die Beurtheilung der Handlung nach dem Gesetze und nach ihren Folgen“.43 (3) Diese Argumentation hat vielfach Kritik erfahren. Im Folgenden sollen vor allem drei Einwände näher betrachtet werden. Schon seine Zeitgenossen haben Feuerbach vorgehalten, seine Abschreckungslehre nehme „keine Rücksicht auf die innere Gerechtigkeit der Strafdrohung“, sondern es müsse „jedes Mittel für gerechtfertigt angesehen werden, welches zur Erreichung des Abschreckungszweckes dient.“44 Abschreckung kennt demnach kein Maß. Die Warnung ist angesichts der ebenso verbreiteten wie phantasielosen Neigung der Kriminalpolitik zu härteren Strafen nicht unberechtigt, schlägt aber letztlich nicht durch. In einem Rechtsstaat, von dem auch Feuerbach ausgeht, steht Abschreckung nicht für sich, sondern sie kann nur als rechtlich geordnete Abschreckung vorgestellt werden. „So hat der Beleidiger und der verworfenste Bösewicht noch Rechte, wenigstens das Recht, nur nach den Gesetzen der Gerechtigkeit gezwungen zu werden.“45

Mit Recht hat es nichts zu tun, an einem anderen bloß ein Exempel zu statuieren. Strafe muss sich daher als angemessene Reaktion auf die Straftat erweisen. Das gilt sowohl gegenüber dem Täter wie gegenüber der Allgemeinheit, so dass ein gewisses Verhältnis zwischen der Straftat und dem angedrohten Übel vorausgesetzt werden muss.46 Dass sich dieses Maß nicht aus dem Abschreckungsgedanken ergibt, sondern weitere Überlegungen erfordert, ist kein durchschlagender Einwand gegen Feuerbachs Lehre. Gewichtiger ist ein zweiter Einwand, der die Grundlage Feuerbachs Lehre vom psychologischen Zwang berührt. So lege Feuerbach das Bild eines rationalen Normadressaten zugrunde, der Lust und Unlust miteinander abwäge. Nach dieser Deutung erscheint Feuerbach als ein früher Vorläufer des rational-choice-Ansatzes, wie er in der ökonomischen Analyse des Rechts auch zur Erklärung von Strafrecht vertreten

42 Feuerbach, Lehrbuch (o. Fn. 36), S. 155 f.; ebenso bereits ders., Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts. Zweiter Theil, Chemnitz 1800, S. 44: „Vorstellung von dem Gesetz von der Verbindlichkeit, die Handlung zu unterlassen und von der Strafe als Bestimmungsgrund der Unterlassung“. 43 Feuerbach, Lehrbuch (o. Fn. 36), S. 163 (§ 90). 44 Mittermaier in: Feuerbach, Lehrbuch (o. Fn. 36), S. 42 (§ 20a); s. ferner Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechtes, Leipzig 1857, S. 11; Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, Tübingen 1845, S. 141; aktueller etwa Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Berlin/New York 1991, 1/30; Roxin (o. Fn. 1), § 3 Rn. 32. 45 Feuerbach, Revision I, (o. Fn. 35), S. 93. 46 Vgl. Altenhain (o. Fn. 37), S. 331; Greco (o. Fn. 41), S. 385 ff.

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wird.47 Aber tatsächlich handle kaum ein Straftäter überlegt.48 Beispiele wären etwa Täter, die sich spontan zur Tat entscheiden oder die Tat im Affekt begehen. Indes geht Feuerbach selbst nicht von der ihm unterstellten Annahme aus. „Die wenigsten Verbrecher handeln aus Ueberlegung und nach vorgängiger Abwägung der Gründe für und gegen den Entschluß zur That.“49 Der rationale Normadressat wird vom Strafgesetz schon deshalb nicht adressiert, weil er bei einer vernunftgemäßen Entscheidung die Norm nicht bricht. Da Egoismus auf Kosten anderer nicht verallgemeinerungsfähig ist, ist er auch nicht vernünftig nach dem Verständnis Kants oder Feuerbachs. Es entspricht der schlichten, alltäglichen Vorstellung, dass die angekündigte Aussicht auf die negativen Folgen einer bestimmten Handlung den Adressaten dahingehend beeinflussen könnte, die fragliche Handlung zu unterlassen. Von keinem Gesetz kann mehr erwartet werden, als einen weiteren Grund neben anderen sinnlichen Beweggründen zu liefern.50 Dass dieser Appell an die Klugheit versagt, wenn jemand sich bewusst unter Inkaufnahme der Bestrafung gegen das Recht entscheidet, ist kein Argument gegen Feuerbach, sondern das Schicksal jeder Rechtsnorm. Es kann daher zugestanden werden, dass weniger die Furcht vor Strafe als die ethischen Überzeugungen der Bevölkerung die meisten davon abhalten, Straftaten zu begehen. Insofern gilt auch hier das berühmte Diktum von Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“51 Das spricht allerdings nicht gegen die Konzeption Feuerbachs. Darin liegt gerade das liberale Anliegen bei Kant und Feuerbach, dass das Recht darauf verzichtet, die Bürger durch Strafe moralisch zu lenken.52 Es kommt nicht darauf an, was der Bürger denkt, solange er nur entsprechend den Maßstäben des Rechts handelt. Daher kommt es auch nicht auf die positive Einstellung des Bürgers zum Gesetz an, sondern das Recht bleibt äußerlich. „Durch Gewalt und Zwang können diese bürgerlichen Gesinnungen [d. h., das Nicht-Haben von rechtswidrigen Neigungen, J.R.] nicht gegeben werden, dies ist nur durch Anstalten möglich, durch welche der Bürger zu diesen Gesinnungen erzogen wird.“53 47 s. etwa Gary S. Becker, Crime and Punishment: An Economic Approach, Journal of Political Economy 76 (1968), S. 169 ff. 48 So bereits Berner (o. Fn. 44), S. 11; ebenso Jakobs (o. Fn. 44), 1/28; Lüderssen, Die generalpräventive Funktion des Deliktssystems, in: Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Hauptprobleme der Generalprävention, Frankfurt am Main 1979, S. 54, 70: naiv; Kuhlen, Anmerkungen zur positiven Generalprävention, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, Heidelberg 1998, S. 55, 62; Roxin (o. Fn. 1), § 3 Rn. 25. Kritik an dieser Deutung Feuerbachs bei Greco (o. Fn. 41), S. 95 ff. 49 Feuerbach, Revision II (o. Fn. 42), S. 319. 50 Für einen „funktionalen Abschreckungsbegriff“ in diesem Sinne Greco (o. Fn. 41), S. 358 ff. 51 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 60. 52 s. bereits Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen 1965, S. 240. 53 Feuerbach, Revision I (o. Fn. 35), S. 41.

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Der Rechtsstaat ist aber keine große Erziehungsanstalt, sondern seine Aufgabe beschränkt sich auf die Garantie des Zusammenlebens seiner Bürger in Freiheit nach Gesetzen. Der Vorwurf, Feuerbach „hat den Menschen zum Objekt gemacht“54, trifft nicht zu; das Gegenteil ist richtig. Der vorherrschenden Ansicht ist vorzuwerfen, dass sie dem Täter als Schuld vorwirft, dass er die Rechtsnorm nicht zum Beweggrund seines Handelns gemacht hat. Sie fordert nämlich nur, dass die Maßstäbe, nach denen der Täter sein Verhalten messen soll, rechtliche und nicht lediglich moralische Maßstäbe sind. Von den verschiedenen Rechtsfolgen wird ausdrücklich abgesehen. Auf diese Weise aber werden zwei verschiedene Kategorien miteinander vermengt. Die Bestimmung seines Verhaltens nach der Pflicht betrifft die Moralität der fraglichen Handlung55, während es doch um (straf)rechtliche Schuld geht. Weiterhin verwickelt man sich in einen Widerspruch, soweit das Gesetzlichkeitsprinzip (auch) aus dem Schuldprinzip abgeleitet wird.56

IV. Schluss Über die praktische Bedeutung der vorstehenden Überlegungen kann man streiten. Immerhin eröffnet § 17 S. 2 StGB für den vermeidbaren Verbotsirrtum eine Strafmilderung. Gerade im unübersichtlichen Nebenstrafrecht kommt es zudem nicht selten vor, dass die Sanktionsdrohung unbekannt ist. Das entscheidende Problem liegt aber woanders, in der rückwirkenden Bestrafung von schweren Menschenrechtsverletzungen. Mala in se, die im Gegensatz zu den nur aufgrund staatlicher Positivierung strafbaren delicta mere prohibita schon immer und zu aller Zeit Verbrechen darstellten, müssen als sanktionierte Straftaten erwiesen werden. Es genügt nicht, wie man es sich etwa im Mittelalter vorgestellt hat, dass das staatliche Strafgesetz lediglich als Eingriffsermächtigung fungiert, da ja immer und zumindest das jenseitige Strafgericht droht. Vielmehr benötigt man eine vernunftrechtliche Be54 So Hassemer, Variationen der positiven Generalprävention, in: Schünemann/von Hirsch/ Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, Heidelberg 1998, S. 29, 34. 55 Kant (o. Fn. 23), S. 219: Die Gesetzgebung, „welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zulässt, ist juridisch“. Ebenso Feuerbach, Revision I (o. Fn. 35), S. 27: „Eine Rechtsverletzung wird nemlich blos als Rechtsverletzung betrachtet, wenn bei ihr nur auf die äussere Handlung und auf den Widerspruch derselben mit dem (blos auf äussere Handlungen sich beziehenden) Gesetze der Gereechtigkeit gesehen wird; sie wird als Immoralität betrachtet, wenn bei ihr nicht blos auf das äussere der That, sondern auch auf die Gesinnung der Person, aus welcher sie entsprungen ist, … gesehen wird.“ 56 So etwa Roxin (o. Fn. 1), § 5 Rn. 24; s. auch EGMR (Große Kammer) v. 22. 3. 2001 – 34044/96, 35532/97 und 44801/98 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), §§ 50, 77 – 89 = EuGRZ 2001, 210, 212, 214 f.; gegen eine Begründung des Rückwirkungsverbots mit dem Schuldprinzip Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes nulla poena sine lege, ZStW 76 (1964), S. 1, 11 ff.; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, Tübingen 1993, S. 257 f.

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gründung, die auch die Strafdrohung, wenn auch nicht ein bestimmtes Maß der Strafe, nachweisen muss. Ansonsten könnte man dem Täter lediglich moralische Schuld vorwerfen. Das aber ist ein anderes Thema.57

57 s. dazu Renzikowski, Mala per se et delicta mere prohibita – rechtsphilosophische Bemerkungen zum Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK), Festschrift für Volker Krey, Stuttgart 2010, S. 407 ff., wo ich die letztere Schwierigkeit etwas unterschätzt habe.

Ratenweiser Giftmord mit vorzeitigem Todeseintritt Kurt Schmoller Kaum ein anderer japanischer Strafrechtswissenschaftler ist in Österreich so bekannt wie Keiichi Yamanaka. Mit ihm verbindet mich eine nun schon über 20-jährige Freundschaft. Bei mehreren Besuchen in Salzburg, unter anderem im Rahmen des japanisch-österreichischen Strafrechtskolloquiums 1999 und zuletzt im Jahr 2015, hat er mit seinen Vorträgen stets begeistert. Meinen Gastaufenthalt bei Keiichi Yamanaka an der Kansai Universität in Osaka im Jahr 2001 werde ich stets in großartiger Erinnerung behalten. Verbunden mit den besten Glückwünschen würde ich mich freuen, wenn die nachfolgenden Überlegungen auf das Interesse des Jubilars stoßen!

I. Problemstellung 1. Ausgangsfall Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein vergleichsweise einfach gelagerter Sachverhalt, wie er zwar gewiss nicht täglich vorkommt, aber doch realitätsnah erscheint und jederzeit die Strafgerichte beschäftigen könnte: A beabsichtigt, den B dadurch zu töten, dass er dessen Essen täglich etwas Gift beimengt, bis die Vergiftung letztlich in Summe ein tödliches Ausmaß erreicht. Nach zehn Tagen Giftbeigabe meint A, noch deutlich von einer tödlichen Wirkung entfernt zu sein, und ist überzeugt, die tägliche Giftbeigabe für eine Tötung noch mindestens doppelt so lang fortsetzen zu müssen. In Wahrheit wirkt das Gift stärker, sodass die tödliche Dosis bereits am zehnten Tag erreicht ist und B stirbt.1 Die entscheidende Frage geht dahin, ob A den B „vorsätzlich getötet“ hat, also wegen eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikts zu bestrafen ist. Der Einfachheit halber wird im Folgenden das in Frage stehende vorsätzliche Tötungsdelikt als „Mord“ bzw. „Giftmord“ bezeichnet. Dabei wird nicht übersehen, dass im deutschsprachigen Raum nur das österreichische (und ihm folgend das liechtensteinische) Recht den allgemeinen Fall einer vorsätzlichen Tötung als „Mord“ einordnet (§ 75 öStGB/liechtStGB). Demgegenüber wird der Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung in Deutschland als „Totschlag“ (§ 112 dStGB), in der Schweiz 1 Der Ausgangsfall ist angelehnt an Keiichi Yamanaka, Der „vorzeitige Erfolgseintritt“ in der japanischen Judikatur und Wissenschaft, in: Otto-FS (2007) 489 (490) = in: Yamanaka, Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft (2012) 187 (188).

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schlicht als „vorsätzliche Tötung“ (Art. 111 schwStGB) bezeichnet, während unter „Mord“ jeweils ein durch zusätzliche „Mordmerkmale“ qualifizierter, besonders schwerwiegender Fall der vorsätzlichen Tötung verstanden wird. Da allerdings im geschilderten Fall einer ratenweisen Giftbeimengung in das Essen ohnehin auch nach deutschem oder schweizerischem Recht regelmäßig ein „Mord“ vorliegen wird,2 erscheint es vertretbar, auch für Deutschland und die Schweiz vereinfachend die Frage zu formulieren, ob A den B „ermordet“ hat, ohne dass auf allfällige Mordmerkmale weiter eingegangen wird. 2. Erscheinungsbild: „gelungener Giftmord“ Auf den ersten Blick entspricht der geschilderte Ausgangsfall dem Erscheinungsbild eines gelungenen Giftmords: Der Täter hat dem Opfer in Mordabsicht Gift verabreicht; am verabreichten Gift ist das Opfer gestorben. Wenn das mit Tötungsvorsatz verabreichte Gift zum Tod des Opfers geführt hat, liegt nahe, dass der vom Täter begangene Giftmord erfolgreich war. Demgegenüber erschiene die Aussage, der Täter habe einen Giftmord „nicht einmal versucht“, angesichts des tatsächlich eingetretenen Vergiftungstodes zumindest überraschend. Ebenso lässt sich im geschilderten Fall schwer von einem „Misslingen“ des Mordversuchs sprechen; denn der beabsichtigte Mord erscheint im Gegenteil – sogar schneller als erwartet – „gelungen“. Im Ergebnis spricht dies im Ausgangsfall für die Beurteilung als gelungener (vollendeter) Giftmord. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist diese Beurteilung aber nicht selbstverständlich, sondern bedarf einer näheren Erörterung. 3. Zugrunde liegende Probleme Die dogmatische Krux der beschriebenen Fallkonstellation besteht darin, dass in ihr zwei strafrechtliche Probleme verwoben sind, die jedes für sich möglicherweise einer Beurteilung als vollendeter Giftmord entgegenstehen. Gerade aus dem Zusammentreffen beider Probleme in einer Fallkonstellation ergeben sich aber zusätzliche Anhaltspunkte für die rechtliche Lösung. Die erste Problematik resultiert aus dem – verglichen mit dem Täterplan – vorzeitigen Eintritt des Todes, also daraus, dass eine geringere als die vom Täter angenommene Giftdosis für die Tötung ausgereicht hat. Verallgemeinert stellt sich die Frage, ob ein Mord auch dann vollendet ist, wenn das auf Tötung gerichtete Handeln schon zum Tod führt, bevor es der Täter soweit fortgeführt hat, dass er mit der tödlichen Wirkung rechnete. Diesbezüglich ist zwar anerkannt, dass ein im Vorbereitungsstadium vorzeitig eintretender Erfolg keine Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts aus2 In der Regel werden die Mordmerkmale „heimtückisch“ im Sinn des § 211 dStGB bzw. „die Art der Ausführung besonders verwerflich“ im Sinn des Art. 112 schwStGB vorliegen.

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löst:3 Wenn A zum Zweck der späteren Ermordung des B seine Schusswaffe reinigt und bereits dabei versehentlich einen für B tödlichen Schuss auslöst, kommt allenfalls eine fahrlässige Tötung in Betracht. Gleiches gilt, wenn A Gift besorgt, um dieses bei Gelegenheit ins Essen des B zu mengen, dann aber B das unsorgfältig aufbewahrte Gift mit Zucker verwechselt und versehentlich selbst zu sich nimmt. Wie ist aber der Fall zu beurteilen, in dem nach Erreichen des Versuchsstadiums, aber bevor der Täter damit rechnet, die tatbestandsmäßige Folge eintritt?4 Die zweite Problematik des Ausgangsfalls besteht darin, dass angesichts der ratenweisen Begehung des Giftmords gar nicht gesichert ist, ob zum Zeitpunkt des vorzeitigen Todes das Stadium des Mordversuchs überhaupt erreicht worden ist. Denn wenn die Vorstellung des Täters dahin ging, dass die bisher verabreichte Giftmenge noch nicht tödlich wirken könne, glaubte er während seines gesamten Verhaltens, dass die letztlich tödliche Handlung (jene Giftbeigabe, mit der schließlich die tödliche Dosis erreicht wird) erst in – nicht unmittelbar bevorstehender – Zukunft erfolge.5 Insgesamt hängt im Ausgangsfall somit die Frage, ob A den B ermordet hat, von zwei Komponenten ab: • Ist bei einem ratenweisen Giftmord schon ab der ersten Rate der Giftbeigabe (auch wenn der Täter die bisherige Giftmenge nicht für tödlich hält) ein Mordversuch zu bejahen? • Wird ein solcher Mordversuch dann zum vollendeten Mord, wenn schon nach einigen Raten der Giftbeigabe (vom Täter noch nicht erwartet, weil er die Wirkung des Gifts unterschätzt hat) der Tod des Opfers eintritt?

II. Erfolgseintritt vor Beendigung des Versuchs 1. Phänomen des unbeendeten Versuchs Die erste Problematik des „vorzeitigen Erfolgseintritts“ kann allgemein im Stadium des „unbeendeten Versuchs“ auftreten. Beendet ist ein Versuch, sobald der Täter seine Ausführungshandlung abgeschlossen hat, also in ein Stadium gelangt ist, in dem er davon ausging, dass die Tatbestandsverwirklichung nunmehr ohne sein weiteres Zutun eintreten werde. Dies ist etwa der Fall, wenn er das Messer in den Hals des Opfers gerammt oder den Abzug der Schusswaffe betätigt hat, ebenso wenn er jene Drohung ausgesprochen hat, die nach seiner Vorstellung ausreichen sollte, um das Opfer zu nötigen, oder wenn er jene Täuschungshandlung gesetzt hat, von der er annahm, sie würde das Opfer zur vermögensschädigenden Verfügung 3

Dazu unten bei Fn. 28. Dazu unten II. 5 Dazu unten III. 4

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veranlassen. Dagegen ist der Täter beim unbeendeten Versuch zwar schon ins (strafbare) Versuchsstadium eingetreten, er hat sein Verhalten aber noch nicht bis zum beendeten Versuch fortgesetzt. Diese Konstellation kann sich zum einen aus einer längeren Dauer der Ausführungshandlung ergeben, wenn der Täter mit dieser bereits begonnen, sie aber noch nicht abgeschlossen hat. Geht der Täter etwa davon aus, dass er das Opfer bis zu dessen Tod mehrere Minuten lang würgen müsse, ist mit dem Beginn des Würgens die Ausführungshandlung zwar begonnen, aber – weil sie auf mehrere Minuten angelegt ist – noch nicht beendet. Zum anderen kann ein unbeendeter Versuch auch vorliegen, wenn mit der Ausführungshandlung noch gar nicht begonnen wurde. Denn das Stadium des Versuchs beginnt nach allgemeiner Ansicht schon im (unmittelbaren) Vorfeld der Ausführungshandlung. Am deutlichsten kommt dies im österreichischen Gesetzestext zum Ausdruck, weil der Versuchsbeginn dahin gehend umschrieben wird, dass der Täter seinen Tatentschluss „durch eine der Ausführung unmittelbar vorangehende Handlung betätigt“ (§ 15 Abs. 2 öStGB).6 In beiden Konstellationen des unbeendeten Versuchs kann es zu einem vorzeitigen Erfolgseintritt kommen. Zum einen kann eine schon begonnene Ausführungshandlung vor ihrem Abschluss zum Erfolg führen. Beispielsweise glaubt ein Täter, das Opfer zur Tötung mehrere Minuten lang würgen zu müssen, dieses verstirbt aber schon nach kurzem Würgen. Oder der Täter geht davon aus, für eine Nötigung massive und mehrfache Drohungen aussprechen zu müssen, das Opfer setzt jedoch das gewünschte Verhalten schon nach der ersten Drohung. Zum anderen ist es möglich, dass bereits die der Ausführung unmittelbar vorangehende Handlung (§ 15 Abs. 2 öStGB) vorzeitig zum Erfolgseintritt führt, etwa wenn sich bereits beim Anvisieren mit der Schusswaffe versehentlich ein tödlicher Schuss löst. Aus der deutschen Rechtsprechung7 sei der Fall erwähnt, bei dem die Täter das Opfer zunächst bewusstlos schlagen und dann durch Injektion von Luft in eine Vene töten wollten, bereits das Zusammenschlagen aber zum Tod führte.8 Aus der japanischen Rechtsprechung9 schildert Keiichi Yamanaka den Fall, dass die Täter das Opfer mit Chloroform betäuben und dann samt dessen Auto ins Meer stürzen wollten, der Tod aber (möglicherweise) bereits durch das eingeatmete Chloroform eintrat.10 In einem weiteren japanischen Fall verteilte ein Brandstifter am Boden der Wohnung Benzin, um dieses danach anzuzünden; als er sich vor der geplanten Entzündung noch eine Zigarette ansteckte, explodierte bereits unerwartet das verdunstete Benzin, sodass das Haus

6 Weniger deutlich insoweit Art. 22 schwStGB („nachdem er mit der Ausführung […] begonnen hat“) sowie § 22 dStGB („wer […] zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“). 7 Zu dieser näher Roxin, Zur Erfolgszurechnung bei vorzeitig ausgelöstem Kausalverlauf, GA 2003, 257; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil I4 (2006) § 12 Rz. 182 ff. 8 BGH NStZ 2002, 475. 9 Zu dieser näher Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 489 = Geschichte (Fn. 1), 187. 10 Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 495 = Geschichte (Fn. 1), 194.

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abbrannte.11 Ganz ähnlich gelagert ist ein Fall aus der österreichischen Rechtsprechung: Der mit Brandstiftungs- und Verletzungsvorsatz handelnde Täter verschüttete ein Benzingemisch in der Wohnung und übergoss ein darin anwesendes Opfer. Bevor er das Benzingemisch ansteckte, kam es durch einen vermutlich von einem Elektrogerät ausgehenden elektrischen Funken zu einer Explosion, bei der das Opfer schwere Verbrennungen erlitt.12 Bei allen diesen Beispielen ist vorausgesetzt und wird hier nicht problematisiert, dass die Schwelle von (straflosen) Vorbereitungshandlungen zum strafbaren Versuch überschritten war. 2. Prämisse: objektiv zurechenbarer Erfolg Die angesprochene Problematik des vorzeitigen Erfolgseintritts entsteht zusätzlich nur unter der Prämisse, dass die eingetretene Folge dem bis dahin gesetzten Verhalten des Täters objektiv zurechenbar ist. Mit dem unbeendeten Versuch muss daher bereits ein hinreichendes Erfolgsrisiko geschaffen worden sein, das sich dann im eingetretenen Erfolg verwirklicht hat. Falls nämlich ein vorzeitig eintretender Erfolg nicht objektiv zugerechnet werden kann, stellt sich die Frage eines vollendeten Vorsatzdelikts von vornherein nicht, weil ein nicht zurechenbarer Erfolg jedenfalls unberücksichtigt bleibt, also gleichsam „gar nicht eingetreten“ ist. Die Prämisse eines objektiv zurechenbaren Erfolgseintritts wird auch daran deutlich, dass jene Autoren, die bei vorzeitigem Erfolgseintritt ein vollendetes Vorsatzdelikt verneinen, stattdessen eine Kombination von Versuch und fahrlässiger Erfolgsherbeiführung annehmen. Denn auch ein Fahrlässigkeitsdelikt kann nur durch einen objektiv zurechenbaren Erfolgseintritt begründet werden. In den meisten der zuvor angesprochenen Beispielsfälle erscheint die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs ohnehin unproblematisch. Im Fall des Ausschüttens von bzw. Übergießens mit Benzin hat sich der österreichische OGH ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine Eigenentzündung durch einen elektrischen Funken innerhalb der objektiven Zurechnung liegt, und dies im konkreten Fall mit dem Hinweis, dass ersichtlich elektrische Geräte in der Nähe waren, letztlich – wohl zu Recht – bejaht.13 3. Meinungsstand Die Beurteilung eines vorzeitigen Erfolgseintritts ist nicht nur in Deutschland und Japan, sondern auch in Österreich umstritten. Bemerkenswert erscheint, dass die Rechtsprechung in allen drei Rechtsordnungen zu einer Verurteilung wegen des vollendeten Vorsatzdelikts gelangt.14 In dem ge11

Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 492 f. = Geschichte (Fn. 1), 190 f. OGH JBl 1984, 326 mit Anmerkung Fuchs. 13 OGH JBl 1984, 326 (327). 14 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 7 – 12.

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schilderten österreichischen Beispielsfall (Ausschütten und Übergießen mit Benzin, das sich durch einen elektrischen Funken entzündet) hat der OGH (nach Bejahung der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs) festgehalten, dass der Vorsatz des Täters auch schon während des Ausschüttens und Übergießens mit Benzin auf Zufügung einer schweren Körperverletzung gerichtet war und deshalb im Ergebnis eine vollendete schwere Körperverletzung anzunehmen sei.15 Die Beurteilung als vollendetes Vorsatzdelikt findet auch im deutschen und japanischen Schrifttum überwiegend Zustimmung;16 in Österreich wird sie allerdings selten explizit vertreten.17 Die im Schrifttum ebenfalls vertretene Gegenansicht verneint ein vollendetes Delikt deshalb, weil der Täter zum Zeitpunkt des unbeendeten Versuchs noch nicht davon ausgegangen sei, dass er mit seinem Verhalten den Erfolgseintritt auslösen könne. Strafbarkeit wegen eines vollendeten Vorsatzdelikts setze aber voraus, dass der Täter sein Verhalten bis zum beendeten Versuch fortgeführt und sich daraus der Erfolg entwickelt habe. Bei einem vorzeitigen Erfolgseintritt sei deshalb nur das Unrecht eines versuchten Vorsatzdelikts sowie zusätzlich jenes eines vollendeten Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt.18 In Österreich hat die Gegenansicht ebenfalls namhafte Anhänger. Diese machen im Wesentlichen geltend, der Täter habe zu keinem Zeitpunkt den Vorsatz gehabt, dass sein bisheriges Verhalten zur Erfolgsherbeiführung ausreiche. Im Fall des Ausschüttens und Übergießens mit Benzin19 lehnt Fuchs die Verurteilung wegen vollendeter Körperverletzung durch den OGH mit folgender Begründung ab: „[…] der Täter hat nicht einmal mit der Möglichkeit gerechnet, daß das Übergießen des Opfers mit Benzin zur Körperverletzung führen werde, er hat es vielmehr als notwendig zur Deliktsausführung angesehen, das Benzin nachher noch zu entzünden. Diese Handlung hat er jedoch nicht mehr vorgenommen. […] Jene Handlung, die nach dem objektiven Geschehensablauf die Ausführungshandlung der Körperverletzung war (und die allein den objektiven Tatbestand herstellt), sollte dies nach den Vorstellungen des Täters nicht einmal dolo eventuali sein. Mangels vorsätzlicher Vornahme einer Ausführungshandlung entfällt daher die Haftung für vollendete Körperverletzung […].“20

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OGH JBl 1984, 326 (327). Nachweise für Deutschland bei Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 257 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil (Fn. 7), § 12 Rz. 182 ff.; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar29 (2014) § 15 Rz. 58 am Ende. Nachweise für Japan bei Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 489 ff. = Geschichte (Fn. 1), 187 ff. 17 Vgl. z. B. Triffterer, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1994) Kap. 8 Rz. 92. 18 Nachweise für Deutschland z. B. bei Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 261 ff.; ders., Strafrecht (Fn. 7), § 12 Rz. 186; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (wie Fn. 16). Nachweise für Japan bei Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 496 ff. = Geschichte (Fn. 1), 196 ff. 19 Vgl. oben Fn. 12. 20 Fuchs, Urteilsanmerkung zu OGH JBl 1984, 326 (328 f.). 16

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Dieser Argumentation folgt Reindl-Krauskopf. Nach ihrer Ansicht ist bei „verfrühtem Erfolgseintritt […] der Sachverhalt in einzelne Abschnitte zu zerlegen und gesondert zu prüfen. […] Dabei übersieht der OGH allerdings, dass der Täter sein Opfer mit der ersten Handlung (= Übergießen mit Benzin) noch nicht verletzen wollte. Erst das Anzünden sollte den gewünschten Erfolg herbeiführen. […] Denn richtigerweise muss zunächst der Täter vorsätzlich alles getan haben, was seiner Vorstellung nach nötig ist, um den Erfolg herbeizuführen.“21

In dieselbe Richtung argumentiert Velten: „Das vollendete Delikt setzt die Erkenntnis [des Täters] voraus, dass gerade die Handlung, welche de facto todesursächlich geworden ist, geeignet ist, den Tod herbeizuführen. […] in den Fällen vorzeitiger Erfolgsherbeiführung hält [der Täter] das objektiv tödliche Verhalten lediglich für ein notwendiges Fragment des Gesamtgeschehens, das den Tod herbeiführen wird. […] Wer (als unmittelbarer Täter) töten will, muss mehr tun, als nur eine notwendige Bedingung für den Erfolg zu setzen. Er muss dafür sorgen, dass alle hinreichenden Erfolgsbedingungen erfüllt sind. Es genügt nicht, dass er mit der Pistole zielt und lädt, er muss auch abdrücken. Bei der vorzeitigen Erfolgsherbeiführung qualifiziert der Täter sein Verhalten nur als notwendige Erfolgsbedingung, nicht als hinreichende.“22

4. Zum Einwand fehlenden Vorsatzes Der vor allem im österreichischen Schrifttum erhobene Einwand, eine vollendete Vorsatztat scheitere an einem für das vollendete Delikt ausreichenden Vorsatz, überzeugt letztlich nicht. Bei einer näheren Betrachtung des Vorsatzes sind insoweit allerdings mehrere Aspekte zu unterscheiden: Bezieht man zunächst den Vorsatz schlicht darauf, dass im Ergebnis der tatbestandsmäßige Erfolg eintreten soll, so ist nicht zweifelhaft, dass bereits im Stadium des unbeendeten Versuchs ein solcher (auf Vollendung gerichteter) Vorsatz vorliegt. Ein von Anfang an bestehender Vorsatz auf Vollendung des Delikts ist sogar notwendige Voraussetzung jedes Versuchs; ohne Vollendungsvorsatz läge schon begrifflich kein Versuch vor.23 Deshalb lässt sich jedenfalls nicht sagen, vor Beendigung des Versuchs habe der Täter „noch nicht“ den Vorsatz gehabt, das Opfer zu töten. 21 Reindl-Krauskopf, in: Fuchs/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch2 § 5 Rz. 67 f. 22 Velten, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB § 75 Rz. 21. – Bei näherer Betrachtung lassen sich innerhalb dieser Ansichten noch Schattierungen erkennen. So fordern Reindl-Krauskopf und Velten deutlich, dass der Täter bis ins Stadium des beendeten Versuchs gelangt sein muss (also die Ausführungshandlung abgeschlossen hat), damit ein vollendetes Vorsatzdelikt anzunehmen ist. Fuchs verlangt hingegen nur pauschal die Vornahme einer Ausführungshandlung, sodass genau genommen offenbleibt, wie er einen vorzeitigen Erfolgseintritt während der Ausführungshandlung (vor deren Abschluss) bewertet. 23 Ein bloß auf die Vornahme einer „Versuchshandlung“, nicht aber auf die Vollendung gerichteter Vorsatz (vgl. die Problematik des agent provocateur) begründet von vornherein keinen Versuch.

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Im Schrifttum wird daher auch nicht vorgebracht, dass bei vorzeitigem Erfolgseintritt generell der Vorsatz auf Deliktsvollendung gefehlt habe; vielmehr fehle im Stadium des unbeendeten Versuchs der spezifische Vorsatz, schon durch das aktuelle Verhalten den Erfolg auszulösen.24 Tritt der Tod des Opfers bereits vorzeitig im Stadium des unbeendeten Versuchs ein, habe der Täter das Opfer nicht durch sein bis dahin vorgenommenes Verhalten (jenes des unbeendeten Versuchs) töten wollen, sondern erst durch ein geplantes späteres Verhalten (die anschließende Beendigung des Versuchs). Beispielsweise wolle der Täter nicht schon durch das aktuelle Positionieren der Schusswaffe töten (bei dem sich versehentlich ein Schuss löst), sondern erst durch das noch in der Zukunft liegende Betätigen des Abzugs; ebenso nicht schon durch das kurzzeitige Würgen (das unerwartet den Tod bewirkt), sondern erst durch ein längerfristiges Fortsetzen des Würgens. Aber auch in dieser Präzisierung lässt sich der Einwand eines fehlenden Vorsatzes letztlich nicht aufrechterhalten. In Wahrheit hat der Täter nämlich beim unbeendeten Versuch zwar nicht den Vorsatz, dass sein bisheriges Verhalten zum Erfolgseintritt ausreiche, aber doch den Vorsatz dahin gehend, dass schon dieses Verhalten den Erfolg ursächlich herbeiführe. Denn der tatbestandsmäßige Erfolg beruht regelmäßig auf dem gesamten aufbauenden Versuchsgeschehen, und dieser Kausalzusammenhang ist dem Täter bewusst. Ohne Beginn kann der Versuch nie beendet werden; deshalb ist bereits der Beginn des Versuchs für dessen Beendigung und in der Folge für den Erfolgseintritt kausal, und dieser Zusammenhang ist vom Tätervorsatz umfasst. So ist z. B. einem Täter, der gerade mit dem Würgen des Opfers beginnt, klar, dass schon der Beginn des Würgens ursächlich für den nach mehrminütigem Würgen eintretenden Tod wird; denn ein mehrminütiges Würgen könnte ohne dessen Beginn gar nicht zustandekommen. Ebenso schätzt ein Täter bereits das Anvisieren des Opfers mit der Schusswaffe als kausal für den anschließenden Tod durch Erschießen ein; denn ohne ein vorheriges Anvisieren könnte kein treffsicherer Schuss erfolgen. Auch ist dem Täter die Kausalität des Ausschüttens von Benzin für dessen spätere Entzündung bewusst, weil es ohne das Ausschütten evidentermaßen nicht zum anschließenden Brand kommt. Somit handelt der Täter auch bereits im Stadium des unbeendeten Versuchs jeweils mit dem Vorsatz, dass bereits sein aktuelles (Versuchs-) Verhalten zum tatbestandsmäßigen Erfolg führt. Demgegenüber gehen die eine Vollendung ablehnenden Ansichten im Schrifttum offenbar davon aus, dass der Vorsatz, durch das aktuelle Verhalten den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen, zur Deliktsvollendung nicht ausreiche. Vielmehr sei die zusätzliche Vorstellung des Täters notwendig, er habe sein Verhalten so weit fortgeführt, dass nun der Erfolg ohne sein weiteres Zutun eintrete. Allerdings erscheint fraglich, woraus sich das Erfordernis dieser zusätzlichen Tätervorstellung ergeben soll. Jedenfalls wird es bei der Umschreibung des Vorsatzes in § 5 öStGB nicht erwähnt; denn danach reicht es aus, wenn der Täter (durch das von ihm vorgenommene Verhalten) „einen Sachverhalt verwirklichen will, der einem gesetzlichen Tatbild 24

So die Argumentation z. B. von Fuchs, Reindl-Krauskopf und Velten (oben Fn. 20 – 22).

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entspricht“. Dieser Wille liegt aber, wie gezeigt, auch schon im Stadium des unbeendeten Versuchs vor. Dagegen ist im Gesetz nirgends geregelt, dass vorsätzlich nur handle, wer davon ausgeht, der tatbestandsmäßige Erfolg werde ohne sein weiteres Zutun eintreten.25 Ein Fehlen dieser Vorstellung schließt deshalb einen ausreichenden Vollendungsvorsatz nicht aus. Allenfalls könnte man überlegen, das Erfordernis der zusätzlichen Vorstellung des Täters, sein bisheriges Verhalten werde ohne weiteres Zutun zur Vollendung führen, daraus abzuleiten, dass er sein Verhalten beim unbeendeten Versuch noch nicht als ausreichend erfolgsgefährlich einschätze.26 Aber auch dieses Argument überzeugt nicht: Denn es ist zu berücksichtigen, dass der Täter aufgrund seines – beim Versuch stets erforderlichen – unbedingten Tatentschlusses auch sein unmittelbar anschließendes Verhalten fest einplant und dieses deshalb seiner Einschätzung der Gefährlichkeit zugrunde legt. Vor dem Hintergrund des geplanten weiteren (eigenen) Verhaltens erscheint aber auch bereits der unbeendete Versuch – dem Täter selbst nicht anders als einem außenstehenden Beobachter – in hohem Maß gefährlich. Beispielsweise ist bereits mit dem Beginn des Würgens höchste Lebensgefahr verbunden, wenn der Täter entschlossen ist, bis zum Todeseintritt weiter zu würgen; ebenso gefährdet bereits das Anvisieren mit der Schusswaffe das Opfer im höchsten Maß, wenn die Schussabgabe unmittelbar folgen soll; auch das Übergießen einer Person mit Benzin ist bereits äußerst gefährlich, wenn dies mit dem Entschluss geschieht, das Benzin gleich danach zu entzünden. So gesehen kann – je nach den Umständen – ein Täter seinen unbeendeten Versuch sogar für gefährlicher halten als ein Täter in anderer Situation seinen bereits beendeten Versuch: Beispielsweise wird ein guter Schütze, der aus geringer Entfernung seine Pistole gegen das Opfer richtet, um unmittelbar danach zu schießen (unbeendeter Versuch), das Opfer schon zu diesem Zeitpunkt – zu Recht – für gefährdeter halten als ein schlechter Schütze, der aus großer Entfernung einen Pistolenschuss bereits tatsächlich abgibt (beendeter Versuch). Wenn im zweiten Fall angenommen wird, dass sich der Vorsatz auf ein hinreichend gefährliches Verhalten erstreckt hat, kann dies im ersten Fall nicht anders sein. 25 Ausdrücklich ebenso Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 502 = Geschichte (Fn. 1), 202 f.: „Bei den Erfolgsdelikten bedarf der Vorsatz einer Vorstellung der Risikoschaffung durch eben die einschlägige Tathandlung sowie eines Willens zur Erfolgsverwirklichung. Es kommt aber nicht auf die Vorstellung an, daß die Handlung die letzte entscheidende Handlung zum Erfolgseintritt ohne weiteren Zwischenakt ist. Vorsatz ist lediglich die subjektive Spiegelung der Tatausführung, sodaß die Vorstellung, alles für den Erfolgseintritt Notwendige getan zu haben, nicht erforderlich ist.“ – Rechtlich relevant ist dagegen die Vorstellung, zur Erfolgsherbeiführung müsse noch ein Dritter tätig werden, weil dann i. d. R. nicht unmittelbare Täterschaft, sondern Bestimmungs- oder Beitragstäterschaft (§ 12 öStGB) vorliegt. 26 Zwar geht es in den Fällen eines vorzeitigen Erfolgseintritts von vornherein nur um solche Versuchshandlungen, die (objektiv gesehen) entsprechend gefährlich waren, weil ansonsten der vorzeitig eingetretene Erfolg der Versuchshandlung gar nicht objektiv zugerechnet werden könnte und damit die hier erörterte Problematik nicht entstünde (vgl. oben 2.). Ein unzureichender Vorsatz könnte sich aber möglicherweise aus einer unzutreffenden subjektiven Einschätzung der Gefährlichkeit ergeben (sodass insoweit Fahrlässigkeit in Betracht käme).

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Insgesamt zeigt sich somit, dass auch bei einem vorzeitigen Erfolgseintritt im Stadium des unbeendeten Versuchs, ausgehend von den allgemeinen Vorsatzkriterien, nicht schlüssig begründet werden kann, dass eine Bestrafung wegen vollendeten Delikts am fehlenden Vorsatz scheitere. Der Erfolg ist nicht nur objektiv zurechenbar, sondern er wurde durch das Versuchsverhalten auch vorsätzlich herbeigeführt. Die Besonderheit der Konstellation besteht somit nicht in einem Mangel an Vorsatz, sondern vielmehr darin, dass der Täter zusätzlich zu den allgemeinen Vorsatzanforderungen die (irrtümliche) Vorstellung hatte, zur Erfolgsherbeiführung noch weiterhandeln zu müssen. Deshalb kann allenfalls die Frage gestellt werden, ob diese zusätzlich zum Vorsatz vorliegende (irrtümliche) Vorstellung bewirken soll, dass der Täter nicht wegen des vollendeten Vorsatzdelikts zur Verantwortung gezogen wird. 5. Zur Bewertung des unbeendeten Versuchs Die vorstehend aufgeworfene Frage führt unmittelbar zu jener nach der Bewertung des unbeendeten Versuchs. Entscheidend erscheint, welche Bedeutung man der Besonderheit des unbeendeten Versuchs beimisst, dass der Täter meint, zur Erfolgsherbeiführung noch weiterhandeln zu müssen. Reduziert dieser Umstand den Unwert der Tat so weit, dass es – auch bei objektiv zurechenbarer Erfolgsherbeiführung und entsprechendem deliktischem Vorsatz – nicht angemessen erscheint, den Unwert einer vollendeten Vorsatztat anzulasten?27 Um dieser Frage nachzugehen, ist das Unwertverhältnis zwischen unbeendetem und beendetem Versuch näher zu betrachten. Veranschaulichen lässt sich diese Überlegung durch einen Vergleich mit den Fällen eines bereits im Vorbereitungsstadium vorzeitig eintretenden Erfolgs (etwa wenn sich schon beim Reinigen der Schusswaffe für einen geplanten Mord versehentlich ein Schuss löst und das potentielle Mordopfer tötet). Eine Bestrafung wegen vollendeten Mordes scheidet in solchen Fällen insbesondere deshalb aus, weil sich der Unwert einer bloß vorbereitenden Handlung fundamental vom Unwert des Versuchs unterscheidet. Bloße Vorbereitungshandlungen hat der Gesetzgeber, sofern nicht spezielle Tatbestände eingreifen, bis zum Versuchsbeginn gezielt straflos gelassen. Deshalb kann es im Stadium einer bloßen Vorbereitungshandlung bei vorzeitigem Erfolgseintritt (obwohl der Täter auch hier den Vorsatz hatte, dass seine Vorbereitungshandlung letztlich zur Tatbestandsverwirklichung führen soll) generell nicht überzeugen, eine vollendete Vorsatztat anzulasten; allenfalls ist fahrlässige Herbeiführung anzunehmen. Die insoweit nahezu einhellig vertretene Ansicht28 findet ihren 27 Treffend Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 263: „Unter normativen Gesichtspunkten scheint mir die zentrale Frage die zu sein, ob zwischen unbeendetem und beendetem Versuch eine Unrechts- und Schulddifferenz besteht“, die eine von der vollendeten Vorsatztat abweichende Beurteilung „erzwingt“. 28 Vgl. Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 259 ff.; ders., Strafrecht (Fn. 7), § 12 Rz. 184; SternbergLieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 15 Rz. 49; Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 490 = Geschichte (Fn. 1), 188.

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zentralen Grund letztlich in der klar unterschiedlichen Bewertung von bloßer Vorbereitungshandlung und anschließendem Versuch. Abzulehnen sind daher die vereinzelten Vorschläge, auch bei einem vor dem Versuchsstadium vorzeitig eingetretenen Erfolg ein vollendetes Vorsatzdelikt anzunehmen.29 Vergleicht man andererseits den Unwert des Verhaltens zu Beginn und bei Beendigung des Versuchs, lässt sich keine maßgebliche Unwertdivergenz erkennen.30 Für die Beurteilung des Unwerts des Verhaltens ist vielmehr der Beginn des Versuchs die entscheidende Zäsur. Sobald dieses Stadium erreicht ist, erfüllt das Verhalten den vollen „Versuchsunwert“. Das Gesetz unterscheidet, soweit ersichtlich, nirgends zwischen dem Unwert eines unbeendeten und jenem eines beendeten Versuchs, sondern behandelt den Versuch von seinem Beginn bis zu seiner Beendigung grundsätzlich gleich. Ebenso ist ein strafbefreiender Rücktritt sowohl beim beendeten als auch beim unbeendeten Versuch möglich. Der einzige Unterschied, dass nur beim unbeendeten Versuch eine Aufgabe der weiteren Ausführung zur Erfolgsverhinderung ausreichen kann, trägt allein der Struktur des unbeendeten Versuchs Rechnung, belegt aber nicht dessen geringeren Unwert. Aus den Regeln über die Sanktionierung des Versuchs lässt sich vielmehr ableiten, dass der unbeendete Versuch dem vollendeten Delikt genauso nahesteht wie der beendete Versuch: Für beide gilt bereits der Strafrahmen des vollendeten Delikts; weder im Bereich der Strafdrohungen noch im Bereich der Strafzumessungsvorschriften wird zwischen unbeendetem und beendetem Versuch unterschieden. Die Nähe zum vollendeten Delikt kommt im österreichischen Recht noch deutlicher zum Ausdruck als in Deutschland oder der Schweiz, weil für den Versuch nicht einmal eine fakultative Minderung des Strafrahmens vorgesehen ist; vielmehr kommt lediglich ein Milderungsgrund innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens zur Anwendung, der aber durch Erschwerungsgründe im Einzelfall ausgeglichen werden kann.31 Die Gleichwertigkeit von versuchtem und vollendetem Delikt wird in der österreichischen Rechtsprechung auf die Spitze getrieben, wenn der OGH – allerdings wohl zu weitgehend – sogar davon ausgeht, dass ein Schuldspruch, durch den jemand fehlerhaft wegen eines vollendeten statt eines versuchten Delikts (oder umgekehrt) verurteilt wird, nicht angefochten werden könne, weil es infolge der Gleichwertigkeit an einer Beschwer fehle (möglich sei insoweit nur eine Anfech-

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So Schliebitz, Die Erfolgszurechnung beim „misslungenen“ Rücktritt (2002) 128 ff.; ebenso Hillenkamp, in: Laufhütte/Rissing van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB12 (2007) § 22 Rz. 137 am Ende: „[…] lässt sich auch dann, wenn damit das Versuchsstadium noch nicht erreicht ist, von einer nur unwesentlichen Abweichung im Kausalverlauf sprechen, wenn sich der Erfolg objektiv vorhersehbar früher einstellt als geplant“. Nachweise für Japan bei Yamanaka, Otto-FS (Fn. 1), 496 Fn. 25 und 26 = Geschichte (Fn. 1), 195 Fn. 25 und 26. 30 Ebenso Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 264 f.; ders., Strafrecht (Fn. 7), § 12 Rz. 188; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 15 Rz. 58. 31 § 34 Abs. 1 Z 13 öStGB.

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tung der Höhe der Strafe, wenn der einschlägige Strafmilderungsgrund zu Unrecht angewandt oder nicht angewandt wurde).32 Diese Gleichbewertung der gesamten Versuchsphase erscheint deshalb plausibel, weil es Ziel des Gesetzgebers war, den Beginn des Versuchs so (spät) festzulegen, dass schon zu diesem Zeitpunkt der Handlungsunwert jenem eines beendeten Versuchs im Wesentlichen gleichwertig ist. Auch die verschiedenen heuristischen Umschreibungen des Versuchsbeginns, die den Hintergrund der gesetzlichen Regelung bilden und auch zu deren Präzisierung herangezogen werden, wie der Zeitpunkt des „Jetzt geht es los!“33 oder jener der „Überwindung der entscheidenden Hemmstufe“34, belegen das Ziel, den Versuchsbeginn erst bei einem so fortgeschrittenen Deliktsstadium anzusiedeln, dass das betreffende Verhalten schon einen die Rechtsordnung (nahezu) ebenso erschütternden Eindruck hinterlässt wie ein beendeter Versuch.35 Hält man sich die durchgehende rechtliche Gleichbewertung von unbeendetem und beendetem Versuch vor Augen, so liegt es nahe, alle Versuchsfälle insofern gleich zu behandeln, als grundsätzlich jeder Versuch mit dem (objektiv zurechenbaren und vom Vorsatz umfassten) Erfolgseintritt in ein vollendetes Delikt umschlägt. Das Gesetz enthält keinen Hinweis darauf, dass der unbeendete und der beendete Versuch insoweit unterschiedlich behandelt werden sollten. Ein möglicher Einwand könnte allerdings noch sein, dass in einzelnen Straftatbeständen auch die Modalität der Ausführungshandlung näher umschrieben wird, etwa wenn ein Straftatbestand nur durch „Gewalt“, „Drohung“ oder „Täuschung“ verwirklicht werden kann. Diese tatbestandlich erforderliche Verhaltensweise liegt dann zwar ab Beginn der „Gewalt“, „Drohung“ oder „Täuschung“ vor, nicht aber bei einem Versuch, der durch eine im unmittelbaren Vorfeld der „Gewalt“, „Dro32

OGH (verstärkter Senat) EvBl 2007/130 = JBl 2008, 401 mit kritischer Anmerkung Burgstaller; ebenso kritisch Moos, Die Abgrenzung Versuch/Vollendung als Nichtigkeitsgrund, JBl 2008, 341. 33 Z. B. BGHSt 26, 201; BGHSt 28, 162; dazu z. B. – wenngleich teilweise kritisch – Eser/ Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 22 Rz. 41; Hillenkamp, in: Leipziger Kommentar (Fn. 29), § 22 Rz. 67; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II (2003) § 29 Rz. 126 ff. und 133. 34 Diese Formulierung wird in der österreichischen Rechtsprechung und Lehre immer wieder verwendet: z. B. OGH EvBl 1975/71; EvBl 1981/241; JBl 1983, 495; 14 Os 148/00; Burgstaller, Der Versuch nach § 15 StGB, JBl 1976, 113 (118 f.); Leukauf/Steininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch3 (1992) § 15 Rz. 9 und 11; Triffterer, Strafrecht (Fn. 17), Kap. 15 Rz. 16; Schmoller, Bedeutung und Grenzen des fortgesetzten Delikts (1988) 59 f. Zwar hat der OGH in einer (vereinzelt gebliebenen) Entscheidung gemeint, dass es sich dabei um kein taugliches Abgrenzungsmerkmal handle: OGH JBl 2003, 668; ebenso Hager/Massauer, in: Wiener Kommentar (Fn. 21), §§ 15, 16 Rz. 31; Fuchs, Strafrecht Allgemeiner Teil I9 (2016) 29. Kap. Rz. 35; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht Allgemeiner Teil14 (2012) Z 21 Rz. 19; Steininger, Strafrecht Allgemeiner Teil II (2012) Kap. 20 Rz. 22. Ungeachtet dessen verwendet der OGH das Kriterium aber weiterhin bis in die jüngste Zeit: vgl. OGH 27. 2. 2013, 15 Os 141/12t; 14. 1. 2015, 15 Os 151/14s. 35 Ebenso Roxin, GA 2003 (Fn. 7), 264 f.

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hung“ oder „Täuschung“ liegende Handlung begründet wird.36 Dies wirft die Frage auf, ob auch bei solchen Delikten an der Gleichwertigkeit aller Versuchskonstellationen festgehalten werden kann oder ob nicht vor Erfüllung der tatbestandsmäßigen Handlungsmodalität ein geringerer Unwert vorliegt. In Wahrheit entstehen jedoch für die hier interessierende Frage eines vorzeitigen Erfolgseintritts auch bei solchen Delikten keine zusätzlichen Probleme: Denn von vornherein geht es nicht allein um die Problematik eines „vorzeitigen Erfolgseintritts“, sondern stets um jene einer „vorzeitigen Tatbestandsverwirklichung“. Eine Deliktsvollendung kommt dabei aber ohnehin nicht in Betracht, wenn nicht alle Tatbestandsmerkmale vollständig verwirklicht wurden. Eine Tatbestandsverwirklichung ohne tatbestandlich umschriebene Handlungsmodalität ist deshalb von vornherein nicht möglich, eben weil dann noch ein wesentliches Tatbestandsmerkmal (die umschriebene Handlungsmodalität) fehlt. Somit ist schon im Ansatz ausgeschlossen, dass es vor der Vornahme einer tatbestandlich umschriebenen Handlungsmodalität zu einer „vorzeitigen Tatbestandsverwirklichung“ kommt. Sobald indes eine der Tatbestandsumschreibung entsprechende Handlung gesetzt (d. h. zumindest begonnen) wurde, spricht nichts dagegen, dass ein vorzeitiger Erfolgseintritt – wie auch sonst – zur Deliktsvollendung führt. 6. Vergleich mit der Strafbarkeit von Beteiligten Gerade im österreichischen Einheitstätersystem37 lässt sich als zusätzliches Argument ein Vergleich mit der Strafbarkeit von Beteiligten anführen. Nach § 12 öStGB wird als Täter eines Delikts auch bestraft, wer zur Tatausführung bestimmt oder beiträgt, wobei dessen Strafbarkeit grundsätzlich nicht von der rechtlichen Beurteilung des unmittelbaren Täters abhängt (fehlende Akzessorietät). Wer beispielsweise zur Ausführung eines Mordes bestimmt oder beiträgt, wird dann wegen Mordes (in Bestimmungs- oder Beitragstäterschaft) verurteilt, wenn er alle Strafbarkeitsvoraussetzungen in eigener Person erfüllt. Bestimmt nun jemand einen anderen dazu, das Opfer mit Benzin zu übergießen und dann anzuzünden, oder trägt er zu dieser Tat durch Beschaffung des Benzins bei, hat er seine Beteiligungshandlung beendet. Der Bestimmungstäter ist ab seiner Bestimmungshandlung wegen versuchten Mordes strafbar (in Form des Bestimmungsversuchs; § 15 Abs. 2 öStGB), der Beitragstäter ab dem Zeitpunkt, in dem der unmittelbare Täter ins Versuchsstadium tritt (in Form der Beteiligung an einem Versuch; § 15 Abs. 1 am Ende öStGB). Der Umstand, dass sich das Benzin nach dem Übergießen des Opfers infolge eines elektrischen Funkens (in objektiv zurechenbarer Weise) selbständig entzündet hat, erscheint jedenfalls für den Bestimmungs- oder Beitragstäters nicht als hinreichender Grund, 36

Zur Möglichkeit eines Versuchs bereits vor Beginn der Ausführungshandlung vgl. oben bei Fn. 6. 37 Zu diesem z. B. Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht (Fn. 34), E 2 Rz. 25 ff.; Triffterer, Strafrecht (Rz. 17), Kap. 16 Rz. 14 ff.; Fuchs, Strafrecht (Fn. 34), 32. Kap. Rz 23 ff.; Schmoller, Erhaltenswertes der Einheitstäterschaft. Überlegungen zu einer internationalen Beteiligungsdogmatik, GA 2006, 365.

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eine Haftung wegen vollendeten Mordes zu verneinen. Denn für den Beteiligten, der seine eigene Tathandlung abgeschlossen hat, stellt sich das verfrühte Entzünden des Benzins als eine bloße (unwesentliche) Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf dar, die der Annahme eines vollendeten Vorsatzdelikts generell nicht entgegensteht. Es erschiene aber schwer verständlich, bei einem vorzeitigen Erfolgseintritt im Stadium des unbeendeten Versuchs die – zum Teil weit im Vorfeld der Tatausführung handelnden – Beteiligten wegen vollendeten Mordes, den unmittelbar Ausführenden, der mit der Tatausführung selbst bereits begonnen hat, aber nur wegen versuchten Mordes und fahrlässiger Tötung zu belangen. Der unbeendete Versuch des Tatausführenden liegt der Vollendung jedenfalls näher als die vorangegangene Bestimmungs- oder Beitragshandlung, sodass für den unmittelbaren Täter die Verurteilung wegen vollendeten Mordes umso eher angemessen erscheint. 7. Resümee Bezüglich der Fallkonstellation, dass im Stadium des unbeendeten Versuchs der tatbestandsmäßige Erfolg (in objektiv zurechenbarer Weise) vorzeitig eintritt, sprechen somit die besseren Argumente für die in Rechtsprechung und Schrifttum, insbesondere auch von Keiichi Yamanaka, befürwortete Lösung, von einem vollendeten Delikt auszugehen.38 Die (zusätzlich bestehende) ursprüngliche Vorstellung des Täters, für den Erfolgseintritt noch weiterhandeln zu müssen, steht einer Bestrafung wegen vollendeter Vorsatztat nicht entgegen. Für den Ausgangsfall ergibt sich daraus, dass bei einem Giftmord ein vorzeitiger Todeseintritt (nach Versuchsbeginn) kein Hindernis für eine Verurteilung wegen vollendeten Mordes darstellt.

III. Versuchsbeginn bei etappenweiser Ausführungshandlung 1. Phänomen der etappenweisen Ausführung Für den Ausgangsfall lassen die bisherigen Überlegungen (zum vorzeitigen Erfolgseintritt beim unbeendeten Versuch) allerdings noch keine abschließende Beurteilung zu. Denn hinzu kommt die vorgelagerte Frage, ob sich der Täter nach den ersten Raten der Giftbeigabe überhaupt schon im Stadium eines Versuchs befunden hat. Oder liegt eine Ausführungshandlung beim ratenweisen Giftmord erst dann vor, wenn der Täter es ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet (§ 5 Abs. 1 öStGB), dass das nunmehr verabreichte Gift die bereits durch die vorangegangenen Handlungen zugeführte Giftmenge zu einer tödlichen Dosis komplettiert? Würde man der letztgenannten Ansicht folgen, könnten alle früheren Raten der Giftbeigabe noch keinen Mordversuch begründen, weil der Versuch erst im unmittelbaren Vorfeld 38

Vgl. die Nachweise oben in Fn. 14 – 17.

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der Ausführungshandlung beginnt und eine Handlung am Vortag einer solchen am nächsten Tag generell nicht unmittelbar vorangeht. Die früheren Raten der Giftbeigabe lägen daher noch im Vorbereitungsstadium zum Mord; sie könnten somit allenfalls als Körperverletzungsdelikt, nicht aber als Mordversuch beurteilt werden. Als Konsequenz könnte dann auch ein vorzeitiger Todeseintritt in diesem Stadium keine Mordstrafbarkeit auslösen; es würde sich vielmehr allenfalls um vorsätzliche Körperverletzung sowie um fahrlässige Tötung handeln.39 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man hingegen, wenn man im geschilderten Fall die ratenweise Giftbeigabe übergreifend als Ausführungshandlung des Giftmords bewertet, die sich über einen längeren Zeitraum „erstreckt“ und plangemäß in Etappen erfolgt. Mit dem Beginn der Ausführungshandlung ist dann nämlich das Stadium des Versuchs erreicht (ein von Anfang an bestehender Tatentschluss hinsichtlich aller weiteren Teilakte wird dabei vorausgesetzt, weil ohne Tatentschluss generell kein Versuch vorliegt). Bei einer auf vier Wochen angelegten ratenweisen Begehung eines Giftmords würde sich die Ausführungshandlung eben über vier Wochen erstrecken. Der Versuch begänne dann mit der ersten Giftbeigabe (bzw. mit der dieser unmittelbar vorangehenden Handlung; § 15 Abs. 2 öStGB) und bliebe in den ersten Wochen unbeendet. Mit jener Rate der Giftbeigabe, bei der der Täter eine Komplettierung zur tödlich wirkenden Giftmenge in Kauf nimmt, würde er das Stadium des beendeten Versuchs erreichen. Ein vorzeitiger Todeseintritt während der vierwöchigen etappenweisen Ausführungshandlung fiele dann in das Stadium des unbeendeten Versuchs und könnte nach den vorangegangenen Erörterungen40 den versuchten Mord in einen vollendeten überführen. Die dargestellte Problematik entsteht durch das Phänomen einer „etappenweisen“ bzw. „ratenweisen“ Deliktsausführung, die sich folgendermaßen kennzeichnen lässt: Der Täter will einen bestimmten tatbestandsmäßigen Erfolg erreichen und teilt sein Vorgehen in mehrere gleichförmige Handlungen, die in einem zeitlichen Abstand vorgenommen werden und jeweils schon eine gewisse (Teil-)Wirkung entfalten, wobei die Summe der Handlungen bzw. Teilwirkungen dann zum Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs führt. Im Unterschied zu einer länger dauernden Ausführungshandlung (z. B. mehrminütiges Würgen bis zum Todeseintritt) liegen zwischen den einzelnen Etappen längere Zeiträume, in denen keine Ausführungshandlung stattfindet. Neben dem Beispiel des Giftmords auf Raten wäre eine etappenweise Deliktsausführung etwa auch bei einer Umweltstraftat denkbar, wenn ein Täter, damit sein Verhalten weniger auffällt, alle zwei Tage eine Teilmenge giftiger Abfallstoffe in ein Gewässer kippt, wobei erst ab einer gewissen Menge (wie der Täter in seinen Vorsatz 39 Allerdings käme in Österreich und Deutschland der Straftatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung mit fahrlässiger Todesfolge (§ 86 öStGB, § 227 dStGB) zur Anwendung. In der Schweiz bliebe es – mangels eines solchen kombinierten Tatbestands – bei vorsätzlicher Körperverletzung (Art. 122, 123 schwStGB) und fahrlässiger Tötung (Art. 117 schwStGB). 40 Oben unter II.

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aufgenommen hat) eine Gefahr für den Tier- bzw. Pflanzenbestand in erheblichem Ausmaß entstehen kann (§ 180 Abs. 1 Z 2 öStGB). Liegt hierbei ein Versuch von § 180 Abs. 1 Z 2 öStGB bereits ab Beginn der Entsorgung vor oder erst in jenem fortgeschrittenen Stadium, in dem durch die Summe der bis dahin entsorgten Abfallstoffe die tatbestandliche Gefährlichkeit eintritt? Ebenso ist z. B. die etappenweise Begehung einer Nötigung möglich, wenn der Täter nicht davon ausgeht, dass bereits seine erste Drohung zur Nötigung des Opfers ausreiche, sondern plant, durch tägliche Wiederholung und Verstärkung der Drohung insgesamt ein ausreichendes Drohungsszenario aufzubauen. Analog ist bei einem Betrug denkbar, dass der Täter davon ausgeht, in regelmäßigen Abständen mehrfach täuschend auf das Opfer einwirken zu müssen, bis dieses sich zur gewünschten Handlung verleiten lässt. Ist in solchen Fällen bereits mit der ersten Einwirkung auf die Motivation des Opfers durch Drohung oder Täuschung ein Nötigungs- bzw. Betrugsversuch gegeben oder erst bei jenem Drohungs- oder Täuschungsakt, bei dem der Täter davon ausgeht, dieser könne nun ausreichen, um das Opfer zum gewünschten Verhalten zu motivieren? 2. Keine gesetzlichen Vorgaben Zur Frage, wann in den geschilderten Fällen einer etappenweisen Deliktsbegehung der Versuch beginnt, kann der gesetzlichen Regelung keine verbindliche Aussage entnommen werden. Die Formulierung im österreichischen Recht („eine der Ausführung unmittelbar vorangehende Handlung“; § 15 Abs. 2 öStGB) stellt zwar klar, dass eine der Ausführungshandlung vorgelagerte Verhaltensweise nur dann einen Versuch begründen kann, wenn sie der Ausführungshandlung unmittelbar vorausgeht; wann genau die Ausführungshandlung selbst beginnt, ist allerdings nicht geregelt. Deshalb lässt sich klar sagen, dass dann, wenn man erst eine spätere Etappe als Ausführungshandlung ansieht, die früheren Etappen mangels unmittelbaren Vorangehens noch keinen Versuch begründen; offen bleibt aber, ob die früheren Etappen selbst schon zur (zeitlich gestreckten) Ausführungshandlung gehören. Auch die schweizerische Regelung, die schlicht auf den Beginn der Ausführung abstellt („nachdem er mit der Ausführung […] begonnen hat“; Art. 22 Abs. 1 schwStGB), klärt nicht, wann bei etappenweiser Begehung die „Ausführung“ beginnt. Am ehesten erscheint die deutsche Regelung („zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“; § 22 dStGB) in Richtung eines späteren Versuchsbeginns zu deuten, weil sie anscheinend verlangt, dass eine unmittelbare Nähe zur gesamten Tatbestandsverwirklichung bestehen müsse. Allerdings ist dieses Erfordernis schon deshalb zu relativieren, weil jedenfalls der (zur Tatbestandsverwirklichung gehörende) Erfolgseintritt noch nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe liegen muss. Letztlich bleibt deshalb wohl auch bei dieser gesetzlichen Formulierung ein Bewertungsspielraum, ob bei einem ratenweisen Giftmord bereits in der ersten Giftbeigabe oder erst dann, wenn der Täter die nächste Rate der Giftbeigabe für tödlich hält, ein „Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung“ zu sehen ist.

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3. Meinungsstand Die Frage, wann der Versuch bei etappenweiser Deliktsbegehung beginnt, ist bisher in Rechtsprechung und Schrifttum nicht hinreichend geklärt.41 So nimmt etwa Maiwald (unter dem Oberbegriff „sukzessive Tatbestandsverwirklichung“) unmittelbar auf das Beispiel eines etappenweisen Giftmords Bezug; seiner Ansicht nach bilden die mehreren Etappen trotz ihres zeitlichen Abstands „offensichtlich“ eine „natürliche Handlungseinheit“,42 wobei er implizit davon ausgeht, dass mit deren Beginn ein Versuch vorliege.43 Diese Sicht teilen offenbar auch Sternberg-Lieben/Schuster,44 in einer früheren Arbeit habe ich sie ebenfalls zugrunde gelegt.45 Gegenteilig haben sich in Deutschland insbesondere Jakobs46 und in Österreich Fuchs47 geäußert, indem sie bei etappenweiser Begehung eines Giftmords erst dann einen Versuch annehmen, wenn der Täter davon ausgeht, die nunmehr verab-

41 Zwar sind Fragen des Versuchsbeginns in den letzten Jahren immer wieder erörtert worden. Im Vordergrund stand dabei aber einerseits die Eingrenzung des unmittelbaren Vorfelds der Ausführungshandlung, andererseits wird seit dem bekannten deutschen „ApothekerGiftfallen-Fall“ (BGHSt 43, 177) verstärkt diskutiert, ob in Ausnahmefällen das Versuchsstadium auch dann noch nicht erreicht sein kann, wenn der Täter bereits alle zur Erfolgsherbeiführung erforderlichen Handlungen gesetzt hat, aber noch keine Gefahr entstanden ist bzw. der Täter das Geschehen noch nicht aus der Hand gegeben hat. Dazu z. B. Roxin, Strafrecht (Fn. 33), § 29 Rz. 212 ff.; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil7 (2015) 25. Kap. Rz. 29 ff.; für Österreich Wach, Versuchsbeginn bei nachfolgender unbewusst selbstschädigender Opfermitwirkung, RZ 2002, 791; Fuchs, Strafrecht (Fn. 34), 29. Kap. Rz. 26a; Kienapfel/Höpfel/ Kert, Strafrecht (Fn. 34), Z 21 Rz. 21; Steininger, Strafrecht (Fn. 34), Kap. 20 Rz. 26 ff. 42 Maiwald, Die natürliche Handlungseinheit (1964) 90 ff.: „Verabreicht der Täter seinem Opfer täglich eine kleine Dosis des Giftes, das schließlich wunschgemäß nach einem Jahr tödlich wirkt, so kann offensichtlich das zeitliche Intervall von einem Tage, das zwischen den Einzelakten liegt, diesen kein eigenständiges Gewicht verleihen, sie nicht zu einer Handlungsmehrheit machen.“ 43 A.a.O. 92. 44 Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 16), § 15 Rz. 58, nehmen im Beispiel eines ratenweisen Giftmords bei frühzeitigem Erfolgseintritt eine vollendete vorsätzliche Tötung an, also gehen sie implizit davon aus, dass bereits ein Versuch vorlag. 45 Schmoller, Bedeutung und Grenzen (Fn. 34), 57. 46 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1991) Abschn. 25 Rz. 67: „Der Täter, der dem Opfer wöchentlich eine Dosis Gift in der Hoffnung gibt, die Summierung werde zum Tod führen, beginnt den Versuch erst mit dem Ansetzen zur Eingabe derjenigen Dosis, die nach seinem Vorsatz erstmals tödlich sein könnte (streitig).“ 47 Fuchs, Tatentschluß und Versuchsbeginn, Triffterer-FS (1996) 73 (85): „Bei den früheren Giftgaben, die der Täter noch für völlig ungefährlich und unschädlich hält, fehlt es sowohl an der Ausführungshandlung zur Tötung als auch am verbindlichen Tatentschluss.“ – Der Hinweis auf einen fehlenden Tatentschluss überzeugt allerdings nicht, weil es sich insoweit um eine Tatfrage im Einzelfall handelt: Falls der Täter wirklich noch unsicher ist, ob er nach den ersten Giftbeigaben weiterhandelt, liegt tatsächlich kein Tatentschluss und deshalb kein Versuch vor. Die Versuchsproblematik stellt sich hingegen gerade in jenen Fällen, in denen ein (unbedingter) Tatentschluss vorliegt.

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reichte Giftdosis könne den Tod auslösen. Dieser Ansicht ist auch Hochmayr gefolgt.48 Aussagen zur etappenweisen Deliktsbegehung finden sich in Österreich ferner im Zusammenhang mit einem – infolge mehrerer geplanter Täuschungshandlungen – „mehrstufig angelegten“ Betrug. Diesbezüglich stellt der OGH nicht allein auf die letzte Täuschungshandlung ab; vielmehr stehe es bei einem mehrstufig angelegten Betrug der Annahme eines bereits strafbaren Versuchs nicht entgegen, dass der Täter „nach seinem Plan im Fall des Gelingens der einleitenden Täuschungsakte bis zur Vollendung der Tat noch weitere Ausführungshandlungen hätte setzen müssen“.49 Interessant ist insoweit ferner eine jüngere Entscheidung des OGH zu einem etappenweise begangenen Betrug:50 Zunächst hält der OGH fest, dass als Tathandlung (= Ausführungshandlung) eine für die Irreführung „entscheidende“ Täuschungshandlung anzusehen sei, wobei aber in diesem Sinn „auch mehrere (entscheidende) Täuschungshandlungen vorliegen“ können, die unter Umständen an verschiedenen Orten gesetzt werden.51 Damit wird anerkannt, dass mehrere etappenweise Täuschungen insgesamt die Ausführungshandlung bilden können. Der Versuchsbeginn ist danach bereits bei einer früheren Etappe anzunehmen, sofern diese als für die Tatbestandsverwirklichung „entscheidend“ bewertet wird. In die gegenteilige Richtung scheint auf den ersten Blick die österreichische Rechtsprechung zum (früheren) Inverkehrsetzen von Suchtmitteln zu deuten, wobei ab dem Überschreiten einer bestimmten Menge eine höhere Strafdrohung zur Anwendung kam. Im Hinblick auf einen Versuch dieses schweren Delikts hat der OGH nämlich formuliert: „Geschieht das Inverkehrsetzen mehraktig, liegt eine solche Ausführungshandlung erst dann vor“, wenn jener Akt vorgenommen wurde, „der beim in Verkehr gesetzten Suchtgift zum Erreichen der Grenzmenge führt, gleichsam ,das Fass zum Überlaufen bringt‘“.52 Bei näherer Betrachtung lässt sich diese Entscheidung allerdings nicht ohne weiteres auf die etappenweise Begehung eines Delikts übertragen. Denn der OGH befürwortet eine Zusammenrechnung der Suchtmittelmengen nicht nur innerhalb eines zusammenhängenden Delikts, sondern unter gewissen Voraussetzungen auch eine solche der Mengen aus mehreren 48 Hochmayr, Das sukzessive Delikt – ein neuer Deliktstypus, ZStW 122 (2010) 757 (773 f.). 49 OGH 25. 9. 2001, 14 Os 148/00. Zu diesem Problembereich näher Karollus, Zum Versuchsbeginn beim Betrug, JBl 1989, 627 (635), der die Ausführungshandlung des Betrugs in der „entscheidenden“ Täuschungshandlung sieht und ebenfalls betont, dass „der Umstand, daß nach dem Tatplan noch weitere Täuschungshandlungen gesetzt werden müssen, die Qualifizierung eines vorangehenden Täuschungsaktes als Ausführungsbeginn nicht unbedingt ausschließen muss“. 50 Der OGH spricht insoweit von einem Betrug, bei dem „nach dem Tatplan erst eine Mehrheit von Täuschungsakten zu einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung führen soll“ (EvBl 2015/150). 51 OGH (wie Fn. 50). 52 OGH JBl 2005, 600.

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getrennten Suchtmitteldelikten, ähnlich der Zusammenrechnung von Wert- bzw. Schadensbeträgen mehrerer Vermögensdelikte gemäß § 29 öStGB.53 Bei einer Zusammenrechnung aus mehreren Delikten ist aber klar, dass getrennte Ausführungshandlungen vorliegen und der Versuch eines späteren Delikts nicht schon bei der Ausführung eines früheren beginnen kann. Umstritten ist der Versuchsbeginn ferner bei sogenannten „sukzessiven“ Delikten, bei denen der Tatbestand von vornherein nur durch eine längere Abfolge einzelner Handlungen verwirklicht werden kann, wie etwa bei der Strafvorschrift gegen Stalking (§ 107a öStGB).54 Zum Teil wird ein Versuch von Stalking ab der ersten Stalkinghandlung angenommen;55 nach anderer Ansicht erst bei jener Stalkinghandlung, durch die eine „fortgesetzte Begehung durch längere Zeit“ ausgelöst wird.56 Eine gewisse Ähnlichkeit zur etappenweisen Begehung eines Delikts weisen die sogenannten „mehraktigen“ Delikte auf, die für die Vollendung des Tatbestands voraussetzen, dass der Täter mehrere zeitlich und örtlich trennbare Ausführungshandlungen setzt, wie etwa Raub (Gewaltanwendung/Drohung und Wegnahme) oder Vergewaltigung (Gewaltanwendung/Drohung und sexuelle Handlung), aber auch Einbruchsdiebstahl (Einbruch und Wegnahme). Ähnlich wie bei der etappenweisen Begehung eines Delikts stellt sich die Frage des Versuchsbeginns dann, wenn die beiden Teilakte nicht unmittelbar aufeinander folgen, etwa wenn der Täter ein Opfer gewaltsam zwingt, ihm den Zugangscode für sein Haus bekanntzugeben, um dann aus dem Haus Wertgegenstände wegzunehmen (versuchter Raub?), wenn der Täter ein Opfer gewaltsam zu sich nach Hause bringt und dort einsperrt, um es am Abend zu vergewaltigen (versuchte Vergewaltigung?), oder wenn der Täter am ersten Abend die Umzäunung eines Lagerplatzes aufbricht, um am nächsten Abend mit dem Lastwagen zu kommen und gelagerte Ware wegzunehmen (versuchter Einbruchsdiebstahl?). Die österreichische Rechtsprechung und ihr folgend die überwiegende Meinung lassen den Versuch des ersten Teilakts (als Teil der Ausführungshandlung) für die Annahme eines Versuchs des gesamten mehraktigen Delikts genügen.57 Jedoch wird auch die Gegenansicht vertreten und ein Versuch des mehraktigen Delikts erst ab einem Versuch des zweiten Teilakts angenommen (danach beginnt der Versuch nur 53 Näher mit Kritik Schmoller, Zusammenrechnung von Suchtgiftmengen und Anzahl der verwirklichten Delikte, Burgstaller-FS (2004) 133 ff. 54 Nach § 107a öStGB müssen die dort umschriebenen Verhaltensweisen „eine längere Zeit hindurch fortgesetzt“ begangen werden. 55 Z. B. Birklbauer/Hilf/Tipold, Strafrecht Besonderer Teil I3 (2015) § 107a Rz. 2 m.w.N. 56 Z. B. Hochmayr, ZStW 122 (Fn. 48), 776; Schwaighofer, in: Wiener Kommentar (Fn. 21), § 107a Rn. 35; beide m.w.N. 57 OGH 8. 8. 1995, 14 Os 93/95 = ÖJZ-LSK 1996/132; Birklbauer/Hilf/Tipold, Strafrecht (Fn. 56), § 29 Rz. 38; Burgstaller, JBl 1976 (Fn. 34), 113 (118); Fabrizy, in: Wiener Kommentar (Fn. 21), § 12 Rz. 32; Hinterhofer, in: Salzburger Kommentar (Fn. 22), § 201 Rz. 71; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht (Fn. 34), Z 21 Rz. 19; Kienapfel/Schmoller, Strafrecht Besonderer Teil II (2003) § 129 Rz. 47; Leukauf/Steininger, Kommentar (Fn. 34), § 15 Rz. 12; Salimi, in: Salzburger Kommentar (Fn. 22), § 129 Rz. 112; Triffterer, Strafrecht (Fn. 17), Kap. 16 Rz. 56; schon Rittler, Strafrecht Allgemeiner Teil2 (1954) 88 und 265.

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dann mit dem ersten Teilakt, wenn dieser die dem zweiten Teilakt „unmittelbar vorangehende Handlung“ i.S. des § 15 Abs. 2 öStGB bildet).58 Die Problematik des mehraktigen Delikts ist indes etwas anders gelagert als jene bei etappenweiser Deliktsbegehung: Denn beim mehraktigen Delikt wird unzweifelhaft bereits eine tatbestandsmäßige Ausführungshandlung gesetzt (nämlich jene des ersten Teilakts), wobei die Frage dahin geht, ob dies bei einem Tatbestand, der mehrere Ausführungshandlungen umschreibt, für eine Versuchsstrafbarkeit ausreicht. Bei etappenweiser Deliktsbegehung ist hingegen gerade fraglich, ob auch die ersten Etappen schon zur tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung gehören. 4. Früher Versuchsbeginn bei möglichem vorzeitigen Erfolgseintritt Im Folgenden kann nicht zum Versuchsbeginn bei allen vorstehend angesprochenen Fällen einer „sukzessiven“ Deliktsverwirklichung Stellung genommen werden, deren Ausgangslage zum Teil auch unterschiedlich ist. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, dass der hier behandelte ratenweise Giftmord und diesem gleichgelagerte Fälle einer etappenweisen Deliktsbegehung durch eine Besonderheit gekennzeichnet sind, die sie von den anderen genannten Fällen unterscheidet (und durch die sich der Kreis zur vorstehenden Erörterung eines vorzeitigen Erfolgseintritts schließt): Die Besonderheit besteht in der (zumindest abstrakten) Möglichkeit, dass schon einzelne ausgeführte Etappen vorzeitig den Erfolg herbeiführen. Bei einem geplanten ratenweisen Giftmord kann eine versehentlich zu hohe Dosierung schon nach der ersten Etappe den Tod auslösen. Im ähnlich gelagerten Beispiel einer etappenweise begangenen Umweltverschmutzung ist denkbar, dass entgegen der Tätervorstellung bereits die erste Etappe der Abfallentsorgung (wenn die Stoffe wesentlich schädlicher sind als angenommen) die Umwelt in einer Weise belastet, dass schon dadurch eine Gefahr für den Tier- oder Pflanzenbestand entstehen kann. Auch bei einer auf mehrere Drohungen angelegten Nötigung oder einem auf mehrere Täuschungen angelegten Betrug ist denkbar, dass sich das Opfer entgegen der Tätererwartung bereits durch die erste Drohung oder durch die erste Täuschung entsprechend motivieren lässt und das vom Täter gewollte Verhalten vornimmt, ohne dass der Täter weitere eingeplante Drohungen bzw. Täuschungen setzen muss. Diese Besonderheit eines (grundsätzlich) möglichen vorzeitigen Erfolgseintritts unterscheidet die hier behandelten Fälle einer etappenweisen Deliktsbegehung von ähnlich gelagerten Konstellationen. Beispielsweise ist es bei Stalking-Handlungen nicht möglich, dass die Tatbestandsverwirklichung vorzeitig eintritt. Denn wenn im Tatbestand verlangt wird, dass die dort bezeichneten Handlungen „eine längere Zeit hindurch fortgesetzt“ begangen werden, kann diese Voraussetzung von vornherein nicht durch eine oder einige wenige Stalking-Handlungen erfüllt werden. Ähnlich 58 Fuchs, Strafrecht (Fn. 34), 29. Kap. Rz. 24 f.; ders., Triffterer-FS (Fn. 47), 73 (85 f.); Hager/Massauer in: Wiener Kommentar (Fn. 21), §§ 15, 16 Rz. 37; Steininger, Strafrecht (Fn. 34), Kap. 20 Rz. 23.

Ratenweiser Giftmord mit vorzeitigem Todeseintritt

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ist die Situation bei mehraktigen Delikten, denn wenn man allein den ersten Teilakt eines mehraktigen Delikts vornimmt, kann dies nicht zur vorzeitigen Tatbestandsverwirklichung führen. Beispielsweise kann allein die Gewaltanwendung oder Drohung beim Raub bzw. der Vergewaltigung nicht zu irgendeinem vorzeitigen Erfolgseintritt führen, solange nicht der zweite Teilakt (Wegnahme bzw. sexuelle Handlung) vorgenommen wird. Auch wenn jemand beim Einbruchsdiebstahl die Tür aufbricht, ist vor der zusätzlichen Wegnahmehandlung kein wie immer gearteter vorzeitiger Erfolgseintritt möglich. Gerade die grundsätzliche Möglichkeit eines vorzeitigen Erfolgseintritts spricht allerdings beim etappenweisen Giftmord und vergleichbaren Konstellationen gegen eine zu späte Festlegung des Versuchsbeginns, weil es unbefriedigend erscheint, wenn bei vorzeitigem Erfolgseintritt, also im Fall eines vorzeitigen „Gelingens“ der Tatbestandsverwirklichung, eine bloß fahrlässige Begehung angelastet wird: Wer einen Giftmord plant und Gift verabreicht, sollte, wenn das Gift stärker als erwartet wirkt, wegen eines gelungenen (vollendeten) Giftmords, nicht wegen einer bloß fahrlässigen Herbeiführung des Todes (allenfalls zusätzlich zu einer vorsätzlichen Körperverletzung)59 verurteilt werden. Damit zeichnet sich ein Ergebnis ab: Bei Konstellationen einer etappenweisen Deliktsbegehung, bei der die grundsätzliche Möglichkeit eines vorzeitigen Erfolgseintritts besteht, tritt der Täter mit der Vornahme jener Etappe ins strafbare Versuchsstadium, mit der er diese Möglichkeit eröffnet. Bei einem geplanten ratenweisen Giftmord wird dies regelmäßig bereits mit der ersten Giftbeibringung der Fall sein, weil in solchen Fällen stets die Möglichkeit einer versehentlich zu hohen Dosierung des Gifts oder auch einer besonderen Empfindlichkeit des Opfers besteht und dies zum vorzeitigen Todeseintritt führen kann. Eine Grenze der Strafbarkeit ist nur dort zu ziehen, wo die Verabreichung einer Substanz – wegen ihrer für jedermann offensichtlichen Ungefährlichkeit – einen absolut untauglichen Versuch darstellt; dieser bleibt gemäß § 15 Abs. 3 öStGB straflos. Abgesehen von solchen Sonderfällen ist deshalb bei einem ratenweisen Giftmord oder einer ähnlichen etappenweisen Deliktsverwirklichung grundsätzlich davon auszugehen, dass mit der ersten Etappe der Giftbeigabe das strafbare Versuchsstadium beginnt.60 Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass zentrale Kriterien und Formulierungen, die in Rechtsprechung und Schrifttum als Orientierungshilfe für den Versuchsbeginn genannt werden, bei einem ratenweisen Giftmord auch schon für die erste Giftbeigabe zutreffen. So lässt sich das Kriterium des „Jetzt geht es los!“61 bei einem geplanten Giftmord zwanglos auf jene Handlung beziehen, mit der die Giftbeigabe begonnen wird. Auch die „Überwindung der entscheidenden Hemmstufe“62 59 Bzw. wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit fahrlässiger Todesfolge (vgl. oben Fn. 39). 60 Vgl. oben Fn. 42 – 45. 61 Nachweise oben in Fn. 33. 62 Nachweise oben in Fn. 34.

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kann in jenem Zeitpunkt gesehen werden, in dem der Täter mit seinem Plan wirklich ernst macht und damit beginnt, dem Opfer Gift zu verabreichen. Häufig wird für den Versuchsbeginn auch als relevant angesehen, dass der Täter „in eine Beziehung zur Sphäre des Opfers tritt“,63 eine „tätige Beziehung zum Angriffsgegenstand“ aufnimmt oder „einen Angriff auf den fremden Rechtskreis“ startet;64 dieses Merkmal ist beim ratenweisen Giftmord schon mit der ersten Giftbeigabe erfüllt. Auch wenn auf das Kriterium eines „sozial auffälligen Verhaltens“65 oder auf die „Erschütterung des Rechtsfriedens“66 abgestellt wird, trifft dies bereits auf die erste Giftbeigabe zu. Bezüglich der Überlegung von Sautner, dass für die Festlegung des Versuchsbeginns die aus dem Verhalten drohenden Nachteile gegenüber der Handlungsfreiheit des Täters abzuwägen seien,67 fällt das Urteil ebenfalls klar aus: die Handlungsfreiheit des Täters endet gewiss schon bei der ersten Giftbeigabe. 5. Resümee Die Frage, wann bei sukzessiver Tatbegehung das Versuchsstadium beginnt, betrifft unterschiedliche Fallkonstellationen und kann hier nicht umfassend beantwortet werden, insbesondere wird zum Versuchsbeginn bei mehraktigen Delikten nicht weiter Stellung genommen. Allerdings weisen die Fälle einer „etappenweisen Deliktsbegehung“ (wie etwa ein ratenweise begangener Giftmord) im Vergleich zu sonstigen Fällen einer sukzessiven Tatbegehung die Besonderheit auf, dass bei ihnen von Anfang an die grundsätzliche Möglichkeit eines vorzeitigen Erfolgseintritts besteht. Diese von Beginn an bestehende Möglichkeit eines vorzeitigen Erfolgseintritts legt nahe, in solchen Fällen den Versuchsbeginn bereits bei der ersten Etappe anzusetzen. Die in Rechtsprechung und Schrifttum genannten unterschiedlichen Orientierungshilfen für die Festlegung des Versuchsbeginns deuten ebenfalls in diese Richtung.

IV. Ergebnis: Vollendete Vorsatztat Somit kann der Ausgangsfall eines ratenweisen Giftmords mit vorzeitigem Todeseintritt – nach den Erörterungen unter II. und III. – einer zusammenfassenden Lösung zugeführt werden: Bei der Verwirklichung seiner Absicht auf Giftmord durch ratenweise Giftbeigabe ist der Täter bereits mit der ersten Giftbeigabe in das Stadium des strafbaren Ver63

Z. B. Roxin, Tatentschluß und Anfang der Ausführung beim Versuch, JuS 1979, 1 (4); Hillenkamp, in: Leipziger Kommentar (Fn. 29), § 22 Rz. 72; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil4 (2015) § 9 Rz. 56; jeweils m.w.N. 64 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil7 (2012) § 15 Rz. 72 f. 65 Hillenkamp, in: Leipziger Kommentar (Fn. 29), § 22 Rz. 73. 66 Vgl. Roxin, JuS 1979 (Fn. 63), 5. 67 Sautner, Der Beginn der Strafbarkeit beim Versuch, JBl 2013, 753 (760).

Ratenweiser Giftmord mit vorzeitigem Todeseintritt

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suchs gelangt (oben III.). Führt nun schon eine frühere Rate der Giftbeigabe als vom Täter erwartet (in objektiv zurechenbarer Weise) zum Tod des Opfers, hat der Täter das Opfer vorsätzlich getötet. Der Mordversuch ist nicht „misslungen“, sondern letztlich gelungen. Aus dem zunächst nur versuchten Mord wird mit dem Tod des Opfers ein vollendeter Mord (oben II.). Damit hat sich der erste Eindruck, dass im Ausgangsfall insgesamt ein gelungener Giftmord vorliegt (oben I.2.), bestätigt.

Zum Besonderen Teil des Strafrechts

Besitz als Straftat und die Funktion der subjektiven Tatseite Überlegungen aus einer vergleichenden Perspektive Kai Ambos* Keiichi Yamanaka ist nicht nur ein großer Strafrechtslehrer, sondern auch Ehrendoktor der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und so eng mit unserer Fakultät verbunden. Es ist mir deshalb nicht nur eine Ehre, sondern auch eine große Freude, hier einige Überlegungen zu einem diffizilen dogmatischen Thema zu präsentieren, von denen ich sicher bin, dass sie auf das Interesse des Jubilars stoßen werden. Dies nicht nur, weil er sich selbst im Laufe seines bisherigen wissenschaftlichen Wirkens mehrfach mit Fragen der allgemeinen Strafrechtsdogmatik befasst hat, sondern weil das Thema der Besitzdelikte auch in Japan große Relevanz besitzt.1 Dort existieren zahlreiche Besitzdelikte,2 und die Strafbarkeit setzt häufig eine bestimmte Verwendungsabsicht der betreffenden Gegenstände voraus.3 Wie meine kleine Untersuchung zeigen wird, liegt in der subjektiven Tatseite der Besitzdelikte tatsächlich der Schlüssel zu ihrer rechtsstaatlich notwendigen Begrenzung. Ad multos annos, lieber Herr Kollege Yamanaka!

*

Ich danke Frau Jasmin Marjam Rezai-Dubiel für unentbehrliche Unterstützung bei der Erstellung des Textes. 1 Insoweit danke ich Herrn Masamitsu Tomikawa, Doktorand Chuo Universität Tokyo, für die Zusammenstellung relevanter Informationen. 2 Z. B. Besitz von pornographischem Material (§ 175 Abs. 2 japStGB sowie § 7 Gesetz zur Regelung und Bestrafung von Kinderprostitution und Kinderpornographie und zum Schutz von Kindern), von Waffen (§ 31 – 3 Gesetz zur Kontrolle des Besitzes von Schusswaffen oder Schwertern und anderer ähnlicher Waffen), von Betäubungsmitteln (z. B. § 140 japStGB sowie Spezialgesetze zu unterschiedlichen Betäubungsmitteln). 3 s. etwa zur Kinderpornographie (alte Rechtslage) Oberster Gerichtshof („Saikô Saibansyo“), Beschluss von 16. 5. 2006, in Keisyû (Entscheidungssammlung des OGH in Strafsachen) Bd. 60 Nr. 5, S. 413, abrufbar unter . Nach der neuen Rechtslage ist eine Verbreitungsabsicht nicht mehr erforderlich, sondern die Absicht der Befriedigung der eigenen Sexualneugier reicht aus.

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I. Struktur, Grundlage und einige Probleme der Besitzdelikte Besitzdelikte kriminalisieren den bloßen Besitz von Sachen und Gegenständen. Da diese Delikte sehr vielfältig auftreten,4 ist eine Systematisierung und Klassifizierung sinnvoll. Aus naturalistischer Sicht kann man auf die Gefährlichkeit der Besitzgegenstände abstellen. Diese können per se gefährlich sein (zum Beispiel Waffen, unerlaubte Drogen, pornographisches Material5 oder einige chemische Substanzen)6 oder per se neutral oder unschädlich (zum Beispiel Werkzeuge, die normalerweise für einen rechtmäßigen Zweck eingesetzt werden, etwa zur Reparatur, aber auch einem strafbaren Zweck, etwa einem Einbruchsdiebstahl, dienen können).7 Diese doppelte Gebrauchsmöglichkeit macht die zuletzt genannten Gegenstände zu solchen mit doppeltem Verwendungszweck (dual use). Die Art des Besitzgegenstands präjudiziert die Begründbarkeit seiner Kriminalisierung: prima vista kann nur die Kriminalisierung des Besitzes gefährlicher Gegenstände gerechtfertigt werden. Die Kriminalisierung gründet sich also auf den diesen Gegenständen inhärenten Gefahren oder Risiken, welche die gesetzgeberischen Bemühen um ihre Eindämmung mittels strafrechtlicher Prohibition legitim erscheinen lassen.8 Die Besitzdelikte sind in der Regel also präventiv ausgerichtet:9 Sie zielen darauf ab, das mit dem Gebrauch und dem unkontrollierten Besitz einhergehende Schadensrisiko zu minimieren.10 Im Gegensatz dazu kann die Kriminalisierung des Besitzes neutraler Gegenstände nur gerechtfertigt werden, wenn etwas zu dem bloßen Besitz hinzutritt, nämlich der unerlaubte Gebrauch des betreffenden Gegenstands zu kriminellen Zwecken (etwa – im Sinne des o.g. Beispiels – die Verwendung eines an sich neutralen Werkzeugs zur Begehung eines Einbruchsdiebstahls). Wir werden auf diese notwendige Einschränkung zurückkommen. 4 Siehe etwa Ashworth/Zedner, New Criminal Law Review 15 (2012), 542, 545 ff. (England); Dubber, Journal of Criminal Law & Criminology [J. Crim. L. & Criminology] 91 (2001), 829 (834 f., 865 f.); ders., in: Duff/Green (Hrsg.), Defining Crimes: Essay on the Special Part of Criminal Law, 2005, S. 91 (96 f.) (USA, New York); Eckstein, Besitz als Straftat, 2011, S. 39 ff. (Deutschland); Hochmayr, Strafbarer Besitz von Gegenständen, 2005, S. 6 ff. (Österreich, Deutschland, Schweiz). 5 Dies ist auch in der Heimat unseres Geehrten strafbar, o. Fn. 2. 6 Zu den gefährlichen Gegenständen siehe auch Eckstein (Fn. 4), S. 70 ff.; Hochmayr (Fn. 4), S. 51 (mit Blick auf das verletzte Rechtsgut). 7 Zur gleichen Unterscheidung Pastor, GA 2006, 793 (797 f.) (Fälle mit der Struktur a und b); näher dies., Los delitos de posesión y los delitos de estatus: una aproximación políticocriminal y dogmática, 2005. 8 Ähnlich Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 799; siehe außerdem Schroeder, ZIS 2007, 444 (448) rechte Spalte („Quelle von Gefahren“); siehe zum Vergleich mit abstrakten Gefährdungsdelikten außerdem Hochmayr (Fn. 4), S. 150. 9 Ähnlich Ashworth/Zedner (Fn. 4), 546; insbesondere zur Sicherheit als Rechtfertigung für die Kriminalisierung des Waffenbesitzes Tadros, Modern Law Review [Mod.L.Rev] 71 (2008), 940 (943 ff.). 10 Diesem Ansatz insofern zustimmend, als er eine frühe polizeiliche Intervention erleichtert Simester/Spencer/Sullivan/Virgo, Simester and Sullivan’s Criminal Law, 5. Aufl. 2013, S. 81 f.

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Vor allem die Kriminalisierung des Besitzes per se neutraler Gegenstände wirft eine Reihe von Problemen auf. Zunächst führt sie zu einem Perspektivenwechsel: weg von dem ungefährlichen Gegenstand, hin zu der (mutmaßlichen) Gefährlichkeit seines Besitzers. Die Gefahr wird erst durch den Besitzer geschaffen. Das Strafrecht des Besitzes wird zu einem Recht zur strafrechtlichen Kontrolle gefährlicher Besitzer – ähnlich dem klassischen Recht zur Kontrolle „Asozialer und Landstreicher“11 – und geriert sich so als Form der Sozialkontrolle mutmaßlich gefährlicher Personen.12 Aus dieser Perspektive sind Besitzdelikte Ausdruck eines polizeilich ausgerichteten Strafjustizsystems,13 das diese Delikte zur Überwachung und Stigmatisierung „gefährlicher“ oder „asozialer“ Mitglieder der Gesellschaft nutzt.14 Aus der hierzulande verbreiteten Perspektive einer strengen konzeptionellen Unterscheidung zwischen einem vergangenheitsbezogenen, repressiven Strafrecht und einem zukunftsorientierten, präventiven Polizeirecht gehören die Besitzdelikte daher eher zu letzterem, schaffen sie doch eine polizeirechtliche Verantwortlichkeit aufgrund eines gefährlichen Zustands und machen so die Besitzer zu Störern.15 Natürlich kann kein demokratischer Gesetzgeber dies so aussprechen. Er kann nicht per se neutrale Gegenstände unter der Voraussetzung kriminalisieren, dass sie von mutmaßlich „gefährlichen“ Personen in Besitz genommen werden. Aus diesem Grund wird direkt der Besitz dieser Gegenstände kriminalisiert, ungeachtet der daraus resultierenden Überkriminalisierung. Ferner beruht die Kriminalisierung per se neutraler Gegenstände auf einer doppelten Mutmaßung, und zwar sowohl hinsichtlich der Gefährlichkeit des Besitzers als auch der Begehung von (vorausgehenden oder zukünftigen) Straftaten. Hinsichtlich des Besitzers ersetzt die Annahme seiner Gefährlichkeit die fehlende Gefährlichkeit des Gegenstands. So stützt sich etwa die Kriminalisierung der genannten 11

Dubber (Fn. 4 [J. Crim. L. & Criminology]), 836 („possession has replaced vagrancy as the sweep offense of choice“), 859 („paradigmatic offense in the current campaign to stamp out crime by incapacitating as many criminals as we can get our hands on“), 908 („offense designed and applied to remove dangerous individuals even before they have had an opportunity to manifest their dangerousness in an ordinary inchoate offense“), 908 ff. Das weckt auch ungute Erinnerungen an NS-Gesetzgebung, vgl. zum „Gesetz über die Behandlung der Gemeinschaftsfremden!“ Muñoz Conde, Edmund Mezger, Beiträge zu einem Juristenleben, 2007, S. 18 ff. 12 Fletcher, Rethinking Criminal Law, 1978 (unver. Nachdruck 2002), S. 202 ff. 13 Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 97 („criminal justice turned police system“). 14 Ebd. („Possession […] functions like a modern sweep offense that sweeps far wider than the original sweep offense, vagrancy, as every day there are far more criminal possessors than there are vagrants and packs a far greater punch, with maximum penalties for possession alone extending to life imprisonment without the possibility of parole, without mentioning the substantial possession enhancements for other crimes, as contrasted with the overnight jailings followed by a more or less formal order to ,get out of town‘ once common for those deemed vagrants“); zum Besitzer hinsichtlich seines Status und seiner Gefährlichkeit siehe ebd., 113 f.; zur Angleichung von gefährlicher Person und Gegenstand siehe ebd., 116. 15 Aus deutscher Perspektive siehe Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 323, 336 ff. („polizeirechtliche[r] Zustandsstörerverantwortlichkeit“).

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dual use-Gegenstände auf der Annahme ihrer möglichen unerlaubten Verwendung, welche wiederum in der mutmaßlichen Gefährlichkeit des Besitzers gründet. Freilich kann dessen Gefährlichkeit legitimerweise nur dann angenommen werden, wenn sie sich aus zuverlässigen und objektiven Hinweisen ergibt, etwa konkreten Vorbereitungshandlungen zur Durchführung einer Straftat oder der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.16 Andernfalls stellt die Kriminalisierung eine illegitime Mutmaßung dar, die einer – auf einem unbegründeten Verdacht beruhenden – Verdachtsstrafe gleich kommt.17 Die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Mutmaßung entspricht der klassischen Unterscheidung zwischen manifester (objektiver) und subjektiver Kriminalität:18 Während für jene ein gefährliches Objekt zur Begründung von Kriminalität notwendig ist,19 stützt sich diese einzig auf die Gefährlichkeit des Besitzers, um die Kriminalisierung zu rechtfertigen. Natürlich kann die genaue Grenze zwischen legitimer und illegitimer Mutmaßung schwerlich abstrakt bestimmt werden, hängt sie doch von Art und Intensität der objektiven Manifestation der Gefährlichkeit des Besitzers ab.20 Was nun die zweite Mutmaßung – die mutmaßliche Tatbegehung – angeht, so kann man sie auf die Vergangenheit oder Zukunft stützen. Nehmen wir etwa den Besitz von Drogen, wo einerseits vorgelagertes Verhalten (Anbau, Herstellung, Erwerb, Import) und andererseits nachgelagertes Verhalten (Gebrauch, Verkauf, Export)21 kriminalisiert wird. Daraus ergibt sich die Logik der Vor- oder Nachverlagerung als weiteres wichtiges Merkmal der Besitzdelikte.22 Die Mehrheit der Besitzdelikte folgt der erstgenannten Logik insofern, als der Besitz als solcher keinen Schaden anrichtet oder irgendein Rechtsgut verletzt. Aus der Perspektive des Schadensprinzips („harm principle“)23 erscheinen die Besitzdelikte daher als „harmless“24 – wenn auch 16 Vgl. Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 800 ff. (die argumentiert, dass die „Äußerung der subjektiven Gefährlichkeit“ des Täters in den Fällen mit der „Struktur c, d und e“ die „persönlichen Bedingungen der Sicherheit“ verletzt, die als Teil eines normativen Sicherheitskonzeptes einen grundlegenden Pfeiler unserer Gesellschaft darstellen). 17 Ähnlich Nestler, in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 65 (68); Eckstein (Fn. 4), S. 261 ff. (mit Bezugnahme auf einige Besitzdelikte); Deiters, GA 2004, 58 (61); Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 800, 803 (für die Fälle mit der „Struktur b“). 18 Fletcher (Fn. 12), S. 200. 19 Siehe in diesem Sinne zum Beispiel Section 5.06 (2) MPC („presumption of criminal purpose from possession of weapon“). 20 Siehe auch Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 803 (die zugibt, dass es schwierig zu bestimmen sei, „ab wann ein Verhalten eindeutig die Qualität einer Äußerung der subjektiven Gefährlichkeit gewinnt“.) 21 Dubber (Fn. 4 [J. Crim. L. & Criminology]), 907. 22 Vgl. Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 798 ff. 23 Zu diesem im angloamerikanischen Recht dominanten Strafrechtsbegrenzungsprinzip vgl. Ambos, FS Wolter, 2013, S. 1293 ff. 24 Dubber (Fn. 4 [J. Crim. L. & Criminology]), 861, 926; ders. (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 91, 99; differenzierend Fletcher (Fn. 12), S. 198 (man müsse nicht beweisen, „that the defendant intended to harm anyone with the material possessed“).

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nicht notwendigerweise als „resultless“.25 Aus der Sicht des Rechtsgutsprinzips kann man – ganz im Sinne der genannten Vor- und Nachverlagerung – zwischen einer „Vor- und Nachverletzungsphase“ unterscheiden.26 Wie schon gesagt, kriminalisieren die Besitzdelikte gewöhnlich den Besitz mit dem Ziel, den Eintritt zukünftiger Schäden oder die Verletzung von Rechtsgütern zu verhindern. Ausnahmsweise findet die Kriminalisierung jedoch ihre Begründung in der Nicht-Perpetuierung eines bereits verursachten Schadens oder einer bereits eingetretenen Rechtsgutsverletzung. Die Besitzdelikte folgen insoweit der Logik der klassischen Kriminalisierung des auxilium post delictum, beispielsweise im Fall des Empfangs (der Inbesitznahme) gestohlener Güter (was gewöhnlich als Hehlerei strafbar ist).27 Der Grund der Kriminalisierung, nämlich die Vermeidung der Aufrechterhaltung des unrechtmäßigen Besitzentzugs,28 ist hier völlig legitim und in vielen Rechtssystemen anerkannt.29 Etwas anders liegt der Fall beim Besitz von Kinderpornographie. Hier verfolgt die Kriminalisierung unter anderem den Zweck, dem Missbrauch von Kindern zum Zwecke der Produktion des pornographischen Materials vorzubeugen, indem die Nutzer abgeschreckt werden, dadurch die Nachfrage nach diesem Material verringert und dadurch wiederum der ökonomische Anreiz zu dessen Produktion beseitigt wird. 30 Die beschriebene Logik der Vorverlagerung ist bezüglich der neutralen Besitzgegenstände mit dem Schadens- und Rechtsgutsprinzip unvereinbar, denn der insoweit kriminalisierte Besitz selbst verursacht weder einen Schaden noch eine Rechtsgutsverletzung. Wird andererseits der Besitz gefährlicher Gegenstände kriminalisiert, zielen die entsprechenden Besitzdelikte, ebenso wie Gefährdungsdelikte,31 darauf ab, Schadens- oder Rechtsgutsrisiken zu verhindern. Aber auch hier tritt erneut ein Abgrenzungsproblem auf, diesmal hinsichtlich der Grenzziehung zwischen ausreichend konkreten/schadensnahen Risiken und zu abstrakten/entfernten Schäden. Nehmen wir als Beispiel den Fall des Waffenbesitzes: Ist eine Waffe zwar durchaus ein per se gefährlicher Gegenstand – sie kann zur Tötung oder Verletzung benutzt 25

Ungenau insoweit Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 99, der „result“ (Folge) und „harm“ (Schaden) auf eine gleiche Stufe stellt. Doch ist „harm“ nur ein mögliches, aber nicht das einzige „result“ menschlichen Verhaltens oder der Deliktsbegehung. „Result“ ist, mit anderen Worten, also ein Oberbegriff, der „harm“ – als ein mögliches „result“ – mitumfasst. Im Fall der Besitzdelikte könnte man durchaus argumentieren, dass das „result“ der – durch eine vorausgehende Handlung erlangte – Besitz selbst ist (zum Beispiel der Besitz von Drogen als „result“ seines Ankaufs), obwohl dieses „result“ als solches gewöhnlich nicht schädlich („harmful“) ist; siehe zudem Fn. 51 mit Haupttext. 26 Eckstein (Fn. 4), S. 81 ff., S. 256 f. 27 Vgl. Green, New Cr.L.Rev 14 (2011), 35 (35). 28 Ebd., 37. 29 Siehe bspw. §§ 257, 259 StGB und ebenso – für die spanisch- und portugiesisch-sprachigen Rechtssysteme – Art. 298 spanischer Código Penal (CP), Art. 194 f. peruanischer CP („receptación“) und Art. 180 brasilianisches CP („receptação“). 30 Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 804; Eckstein (Fn. 4), S. 67 ff. 31 Besitzdelikte stellen zumindest abstrakte Gefährdungsdelikte dar; zum Streit siehe Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 99 ff.

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werden – und ist ihr damit ein Schadensrisiko immanent, so kann sie doch auch so sicher verwahrt werden, dass sie nur von ihrem rechtmäßigen Besitzer zu legalen Zwecken verwendet werden kann. Daher kann man die Kriminalisierung des Waffenbesitzes als legitim oder illegitim ansehen, abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls, der Art der Waffe und, wohl am wichtigsten, den rechtskulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft. Kritikwürdig ist und bleibt jedenfalls, dass Besitzdelikte die Kriminalisierung sogar über den Versuch hinaus vorverlagern,32 da sie kein restriktives Verhaltenselement (etwa einen „wesentlichen Schritt“, „physische Nähe“ oder ein anderes einschränkendes Kriterium33) verlangen. In diesem Sinne sind Besitzdelikte zu Recht als „double inchoate offences“34 bezeichnet worden, also Delikte, welche die Haftung in einem doppelten Sinne vorverlagern, nämlich nicht nur bezogen auf den tatsächlichen Schadenseintritt oder eine Rechtsgutsverletzung, sondern auch bezogen auf den objektiven Versuchstatbestand.

II. Besitz, Verhalten und die subjektive Tatseite Strafrechtliche Verantwortlichkeit basiert auf menschlichem Verhalten, d. h. auf einem Tun oder Unterlassen. Das daraus folgende Verhaltenserfordernis ist nicht nur im deutschen Strafrecht35 (und damit auch in dem ihm weitgehend folgenden kontinentaleuropäischen und lateinamerikanischen Strafrechtssystemen), sondern auch im angloamerikanischen Strafrecht anerkannt, dort allerdings ursprünglich zu eng als „act requirement“36 und erst neuerdings zutreffender als „conduct“,37 „control“38 oder „action“39 Erfordernis. 32 Vgl. Dubber (Fn. 4 [J. Crim. L. & Criminology]), 908 („one step farther from the actual infliction of personal harm than ordinary inchoate offenses like attempt“); siehe auch Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, 7. Aufl. 2013, S. 98. 33 Aus rechtsvergleichender Perspektive siehe Ambos, Treatise on International Criminal Law, Band I, 2013, S. 245 ff. 34 Dubber (Fn. 4 [J. Crim. L. & Criminology]), 908; ähnlich Nestler (Fn. 17), S. 67. 35 Lagodny (Fn. 15), S. 322 f.; Struensee, in: FS Grünwald, 1999, S. 713, (714 f.); Hochmayr (Fn. 4), S. 53; Eckstein, ZStW 117 (2005), 107 (110); Schroeder (Fn. 8), S. 448 linke Spalte. 36 La Fave, Criminal Law, 5. Aufl. 2010, S. 320 ff.; Robinson, Fundamentals of Criminal Law, 2. Aufl. 1995, S. 250 ff. (mit zahlreichen Nachweisen); für „[a] normative defence“, Moore, Act and Crime – The Philosophy of Action and its Implications for Criminal Law, 1993, S. 46 ff.; krit. Husak, Philosophy of Criminal Law, 1987, S. 79 ff. (der jedoch „act” und „actus reus“ wohl gleichsetzt); ders., in: Deigh/Dolinko (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Philosophy of Criminal Law [Oxf.Handbook], 2011, S. 107 (der u. a. argumentiert, dass die insoweit grundlegende Frage, nämlich die Bedeutung einer Handlung [„act“], noch nicht geklärt sei, S. 108 ff.). Doch existiert ein plausibles normatives Handlungskonzept, etwa Roxins Konzeption der Handlung als sozialerheblicher „Persönlichkeitsäußerung“ (vgl. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 44 – 75) oder Duffs sehr ähnliche Konzeption der „action“ als „social phenomenon“, das auf der Interaktion mit der Welt und aktualisierter praktischer Vernunft basiert (Duff, Answering for Crime, 2007, S. 99 f.).

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Die Besitzdelikte sind nur schwer mit dem Verhaltenserfordernis in Einklang zu bringen,40 drückt der Besitz doch eine Herrschafts- oder Machtbeziehung zwischen einer Person und einer Sache (dem Besitzgegenstand) aus – ohne das es insoweit auf ein Verhalten ankäme.41 Ist diese Sache gefährlich, wird die besagte Beziehung zu einer „threat unit“.42 Besitz ist eher statisch als dynamisch, d. h. ein Zustand („a state of being, a status“).43 Besitz als strafrechtliche Kategorie bezieht sich objektiv auf eine Herrschafts- oder Machtbeziehung, die subjektiv durch einen Herrschaftswillen ergänzt wird.44 Der Besitzer kann eine reale (effektive) oder potenzielle (mögliche) Kontrolle über die betreffende Sache ausüben. Dementsprechend können wir von einem realen („actual“) oder konstruktiven („constructive“)45 Besitz sprechen, wobei sich die Beziehung zwischen Sache und Person auch auf die Zurechnung dergestalt auswirkt, dass diese primär zwischen diesen – als Sache-Person-Zurechnung – statt zwischen Personen (Opfer und Täter) bzw. Person und Verhalten (Täter und Tat) besteht.46 37

Siehe section 2.01 (1) Model Penal Code (MPC) („A person is not guilty […] unless his liability is based on a conduct“); siehe außerdem Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 116 (der zu Recht argumentiert, dass der MPC ein Verhaltenserfordernis beinhaltet). 38 Husak (Fn. 36 [Philosophy]), S. 81, S. 97 ff.; ders. (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 108 ff. (der ein Kontroll- oder Kompetenzerfordernis auf der Grundlage der Fähigkeit, sich vernünftig zu verhalten, vorschlägt, S. 116 ff.). Doch leidet das Kontrollkriterium, wie Husak selbst zugestehen muss (ebd., S. 121 f.; krit. auch Duff [Fn. 36], S. 101 und passim), an Unbestimmtheit und Ungenauigkeit; zudem wird dieses Kriterium heute – als „control of the act“ – im Völkerstrafrecht und der Strafrechtsvergleichung als Abgrenzungskriterium zwischen unterschiedlichen Beteiligungsformen verwendet (vgl. Ambos [Fn. 33], S. 151 and passim; ders., JICJ 12 [2014], 219 [226 ff.]). 39 Duff (Fn. 36), S. 101 ff. (der das „act requirement“ durch „a more modest ,action presumption‘“ ersetzen will [S. 101], was entsprechend seiner Handlungskonzeption [o. Fn. 36], „an actualization of the results of practical reasoning in a way that has an impact on the world“ [S. 107] erfordert, und sich damit, insbesondere durch das Merkmal der Aktualisierung, vom „act requirement“ unterscheidet [106 f. mit Beispielen]; seine Konzeption ist auch „limited” aufgrund der Tatsache, dass sie die Verantwortlichkeit für echtes Unterlassen zulässt [S. 112 f.]). Das Problem mit Duffs Ansatz ist freilich, dass kaum zu beweisen ist, ob eine bestimmte Handlung das Ergebnis der „actualization of the results of practical reasoning“ ist, da man ja die sich im Kopf des Handelnden abspielenden Überlegungen nicht kennen kann. 40 Siehe dennoch Dubber/Kelman, American Criminal Law: Cases, Statutes, and Comments, 2. Aufl. 2009, S. 252 f. (die argumentieren, dass mit der steigenden Zahl von Besitzvorschriften das „act requirement“ kein Problem mehr darstellte). 41 Struensee (Fn. 35), S. 716; Eckstein (Fn. 4), S. 17; Hochmayr (Fn. 4), S. 54 („Zuteilungsrelation“ [A. Kaufmann zitierend]). 42 Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 114. 43 Dubber/Kelman (Fn. 40), S. 253; siehe auch Eckstein (Fn. 4), S. 17; Schroeder (Fn. 8), 448 f.; Hochmayr (Fn. 4), S. 63. 44 Siehe ausführlich Eckstein (Fn. 4), S. 94 ff., S. 239 f.; auch Schroeder (Fn. 8), S. 448, linke Spalte; dagegen Hochmayr (Fn. 4), S. 79 ff., S. 135, S. 146 (die auf die bloße Präsenz des betreffenden Gegenstands in der Privatsphäre der jeweiligen Person abstellt). 45 La Fave (Fn. 36), S. 328 f.; Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 115 f. 46 Ebd., S. 116 („from object to person, rather than from person to person“).

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Dieses Verständnis des Besitzes hat wichtige dogmatische Implikationen. Zunächst ist Besitz weder ein Verhalten47, noch kann man – im Gegensatz zur herrschenden Meinung in der angloamerikanischen48 und deutschen49 Diskussion – ein (implizites) Verhaltenselement in die Besitzdelikte hineinlesen, sei es mittels der Konstruktion einer besitzbegründenden, vorausgehenden Handlung (etwa das Erlangen eines Gegenstands) oder eines späteren Unterlassens (etwa die fehlende Besitzaufgabe des Gegenstands). Wenden wir uns zunächst der positiven Seite des Verhaltenserfordernisses, dem aktiven Tun, zu. Insoweit können drei Handlungen unterschieden werden, die mit dem Besitz einhergehen: der vorausgehende Erwerb des Gegenstands, das Behalten des Gegenstands (oder gar seine aktive Verteidigung) und der Gebrauch des Besitzgegenstands.50 Nun können diese Handlungen keinesfalls dem Besitz gleichgestellt

47 Struensee (Fn. 35), 716; Eckstein (Fn. 4), S. 209 f., 220 ff. (Fehlen einer Handlung insbesondere im Fall des sogenannten „aufgedrängten Besitzes“), 226; ders. (Fn. 35), 112; Hochmayr (Fn. 4), S. 53 (die den Besitz aber letztlich in Übereinstimmung mit der h.M. [u. Fn. 49] auf ein [vorausgehendes] Verhalten zurückführt); Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 103 (nur „constructive conduct offence“); Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 797 (gegen Verständnis als Handlung, aber für ein Unterlassen); ähnlich zuvor Grünewald, StV 1986, 243 (245); auch Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 111, der argumentiert, dass der Besitz keine Handlung sei, aber dies als ein Argument gegen das „act requirement“ anführt, obwohl dieses Erfordernis nur einen normativen Vorschlag darstellt. – Die Unvereinbarkeit mit dem Verhaltenserfordernis zieht jedoch keine Unvereinbarkeit der Besitzdelikte mit dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten (materiellen) Legalitätsgrundsatz (nullum crimen sine lege) nach sich. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der Begriff „Tat“ in dieser Bestimmung nicht die Qualität des belastenden Verhaltens vorgibt (BVerfG NJW 1994, 2412, rechte Spalte; BVerfG NJW 1995, 248, rechte Spalte); zust. Eckstein (Fn. 4), S. 234 f.; Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 797; siehe jedoch auch Lagodny (Fn. 15), S. 321 ff. (der eine verfassungsrechtliche Unvereinbarkeit sieht, da die Besitzdelikte kein menschliches Verhalten voraussetzen, wie es nach Art. 103 Abs. 2 GG gefordert werde, und folglich „ungeeignet“ im Sinne verfassungsrechtlicher Verhältnismäßigkeit seien). 48 Vgl. Section 2.01 (4) MPC (im Hinblick auf die vorangehende Beschaffung und die spätere Fähigkeit, den Besitz zu beenden); siehe auch La Fave (Fn. 36), S. 327; Moore (Fn. 36), S. 21 (der argumentiert, dass „either the act of taking possession or […] the omission to rid oneself of possession“ strafbar sei) und S. 22 (Besitz „defined so as to include an act or an omission“); Simester et al. (Fn. 10), S. 81; Dubber (Fn. 4 [in: Duff/Green]), S. 115; außerdem Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 114 (der auf die Beschaffung und die Entgegennahme des Gegenstands als „prior conduct“ zurückgreift und dabei das Unterlassen einschließt, obwohl dies regelmäßig erst nach dem Besitz erfolgt). 49 Siehe die Argumentation des deutschen Gesetzgebers im Hinblick auf den BtM-Besitz, BT-DrS 6/1877, S. 9 (wo argumentiert wird, dass man keinen „Zustand“ bestraft, sondern ein kausales Verhalten, d. h. eine „Herbeiführung oder Aufrechterhaltung“ dieses Zustands [Herv. K.A.]); auch BVerfG NJW 1994, 2412 (2413) linke Spalte; BVerfG NJW 1995, 248 linke Spalte. Siehe auch Eckstein (Fn. 4), S. 18, 124, 141 ff., 224, 226, 239 f., 264; Hochmayr (Fn. 4), S. 54 f., 64 f., 85 ff. (positives Tun), 96 ff. (Unterlassen), 145; Gropp, FS Otto, 2007, S. 249 (251); Eisele, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff. Rn. 42; krit. Schroeder (Fn. 8), 448, rechte Spalte. 50 Vgl. Struensee (Fn. 35), 716 ff.

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werden: Entweder sie gehen ihm voraus und wirken besitzbegründend (Erwerb)51 oder sie folgen auf den tatsächlichen Besitz (Behalten und Gebrauch). Zudem werden sie in der Regel gesondert bestraft.52 Als paradigmatisches Beispiel kann der Besitz von Drogen dienen: einerseits gehen ihm bestimmte Handlungen voraus (Anbau, Ankauf, Import etc.), andererseits folgen ihm Handlungen (Vertrieb, Handel etc.). Auch ist zu bedenken, dass die Annahme eines aktiven Verhaltenselements als impliziter Bestandteil der Besitzdelikte mit der mit ihnen verfolgten Beweiserleichterung kaum vereinbar sein dürfte, soll doch deshalb gerade auf den Nachweis des vorherigen (illegalen) Erwerbs des Gegenstands – ein aktives Tun! – verzichtet werden.53 Wenn ein Besitzdelikt aber tatsächlich auf eine vorangehende Erwerbshandlung (oder eine andere positive Handlung) konstitutiv zurückgeführt werden kann, so stellt diese Handlung ein Tatbestandsmerkmal dieses Deliktes dar und muss folglich bewiesen werden. Dieses Beweiserfordernis würde der geschilderten gesetzgeberischen Absicht der Beweiserleichtung diametral zuwiderlaufen.54 Andererseits: Wenn ein Beweis eines aktiven Tuns nicht erforderlich ist, wie kann dann ein solches Tun konstitutiver Bestandteil des Besitzes sein?55 Was nun die negative Seite des Verhaltenserfordernisses, das Unterlassen, angeht, so ist festzustellen: Auch wenn es auf den ersten Blick plausibler erscheint, in der Weigerung der Besitzaufgabe ein Unterlassen zu sehen,56 kann dieser Standpunkt letztlich ebenfalls nicht überzeugen. Unterlassen ist das Gegenteil einer Handlung, 51

In diesem Sinne kann ein Besitzdelikt als ein Erfolgsdelikt qualifiziert werden: siehe Lagodny (Fn. 15), 326 (Besitzzustand als Unterfall des Erfolgsdeliktes); Hochmayr (Fn. 4), S. 63 ff., 146 (die einen „Erfolg“ im „Gewahrsam“ einer durch eine vorangegangene Handlung erlangten und mit dem Besitzer dauerhaft – im Sinne eines Dauerdelikts – verbundenen Sache sieht, wodurch ein Besitzdelikt, ähnlich der Freiheitsberaubung, zu einem „Erfolgs-Dauerdelikt“ werde); LK-Walter, 12. Aufl. 2006, Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff. Rn. 36; siehe auch Eckstein (Fn. 4), S. 213 ff., 264 (der einen „Erfolg“ im Aufrechterhalten des Besitzes sieht, S. 226); siehe insoweit o. Fn. 25. 52 Siehe auch Lagodny (Fn. 15), 325 (der argumentiert, dass das Sich-Verschaffen von BtM gesondert bestraft werde); Schroeder (Fn. 8), 448, rechte Spalte; krit. Hochmayr (Fn. 4), S. 86 (die bemerkt, dass dies nicht immer der Fall sei). 53 Siehe insoweit explizit zum BtM Besitz BT-DrS (Fn. 49), S. 9; siehe auch Moore (Fn. 36), S. 21 f. 54 Ähnlich Lagodny (Fn. 15), 318; Eckstein (Fn. 35), 111. 55 Vgl. Struensee (Fn. 35), 717. 56 Siehe zur h.M. etwa OLG Zweibrücken NJW 1986, 2841 f. (dem Angeklagten wurde der Besitz einer Waffe angelastet, weil er es unterlassen hatte, den Besitz zu beenden); siehe auch den zweiten Teil der Section 2.01 (4) MPC – „aware of his control for a sufficient period to have been able to terminate his possession“ –, womit impliziert wird, dass der Besitzer, ist er sich einmal des (unerlaubten) Besitzes bewusst, die Pflicht zur Besitzaufgabe hat; dazu siehe American Law Institute, Model Penal Code and Commentaries. Part I. General Provisions §§ 1.01 to 2.13, Philadelphia 1985, S. 224 („An actor who is aware of his control of the thing possessed for a period that would enable him to terminate control has failed to act in the face of a legal duty imposed by the law that makes his possession criminal“). Zum wissenschaftlichen Streit siehe auch Pastor (Fn. 7 [Besitz]), 797 (Zuständigkeit des Besitzers für den Besitz); zur Klassifikation als echte Unterlassungsdelikte siehe u. Fn. 64 mit Haupttext.

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d. h. das Fehlen einer Handlung oder eine Weigerung zu handeln.57 Wenn aber Besitz aktives Tun ist oder, wie zuvor gesagt, eine effektive Herrschaft über einen Gegenstand, ist es logisch unmöglich und künstlich, ihn nun negativ als Nichthandlung, also als Weigerung der Beendigung der Herrschaft über die Sache, zu definieren.58 Liest man gleichwohl ein Unterlassen in den Besitz, so ergeben sich verschiedene Probleme. Erstens ist es unklar, wie die Besitzaufgabe vonstattengehen soll.59 Das Recht des Besitzes, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, schweigt dazu.60 Im Lichte der vielfach apostrophierten Gefahrvermeidung erscheint es auch wenig plausibel, irgendeine Form der Besitzaufgabe gelten zu lassen,61 auch wenn diese etwa den endgültigen Verlust des Gegenstands (z. B. seine Zerstörung) oder eine weitere Risikoschaffung (z. B. die Weitergabe von Drogen an einen Minderjährigen) zur Folge hätte.62 Zweitens setzt strafrechtliche Unterlassenshaftung eine Handlungspflicht voraus63 und es ist ganz und gar unklar, woraus diese bei Besitzdelikten abgeleitet werden soll. Versteht man sie als Verhaltensdelikte (in der Form echter Unterlassungsdelikte),64 könnte man eine solche Pflicht in der tatbestandlichen Umschreibung des unterlassenen Verhalten (aus dem sich im Umkehrschluss das Handlungsgebot ergibt) sehen,65 wie es auch sonst bei echten Unterlassungsdelikten möglich ist.66 Andernfalls müsste man nach einer außertatbestandlichen Handlungspflicht suchen.67 Drittens müsste man beweisen, dass der Besitzer die Möglichkeit der Besitzaufgabe hatte, dass er sich also zunächst der Existenz der Sache bewusst war und darüber hinaus auch seiner Pflicht der Besitzaufgabe.68 Aber dies würde wiederum das gesetzgeberische Ziel der Beweiserleichterung unterlaufen.69 Dies führt uns endlich zur subjektiven Seite der Besitzdelikte, zu ihrer Funktion und genauen Bedeutung. Im U.S.-amerikanischen Recht wurde auf den subjektiven Tatbestand zurückgegriffen, um die oben beschriebene Unvereinbarkeit mit dem Ver57

Ambos (Fn. 33), S. 180. Noch drastischer Struensee (Fn. 35), 719 („absurd“ und nicht vom „Wortsinn“ umfasst). 59 Vgl. Lagodny (Fn. 15), 327; Struensee (Fn. 35), 720. 60 Siehe zur deutschsprachigen Rechtsprechung Lagodny (Fn. 15), 327; Hochmayr (Fn. 4), S. 105. 61 Dennoch in diesen Sinne Scheinfeld, GA 2007, 721 (725). 62 Vgl. Lagodny (Fn. 15), 328 ff. (der Beendigungsmöglichkeiten des Besitzes diskutiert und alleine eine Rückgabepflicht für vernünftig hält, auch wenn diese nichts an der Strafbarkeit ändere); siehe auch Hochmayr (Fn. 4), S. 105 ff. 63 Vgl. Ambos (Fn. 33), S. 183 f. 64 Vgl. Eckstein (Fn. 4), S. 169 f.; Hochmayr (Fn. 4), S. 96 ff.; Eisele (Fn. 49). 65 Siehe auch Lagodny (Fn. 15), 327. 66 Dies entspricht dem linguistischen Verständnis des Englischen, wonach „conduct“ ein Tun oder Unterlassen umfasst (vgl. Ambos [Fn. 33], S. 185). 67 Zu solchen Pflichten siehe ebd., S. 184 f. 68 Siehe auch Struensee (Fn. 35), 720 (der darauf hinweist, dass es keine Rechtsprechung gibt, die eine solche Kenntnis des Besitzers festgestellt hat). 69 Siehe auch Lagodny (Fn. 15), 318, 331 f.; Eckstein (Fn. 35), 111. 58

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haltenserfordernis dadurch zu überwinden, dass der Besitz als Handlung („act“) verstanden wurde, wenn sich der Besitzer seines Besitzes bewusst ist. In diesem Sinne definiert Section 2.01 (4) Model Penal Code (MPC) den Besitz als „an act […] if the possessor knowingly procured or received the thing possessed or was aware of his control thereof“.70 Allerdings zeigen das naturalistische Handlungsverständnis des MPC (Handlung als freiwillige körperliche Bewegung) 71 und die Kommentierung der Bestimmung, dass der subjektive Tatbestand hier nicht hauptsächlich oder jedenfalls nicht ausschließlich dazu dient, den Besitz in eine Handlung umzuwandeln, sondern dazu, seine Freiwilligkeit zu begründen.72 Diese entspricht dem schon oben definierten Besitzwillen.73 In der Tat kann niemand eine Sache „ohne ein Minimum an erkennbarer Willensbeteiligung“74 besitzen. Folglich ist die grundlegende subjektive Komponente des Besitzes die Freiwilligkeit, die sich in einem Minimum an Besitzwillen und in einem Maximum an Herrschaftswillen über den Besitzgegenstand ausdrückt. Vor diesem Hintergrund wird die Stellungnahme Lord Parkers im Fall Lockyer v. Gibb verständlich, wo er die Konzeption des Besitzes selbst an das Bewusstsein des Besitzers hinsichtlich des Besitzgegenstands koppelte, und feststellte, dass „a person cannot be said to be in possession of some article which he or she does not realize is […] in some place over which she has control“.75 Dem folgte das House of Lords76 im Fall Warner – in einer allerdings verwirrenden Entscheidung mit einer schwierig auszumachenden ratio decidendi77 – insofern, als es in den Besitzbegriff selbst ein subjektives Merkmal hineinlas (um eine rein objektive Haftung, „strict liability“, für blo-

70 Herv. K.A. Krit. zu dieser Bestimmung (bei wörtlichem Verständnis) Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 112. 71 Vgl. Section 2.01 (1) und (2) MPC, beide in Bezug auf „voluntary acts“; ebenso Moore (Fn. 36), S. 39 f., 44 ff. („simple bodily movement […] caused by volition“). Dies entspricht dem kausal-naturalistischen Handlungsverständnis der klassischen Verbrechenslehre des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Roxin [Fn. 36], § 8 Rn. 10 – 16). Nach heutigem Verständnis ist die Freiwilligkeit aber kein zusätzliches Erfordernis der Handlung, sondern jeder menschlichen Handlung immanent, d. h. unfreiwillige Bewegungen sind per definitionem keine Handlungen (ebenso Duff, in: Hyman/Stewart [Hrsg.], Agency and Action, 2004, S. 69). Zur Bedeutung der Freiwilligkeit aus angloamerikanischer Sicht siehe auch Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 119. 72 „An actor who knowingly procures or receives the thing possessed has, of course, engaged in a voluntary act that can serve as the predicate for criminal liability“ (American Law Institute, Fn. 56, S. 224 [Herv. K.A.]). 73 O. Fn. 44 mit Haupttext. 74 Eckstein (Fn. 4), S. 239. 75 All England Law Report (All ER) 2 (1966), S. 655; zitiert nach Clark, The New Zealand Law Journal 1967, 182, rechte Spalte. 76 Seit dem „Constitutional Reform Act 2005“, in Kraft getreten am 1. 10. 2009, Supreme Court of the United Kingdom. 77 Krit. Ashworth/Horder (Fn. 32), S. 98; Simester et al. (Fn. 10), S. 163; Ormerod, Smith & Hogan’s Criminal Law, 13. Aufl. 2011, S. 173.

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ßen Besitz von Betäubungsmitteln zu vermeiden), allerdings ohne ein subjektives Tatbestandsmerkmal für das entsprechende Delikt als solches anzunehmen.78 Zudem unterscheidet diese Rechtsprechung zwischen einem generellen – erforderlichen – Wissen über den Besitz des „thing itself“ („something“) und einem konkreteren – nicht erforderlichen – Wissen über dessen Beschaffenheit, Qualität oder Inhalt.79 Auch wenn diese Unterscheidung künstlich klingen und in vielen Fällen von geringer praktischer Bedeutung sein mag80 – schon allein deshalb, weil der Beweis eines solchen Wissens schwerlich möglich ist –, so ist es doch ihr Verdienst, dass sie die Frage nach dem genauen Inhalt des subjektiven Tatbestands bei Besitzdelikten in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Schließlich kann man es als dessen wichtigste Funktion ansehen, die Besitzdelikte mit dem Schuldgrundsatz in Einklang zu bringen. In der Tat kann man die genannte subjektivierte Besitzdefinition des MPC als einen solchen Versuch verstehen,81 wobei allerdings die genauere Bestimmung des subjektiven Tatbestands offen gelassen wird. Sie ist fundamentaler Bestandteil einer rechtsstaatlich-liberalen Besitzkonzeption, wie sie im folgenden Abschnitt ansatzweise entwickelt werden soll.

III. Eine rechtsstaatlich-liberale Konzeption strafrechtlicher Besitzhaftung Wenn der Besitz, wie wir zuvor gesagt haben,82 ein Zustand ist, der auf der Beziehung zwischen einer Person und einer Sache beruht, bestrafen Besitzdelikte diesen Zustand als solchen83 und können als Zustandsdelikte kategorisiert werden.84 78 Dafür Lord Reid, vgl. ebd.; Ashworth/Horder (Fn. 32), S. 98; Simester et al. (Fn. 10), S. 163. 79 Vgl. ebd., S. 162 (Lord Pearces Zusammenfassung des Gesetzes zitierend). 80 Krit. ebd., S. 163 („fictional, artificial…“). 81 In diesem Sinne auch Husak (Fn. 36 [Oxf.Handbook]), S. 115. 82 O. Fn. 44 ff. und Haupttext. 83 Eckstein (Fn. 4), S. 226. 84 Vgl. ebd., S. 170, 225 f. (der „Zustandsdelikte“ einerseits als „Begehungs- und unechte Unterlassungsdelikte plus x“ und andererseits als eine neue, unabhängige Form strafrechtlicher Verantwortlichkeit – neben Begehungs- und Unterlassungsdelikten und im Gegensatz zu verhaltensbasierten Delikten – versteht; ders. (Fn. 35), 113, 141; zust. Lampe (Fn. 92); Schroeder (Fn. 8), 448 f.; dagegen Eisele (Fn. 49) und insbesondere Hochmayr (Fn. 4), S. 133 ff. Sie argumentiert, auf der Grundlage ihres Konzeptes eines „Erfolgs-Dauerdelikt[s]“ (o. Fn. 51), insbesondere, dass Ecksteins Konzeption zu einer weitreichenderen Kriminalisierung in Fällen des „aufgedrängten Besitz[es]“ führe, da der Besitzer, anders als nach ihrer Auffassung (S. 102 ff.), keine „Überlegungsfrist“ bezüglich der Besitzaufgabe habe (S. 136 ff.) und daher letztlich die bloße Absicht, den Besitz nicht aufzugeben, als „reine Gedankenstrafe“ kriminalisiert werde (S. 142 f.). Dies überzeugt nicht. Abgesehen davon, dass Hochmayrs Konzeption eines „Erfolgs-Dauerdelikt[s]“ mit dem hier vertretenen Verständnis des Besitzes als Zustand anstelle von Verhalten unvereinbar ist, enthält diese Konzeption selbst keine einschränkenden Kriterien der Kriminalisierung. Das Erfordernis einer

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Aber wie können diese Delikte mit den grundlegenden Prinzipien eines rechtsstaatlich-liberalen Strafrechts, insbesondere mit dem Gesetzlichkeits- und Schuldgrundsatz, in Einklang gebracht werden? Hinsichtlich des Gesetzlichkeitsgrundsatzes haben wir schon oben auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung Bezug genommen, die insoweit keine Probleme sieht.85 In der Tat kann der Gesetzlichkeitsgrundsatz nicht im Sinne einer rigiden gesetzgeberischen Verpflichtung mit Blick auf die Art und Qualität des inkriminierten Verhaltens interpretiert werden, solange die materialen Anforderungen des Grundsatzes (lex praevia, certa, stricta und scripta) erfüllt werden. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz sieht keinen strengeren Maßstab für Besitzdelikte als für andere Delikte vor. Auch jene müssen (lediglich) zum Zeitpunkt der Tatbegehung (lex praevia) in geschriebener (lex scripta) und ausreichend bestimmter Form (lex certa) existieren und dürfen nicht auf ein ähnliches Verhalten mittels Analogie angewendet werden (lex stricta). Die wahre Feuerprobe der Besitzdelikte ist demnach ihre Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz und zwar verstanden im normativ-materiellen Sinne als „unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit“.86 Dies ist mehr als ein klassisch psychologisches oder psychologisierendes Schuldverständnis wie es noch in den Rechtsordnungen des common law87 – unter dem schillernden Begriff der mens rea88 – und auch in Frankreich und frankophonen Rechtsordnungen als élément moral89 – vorherrscht. Versteht man nun die Besitzdelikte wie hier als Nichtverhaltensdelikte, die gewisse Zustände kriminalisieren, ist der Rückgriff auf ein vorangehendes Verhalten, um eine Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz herzustellen, nicht möglich.90 Stattdessen bedarf es einer autonomen, einschränkenden und schuldbasierten Interpretation die„Überlegungsfrist“ in Fällen eines aufgedrängten Besitzes ist nicht konzeptionell an Hochmayrs Ansatz gebunden, sondern ein zusätzliches Erfordernis, welches generell – unabhängig von der zugrundeliegenden Besitzkonzeption – verlangt werden kann. Auch müsste bewiesen werden, dass der Besitzer keine Absicht der Besitzaufgabe hatte (siehe auch Eckstein [Fn. 35], 112). Dies würde voraussetzen, dass die Besitzaufgabe für ihn auch objektiv betrachtet wirklich möglich war. Andererseits unterbewertet Hochmayr die von Eckstein vorgeschlagenen objektiven und subjektiven Herrschaftskriterien (u. Fn. 91 f. mit Haupttext). 85 O. Fn. 47 und Haupttext. 86 Vgl. Roxin (Fn. 36), § 19 Rn. 36 ff.; aus angloamerikanischer Sicht (allerdings stark von der deutschen Diskussion beeinflusst) Fletcher (Fn. 12), S. 499 f.; ders., The Grammar of Criminal Law, 2007, S. 319 ff. 87 Vgl. nur die psychologisierende Definition der „General requirements of culpability“ in Section 2.02 MPC. 88 Über die mens rea in einem engen und weiten Sinne (Absicht/Wissen und Leichtfertigkeit/Fahrlässigkeit) siehe Robinson, in: Dressler (Hrsg.), Encyclopedia of Crime & Justice, 2. Aufl. 2002, S. 995. 89 Vgl. Ambos, ZStW 120 (2008), 181 (187 ff., 194 f.). 90 Siehe aber Eckstein (Fn. 4), S. 239 f. (sogar die „Handlungsakzessorietät” des Besitzes anführend); insoweit mit Recht krit. Deiters (Fn. 17), 60; für eine Replik siehe Eckstein (Fn. 35), 115.

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ser Delikte. In diesem Sinne folgt zunächst aus den oben angestellten Überlegungen zur subjektiven Seite, dass der Besitzwille und ein Mindestbewusstsein bezüglich der besessenen Sache die notwendigen Komponenten jeder Definition des subjektiven Besitztatbestands sind.91 Alleine das Vorliegen solch subjektiver Mindestanforderungen erlaubt dem Besitzer – als konstitutives objektives Element des Besitzes – die Ausübung personaler Herrschaft92 über die besessene Sache und rechtfertigt die oben erwähnte Sache-Person-Zurechnung.93 Auf dieser Grundlage sind die subjektiven Mindestanforderungen mit Blick auf den Besitzzustand (volles Bewusstsein und Wille versus Akzeptanz eines niedrigeren Fahrlässigkeitsmaßstabs) und die kognitiven Anforderungen mit Blick auf die Besitzaufgabe (Bewusstsein der generellen oder der – strenger – konkreten Möglichkeit der Besitzaufgabe) zu bestimmen.94 In jedem Fall ist ein Mindestbewusstsein hinsichtlich des Besitzzustands die Voraussetzung für ein anderes, allerdings objektives, konstitutives Merkmal jedes Besitzdeliktes, nämlich die Ausübung personaler Herrschaft des Besitzers über seine Sachen. Diese wiederum setzt voraus, dass der Besitzer – ganz im Sinne der Warner Entscheidung95 – auch die tatsächliche Möglichkeit hat, die betreffende Sache aufzufinden. Folglich bedeutet die Ausübung personaler Herrschaft die Ausübung tatsächlicher und nicht bloß potenzieller Herrschaft.96 Eine zusätzliche objektive Begrenzung kann der (legitimen) Begründung des Besitzes entnommen werden: Besitz, der das Ergebnis einer rechtmäßigen Handlung der Strafverfolgungsbehörden – oder ausnahmsweise sogar von Privatpersonen – ist, etwa die Beschlagnahme von Betäubungsmitteln oder die Entwaffnung eines unerlaubten Waffenbesitzers, kann nicht verboten und deshalb auch nicht strafbar sein.97 Ebenso ist ein (kurzzeitiger) Besitz, um eine Gefahr für Rechtsgüter oder einen Schadenseintritt zu verhindern, gerechtfertigt und kann daher ebenfalls nicht strafbar sein.98 91 Ähnlich Eckstein (Fn. 4), S. 240, 242 f., 265 (der aber die „Besitzfahrlässigkeit“ miteinschließt). 92 Vgl. ebd., S. 239; ders. (Fn. 35), 114 („personale Beherrschung“ oder „Beherrschbarkeit“); auch Lampe, ZStW 113 (2001), 885 (895). 93 O. Fn. 46 und Haupttext. 94 Zu Ersterem Hochmayr (Fn. 4), S. 126; zu Letzterem Struensee (Fn. 35), 720; zum Streit siehe Hochmayr (Fn. 4), S. 125 ff. 95 Vgl. Ormerod (Fn. 77), S. 173 f., 916; Simester et al. (Fn. 10), S. 162; krit. im Hinblick auf den Gebrauch dieses Merkmals zur Ausweitung strafrechtlicher Verantwortlichkeit in der Lewis Entscheidung Ashworth/Horder (Fn. 32), S. 98; Simester et al. (Fn. 10), S. 163; Ormerod (Fn. 77), S. 174. 96 Simester et al. (Fn. 10), S. 164. 97 Das geltende Recht gewährt mitunter Strafausschließungsgründe in solchen Situationen: siehe etwa die EU-Richtlinie 2011/92/EU vom 13. Dezember 2011 (über die Kriminalisierung u. a. des Besitzes von Kinderpornographie), Erwägungsgrund 17 (der Begriff „unrechtmäßig“ impliziert eine Rechtfertigung der Strafverfolgungsorgane in Fällen „legitimen Besitzes“) oder die klassische „common law defence“ bei „innocent possession“ (Dubber/Kelman [Fn. 40], S. 269 f.). 98 Hochmayr (Fn. 4), S. 88 ff., 91 („Gewahrsam zur Gefahrenbeseitigung“).

Besitz als Straftat und die Funktion der subjektiven Tatseite

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Natürlich sind dies nur erste Überlegungen, um die Vereinbarkeit der Kriminalisierung des Besitzes von neutralen oder dual use-Gegenständen mit dem Schuldprinzip zu erreichen. Wie oben dargelegt,99 stützt sich die Kriminalisierung in diesen Fällen auf den mutmaßlich strafbaren Gebrauch der betreffenden Gegenstände und auf die implizite Gefährlichkeit ihres Besitzers. Zusätzlich zum Vorliegen konkreter und verlässlicher Informationen, die diese Gefährlichkeit indiziert, verlangt jedoch jegliche Kriminalisierung des Besitzes solcher Gegenstände den Nachweis der kriminellen Verwendungsabsicht des Besitzers.100 Diese Verwendungsabsicht, als ein spezifischer Besitzzweck, verknüpft den Besitz mit einem (zukünftigen) Verhalten und macht damit den Unterschied zu einem bloßen Besitzdelikt aus.101

99

O. Fn. 16 und Haupttext. Siehe auch Fletcher (Fn. 12), S. 199 f.; Ormerod (Fn. 77), S. 916 (im Hinblick auf Betrug aber für eine darüber hinausgehende Anwendung). 101 Siehe auch Lagodny (Fn. 15), S. 334 f. Duff (Fn. 36), S. 114, spricht insofern von „active possession“ als Besitz verbunden mit einer Handlungsabsicht, etwa eine illegale Droge zu behalten; eine darüber hinausgehende Absicht entspreche der „actualization of the results of practical reasoning“ im o.g. Sinne (o. Fn. 39). 100

Die Tendenzen zur Erweiterung der Kriminalisierung im Bereich der Tötungsdelikte am Beispiel der Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids im deutschen und polnischen Strafrecht Joanna Długosz

I. Einführung Das Strafrecht ist ein taugliches Mittel der Reaktion auf Verletzungen bzw. Gefährdungen höchstrangiger Rechtsgüter, die den rechtlichen Schutz deshalb erfahren, weil sie für das geordnete Zusammenleben in der Gesellschaft von großer Bedeutung sind. Von diesem Standpunkt erscheint es auch dazu geeignet, dem Phänomen der Förderung der Selbsttötung Einhalt zu gebieten. Denn seine Aufgabe besteht nicht nur darin, Sanktionen für die Begehung von Straftaten bereitzustellen, sondern auch generalpräventiv zu wirken, also eine Abschreckungsfunktion wahrzunehmen. Gleichwohl ist das Strafrecht nicht als prima ratio, sondern als ultima ratio anzusehen, was bedeutet, dass es erst dann zur Anwendung kommen kann, wenn andere rechtliche Lösungsmöglichkeiten zum Rechtsschutz nicht ausreichen; die strafbewehrte Reaktion erfasst daher nur besonders schadensträchtige und gefährliche Verhaltensweisen. Von diesem Hintergrund stellt die materiell-strafrechtliche Behandlung der Förderung der Selbsttötung im deutschen und polnischen Strafrecht das Ziel dieses Beitrags dar, wobei, neben der Untersuchung der hierfür einschlägigen Normtexte, zu überprüfen ist, ob das strafbewehrte Verbot der Suizidbeihilfe kriminalpolitischen Bedürfnissen in beiden Ländern gerecht werden kann. Zuerst ist vor allem zwischen einer nicht-geschäftsmäßigen und einer geschäftsmäßigen Suizidhilfe abzugrenzen. Dabei ist die letztere – auch als assistierter Suizid bezeichnet – insbesondere beachtenswert1. Es ist hier allerdings zu klären, dass mit 1

Die – stets strafbare – aktive Sterbehilfe (vgl. § 216 StGB bzw. Art. 150 KK) sowie die – grundsätzlich straflose, da als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts eines sterbewilligen Menschen anerkannte – passive physische oder psychische Suizidteilnahme (d. h. die Förderung einer eigenständig durchgeführten freiverantwortlichen Selbsttötung in Form einer bloßen, die autonome Willensbildung unterstützenden Hilfe bzw. Beratung – als „Beihilfe zum Suizid“ bezeichnet), als auch der – ggf. als Gebot der Humanität anerkannte – medizinisch indizierte sog. gerechtfertigte Behandlungsabbruch (früher als „passive Sterbehilfe“ bezeichnet) stellen daher keinen Schwerpunkt dieses Beitrags dar. Für die Abgrenzung zwischen den

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einem geschäftsmäßigen Anbieten der Beihilfe zum Suizid durch Einzelpersonen oder Organisationen eine nicht unbedingt gewerbsmäßige – also nicht zwingend kommerziell orientierte bzw. finanziell motivierte2 – Förderung einer Selbsttötung gemeint ist. Darunter sind nämlich vor allem auf Wiederholung angelegte Taten zu verstehen, die zum Gegenstand der – nicht unbedingt wirtschaftlichen oder beruflichen – Beschäftigung des Suizidhelfers gemacht wurden und zugleich als Alternative zum natürlichen, medizinisch und menschlich begleiteten Sterben genannt werden; zudem werden sie aus Eigeninteresse der Suizidhelfers an der Durchführung und Fortsetzung einer solchen Tätigkeit betrieben3. Die damit verbundene Gefahr fremdbestimmender Einflussnahme liegt daher insbesondere darin, dass durch die auf Wiederholung und Kontinuität ausgelegte „Normalisierung“ der Suizidförderung – also praktisch durch eine „spezialisierte“ Handlung – einige Menschen sich zu einer Selbsttötung verleiten lassen können bzw. sogar direkt oder indirekt dazu gedrängt fühlen und dies ohne ein solches Angebot nicht täten. Unter dem Begriff einer geschäftsmäßigen Suizidhilfe sind also nicht diejenigen Unterstützungshandlungen zu verstehen, die „im Einzelfall und aus altruistischen Motiven, häufig aufgrund einer besonderen persönlichen Verbundenheit erfolgen“4. Denn seit einigen Jahren geschehen immer häufiger Fälle, in denen Einzelpersonen oder Organisationen anbieten, anderen Menschen beim Selbstmord zu assistieren (u. a. durch die Gewährung, Verschaffung bzw. Vermittlung eines tödlichen Medikamentes oder durch die Bereitstellung von Apparaturen). Die geschäftsmäßig assistierten Suizide werden daher zu einem die Gegenwart prägenden und in der Tendenz zunehmenden Problem. Dies stellt einerseits eine Herausforderung für den Gesetzgeber dar; andererseits begründet dies das Bedürfnis einer (rechtsvergleichenden) Untersuchung und Gegenüberstellung derzeitiger gesetzlicher Normierungen zur Hilfe zur Selbsttötung. Diese Problematik ist umso wichtiger, als ein neuer Straf-

genannten Varianten siehe u. a. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl., 2014, S. 571; BGHSt 19, 135; 55, 191 ff. 2 Zur Abgrenzung zur Gewerbsmäßigkeit vgl. u. a. Fischer, Kommentar zum StGB, 62. Aufl., 2015, vor § 52 Rn. 63. 3 Zur Definition des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit siehe auch Kommentierungen zu § 206 Abs. 1 StGB, die durchgängig auf das Erfordernis einer wiederholten bzw. nachhaltigen Tätigkeit hinweisen; vgl. u. a. Altenhain, in: Münchner Kommentar zum StGB, Band 4, 2. Aufl., 2012, § 206 Rn. 15 ff.; Lackner/Kühl, Kommentar zum StGB, 28. Aufl., 2014, § 206 Rn. 2; Fischer, Kommentar zum StGB, 62. Aufl., 2015, § 206 Rn. 2. Siehe auch Gaede, Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – § 217 StGB, JuS 2016, S. 389 f. 4 Vgl. auch BT-Drucksache 17/11126, S. 1, 6 f.; 18/5373, S. 8 f., 11 f., 17. Darin liegt auch ein eindeutiger Unterschied zu ärztlich gebotenen, schmerzlindernden palliativmedizinischen, Maßnahmen. Denn die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid ist gerade nicht medizinisch indiziert. Siehe ferner: Deutscher Ethikrat: „Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft: Deutscher Ethikrat empfiehlt gesetzliche Stärkung der Suizidprävention. Adhoc-Empfehlung“ vom 18. 12. 2014, S. 4.

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tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung im Dezember 2015 in das deutsche Strafgesetzbuch eingeführt wurde (vgl. § 217 StGB5).

II. Gesetzlicher Rahmen der strafbewehrten Vorschriften gegen die Förderung der Selbsttötung im deutschen und polnischen Rechtssystem De lege lata verzichtet die deutsche Rechtsordnung darauf, die eigenverantwortliche (ggf. versuchte) Selbsttötung unter Strafe zu stellen. Der Grund dafür liegt hauptsächlich darin, dass der Suizid sich nicht gegen einen anderen Menschen richtet6. Dementsprechend sind auch der Suizidversuch oder die (nicht-geschäftsmäßige) Teilnahme (Mitwirkung) an einem eigenverantwortlichen Suizid bzw. an einem Suizidversuch strafrechtlich nicht sanktioniert, wobei die Straflosigkeit des Suizid(versuch)s und der (nicht-geschäftsmäßigen) Teilnahme daran in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich unbestritten ist. Dennoch haben sich insbesondere in letzter Zeit mehrere Ansichten entwickelt, die die Schaffung eines neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch, der eine besondere Art der Förderung der Selbsttötung – und zwar der geschäftsmäßigen bzw. assistierten Suizidhilfe – unter Strafe stellen würde, für erforderlich erklärten7. Laut eines Regelungskonzeptes war eine Korrektur der Straflosigkeit in dem angesprochenen Bereich erwünscht, nämlich insofern, als „geschäftsmäßige Angebote die Suizidhilfe als normale Behandlungsoption erscheinen lassen und Menschen dazu verleiten können, sich das Leben zu nehmen“8. Dabei ging es daher hauptsächlich um 5 Vgl. BT-Drucksache 18/5373 sowie Art. 1 des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015, BGBl. I, Nr. 49 vom 9. Dezember 2015, S. 2177: „Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 20. November 2015 (BGBl. I S. 2025) geändert worden ist, wird wie folgt geändert: 1. […] 2. § 217 wird wie folgt gefasst: § 217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.“ 6 Ferner ist es noch zu erwähnen, dass nach anerkannten verfassungsrechtlichen Grundsätzen die strafrechtliche Sanktion sich auf den Täter und nicht auf das Opfer negativ auswirken soll. Wird der Sterbewillige nach seinem Suizidversuch gerettet, so könnte eine Bestrafung für ihn eine zusätzliche Übelszufügung darstellen, was im Widerspruch mit den zu erzielenden präventiven und erzieherischen Auswirkungen einer strafrechtlichen Sanktion steht und ggf. zur Wiederholung dieser Tat führen kann. 7 Siehe auch Gaede, Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – § 217 StGB, JuS 2016, S. 386. 8 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 4. 11. 2015. Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, Drucksache 18/6573, S. 2.

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Fälle des regelmäßigen geschäftsmäßigen Anbietens der Beihilfe zum Suizid, wodurch „eine gesellschaftliche ,Normalisierung‘ und ein ,Gewöhnungseffekt‘ an solche organisierten Formen des assistierten Suizids einzutreten“9 drohten. Zu erwähnen sind allerdings auch Stimmen, die sich dafür aussprechen, in einem bestimmten Rahmen die Straflosigkeit der Hilfe zur Selbsttötung unberührt zu lassen. In dieser Hinsicht sind insbesondere folgende Ansichten zu nennen: Nach einer Ansicht10 sollte – unter Berufung auf die Notwendigkeit der Herstellung der bisher fehlenden Rechtssicherheit – das BGB um eine Regelung ergänzt werden, wonach es den Ärzten ausdrücklich ermöglicht wird, nach dem Wunsch des Patienten und unter Beachtung seiner personalen Autonomie, Hilfe bei der selbstvollzogenen Lebensbeendigung leisten zu dürfen. Ein weiteres Regelungskonzept11 wies darauf hin, dass „Staat und Gesellschaft einem kranken Menschen nicht abverlangen dürfen, einen qualvollen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen und zu durchleiden“. Dies sollte als ein plausibles Argument dafür angesehen werden, es einem Menschen zu ermöglichen, sich das Leben „selbstbestimmt und aus objektiv verständlichen Gründen“12 zu nehmen. Nach dem Gesetzesentwurf sollte also die (nicht-geschäftsmäßige) Hilfe zur Selbsttötung zwar grundsätzlich straflos bleiben. Die Straflosigkeit umfasste allerdings solche Fälle nicht, in denen für den Suizid geworben werden könnte oder Menschen sogar dazu verleitet würden. Ferner sah ein strenges Gesetzeskonzept13 vor, aufgrund eines neuen Straftatbestandes Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung stets unter Strafe zu stellen, auch ohne dass die Haupttat bestraft wird; allerdings mit Ausnahme der extremen Einzelfälle einer medizinisch nicht mehr angezeigten oder vom Patienten nicht mehr gewünschten ärztlichen Behandlung, deren Abbruch strafrechtlich erlaubt sein sollte. Letztlich wurde im Jahre 2015 ein neuer Straftatbestand in das Strafgesetzbuch (§ 217 StGB n. F.) eingefügt, der in Absatz 1 die geschäftsmäßige Förderung in Form einer Gewährung, Verschaffung oder einer Vermittlung der Gelegenheit zur Selbsttötung unter Strafe stellt, wenn dies in der Absicht geschieht, die Selbsttötung

9

A.a.O. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 4. 11. 2015. Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz), Drucksache 18/5374, S. 2. 11 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 4. 11. 2015. Entwurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung, Drucksache 18/5375, S. 3. 12 A.a.O. 13 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 4. 11. 2015. Entwurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung, Drucksache 18/5376, S. 3. 10

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eines anderen zu fördern14. Von der Strafandrohung sollen Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die sich lediglich als nicht geschäftsmäßig handelnde Teilnehmer an der Haupttat beteiligen, ausgenommen werden (vgl. Absatz 2). Die Neuregelung des § 217 StGB normiert ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das im Vorfeld des Versuchs der „Haupttat“ (Selbsttötung) greift15. Es wurde als das Verbot einer abstrakt das Leben gefährdenden Handlung konzipiert. Deswegen ist es nicht vorausgesetzt, dass die Beihilfe tatsächlich zu einer Selbsttötung geführt hat oder diese auch nur versucht worden ist. Gemäß § 217 StGB besteht das strafbare Verhalten in einem geschäftsmäßigen Handeln des Suizidhelfers, und zwar in dem Sinne, dass er anderen Menschen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, wenn dies in der Absicht geschieht, die Selbsttötung der anderen zu fördern. Dabei muss sich der Suizidhelfer die Unterstützung der Sterbewillige zu einem dauernden oder wiederkehrenden Bestandteil seiner Tätigkeit machen, und zwar „unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht und unabhängig von einem Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit“16. Gewähren oder Verschaffen einer Gelegenheit bedeutet, dass der Suizidhelfer äußere Umstände herbeiführt, die geeignet sind, die Selbsttötung eines anderen Menschen zu ermöglichen oder wesentlich zu erleichtern17. „Beim Gewähren stehen die äußeren Umstände dem Täter schon zur Verfügung; beim Verschaffen sorgt er dafür, dass die notwendigen äußeren Umstände für den Suizid gegeben sind“18, wobei die Tat dann als vollendet gilt, wenn die äußeren Bedingungen für die Selbsttötung günstiger gestaltet worden sind als zuvor. Somit ist die strafbare Tat bereits mit der Förderungshandlung des Suizidhelfers vollendet; und nicht erst mit der Suizidausführung durch die suizidwillige Person19. Hingegen setzt Vermitteln einer Gelegenheit voraus, dass der Täter den konkreten Kontakt zwischen einem sterbewilligen Menschen und der Person, die die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt oder verschafft, 14 Zur Bewertung der Neuregelung im deutschen Schrifttum siehe insbesondere Duttge, Strafrechtlich reguliertes Sterben. Der neue Straftatbestand einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, NJW 2016, S. 120 ff.; Gaede, Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – § 217 StGB, JuS 2016, S. 385 ff.; Hilgendorf, Zur Strafwürdigkeit organisierter Sterbehilfe, JZ 2016, S. 545 ff.; Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, NStZ 2016, S. 185 ff. 15 Siehe auch BT-Drucksache 18/5373, S. 16. 16 Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 17. Kritisch zu der Neuregelung vgl. Duttge, Strafrechtlich reguliertes Sterben. Der neue Straftatbestand einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, NJW 2016, S. 122 ff.; Hilgendorf, Zur Strafwürdigkeit organisierter Sterbehilfe, JZ 2016, S. 546 ff. 17 Vgl. Fischer, Kommentar zum StGB, 62. Aufl., 2015, § 180 Rn. 5; Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., 2014, § 180 Rn. 9. 18 Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 18. 19 Vgl. Fischer, Kommentar zum StGB, 62. Aufl., 2015, § 180 Rn. 22.

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ermöglicht, wobei allein der Hinweis auf eine ohnedies allgemein bekannte Stelle nicht ausreichend ist20. In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass die geschäftsmäßige Förderung zur Selbsttötung absichtlich, also zielgerichtet (d. h. mit dolus directus coloratus), erfolgt. Die deutsche Neuregelung stellt somit ein sog. Delikt mit überschießender Innentendenz dar. Straflos handeln daher diejenigen, die lediglich allgemeine Hinweise für eine mögliche Selbsttötung geben, ohne damit in einem konkreten Einzelfall Suizidhilfe mit Förderungsabsicht gewähren zu wollen. Dabei muss sich die Absicht des Täters selbst auf die Förderung der Selbsttötung beziehen, nicht aber auch auf die tatsächliche Durchführung dieser Selbsttötung. Bezüglich der Durchführung der Haupttat (Suizid) genügt dagegen schlichter Vorsatz, incl. dolus eventualis. Somit kann sich ein Suizidhelfer nicht etwa darauf berufen, dem suizidwilligen Menschen das tödlich wirkende Mittel zwar übergeben zu haben, um ihm die etwaige Selbsttötung zu erleichtern, diese Selbsttötung aber letztlich nicht gewollt oder gar missbilligt zu haben21. Zum Vergleich soll an dieser Stelle noch der im polnischen Strafrecht normierter Straftatbestand der Mitwirkung am Suizid (Art. 151 KK22) erläutert werden. Danach macht sich derjenige strafbar, der vorsätzlich durch Überredung oder durch Hilfeleistung einen Menschen veranlasst, Hand an sich zu legen23. Zuerst soll klargestellt werden, dass im Sinne der angeführten Regelung als Suizident – also als Opfer der hier normierten Straftat – nur derjenige in Betracht kommt, der fähig ist, die Bedeutung seiner Tat (d. h. des Hand-an-sich-Legens) zu erkennen und sein Verhalten entsprechend zu steuern24. Ferner ist auf zwei mögliche Varianten des strafwürdigen Handelns hinzuweisen, und zwar die vorsätzliche Überredung eines anderen Menschen zum Suizid bzw. die darauf angelegte vorsätzliche Hilfeleistung. Die Hilfeleistung entspricht der Beteiligungsform der Beihilfe im Sinne des Art. 18 § 3 KK25 und besteht in der Erleichterung der Suizidbegehung, insbesondere 20 Vgl. Renzikowski, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., 2012, § 180 Rn. 27 m.w.N. 21 Vgl. Lackner/Kühl, Kommentar zum StGB, 28. Aufl., 2014, § 27 Rn. 7. 22 Kodeks karny (im Weiteren: KK) – das geltende polnische Strafgesetzbuch vom 6. 6. 1997, Dz.U. (polnisches Gesetzblatt) Nr. 88, Pos. 553 mit Änderungen. 23 Bemerkenswert ist, dass der Straftatbestand, und zwar mit identischem Inhalt, auch in vorherigen polnischen strafrechtlichen Regelungswerken enthalten ist; vgl. hierzu Art. 151 KK aus dem Jahre 1969 und Art. 228 KK aus dem Jahre 1932. 24 Ein Minderjähriger oder Unzurechnungsfähiger, der wegen psychischer Krankheit oder einen anderen Störung des Geistestätigkeit die Bedeutung und Tragweite seiner Handlung nicht erkennen kann, ist aus dem Schutzbereich des Art. 151 KK ausgeschlossen, da das dort normierte Verbot das Leben zurechnungsfähiger Menschen schützt. Wer dagegen durch Überredung oder Hilfeleistung einen unzurechnungsfähigen oder minderjährigen Menschen bestimmt, Hand an sich zu legen, macht sich wegen vorsätzlichen Totschlags gem. Art. 148 KK strafbar; vgl. M. Cies´lak, System prawa karnego, Warszawa 1985, S. 384; K. Daszkiewicz, Przeste˛ pstwa przeciwko z˙ yciu i zdrowiu. Komentarz, Warszawa 2000, S. 136; A. Zoll, Kodeks karny. Komentarz. Cze˛ s´c´ szczególna, Warszawa 1999, S. 244 f. 25 Siehe Fn. 51.

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durch die Bereitstellung der Werkzeuge oder Beförderungsmittel oder durch die Gewährung von Beratung oder Information. Problematisch ist dagegen die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Überredung zum Suizid. Zweifelhaft ist, ob sie nur im Sinne der Anstiftung gem. Art. 18 § 2 KK26 zu verstehen ist. Richtigerweise ist eine Überredung nicht nur dann vorhanden, wenn eine Person mit dem Willen, dass eine andere Person eine Tat begeht, diese dazu veranlasst oder bestimmt; sie liegt vielmehr auch dann vor, wenn der am fremden Suizid Beteiligte durch die emotionelle Einwirkung (etwa durch Erwecken von Gefühlen und Wünschen) die Entscheidungsfreiheit des Sterbewilligen beeinflusst27. Kurz zu erwähnen sind noch die in beiden Rechtsordnungen vorgesehenen unterschiedlich konzipierten Strafrahmen. Im deutschen Strafrecht wird mit einem gegenüber der Strafandrohung für die Tötung auf Verlangen28 herabgesetzten Höchstmaß berücksichtigt, dass die Suizidförderung29 lediglich eine Unterstützungshandlung zu einer straflosen Selbsttötung unter Strafe stellt, während bei der Tötung auf Verlangen der Täter eine Fremdtötung (aktive Sterbehilfe) begeht. Diese Differenzierung erfolgt allerdings im Gegensatz zu der polnischen Rechtslage, wo die gesetzliche Strafandrohung für die beiden Straftaten gleich ist30. Zudem wird die deutsche Neuregelung noch um einen persönlichen Strafausschließungsgrund für nicht geschäftsmäßige Verhaltensweisen von Angehörigen31 und anderen dem Suizidwilligen nahestehenden Personen ergänzt32 (§ 217 Abs. 2 StGB). In der Begründung des Gesetzesentwurfes wird betont, dass diese Normierung die generelle Straflosigkeit des Suizid(versuch)s und der Beihilfe dazu, die nicht geschäftsmäßig erfolgt, nicht in Frage stellt33, sondern die Straflosigkeit der genannten Personen dann gewährleistet, wenn ihre im Einzelfall ausgeführten – also selbst nicht geschäftsmäßigen – Taten als Teilnahmehandlung (in Form einer Anstiftung oder Beihilfe) zu einer geschäftsmäßigen Suizidhilfe angesehen werden können. Für die Straf26

Siehe Fn. 51. Vgl. M. Cies´lak, System prawa karnego, S. 390 ff.; S´wida, Prawo karne, Warszawa 1989, S. 53. 28 § 216 StGB: „von sechs Monaten bis zu fünf Jahren“. 29 § 217 StGB: „bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. 30 Vgl. Art. 150 § 1 (Tötung auf Verlangen) und Art. 151 KK (Mitwirkung am Suizid): „von drei Monaten bis zu fünf Jahren“. Erstaunlicherweise normiert das polnische Strafrecht – und zwar ohne jegliche Begründung – noch einen minderschweren Fall der Tötung auf Verlangen (vgl. Art. 150 § 2 KK), jedoch nicht der Mitwirkung am Suizid, was als eine Inkonsequenz des polnischen Gesetzgebers anzusehen ist. 31 Legaldefinition siehe § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB. 32 Die Definition des Begriffs der (anderen) nahestehenden Person ist der Auslegung der entsprechenden Formulierung in § 35 Abs. 1 StGB zu entnehmen. Dabei ist auf das Bestehen eines auf eine gewisse Dauer angelegten zwischenmenschlichen Verhältnisses abzustellen, etwa dem Angehörigenverhältnis entsprechende Solidaritätsgefühle und deshalb auch eine vergleichbare psychische Zwangslage; vgl. Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, 29. Aufl., 2014, § 35 Rn. 15. 33 Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 19. 27

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losigkeit des bezeichneten Personenkreises wird damit argumentiert, dass „kein Strafbedürfnis gegenüber Personen besteht, die ihren Angehörigen oder anderen engen Bezugspersonen in einer in der Regel emotional sehr belastenden und schwierigen Ausnahmesituation beistehen wollen“34. Denn es liegt hier kein strafwürdiges, sondern in der Regel ein von tiefem Mitleid und Mitgefühl geprägtes Verhalten vor. Eine entsprechende explizite Normierung ist im polnischen Strafrecht aus naheliegenden Gründen nicht enthalten. Wer also beispielsweise einem todkranken Angehörigen allein aus Mitleid in einer Einzelsituation Hilfe zur Selbsttötung leistet, macht sich nach polnischen Recht strafbar; nach deutschem Recht dagegen nicht.

III. Begründung der Strafbarkeit der (geschäftsmäßigen) Förderung der Selbsttötung Dass das menschliche Leben auch im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung, d. h. des Suizid(versuch)s, Rechtsschutz genießt, wird nicht in Frage gestellt. Problematisch erscheint allerdings einerseits der Umfang dieses Rechtsschutzes und andererseits, ob dieser gerade durch strafrechtliche Mittel erfolgen sollte35. Vom diesem Hintergrund ist anzumerken, dass der polnische Gesetzgeber eindeutig von der „Heiligkeit des Lebens“36 ausgeht und dementsprechend auch die vorsätzliche Förderung der Selbsttötung unbeschränkt kriminalisiert. Im polnischen Schrifttum fehlt es allerdings leider an vertieften Überlegungen, ob dies ggf. nicht rechtssystematisch und grundrechtsbasiert problematisch ist, bzw. auch in der Abwägung unterschiedlicher ethischer Prämissen einen überscharfen Eingriff in die Selbstbestimmung von Sterbewilligen darstellt. Im Vergleich dazu ist in der deutschen Rechtslage bemerkenswert, dass der neue § 217 StGB ausdrücklich nicht die Suizidhilfe kriminalisiert, da sie im Einzelfall in einer schwierigen Konfliktsituation gewährt wird. Ein vollständiges strafbewehrtes Verbot der Beihilfe zum Suizid, wie es u. a. im polnischen Strafrecht sowie in einzelnen anderen europäischen Staaten besteht, ist nämlich – laut der deutschen ratio legis – „politisch nicht gewollt und wäre mit den verfassungspolitischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes kaum zu vereinbaren“37. Es solches Verbot wäre dementsprechend nicht als verhältnismäßig anzusehen. Abgesehen davon wird behauptet, dass gerade allein durch den geschäftsmäßigen Charakter der Hilfe zur Selbsttötung eine besondere Gefährdung der autonomen Entscheidung Betroffener entsteht. Und dies insbesondere dadurch, dass die Suizidhel34

Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 19 f. Vgl. dazu auch Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, NStZ 2016, S. 186 ff. 36 Wortgetreu zitiert aus der Begründung des Gesetzesentwurfes des polnischen Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1997, S. 184. 37 Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 3. 35

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fer während der Tatausführung spezifische, typischerweise auf die Durchführung des Suizids gerichtete Eigeninteressen verfolgen. Es kommt daher zu potenziellen Interessenkollisionen, die darin bestehen, dass die Unterstützungshandlung auf Wiederholung und Fortsetzung ausgerichtet ist (ggf. auch ohne Gewinnstreben) und somit bei Suizidhelfern autonomiegefährdende Gewöhnungseffekte und Abhängigkeiten entstehen können. Infolgedessen kann gegenüber dem Suizidwilligen ein zusätzlicher (Entscheidungs-)Druck und eine Manipulationslage aufgebaut werden. Darüber hinaus wird im Falle des assistierten Suizids die darauf angelegte Beihilfe als „normale“ Dienstleistung der gesundheitlichen Versorgung angeboten und damit gewissermaßen zum (wenn auch möglicherweise unentgeltlichen) Geschäftsmodell erklärt. Die deutsche strafrechtliche Regelung zielt daher in erster Linie nicht auf die Kriminalisierung der Suizidhilfe ab, sondern auf den Schutz einer von Fremdbeeinflussung freien Willensbildung, sowie auf die Sicherstellung, dass die Förderung der Selbsttötung keinesfalls als „normale Therapieoption“ anerkannt wird, und zwar aus Gründen des Integritäts- und Autonomieschutzes38. Eine weitere Begründung der Strafbarkeit gerade der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung lässt sich ferner aus dem Entwurf des deutschen Änderungsgesetzes vom 3. Dezember 201539 entnehmen. Hier wird auch betont, dass im Falle des geschäftsmäßigen Anbietens der Beihilfe zum Suizid eine Interessenheterogenität der Beteiligten und die besondere Gefährdung der freiverantwortlichen Entscheidung am Lebensende vorliegen. Und die Einbeziehung der geschäftsmäßig handelnden Personen oder Organisationen beeinflusst die die Straflosigkeit des Suizids begründende personale Eigenverantwortlichkeit und stellt somit „eine qualitative Änderung in der Praxis der Sterbehilfe dar[…]. Anstatt den Leidenden und Lebensmüden Hilfe im Leben und im Sterben anzubieten, wird das aktive und vermeintlich einfache Beenden des Lebens selbst zum Gegenstand geschäftlicher Tätigkeit gemacht“40. Da eine solche Aktivität der am Suizid Beteiligten eine zumindest abstrakte Gefährdung höchstrangiger Rechtsgüter, nämlich des menschlichen Lebens und der Autonomie des Individuums, bedeutet, ist im Weiteren zu prüfen, ob der neue Straftatbestand (§ 217 StGB) als grundrechtsbasiert und deshalb auch als verfassungskonform anerkannt werden kann. Dass er im Sinne eines gleichermaßen wirksamen Schutzes der Selbstbestimmung41 und des Grundrechts auf Leben42 konzipiert wurde, steht außer Frage. Gegenüber den Gefährdungen dieser höchstrangigen Rechtsgüter ist daher eine staatliche Reaktion, auch mit Mitteln des Strafrechts, 38

Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 17. Vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 19 f. 40 Vgl. BT-Drucksache 17/11126, S. 1, 6, 7. 41 Hier geht es um Schutzgarantien der menschlichen Selbstbestimmung (vgl. Garantie der körperlichen Integrität, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 2. Alt GG und des Persönlichkeitsschutzes, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) – in dem angesprochenen Kontext im Bereich der autonomen Entscheidung über das eigene Lebensende. 42 Gemeint sind hier Schutzgarantien des menschlichen Lebens (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. GG). 39

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nach wie vor generell angezeigt43. Angesichts der mit ihr verbundenen Eingriffstiefe muss jedoch eine solche Regelung im Bereich des Strafrechts besonderen Anforderungen genügen, d. h. mit höherrangigem Recht vereinbar sein; und zwar insbesondere im Sinne der Übereinstimmung mit Grundrechtsbestimmungen44. Dabei sind insbesondere zwei Prüfungsmaßstäbe denkbar. Als erstes ist die verfassungsrechtliche Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zu erwähnen. Nach der herkömmlichen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung umfasst der Schutzbereich dieser Garantie jegliche Tätigkeiten, auch wenn sie dem traditionellen oder rechtlich fixierten Berufsbild nicht entsprechen; allerdings mit Ausnahme solcher Tätigkeiten, die schon ihrem Wesen nach angesichts der hohen Wertigkeit der gefährdeten Rechtsgüter als nicht erlaubt anzusehen sind45, was bei der gewerbsmäßigen Suizidbegleitung gerade der Fall ist. Als zweiter Prüfungsmaßstab gilt Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne jedes menschlichen Handelns46). Er ist insbesondere für die Fälle der ehrenamtlichen Suizidbeihilfe als Betätigungsform menschlichen Handelns relevant, also für Handlungen derjenigen Beteiligten, die die Suizidbeihilfe nicht beruflich ausüben. Die allgemeine Handlungsfreiheit steht aber – mit Ausnahme eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung, dem aber die ehrenamtliche Suizidbeihilfe nicht zugehört – unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung47. Ihre Beschränkungen durch Gesetz sind daher grundsätzlich zulässig, wobei in materieller Hinsicht der rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen ist. Indem das strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe zwei höchstrangige Rechtsgüter (Leben und Selbstbestimmung) geschützt werden sollen, steht dieses Verbot nicht außer Verhältnis zu dem mit ihm angestrebten Ziel, was auf die Geeignetheit und Angemessenheit der Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit hinweist. Da andere mildere rechtliche Maßnahmen kein gleichermaßen wirksames Mittel für den Schutz der genannten Rechtsgüter darstellen, ist die Beschränkung auch erforderlich48. 43

Vgl. auch BT-Drucksache 18/5373, S. 12. Dazu vgl. auch Gaede, Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – § 217 StGB, JuS 2016, S. 386 f. 45 Vgl. u. a. BVerfGE 115, 301. 46 Vgl. u. a. BVerfGE 6, 36. 47 Vgl. BVerfGE 6, 37 f.; 74, 152. 48 In der Begründung des deutschen Gesetzesentwurfes wird hervorgehoben, dass ein rein zivil- oder verwaltungsrechtliches Verbot der geschäftsmäßigen Angebote der Suizidhilfe ohne einen entsprechenden Sanktionierungstatbestand wirkungslos wäre. Ferner könne es nicht darauf vertraut werden, dass das Polizei- und Ordnungsrecht, das Betäubungsmittelrecht bzw. das ärztliche Berufsrecht einen hinreichend sicheren Rechtsrahmen bieten, um gegen alle Formen der geschäftsmäßigen Suizidförderung vorzugehen. Eine strafrechtliche Verbotsnorm könne insoweit deutlich genauer den Inhalt und die Grenzen des Verbotenen bestimmen; vgl. BT-Drucksache 18/5373, S. 14 f. Anders Hilgendorf, Zur Strafwürdigkeit organisierter Sterbehilfe, JZ 2016, S. 551 f.; Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, NStZ 2016, S. 190 ff. 44

Die Tendenzen zur Erweiterung der Kriminalisierung der Tötungsdelikte

249

Ein Verstoß gegen Grundrechtsbestimmungen ist daher nicht ersichtlich.

IV. Fazit Abschließend ist festzustellen, dass das Verbot der Förderung der Selbsttötung im polnischen Strafrecht wesentlich strenger strafrechtlich bewehrt ist, als dies im StGB der Fall ist; und dies sowohl hinsichtlich des Rahmens der kriminalisierten Verhaltensweisen, als auch des Ausmaßes der gesetzlichen Strafandrohung. Erstens ergeben sich aus dem Inhalt des § 217 StGB und des Art. 151 KK weitgehende Unterschiede in der Normierung der Schutzbereiche beider Strafnormen. Von der deutschen Regulierung unterscheidet sich die polnische Strafnorm nämlich insbesondere durch die differenzierte Erfassung des strafwürdigen Handelns (hier vor allem durch die fehlende Abgrenzung zwischen der geschäftsmäßigen und nicht geschäftsmäßigen Suizidhilfe sowie durch die Kriminalisierung jeglicher – und nicht nur absichtlicher – Suizidförderung). Unterschiedlich konzipiert ist auch die Ausgestaltung des gesetzlichen Strafrahmens, wobei das polnische Strafrecht keinen persönlichen Strafausschließungsgrund vorsieht. Aus der Gegenüberstellung der beiden strafrechtlichen Normierungen (§ 217 StGB und Art. 151 KK) und unter Berücksichtigung der in den hier zu untersuchenden Strafrechtsordnungen bestehenden Beteiligungsformen, lassen sich daher folgende Varianten für die de lege lata mögliche Straflosigkeit bzw. Strafbarkeit der Förderung eines anderen Menschen bei dessen Suizid (bzw. der Teilnahme daran) unterscheiden: Tabelle 1 Varianten der täterschaftlichen Beteiligung (alle geltenden Täterschaftsformen) absichtlich mit direktem Vorsatz (d. h. mit dolus 2. Grades (Wissentlichkeit) directus coloratus) bzw. mit bedingtem Vorsatz

fahrlässig

Suizid(versuch)

StGB: straflos KK: straflos

StGB: straflos KK: straflos

StGB: straflos KK: straflos

nicht geschäftsmäßige Förderung des Suizids

StGB: straflos KK: strafbar (Art. 151 KK)

StGB: straflos KK: strafbar (Art. 151 KK)

StGB: straflos KK: straflos

geschäftsmäßige Förderung des Suizids

StGB: strafbar (§ 217 Abs. 1) KK: strafbar (Art. 151 KK)

StGB: straflos

StGB: straflos

KK: strafbar (Art. 151 KK)

KK: straflos

250

Joanna Długosz

Tabelle 2 Varianten für die Beteiligung in der Form der Teilnahme (Anstiftung oder Beihilfe) mit direktem Vorsatz mit bedingtem Vorsatz

fahrlässig

geschäftsmäßige Teilnahme an der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids

StGB: strafbar KK: strafbar

StGB: strafbar KK: Anstiftung: straflos Beihilfe: strafbar

StGB: straflos KK: straflos

nicht geschäftsmäßige Teilnahme an der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids

StGB: strafbar (§ 28 Abs. 1 StGB49) KK: strafbar

StGB: strafbar (§ 28 Abs. 1 StGB) KK: Anstiftung: straflos Beihilfe: strafbar

StGB: straflos

nicht geschäftsmäßige Teilnahme eines Angehörigen oder anderer dem Suizidwilligen nahestehenden Person an der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids

StGB: straflos (Art. 217 Abs. 2) KK: strafbar

StGB: straflos (Art. 217 Abs. 2) KK: Anstiftung: straflos Beihilfe: strafbar

StGB: straflos

geschäftsmäßige Teilnahme an der nicht geschäftsmäßigen Förderung des Suizids

StGB: straflos50 KK: strafbar

StGB: straflos51 KK: Anstiftung: straflos Beihilfe: strafbar

StGB: straflos KK: straflos

nicht geschäftsmäßige Teilnahme an der nicht geschäftsmäßigen Förderung des Suizids

StGB: straflos KK: strafbar

StGB: straflos KK: Anstiftung: straflos Beihilfe: strafbar

StGB: straflos KK: straflos

KK: straflos

KK: straflos

49 Dass es sich bei der Geschäftsmäßigkeit um ein strafbegründendes Merkmal im Sinne von § 28 Abs. 1 StGB handelt, wird nicht in Frage gestellt. Deswegen ist es für die Strafbarkeit des Teilnehmers nicht erforderlich, dass er selbst geschäftsmäßig handelt. Somit ist die Bestrafung eines selbst nicht geschäftsmäßig handelnden Teilnehmers an einer geschäftsmäßigen Suizidförderung grundsätzlich möglich. 50 Dies gilt allerdings nur für die Fälle, in denen es um die mögliche Anwendung von §§ 26 bzw. 27 StGB geht, und zwar, weil die Tat, zu der angestiftet bzw. Hilfe geleistet wird (d. h. die nicht geschäftsmäßige Förderung des Suizids) keine rechtswidrige Tat im Sinne der genannten Vorschriften darstellt. Lässt sich dagegen die geschäftsmäßige Teilnahme an der nicht geschäftsmäßigen Förderung des Suizids eines anderen im Lichte der Tatbestandsmerkmale von § 217 StGB als eine absichtliche (indirekte) Förderung des Suizids qualifizieren, so ist die Strafbarkeit des geschäftsmäßig handelnden „Teilnehmers“ (als Täter) direkt aufgrund von § 217 StGB möglich. 51 Hier bleibt die Straflosigkeit stets bestehen, da die (geschäftsmäßige) Teilnahme mit bedingtem Vorsatz sich nicht als eine absichtliche Förderung im Sinne des § 217 StGB einordnen lässt.

Die Tendenzen zur Erweiterung der Kriminalisierung der Tötungsdelikte

251

Auch die Teilnahme in der Form der Anstiftung oder Beihilfe52 zu einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung kann nach allgemeinen Grundsätzen strafbar sein53. Es ist allerdings auf gravierende Unterschiede in der Normierung der Teilnahmeformen in den hier zu prüfenden Rechtssystemen hinzuweisen, wobei bezüglich der polnischen Regulierung vor allem differenzierte Anforderungen des subjektiven Tatbestandes erwähnenswert sind54. Eine Besonderheit der zu behandelnden Thematik stellen auch die Konstellationen dar, in denen eine (nach inländischem Recht strafbare) Teilnahme an einer im Ausland begangenen, dort straflosen Haupttat vorliegt. Nach dem deutschen Strafrecht (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB) ist nämlich eine Bestrafung des in Deutschland handelnden Anstifters bzw. Gehilfen auch dann möglich, wenn die im Ausland betriebene und geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung am Tatort nicht mit Strafe bedroht ist55. Dagegen ist eine solche Möglichkeit im polnischen Strafrecht nicht vorgesehen. In dem genannten Fall wäre die Bestrafung des in Polen handelnden Anstifters bzw. Gehilfen mangels einer am Tatort strafrechtsrelevanten Haupttat daher ausgeschlossen.

52

Beispielsweise durch die Werbung eines anderen für die geschäftsmäßige Suizidhilfe, wodurch die Begehung der Haupttat konkret ermöglicht oder erleichtert wird; vgl. Heine/ Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., 2014, § 27 Rn. 10 ff. 53 In deutschen Strafrecht siehe §§ 26, 27 StGB. 54 Laut Art. 18 § 2 KK ist wegen Anstiftung strafbar, wer mit dem Willen, dass eine andere Person eine verbotene Tat begeht, diese dazu bestimmt. Dagegen ist gem. Art. 18 § 3 KK derjenige wegen Beihilfe strafbar, wer mit dem Vorsatz, dass eine andere Person eine verbotene Tat begeht, mit seinem Verhalten die Begehung derselben erleichtert, insbesondere durch Bereitstellung der Werkzeuge oder Beförderungsmittel oder durch Gewährung von Beratung oder Information. Wegen Beihilfe ist auch strafbar, wer entgegen einer ihm obliegenden rechtlichen besonderen Pflicht, die Tatbegehung zu verhindern, durch sein Unterlassen die Begehung der verbotenen Tat durch den anderen erleichtert. (Hervorhebungen J. D.). 55 Selbstverständlich betrifft diese Konstellation nicht die Fälle, bei denen der Tatort in Polen liegt.

Die Notwendigkeit unglücklicher Rechte Die Grundrechte der Kranken und die Regelung der Sterbehilfe Massimo Donini Eine Person auf eine Weise sterben zu lassen, die die anderen billigen, sie selbst als schrecklichen Gegensatz zu ihrem Leben empfindet, ist eine abscheuliche und verheerende Form von Tyrannei. Ronald Dworkin1

Vorbemerkung Ich befasse mich hauptsächlich mit dem Thema der Rechte von Kranken auf dem Weg zum Tode und dessen Tabuisierung sowie mit der Befreiung ihrer Entscheidungen vom Strafrecht. Die große Mehrheit der Menschen, die sich in der extremen Situation einer sehr schmerzhaften Krankheit oder einer fortschreitenden Demenz befinden oder unfähig sind, sich zu bewegen, gut zu atmen, sich zu unterhalten, Gedanken zu fassen oder sich zu erinnern, zieht dennoch das Überleben der Vernichtung der Existenz vor. Ich möchte im Folgenden die Perspektive der Entscheidung „für das Leben auf jeden Fall“ weder schwächen noch begrenzen, auch wenn ich sie nicht immer verstehen kann, sondern die legitime Position der anderen (oder derselben, in fieri der Krankheit) verteidigen und das Grundrecht der Kranken (selbst) juristisch unterstützen, die dies nicht (mehr) akzeptieren und nicht (weiter) für eine bloße würdige Sterbevorbereitung, Sterbebegleitung und ein Aufschieben des Sterbens eintreten, sondern um das Sterben selbst als Befreiung bitten. Dieses Verlangen zu respektieren, kann als Ausdruck des Fürsorgeprinzips, sogar der Menschenliebe, und nicht eines gleichgültigen Individualismus oder programmierten Aufgebens der Gesellschaft und des Staates bewertet werden. Vor der Entwicklung einer Medizin, die das Leben künstlich oder sinnlos extrem verlängern kann, ohne es zu retten, hätte dieses Verlangen nie auf der Ebene von Grundrechten gerechtfertigt werden können, als diese Grundrechte noch nicht entdeckt worden waren. Die Natur des Menschen wird also durch die Technik entdeckt oder verändert.2 1

300.

Ronald Dworkin, Life’s Dominion (1993), it. Übers. Il dominio della vita, Mailand 1994,

2 Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, 1957, it. Übers., L’uomo nell’era della tecnica, Mailand 1984, S. 12. Diese kurze Aussage kann gut vertieft werden am Beispiel von Werken wie: Umberto Galimberti, Psiche e techne. L’uomo nell’età della tecnica, Mai-

254

Massimo Donini

Wer keine Krankheit hat, kann weiter von den traditionellen Strafvorschriften geschützt werden, wenn auch mit entscheidenden Reformen im Bereich des Sanktionensystems3 und in Italien mit einer radikalen Unterscheidung zwischen Anstiftung zum Suizid, die strafbar bleiben sollte/könnte4, und blosser Beihilfe zum Suizid, die nicht strafbar oder stark vemindert strafbar sein sollte. Ich befürworte insoweit kein Bedürfnis nach Anerkennung eines „allgemeinen“ Rechts zum Suizid; gäbe es dieses Recht, so dürfte man im Fall eines versuchten Suizids nicht einschreiten – eine Konsequenz, welche die meisten Mitmenschen für inakzeptabel halten. Eine ganz andere Frage ist die „Ethik des Suizids“5, die „Strafbarkeit“ (oder verminderte Strafbarkeit) der Beihilfe zum Suizid und sogar der Tötung auf Verlangen, wenn sie selbstlos stattfindet, oder in den Fallkonstellationen der oben genannten schwierigsten Krankheiten. Die Befreiung vom Strafrecht in solchen Fällen soll hier nicht im Allgemeinen, sondern in Bezug auf die Existenz des Rechts sowohl auf ein menschliches und würland 1999, S. 160 ff.; Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 2001, it. Übers. Il futuro della natura umana, Turin 2002, S. 32 ff. 3 Über die wichtigsten Probleme der Reform der italienischen Rechtslage im Bereich der Sterbehilfe, vgl. Fabrizio Ramacci, Premesse alla revisione della legge penale sull’aiuto a morire, in Studi Nuvolone, Bd. II, Mailand 1991, S. 201 ff.; Sergio Seminara, Riflessioni in tema di suicidio e di eutanasia, Riv. it. dir. proc. pen., 1995, S. 670 ff.; Fausto Giunta, Diritto di morire e diritto penale. I termini di una relazione problematica, in Cosimo Marco Mazzoni (Hrsg.), Una norma giuridica per la bioetica, Bologna 1998, insbes. 286 ff.; Stefano Canestrari, Relazione di sintesi. Le diverse tipologie di eutanasia: una legislazione possibile, in Stefano Canestrari, Giovanni Cimbalo, G. Pappalardo (Hrsg.), Eutanasia e diritto. Confronto tra discipline, Turin 2003, S. 213 ff.; Silvia Tordini Cagli, Le forme dell’eutanasia, in Stefano Rodotà, Paolo Zatti (Hrsg.) Trattato di biodiritto, Bd. II, Stefano Canestrari, Gilda Ferrando, Cosimo Marco Mazzoni, Sefano Rodotà, Paolo Zatti (Hrsg.), Il governo del corpo, Mailand 2011, (1819) insbes. S. 1833 ff.; Adelmo Manna, Art. 579 – 580. L’omicidio del consenziente e l’istigazione o aiuto al suicidio, in ders., (Hrsg.), Reati contro la persona, I, Reati contro la vita, l’incolumità individuale e l’onore, Turin 2007, S. 51 ff., 70 ff. Vgl. auch Stefano Canestrari, Francesca Faenza, Il principio di ragionevolezza nella regolamentazione biogiuridica: la prospettiva del diritto penale, Criminalia, 2008, S. 82 ff.; Davide Tassinari, Note a margine dei recenti disegni di legge relativi al “testamento biologico”, in Stefano Canestrari, Fausto Giunta, Roberto Guerrini, Tullio Padovani (Hrsg.), Medicina e diritto penale, Florenz 2009, S. (403) 412 ff. 4 Wie z. B. im französischen code pénal, art. 223 – 13, geregelt ist: „Le fait de provoquer autrui au suicide est puni de trois ans d’emprisonnement et de 45 000 euros d’amende lorsque la provocation a été suivie du suicide ou d’une tentative de suicide. Les peines sont portées à cinq ans d’emprisonnement et à 75 000 euros d’amende lorsque la victime de l’infraction est un mineur de 15 ans.“ Der folgende article 223 – 14 präzisiert: „La propagande ou la publicité, quel qu’en soit le mode, en faveur de produits, d’objets ou de méthodes préconisés comme moyens de se donner la mort est punie de trois ans d’emprisonnement et de 45 000 euros d’amende.“ Vgl. auch, im Sinne der Unvernünftigkeit der Gleichbehandlung von Anstiftung und Beihilfe zum Suizid, Fabrizio Ramacci, Premesse alla revisione della legge penale sull’aiuto a morire (Anm. 3), S. 201 ff., 213; ders., I delitti di omicidio, 2. Aufl. Turin 1997, S. 133 ff. Dann, Lucia Risicato, Dal „diritto di vivere“ al „diritto di morire“. Riflessioni sul ruolo della laicità nell’esperienza penalistica, Turin 2008, S. 79. 5 Sindey Hook, The Ethics of Suicide, Intern. Journal of Ethics, 1927, 173 ff. Vgl. auch Marzio Barbagli, Congedarsi dal mondo. Il suicidio in Occidente e in Oriente, Bologna 2009.

Die Notwendigkeit unglücklicher Rechte

255

diges Sterben, wie auch auf den Tod an sich überprüft werden, was direkt in Verbindung steht mit dem Prinzip der Einwilligungsbedürftigkeit ärztlicher Behandlungen, mit deren Wohltätigkeit, mit der Menschenwürde und mit der Pietas (Mitleid)6. Unter dieser Voraussetzung bin ich davon überzeugt, dass heutzutage eine Regelung, die explizit Formen von aktiver Euthanasie in Italien einführt, politisch unmöglich oder zu kontrovers ist. Die folgenden Überlegungen haben deswegen die Bedeutung einer Zeugenaussage: ihre konzeptionelle Dringlichkeit bleibt davon unberührt.

I. Die italienische Rechtslage im Allgemeinen Die italienische Gesetzeslage ist besonders veraltet, die Rechtslage nur teilweise besser. Es gibt keine gesetzliche Regelung der Patientenverfügungen7, und palliative Behandlungen werden zwar sehr befürwortet und das Fürsorgeprinzip der Medizin sehr betont, doch gibt es in Italien kein gesetzlich anerkanntes, explizites Menschenrecht auf ein würdiges Lebensende. Als Piergiorgio Welby im Jahr 2006 die Abschaltung des Beatmungsgeräts verlangte und dies gegen gerichtliche Entscheidungen durchsetzte (vgl. unten IV., VI.), durfte er nicht religiös bestattet werden wie ein normaler „Suizident“, und gegen den Arzt wurde ein Strafverfahren eingeleitet, in dem am Ende seine Pflicht anerkannt wurde, den Willen des Kranken zu respektieren.8 Im Fall Englaro wurde im Jahre 2009 vom Gericht die Unterbrechung der künstlichen Ernährung einer Frau, die sich seit 17 Jahren in permanentem vegetativen Zustand befand, genehmigt (vgl. unten IV., V.), was einen unbeschreiblichen politisch-religiösen Konflikt im ganzen Land auslöste.9 Nach solchen Fällen kann es trotz der „theoretischen“ Rechte der 6 Letzlich wird das Thema der Empathie und des Mitleids im Allgemeinen auch in der italienischen strafrechtlichen Literatur stark betont: v. a. Ombretta Di Giovine, Un diritto penale empatico? Diritto penale, bioetica, neuroetica, Turin 2009, S. 19 ff. (zum Thema Euthanasie), 102 ff. (zum Thema aktives Tun/Unterlassen der ärztlichen Behandlungen). Traditionell gegen irgendwelche „Schwäche“ des Mitleids auf solchen Gebieten Vincenzo Manzini, Diritto penale italiano, Bd. VIII, Turin 1950, S. 84 – 91. 7 Vgl. Debora Provolo, Le direttive anticipate: profili penali e prospettiva comparatistica, in Stefano Rodotà, Paolo Zatti (Hrsg.) Trattato di biodiritto, Bd. II (Anm. 3), S. 1969 ff. 8 Zum Fall Welby vgl. Massimo Donini, Il caso Welby e le tentazioni pericolose di uno spazio libero dal diritto, Cass. Pen., 2007, S. 902 ff.; Francesco Viganò, Esiste un diritto a „essere lasciati morire in pace“? Considerazioni a margine del caso Welby, Riv. it. dir. proc. pen., 2007, S. 5 ff.; Sergio Seminara, Le sentenze sul caso Englaro e sul caso Welby: una prima lettura, Dir. pen. proc., 2007, S. 1561 ff.; Domenico Pulitanò, Elisa Ceccarelli, Il lino di Lachesis e i diritti inviolabili della persona, Riv. it. med. legale, 2008, S. 330 ff.; Silvia Tordini Cagli, Piergiorgio Welby e Giovanni Nuvoli: il punto sul diritto a rifiutare le cure,[email protected], 2008, S. 543 ff.; Alberto Vallini, Lasciar morire chi rifiuta le cure non è reato. Il caso Welby nella visuale del penalista, in Dialoghi del diritto, dell’avvocatura, della giurisdizione, 2008, S. 54 ff. 9 Eine lehrreiche Verfilmung von Marco Bellocchio, Bella addormentata (2012). Vgl. auch die mehrfachen ursprünglichen Gerichtsentscheidungen zu diesem Fall in der Beschreibung

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Massimo Donini

Kranken kaum ein Arzt wagen, gleiche Schritte zu gehen. Besser ist es, sie zu umgehen. Dennoch kann man nach den Gerichtsentscheidungen, die diese Fällen vorbereitet haben oder ihnen nachgefolgt sind, neue Rechte implizit aus mehreren Rechtsquellen (zu denen auch Gerichtsentscheidungen gehören) rekonstruieren. Zwar wird ein Recht auf die Bestimmung des eigenen Todes (right to die) in dem Sinne, dass man den Tod zeitlich direkt bestimmen (bzw. das Leben abkürzen) dürfte, bis heute nur indirekt gestattet. Es muss durch einen endgültigen Verzicht auf (mehr oder weniger) unerträgliche ärztliche Behandlungen geschehen, oder de facto durch die Anwendung von Behandlungsmethoden, die zwar das Leben als Nebenwirkung der Behandlung selbst (indirekte Euthanasie) verkürzen, aber nicht den Tod, sondern lediglich die Schmerztherapie bezwecken.10 Das praktisch notwendige Vorhandensein einer ärztlichen Einrichtung, entweder durch Handlung oder Unterlassung, wandelt diese Rechte in prozedurale Rechtfertigungen11, auch wenn sie oft nur ansatzweise vom Gesetz geregelt und vor allem von der Rechtsprechung konkretisiert worden sind. Zwar macht die Prozedur an sich die Sterbehilfe noch nicht rechtmäßig; doch kann die Rechtfertigung ausschließlich durch eine Prozedur erfolgen. Diese echten Rechte sind also fragmentarisch anerkannt und in leading cases der Rechtsprechung erarbeitet worden – Richterrecht statt Gesetz. Die technische Lösung eines strafrechtlichen Fortschrittes besteht provisorisch in der Entwicklung der Rechtfertigungsgründe, die zum Glück den Gesetzesvorbehalt nicht wie die Strafnormen beachten müssen12. Trotz des ziemlich areligiösen Lebensstils (aber von Amedeo Santosuosso, G.C. Turri, La trincea dell’innammissibilità dopo tredici anni di stato vegetativo permanente di Eluana Englaro, Nuova giur. civile comm., 2006, S. 477 ff.; und weiter die Rekonstruktion der weiteren Gerichtsstufen bei Domenico Pulitanò, Elisa Ceccarelli, Il lino di Lachesis, a.a.O. Vgl. auch noch Amedeo Santosuosso, Diritto, scienza, nuove tecnologie, Padua 2011, S. 81 ff.; Sergio Seminara, Le sentenze sul caso Englaro e sul caso Welby (Anm. 8). 10 Über die juristische Qualifikation dieser Formen von indirekter Euthanasie in Italien, vgl. Sergio Seminara, Riflessioni in tema di suicidio e di eutanasia (Anm. 3), S. 702 ff.; Maria Beatrice Magro, Eutanasia e diritto penale, Turin 2001, 155 ff.; Silvia Tordini Cagli, Le forme dell’eutanasia (Anm. 8), S. 1824 ff.; Stefano Canestrari, Relazione di sintesi (Anm. 3), S. 220 ff. Viel interessanter scheint aber die Realität und Praxis palliativer Behandlungen und terminaler Sedation, die als eine Alternative de facto zur juristischen Verkennung der Euthanasie gelten: in der „besten“ katholischen Tradition. Vgl. Giovanna Razzano, Dignità nel morire, eutanasia e cure palliative nella prospettiva costituzionale, Turin 2014. 11 Zum Thema, sei hier auf Massimo Donini, Il caso Welby (Anm. 8), und ders. Il volto attule dell’illecito penale. La democrazia penale tra differenziazione e sussidiarietà, Mailand 2004, S. 27 ff. hingewiesen. In der deutschen Literatur, die ursprünglich die Kategorie erarbeitet hat, vgl. statt vieler Winfried Hassemer, Prozedurale Rechtfertigungen, in FS Mahrenholz, Baden-Baden 1994, S. 733 ff.; Albin Eser, Sanktionierung und Rechtfertigung durch Verfahren, in Winfried Hassemer zum 60. Geburtstag, in KritV, Sonderheft, Baden-Baden, 2000, S. 43 ff. 12 Vgl. H.C. Schmidt, Grundrechte als Strafbefreiungsgründe, ZStW 121 (2009), S. 645 ff.

Die Notwendigkeit unglücklicher Rechte

257

das gilt nicht nur für Italien) leidet das Land auf solchen Gebieten unter einer starken Vormundschaft der katholischen Kirche, weil es keine eigene öffentliche Moral entwickelt hat außer der juristischen Moral des Strafrechts13, dessen Vorschriften hier noch dieselben wie die des Codice Rocco von 1930 sind. Obwohl die Reform dieser Vorschriften als die begrifflich unvermeidliche Lösung der aktuellen Rechtsentwicklung erscheint, werden die politischen Bedingungen dafür wohl nur im Bereich einer allgemeineren europäischen Rechtsentwicklung reif sein, wie dies zuletzt im Fall Lambert geschehen ist.14

II. Anstiftung und Beihilfe zum Suizid in Italien Die gesetzliche Regelung Die Teilnahme an der Selbsttötung ist strafrechtlich verboten (Art. 580 it. StGB: Freiheitstrafe von 5 bis zu 12 Jahren): gleichgültig, ob Anstiftung (in jeder Form) oder Beihilfe. Anstiftung zum Suizid ist im Prinzip nur durch aktives Tun möglich. Der versuchte Suizid ist nicht strafbar. Die Teilnahme an einem „unfreien“ Suizid wird wie ein Totschlag bewertet (omicidio volontario: Art. 580 Abs. 2 und 575 it. StGB). Zwischen Privatperson und Organisationseinheit wird kein Unterschied gemacht. In letzter Zeit gibt es, abgesehen von zahlreichen, aber nicht gubernativen Projekten, keine beständigen oder aktuellen Bestrebungen des Gesetzgebers, die aktive Sterbehilfe neu zu regulieren.15 13 Über dieses Phänomen, bei dem das Strafrecht an die Stelle der öffentlichen Moral gesetzt wird, vgl. Massimo Donini, Strafrecht als öffentliche Moral, Berlin 2016, im Druck (orig. it. Il diritto penale come etica pubblica. Considerazioni sul politico come tipo d’autore, Modena 2014). 14 Eine der neuesten Entscheidungen des EuGMR, in der die Legitimität der passiven Sterbehilfe begründet wird, findet man in Grand Chamber, Lambert and others v. France, 5 June 2015 (Appl. 46043/14), in einem Fall von „withdrawal of treatment in the absence of advanced directives“. Der „Case Lambert“ ist ein Fall, der dem italienischen Fall Englaro entspricht. Die Sterbehilfe ist hier eigentlich „scheinbar passiv“ oder „halb-passiv“, denn jemanden unter dauernder ärztlicher Beobachtung und Pflege verhungern zu lassen, scheint alles andere als eine echt neutrale Handlung im Angesicht der natürlichen Vorgänge. 15 Es werden noch heute auf der Homepage des Senates (www.senato.it, XVII Legislatur) 101 Gesetzesentwürfe im Bereich Euthanasie und Patientenverfügungen vorgestellt, deren Mehrheit auf die vorherige Legislaturperiode zurückgeht. Im nächsten Frühjahr (März 2016) sollte eine parlamentarische Diskussion über einige Reformprojekte anfangen: Es geht auf jeden Fall um Projekte von einzelnen Parlamentariern oder um Volks- aber nicht um Regierungs-projekte. Unter anderem sei hier, wegen der Nähe zum holländischen Modell (hier unten im § IX. beschrieben), auf den Gesetzesentwurf N. 2973 vom März 2015, nach der Initiative von Nicchi u. a., hingewiesen.Vgl. außerdem die Volksinitiative eines Gesetzes (von der aktuellen Regierung allerdings ignoriert) von der politischen Partei „Radicali liberi“ und von der Assoziation Luca Coscioni befürwortet, über einen „Verzicht auf ärztliche Behandlungen und freie Euthanasie“ in Gazz. Uff., 22 Dezember 2012, n. 298, veröffentlicht, gemäß derer die aktive Sterbehilfe, abgesehen von weiteren Voraussetzungen, die Strafbarkeit wegen Totschlag, Tötung auf Verlangen, Beteiligung am Suizid, unterlassener Hilfeleistung zugunsten

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Es gibt keine Pflicht, einen Suizid zu verhindern. Es ist selbstverständlich erlaubt und insoweit keine Nötigung, weil ja der Suizid kein „Recht“ ist16, aber es ist fraglich, ob die Verhinderungshandlung ein echter Notstand sein kann, oder ob es ein Eingreifen in die Entscheidungsfreiheit eines Dritten ist. Dennoch von der „Freiheit des Suizids“ zu reden, erscheint als eine der üblichen Heucheleien des Juristen; in einer Rechtsordnung, wo jegliche Hilfe zum Selbstmord eine Straftat ist, bleibt der Suizident ganz allein mit „Techniken“, die grausam oder unsicher sind (und hier nicht erwähnt zu werden brauchen): Was für eine „Freiheit“ ist dies? Wenn ein Suizident sich in Folge des Suizidversuchs in einer Lage der Hilflosigkeit befindet, darf ein Dritter selbstverständlich eine Rettungshandlung unternehmen; er ist darüber hinaus verpflichtet, es zu tun, wenn eine Situation dem § 593 StGB (Unterlassene Hilfeleistung) entspricht, wobei kein Unterschied gemacht werden kann, ob der Hilflose wegen versuchten Suizids oder wegen anderer Ursachen in jener Lage ist. Wenn der Suizident keine Hilfe will und dies wahrnehmbar und klar zum Ausdruck bringt, ist es dennoch nicht verboten, ihm gegen seinen Willen zu helfen. Der Notstand scheint die beste juristische Basis für eine solche Rettungshandlung, denn in diesem Fall ist die Pflicht des § 593 StGB nicht aktuell.

III. Sterbehilfe zwischen Gesetz und Praxis Der gezielte Abbruch einer lebensverlängernden medizinischen Behandlung ist als strafbare Tötungshandlung einzuordnen, wenn es keine Rechtfertigung gibt, d. h. z. B., kein Verzicht des Patienten auf die Behandlung oder keine aktuelle und gültige Ablehnung der Behandlung oder wenn der Arzt die Grenzen der Information der – als einzige zum Eingreifen legitimierten – Ärzte ausgeschlossen werden sollte, wenn (unter anderen Bedingungen) „5) die Anfrage durch die Situation begründet ist, dass der Patient unter einer Krankheit leidet, die schwere Schmerzen verursacht und unheilbar ist oder eine negative Prognose von weniger als 18 Monaten besteht“. Eine Skizze der früheren Reformprojekte in Adelmo Manna, Art. 579 – 580 (Anm. 3), S. 70 ff. 16 Die Klassifikation der Positionen der italienischen Literatur ist allerdings kontrovers und verwirrend. Es ist zwar diskutiert worden, ob der Suizid strafrechtlich tatbestandslos für den Täter, d. h. gestattet sei (in diesem Sinne, z. B. Fabrizio Ramacci, Premesse [Anm. 3], S. 207), oder unbestraft und toleriert sei (so z. B. die traditionelle Auslegung: Ferrando Mantovani, Diritto penale, BT, Delitti contro la persona, Padua 2011, S. 123), oder juristisch unverboten und gleichgültig (Vincenzo Manzini, Trattato [Anm. 7], S. 94 f.), oder juristisch gestattet und untypisch für den Täter (Maria Beatrice Magro, Eutanasia, [Anm. 109, S. 187 – 204; Stefano Canestrari, Principi di biodiritto penale, Bologna 2015, S. 63 ff.), oder ob eine „verfassungsrechtliche Freiheit des Suizids“ bestehe, die trotzdem mit dem geltenden StGB nicht vereinbar sei (in diesem Sinne, z. B. Fausto Giunta, Diritto di morire [Anm. 3], S. 272 ff., 278; Luigi Stortoni, Riflessioni in tema di eutanasia, in Indice pen., 2000, S. 481; vgl. auch Sergio Seminara, Riflessioni in tema di suicidio e di eutanasia [Anm. 3], 676 f., 725 f.). Es existiert aber zweifelsfrei de lege lata kein „unverletzliches Recht“, den Selbstmord zu begehen, d. h. eine anerkannt anwendbare Sanktion gegen den unerwünschten Retter. Lehrreiche Darstellung bei Luigi Cornacchia, Euthanasia. Il diritto penale di fronte alle scelte di fine-vita, in Teoria del diritto e dello Stato, 2002, S. (374) 385 ff.

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oder der Einwilligung des Patienten schuldhaft überschreitet. Im Prinzip ist ein Behandlungsabbruch nur durch Unterlassung gestattet (passive Sterbehilfe). Es gibt aber die Möglichkeit eines Abbruchs, der ein aktives Tun voraussetzt, z. B. der Abbruch des Funktionierens einer Herz-Lungen Maschine, einer Maschine, die die künstliche Bewegung des Atmens produziert etc. In solchen Fällen gilt das aktive Tun wie ein (gebotener) Abbruch der Behandlung, die vom Patienten berechtigter Weise abgelehnt worden ist. Es ist deswegen einer gerechtfertigten (pflichtgemäßen) Tötung auf Verlangen gleichzusetzen. Die bloße Unterbrechung ist im Prinzip nicht tatbestandsmäßig, indem die Krankheit von selbst den Tod verursacht und keine Rettungspflicht besteht; das aktive Tun zur Unterbrechung einer rettenden Maschine ist im Prinzip eine gerechtfertigte Tötung, da ein lebensrettenden Kausalverlauf verhindert wird. Sie muss als Tötung qualifiziert sein, denn, dieselbe Handlung, von einem Killer begangen, müsste sogar als Mord eingeordnet werden und wäre selbstverständlich nicht als echte „Unterlassung“ einzustufen, die einen natürlichen Vorgang auslösen würde. Die Qualifizierung der Tat als aktives Tun ist heute herrschende Meinung17, was aber die Relativität der Differenzierung und sogar das Unbehagen an dieser nicht ausschließt.18 Ärzte und medizinisches Personal haben Sonderrechte und -pflichten als Garanten der Patienten: sie haben die Pflicht zur Behandlung, zur Pflege, zur Beschützung, die den normalen Pflegern oder Verwandten fehlen – auch Rechte; was für die anderen eine Tötung wäre, wird für den Arzt eine Pflicht bzw. ein Recht und eine Rechtfertigung der Tötung. Manche Autoren lehnen eine solche Qualifizierung ab, denn es erscheint widersprüchlich, den Arzt, der seiner Pflicht nachkommt, den Willen des Patienten zu respektieren, objektiv wie einen Mörder zu betrachten.19 Aber er wird in der Tat nicht wie ein gerechtfertigter Mörder betrachtet, sondern von Anfang an wie ein gerechtfertigter Verursacher eines Todes, der ohne Unterbrechung der Behandlung nicht geschehen wäre. Wir brauchen eine Rechtfertigung, aber wir brauchen keine Angst vor der Rechtfertigung zu haben. Sie spiegelt die Wahrheit eines Rechts und einer Pflicht, nicht einer Entschuldigung, wider. Aber die Tat (der Tatbestand: „wer den Tod eines Menschen verursacht“) bleibt, sie ist nicht bloß wie Kaffeetrinken.

17 Vgl. Massimo Donini, Il caso Welby (Anm. 8), S. 909 ff.; Stefano Canestrari, Principi di biodiritto (Anm. 16), S. 81, m.w.N. Die Theorie der „Unterlassung durch Tun“ ist infolgedessen in diesen Fällen nicht schlüssig. Vor allem bleibt m. E. entscheidend die Möglichkeit eines Verweigerungsrechts des Arztes, der das aktive Tun der Unterbrechung einer Rettungsmaschine ablehnen kann, während die echte reine Unterlassung einer Therapie nie verweigert werden dürfte. 18 Vgl. die Diskussion bei Ombretta Di Giovine, Un diritto penale empatico (Anm. 6), S. 106 ff. 19 Z. B. Francesco Viganò, Esiste un diritto a essere lasciati morire in pace? (Anm. 8), S. 7, 10; Cristiano Cupelli, La disattivazione di un sostegno vitale tra agire e omettere, Riv. it. dir. proc. pen., 2009, S. 1145 ff.; Amedeo Santosuosso, Diritto, scienza, nuove tecnologie, (Anm. 9), S. 100 f.

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Der Patientenwille wird am besten schriftlich ermittelt. Traditionell war eine bindende Voraussetzung einer gültigen Einwilligung ihr aktuelles Andauern bis zum Moment der Behandlung. Seit mehreren Jahren sieht der deontologische Codex des Arztes das „biologische Testament“ als bindend für den Arzt an. Leider besitzt diese Vorschrift einen fraglichen Wert im System der Rechtsquellen, denn sie ist ein Ausdruck von soft law20. Die mutmaßliche Einwilligung in die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen ist trotzdem im Fall Englaro (s. unten) vom Kassationsgericht anerkannt worden, das sogar den Lebensstil der Patientin als entscheidend eingeschätzt hat, um ihren Widerwillen gegen die Fortsetzung der Therapie zu bestätigen. Dieses Urteil und seine Begründung sind aber ein einzelner Fall, keine gesetzliche Vorschrift. Die Mitleidsmotivation spielt keine Rolle in den Tatbeständen der Art. 579 und 580 it.StGB: es sind nur allgemeine mildernde Umstände anwendbar, unter welche jene Motivation fällt. Die rechtliche Einordnung ändert sich wesentlich, wenn eine Lebensverkürzung unbeabsichtigte Nebenfolge einer palliativ medizinischen Maßnahme ist – das passiert jeden Tag, und es gibt nicht einmal eine Einstellung des Verfahrens. Es gibt in dem Fall keine Einleitung irgendeines Verfahrens. Eine solche medizinische Praxis wird de facto als nicht tatbestandsmäßig betrachtet, auch wenn sie eine indirekte Euthanasie ist.21

IV. Neue Grundrechte der Kranken nach der Rechtsprechung Gegenüberstellung der Fälle Welby und Englaro Der erste Schritt in der Entwicklung der Grundrechte der Kranken auf diesem Gebiet ist durch die Anerkennung des Rechts auf die Unterbrechung der ärztlichen Behandlungen vollzogen worden. Die „Motivation“ der Ausübung dieses Rechts darf nicht überprüft werden, wenn die Person volljährig und verantwortlich ist. Das heißt: sie kann einfach sterben wollen, ohne psychisch krank zu sein, und dieser Wille muss respektiert werden. Sie hat also praktisch ein Recht, ihren Tod zeitlich zu bestimmen. Theoretisch wird das geleugnet, indem man nur die Beachtung des Willens auf die Unterbrechung der Therapie als entscheidend ansieht. Das scheint mir aber eine oberflächliche und sehr formelle Bewertung der Tatsache, die ihre menschliche Substanz übersieht. Ein Mensch will einfach sein Leben beenden und das „durch“ den instrumentellen Weg einer Ablehnung der rettenden Behandlung. 20 Vgl. die sehr restriktive Rekonstrution bei Ferrando Mantovani, Diritto penale (Anm. 16), S. 74 ff., 78 ff. und im Allgemeinen Daniela Provolo, Le direttive anticipate (Anm. 7), S. 1969 ff. 21 Echte Statistiken zur Verfolgungspraxis sind nicht vorhanden. Abgesehen von privaten Forschungen sind in den offiziellen Statistiken die Daten der verschiedenen Tötungshandlungen und Verbrechen zum großen Teil nicht abgetrennt. Art. 579 und 580 werden nicht im Einzelnen betrachtet.

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Diese Anerkennung eines Rechts zu sterben ist also durch Fälle bedingt worden, in denen die Unerträglichkeit der Behandlung de facto objektiv und subjektiv ohnehin zweifelsfrei war. Sie war aber nicht der juristische Grund der Nicht-Strafbarkeit. Der Grund war das einfache Recht, die Behandlung abzulehnen. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Hauptfällen: dem Fall Welby und dem Fall Englaro. Im Fall Welby22 war der Patient stark überzeugt von der Unterbrechung der Therapie, er hätte aber auch noch lange leben können, wenngleich in einer Lage, in der er, an ein Bett gefesselt, mit künstlicher Atmung und Ernährung, intellektuell sehr aktiv war, und bis zum Ende mit Hilfe eines Computers sprechen konnte. Er war bei Bewusstsein und entschieden bis zur letzten Minute vor dem Tod, als die Unterbrechung des Apparats gleichzeitig und fortwährend von einer Anästesie begleitet wurde. Fazit: Tötung auf Verlangen, durch die Pflichterfüllung des Arztes gerechtfertigt. Aktives Tun (einer pflichtgemäßen Unterlassung gleich bewertet), Tatbestandsmäßigkeit, Rechtfertigung23. Kein Raum also für die Motivation des Patienten und des Arztes, die trotzdem in den Medien die Lösung sehr intensiv begleitete. Sein Streben ging ausdrücklich seit Jahren in Richtung Euthanasie. Im Fall Englaro verlangte die Patientin überhaupt nichts, denn sie befand sich seit vielen Jahren in einer bewusstlosen vegetativen Lage und hatte niemals vor dem Unfall, der diese Situation verursachte, ein biologisches Testament hinterlegt. Nun wurde von ihrem Vater, der gleichzeitig ihr Vormund war, gerichtlich vorgegangen, um eine Genehmigung zum Abbruch der künstlichen Ernährung zu erlangen. Im Unterschied zum Fall Welby hat das Kassationsgericht eine mutmaßliche Einwilligung in die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen anerkannt, in der sogar der Lebensstil der Patientin als relevant eingeschätzt wurde, um ihren Widerwillen gegen die Fortsetzung der Therapie (Ernährung) zu bestätigen. Der große Unterschied im Fall Englaro besteht darin, dass bei Fehlen einer aktuellen oder vergangenen und spezifischen Willenserklärung der Person diese de facto umgebracht wird (= unmittelbares Verhungern und Sterben-lassen) durch die von dem Vormund der Patientin verlangte und gerichtlich überprüfte Unterbrechung der Therapie (besser: der Ernährung). Das „Kassationsgericht in Zivilsachen“ gestattete dem Vormund, eine Entscheidung zu treffen, die im Interesse, aber auch in Vertretung des Willens von Eluana Englaro sein sollte.24 Es war das Ende einer vegetativen Existenz vom Jahre 1992 bis zum Jahre 2009, und trotz der großen Polemik einiger katholischer Bewegungen und der damaligen Exponenten der Regierung selbst ist der Fall ein Wendepunkt unserer Rechtsge22

Vgl. die in Anm. 8 zitierte Literatur. So die Entscheidung von GUP Gericht Rom, 23 Juli 2007, n. 2049/07. 24 Man behauptet, dass die Perspektive, rechtlich betrachtet, nicht war, den Tod zu beschleunigen, sondern invasive Eingriffe in den eigenen Körper zu vermeiden; vgl. Cass. Civ., 16 ottobre 2007, n. 21748; Giovanni Fiandaca, Il diritto di morire tra paternalismo e liberalismo penale, Foro it., 2009, V, S. 227 ff., 324. Vgl. darüber den folgenden Text. 23

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schichte. Hier ging es nicht mehr um das Recht auf die Bestimmung des „eigenen“ Todes, sondern um das Recht eines „Anderen“, die Bedingungen der Unerträglichkeit des Weiterlebens eines Dritten stellvertretend zu bestimmen. Das wird offenkundig, wenn wir die Unterschiede zwischen dem Fall Englaro und dem Fall Tony Bland untersuchen.

V. Der Fall Englaro und der Fall Tony Bland im Vergleich Ich habe mich immer gefragt, ob unser Kassationsgericht eine heuchlerische Begründung der Lösung erfunden hat, ganz abgesehen von ihrer juristischen Korrektheit, wenn man diese mit der Begründung des House of Lords in dem entsprechenden englischen Fall Tony Bland25 vergleicht, der als 17 Jähriger im Hillsborough-Fußballstadion in ein Massengedränge geraten war und sich anschließend mehr als drei Jahre im Persistent Vegetative State (PVS) befand, als das House of Lords die vorausgegangenen Entscheidungen bestätigte, dass die Ärzte nicht verpflichtet seien, den Patienten weiter künstlich über eine Magensonde zu ernähren, und dass die Therapie eingestellt werden dürfe. Niemand konnte behaupten, dass Tony Bland einen Lebensstil hatte, nach dem ausgeschlossen war, dass er ein vegetatives Leben hätte führen wollen. Das House of Lords „musste“ deswegen eine objektive Lösung finden, wonach gesagt wurde, dass jene Art zu „überleben“ nicht im Interesse von Tony Bland war26; wie auch in den entsprechenden amerikanischen Fällen Nancy Cruzan27 und Terri Schiavo28 und nun zuletzt im Fall Lambert vom EuGMR 2015 entschieden. D. h., es war ein „lebensunwertes Leben“. Dieser Begriff, der der deutschen Rechtskultur sehr bekannt ist, und zwar seit den Zeiten von Karl Binding29, und später 25

Airedale N.H.S. Trust -v- Bland, Court: House of Lords, 4 February 1993. Die ganze Begründung der Entscheidung ist stets von dem Thema des „best interest“ des Patienten geleitet. Zur Bedeutung und Grenzen dieser Perspektive Ronald Dworkin, Life’s Dominion (Anm. 1), S. 265 ff. 27 Cruzan by Cruzan v. Director, Missouri Department of Health (No. 88 – 1503), 1990, wo der Lower Court of Missouri die drei möglichen Kriterien erarbeitet hat: das subjective standard (Einwilligung, Wille des Patieneten), das best interest (in Abwesenheit des subjective standard) und das substituted-judgment (wenn das subjective judgment unzureichend ist). Vgl. dazu William H. Colby, Long Goodby: The Deaths of Nancy Cruzan, Carlsbad 2002 und Ronald Dworkin, Lifes Dominion (Anm. 1), S. 250 ff., 270 ff. (wo ein ganzer Kommentar zum Fall Cruzan enthalten ist). 28 Kenneth W. Goodman (Hrsg.), The Case of Terri Schiavo: Ethics, Politics and Death in the 21st Century, Oxford, New York 2010; Jon B. Eisenberg, The Right vs. the Right to Die: Lessons from the Terri Schiavo Case and How to Stop it from Happening Again, New York 2005. 29 Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwertens Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920), Neudruck Berlin 2006, mit einer Einführung von W. Naucke. Über den Einfluss dieses Werks in der folgenden Zeit vgl. Vera Große-Vehne, Tötung auf Verlangen 26

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durch die NS- Euthanasieprogramme30, wird heute im Prinzip vermieden. Er trifft trotzdem das Wesen der Entscheidung des englischen Court, wie der Bioethiker Peter Singer sehr gut kommentiert hat.31 In dem Mangel einer aktuellen und gültigen Willensäußerung erinnert diese Begründung zum Teil an die Rechtfertigung von Karl Binding: „Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist […], läßt sich in keiner Weise bezweifeln.“32 Nur wollte Binding den Verwandten und einer Kommission zugestehen, das „best interest“ auch von Geisteskranken zu bestimmen, um ihr Leben zu beenden. Hier sind wir beim persistenten vegetativen Zustand: und das macht schon einen großen Unterschied, soweit diese Begründung auf Situationen von Demenz, Alzheimer usw. unzutreffend ausgedehnt wird. Das slippery slope als Ergebnis einer solchen Entscheidung liegt auf der Hand. Es ist der mögliche Anfang einer Biopolitik der Vernichtung anderen lebensunwerten Lebens33 : und das gerade, weil die Begründung vom echten Willen des Rechtsgutsträgers absieht. Das lässt uns umgekehrt die subjektive Lösung des italienischen Kassationsgerichts besser verstehen, wenn sie auch nicht ganz befriedigend wirkt, weil sie ein altes Prinzip (Einwilligung) stark umdeutet, ohne dies zuzugeben. Eine viel bessere Lösung, auch wenn der Beweis mit Zeugen in diesen Fragen nicht so befriedigend erscheint. Die Motivation, und nicht ihre Irrelevanz, spielte hier jedoch eine implizite Rolle, zusammen mit der objektiven Bewertung der Rechtslage. Es gab ja keine aktuelle oder klare Ausübung des eigenen Rechts, sondern ein entsprechendes Urteil, viel zu spät von anderen Personen formuliert; aber diese 17 Jahre in tiefem Koma verstärkten die Plausibilität der Entscheidung, nicht ihre „normale“ Anwendbarkeit in ähnlichen Fällen ohne weitere Regelung: die normale Entscheidung eines Dritten über den Tod eines Menschen, die von der Beurteilung seines „Lebensstils“ abhängt und die von schriftlichen oder klaren antizipierten „Bestimmungen“ absieht.

(§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, Berlin 2005, S. 93 ff., 101 ff. 30 Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 1983, 2010. 31 Peter Singer, L’etica della sacralità della vita è una malata terminale? (schon in Bioethics, 1995, S. 327 ff.), in ders., La vita come si dovrebbe (orig. Writings on an Ethical Life, 2000), Mailand 2001, S. 190 ff., insbes. 201 s., und weiter ders., Eutanasia: uscire dall’ombra di Hitler (1976), ibidem, insbes. S. 224 f. 32 Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens (Anm., 29), S. 26. 33 Freilich kommt es auf die Begrenzung des „Interesses“ an. Wenn wir den Standpunkt des Rechtsgutsträgers vergessen oder verloren haben, dann beginnt die Biopolitik der Gesellschaft, die an seiner Stelle entscheidet.

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VI. Zwei verschiedene Grundrechte Das Recht auf Hilfe beim Sterben und das Recht auf den Tod Obwohl dies in Italien nicht erwähnt worden ist, sind der Fall Welby und der Fall Englaro nicht zwei Beispiele des Rechts auf Sterbehilfe, sondern des Rechts auf den Tod. Wenn man (Fall Welby) „im Gang befindliche“ lebensrettende Behandlungen ablehnen darf, und zwar ohne die Pflicht, dies zu begründen, besitzt man schon das Recht, mit der Hilfe eines Arztes zu sterben. Hat man damit nicht schon das „right to die“, das Recht auf den Tod?34 Wenn wir diese Handlung oder Unterlassung „Unterlassen der Therapie auf Verlangen des Patienten“ nennen, so ist dies eine rechtfertigende Beschreibung des Tatbestands, d. h. eine Beschreibung der Rechtfertigung (!), aber keine objektive Beschreibung des Tatbestands selbst! Im Fall Englaro ist die Sterbehilfe eigentlich „scheinbar passiv“, denn jemanden während einer ärztlichen noch andauernden Beobachtung und Pflege des Körpers verhungern zu lassen, scheint alles andere als eine wirklich ‘neutrale’ Handlung vor den natürlichen Vorgängen. Der ganze Apparat der Pflege ist immer da, aber unmittelbar zum Tode umorientiert. Mehr noch: Wenn man (Fall Englaro, Fall Tony Bland) das Ende des Lebens eines anderen Menschen bestimmen darf, der sich in einem vegetativen Zustand befindet, ohne den Hirntod zu erleiden, und dies ohne Rücksicht auf einen aktuellen oder vorher geäußerten, überprüfbar formulierten Willen, wie kann man die Tötung dieser Person rechtfertigen? Ist es noch die Rechtfertigung einer Tötung auf Verlangen? Oder gibt es kein Verlangen (!), es sei denn eines Dritten, und der (gerechtfertigte) Tatbestand ist also der des Totschlags?35 Hier liegt der größte Unterschied zum Fall Welby, denn die Einwilligung wurde ersetzt durch eine gerichtliche Prozedur zur Festellung eines Äquivalents. Eine andere Rechtfertigung für einen anderen Tatbestand. Falls dies aber – wie ich finde – der Fall ist (explizit im Fall Bland, implizit im Fall Englaro), wie kann man die zwei Fälle bzw. Fall-Typologien überhaupt vergleichen (Tötung auf Verlangen und Totschlag) außer in der Anerkennung eines „right to die“ (Hilfe zum Tod), das anders konstruiert ist als das Recht auf die Hilfe beim Sterben? Dieses neue Recht „steckt in der Begründung“ des Respekts vor der Einwilligung zur Therapie-Unterlassung.

34 Zu Begriff und Zeitgeschichte vgl. Derek Humpfrey, Mary Clement, Freedom to Die. People, Politics and the Right to Die Movement, New York 1998; Milton D. Heifetz, The Right to Die, New York 1975; Hans Jonas, Techniken des Todesaufschubs und das Recht zu sterben (1985) it. Übers. Il diritto di morire, Genova 1991; Charles H. Baron, The Right to Die: Themes and Variations, in Stefano Rodotà, Paolo Zatti (Hrsg.) Trattato di biodiritto, Bd. II, (Anm. 3), S. 1841 ff.; Jon B. Eisenberg, The Right vs. the Right to Die (Anm. 28). 35 Die Einstellung des Verfahrens (GIP Tribunale von Udine, Einstellungsdekret vom 11. Januar 2010) spricht nämlich Vormund und Ärzte von der Anklage des Totschlags frei.

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VII. Entwicklung und Aufbau der beiden Grundrechte Das Fazit ist, dass man aus einer Reihe von fragmentarischen Rechten das allgemeine Grund-Recht auf ein menschliches und würdiges Leben „auf dem Weg“ zum Sterben und dazu ein Grundrecht auf den eigenen Tod ableiten kann. Es handelt sich, wie gesagt, um zwei verschiedene Grundrechte, die nicht kollidieren sollten. Allerdings darf das derzeit nur unter der Voraussetzung geschehen, dass dabei der Arzt „etwas unterbricht“. Aber diese Situation macht deutlich, dass um den Tod gehandelt wird und dass das Recht des Patienten (Mittel) nur um des Todes willen (Zweck) anerkannt wird: Zweck und Mittel scheinheilig zu verwechseln, um den Zweck zu verleugnen, ist hier begrifflich und menschlich untersagt. Die Konstellation der Fälle betrifft aber nicht nur künstliche Maßnahmen und Techniken des Überlebens (Herz-Lungen Maschine, künstliche Ernährung, künstliche Beatmung, künstliches Reden etc.), sondern auch irreversible Krankheiten und unfreie Lebensverhältnisse (Bettlägerichkeit, Unbeweglichkeit, Unfähigkeit zu Mitteilungen etc.), die als unerträglich erlebt werden. Die Zeitbegrenzung der Unerträglichkeit einer Krankheit ist m. E. eine subjektive und variable Bedingung. Will man sie normativ regeln, sollte man sich auf eine (natürlich problematische) Vorgabe stützen. Zum Begriff der Würde der Person gehört die Bewertung der Stufe der Annahme einer radikalen Herabminderung der eigenen physischen und intellektuellen Fähigkeiten, unter der man die Fortführung des Lebens für nicht mehr akzeptabel halten kann.36 Das sollte im Prinzip nur die Person selbst entscheiden dürfen. Nur in Ausnahmefällen wird heute eine Entscheidung von Dritten als juristisch möglich angesehen. Die Lebensdauer auf jeden Fall zu verlängern, auch gegen die Lebensqualität, auch gegen die Barmherzigkeit, ist keine Pflicht des Individuums,37 die mit den Sanktionen des Strafrechts vorgeschrieben werden darf. Sie ist m. E. heutzutage wohl auch nicht als christlich anzusehen, denn hier wird eine Person als Mittel zu einer generalpräventiven Politik der Moral38, die unter dem Deckmantel der Heiligkeit des Lebens versteckt bleibt39, unmenschlich behandelt. 36 Die legitime Selbstbestimmung in solchen Fällen soll als fraglich gelten, falls auch nur Zweifel aufgrund einer schwereren Depression bestehen. 37 Vgl. Luigi Stortoni (Hrsg.), Vivere: diritto o dovere? Riflessioni sull’eutanasia, Trient 1992. 38 Luk, 11,46: „Und weh auch euch, ihr Schriftgelehrten! Denn ihr beladet die Menschen mit unerträglichen Lasten, und ihr rührt sie nicht mit einem Finger an“. 39 Das Mitleiden mit dem Gekreuzigten kann wohl auf bessere Weise bewiesen werden, indem die Schmerzen ein Mittel zu menschlichen und nicht zu überirdischen Zielen sind. Der Verweis auf die freiwillige Amputation von Körperteilen, die „Skandal machen“, oder ein Hindernis sind (auf deutsch: „zum Bösen verführen“), und auf die bessere Wahl, sich umzubringen bzw. umbringen zu lassen, statt „in die Hölle zu fahren“ oder „das Vertrauen zu Gott zu verlieren“ (Mark., 9, 42 – 48, Matth., 18,6; Luk., 17,2), beweist, wie das Evangelium das

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Von der genaueren Konkretisierung der oben genannten Grundrechte muss man ausgehen, um zu einem strafrechtlichen Umbau der Delikte gegen das Leben zu gelangen, der mit der heutigen öffentlichen Moral kompatibel ist und dem Pluralismus der Werte und der Weltanschauungen angepasst ist: ein Kompromiss, der auf der Basis des bioethischen Diskurses liegt.40

VIII. Die Schwäche der Lösungen des Richterrechts und der sozialen Selbstregulierung Italien, Deutschland und Schweiz im Vergleich Die genannten Grundrechte der Kranken sind in dem Recht enthalten, die Therapie abzulehnen, ebenso in den Patientenverfügungen gegen künstliche Lebensverlängerungen und gegen Zwangssituationen eines unerträglichen Lebens ohne Sozialbezug. Was diese „Unerträglichkeit“ bedeutet, kann leider sehr subjektiv gedeutet werden und braucht deswegen eine bestimmtere legale Anerkennung: nur die Zukunft kann zeigen, ob diese Erläuterung vom Gesetzgeber geregelt wird oder von der Rechtsprechung, wie es heutzutage sehr oft in der Bioethik geschieht. Das bloße Richterrecht gewährleistet trotzdem auf dem Gebiet zu wenig an Rechtssicherheit der geltenden Strafnormen: ein anderer Richter kann immer eine gegenteilige Lösung vertreten, indem er sie von anderweitigen (unerklärten) ideologischen Prämissen herleitet. Daher sind die Ärzte eher zurückhaltend, weitere Handlungen eines Abbruchs von rettenden Verläufen ohne gerichtliche Zulassung zu unternehmen. Die Rechte bleiben auf diesem Weg ineffektiv. Sogar in einer Rechtsordnung wie der deutschen, wo seit langer Zeit das StGB die Straflosigkeit für die Hilfeleistung zum Suizid vorsieht und die Strafbarkeit nur die Tötung auf Verlangen (§ 216) umfasst41, ist diese menschliche Offenheit immer von der ärztlichen Klasse ausgehöhlt worden, die ihre Aufgabe nur als eine lebensrettende begreift und jede direkte Sterbehilfe auch bei den schrecklichsten Krankheiten als unethisch bewertet. Auf diese Weise kann eine aktive Sterbehilfe durch Suizidteilnahme de facto nur von mitleidenden Angehörigen praktiziert werden, die eine ensprechende Motivation zur Sterbehilfe haben, obwohl das Gesetz diese Motivation nicht als Strafbefreiungsgrund verlangt. Aber der Anstieg der Zahl der Suizidfälle, zusammen mit dem aktuellen Angebot der geschäftsmäßig assistierten Suizide in Leben als untergeordnetes Gut sieht. In den Evangelien fehlt die Moral/Ästhetik der Schmerzen, die man später in vielen Biographien von Heiligen findet, und zwar zusammen mit einem Wunsch nach Schmerz „für die Sünden der Menschheit“ oder um dem „Gekreuzigten“ nahe zu bleiben. 40 Tristran Engelhardt, The Foundations of Bioethics (1996), it. Übers., Manuale di bioetica, Mailand 1999, S. 35 ff., 97 ff. 41 Vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB Kommentar27, München 2006, Vorbem §§ 211 ff., Rdn. 20 ff., 33 ff.; Ulfrid Neumann, in Nomos Kommentar zum StGB, Bd. 22, Baden-Baden 2005, Vor § 211/ 34 ff.; § 216/1 ff.

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Deutschland, hat die Regierung zu einer starken Begrenzung der Straflosigkeit der Hilfeleistung zum Suizid veranlasst.42 Der deutsche Bundestag hat sich kürzlich, anläßlich von vier Reformprojekten, welche die Sterbehilfe zum Gegenstand hatten, für die strafrechtliche Untersagung jeder geschäftsmäßigen Betätigung aktiver Sterbehilfe durch Beteiligung am Suizid ausgesprochen (neuer § 217 StGB), was bis heute noch zugelassen war43. Das Niveau der Debatte über die vier sehr verschiedenen Projekte war beeindruckend und in der italienischen Diskussion nie dagewesen, denn in Italien, wo kein Regierungsentwurf auf diesem Gebiet existiert, ist der Fortschritt der Rechte der Kranken – wie gesagt – vor allem im case-law der Rechtsprechung sichtbar. Trotz dieses bleibenden Unterschiedes ist die Lösung der Reform besonders regressiv, indem sie den Weg eines „brutalen“, statt eines kontrollierten Suizids vorbereitet, und sie hat deshalb die Kritik einer großen Mehrheit der deutschen Strafrechtsprofessoren gefunden.44 Auch bestätigt die ohnehin bessere Rechtslage in Deutschland drei Festellungen: a) Einerseits ist die Situation der Rechte der Kranken noch nicht reif genug, um das Grundrecht auf eine nicht bloße Reduzierung der Schmerzen unter einigen hoffnungslosen und extremen Bedingungen anzuerkennen, sondern auf Erfüllung des Verlangens nach einem Ende des Schreckens, weit über die palliativen Behandlungsmaßnahmen hinaus. b) Andererseits wird der Kranke immer noch bevormundet als Träger von kaum zumutbaren Pflichten sich selbst oder der Gesellschaft gegenüber: Pflichten, das Leiden auf schreckliche Weise zu beenden, es sei denn, dass eine einsame und liebevolle Seele den Mut findet, ihm eine geduldete, unorganisierte, unprofessionelle Hilfe zum Suizid zu leisten. 42

Vgl. die entsprechende Begründung des von der Bundesregierung unterstützten Entwurfs: Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbstötung, 1. 7. 2015 Drucksache 18/5373, S. 9. 43 So der neue § 217 StGB (in Kraft ab 10. Dezember 2015): „§ 217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. (1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit: gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.“ Vgl. die vier genannten Entwürfe BT-Drs. 18/5373; BT-Drs. 18/5374; BT-Drs. 18/5375; BT-Drs. 18/5376, und die entsprechende Begründung des von der Regierung unterstützten Textes: Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbstötung, 1. 7. 2015 Drucksache 18/5373, S. 9. In dem Sinne, dass auch jede normale ärztliche Tätigkeit, auch die im Dienste der deutschen Krankenkasse, – auch wenn ohne wirtschaftlichen Gewinn – „geschäftsmäßig“ sei, B. Weißer, Strafrecht am Ende des Lebens – Sterbehilfe und Hilfe zum Suizid, im Druck in ZStW 2016. 44 Vgl. die Resolution von 141 Strafrechtsprofessoren vom 15. 4. 2015 gegen das Regierungsprojekt zur Reform der Sterbehilfe (nachzulesen unter: http://idw-online.de/de/attachmentdata43853.pdf).

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c) Drittens kann man behaupten, dass, während in Italien die Kultur des Lebens „auf jeden Fall“ und dessen „absolute Heiligkeit“ nach dem Erbe des Katholizismus immer noch herrscht und die öffentliche Moral auf diesen Gebieten bedingt, in Deutschland der Schatten Hitlers gleich schwerwiegend wirkt, dessen Biopolitik45 und Euthanasieprogramme der nazistischen Zeit46 eine freiere Haltung verhindern im Hinblick auf die Bewertung von Situationen, die von dem Kranken selbst als unerträglich erlebt werden und in denen er keine angemessene Hilfe vom Staat bekommt.47 Ein anderer Fall ist die Schweiz. Das Schweizer StGB stellt bekanntlich die Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe, falls sie „aus selbstsüchtigen Beweggründen“ realisiert wird (§ 115 StGB).48 Dementsprechend ist die Tötung auf Verlangen (Art. 114) als durch die Motive privilegierte Strafvorschrift aufgebaut.49 Obwohl es sich um eine restriktivere Regelung als die deutsche handelt, die bis heute die Beteiligung zum Suizid ganz straflos ließ, unabhängig von den Motiven des Gehilfen oder Anstifters (was immer noch gilt) und auch von beruflichen Organisationsstrukturen (was jetzt nicht mehr erlaubt ist), verhinderte der schweizerische § 115, im Gegensatz zu dem deutschen Mangel an Strafvorschriften, nicht die Ausbreitung von Praxen anerkannter ärztlicher Strukturen mit einer Orientierung zur Sterbehilfe (assistierter Suizid), wo eine ökonomische Organisation, genauso wie bei jedem Beruf, vorhanden ist. Das bedeutet, dass die schweizerische Regelung, 45 Über den Nazismus als Modell einer biologisch orientierten Politik vgl. Roberto Esposito, Bios. Biopolitica e filosofia, Turin 2004, S. 115 ff. Weiter auch Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita,Turin 2005 (1995). 46 Vgl. Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtnung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 1983, 2010; Thomas Vormbaum (Hrsg.), „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr. Werner Heide u. a. vom 22. Mai 1962, Berlin 2005. Über das Bedürfnis nach einer Befreiung vom Gespenst des Nazismus im Bereich des Themas Lebensende vgl. Peter Singer, Eutanasia: uscire dall’ombra di Hitler (Anm. 31). 47 Über den strengen Zusammenhang von „Euthanasie“ und Nazionalsozialismus im deutschen Kulturkreis vgl. die Überlegungen von Thomas Vormbaum, „Euthanasie“ vor Gericht – Gericht über „Euthanasie“, Vorwort zu ders. (Hrsg.) „Euthanasie“ vor Gericht (Anm. 44), S. 14 ff. 48 Vgl. Günter Stratenwerth/Guido Jenny/Felix Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 7. Aufl., Bern 2010, § 1/35 ff.; Christian Schwarzenegger, Art. 115/1 ff. in Marcel Alexander Niggli/Hans Wiprächtiger, Basler Kommentar Strafrecht II, 3. Aufl., Basel 2013; Brigitte Tag, Die Sterbehilfe unter der Lupe – die grosse Herausforderung verlangt nach Regeln, in: Hans Wehrli/Bernhard Sutter/Peter Kaufmann (Hrsg.), Der organisierte Tod, Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende – Pro und Contra, 2. Aufl., Zürich 2015, S. 47 ff.; dies., Strafrecht am Ende des Lebens – Sterbehilfe und Hilfe zum Suizid, Paper für die Tagung in Bayreuth, 11. September 2015, präsentiert; Christoph Rehmann-Sutter, Alberto Bondolfi, Johannes Fischer, Margarit Leuthold, Beihilfe zum Suizid in der Schweiz, Frankfurt a.M. u. a., 2006. 49 „Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft“.

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auch wenn motivationsorientiert, praktisch als Anerkennung eines Rechtes, d. h. einer Rechtfertigung, funktioniert. Es fehlt trotzdem eine objektiv legale Auslese der Situationen, in denen ein assistierter Suizid erlaubt wird, weil die Selektion völlig dem ärztlichen Apparat überlassen wird. Die deutsche Lösung, die traditionell liberaler als die schweizerische war, funktionierte lange Zeit tatsächlich wie ein Entschuldigungsgrund, und dieses ist heute das Resultat der neuesten Reform.

IX. Der holländische Weg Der fortschrittliche Weg zur sozialen Unterstützung eines Rechts zum Tode der hoffnungslos Kranken wurde in Europa von der holländischen Rechtsordnung50 und mit ähnlichen Regelungen auch in Belgien und Luxemburg eingeschlagen. Ich möchte hier einige wesentliche Merkmale dieses Modells skizzieren.51 Auf der Basis der allgemeinen Strafbarkeit der Suizidbeteiligung und der Tötung auf Verlangen, unter Strafe gestellt vom holländischen StGB (Wetboek van strafrecht, §§ 293 und 294) mit dem Nebengesetz WTL (Wet Toetsing Levensbeëindiging) vom Jahre 200252 – Termination of Life on Request and Assisted Suicide (Review Procedure) Act (2002) –, kodifiziert ein ab 1973 entwickeltes Richterrecht die Nichtstrafbarkeit für die oben genannten Tatbestände des StGB (§§ 293.2 und 294.2) zugunsten des Arztes, der die Beendigung des Lebens durchführt oder einem assistierten Suizid beisteht und dabei die vorgesehenen Prozeduren einhält. Die Sterbehilfe wird nur von ärztlichen Einrichtungen praktiziert, die der nachfolgenden Kontrolle einer regionalen Kommission unterstehen. Der Hausarzt informiert gleichzeitig die Staatsanwaltschaft wegen der Genehmigung der Bestattung sowie die oben genannte Kommission. Diese Kontrolle findet ex post auf Dokumentenbasis statt, in der der Antrag des Praxisarztes und ein Gutachten eines unabhängigen Arztes (unabhängig vom Patienten und von seinem Praxisarzt ausgewählt) entscheidend sind. Die Kontrolle findet nach „due care criteria“ statt, die u. a. die folgenden Bedingun50 Vgl. Anne Ruth Mackor, Euthanasia in the Netherlands. Termination of Life on Request and Assisted Suicide (Review Procedure) Act (2002), Paper, auf der Tagung in Bayreuth am 11. September 2015 vorgestellt (slides); John Griffiths, Heleen Weyers, & Maurice Adams (eds.), Euthanasia and Law in Europe, Oxford, UK & Portland 2008, S. 13 – 255; P. Lewis, I. Black, Reporting and scrutiny of reported cases in four jurisdictions where assisted dying is lawful: a review of the evidence in the Netherlands, Belgium, Oregon and Switzerland (2013), Medical Law International, 2013, S. 221 ff. 51 Für die belgische Rechtslage, außer dem Buch von Griffiths u. a. (Anm. 48), S. 259 – 344, s. folgende Beiträge (jeweils mit ziemlich kritischen Bedenken): Raphael CohenAlmagor, Belgian Euthanasia Law: a critical Analysis, in Journal of Medical Ethics, 2009, S. 436 ff.; Sigrid Dierickx, Luc Deliens, Joachim Cohen, Kenneth Chambaere, Comparison of the Expression and Granting of Requests for Euthanasia in Belgium in 2007 vs 2013, Jama international Medicine, 2015, S. 1703 ff.; Giovanna Razzano, Dignità nel morire (Anm. 10), S. 203 ff. 52 Den Text des Gesetzes vom 12. April 2001, n. 194, in Kraft ab 1. April 2002, kann man auf italienisch in Bioetica, 2001, S. 389 ff. lesen.

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gen vorsehen: eine freiwillige Anfrage (Forderungen, die unfrei, willkürlich, depressionsbedingt sind oder von einem psychisch kranken Zustand abhängen, sind unannehmbar), die wohlüberlegt (nicht voreilig) sein soll; ein unabsehbares und unerträgliches Leiden (ein bloß existentielles Leiden ist ausgeschlossen); das Fehlen von vernünftigen Alternativen (palliative Behandlungen nutzen nicht für alle Krankheiten oder Leiden: extremes Nachlassen oder Verlust an Würdegefühl, an Bewegungsvermögen, Kognitivkenntnissen, Ausdrucksvermögen etc.) oder das Ablehnen einer terminalen Sedierung, die der Arzt mit dem Patienten zusammen besprochen hat; die volle Information des Patienten und die Beratung eines selbstständigen Arztes, der den Kranken untersucht und mit seinem Hausarzt redet.53 Nach den geäußerten Zielen der (des) niederländischen Regierung (Parlaments) ist nicht die Autonomie das Fundament der Regelung, die nicht individualistisch orientiert ist: die Lebensbeendigung ist keine (absolute) Pflicht des Arztes und kein (absolutes) Recht des Patienten. Stattdessen ist das Mitleid, in einem Zusammentreffen von Arzt und Kranken, die Basis des Eingriffs.54

X. Einige Folgen und weitere Aufgaben Wenn die Menschenwürde eine Grenze zum rechtlichen Schutz des Lebens ist, so folgt daraus nicht, dass der Staat bestimmen darf, ob es Menschen gibt, deren Existenz „lebensunwert“ ist, sondern, dass es in seiner Definitionsmacht liegt, die Grenzen zu definieren, innerhalb derer der Rechtsgutsträger selbst nach dem (aktiven/unterlassenden) Eingriff eines Dritten zu rufen die Erlaubnis hat, um sein Recht auf Verlängerung einer unerträglichen und dauerhaften Lebensbedingung abzulehnen: eine Befreiung von dem Bösen. Die Definition der terminalen Bedingungen wäre entscheidend und sollte z. T. vom Gesetzgeber und z. T. von ärztlichen Richtlinien konkretisiert werden. Die in53 Der Jahresbericht der Regional-Kommission über die Sterbehilfe, den man im Link https://www.euthanasiecommissie.nl/overdetoetsingscommissies/jaarverslag/default.asp, lesen kann, informiert darüber, dass es im Jahre 2013 5.306 Meldungen gab; 5.033 von aktiver Sterbehilfe und 242 von assistiertem Suizid (angesichts der Wahlmöglichkeit scheint den meisten die Option für eine direkte ärztliche Hilfe selbstverständlich). Der „meldende Arzt“ war in 4.678 Fällen ein Hausarzt, in 175 Fällen ein Facharzt eines Krankenhauses, in 191 Fällen ein Geriater usw. Die meisten Fälle bestehen aus Krebskrankheiten (3.888), aber auch Herz- und Gefäßkrankheiten (247), Erkrankungen des Nervensystems (317), Lungenerkrankungen (184), Demenz (81: in den Ministerialberichten wird präzisiert, dass es sich um frühere Stadien der Demenz handelt, in denen der Patient noch verantwortlich verstehen kann, welche zukünftige Entwicklung die Krankheit nehmen wird), multiple Altersbeschwerden (257), psychiatrische Erkrankungen (41), andere Krankheiten (291). Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten teilt in einem faq aus dem Jahre 2010 mit, dass 2/3 der Euthanasie-Meldungen von seiten der Hausärzte von diesen im Voraus abgelehnt werden. „Experience shows that many patients find sufficient peace of mind in the knowledge that the doctor is prepared to perform euthanasia and that they ultimately die a natural death“. 54 Anne Ruth Mackor, Euthanasia in the Netherlands (Anm. 48).

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direkte, die passive Sterbehilfe und die Teilnahme am Suizid sollten in solchen Fällen wegen des Eintretens eines Rechtfertigungsgrundes genehmigt werden, und zwar wenn die Lebensverlängerung das grausame Fortschreiten einer objektiv irreversiblen Krankheit bedeutet und dem Patient unerträglich erscheint, wenn diese Situation mit der Hilfe von künstlichen lebensrettenden Therapien oder in Abwesenheit normaler menschlicher, beruflicher oder sozialer Beziehungen fortdauert. Kein verkappter Ruf nach Hilfe darf als Wille zum Tod missverstanden werden. Keine Depression darf selbstverständlich jenen Willen ersetzen.55 Die nur „entschuldigende“ Lösung, die den Staat von Verantwortung befreit, setzt eine unerträgliche Unterdrückung der Rechte des Kranken voraus. Die niederländische Regelung überlässt den Therapeuten ein weites Ermessen in der Entscheidung, die nur von praxisorientierten Richtlinien und nicht von gesetzlichen Richtlinien bestimmt wird (vgl. die Begriffe von „due care criteria“, „unendliches und unerträgliches Leiden“ etc.). Das Eingreifen der regionalen Kommissionen findet nur ex post facto statt: es gehört also nicht zur Struktur der prozeduralen Rechtfertigung, in dem es eine bloße Kontrollfunktion besizt. Dennoch handelt es sich um eine wirklich mutige Regelung die, auch wenn sie zu radikal in die Richtung der aktiven Sterbehilfe geht, eine Tatsache klar hervorhebt: die Straffreiheit der Tat setzt hier kein Unrecht voraus und hängt nicht von der Geringfügigkeit der Handlung ab: deswegen soll sie nicht „außer dem Fall“, sondern „nur in dem Fall“ einer gewerbsmäßigen ärztlichen Tathandlung gelten. Eine verantwortliche Regelung sollte umgekehrt die Entstehung einer Kultur der Nutzlosigkeit des Menschen verhindern, der sich in einer endgültigen und leidvollen Situation befindet und sich auf die Familie oder die Gesellschaft als störend auswirken kann. Deswegen sollte der Unrechtsauschluss sich nicht auf die Anerkennung eines Individualrechtes beschränken, sondern eine Pflicht zu sozialer Solidarität ausdrücken. Bei dieser Rekonstruktion ist eine Kultur des Im-Stich-Lassens von ärztlicher Seite gänzlich ausgeschlossen, aber auch die Entwicklung von Richtlinien, die ein zunehmendes Schwinden der Aufmerksamkeit in Fällen tödlicher Krankheiten legitimieren. Das Recht auf den Tod verlangt das gleiche Mitempfinden wie das Recht auf eine humane Sterbezeit, doch handelt es sich, was seine mögliche Ausübung angeht, um ein begrifflich und zeitlich unterschiedliches Recht.56 55 Freilich könnte das Risiko eines „irrtümlichen Todesurteils“ nur bei genereller Ablehnung jeder Form von Sterbehilfe ausgeschlossen werden. Aus einer erheblich offeneren Perspektive wird trotzdem deutlich, wie unzutreffend es wäre, einen bloßen „rechtsfreien Raum“ als Lösung vorzuschlagen. Eine zutreffende Kritik findet man in dem Beitrag von Keiichi Yamanaka, Kritische Betrachungen über die Lehre vom rechtsfreien Raum (1984), in: ders., Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, Baden-Baden 2008, S. 141 ff. Aus seiner lehrreichen Produktion vgl. auch, besonders über das „menschenwürdige Sterben“ und Euthanasie in Japan, ders., Der Mensch zwischen Leben und Tod – Der Schutz des werdenden und des endenden Lebens im japanischen Recht (1998), ebenda, S. 131 ff., 134 ff.; ders., Rechtfertigung und Entschuldigung medizinischer Eingriffe (1993), ebenda, S. 96 ff., 110 ff. 56 Man behauptet, dass die Vereinbarkeit des Autonomie-Prinzips (des Kranken, der die Beendigung der Therapie und der Schmerzen auf Kosten des Lebens verlangt) und des Für-

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Für Handlugen, die außerhalb der Ausübung eines Rechts des Kranken dazu dienen, lebensbeendende Hilfe zu bekommen, soll die Rechtsordnung privilegierte Tatbestände vorsehen, z. B. nach Mustern wie des schweizerischen StGB, wo die Motive der Hilfeleistung klar sind und zur Entscheidung führen. Die italienische Gesetzgebung ist durch einen klassischen objektivierenden Aufbau der Straftatbestände geprägt: Das StGB aus dem Jahre 1930 überlässt den Strafumständen oder der Strafzumessung stets nur die Typisierung der Motive, nicht aber der Tat. Die Strafrechtler haben diese Eigenschaft als besonderes Verdienst unserer Rechtskultur geschätzt.57 Jedoch hat diese Haltung auf diesem spezifischen Gebiet zu unmenschlichen Resultaten geführt.

XI. Aktives Tun bei der Unterbrechung unmittelbar rettender Kausalverläufe und aktives Tun bei der unmittelbaren Verursachung des Todes Die liberale Alternative einer generalisierenden Freigabe dieser Hilfeleistungen soll jetzt näher überprüft werden. Ein entscheidender Punkt im Rahmen des Themas des slippery slope ist die Gleichsetzung der aktiven Handlung des assistierten Suizids und der aktiven Handlung der Tötung auf Verlangen: vielen erscheint es evident, dass die Übergabe der tödlichen Pille an den Patienten, der sie selber einnimmt, und das direkte Einspritzen derselben Substanz auf sein Verlangen und unter ärztlicher Kontrolle dieselbe soziale Bedeutung haben, falls sie mit der Zielsetzung der Lebensbeendigung erfolgen: Täter/Gehilfe sind hier keine selbstständigen Wertbegriffe, denn die Tatherrschaft bleibt bei dem Arzt bzw. dem Behandelnden. Die gleiche Bedeutung hat ohne weiteres auch die aktive Unterbrechung des Beatmungsgeräts bei gleichzeitiger Anästhesie: eine Zielsetzung der Lebensbeendigung in der instrumentellen Form einer Ablehnung der Therapie. Man versteht nicht, warum es im letzteren Fall eine Pflicht zur Unterbrechung der Therapie gibt und in den ersten beiden Fällen weder eine Pflicht noch eine legitime Möglichkeit, das identische Resultat beim Patienten absichtlich zu realisieren. Wenn weiter gesagt wird, dass man im Fall einer Unterbrechung lebensrettender Kausalverläufe, gerade weil sie künstlich sind, „nur“ eine Therapie unterlassen sorgeprinzips, das die ärztliche Bioethik prägt (im allgemeinen vgl. T.L. Beauchamp, J.F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 5. ed., Oxford, New York 2001, S. 165 ff., und dort über die Euthansiedebatte, S. 144 ff., 150 ff.) mit der Genehmigung von direkten Hypothesen der aktiven Sterbehilfe unmöglich sei (so z. B., M. Aramini, L’eutanasia. Commento giuridicoetico della nuova legge olandese, Mailand 2003, S. 102 ff.). Im Gegensatz dazu kann man geltend machen, dass das Mitleid kein abweichendes Gefühl ist im Angesicht des von Krankheiten verursachten Schreckens, die keiner seinem ärgsten Feind wünscht. Gerade wer an das ewige Leben glaubt, sollte mehr Verständnis für humane Entscheidungen haben, deren Unaufschiebbarkeit gerade nur in einer atheistischen Weltauffassung vertretbar ist. Ähnliche Bemerkungen bei T. Engelhardt, The Foundations of Bioethics (41), S. 371. 57 Vgl. Massimo Donini, Illecito e colpevolezza nell’imputazione del reato, Mailand 1991, S. 24 ff.

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habe, drückt diese Begründung eine falsche und verkappte Beschreibung der Realität des Kranken aus. Gewiss kann man nicht verallgemeinern: Töten (killing) und Sterbenlassen (letting die) bleiben im Allgemeinen zwei Verhaltensweisen, die eine verschiedene ethische und juristische Bedeutung besitzen.58 Es ist nicht die Identität der Verhaltensweisen (also eine Frage der Tatbestandsmäßigkeit), die eine juristische Gleichbehandlung auf weiteren Gebieten fordert: es ist die Äquivalenz des Rechts des Kranken, die es legitimiert (und damit eine Frage der Rechtfertigung). Die Lösung liegt also auf der Ebene des Unrechts. Wenn es um Rechtfertigung geht, löst sich das Problem des Unterschieds der Tatbestände: das Gewicht des Erfolgsunwertes bleibt ja in den oben untersuchten Fallkonstellationen dasselbe, wenn man das Recht auf Befreiung ernsthaft begrenzt und es dementsprechend bejaht; somit ist es der Handlungsunwert, der durch das Recht des Kranken direkt aufgehoben wird.

XII. Unglückliche Rechte Eine ganz andere Frage, die hier nur angedeutet werden kann, betrifft die Patienten, die an einer Krankheit oder Situation leiden, die ihre Zurechnungsfähigkeit beeinflusst (Demente, psychisch Kranke, kranke Minderjährige etc.). Hier verwandelt sich die Entscheidung eines Dritten von einer Tötung auf Verlangen in einen bloßen Totschlag. Denn der Wille eines Dritten ist nicht der Wille des Rechtsgutsträgers, auch wenn dieser „hineininterpretiert“ wird. Selbst wenn eine antizipierte Willenserklärung in der Form einer Patientenverfügung existiert, bleibt es fraglich, ob die Person, die sie äußerte, dieselbe Person ist, die jetzt jene Entscheidung hinnehmen müsste. Das gilt umso mehr im Fall einer Demenz. Es gibt nämlich – wie schon gesagt worden ist59 – einen Unterschied zwischen der Autonomie eines Dementen und der Autonomie der Person, die dement wird. Sie sind, in anderen Worten, zwei verschiedene Personen, aber doch beide Personen. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, die Grenze der Autonomie einer Vorentscheidung desselben Menschen gesetzlich rigoros zu bestimmen. Entsprechend sollte die Möglichkeit der Nachentscheidung einer dritten Person besonders streng definiert werden. 58 Vgl. Philippa Foot, Killing and Letting Die, in Jay L. Garfield, Patricia Hennessy (eds.), Abortion: Moral and Legal Perspectives, Amhert, The University of Massachussets Press, 1984, pp. 177 ff., auch in dies., Moral Dilemmas and other Topics in Moral Philosophy, Clarendon Press, Oxford, New York 2002, Chapt. 5; Tom L. Beauchamp, James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics 5. ed., Oxford, New York 2001, S. 139 ff.; weiter im Schrifttum, Claus Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in Claus Roxin/ Ulrich Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 2001, S. 177 ff.; Karl Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. Heidelberg 2008, § 3/270 ff., 275 ff. (S. 336). Die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe besitzt doch einen noch geltenden begrifflichen „Kern“. Wir betrachen hier, trotzdem, vor allem „Grenzfälle“, in denen der Sinn jeder Unterscheidung verschwindet. Vgl. Ralph Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, Köln u. a. 2004, S. 244 ff., 275 ff. 59 Ronald Dworkin, Life’s Dominion (1993), it. Übers. (Anm. 1), S. 265, 305 ff.

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Ohne die zweifelsfreie Unangemessenheit von Mehrheitslösungen in diesen moralisch hoch kontroversen Gebieten zu betonen,60 ist es vor allem ein nicht paternalistisches Mitleidsgefühl, das die Anerkennung unglücklicher, aber notwendiger Rechte fordert.61 Wer an das ewige Leben glaubt, sollte keine Angst haben, sondern sich freuen, dass es existiert, statt die anderen zu zwingen, in der Hölle zu leiden, und aus der Geschichte des Strafrechts lernen, in der die Leichen der Selbstmörder brennen oder hängen zur Bestrafung noch nach dem Tode, und die Qualen derjenigen, deren Körper vom Staat jahrhundertelang grausam missbraucht wurden, uns immer noch anklagen.62 Das sollte jetzt nicht auf andere Weise vor dem Tode geschehen. Keiichi Yamanaka, der geschätzte Kollege, dem diese Studie gewidmet ist, schrieb vor über 20 Jahren, nach der Beherrschung vom „Grundsatz der Verschwiegenheit“: “zunehmend beginnen die Patienten, nicht mehr als bloßes Objekt, sondern als Subjekt der Heilbehandlung aufzutreten“63. Die Frage einer zumindest passiven Sterbehilfe war damals noch fraglich. Heute aber ist „das Recht der Person als Grenze des Strafrechts“64 sehr fortgeschritten. Ob dieses Recht unglücklich scheint, weil es so weit geht, dass man sich für den Tod entscheiden will, soll dahingestellt bleiben: wir haben kein Recht, für andere zwischen einer schrecklichen Lebensverlängerung und dem guten Tod zu wählen.

60 Zutreffend gegen das Mehrheitsprinzip als entscheidendes Kriterium, Giovanni Fiandaca, Il diritto di morire (Anm. 24), S. 237. 61 Es gibt also auch unglückliche Rechte. Sie bieten trotzdem gar keine frühzeitige Ruhe. In den zitierten Beiträgen von Fausto Giunta (Anm. 3) und Giovanni Fiandaca (Anm. 24), z. B., findet man die Anerkennung, auch wenn noch unbestimmt, eines allgemeinen „Rechts zum Sterben“. Das spiegelt trotzdem noch nicht eine gemeinsame Kultur wieder. Bei Stefano Canestrari, Principi di biodiritto penale (Anm. 16), S. 97 ff., der zuletzt von einem „säkularen Standpunkt“ aus eine Zusammenfassung solcher „Prinzipien“ des Biorechts darstellt, fehlt der Begriff und der Ausdruck des „diritto di morire“. Umso offensichtlicher bei Autoren, die katholisch geprägt sind und sich oft am meisten für solche Themen engagieren. Das Leben bleibt dort ein ewiges Sollen, auch für die anderen. Vgl. L. Eusebi, Autodeterminazione: profili etici e biogiuridici, in Scritti Coppi, Bd. II, Turin 2011, S. 957 ff. Eine Selbstverständlichkeit bleibt das unverzichtbare Verweigerungsrecht des Arztes. 62 Eine lehrreiche Darstellung bei Marzio Barbagli, Congedarsi dal mondo (Anm. 5), S. 46 ff.; Peter Schuster, Verbrecher, Opfer, Heilige. Eine Geschichte des Tötens 1200 – 1700, Stuttgart 2015, S. 145 ff. 63 Keiichi Yamanaka, Rechtfertigung und Entschuldigung medizinischer Eingriffe (Anm. 53), S. 116 f. 64 Wie ein anderer Titel aus der Bibliographie auf dem Gebiet lautet, und zwar Keiichi Yamanaka, Das Recht der Person als Grenze des Strafrechts. Zu Arthur Kaufmanns Kritik paternalistischer Strafbestimmungen (2005), in ders., Strafrechtsdogmatik (Anm. 53), S. 47 ff.

Zur Verbindlichkeit eines religiös motivierten Behandlungsvetos des Patienten für den Arzt Lothar Kuhlen

I. Im März 2015 hat Keiichi Yamanaka an der Universität Mannheim auf meine Einladung einen Vortrag zur Entwicklung der ärztlichen Aufklärungspflichten in Japan gehalten. Er macht dort deutlich, dass diese Pflichten maßgeblich dadurch bestimmt werden, ob der Patient als „bloßer Gegenstand der ärztlichen Behandlung“ oder als „Behandlungssubjekt“ betrachtet wird, und diagnostiziert, dass sich die zuletzt genannte Betrachtungsweise „schon fast durchgesetzt“ habe.1 Die Aufklärung des Patienten diene demgemäß dazu, ihm die Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen. Verletzungen der ärztlichen Aufklärungspflicht würden von den japanischen Zivilgerichten zunehmend als (zum Schadensersatz verpflichtende) Beeinträchtigungen dieses Rechts betrachtet. Bei Konflikten zwischen der Patientenselbstbestimmung und dem nach ärztlicher Beurteilung medizinisch Vernünftigen habe man lange dem ärztlichen Urteil den Vorrang eingeräumt. Demgegenüber sei mittlerweile grundsätzlich anerkannt, dass der Arzt sein Ermessen „nur unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts ausüben kann“.2 Als Beleg dafür verweist Yamanaka auf ein im Jahr 2000 ergangenes Urteil des japanischen OGH. Es betraf die Schadensersatzklage einer Zeugin Jehovas, die in der Klinik der Universität Tokio operiert worden war. Obwohl sie, gestützt auf die Lehre ihrer Glaubensgemeinschaft, eine Bluttransfusion ablehnte, wurde eine solche vom beklagten Arzt vorgenommen, als es während der Operation zu einer starken Blutung kam, so dass – nach Beurteilung des Arztes – ohne die Transfusion das Leben der Patientin nicht zu retten war. Diese Entscheidung entsprach den Richtlinien der Klinik, denen zufolge bei der Behandlung von Zeugen Jehovas eine Bluttransfusion zwar möglichst vermieden werden, bei nicht anders abwendbarer Lebensgefahr aber doch durchgeführt werden sollte. Über diese Richtlinien hatte der Arzt die Patientin nicht informiert. 1 Yamanaka, Entwicklung der ärztlichen Aufklärungspflicht in Japan, Vortrag vom 12. 3. 2015, S. 2. 2 Yamanaka (Fn. 1), S. 7.

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Das erstinstanzliche Urteil wies die Klage ab, da die Transfusion als einziges Mittel zur Lebenserhaltung gerechtfertigt gewesen sei.3 Der OGH gab der Klage statt (und sprach ein Schmerzensgeld zu), weil der Beklagte an den Willen der Patientin gebunden gewesen sei, „eine medizinische Behandlung, die mit einer Bluttransfusion verbunden ist, zu verweigern“.4 Auf die Richtlinien der Klinik könne sich der Arzt nicht berufen, da er die Patientin darüber nicht informiert und ihr somit keine eigene Entscheidung darüber ermöglicht hatte, ob sie sich der Operation unter den Bedingungen der Klinik unterziehen wollte. „Aus strafrechtlicher Sicht“ merkt Yamanaka zu dem Urteil des OGH an, es sei „nicht angemessen, die Bluttransfusion als solche als (fahrlässige) Körperverletzung anzusehen“, sie sei „wenigstens wegen Notstandes“ gerechtfertigt gewesen, wenn sie in der Situation einer „gegenwärtigen Gefahr“ (§ 37 Abs. 1 jStGB) für das Leben der Patientin erfolgte.5 Es steht mir nicht zu, die darin liegende Aussage über das japanische Strafrecht zu kritisieren. Ich möchte aber zum Fall der gegen den Willen des Patienten durchgeführten Bluttransfusion aus der Sicht eines deutschen Strafrechtlers Stellung nehmen.6

II. 1. Der Arzt (A) könnte sich durch die Operation einer vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) schuldig gemacht haben. Ein von A verursachter Körperverletzungserfolg7 liegt in den Verletzungen, die unabhängig von der Transfusion erfolgten (Operationsverletzungen). Darüber hinaus war die Bluttransfusion selbst mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbunden, führte also einen weiteren Verletzungserfolg herbei (Transfusionsverletzung).8 Beide Arten von Verletzungen verursachte A vorsätzlich (absichtlich). Nach der in Deutschland herrschenden und seit über 100 Jahren die Praxis bestimmenden Auffassung ist es für die Tatbestandsmäßigkeit der von A begangenen Körperverletzung belanglos, ob es sich dabei um einen (medizinisch indizierten, lege artis durchgeführten und erfolgreichen) ärztlichen Heileingriff handelte.9

3

Yamanaka (Fn. 1), S. 10 Fn. 26. Zitat nach Yamanaka (Fn. 1), S. 9. 5 Yamanaka (Fn. 1), S. 11. 6 Dabei gehe ich zum einen davon aus, dass dem Behandlungsveto der Patientin eine ernsthaft erwogene und klar geäußerte Entscheidung zugrunde lag, was dem behandelnden Arzt auch bekannt war. Zum anderen wird in der Folge angenommen, dass die ärztliche Beurteilung der Situation (Lebensrettung nur mit Hilfe einer Bluttransfusion) zutraf. 7 Des Näheren die mit der Operation verbundene Verletzung der körperlichen Unversehrtheit von P, also der Erfolg einer körperlichen Misshandlung (§ 223 Abs. 1 StGB). 8 Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungsveto, 2010, S. 172. 9 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 223 Rn. 29 m. w. H. 4

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Die vorsätzliche Körperverletzung könnte durch Einwilligung der P gerechtfertigt gewesen sein. Die Herbeiführung der Operationsverletzungen war von P’s Zustimmung gedeckt. Fraglich ist, ob diese Zustimmung wirksam war. Es ist davon auszugehen, dass A die P – abgesehen von der Information über die den Richtlinien der Klinik entsprechende Durchführung einer Bluttransfusion bei lebensgefährlicher Lage – ausreichend aufgeklärt hatte. Ihre Einwilligung in die Herbeiführung der Operationsverletzungen war somit wirksam. Betrachtet man die unterlassene Aufklärung über die ggf. durchzuführende Transfusion als Aufklärungsmangel, ändert das nichts an der Wirksamkeit der Einwilligung in die Operationsverletzungen, da P insoweit nicht irrte. Der „informed consent“, der durch die ärztliche Aufklärung des Patienten ermöglicht werden soll, war bzgl. der eigentlichen Operationsverletzungen also gegeben.10 Die Herbeiführung der Transfusionsverletzung war dagegen nicht von einer Zustimmung der P gedeckt. Schon das schließt eine Rechtfertigung dieser Körperverletzung durch Einwilligung aus. Darüber hinaus hatte P eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie eine Bluttransfusion unter allen Umständen, also auch in einer für sie lebensbedrohlichen Situation, ablehnte. Wegen dieses Transfusionsvetos kommt auch eine Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung oder die von der neueren Rechtsprechung des BGH anerkannte Möglichkeit einer Straflosigkeit wegen hypothetischer Einwilligung nicht in Betracht. Da dem A die Entscheidung der P bekannt war, scheidet auch ein (die Vorsatzstrafbarkeit ausschließender) Erlaubnistatbestandsirrtum11 aus. Eine Rechtfertigung nach Einwilligungsgrundsätzen trotz eindeutig erklärten Transfusions- oder sonstigen Behandlungsvetos des Patienten ist selbst dann ausgeschlossen, wenn man dieses Veto für rechtlich unbeachtlich erklären wollte. Denn auch dann fehlt die wirklich erteilte Zustimmung und auch dann ist die Mutmaßung bzw. Hypothese, der individuell Betroffene (hier also: die P) würde ggf. einwilligen, ersichtlich unbegründet.12 Wenn das vom Patienten ausgesprochene Behandlungsverbot unbeachtlich sein sollte, käme also nur ein Rechtfertigungsgrund in Betracht, der auf die objektive Interessenlage abstellt, wobei dann in der Tat mit Yamanaka in erster Linie an den rechtfertigenden Notstand zu denken ist (daneben könnte man eine rechtfertigende Pflichtenkollision oder eine Geschäftsführung ohne Auftrag in Erwägung ziehen). Diese – wie auch jede andere – Rechtfertigung hätte allerdings zur Folge, dass es dem Arzt erlaubt wäre, sich über das ernstliche und ausdrücklich erklärte Behand10 Vgl. dazu Gaede, Limitiert akzessorisches Medizinstrafrecht statt hypothetischer Einwilligung, 2014, S. 47 f. 11 Also die irrige Annahme einer Situation, bei deren Vorliegen A durch wirkliche oder mutmaßliche Einwilligung der P gerechtfertigt gewesen wäre. 12 Solange man nicht die rein normative Frage stellt, ob der Betroffene vernünftigerweise zustimmen würde, was aber nur noch eine Karikatur der (wirklichen, mutmaßlichen oder hypothetischen) Einwilligung wäre.

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lungsveto eines mündigen Patienten hinwegzusetzen. Ungeachtet einzelner Voraussetzungen der möglicherweise einschlägigen Rechtfertigungsgründe stellt sich damit für jeden Versuch einer Rechtfertigung von A’s Verhalten die Frage, ob es zulässig ist, ein solches Behandlungsveto als für den Arzt rechtlich unbeachtlich anzusehen. 2. Das hängt, da mit einem Behandlungsveto der Patient sein Selbstbestimmungsrecht ausübt, davon ab, wie dieses Recht beschaffen ist. Die deutsche Rechtsprechung erkennt seit über hundert Jahren ein Selbstbestimmungsrecht des Patienten an, das im Konfliktfall Vorrang vor dem für den Patienten medizinisch Vernünftigen, also im Interesse von Gesundheits- und Lebensschutz Gebotenen, hat. Bereits 1894 entschied das RG in seinem grundlegenden Urteil zum Hamburger Fall, dass trotz seiner überlegenen Sachkunde der Arzt keine rechtliche Befugnis habe, „nach eigenem Ermessen in die Rechtssphäre des Anderen einzugreifen … und dessen Körper willkürlich zum Gegenstande gut gemeinter Heilversuche zu benutzen“.13 Weiterhin urteilte das Gericht, auch der medizinisch indizierte ärztliche Heileingriff sei eine tatbestandsmäßige Körperverletzung, die einer Rechtfertigung, insbesondere durch die Einwilligung des Patienten (bzw. seines Vertreters), bedürfe.14 Der BGH schloss sich beiden Aussagen des RG an und folgt ihnen15 in ständiger Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung leitet den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts vor dem medizinisch Vernünftigen auch aus der Verfassung ab16 und wertet ihn dadurch normativ auf. So heißt es in dem 1957 ergangenen Urteil des BGH zum Myom-Fall: „Das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden“.17 Das gelte auch für den Arzt und für den Fall, dass ein Eingriff zur Abwendung von Lebensgefahr für den Patienten erforderlich sei. Denn selbst ein „lebensgefährlich Kranker … [könne] triftige und sowohl menschlich 13

RGSt 25, 375 (378). Der damals wegen Körperverletzung angeklagte Arzt hatte gegen den Widerspruch des Vaters einem siebenjährigen Kind den Fuß amputiert, was notwendig war, um eine tuberkulöse Vereiterung zu bekämpfen. 14 Anders als die Vorinstanz bejahte das RG deshalb eine tatbestandsmäßige Körperverletzung, hob den Freispruch des Arztes auf und verwies die Sache an das LG Hamburg zurück. Dieses sprach den Angeklagten erneut frei, weil er von der mutmaßlichen Einwilligung des nicht anwesenden Vaters ausgegangen sei (Erlaubnistatbestandsirrtum). Vgl. dazu Ulsenheimer/Biermann, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Auflage 2015, Rn. 325 – 328. 15 Trotz der anhaltenden Kritik von Teilen der Literatur an der zweiten Aussage (ärztlicher Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung). Vgl. dazu etwa Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 328 m. w. H. 16 Näher zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Selbstbestimmungsrechts Bleiler (Fn. 8), S. 5 ff.; Vogt, Der rechtliche Umgang mit dem Blutveto der Zeugen Jehovas, Diss. Rostock 2010, S. 76 ff. 17 BGHSt 11, 111 (113 f.).

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wie sittlich achtenswerte Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch sie von seinem Leiden befreit werden könnte“.18 Damit scheint die Beurteilung des von Yamanaka geschilderten Ausgangsfalles nach deutschem Recht jedenfalls auf der Grundlage der höchstrichterlichen Judikatur festzustehen. Der Arzt muss, um noch einmal den BGH zu zitieren, „das in Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit auch gegenüber einem Patienten respektieren, der es ablehnt, einen lebensrettenden Eingriff zu dulden“.19 Da P die lebensrettende Bluttransfusion eindeutig abgelehnt hatte, war A also an diese Ablehnung gebunden, die dennoch vorgenommene Transfusion konnte weder durch Notstand (§ 34 StGB) noch durch einen anderen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt sein. 3. Gleichwohl würde eine in der deutschen Literatur und Rechtspraxis verbreitete Auffassung im Ausgangsfall ebenso zu einer Rechtfertigung der lebensrettenden Transfusion kommen wie Yamanaka. Das überrascht deshalb, weil diese Auffassung sich nicht gegen die gefestigte Judikatur zum Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten wendet, sondern annimmt, sie sei mit dieser Rechtsprechung verträglich. Deutlich wird dies beispielsweise an der repräsentativen Darstellung der Rechtslage im Falle einer Ablehnung ärztlicher Hilfe aus Glaubens- und Gewissensgründen in Ulsenheimers arztstrafrechtlichem Handbuch. Ausgangspunkt dieser Darstellung ist die – im Einklang mit der Rechtsprechung stehende – Ablehnung einer „Vernunfthoheit des Arztes“:20 „Fehlt seine [sc. des Patienten] Zustimmung in Folge eindeutiger Weigerung, so sind dem Arzt die Hände gebunden, es sei denn, gesetzliche Bestimmungen, z. B. das Infektionsschutzgesetz, die StPO u. a. verpflichten ihn und erlauben ihm dadurch den Eingriff“.21 Für den Fall einer „Ablehnung ärztlicher Hilfe aus Glaubens- und Gewissensgründen“22 werden anschließend drei Konstellationen unterschieden.23 a) In einer Akutsituation, d. h. in einem akuten Krankheitsfall oder „sonstigen Notlagen“, sei der Arzt aufgrund der allgemeinen Rechtspflicht zu Hilfeleistung (§ 323 c StGB) zur Übernahme der Behandlung verpflichtet. Das Veto des Patienten begrenze 18 BGHSt 11, 111 (114). Der BGH hob deshalb den Freispruch eines wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagten Arztes auf, der mit Einwilligung der Patientin eine Gebärmuttergeschwulst (Myom) entfernen wollte und, nachdem er bei der Operation die Verwachsung der Geschwulst mit der Gebärmutter festgestellt hatte, letztere entfernte, ohne die Einwilligung der Patientin einzuholen (die mit einem so weitgehenden Eingriff nicht einverstanden war). 19 BGHSt 32, 367 (378). 20 So Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 384 in Anknüpfung an eine Formulierung von Tröndle MDR 1983, 881 (884). 21 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 384. 22 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 385. 23 Zusätzlich wird die hier nicht thematisierte Frage eines Behandlungsvetos „zu Lasten Dritter“, vor allem also das von Eltern ausgesprochene Verbot einer ihren Kindern verabreichten Bluttransfusion, erörtert (Ulsenheimer/Biermann [Fn. 14], Rn. 396 ff.).

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jedoch die Hilfspflicht. Eine vom Patienten eindeutig abgelehnte Bluttransfusion dürfe der Arzt „selbst bei bestehender Lebensgefahr“ nicht vornehmen.24 b) Das Gleiche gelte außerhalb von Notsituationen, wenn schon vor Behandlungsbeginn feststeht, dass im Rahmen der Behandlung eine Bluttransfusion erforderlich werden wird. Der Arzt könne hier die Behandlung verweigern. Übernehme er sie aber, sei er an die Ablehnung der Transfusion durch den Patienten gebunden. Setze er sich über dessen Veto hinweg, sei er wegen vorsätzlicher Körperverletzung strafbar.25 c) Anders zu beurteilen sei es demgegenüber, wenn sich während einer vom Patienten konsentierten Operation die – zuvor nicht sicher vorherzusehende – Notwendigkeit einer Bluttransfusion zur Rettung des Patientenlebens ergibt. Hier sei der Arzt nicht an das zuvor erklärte Veto des Patienten gebunden. Er könne diesen „in der aktuellen Konfliktsituation“ (also während der operativ bedingten Bewusstlosigkeit) nicht „nochmals befragen“.26 In dieser Situation dürfe man von ihm „die Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten“ nicht verlangen, denn dies könne „dazu führen, das Gewissen des Arztes, seine ethischen Grundsätze und damit seine Menschenwürde“ zu verletzen, es sei ihm also wegen einer Pflichtenkollision nicht zumutbar.27 Darüber hinaus erscheine die Vornahme der Transfusion „aus dem Gesichtspunkt des Notstands – Vorrang des Lebensschutzes – und der Pflichtenkollision (§ 34 StGB), möglicherweise auch durch mutmaßliche Einwilligung und Geschäftsführung ohne Auftrag gerechtfertigt“.28 Des Weiteren soll, wegen einer entschuldigenden Pflichtkollision bzw. eines unvermeidbaren Verbotsirrtums, jedenfalls die Schuld des Arztes ausgeschlossen sein, und zwar ebenso dann, wenn er das Patientenveto missachtet, wie dann, wenn er es respektiert.29 Durchmustert man diesen ersichtlich ergebnisorientiert zusammengestellten und dogmatisch sehr bunten Strauß möglicher Straffreistellungen, so erweisen sich die meisten von ihnen schon beim ersten Hinsehen als untauglich. Eine Pflichtenkollision – lege man ihr nun rechtfertigende oder aber entschuldigende Wirkung bei – setzt nach überwiegender und zutreffender Auffassung einen Konflikt gleichartiger Pflichten voraus.30 Wenn ein Arzt vor der Alternative steht, das vom Patienten ausgesprochene Transfusionsverbot zu beachten (indem er die Transfusion unterlässt) 24

Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 386. Zum gleichen Ergebnis gelangt eine etwas anders differenzierende Literaturansicht bei einer vom Patienten abgelehnten Bluttransfusion, die nicht als Begleitmaßnahme einer Operation, sondern als Hauptmaßnahme, etwa zur Kompensation eines unfallbedingt eingetretenen Blutverlustes, medizinisch indiziert ist. Vgl. Ulsenheimer, Geburtshilfe und Frauenheilkunde 54 (1994), M 83 ff.; Bleiler (Fn. 8), S. 180 f. m. w. H. 25 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 387. 26 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 389. 27 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 389. 28 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 389. 29 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 390 f. 30 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 126 m. w. H.

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oder zu missachten (indem er sie vornimmt), könnten jedoch allenfalls eine Unterlassungs- und eine Handlungspflicht miteinander kollidieren. Dafür gelten aber nicht die Regeln der Pflichten-, sondern die der Güterkollision (§ 34 StGB).31 Eine mutmaßliche Einwilligung scheidet, wie bereits dargelegt, aus, wenn und weil der gegenteilige Wille des Patienten eindeutig geäußert wurde. Aus dem gleichen Grund kommt eine Rechtfertigung durch Geschäftsführung ohne Auftrag jedenfalls nicht in Betracht,32 da sie voraussetzt, dass der Geschäftsführer nicht nur im Interesse des Geschäftsherrn handelt, sondern auch im Einklang mit dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen (§ 677 f. BGB).33 Der unvermeidbare Verbotsirrtum34 schließlich mag im Einzelfall angesichts einer praktisch noch ungesicherten Rechtslage zum Schuldausschluss führen, bietet aber augenscheinlich keine allgemein geltende und dauerhafte Lösung des zur Diskussion stehenden Rechtsproblems. Damit bleibt unter den angesprochenen Möglichkeiten, eine Strafbarkeit des Arztes zu vermeiden, nur der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB). Diese Lösung findet sich auch in der Strafrechtspraxis. Zwar hat, soweit ersichtlich, bis heute kein deutsches Gericht über die Strafbarkeit eines Arztes entschieden, der trotz eines vom Patienten erklärten Vetos eine Bluttransfusion durchgeführt hat.35 Aber immerhin stellte im Jahr 1993 die Generalstaatsanwaltschaft bei dem OLG Stuttgart ein Strafverfahren gegen Ärzte ein, die entgegen dem zuvor ausdrücklich geäußerten Willen einer Patientin dieser Blut transfundiert hatten, nachdem es – im Anschluss an eine durch Kaiserschnitt ermöglichte Geburt – zu einer lebensgefährlichen Situation gekommen war.36 31

Vogt (Fn. 16), S. 358 ff. Das gilt unabhängig davon, ob man dieses Rechtsinstitut überhaupt als strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund anerkennt. Vgl. dazu Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 9 Rn. 49 f. m. w. H. 33 Zwar ist ein entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn gem. § 679 BGB unbeachtlich, wenn nur durch die Geschäftsführung „eine Pflicht des Geschäftsherren, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt“ erfüllt werden kann. Aber eine solche Pflicht besteht in der hier erörterten Konstellation (in der gesetzliche Duldungspflichten, wie sie sich etwa aus der StPO ergeben, ausgeklammert sind) nicht. 34 Dazu Vogt (Fn. 16), S. 362 ff. 35 Ebenso wenig gibt es gerichtliche Entscheidungen zur Strafbarkeit von Ärzten, die – mit tödlichem Ausgang für den Patienten – dessen Ablehnung einer Bluttransfusion respektiert haben. Vgl. zu beidem Hillenkamp, Zur Strafbarkeit des Arztes bei verweigerter Bluttransfusion, in: Hettinger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 123 ff.; Bleiler (Fn. 8), S. 109 ff., 177 ff; Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 385 ff. 36 Während das Kind gesund zur Welt kam, verstarb die Patientin trotz der Transfusion. Auf Initiative des Ehemannes der Verstorbenen wurde gegen die behandelnden Ärzte wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung ermittelt. Zum Einstellungsbescheid der Generalstaatsanwaltschaft vom 30. 11. 1993 siehe Ulsenheimer, Der Arzt im Konflikt zwischen Heilauftrag und Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in: Arnold u. a. (Hrsg.), Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 1225 (1234); Hillenkamp (Fn. 33), S. 125 f.; Bleiler (Fn. 8), S. 185 ff.; Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 392. In einem weiteren Fall der ärztlichen Missachtung eines Transfusionsvetos stellte die Staats32

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Zur Begründung der Einstellung heißt es im Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft: „Die von den Ärzten im Zusammenhang mit der Notfallversorgung zur Lebensrettung vorgenommene Bluttransfusion bei der verstorbenen Patientin war durch § 34 StGB gerechtfertigt, auch wenn sie gegen den ausdrücklichen Willen der Patientin erfolgt ist. Im vorliegenden Fall hat das geschützte Interesse (Rettung des Lebens der Patientin) das beeinträchtigte Interesse (Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Recht auf Selbstbestimmung) wesentlich überwogen. Es ist anerkannt, dass die Abwägung der widerstreitenden Interessen nach objektiven Wertmaßstäben zu erfolgen hat; keine Rolle spielt deshalb die individuelle Wertschätzung, die der Inhaber des Rechtsguts diesem beimisst“.37 Im Übrigen müsste man nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, selbst wenn man ein Eingriffsrecht des Arztes verneinen würde, diesem jedenfalls einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zugestehen. 4. Es stellt sich die Frage, ob die Annahme eines rechtfertigenden Notstandes zutrifft, wenn sich – wie in der dritten Fallkonstellation und damit auch in unserem Ausgangsfall – der Arzt angesichts einer intraoperativ auftretenden Lebensgefahr über das zuvor eindeutig geäußerte Veto des Patienten hinwegsetzt, weil sich nur so dessen Leben retten lässt. a) Die Begründung, mit der die Generalstaatsanwaltschaft diese Frage bejaht hat, überzeugt jedenfalls nicht. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB setzt voraus, dass das Interesse am Schutz des Erhaltungsgutes (Leben des Patienten) das am Schutz des Eingriffsgutes (Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Selbstbestimmungsrecht des Patienten) wesentlich überwiegt. Dieses Überwiegen ist nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft anerkanntermaßen nach „objektiven Wertmaßstäben“, nicht aber nach der „individuellen Wertschätzung“ des Rechtsgutsinhabers zu beurteilen. Das ist schon deshalb irreführend, weil anerkanntermaßen zwar „nach objektivem Maßstab, aber unter Berücksichtigung der höchst individuellen Gegebenheiten“ zu urteilen ist, zu denen auch der Wille des Betroffenen gehört.38 Vor allem aber hat die Generalstaatsanwaltschaft verkannt, dass es hier um die spezielle Konstellation eines internen Rechtsgutskonflikts geht, also um eine Kollision zwischen Erhaltungs- und Eingriffsgütern ein- und desselben Rechtsgutsträgers. Für diesen Fall ist schon umstritten, ob neben der Rechtfertigung durch wirkliche oder mutmaßliche Einwilligung eine Notstandsrechtfertigung überhaupt in Betracht kommt.39 Auch wo das angenommen wird, betont man aber zu Recht, dass, wenn „der anwaltschaft Hamburg das langjährige Ermittlungsverfahren gegen den Arzt wegen des Verdachts der Körperverletzung aufgrund fehlenden öffentlichen Interesses (§§ 374 Abs. 1 Nr. 4, 376 StPO) ein (Ulsenheimer/Biermann [Fn. 14], Rn. 393). 37 Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft bei dem OLG Stuttgart v. 30. 11. 1993, zitiert nach Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 392. 38 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 71; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 13/29 f., jeweils m. w. H. 39 Ablehnend etwa Erb, in Münchener Kommentar, 2. Aufl. 2011 (MK), § 34 Rn. 35 – 37 (Sperrwirkung der Einwilligungsregeln) m. w. H. Anders jetzt aber Erb, Das Verhältnis zwi-

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Rechtsgutsinhaber – z. B. bezüglich bestimmter ärztlicher Behandlungen – die Einwilligung verweigert oder … dies mutmaßlich tun“ würde, „der (mutmaßliche) Wille nicht durch Heranziehung des § 34 überspielt und dadurch das Selbstbestimmungsrecht umgangen werden“ darf.40 Zwar macht man zum Teil hiervon eine Ausnahme bei der „Rettung“ eines Suizidenten, also einer Person, „die aktiv Hand an sich legt“.41 Aber diese Ausnahme ist hier nicht einschlägig, da es unangemessen wäre, einen Patienten wegen eines zu seinem Tode führenden Behandlungsvetos einem Suizidenten gleichzustellen.42 Dass die Missachtung des Vetos auch bei Lebensgefahr nicht mit der Unverfügbarkeit seines Lebens für den Patienten gerechtfertigt werden kann, erkennen der Sache nach auch alle diejenigen an, die in den beiden ersten Fallgruppen43 eine Befugnis des Arztes zur Lebensrettung gegen den Willen des äußerungsfähigen Patienten verneinen.44 b) Will man es in der dritten Fallgruppe – anders als in den beiden ersten – rechtfertigen, dass sich der Arzt über das Behandlungsveto des Patienten hinwegsetzt, so ließe sich das allenfalls damit begründen, dass es hier – anders als dort – an einer klaren und ernsthaften Bekundung des entgegenstehenden Patientenwillens fehle. Sie sei vielmehr nur dann gegeben, wenn sich der Patient entweder „aktuell“, also noch unmittelbar vor der Durchführung der Transfusion, äußern könne (Fall 1)45, schen mutmaßlicher Einwilligung und rechtfertigendem Notstand, in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernd Schünemann, 2014, S. 337 (346). 40 Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, § 23 Rn. 5, § 19 Rn. 44. Ebenso zum Transfusionsveto Vogt (Fn. 16), S. 353 ff. 41 So MK-Erb, § 34 Rn. 35 m. w. H. Dagegen Neumann in: Nomos Kommentar, 4. Aufl. 2013, § 34 Rn. 35, 84 m. w. H. Zur (unklaren) Rechtsprechung siehe Hillenkamp (Fn. 33), S. 129 f. 42 So zutreffend Hillenkamp (Fn. 33), S. 131 f. unter Hinweis auf Engisch ZStW 58 (1939), 1 (24), demzufolge es „doch in aller Regel ein gewaltiger Unterschied (ist), ob jemand aktiv Hand an sich legt oder auch durch geflissentliche Unterlassungen (Selbstaushungerung!) seinem Leben ein Ende zu machen trachtet, oder ob jemand eine Krankheit nicht in bestimmter Weise ärztlich behandelt haben möchte, sondern lieber dem Schicksal seinen Lauf läßt“, sowie Vogt (Fn. 16), S. 131 ff. Auch MK-Erb § 34 Rn. 35 lehnt deshalb die Notstandsrechtfertigung einer vom Patienten aus religiösen Gründen abgelehnten Bluttransfusion ausdrücklich ab. 43 Akutsituation (bzw. Transfusion als Hauptmaßnahme) und ex ante feststehende medizinische Notwendigkeit einer Bluttransfusion als Begleitmaßnahme einer Operation. Vgl. Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 386 f.; Bleiler (Fn. 8), S. 180 f. 44 Und dies für die Bluttransfusion als Hauptmaßnahme sogar als im deutschen Recht seit „jeher anerkanntes“ bzw. „absolut einfach gestricktes“ Ergebnis betrachten. Vgl. dazu die Hinweise bei Bleiler (Fn. 8), S. 180 f. 45 Freilich kann in einer „Akutsituation“, ebenso bei Durchführung einer Bluttransfusion als „Hauptmaßnahme“, der Hilfsbedürftige ansprechbar und damit entscheidungsfähig sein oder auch nicht. Nur im erstgenannten Fall stellt sich die in der Folge erörterte Frage, ob die Differenzierung zwischen dem Fall der Akutsituation bzw. der Transfusion als Hauptmaßnahme (Fall 1) und der intraoperativ erforderlich werdenden Transfusion (Fall 3) mit der – einmal gegebenen, einmal fehlenden – aktuellen Entscheidungsfähigkeit des Patienten begründet werden kann.

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oder aber dann, wenn er seine ablehnende Entscheidung zwar vor Durchführung der Operation, aber doch in der Gewissheit getroffen habe, dass ohne Bluttransfusion eine (erfolgreiche) Operation nicht möglich ist (Fall 2). Auch diese Argumentation ist jedoch nicht haltbar.46 Jedenfalls die zeitnah vor Operationsbeginn klar geäußerte Ablehnung einer medizinisch etwa notwendig werdenden Bluttransfusion ist so aktuell, wie das der Natur der Sache nach überhaupt möglich ist.47 Und es gibt keinen Grund, die Ernsthaftigkeit einer vor Operationsbeginn erklärten Transfusionsablehnung nur dort zu bejahen, wo die medizinische Notwendigkeit der Transfusion bereits vor Operationsbeginn sicher feststeht. Weder die Differenzierung zwischen dem dritten und dem ersten, noch die zwischen dem dritten und dem zweiten Fall lässt sich deshalb rechtfertigen. In anderem Zusammenhang ist ebenfalls anerkannt, dass der Wille des Patienten auch dann beachtet werden muss, wenn er „aktuell“ fehlt. So ist nach zutreffender Ansicht des BGH „eine frühere Willensbekundung, mit welcher der Patient seine Einwilligung in Maßnahmen der in Frage stehenden Art für eine Situation, wie sie jetzt eingetreten ist, erklärt oder verweigert hat“, trotz aktueller Unfähigkeit zur Willensbekundung unverändert wirksam, wenn „der Patient sie nicht widerrufen hat“.48 Diese auch für den Zustand einer aktuellen Bewusstlosigkeit fortwirkende Maßgeblichkeit des Patientenwillens ist nunmehr (seit 2009) durch die Regelung der Patientenverfügung in §§ 1901a ff. BGB gesetzlich bekräftigt worden.49 Im Regelfall50 setzt sich somit die Nichtbeachtung des vom Patienten erklärten Behandlungsvetos durch den Arzt in allen drei Fallgruppen gleichermaßen über den Willen des Patienten hinweg. Die Auffassung, die das nur in der dritten Konstellation für gerechtfertigt hält, ist deshalb normativ inkonsistent. c) Diese Inkonsistenz dadurch zu vermeiden, dass man in allen Fällen51 wegen der nicht anders zu beseitigenden Lebensgefahr für den Patienten dessen Entscheidung 46

Näher dazu Hillenkamp (Fn. 33), S. 136 f.; Vogt (Fn. 16), S. 178 ff. Vgl. Vogt (Fn. 16), S. 306 ff. 48 BGH JZ 2003, 732 (733, 735) in einer zivilrechtlichen Entscheidung zu einem aufgrund apallischen Syndroms dauerhaft entscheidungsunfähigen Patienten im Anschluss an Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, Verhandlungen des 63. Deutschen Juristentages, 2000, Gutachten A 41. Der BGH fügt hinzu, dass die „fortdauernde Maßgeblichkeit“ der Patientenentscheidung auch nicht durch „einen Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen korrigiert werden“ dürfe. 49 Auch Ulsenheimer/Biermann (Rn. 14), Rn. 388 weisen darauf hin, dass diese Regelung für die Gegenauffassung (Verbindlichkeit des Transfusionsvetos auch dort, wo sich die Notwendigkeit der Transfusion erst während einer Operation herausstellt) spricht, ohne allerdings von ihrer eigenen Ansicht abzurücken. 50 In dem, wie etwa im hier betrachteten Ausgangsfall, konkrete Anhaltspunkte für einen Sinneswandel des Patienten fehlen. 51 Erfolge die Transfusion nun in einer Situation akuter Not oder aufschiebbarer Hilfe, als Haupt- oder Nebenmaßnahme, an einem aktuell äußerungsfähigen oder nicht äußerungsfähigen Patienten. 47

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für unbeachtlich erklärt und die Missachtung des Patientenwillens durch Notstand oder einen anderen Rechtfertigungsgrund erlaubt, kommt in einer liberalen Rechtsordnung nicht in Betracht und wäre mit dem im deutschen Recht seit langem anerkannten Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten vor dem vom Arzt für medizinisch vernünftig Gehaltenen unvereinbar.52 Auch die hier erörterte (und abgelehnte) Literaturansicht zieht diese Lösung nicht ernsthaft in Erwägung, wie ihre Behandlung der beiden ersten Fallgruppen zeigt. Eine normativ konsistente Lösung muss deshalb umgekehrt in allen drei Konstellationen gleichermaßen das klar geäußerte Transfusionsveto eines verweigerungsbzw. einwilligungsfähigen Patienten53 als beachtlich, dessen Missachtung durch den Arzt damit als rechtswidrige Verletzung des Selbstbestimmungsrechts betrachten.54 Nach der in Deutschland herrschenden Auffassung des ärztlichen Heileingriffs als tatbestandsmäßige Körperverletzung folgt daraus, dass diese Missachtung regelmäßig55 als vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist, was auch für den hier betrachteten Ausgangsfall gilt. Eine Rechtfertigung, etwa durch Notstand, kommt nicht in Betracht. Diese Auffassung zwingt den Arzt nicht zur Verletzung seines Heilauftrages oder des diesen bekräftigenden Berufseides.56 Seine Pflicht zur Heilung ist nach heutigem Verständnis nämlich von vornherein durch den Willen des Patienten begrenzt, sich heilen zu lassen. Auch auf seine Gewissensfreiheit kann sich der ein Behandlungsveto missachtende Arzt57 nicht berufen. Denn die Gewissensfreiheit gibt „dem Pflegepersonal … kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht … [des Patienten] hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen“.58 Das ist in der dritten Konstellation sogar noch deutlicher als in Fällen akuter Not.59 Denn bei einer aufschiebbaren Operation kann der Arzt versuchen, den Patienten von seiner strikten Ablehnung einer indizierten 52 Näher zu beidem Hillenkamp (Fn. 33), S. 134 ff.; Bleiler (Fn. 8), S. 181 ff.; Vogt (Fn. 16), S. 111 ff., 138 ff. 53 Zum Gleichlauf von Einwilligungs- und Verweigerungsfähigkeit s. Bleiler (Fn. 8), S. 50 ff. 54 So zu Recht Hillenkamp (Fn. 33), S. 142 ff.; Bleiler (Fn. 8), S. 171 ff. 55 Also insbesondere dann, wenn der Arzt weder in einem Erlaubnistatbestandsirrtum noch in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum handelt. 56 Wie von OLG München MedR 2003, 174 (176) befürchtet. Das OLG wies im Jahr 2002 den Anspruch der Klägerin auf Schmerzensgeld ab, den diese geltend machte, weil ihr während einer Operation im Zustand der Bewusstlosigkeit aufgrund einer nicht vorhergesehenen lebensgefährlichen Lage entgegen ihrem zuvor ausdrücklich erklärten Veto mehrere Bluttransfusionen verabreicht wurden. Bereits im Jahr 2001 hatte sich das BVerfG mit dem Fall beschäftigt (BVerfG NJW 2002, 206 mit Anm. Hessler MedR 2003, 13). 57 Wiederum entgegen OLG München MedR 2003, 174 (176 f.). 58 BGH JZ 2006, 144 (145). Eingehend dazu Vogt (Fn. 16), S. 311 ff. 59 Wo es – anders als in der dritten Konstellation – auch von Vertretern der hier abgelehnten Rechtsansicht akzeptiert wird. Vgl. Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 386.

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Bluttransfusion abzubringen, oder aber die Behandlung wegen des Transfusionsvetos ablehnen.60 Ebenso wenig führt die hier vertretene Rechtsansicht zu dem teilweise befürchteten Dilemma des Arztes, der bei Beachtung des Transfusionsvetos befürchten müsse, wegen (fahrlässiger oder vorsätzlicher) Tötung durch Unterlassen bestraft zu werden, während er bei Missachtung des Vetos regelmäßig wegen vorsätzlicher Körperverletzung strafbar sei.61 Denn wenn man das Behandlungsveto des Patienten als für den Arzt verbindlich betrachtet, ist das Unterlassen einer lebensrettenden Bluttransfusion schon wegen fehlender Tatbestandsmäßigkeit straflos.62 5. Einer verbreiteten Auffassung zufolge macht der hier erörterte Fall „schwierige Rechtsprobleme“ sichtbar,63 führt den Arzt in ein „Dilemma“64 sowie in eine „rechtlich unlösbare Pflichtenkollision“.65 Nach der hier vertretenen Ansicht besteht dagegen in diesem Fall weder eine Kollision rechtlicher Pflichten noch ein (rechtliches) Dilemma des Arztes. Der Fall wirft auch kein besonders schwieriges Rechtsproblem auf, seine rechtlich zutreffende Lösung ergibt sich vielmehr zwanglos aus dem grundsätzlich allgemein anerkannten Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten vor dem medizinisch Vernünftigen.66 a) Das wirkliche Problem des Falles besteht darin, dass seine rechtlich vorgegebene Lösung für viele Bürger, insbesondere auch für viele Ärzte, nicht ohne weiteres als richtig zu akzeptieren ist. Die Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland stört sich an der Unvernünftigkeit der religiös begründeten Transfusionsverweigerung.67 Ist es nicht ein Musterbeispiel sektiererischer Verbohrtheit, dass Personen, die gerne weiterleben möchten, darauf verzichten, weil sie glauben, eine Bluttransfusion verstoße gegen das Verbot des Alten Testaments „Blut zu essen“?68 Und liegt es nicht im wohlverstandenen Interesse der Betreffenden, wenn sich der behandelnde Arzt über ihren Willen hinwegsetzt, um ihr Leben zu retten, statt sie kaltherzig sterben zu lassen? Ich persönlich halte es für naheliegend, beide Fragen zu bejahen. 60

Bender MedR 2003, 179 f.; Hillenkamp (Fn. 33), S. 146. So Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 392 f. 62 Näher dazu Hillenkamp (Fn. 33), S. 129, 133 ff. 63 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 384. 64 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 392. 65 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 391. 66 Auch insofern zutreffend führt Hillenkamp (Fn. 33), S. 146 aus, dass schon die Rechtsprechung „ein eigentlich doch recht klares Bild vermittelt“. 67 Das OLG Karlsruhe spricht von einer „nach dem Bewusstsein der Allgemeinheit abwegigen Vorstellung über das Verbot der Blutübertragung“ (zitiert nach Hillenkamp [Fn. 33], S. 134). 68 Zur einschlägigen Lehre der Zeugen Jehovas sowie zu den sozialen Sanktionen, mit denen bei Verletzungen dieses Verbots zu rechnen ist („Gemeinschaftsentzug“), Bleiler (Fn. 8), S. 30 ff., 38 ff.; Vogt (Fn. 16), S. 8 ff. 61

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Aber es ist in dem einer pluralistischen Gesellschaft entsprechenden Staat der Glaubensfreiheit69 rechtlich ausgeschlossen. In der Perspektive des Rechts gehört die religiös oder weltanschaulich begründete Weigerung, sich helfen zu lassen, zur Freiheit des mündigen Individuums,70 deren Ausübung andere zu respektieren haben, solange sie nicht zu Lasten Dritter geht oder durch Normen eingeschränkt wird, die – wie beispielsweise die Vorschriften der StPO über vom Einzelnen zu duldende Zwangsmaßnahmen – öffentlichen Interessen dienen. Dass der wahre Konflikt, zu dem der Ausgangsfall führt, nicht innerhalb des Rechts, sondern zwischen dem Recht und verbreiteten Richtigkeitsvorstellungen besteht, wird vielfach deutlich. So ist durchaus zutreffend von „dramatischen, für die Ärzte unverständlichen Konfliktsituationen zwischen ihrem Heilauftrag und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten“ die Rede.71 Aber das ist kein rechtlicher (rechtsinterner) Konflikt. Und wenn das OLG München ausführt, ein die medizinisch erforderliche Bluttransfusion verweigernder Patient könne nicht davon ausgehen, „dass der Arzt sich in jedem denkbaren Fall unter Ausschaltung seines ärztlichen Gewissens gleichsam maschinenhaft daran halten“ und damit „zu einem willenlosen Spielball dieser Verfügung“ würde,72 ist schon rhetorisch der Rahmen einer juristischen Argumentation verlassen. Denn es sollte jedem Juristen geläufig sein, dass eine – sei es auch strikte – Verbindlichkeit den Verpflichteten nicht zu einer Maschine bzw. einem Spielball anderer herabwürdigt.73 Das skizzierte Akzeptanzproblem scheint mir freilich ebenso lösbar zu sein wie das zuvor erörterte Rechtsproblem. Der Vorrang der Patientenselbstbestimmung vor der Vernunfthoheit der Ärzte ist leicht verständlich und schon heute weitgehend akzeptiert. Und die rechtliche Respektierung auch existentiell bedeutsamer Entscheidungen, die der Mehrheit unvernünftig erscheinen, kann angesichts der zunehmenden und zunehmend akzeptierten Pluralität von Wertvorstellungen in der gesellschaftlichen Realität Deutschlands mit wachsendem Verständnis in der Bevölkerung rechnen, soweit die Entscheidungen nicht Interessen Dritter oder der Öffentlichkeit beeinträchtigen. b) Ob die hier befürwortete Ablehnung einer Rechtfertigung im Ausgangsfall in den „Kontext“ des japanischen Rechts passt74 und ob sie zu Akzeptanzproblemen in der japanischen Gesellschaft führen würde, kann Keiichi Yamanaka besser beurteilen als ich. Die in seinem Vortrag dargestellte Entwicklung der Rechtsprechung zu 69

Dazu Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, Rn. 832 ff. Ein Status, den man den Zeugen Jehovas nicht pauschal absprechen kann. Vgl. dazu Hillenkamp (Fn. 33), S. 134 f. 71 Ulsenheimer/Biermann (Fn. 14), Rn. 384. 72 OLG München MedR 2003, 174 (176). 73 Berechtigte Kritik an der Entscheidung des OLG München daher bei Bender MedR 2003, 179 f.; Dirksen GesR 2004, 124 (125 ff.). 74 Dazu Yamanaka, Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, 2012, S. 21 ff. 70

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den Aufklärungspflichten und die dort besprochene Entscheidung des OGH zum Fall der Transfusionsverweigerung sprechen jedoch für eine zunehmende Betonung der Patientenselbstbestimmung und eine entsprechende Abwertung der „Vernunfthoheit“ der Ärzte auch in der japanischen Judikatur. Darüber hinaus hat sich nach Yamanaka in Japan „der Gedanke, dass der Patient kein bloßer Gegenstand der ärztlichen Behandlung, sondern Behandlungssubjekt ist, sowohl in der medizinischen Fachwelt als auch in der allgemeinen Gesellschaft schon fast durchgesetzt“.75 Dann aber sollte auch für das japanische Recht die hier vertretene Auffassung erwogen werden, dass die Missachtung des klar zum Ausdruck gebrachten Behandlungsvetos eines mündigen Patienten weder durch Notstand noch durch einen anderen Rechtfertigungsgrund erlaubt wird.

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Yamanaka (Fn. 1), S. 2.

Paternalismus und defizitäre Opferentscheidungen Uwe Murmann

I. Paternalismus und rechtliche Freiheit Die Debatte um die Berechtigung und die Grenzen des Paternalismus, an der sich auch der Jubilar beteiligt hat,1 hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt gewonnen.2 Dabei wird eine Regelung im Allgemeinen dann als paternalistisch verstanden, wenn sie die Missachtung des aktualisierten Willens einer Person anordnet, weil dies deren (richtig verstandenem) Wohl diene.3 Paternalismus impliziert damit stets ein Verhältnis der Über-/Unterordnung, weil ein Außenstehender in Anspruch nimmt, besser für den Betroffenen entscheiden zu können als dieser selbst.4 Aus strafrechtlicher Sicht ist dabei vor allem an die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 StGB, neuerdings auch an § 217 StGB,5 aber auch an das Betäubungsmittelstrafrecht und die Lebend1 Yamanaka, Die Modelle und Typologien des indirekten Paternalismus im Strafrecht, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 323 ff.; ders., Das Recht der Person als Grenze des Strafrechts. Zu Arthur Kaufmanns Kritik paternalistischer Selbstbestimmungen, in: Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008, S. 47 ff. 2 Vgl. etwa die Beiträge in den Sammelbänden von Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/ Seelmann (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006; Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010; v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010; und die Monographien von Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, 2011; K. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus, 2013. Ein Grund für diese Entwicklung dürfte in dem praktischen Bedeutungszuwachs liegen; dazu Schünemann, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 229 f. 3 Vgl. z. B. Birnbacher, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 12; Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 20; FatehMoghadam, in: ders./Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 22; Feinberg, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 3; Kirste, JZ 2011, 806; van Aaken, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 122 ff.; v.d. Pfordten, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 93 f.; Vossenkuhl, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 167. 4 Grunert, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 9; Heinig, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 164 f. 5 Durch Gesetz vom 3. 12. 2015 eingeführter Tatbestand einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung.

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organspende zu denken. Auch jenseits positivrechtlicher Anknüpfungspunkte findet sich die Paternalismusdiskussion in der allgemeinen Dogmatik, wie etwa in der Lehre von der objektiven Zurechnung (bzw. der Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten), wo sich die Frage nach der haftungsbegrenzenden Relevanz des Opferverhaltens6 stellt. Doch es wäre verfehlt, die Frage nach der Berechtigung paternalistischer Normen als spezifisch strafrechtliches Problem aufzufassen. Selbst Sanktionsnormen wie § 216 StGB, bei denen eine paternalistische Deutung nahe liegt, begründen nicht originär die Freiheitseinschränkungen der Beteiligten, sondern knüpfen an eine vorgängige Freiheitsordnung an. § 216 StGB lässt so gesehen nur einen Rückschluss auf die Primärordnung zu, weil ein Verhalten, das sogar unter Strafe gestellt ist, erst recht einem Verhaltensverbot unterliegen muss. Originär strafrechtlich ist nur die Frage nach der Berechtigung einer Strafbewehrung (möglicherweise) paternalistisch begründeter Normen. Damit verlangt die geläufige Unterscheidung in indirekten und direkten Paternalismus7 zumindest nach einer Klarstellung: Die Unwirksamkeit einer Entscheidung, mit der die Person über ihre eigenen Rechtsgüter verfügt, wirkt unmittelbar (direkt) freiheitsbegrenzend. Denn die aus der Autonomie abgeleitete Kompetenz der Person, rechtliche Verhältnisse durch ihre Einwilligung zu gestalten,8 wird durch die Unwirksamkeit der Einwilligung beschnitten. Das an den Außenstehenden gerichtete Verbot, sich an einer solchen Entscheidung zu orientieren, ist lediglich ein Reflex dieser Unwirksamkeit.9 Freilich könnte eine direkt paternalistische Reglementierung noch weiter gehen, nämlich nicht nur der Bewilligung eines Eingriffs ihre rechtliche Wirksamkeit nehmen, sondern dem Betroffenen darüber hinaus auch noch untersagen, den Eingriff selbst vorzunehmen. Soweit es den Strafrechtspaternalismus anbelangt, kommt der Unterscheidung in direkten und indirekten Paternalismus auch in den Einwilligungskonstellationen Relevanz zu: Denn während sich das an den Außenstehenden gerichtete Verhaltensverbot ohne weiteres aus der Unwirksamkeit der Einwilligung ergibt, bedarf die Strafandrohung einer zusätzlichen Legitimation. Eine Bestrafung des Verfügenden selbst (direkter Strafrechtspaternalismus) ist schwerlich legitimierbar: Der Verfügende mag – so die Annahme des Paternalismus – vor sich selbst 6 Ob der äußerlich Verletzte tatsächlich ein Opfer ist, bedarf freilich gerade noch der Klärung; die Rede von „Opfer“ und „Täter“ dient hier nur der Vereinfachung und ist immer in einem vorläufigen Sinn gemeint. 7 Siehe z. B. Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 22 f.; Feinberg, Harm to self, 1986, S. 11; ders. (Fn. 3), S. 4; Schünemann (Fn. 2), S. 221; entsprechend Dworkin (Fn. 3), S. 22 mit der Unterscheidung in „pure“ und „impure paternalism“. 8 Zum rechtlichen Charakter der Einwilligung Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 198 ff.; zustimmend Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 302. 9 Originär indirekt paternalistisch wäre dagegen ein Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen, weil es hier auf die konkrete Willensrichtung der von dem Verbot Geschützten gar nicht ankäme; Vossenkuhl (Fn. 3), S. 167.

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schutzbedürftig sein, aber die Vernachlässigung eigener Güter begründet als solche keinen sozialethischen Vorwurf, wie ihn die Strafe verlangt.10 Nach den bisherigen Überlegungen muss Ausgangspunkt einer Befassung mit dem Paternalismus die staatliche Ordnung unter dem Grundgesetz als eine Freiheitsordnung sein, die auf der Autonomie der Bürger basiert. Mit diesem Ausgangspunkt ist das historisch mächtige absolutistische Verständnis eines väterlichen Staates zurückgewiesen, der das Wohl seiner Bürger definiert und befördert.11 Bei aller Einigkeit in der grundsätzlichen Ablehnung eines solchen Konzepts im demokratischen Rechtsstaat, bleibt doch die Frage, ob sich ein Rest wohlmeinender Bevormundung vor allem in solchen Bereichen erhalten hat, in denen das Wohl der Bürger in besonders elementarer Weise betroffen ist. Es ist insoweit kein Zufall, dass sich gerade auch im Strafrecht die Frage nach der Legitimation paternalistischer Regelungen besonders nachdrücklich stellt, weil das Strafrecht dem Schutz bedeutender Rechtsgüter vor besonders intensiven Angriffen dient. Ist ein offenes Bekenntnis zu einer wohlmeinenden Bevormundung des Bürgers im Staat unter dem Grundgesetz nicht mehr akzeptabel,12 so bedürfen Regelungen, die den Einzelnen in seiner Selbstverfügungsfreiheit begrenzen, einer geänderten Legitimationsgrundlage. Dabei ist eine Legitimation (strafbewehrter) Verbote grundsätzlich jedenfalls dort möglich, wo die Selbstverfügung zugleich die Rechte anderer oder der Allgemeinheit berührt.13 Je stärker eine Sozialgemeinschaft bereit ist, die Folgen selbstschädigenden Verhaltens solidarisch zu tragen, desto eher kommt ein (strafbewehrtes) Verbot selbstschädigenden Verhaltens in Betracht, um die Kosten der Solidarität gering zu halten – womit dann freilich das geschützte Rechtsgut gerade nicht mehr das Individualgut des Einzelnen ist.14 Auf den Schutz überindividueller Interessen zielen auch die Bemühungen, § 216 StGB unter Hinweis auf die Aufrechterhaltung des Fremdtötungstabus zu legitimieren.15 Eine Legitimation von Normen, die die Selbstverfügungsfreiheit im Interesse Dritter oder der Allgemeinheit einschränken, ist zwar nicht unter dem Aspekt des Paternalismus problematisch, muss aber freilich stark genug sein, um die Beschränkungen der Person im Umgang

10 Eine ganz andere Frage ist, ob die Selbstverletzung auch fremde Rechtsgüter verletzt, wie etwa bei § 109 StGB oder § 17 WStG. 11 Vgl. schon Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, hrsg. von Julius Ebbinghaus, 5. Aufl., 1992, S. 41; dazu eingehend Ellscheid, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 ff. Zur Geistesgeschichte auch Grunert (Fn. 4), S. 9 ff. 12 Vgl. dazu auch Gkountis (Fn. 2), S. 207 ff. 13 Eingehend Rigopoulou (Fn. 2), S. 84 ff. 14 Dazu kritisch Schünemann (Fn. 2), S. 239 mit dem Argument der „slippery-slope-Gefahr“. Zur fehlenden Überzeugungskraft dieses Arguments Murmann (Fn. 7), S. 280 ff. 15 Eingehend zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen und deren Tragfähigkeit Murmann (Fn. 7), S. 517 ff.

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mit sich selbst mit Blick auf die verfolgten Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit zu tragen.16 Nicht paternalistisch sind auch Bemühungen, Rechtspositionen des Einzelnen in schützenswerte Allgemeinbelange umzudeuten.17 In diesem Sinne will etwa Schmidhäuser das Verfügungsrecht über das eigene Leben unter Hinweis auf dessen Gemeinschaftsbezug begrenzen.18 Und Duttge sieht die Legitimation von § 228 StGB in einem Interesse der Allgemeinheit an der Wahrung der Menschenwürde des Einzelnen selbst gegen dessen Willen.19 Erblickt man in solchen Grenzen der Selbstverfügungsfreiheit nicht Ausprägungen eines objektiv-materiellen Freiheitsverständnisses (dazu noch unten), so handelt es sich um heteronome Beschränkungen, die nicht den Schutz des Einzelnen verfolgen. Das führt nicht nur zu Rechtsgutsvertauschungen hinsichtlich der nach Wortlaut und Systematik individualgüterschützenden Tatbestände, sondern überzeugt vor allem deshalb nicht, weil der Einzelne weder im Interesse der Gemeinschaft zum Erhalt seines Lebens verpflichtet ist noch durch eine Entscheidung, die von seinem freien Willen getragen wird, in seiner Würde verletzt wird.20 Soll die Unwirksamkeit der selbstverfügenden Entscheidung allein mit dem Schutz des Verfügenden legitimiert werden, so führt das zu einem sogenannten „harten“ Paternalismus, wenn dahinter die Vorstellung steht, dass sich die rechtliche Regelung gegen den freien Willen des Entscheidenden durchsetzt. Eine solche Bevormundung ist – wie schon gesagt – nicht akzeptabel, was sich auch daran verdeutlichen lässt, dass schwerlich begründet dargetan werden kann, weshalb die staatliche Gemeinschaft über das, was dem Wohl des Einzelnen dienlich ist, besser orientiert sein sollte als dieser selbst.21 Diese Einsicht lässt sich noch durch die Überlegung 16

Eine allgemeine „Sozialgestaltungsfunktion“ in dem Sinne, dass das Strafrecht etwa der gestiegenen Anzahl an Suiziden entgegenwirken soll (dazu Yamanaka, in: v. Hirsch/Neumann/ Seelmann [Hrsg.] [Fn. 1], S. 325 f.) dürfte die Legitimation des Strafrechtseinsatzes nicht tragen. 17 Ein Sprachgebrauch, der solche Positionen, die das Selbstbestimmungsrecht aus überwiegenden überindividuellen Interessen einschränken wollen, als paternalistisch erfasst (so etwa Fateh-Moghadam [Fn. 3], S. 24) erscheint nicht überzeugend. 18 Schmidhäuser, FS Welzel, 1974, S. 817. Ein historisch freilich viel älterer Ansatz, der sich auch bei Pufendorf und Feuerbach (vgl. Kubiciel, JA 2011, 87 f.) und auch schon bei Aristoteles nachweisen lässt (vgl. Duttge, GA 2001, 165 f.). 19 Duttge, FS Schlüchter, 2002, S. 801. Auch Otto, Recht auf den eigenen Tod? Gutachten D für den 56. Deutschen Juristentag, 1986, D 53 f.; Schmidhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 2. Aufl. 1975, 8/131; ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil. Studienbuch, 1982, 5/120: Menschenwürdewidrigkeit bewilligter „sado-masochistischer Quälereien“ (woran auch die Gefahr einer Vereinnahmung der Menschenwürde zur Durchsetzung von Moralvorstellungen mit den Mitteln des Strafrechts deutlich wird). 20 Dazu im Einzelnen Murmann (Fn. 7), S. 249 ff.; auch Rigopoulou (Fn. 2), S. 61 ff.; Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, 2008, S. 91 ff. 21 Eidenmüller, JZ 2011, 815: „Anmaßung staatlichen Wissens“. Freilich wäre es verkürzend, die Begrenzung staatlicher Einmischung allein mit dieser begrenzten Einschätzungs-

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zuspitzen, dass es letztlich niemand anderes als die bevormundete Person ist, die die Folgen der Fremdbestimmung in ihrem Leben tragen muss. Es fehlt nicht an Konzepten, den Vorwurf einer solchen Anmaßung dadurch zu umgehen, dass die rechtliche Freiheit Bindungen unterworfen wird, die es erlauben sollen, die Beschränkung der Wirksamkeit der Entscheidung geradezu als Ausdruck der so verstandenen Freiheit zu behaupten. Die Einschränkung wird damit gewissermaßen von außen nach innen, vom Staat auf den Einzelnen verlagert. Damit verlagert sich auch die Problemstellung, weil an die Stelle eines „harten“ ein sogenannter „weicher“ Paternalismus tritt, der seine Akzeptanz gerade daraus beziehen soll, dass Einschränkungen selbstverfügenden Verhaltens aus der Freiheit des Einzelnen erwachsen,22 womit sich das Problem der Legitimation von Einschränkungen wirksamer Selbstverfügung auf die Interpretation des Freiheitsbegriffs verlagert.23 Diese eröffnet im Kern zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte sich die Freiheitsausübung gerade durch die Beachtung gewisser allgemein verbindlicher, unverfügbarer Grenzen auszeichnen, die einem materialen Freiheitsbegriff erst die Konturen geben. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass sich gelungene Freiheitgestaltung zwar ganz nach den individuellen Maßstäben des Handelnden beurteilt, womit eine Entscheidung aber dann als unfrei anzusehen sein könnte, wenn der Entscheidende seine eigenen („wirklichen“) Präferenzen verfehlt. Die erstgenannte Möglichkeit, also die Ableitung allgemeinverbindlicher Grenzen aus der Freiheit, liegt jedem freiheitsbasierten Rechtsbegriff zugrunde.24 Die das Recht kennzeichnende interpersonale Verbindlichkeit verlangt nach verallgemeinerbaren Grenzen der Willkür. Die rechtliche Freiheit erhält ihre Konturen gerade daraus, dass sie das Verhältnis zum mit gleicher Freiheit ausgestatteten Anderen zum Gegenstand hat. Dieser Zusammenhang zwischen Interpersonalität und Recht ist aber auf selbstverfügende Entscheidungen ersichtlich nicht übertragbar. Die Selbstverletzung als solche überschreitet nicht die Sphäre des Einzelnen. Selbstverständlich können auch Selbstverfügungen einen interpersonalen Bezug aufweisen, wenn der Einzelne die Entscheidung nicht unmittelbar selbst exekutiert, sondern einen fremden Eingriff bewilligt, wie dies etwa bei der Tötung auf Verlangen der Fall ist. Aber auch dann fehlt es hinsichtlich des äußerlich verletzenden Verhaltens an einer (potentiellen) Konfliktlage, wie sie das Recht kennzeichnet. Freilich gibt es unterschiedliche Bemühungen, die darauf abzielen, der Freiheit allgemeinverbindliche Schranken zu implementieren, die auch im Selbstverhältnis Geltung beanspruchen. Verschiedentlich wird hierfür, mitunter in Verbindung mit möglichkeit zu begründen; du Bois-Pedain, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 40; Kirste, in: Anderheiden/Bürkli/Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 30 f. 22 Zur Unterscheidung in „harten“ und „weichen“ Paternalismus Feinberg (Fn. 6), S. 12 ff. 23 Vgl. Rigopoulou (Fn. 2), S. 41; Vossenkuhl, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 275. 24 Vgl. etwa Harzer, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 236 ff.

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der objektiven Dimension der Grundrechte, der Gedanke einer materialen Wertlehre in Anspruch genommen. Danach sei Freiheit nur (grund-)rechtlich geschützt, wenn sie der Verwirklichung bestimmter Werte dient.25 Einen solchen Wert könne etwa das Leben darstellen.26 In ähnlicher Weise wird mitunter auch der Menschenwürde ein materialer objektiver Gehalt gegeben, an dessen Beachtung selbstverfügende Entscheidungen zu messen seien.27 Damit geht die Vorstellung einher, dass sich menschliche Würde nicht (nur) im selbstbestimmten Umgang der Person mit sich selbst verwirklicht, sondern erst durch eine Orientierung an gewissen inhaltlichen Vorgaben. Überzeugen können solche Ansätze nicht, da sie an die Stelle der eigenverantwortlichen Person letztlich heteronome Bevormundung setzen, die lediglich im Gewande der Freiheit daherkommt.28 Der Einwand einer heteronomen Freiheitsbeschränkung trifft allerdings nicht solche Ansätze, die aus der Vernunft des Entscheidenden selbst (der an der allgemeinen Menschenvernunft Teil hat) eine Einschränkung der Freiheit im Umgang mit sich selbst herleiten wollen.29 Die Einschränkung wird auf diese Weise geradezu zum Ausdruck von Selbstbestimmungsfreiheit, wobei nur solche Maximen rechtlich verboten sein sollen, die „die äußeren Daseinsbedingungen menschenrechtlicher Selbstbestimmung in ihrem Entfaltungspotential überhaupt mit gewisser Totalität“ negieren.30 Im Kern wird zur Begründung geltend gemacht, dass die Selbstvernichtung der

25 Dazu – kritisch – Kubiciel, JA 2011, 89; Murmann (Fn. 7), S. 244 ff. Letztlich in die gleiche Richtung kann (je nach Interpretation) der Ansatz von Duttge, GA 2001, 171 ff., weisen, der die bewilligte Fremdtötung als Rechtsfriedensstörung (und die Strafe als Wiederherstellung des Rechtsfriedens) verstehen will. Denn die Rechtsfriedensstörung kann letztlich schwerlich anderes sein als ein sozialpsychologischer Reflex, der (jedenfalls auch) von einem als wertwidrig empfundenen Verhalten ausgehen könnte. Dabei ist die Bewilligung – anders als Duttge, S. 174, meint – nicht etwa eine (tatsächlich nicht zulässige) Disposition über das Ausmaß der Rechtsfriedensstörung, sondern ein für das Maß der Rechtsfriedensstörung maßgeblicher Umstand. 26 In diese Richtung Yamanaka, in: Eser/Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV, 1995, S. 202. 27 Symptomatisch für die gefährliche Nähe von Alltagsmoral und einer vom Selbstbestimmungsrecht emanzipierten Menschenwürde die Erwägungen von Kleinig, in: v. Hirsch/ Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 164 ff., der z. B. keinen Zweifel daran lässt, dass bestimmte „unappetitliche“ Sexualpraktiken die freiwillig daran Beteiligten entwürdigten und erniedrigten. 28 Dazu – eingehend kritisch m.w.N. – Murmann (Fn. 7), S. 249 ff. Kritisch auch FatehMoghadam (Fn. 3), S. 24; Grünewald (Fn. 7), S. 293 f.; Kirste, JZ 2011, 809 f.; Kühl, in: Hilgendorf (Hrsg.), Ostasiatisches Strafrecht, 2010, S. 10; Neumann, FS Paeffgen, 2015, S. 321 f. 29 Köhler, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 437, 438, betont, dass die Pflichten im Selbstverhältnis „nicht auf objektiv-teleologisches Vorgegebenes Bezug“ nehmen, sondern „auf dem immanenten Vernunftdasein in seiner menschenrechtlich normproduktiven Entfaltung selbst“ beruhen. 30 Köhler, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 439 f.

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autonomen Person einen Selbstwiderspruch begründe.31 Dagegen ist aber zum einen zu bezweifeln, ob ein solcher Selbstwiderspruch Grundlage einer Rechtspflicht sein kann,32 und zum anderen erscheint es nicht überzeugend anzunehmen, dass die Möglichkeit einer autonomen Lebensbeendigung im Widerspruch zur Forderung nach einer autonomen Lebensführung steht.33

II. Das Risiko defizitärer Entscheidung am Maßstab individueller Freiheit – zugleich zu §§ 216, 228 StGB 1. Der weiche Paternalismus und seine Grenzen Ist die Person im Selbstverhältnis nicht verbindlich auf eine „richtige“ Freiheitsausübung festzulegen und kann ihre eigenen Glücksvorstellungen mit den ihr angemessen erscheinenden Mitteln verfolgen,34 so sind staatliche Vorgaben für die Ausübung dieser Willkürfreiheit35 nicht legitimierbar.36 Liegt die Unzulässigkeit staatlicher Reglementierung gerade in dem Umstand begründet, dass der Einzelne sein Glück auf dem ihm angemessen erscheinenden Weg verfolgt, so trägt dieser Gedanke freilich nur so lange uneingeschränkt, wie dem Ein-

31 Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 442. Auch Kahlo, in: Anderheiden/Bürkli/ Heinig/Kirste/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Recht, 2006, S. 265 ff.; Klesczewski, ARSP Beiheft 66 (1997), 80 f. 32 Dagegen Ellscheid (Fn. 10), S. 194 ff. (S. 196 ff. gegen Köhler); Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 29; Grünewald (Fn. 7), S. 294 f.; v.d. Pfordten (Fn. 3), S. 95 f.; Vossenkuhl (Fn. 22), S. 279 ff. Vgl. auch – zum Suizid – Kühl, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), S. 252 ff. 33 Vgl. auch Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 30 f.; Grünewald (Fn. 7), S. 295; Jakobs, FS Arth. Kaufmann, 1993, S. 463 f.; ders., GA 2003, 65; Kubiciel, JA 2011, 90; Frank Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 40 ff.; Seelmann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 209 f. 34 Was tatsächlich auf die Negation bereits von Tugendpflichten im Selbstverhältnis hinausläuft; in diese Richtung auch Grünewald (Fn. 7), S. 295 f. Dagegen Pawlik, HRRS 2007, 23. 35 Vgl. Ellscheid (Fn. 7), S. 184 f. 36 Neumann, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 346 ff. Vgl. auch v.d. Pfordten (Fn. 3), S. 100 ff. (mit Einschränkungen mit Blick auf überindividuelle Interessen bzw. Interessen anderer S. 105 f.). Bung, in: v. Hirsch/Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 28 ff., hält dagegen den individuellen Maßstab mit Blick auf die möglicherweise verzweifelte Lage des Entscheidenden für nicht ausschlaggebend. Zu Recht weist er darauf hin, dass es im Einzelfall ungewiss sein kann, ob der Verzweifelte seinen Entschluss selbstbestimmt getroffen hat oder ob es „nicht eher nahe (liegt) zu vermuten, dass gerade der Verzweifelte nicht Herr seiner Überlegungen und Entscheidungen ist?“ (Bung, S. 29). Damit wird aber in Wahrheit nicht der individuelle Maßstab desavouiert, sondern es wird nur auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die die Feststellung von Selbstbestimmung anhand dieses Maßstabs im Einzelfall bereiten kann. Genau darum geht es im hier vertretenen Ansatz!

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zelnen die Definition seiner Ziele gelingt und er zu deren Verfolgung Mittel einsetzt, die seinen eigenen Adäquitätsanforderungen genügen.37 Von dem Fehlen dieser Voraussetzungen wird bei solchen Defiziten ausgegangen, wie sie einer wirksamen Einwilligung entgegenstehen, sei es, dass der Einzelne zu einer Definition seiner Ziele aufgrund konstitutioneller Defekte nicht in der Lage ist oder die konkrete Entscheidung auf relevanten Willensmängeln basiert.38 Insoweit ist – von Unsicherheiten im Detail, etwa über die Frage der Relevanz einzelner Willensmängel abgesehen – grundsätzlich unbestritten, dass der Einzelne vor dem Vollzug seiner fehlerhaften Entscheidung geschützt werden darf. Dahinter steht der Gedanke, dass die Freiheit des Entscheidenden nicht verletzt, sondern im Gegenteil geschützt wird, weil eine selbstbestimmte Entscheidung eine zur Selbstbestimmung fähige Person voraussetzt, die in ihrer Willensbildung keinen gravierenden Beschränkungen unterliegt.39 Dabei ergibt sich aus einem festgestellten Defizit nicht „von selbst“ die Unwirksamkeit der Erklärung. Vielmehr ist mit der Feststellung eines relevanten Mangels immer schon die Behauptung verbunden, dass es nach der Interessenlage der Beteiligten angemessen (oder mit Blick auf die Schutzpflichtenlehre sogar verfassungsrechtlich geboten40) ist, dem Mangel Relevanz zuzumessen, weil das Interesse am Schutz des aufgrund der fehlerbehafteten Entscheidung preisgegebenen Gutes gewichtiger ist als das Interesse am Geltungsanspruch abgegebener Erklärungen und das Vertrauensinteresse Außenstehender. Während Defizite, die zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen, im Allgemeinen nicht unter dem Aspekt des Paternalismus als problematisch empfunden werden,41 stellt sich die Problematik des (weichen) Paternalismus in ihrer vollen Schärfe bei der Behandlung solcher Defizite, die nach Art oder Gewicht nach der herkömmlichen Einwilligungsdogmatik nicht zur Unwirksamkeit einer Einwilligung führen. Solche Defizite sind ubiquitär!42 Empirische Untersuchungen zeigen, dass das menschliche Entscheidungsverhalten von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, die nach rationalen Maßstäben (und wahrscheinlich auch nach den Maßstäben des Entscheidenden selbst) für eine gelungene Entscheidung außer Betracht bleiben 37 Zu den unterschiedlichen Typen von Entscheidungsdefiziten Mayr, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 59 ff. 38 Zutreffend dazu, dass sich die Beurteilung der Wirksamkeit einer Einwilligung an den Wertvorstellungen des Einwilligenden orientieren muss Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, 1998, S. 40 ff.; Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 530 ff. 39 So gesehen kann man bezweifeln, ob weicher Paternalismus überhaupt Paternalismus ist; Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 26 f.; Feinberg (Fn. 6), S. 12. 40 Vgl. BVerfGE 92, 26, 46. 41 Dazu Gkountis (Fn. 2), S. 217 ff. 42 Eidenmüller, JZ 2011, 816 ff.; Gutwald, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 76; van Aaken (Fn. 3), S. 109 ff.; Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, 2012, S. 43 f.

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müssten. So wird die Entscheidung etwa von der Art und Weise der Vermittlung der entscheidungsrelevanten Tatsachen beeinflusst und hängt unter anderem von der zeitlichen Reihenfolge der gegebenen Informationen oder der Schwerpunktsetzung auf den mit der Entscheidung verbundenen Chancen oder Risiken durch die informierende Person ab (Aspekte, die etwa bei der Gestaltung der ärztlichen Aufklärung praktisch werden). Empirische Untersuchungen zeigen auch, dass menschliche Entscheidungen häufig von einem übertriebenen, wirklichkeitsfernen Optimismus (etwa hinsichtlich der eigenen Steuerungsmöglichkeiten) getragen werden.43 Es stellt sich die Frage, ob auch Defizite dieser Art Anlass zu weich paternalistischen Eingriffen bieten können. Die Argumentation wäre strukturell die gleiche, wie sie für die Unwirksamkeit der Einwilligung geltend gemacht wird, würde nämlich auf die Orientierung an der individuellen Freiheit des Entscheidenden verweisen, die sich gegen einen Erklärungsinhalt durchsetzt, von dem angenommen werden kann, dass der Einzelne nach seinen eigenen Maßstäben nicht an ihm festgehalten werden möchte.44 An dieser Stelle wird zugleich das zentrale Problem eines weichen Paternalismus deutlich, nämlich die Frage nach seinen Grenzen.45 Da kaum eine menschliche Entscheidung strengsten Rationalitätsanforderungen gerecht wird, eröffnet sich vom Ausgangspunkt eines weichen Paternalismus grundsätzlich ein (zu) weiter Raum für paternalistisch begründete Regelungen.46 Auf den ersten Blick liegt es nahe, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verweisen, der staatlichen Eingriffen generell Grenzen setzt.47 Aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht unmittelbar einschlägig, denn er dient dazu, der Durchsetzung von Interessen Dritter oder der Allgemeinheit zu Lasten des Einzelnen Grenzen zu ziehen. Vorliegend geht es aber nicht darum, den Entscheidenden vor den Interessen Dritter zu schützen, sondern es geht um den Schutz des Einzelnen vor einem übergroßen Schutz vor den Schwächen der eigenen Entscheidung.48 Die Feststellung der Grenzen weich paternalistischer Regelungen verlangt nach einem mehrstufigen Gedankengang:49 Die Klärung der Frage, ob die Präferenzbil43

Instruktiv van Aaken (Fn. 3), S. 112 ff. Vgl. Gutwald (Fn. 41), S. 87 ff.; v.d. Pfordten (Fn. 3), S. 100. 45 Zutreffend Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 36 f.; ders., Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, 128 f. 46 Zu dieser Gefahr Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 36 ff.; ders. (Fn. 44), S. 128 f.; Rigopoulou (Fn. 2), S. 33, 39. 47 Schroth, FS Hassemer, 2010, S. 798, 802 f.; Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 38 ff. 48 Zutreffend gesehen von Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 38 f. 49 Vgl. z. B. du Bois-Pedain (Fn. 20), S. 47 ff. (kritisch zur Leistungsfähigkeit des Freiheitsbegriffs); Gutwald (Fn. 41), S. 79 ff.; Kirste, JZ 2011, 806. Es dürfte im Ergebnis keinen Unterschied machen, ob schon das Freiheitsverständnis normativ interpretiert wird und über die Grenzen des Paternalismus entscheidet (wovon z. B. v. Hirsch, in: ders./Neumann/Seelmann [Hrsg.], Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 59, ohne weiteres auszugehen scheint) oder ob man das Defizit als Auseinanderklaffen von individuellem Anspruch und tatsächli44

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dung und Entscheidungsfindung anhand des individuellen Maßstabs der Person gelungen ist, setzt zunächst die Ermittlung der Maßstäbe voraus, welche die Person als für sich gültig versteht, und zwar auch und gerade bezogen auf die konkrete Entscheidungssituation.50 Nur auf dieser Grundlage kann in einer zweiten Prüfungsstufe die konkrete Entscheidung darauf untersucht werden, inwieweit die Person ihren eigenen Maßstäben gemäß gehandelt oder diese verfehlt hat. Hier geht es also um die Qualität der Entscheidung in Relation zu den eigenen Anforderungen des Entscheidenden. Liegt danach eine defizitäre Entscheidung im Sinne eines Zurückbleibens hinter den eigenen Maßstäben vor, so ist noch nicht ausgemacht, dass dieses Defizit auch zur Unbeachtlichkeit der getroffenen Entscheidung führt.51 An dieser Stelle setzt die normative Beurteilung des Entscheidungsdefizits an. Zunächst ist also festzustellen, ob der Einzelne bei seiner Entscheidung überhaupt seine eigenen Maßstäbe verfehlt hat. In der praktischen Umsetzung ist die Orientierung an individuellen Vorstellungen deutlich anspruchsvoller als es die Maßgeblichkeit eines einheitlichen objektiven Maßstabes wäre. Steht der Umgang mit sich selbst in der Entscheidungshoheit der freien Person, so erwächst daraus für die Benennung von Entscheidungsdefiziten das Problem, dass schon der zu bildende Maßstab, also die von Defiziten freie Entscheidung, individuell zu bestimmen ist. Die Bestimmung des Maßstabes der defektfreien Entscheidung muss die Präferenzen des Betroffenen akzeptieren, und zwar auch und gerade dort, wo diese Präferenzen exotisch anmuten und von der Mehrheit nicht geteilt werden. Andernfalls bestünde schon auf dieser Ebene die Gefahr, die Entscheidungsfreiheit unter Hinweis auf ein Defizit zu unterlaufen.52 Entsprechendes gilt für den Vorgang des Entscheidens, also für die Art und Weise, wie der Einzelne zu seinen Präferenzen kommt und sie verfolgt: Natürlich lässt sich eine optimale Entscheidung denken, die auf umfassender Entscheidungsgrundlage nach sorgfältiger Bewertung und Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte erfolgt und die bestmögliche Verfolgung der Präferenz (auch im Verhältnis zu den anderen Zielen der Person) erlaubt. Aber der Einzelne wird dieses Optimum weder erreichen noch muss er es auch nur erstreben. Darin liegt nicht per se etwas Irrationales. Denn angesichts der Vielzahl der Anforderungen, denen der Einzelne im täglichen Leben ausgesetzt ist, wäre ein Durchdenken jeder Entscheidung in all ihren Einzelheiten höchst unökonomisch.53 Die bewusste Orientierung an den aus Sicht des Betroffenen entscheidenden Eckpunkten begründet deshalb kein Defizit. Als defizitär ist eine Entscheidung auch nicht deshalb anzusehen, weil der Einzelne bewusst ein Entscheichem Entscheidungsverhalten interpretiert und erst in einem zusätzlichen Schritt die normative Relevanz eines so festgestellten Defizits beurteilt (in diesem Sinne nachfolgend im Text; dazu kritisch Frank Müller [Fn. 32], S. 142 f.). 50 Hintergrund dieser Konkretisierung: Es steht der Person frei, für eine bestimmte Entscheidung von ihren sonst gültigen Maßstäben abzuweichen. 51 Vgl. zu dieser Differenzierung Murmann (Fn. 7), S. 443 ff. 52 Vgl. auch Grünewald (Fn. 7), S. 308. 53 Ergänzend zu Überforderungseffekten Eidenmüller, JZ 2011, 816.

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dungsverhalten an den Tag legt, das üblichen Rationalitätsstandards (die gerade bei den hier diskutierten elementaren Entscheidungen über Leib und Leben eher hoch anzusetzen sein dürften) nicht genügt.54 Defizitär sind danach erst solche Entscheidungen, bei denen der Einzelne sich der Schwäche seiner Entscheidung nicht bewusst ist und damit seinen eigenen Rationalitätsanspruch nicht einlöst. Es wurde oben schon darauf hingewiesen, dass sich der Mensch in seinem Entscheidungsverhalten häufig nicht als „homo oeconomicus“, sondern mit all seinen Schwächen in Wahrnehmung und Urteil präsentiert. Dabei wird sich oftmals kaum beurteilen lassen, ob die konkret verfolgten Präferenzen und die Art und Weise, wie diese Präferenzen verfolgt werden, den Ansprüchen der Person selbst stand halten, zumal es sich um innere Umstände handelt, die sich mitunter sogar für den Betroffenen selbst nicht ohne weiteres erschließen.55 Schon die Ubiquität von Entscheidungen, die nach diesen Maßstäben als defizitär zu bezeichnen sind, legt weiteren Klärungsbedarf hinsichtlich der normativen Relevanz von Defiziten nahe, denn eine Gesellschaft kann die Verantwortlichkeit ihrer Mitglieder nicht deshalb in Frage stellen, weil das menschliche Entscheidungsverhalten im Regelfall nicht höchste Rationalitätsanforderungen erfüllt.56 Normative Einschränkungen der Relevanz von Defiziten tragen den Belangen der verfügenden Person Rechnung: Fehler gehören zum Leben der Person und bieten die Chance des Lernens;57 auch eine unzureichend durchdachte Entscheidung ist immerhin die eigene Entscheidung der Person, und es wäre eine Fehlintuition anzunehmen, dass eine permanente Entscheidungsoptimierung von außen, auch wenn sie die Maßstäbe des Entscheidenden beachtet, der Selbstbestimmung dienlich wäre.58 Es würde vielmehr die Verantwortlichkeit der Person für ihre eigene Lebensgestaltung verkürzen, wenn jede suboptimale Entscheidung von Seiten des Staates korrigiert werden könnte. So entspricht es durchaus einem auf die Autonomie der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft gegründeten Recht, dass defizitären Entscheidungen auch dann nicht per se die Wirksamkeit versagt wird, wenn das Defizit einen Rechtsgutsbezug aufweist.59

54 Vgl. schon Feinberg (Fn. 6), S. 62. Wobei sich erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten zu Defiziten ergeben, wie sie etwa aus unzutreffenden Risikoeinschätzungen resultieren können, die der Entscheidende nicht in Kauf nehmen wollte. 55 Dazu z. B. v. Hirsch (Fn. 48), S. 59 f. 56 Zutreffend Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 38 f. 57 Mayr (Fn. 36), S. 55. 58 Dworkin (Fn. 3), S. 25, 27; Feinberg (Fn. 6), S. 42: „A person’s highest good in life is self-fulfillment, and by its very nature, fulfillment is not something that can be achieved for the self by someone else“, S. 62; du Bois-Pedain (Fn. 20), S. 42 f.; Gutwald (Fn. 41), S. 83 f.; Mayr (Fn. 36), S. 57 f. 59 Vertiefend Murmann (Fn. 7), S. 444 ff. Dementsprechend ist es natürlich richtig, wenn Jakobs (in: Freund/Murmann [Hrsg.], Siebzig Jahre Wolfgang Frisch, 2014, S. 11) gegen den hier vertretenen Ansatz darauf hinweist, dass das Risiko einer defizitären Entscheidung „eine eigene Angelegenheit des Einwilligenden“ sein könne. Ob das aber der Fall ist, ist eine normative Frage, für deren differenzierte Beantwortung hier Gründe vorgelegt werden.

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Die Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung führt auch zu einer angemessenen Verantwortungsverteilung beim Zusammenwirken mit Außenstehenden, deren Interessen ebenfalls Rechnung zu tragen ist.60 Insbesondere dort, wo die Willensbildung des Entscheidenden sich ohne Einflussnahme des Außenstehenden, vor allem ohne Zwang oder Täuschung, vollzieht, liegt es nahe, dass das Defizit den Entscheidenden selbst belasten muss. Denn Außenstehende können insbesondere dort, wo sie auch eigene Interessen mit der Vornahme einer bewilligten Handlung verfolgen, Vertrauen in Anspruch nehmen:61 Der Bauunternehmer, der ein Haus abreißen soll, muss nicht darüber nachdenken, ob der Eigentümer auch den Erinnerungswert des alten Hauses bei seiner Entscheidung hinreichend in Rechnung gestellt hat. Und auch wenn ihm die Entscheidung ganz unvernünftig erscheint, etwa weil das abzureißende Haus eine gute Substanz aufweist und eine Renovierung deutlich günstiger käme, braucht er sich darüber keine Gedanken zu machen, sofern sein Vertragsverhältnis zum Eigentümer kein entsprechendes Beratungselement beinhaltet. Die herkömmliche Einwilligungslehre trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie solchen Motivirrtümern die rechtliche Relevanz versagt. 2. Das Risiko einer defizitären Entscheidung als Legitimationsgrundlage von §§ 216, 228 StGB Die Gründe, die hinter der Zuweisung der Verantwortung in den Bereich des Entscheidenden stehen, werden brüchig, wenn eine defizitäre Einwilligung einen intensiven, möglicherweise sogar irreversiblen Eingriff in besonders hochwertige Güter betrifft. So verliert der Gedanke, dass auch eine defizitäre Entscheidung einer konstitutionell als frei anzusehenden Person deren Selbstverwirklichung sichern kann, an Kraft, wenn mit der defizitären Entscheidung ein Eingriff bewilligt wird, der die Person in ihrem Selbstverwirklichungsinteresse härter treffen würde als dies bei Versagung der Wirksamkeit der Entscheidung der Fall wäre.62 Hier gewinnt das Interesse an einer Verwirklichung der „wahren“ Freiheit der Person an Gewicht.63 60

Zur Komplexität der Interessenlage näher Murmann (Fn. 7), S. 471 ff. Vgl. Frank Müller (Fn. 32), S. 154 ff. 62 Dabei dürfte es dem Schutz vor defizitären Entscheidungen nicht hinreichend Rechnung tragen, Defizite bei der Wahl des verfolgten Zieles und bei der Abwägung zwischen dem Interesse an dessen Erreichung und den dafür in Kauf zu nehmenden Einbußen stets als normativ irrelevant anzusehen und weich paternalistische Interventionen auf die Fälle zu beschränken, in denen der Verfügende ein objektiv ungeeignetes Mittel zur Verfolgung seines subjektiven Zieles einsetzen will (so Fateh-Moghadam [Fn. 3], S. 37; ders. [Fn. 44], S. 129 f.). Beispielhaft: Natürlich endet mit dem Leben auch der Liebeskummer. Damit ist die Lebensbeendigung zwar ein taugliches Mittel zur Zweckerreichung, aber es dürfte nicht im Interesse des Betroffenen liegen, die Abwägungsentscheidung von vornherein der Möglichkeit weich paternalistischer Intervention zu entziehen. 63 Ähnlich fragt auch Dworkin (Fn. 3), S. 32, ob eine vernünftige Person bestimmten Beschränkungen zustimmen würde und hält jedenfalls eine gewisse Wartezeit („waiting period“) für die Umsetzung irreversibler Entscheidungen für zustimmungswürdig; so auch v.d. Pfordten (Fn. 3), S. 102. 61

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Umgekehrt verliert das Interesse des Außenstehenden an Gewicht, wenn er (anders als etwa im Beispiel des Bauunternehmers) mit der Orientierung an der Entscheidung des Opfers kein eigenes Interesse verfolgt, sondern sich in seinem Handeln dem Wunsch des Opfers um dessen willen unterordnet.64 Beide Aspekte kommen sowohl bei Entscheidungen über das Leben als auch bei Entscheidungen über gravierende Verletzungen der körperlichen Integrität zusammen: Jeweils geht es um Güter von höchstem Wert für die Existenz65 bzw. Entfaltung der Person und jeweils lässt sich kaum ein berechtigtes eigenständiges Interesse des Außenstehenden am Vollzug der Opferentscheidung benennen, das gewichtiger sein könnte als das Interesse des Opfers am Erhalt seiner Güter. Von diesem Ausgangspunkt stellt sich die Frage, ob der vorgetragene Ansatz eine Legitimation der §§ 216, 228 StGB ermöglicht, die nicht dem Paternalismuseinwand verfällt. Es ist nach den vorstehenden Überlegungen bereits klar, dass eine ohne jeden Zweifel von Defiziten freie Entscheidung über Leib oder Leben keinen Raum für Bevormundung, also auch keinen Raum für eine Strafbarkeit nach § 216 StGB bzw. aus den Körperverletzungstatbeständen bietet.66 Es ist aber auch schon deutlich geworden, dass sich für den Regelfall nicht annähernd zuverlässig sagen lässt, ob eine Entscheidung in vollem Umfang den individuellen Präferenzen des Betroffenen und dessen eigenen Anforderungen an die Umsetzung dieser Präferenzen Rechnung trägt. Da es sich um Interna der entscheidenden Person handelt, lassen sich diese Umstände nur über äußere Indizien erschließen.67 Damit tritt eine Interpretation der §§ 216, 228 StGB in den Blick, die darauf abzielt, die Freiheit des Einzelnen bei der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts unter Zugrundelegung seiner mutmaßlichen Belange zur Geltung zu bringen. §§ 216, 228 StGB finden danach ihre Legitimation darin, dass sie (zumindest: auch) dem Risiko einer defizitären Entscheidung Rechnung tragen.68 Kann schon das Risiko eines Defizits die Unwirksamkeit einer Einwilligung 64 Frank Müller (Fn. 32), S. 160 f.; Murmann (Fn. 7), S. 479 f. Stets bestehen freilich generelle Interessen des Außenstehenden an Nichteinmischung und Orientierungssicherheit (dazu du Bois-Pedain [Fn. 20], S. 44 f.; Murmann [Fn. 7], S. 480), denen aber als solchen nur eine geringe Schutzwürdigkeit zukommt. 65 Vgl. zur normativen Relevanz der Irreversibilität einer Verfügung über das Leben Frank Müller (Fn. 32), S. 125; Murmann (Fn. 7), S. 493. 66 Neumann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 254. Für eine teleologische Reduktion des Tatbestandes insoweit Grünewald (Fn. 7), S. 300 (auch noch Murmann [Fn. 7], S. 499), wobei die dogmatische Umsetzung wohl richtigerweise nicht auf Tatbestandsebene anzusiedeln ist, sondern auf der Ebene der Rechtswidrigkeit, wo der Einwilligung Wirksamkeit zuzubilligen wäre. Auch Frank Müller (Fn. 32), S. 163, plädiert für eine Rechtfertigungslösung, allerdings mit Hilfe von § 34 StGB. Das kann aber nicht überzeugen, weil das Selbstbestimmungsrecht richtigerweise nicht nur ein Abwägungsgesichtspunkt ist, sondern es darum geht, dem Selbstbestimmungsrecht Geltung zu verschaffen (vgl. auch Murmann, Grundkurs Strafrecht, 3. Aufl. 2015, § 21 Rn. 78 mit Fn. 203). 67 Vgl. Rigopoulou (Fn. 2), S. 42 f. 68 Damit ist zugleich die geläufige Auffassung zurückgewiesen, § 216 StGB lasse sich mit Blick auf das dort normierte Erfordernis der „Ernstlichkeit“ nur hart paternalistisch erklären;

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tragen, so ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung im Einzelfall doch gelungener Ausdruck individueller Freiheit ist. Damit führt diese Interpretation dazu, § 216 StGB bzw. die Körperverletzungsdelikte im Falle einer nach § 228 StGB unwirksamen Bewilligung als abstrakte Gefährdungsdelikte aufzufassen.69 Dieser Ansatz70 hat mittlerweile verschiedentlich Zustimmung gefunden und ist weiterführend diskutiert worden.71 Zunächst zu § 216 StGB: § 216 StGB scheint auf den ersten Blick keinen Raum für Interpretationsversuche zu bieten, die die ratio der Norm im Risiko einer defizitären Entscheidung sehen, da die für § 216 StGB geforderte Ernstlichkeit ein Entscheidungsdefizit gerade auszuschließen scheint.72 Überwiegend wird angenommen, dass an ein ernstliches Tötungsverlangen höhere Anforderungen zu stellen seien als an eine wirksame Einwilligung.73 Es genüge also nicht, dass das Tötungsverlangen auf einer nach den Maßstäben der Einwilligungsdogmatik fehlerfreien Willensbildung beruht.74 Erforderlich sei ein „überlegter Entschluss“,75 an dem es fehle bei Entscheidungen aus

Neumann (Fn. 65), S. 249 f.; Wohlers/Went, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 294 f. 69 Dabei besteht allerdings die Besonderheit, dass die abstrakte Gefährlichkeit nicht aus einer prognostischen Unsicherheit, sondern auf einer Unsicherheit über eine gegenwärtige Sachlage resultiert; dazu Fateh-Moghadam (Fn. 44), S. 128; Murmann (Fn. 7), S. 497 f.; Rigopoulou (Fn. 2), S. 300. Weitere Konzepte, in denen diese Tatbestände als abstrakte Gefährdungsdelikte aufgefasst werden, vertreten Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 19 ff. (dazu – kritisch – Frank Müller [Fn. 32], S. 103 ff.; Murmann [Fn. 7], S. 526 ff.); Jakobs (Fn. 58), S. 9; Kubiciel, JA 2011, 90 f.; eingehend Frank Müller (Fn. 32). 70 Eingehend Murmann (Fn. 7), S. 488 ff.; ferner ders., FS Puppe, 2011, S. 787 ff.; vgl. auch Feinberg (Fn. 3), S. 14, der ähnlich hinsichtlich des Risikos einer defizitären Bewilligung der Selbstversklavung argumentiert. Vgl. auch Frisch, FS Hirsch, 1999, S. 491 ff. (zu § 228 StGB), der allerdings aus äußeren Umständen auf die Unvernunft, nicht auf das bloße Risiko einer defizitären Entscheidung schließen will. 71 Vgl. insb. Fateh-Moghadam (Fn. 44), S. 126 ff.; ders. (Fn. 3), S. 36 ff.; Grünewald (Fn. 7), S. 299 ff.; Rigopoulou (Fn. 2), S. 45 f.; 78 ff., 294 ff.; Schroth, FS Hassemer, 2010, S. 798, 802 f.; ähnlich auch Frank Müller (Fn. 32), S. 120 ff.; ferner v. Hirsch/Neumann, GA 2007, 676 ff. 72 In diesem Sinne etwa Frank Müller (Fn. 32), S. 145 ff. (dessen Ausführungen freilich das hier vertretene Konzept verfehlen); Tenthoff (Fn. 19), S. 123 f. 73 Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch. Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 216 Rn. 8; SSW-StGB/Momsen, Strafgesetzbuch. Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 216 Rn. 7; NK/Neumann, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013, § 216 Rn. 14; a.A. MüKo-StGB/Schneider, 2. Aufl. 2012, § 216 Rn. 20 (nach dessen Auffassung [Rn. 19] aber ein „leichthin“ artikuliertes, „einer bloßen Augenblicksstimmung“ entspringendes Tötungsverlangen auch nicht ausreiche). 74 Diese Minimalanforderung ist aber unstreitig; BGH, NStZ 2011, 340, 341; NStZ 2012, 85, 86; SSW-StGB/Momsen (Fn. 72), § 216 Rn. 7; NK/Neumann (Fn. 72), § 216 Rn. 14. 75 NK/Neumann (Fn. 72), § 216 Rn. 14; Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 216 Rn. 9a: „tiefere Reflexion“.

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einer „depressiven Augenblicksstimmung“76 oder überhaupt bei einer „vorübergehenden Stimmung“77 (jedenfalls wenn diese die Grundlage eines „beiläufig oder leichthin artikulierten“ Tötungsverlangen ist78), bei einem Verlangen „aus einer Laune heraus“79 oder bei „einem leichtfertigen Tändeln mit dem Tode“80. Auch (nicht rechtsgutsbezogene) Motivirrtümer, auf denen das Verlangen beruht, sollen der Ernstlichkeit entgegenstehen.81 Tatsächlich verlangt ein überlegter Entschluss die Einbeziehung der entscheidungsrelevanten Umstände (wozu auch die für die Motivation bedeutsamen Umstände gehören, z. B. der für ein Tötungsverlangen ausschlaggebende Gesundheitszustand des Opfers) und deren gedankliche, wertende Verarbeitung. Dementsprechend genügen leichthin artikulierte (d. h. gerade: nicht durchdachte) Tötungsverlangen aus einer Augenblicksstimmung tatsächlich nicht. Das bedeutet aber nicht, dass jede (nicht pathologische) situative depressive Verstimmung der Ernstlichkeit entgegensteht:82 Mit einem „überlegten Entschluss“ kann schon begrifflich unter Berücksichtigung des Bezugs auf das „Verlangen“ nur gemeint sein, dass das Opfer die seinem aktuellen Befinden gemäße überlegte Entscheidung getroffen hat, die dann auch „von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit“83 getragen ist, was sich spätestens erweist, wenn das Opfer auf ihrer Grundlage die Tötungshandlung des Außenstehenden zulässt. So kann das auf Liebeskummer gegründete Tötungsverlangen in der konkreten Situation durchaus die Anforderungen der Ernstlichkeit erfüllen.84 Als ernstlich wird man auch das Tötungsverlangen des Bewohners eines Altenheims einstufen müssen, das wesentlich von den (vermeintlichen oder wirklichen) Wünschen der Erben inspiriert ist.85 Es steht einem „überlegten Entschluss“ nicht entgegen, wenn der Entscheidende seinen eigenen Lebenswillen fremden Interessen unterordnet – aber es werden gleichwohl zumindest Zweifel daran bleiben, ob sich der Entscheidende einem inneren Druck ausgesetzt hat, aufgrund dessen er sein Lebensin-

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BGH, NStZ 2012, 85, 86; LK/Jähnke, Bd. 5, 11. Aufl. 2005, § 216 Rn. 7; SK-StGB/ Sinn, Stand: Juni 2012, § 216 Rn. 8 („Vorliegen einer [akuten] Depression“). 77 SK-StGB/Sinn (Fn. 75), § 216 Rn. 8. 78 MüKo-StGB/Schneider (Fn. 72), § 216 Rn. 19. 79 SSW-StGB/Momsen (Fn. 72), § 216 Rn. 7; LK/Jähnke (Fn. 75), § 216 Rn. 7. 80 LK/Jähnke (Fn. 75), § 216 Rn. 7. 81 NK/Neumann (Fn. 72), § 216 Rn. 14; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 72), § 216 Rn. 8; SK-StGB/Sinn (Fn. 75), § 216 Rn. 8. 82 Zutreffend MüKo-StGB/Schneider (Fn. 72), § 216 Rn. 19. 83 So die vom BGH (NStZ 2012, 85, 86) zumindest erwogene Ausnahme von der Unbeachtlichkeit von Entscheidungen, die aus eine „depressiven Augenblicksstimmung“ getroffen wurden. In diesem Sinne auch Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 72), § 216 Rn. 8; SSW-StGB/Momsen (Fn. 72), § 216 Rn. 7; MüKo-StGB/Schneider (Fn. 72), § 216 Rn. 19. 84 So auch BGHSt 19, 135, 137 („Gisela-Fall“). 85 Vgl. Yamanaka, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.) (Fn. 1), S. 324.

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teresse in der Abwägung nicht angemessen zur Geltung gebracht hat.86 Während also die Ernstlichkeit – gegebenenfalls unter Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes – häufig auch dort bejaht werden kann, wo die allermeisten Menschen anders entschieden hätten,87 werden zumindest Zweifel bleiben, ob die Entscheidung tatsächlich von allen Defiziten frei ist.88 Auch hier ist wieder besonders auf weniger leicht greifbare Defizite, wie etwa die nach den Maßstäben des Entscheidenden unzureichende Gewichtung einzelner Aspekte, hinzuweisen. Ein so gefasster Entschluss bleibt durchaus „überlegt“ und doch – möglicherweise – von begrenzter Rationalität. Freilich stellt sich die Frage, welche Umstände es rechtfertigen, in den Konstellationen des § 216 StGB ein besonderes Risiko defizitärer Entscheidung anzunehmen.89 Am Anfang steht dabei sicherlich die – von den Erkenntnissen der Suizidforschung gestützte90 – Annahme, dass schon angesichts des elementaren Werts, den der Einzelne im Regelfall dem Leben beimisst, eine mängelbehaftete Entscheidung nicht ganz fern liegt, wenn der Einzelne seinem Leben ein Ende setzen will.91 Gleichwohl kann es im Einzelfall gute Gründe geben, die die Entscheidung plausibel erscheinen lassen. Ein Fall, in dem dies konsentiert ist, ist der des Patienten, der in eine lebensverkürzende Schmerztherapie einwilligt.92 Es sind auch weitere extreme Szenarien denkbar, in denen für einen plausiblen Zweifel an der Freiheit von Defiziten kein Raum ist. So liegt es etwa in dem häufig diskutierten Beispiel des verunglückten Lkw-Fahrers, der in seinem Fahrzeug eingeklemmt einen Helfer anfleht, ihn zu erschießen, um dem sonst sicheren Tod durch Verbrennen zu entgehen.93 Allerdings legt der Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, beim Suizid wie beim Tötungsverlangen gleichermaßen ein Defizit nahe. Aus dieser Perspektive ließe sich § 202 JapStGB verstehen, der auch die Teilnahme am Suizid unter Strafe stellt.94 Das deutsche Strafrecht lässt dagegen die Beihilfe zum Suizid grundsätzlich straflos, was vom hier vertretenen Standpunkt aus die Benennung von Gründen dafür verlangt, dass das Risiko einer defizitären Entscheidung bei der Tötung auf Verlangen höher einzuschätzen ist als bei der Selbsttötung. Diese Begründungslast ist mit der Einführung der geschäftsmäßigen Förderung einer Selbsttötung (§ 217 StGB) ge86 Vgl. auch Kubiciel, JA 2011, 90 f.; Yamanaka, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.) (Fn. 1), S. 323 f. 87 Dazu, dass die Ernstlichkeit keine Vernunftkontrolle erlaubt, zutreffend MüKo-StGB/ Schneider (Fn. 72), § 216 Rn. 20; SK-StGB/Sinn (Fn. 75), § 216 Rn. 8. 88 So auch Rigopoulou (Fn. 2), S. 298 f. 89 An dieser Stelle sieht Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 36 ff. bezogen auf die hier vertretene Konzeption Konkretisierungsbedarf. 90 Dazu und zu deren normativer Relevanz zutreffend Frank Müller (Fn. 32), S. 123 ff. 91 Feinberg (Fn. 3), S. 10; Frank Müller (Fn. 32), S. 158 f. 92 Murmann (Fn. 65), § 21 Rn. 78. 93 Für eine Bewältigung solcher Fälle mit verfahrensrechtlichen Mitteln (§ 153 StPO) LK/ Jähnke (Fn. 75), § 216 Rn. 17. 94 Zur japanischen Perspektive Onagi, FS Maiwald, 2010, S. 607 f.; Yoshida, in: Eser/ Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV, 1995, S. 356 f.

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ringer geworden, weil mit diesem Tatbestand die Fallgruppen der Suizidförderung und der bewilligten Fremdtötung unter dem Aspekt des Risikos defizitärer Entscheidungen näher zueinander gerückt sind. Denn der Gesetzgeber hat die Begründung für die Strafbarkeit geschäftsmäßiger Förderung einer Selbsttötung gerade darin gesehen, dass der „fatale Anschein einer Normalität“ des assistierten Suizids insbesondere bei alten und kranken Menschen einen – vermeintlich oder tatsächlichen – Erwartungsdruck zur Lebensbeendigung begründen könne.95 Die Einbeziehung geschäftsmäßig handelnder Personen, die mit ihren Angeboten auch Eigeninteressen verfolgen, begründe Verfahren für die Eigenverantwortlichkeit, so dass „eine zumindest abstrakte Gefährdung höchstrangiger Rechtsgüter, nämlich des menschlichen Lebens und der Autonomie des Individuums“ bestehe.96 Der Gesetzgeber teilt damit die Einschätzung, dass auch eine nach den Maßstäben der Einwilligungslehre wirksame Entscheidung nicht notwendig vollwertiger Ausdruck personaler Selbstbestimmung sein muss.97 Unabhängig von der Frage, ob die Gefahren für die Selbstbestimmung tatsächlich das vom Gesetzgeber angenommene Gewicht haben und ob es gelungen ist, den Tatbestand so zu konstruieren, dass er die Gefahren adäquat erfasst,98 ist damit jedenfalls ein gesetzgeberisches Ziel angesprochen, dem man die Legitimation nicht wird absprechen können.99 Freilich reicht die Strafbarkeit bewilligter Fremdtötung immer noch weiter als die Straftbarkeit der Suizidförderung, so dass die Frage nach den Gründen für diese differenzierte Behandlung bleibt. Tatsächlich gibt es solche Gründe: So liegt es nahe, dass die Delegation der Tötungshandlung auf einer mangelnden Bereitschaft beruht, die Entscheidung gegen das eigene Leben selbst umzusetzen. Dies wiederum spricht gegen eine gefestigte und für eine defizitäre Entscheidung.100 Freilich verliert die De-

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BT-Drs. 18/5373, S. 11. BT-Drs. 18/5373, S. 12. 97 Diese Normavität der Selbstbestimmung verkennt Roxin, BStZ 2016, 186. 98 Kritisch Duttge, NJW 2016, 120 ff.; Gaede, JuS 2016. 386 f.; Rosenau/Sorge, NK 2013, 115 f.; auch Kubiciel, ZIS 2016, 400 ff. 99 Zutreffend Kubiciel, ZIS 2016, 396 ff. 100 Z. B. Grünewald (Fn. 7), S. 299 f.; Murmann (Fn. 7), S. 496; v.d. Pfordten, in: v. Hirsch/ Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 201; vgl. auch Roxin, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, 1993, S. 184; ders., FS Dreher, 1977, S. 345; ders., NStZ 1987, 347 f. Kritisch v. Hirsch/Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht, 2010, S. 100 ff.; Kubiciel, Ad Legendum 2011, 365; Rigopoulou (Fn. 2), S. 299; auch Frank Müller (Fn. 32), S. 136 f. (auch S. 146 f.), mit dem zutreffenden Hinweis darauf, dass der Selbstvollzug einer Tötung nicht die Freiverantwortlichkeit garantiert – aber darum geht es hier auch gar nicht, sondern es geht eben nur darum, dass die Delegation im Verhältnis zum Selbstvollzug ein Entscheidungsdefizit zumindest näher legt. Stellt man mit Müller (S. 146 ff.) auch diesen Unterschied in Abrede, so wird die unterschiedliche Behandlung von Tötung auf Verlangen einerseits und Teilnahme am Suizid andererseits brüchig (deutlich bei Müller, S. 174 ff.). 96

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legation ihre Aussagekraft, wenn der Betroffene zum eigenhändigen Vollzug seiner Entscheidung physisch nicht in der Lage ist.101 Neben dem tatsächlich höheren Risiko einer defizitären Entscheidung in Konstellationen einer delegierten Entscheidungsrealisierung lassen sich auch normative Erwägungen zur Verantwortungsverteilung dafür geltend machen, das Risiko einer defizitären Bewilligung anders zu behandeln als das Risiko einer defizitären Suizidentscheidung, an deren Realisierung ein Außenstehender mitwirkt. Dabei ist klar, dass die vorliegend diskutierten Defizite, die die Ernstlichkeit des Sterbewunsches unangetastet lassen, nicht das für die Begründung einer mittelbaren Täterschaft des Unterstützenden vorausgesetzte Gewicht erreichen.102 Formal betrachtet scheidet damit eine strafrechtliche Haftung des Außenstehenden bereits deshalb aus, weil es für die verbleibende Möglichkeit einer Teilnahme an einer Haupttat des Suizidenten fehlt.103 Aber auch eine materielle Betrachtung auf der Ebene der Verhaltensnormen spricht dafür, die Verantwortung für eine (möglicherweise) defizitäre Suizidentscheidung beim Suizidenten zu belassen.104 Es ist nämlich bei der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche zu berücksichtigen, dass das Verbot einer den Suizid eines anderen unterstützenden Handlung deutlich weiter in die Freiheit des Außenstehenden eingreift als das – durch die Unwirksamkeit der Einwilligung fortbestehende – Verbot der Fremdtötung. Während nämlich das (mögliche) Defizit eines sich selbst Verletzenden einem sonst zulässigen Verhalten die Erlaubtheit nehmen, also die nach den Grundsätzen der eigenverantwortlichen Selbstschädigung bestehende Handlungsfreiheit des Außenstehenden einschränken würde, führt die Unwirksamkeit der Einwilligung lediglich dazu, dass der rechtliche Handlungsspielraum des Außenstehenden keine Erweiterung erfährt.105 Es liegt deshalb nahe, das Risiko einer defizitären Entscheidung bei der Tötung auf Verlangen abweichend von der Unterstützung einer Selbsttötung zu behandeln. § 216 StGB trifft also eine markante Wertentscheidung: Im Grundsatz ist bei einem Tötungsverlangen von dem Risiko einer defizitären Entscheidung auszugehen, das unter Berücksichtigung des Gewichts des bewilligten Eingriffs die Unwirk101 Grünewald (Fn. 7), S. 299 f.; Frank Müller (Fn. 32), S. 148; Rigopoulou (Fn. 2), S. 299; v. Hirsch/Neumann, GA 2007, 686; dies. (Fn. 94), S. 102 f.; dazu bereits Murmann (Fn. 7), S. 499 f. v.d. Pfordten (Fn. 94), S. 200 f., plädiert auch in den Fällen, in denen der Betroffene nicht in der Lage ist, seinem Leben ein Ende zu setzen, für ein Festhalten an einem strafbewehrten Verhaltensverbot. Aber damit wird der Einzelne in einer Entscheidung, die elementarer kaum sein könnte, im Interesse Dritter bevormundet. Zutreffend kritisch dazu Neumann (Fn. 35), S. 350 f. 102 Eingehend zur Diskussion der für eine mittelbare Täterschaft des Außenstehenden vorausgesetzten Defizite Murmann (Fn. 7), S. 462 ff. 103 Zutreffend hierzu auch Frank Müller (Fn. 32), S. 167 f. 104 Vgl. auch die von dem gleichen Ziel getragen, in der Sache aber abweichenden Überlegungen von Frank Müller (Fn. 32), S. 174 ff.; daran anschließend Rigopoulou (Fn. 2), S. 300. 105 Siehe Murmann (Fn. 7), S. 479 f.

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samkeit der Erklärung begründet.106 Folgt man dem Gedanken, dass sich die Legitimation von § 216 StGB aus dem Risiko einer defizitären Entscheidung ergeben kann,107 so entfällt diese Legitimationsgrundlage freilich dort, wo für ernsthaften Zweifel kein Raum bleibt. Hier ist nochmals an die Konstellation der indirekten Sterbehilfe und an den Fall des verbrennenden Lkw-Fahrers zu erinnern. Bei § 228 StGB liegen die Dinge in konstruktiver Hinsicht insofern etwas anders, als diese Norm lediglich die Reichweite der Einwilligung regelt und sich damit auf die Körperverletzungstatbestände bezieht, die auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 228 StGB Geltung beanspruchen. Damit führt die hier vorgeschlagene Deutung von § 228 StGB als einer Norm, die eine Strafbarkeit aus §§ 223 ff. StGB aus dem Risiko einer defizitären Einwilligung begründet, zu einem „Doppelcharakter“108 der Körperverletzungstatbestände: Liegt keine Einwilligung vor oder ist eine Einwilligung wegen eines sonstigen Mangels unwirksam, so handelt es sich um ein Verletzungsdelikt. Liegt dagegen eine Einwilligung vor, die nach § 228 StGB unwirksam ist – was nach hier vertretener Auffassung bedeutet: Unwirksamkeit wegen des Risikos einer defizitären Entscheidung – so bleibt stets die Möglichkeit offen, dass es aufgrund einer mängelfreien Einwilligung an einer Verletzung des Rechtsverhältnisses bezogen auf das Rechtsgut der körperlichen Integrität fehlt. Es liegt dann wegen des Risikos einer defizitären Bewilligung lediglich eine Rechtsgutsgefährdung vor. Die Körperverletzungsdelikte sind danach im Anwendungsbereich des § 228 StGB bloße Gefährdungstatbestände.109 Im Übrigen gleicht die Argumentation strukturell den Überlegungen, die sich bei § 216 StGB für die Unwirksamkeit der Einwilligung mit Blick auf das Risiko einer defizitären Entscheidung anführen lassen. Freilich zeigt sich bei § 228 StGB ein deutliches normatives Gefälle gegenüber § 216 StGB: Anders als bei § 216 StGB trägt bei den Körperverletzungsdelikte nicht im Regelfall, sondern im Ausnahmefall der „Sittenwidrigkeit“ das Risiko einer defizitären Entscheidung die Strafandrohung. Diese abweichende Wertung ist aus mehreren Gründen plausibel: Zum ersten ist das Spektrum denkbarer Körperverletzungen, auf die sich eine Bewilligung beziehen kann, deutlich weiter als bei der Tötung, die hinsichtlich des Erfolges keine Abstufungen kennt. Damit hängt es zum zweiten auch zusammen, dass Eingriffe in die körperliche Integrität häufig revisibel sind. Zum dritten ist das Rechtsgut der körperlichen Integrität nicht von gleicher Wertigkeit wie das Rechtsgut Leben. Und schließlich liegt bei Verfügungen über die körperliche Integrität die Verfolgung nachvollziehbarer Interessen, z. B. medizinischer oder kosmetischer Art, nahe. Aus all diesen Gesichtspunkten folgt, dass Verfügungen über die körperliche Integrität ein Defizit 106 Das Erfordernis zusätzlicher Indizien für eine defizitäre Entscheidung lässt sich aus der Normstruktur von § 216 StGB nicht ableiten; für solche zusätzlichen Anforderungen aber Fateh-Moghadam (Fn. 3), S. 37; Rigopoulou (Fn. 2), S. 303. 107 Zur Frage einer – zusätzlichen – Fundierung der Norm im Schutz von Belangen Dritter bzw. der Allgemeinheit siehe eingehend Murmann (Fn. 7), S. 512 ff. 108 Murmann (Fn. 7), S. 505; ders., FS Puppe, 2011, S. 788 f.; Rigopoulou (Fn. 2), S. 303 f. 109 Zutreffend Fateh-Moghadam (Fn. 44), S. 128.

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im Regelfall nicht so nahe legen wie Verfügungen über das Leben. Wichtiger noch: Dem Interesse am Respekt vor der (wenn auch möglicherweise defizitären) eigenen Entscheidung kommt aus den genannten Gründen im Regelfall höheres Gewicht zu als dem Interesse am Gutserhalt. Eine abweichende Beurteilung dürfte nur bei solchen Konstellationen angemessen sein, die wertungsmäßig an § 216 StGB heranreichen. Das sind – im Einklang mit der h.M.110 – vor allem konkret lebensgefährdende Eingriffe, für deren Bewilligung nachvollziehbare Gründe nicht ersichtlich sind.111 Es ist nicht zu bestreiten, dass sich die hier vorgeschlagene Interpretation vom üblichen Verständnis von „Sittenwidrigkeit“ weit entfernt.112 Andererseits stellt sich aber die Frage, weshalb man es nicht als „sittenwidrig“ bezeichnen soll, wenn sich der Täter für die Vornahme eines gewichtigen Eingriffs auf eine Einwilligung beruft, bezüglich derer aufgrund objektiver Umstände eine rechtlich nicht tolerierbare Gefahr besteht, dass sie auf einer defizitären Entscheidung beruht.113

III. Fazit Ausgehend von der Überzeugung, dass die Freiheit des Menschen im Umgang mit seinen eigenen Gütern nicht „hart paternalistisch“ unter Hinweis auf das wohlverstandene Interesse des Betroffenen eingeschränkt werden kann, haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, dass ein eng gefasster „weich paternalistischer“ Begründungsansatz das Interesse des Einzelnen an einem selbstbestimmten Umgang mit seinen Gütern und die Belange Außenstehender an Orientierungssicherheit zum Ausgleich bringen kann. Vor dem Hintergrund der Einsicht in die Ubiquität und Vielgestaltigkeit von Entscheidungsdefiziten, mit denen der Einzelne hinter seinen eigenen Maßstäben zurückbleibt, und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass eine Feststellung solcher Defizite kaum zuverlässig möglich ist, lässt sich eine Interpretation der §§ 216, 228 StGB entwickeln, die an das Risiko einer defizitären Entscheidung anknüpft. Die Stärke dieses Ansatzes liegt nicht nur darin, dass er auf eine möglichst optimale Entfaltung individueller Freiheit im Konflikt zwischen dem Interesse an der Verbindlichkeit getroffener Entscheidungen und der Vermeidung der Konsequenzen der Wirksamkeit defizitärer Entscheidungen gerichtet ist. Er stellt vor allem zugleich 110 SSW-StGB/Momsen/Momsen-Pflanz (Fn. 72), § 228 Rn. 10. Dort auch zutreffende Kritik an der aktuellen Ausdehnung auf eine abstrakte Eskalationsgefahr bei einvernehmlichen körperlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen ohne gefahrenbegrenzende Absprachen (BGHSt 58, 140, 146 ff.). 111 Das gilt entgegen Jakobs (Fn. 58, S. 11) auch für konkret lebensgefährdende sadomasochistische Behandlungen, weil es auch hier durchaus nahe liegt, dass das Opfer die bewilligten Risiken unterschätzt. 112 Deshalb kritisch NK/Paeffgen (Fn. 72), § 228 Rn. 42a. 113 Vgl. Frisch, FS Hirsch, 1999, S. 505; Murmann (Fn. 7), S. 505 (freilich mit dem Hinweis, dass die Sittenwidrigkeit bei dieser Vorgehensweise weniger Anknüpfungspunkt der Auslegung, sondern eher Reflex einer für richtig gehaltenen Interpretation ist; dazu Jakobs [Fn. 58], S. 10).

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klar, dass die Unsicherheit, die hinsichtlich der gelungenen Orientierung an selbstgesetzten Maßstäben der Person besteht, im Regelfall nicht ausgeräumt werden kann, so dass das Recht auf eine an äußeren Umständen orientierte generalisierte Betrachtung angewiesen ist. Schließlich vermeidet das Konzept auch die Rechtsgutsvertauschung, zu der es kommt, wenn die Vorschriften aus dem Schutz überindividueller Rechtsgüter erklärt werden sollen.

Zum Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte: Soll die Heimtücke nicht sterben? Rudolf Rengier

I. Einführung Im Juni 2015 hat die vom Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas eingesetzte 15-köpfige Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte ihren Abschlussbericht vorgelegt.1 Die Gruppe hatte sich am 20. Mai 2014 zum ersten und am 29. Juni 2015 zum letzten Mal getroffen und damit ihre Arbeit in erstaunlich kurzer Zeit abgeschlossen. Sie hat insoweit dem ehrgeizigen Plan des Justizministers entsprochen, noch in dieser Wahlperiode das Gesetzgebungsverfahren anzustoßen, also rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2017 noch 2016 den Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen.2 Der im Zentrum der Reformüberlegungen stehende Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) gilt seit 1941. Reformbestrebungen gibt es seit den 1950er Jahren. Am Anfang dieser Bestrebungen steht der Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962,3 und zuletzt haben der Alternativ-Entwurf Leben 20084 und der Deutsche Anwaltsverein 20145 Reformvorschläge vorgelegt. Dazwischen liegt die von BVerfGE 45, 187 angestoßene Reformdiskussion des Deutschen Juristentages von 1980 mit dem Gutachten von Eser.6 Daran knüpfte Heiko Maas im Mai 2014 an und stellte fest: „34 Jahre 1 Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211 – 213, 57a StGB), 2015 (abrufbar auf der Homepage www.bmjv.de). 2 Maas, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 5. 3 Bundestags-Drucksache IV/650. 4 Alternativ-Entwurf Leben (AE-Leben), vorgelegt von Heine/Höpfel/Huber/Jung/Lautenschläger/Lilie/Meier/Radtke/Rengier/Rieß/Riklin/Rolinski/Roxin/Schöch/Schreiber/Schüler-Springorum/Verrel, GA 2008, 193 – 270; abgedruckt auch im Abschlussbericht (Fn. 1), S. 228 – 309. 5 Diskutiert in Heft 11 des Anwaltsblattes 2014, S. 868 – 890 in den Beiträgen von Deckers, Morsch, Eser, Fischer, Baltzer, Bernsmann. Siehe ferner zu diesem Entwurf Deckers/Fischer/ König/Bernsmann, NStZ 2014, 9 – 17; abgedruckt auch im Abschlussbericht (Fn. 1), S. 315 – 325. 6 Eser, Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der Kindestötung (§§ 211 bis 213, 217 StGB) neu abzugrenzen?, Gutachten D zum 53. Deutschen Juristentag, 1980.

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sind seit dem Reformappell des Deutschen Juristentages vergangen. Die Zeit zum Handeln ist reif.“7 Im Lichte dieser verflossenen 34 Jahre war die kritische Äußerung des österreichischen Referenten auf einer vor dem Juristentag 1980 liegenden Kölner Tagung von 1979 recht optimistisch, der auf die von ihm so bezeichneten „Riesenprobleme“ der deutschen §§ 211, 212 StGB hinwies und von weiteren (bloß) „zehn Jahren Beschäftigung für die Strafrechtswissenschaft“ sprach, wenn man an dem Muster der §§ 211, 212 StGB festhalte.8 Ohne Frage verdient die aktuelle Initiative jede Unterstützung und könnte endlich die schon lange fällige Reform bringen. Der folgende Beitrag, der dem Jubilar in freundschaftlicher Verbundenheit, mit großem Dank für seine herausragenden Verdienste um den japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurs9 und mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, setzt sich mit dem Abschlussbericht der Expertengruppe auseinander, muss sich dabei allerdings auf das besonders fragwürdige Heimtückemerkmal konzentrieren.

II. Die §§ 211, 212 StGB und Alternativmodelle Das deutsche Strafrecht folgt seit 1941 einem Modell, nach dem der Schritt von der vorsätzlichen Tötung zum höchststrafwürdigen Mord von der Verwirklichung bestimmter Mordmerkmale abhängt. Die §§ 211, 212 StGB lauten: § 211 Mord „(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“ § 212 Totschlag „(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.“

Von diesem Modell weicht der Reformvorschlag des Deutschen Anwaltsvereins in radikaler Weise ab. Dieser Vorschlag soll mit Blick auf den Jubilar und den japanischen Leser auch deshalb vorgestellt und hervorgehoben werden, weil der Anwaltsvorschlag mit dem japanischen Strafrecht vergleichbar ist: 7

Maas, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 5. Tschulik bei Rengier, ZStW 92 (1980), 459, 480. 9 Siehe nur die beiden deutschsprachige Beiträge enthaltenen Sammelbände Yamanaka, Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008; Yamanaka, Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, 2012. 8

Zum Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte

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§ 212 Tötung „Wer einen Menschen tötet, wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“

Der, abgesehen von der Androhung der Todesstrafe, vergleichbare Tötungstatbestand des japanischen Strafgesetzbuches lautet:10 § 199 jap. StGB „Wer einen anderen tötet, wird mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus oder mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft.“

Damit ebenfalls vergleichbar ist das österreichische Strafrecht, dessen Mordtatbestand die folgende Fassung hat: § 75 ÖStGB Mord „Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.“

III. Ablehnung der Alternativmodelle Die Frage im Titel dieses Beitrages deutet schon an, dass in der Expertengruppe das Modell eines Einheitstatbestandes der vorsätzlichen Tötung, also eines Tatbestandes, der nicht zwischen vorsätzlicher Tötung und einem durch Mordmerkmale qualifizierten Delikt unterscheidet, keine Mehrheit gefunden hat. In der Expertengruppe gab es bei zehn Gegenstimmen nur vier Stimmen für dieses Modell, das dem Vorschlag des Deutschen Anwaltsvereins und auch dem japanischen sowie österreichischen Strafrecht zugrunde liegt; flankiert wird ein solcher Einheitstatbestand zum Teil durch einen privilegierenden minder schweren Fall11 oder einen Privilegierungstatbestand12. Der Abschlussbericht fasst die Gründe für die Ablehnung der Alternativmodelle wie folgt zusammen:13 Gegen das Modell eines Einheitstatbestandes „wurde vorgebracht, dass dieses Konzept der Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen vorsätzlicher Tötungen und dem Erfordernis höchstmöglicher Tatbestands- und Sanktionsbestimmtheit nicht gerecht werde. Dass bereits die bloße Umbenennung aller nichtprivilegierter vorsätzlicher Tötungen als schwerstmögliche Tötungsform zu mehr Lebensschutz führe, sei zweifelhaft und berücksichtige nicht hinreichend, dass eine solche Regelung mit dem historisch gewachsenen Verständnis der Bevölkerung breche und zu Irritationen führen könne. Zudem sei die hinter dem Privilegierungskonzept stehende Negierung der Unrechts- und damit auch Schuldsteigerung von bestimmten Beweggründen und Absichten des Täters abzulehnen.“ 10 In der Übersetzung von Saito/Nishihara, Das abgeänderte japanische Strafgesetzbuch, 1954. 11 § 213 Anwaltsvorschlag lautet (Anwaltsblatt 2014, 871): „Im minder schweren Fall der Tötung ist die Freiheitsstrafe ein bis 10 Jahre.“ 12 § 76 ÖStGB lautet: „Wer sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung dazu hinreißen lässt, einen anderen zu töten, ist mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu zehn Jahren zu bestrafen.“ 13 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 23.

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Nach dem Votum gegen derartige – aus der Sicht der geltenden deutschen §§ 211, 212 StGB durchaus radikalen – Reformbestrebungen waren die weiteren Weichenstellungen vorgezeichnet. Mit acht zu sechs Stimmen, also keineswegs mit einer deutlichen Mehrheit, sprach sich die Expertengruppe zunächst dafür aus, das Konzept mit strafschärfenden Mordmerkmalen grundsätzlich beizubehalten. Zur Begründung wird ausgeführt:14 „Das Mordmerkmalskonzept zeichnet sich durch Grundtatbestand und Qualifizierung aus und lehnt sich damit an die aktuelle Rechtslage an. Zugleich wird das Verhältnis beider Tatbestände als Grundtatbestand und Qualifizierung klargestellt. Dem bestehenden Reformbedarf könne nach Ansicht der Befürworter dieses Konzepts durch moderate Änderungen des geltenden Rechts Rechnung getragen werden; weitergehender und grundlegender Änderungen bedürfe es hingegen nicht.“

Mit zehn zu vier Stimmen wurde diese grundlegende Weichenstellung durch den Beschluss bestätigt, neben dem Grundfall der vorsätzlichen Tötung eine gesetzliche Regelung für vorsätzliche höchststrafwürdige Tötung vorzusehen.15 Konsequent votierte die Expertengruppe schließlich mit ebenfalls zehn zu vier Stimmen bei einer Enthaltung dafür, die Fälle der höchststrafwürdigen Tötung in einem qualifizierten Tatbestand zu regeln, also im etwaigen künftigen § 211 StGB eine Qualifikation des etwaigen künftigen § 212 StGB zu sehen,16 so wie es heute schon der ganz herrschenden Meinung in der Literatur,17 allerdings nicht dem Standpunkt der Rechtsprechung entspricht.18

IV. Votum für ein – geändertes – Heimtückemerkmal Damit war entschieden, dass sich die Expertengruppe den bisherigen Mordmerkmalen zuwenden und diskutieren musste, ob und eventuell mit welchen Modifikationen jedes Mordmerkmal beibehalten werden soll sowie ob sich die Einführung weiterer Mordmerkmale empfiehlt. Dabei hat, wie der Abschlussbericht hervorhebt, die Heimtücke besondere Aufmerksamkeit gefunden.19 Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Mit verhältnismäßig großen Mehrheiten hat sich die Expertengruppe in einem ersten Beschluss unter der Überschrift „Grundsätzliche Beibehaltung des Kernbereichs“ mit neun zu eins Stimmen bei vier Enthaltungen dafür ausgesprochen, das 14

Abschlussbericht (Fn. 1), S. 24. Abschlussbericht (Fn. 1), S. 26. 16 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 27. 17 Siehe nur Rengier, Strafrecht BT II, 16. Aufl. 2015, § 4 Rn. 1 f. 18 BGHSt 1, 368, 370 f.; BGH NJW 2005, 996, 997. Zur Diskussion Rissing-van Saan, Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag und die Reform der Tötungsdelikte, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?, 2010, S. 26 ff. 19 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 15; neben der Heimtücke sind auch die Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe, die Grausamkeit sowie die Verdeckungsabsicht hervorgehoben. 15

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Abgrenzungskriterium der heimtückischen Begehungsweise beizubehalten.20 Ein zweiter Beschluss mit der Überschrift „Änderung“ votiert ohne Gegenstimmen mit zwölf Stimmen bei zwei Enthaltungen dafür, das Heimtückekriterium zu ändern.21 Die relativ klaren Mehrheiten überraschen etwas, steht doch gerade die Heimtücke seit Jahrzehnten im Zentrum der Kritik22 und taucht in den meisten Reformentwürfen nicht mehr auf.23 Man darf vermuten, dass die – unbedingt begrüßenswerte – „mit großer Mehrheit“ getroffene Entscheidung, das Exklusivitäts-Absolutheits-Verhältnis des geltenden Rechts aufzulösen, das Votum zugunsten der Heimtücke beeinflusst hat; danach soll bei grundsätzlicher Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe als Sanktion der Rechtsanwender die Möglichkeit erhalten, hiervon im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit abzuweichen.24 Mit dieser Richtung im Wesentlichen übereinstimmend habe auch ich vor Jahrzehnten dafür plädiert, die Heimtücke nicht abzuschaffen, sondern im Wege einer Strafzumessungslösung in der Form eines minder schweren Falles die zwingende Koppelung an die lebenslange Freiheitsstrafe zu beseitigen.25 Im Jahre 2008 habe ich allerdings als Mitglied des Arbeitskreises im AE-Leben für die Streichung des Mordmerkmals der Heimtücke votiert.26 Vor diesem Hintergrund soll die in der Expertengruppe geführte und gut dokumentierte Debatte um die Heimtücke, auch bezüglich der noch nicht angesprochenen Änderungsvorschläge, aufgegriffen werden. Dabei wird gleichermaßen zu überlegen sein, ob und welche Auswirkungen sich aus angedachten Regelungen zur Auflösung des Exklusivitäts-Absolutheits-Verhältnisses ergeben.

V. Kritik am Heimtückemerkmal und seiner Weite 1. Strukturelle Schwächen und undogmatische Restriktionen Soweit in der Expertengruppe Einwände gegen die Heimtücke erhoben wurden, richteten sie sich gegen strukturelle Schwächen und die Weite des Merkmals. Paradebeispiel für die zu große Weite sind die „Haustyrannen-Fälle“, die dadurch gekennzeichnet sind, dass verzweifelte Frauen, die – zum Teil gemeinsame Kinder einbeziehende – jahrelange Misshandlungen durch ihren Mann (den „Familientyrannen“) ertragen haben, am Ende keinen anderen Ausweg sehen, als den Mann insbe20

Abschlussbericht (Fn. 1), S. 43. Abschlussbericht (Fn. 1), S. 43. Zu den Änderungsvorschlägen unten V.2, VI. 2. 22 Jescheck, JZ 1957, 387; Eser (Fn. 6), S. 44 ff.; AE-Leben (Fn. 4), GA 2008, 193, 242 f.; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 123 ff.; dies., in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 487 f. 23 Darauf weist Ignor, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 515 hin. 24 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 16. 25 Rengier, MDR 1979, 969, 971 f.; 1980, 1, 3 f.; ders., ZStW 92 (1980), 459, 475, 478 f. 26 AE-Leben (Fn. 4), GA 2008, 193, 242 f. 21

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sondere im Schlaf zu töten. Diese Fallgruppe macht zugleich die grundsätzliche strukturelle Schwäche der Heimtücke deutlich, ein alter Einwand, der auf Jescheck zurückgeht und kritisiert, dass die übliche Heimtückeauslegung den Starken privilegiere, weil die Heimtücke „einfach die Waffe des Schwachen und Wehrlosen gegen Übermacht, Gewalt und Brutalität“ sei.27 „Begünstigt wird“, so Grünewald in der Expertengruppe, „der körperlich überlegene Täter, der es sich leisten kann, aggressiv und offen feindselig vorzugehen. Dass Täter, die ihrem Opfer in einer solchen Weise entgegentreten (können), als weniger gefährlich oder verwerflich anzusehen sind, drängt sich ebenfalls nicht auf.“28 Zwar ist im Abschlussbericht an mehreren Stellen davon die Rede, dass es sich bei dem Haustyrannen um eine eher seltene Fallgruppe handle;29 dem wird man durchaus zustimmen können. Aber diese Einsicht darf nicht die Tatsache in den Hintergrund drängen, dass es sich nur um eine besonders plakative und bekannte Fallgruppe handelt, welche die strukturelle Schwäche der Heimtücke anschaulich offenbart. Denn der arglosigkeitsbezogene Anknüpfungspunkt ermöglicht es jedem besonders Starken und/oder besonders Bewaffneten, also jedem deutlich überlegenen Täter, das Opfer vor dem eigentlichen Angriff in den Zustand des Argwohns zu versetzen und damit das Heimtückemerkmal zu umgehen. Mit einer solchen Offenheit riskiert der in diesem Sinne wesentlich stärkere Täter in der Regel auch nichts, wenn er zum Beispiel „mit einem Revolver oder einem sonstigen tödlichen Werkzeug bewaffnet einem Unbewaffneten gegenübersteht oder wenn ein wesentlich Stärkerer einen Gelähmten oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder sonstiger Schwäche wehrlosen Menschen angreift.“30 Grünewald hat in der Expertengruppe weiter eingewandt, dem nicht (mehr) arglosen Opfer würden oftmals „Verteidigungsmöglichkeiten zugeschrieben, die wegen der (körperlichen) Überlegenheit des Täters faktisch (so gut wie) nicht realisierbar sind.“31 Man wird einwenden können, dass es zumindest eine gewisse Anzahl von Tötungen gibt, die wegen der „offenen“ Ausführung und damit zusammenhängender erfolgreicher Verteidigung gescheitert sind.32 Aber dabei handelt es sich lediglich um einen Teilbereich, der nicht genügt, um der Heimtücke typischerweise höchstes Tötungsunrecht zuzuschreiben.33 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass man im Umkreis des Arglosigkeitskriteriums ein weiteres Anwendungsfeld für die „unendliche Ausdifferenzie-

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Jescheck, JZ 1957, 387. Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 487. 29 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 42, 124, 694 f. 30 Roxin, Widmaier-Festschrift, 2008, S. 741, 743. 31 Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 487. Ebenso Meyer, JR 1979, 441, 444; Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 300 in Fn. 218. 32 Rengier, MDR 1979, 969, 972. 33 Roxin, Das systematische Verhältnis von Mord und Totschlag, in: Jahn/Nack (Fn. 18), S. 21, 24. 28

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rung“34 der Heimtücke durch die Rechtsprechung findet. So scheut sich die Rechtsprechung, dogmatisch klar bei Vorwarnungen des Opfers, die vor dem Zeitpunkt des § 22 liegen, konsequent die Heimtücke zu verneinen, wie es dem Koinzidenzprinzip entspräche. Vielmehr soll nach einer schwer durchschaubaren Rechtsprechung auch vor dem Eintritt der Tötungstat in das Versuchsstadium das Entfallen der Arglosigkeit etwa unerheblich sein, wenn die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass keine Möglichkeit besteht, dem Angriff irgendwie zu begegnen.35 Ein weiteres Beispiel für den zu weiten Heimtückebegriff, der immer wieder Ausnahmen und Restriktionen erfordert, stellen die in der Regel von tiefer Verzweiflung geprägten Fälle des missglückten Mitnahmesuizids dar. Hier nimmt der zur Selbsttötung entschlossene Täter Familienangehörige, die er liebt, mit sich in den Tod, um ihnen ein ungewisses schweres Schicksal zu ersparen.36 Zu den vergleichbar problematischen Konstellationen gehören heimliche Tötungen aus echtem Mitleid.37 Die Rechtsprechung hat diesbezüglich schon früh das Heimtückemerkmal durch das Erfordernis einer gegen das Opfer gerichteten „feindseligen“ Willensrichtung eingeschränkt.38 Dieser Restriktionsversuch reicht nicht sehr weit und soll Taten erfassen, bei denen der Täter glaubt, zum vermeintlich Besten des Opfers zu handeln. Dogmatisch schlüssig ableitbar ist die Ausnahme nicht. Welcher Totschläger kann sich schon ernsthaft anmaßen, seinem Opfer „freundlich“ gesinnt zu sein?39 Der Sache nach handelt es sich, so die berechtigte pointierte Kritik von Schneider, „um eine bloße Erfindung zur Restriktion des Mordmerkmals in emotional vordergründig anrührenden Situationen.“40 Der Notnagel „feindselige Willensrichtung“, den BGHSt 9, 385, 390 bereits 1956 erstmals bemühte, offenbarte zum ersten Mal deutlich den strukturellen Mangel der klassischen Heimtückeinterpretation, die keinen Raum für die Täterseite und Tätermotive öffnet. Schneider hat die Kritik an diesem Notnagel auch in die Expertengruppe getragen („… läuft auf eine von der Rechtsprechung ansonsten strikt zurückgewiesene negative Typenkorrektur des Mordmerkmals anhand obskurer Wertungen hinaus“).41 Seinen Einwänden stehen aber Stellungnahmen in der Expertengruppe gegenüber, die 34

So Fischer, Anwaltsblatt 2014, 883. Zur Rechtsprechung zuletzt BGH NStZ 2015, 214. Zur Kritik ausführlich Küper, GA 2014, 611 ff.; Rengier, Küper-Festschrift, 2007, S. 473 ff. In die Expertengruppe hat Deckers die Kritik gebracht (in: Abschlussbericht, Fn. 1, S. 445 ff.); der Ausnahme vom „heimtückischen Koinzidenzprinzip“ zustimmend Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 869 f. 36 BGH bei Holtz, MDR 1981, 267; StV 1989, 390. 37 Vgl. BGHSt 37, 376; BGH NStZ-RR 1997, 42; NStZ 2008, 93, 94. 38 BGHSt 9, 385, 390; 37, 376, 377; BGH NStZ 2006, 338, 339. 39 Rengier, MDR 1980, 1, 5. 40 MüKo StGB/Schneider, 2. Auflage 2012, § 211 Rn. 194. 41 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 866. 35

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das Mordmerkmal der Heimtücke für unverzichtbar halten (wie übrigens im Ergebnis auch Schneider selbst), aber zugleich betonen, man brauche dann die „feindselige Willensrichtung“ als Korrektiv für die erwähnten problematischen Fallkonstellationen.42 Abstimmungen zu diesem Restriktionskriterium gab es in der Expertengruppe nicht. Unwillkürlich fragt man sich, was man von einer angedachten Reform halten soll, die an dogmatisch äußerst fragwürdigen Restriktionen möglicherweise festhalten will. So oder so ist die Gefahr groß, dass, sollte die Heimtücke bleiben, die Rechtsprechung ihre bisherige Interpretation beibehält. Indes sollte der Gesetzgeber unter der Voraussetzung, dass er sich dem positiven Votum für die Heimtücke überhaupt anschließt, dogmatisch fragwürdigen Konstruktionen entgegentreten. Dies kann er unter der weiteren Voraussetzung, dass er sich ebenfalls für die Einführung eines minder schweren Falles des Mordes ausspricht,43 tun, indem er darauf hinweist, dass nunmehr der minder schwere Fall der richtige Standort ist, um die problematischen Konstellationen rund um das Kriterium der „feindseligen Willensrichtung“ einer schuldangemessenen Bestrafung zuzuführen. Ein viel größeres und praktisch sehr bedeutendes Restriktionspotential kommt seit langem44 und unverändert45 dem Ausnutzungsbewusstsein zu, das der Heimtücke faktisch „die Rigidität, mit der – ohne Rücksicht auf die Motivation des Täters – schon allein eine bestimmte Begehungsweise die Tötung zu Mord stempelt“,46 nimmt. Die Kritik am Element des Ausnutzungsbewusstseins deckt sich in der Sache weitgehend mit der Kritik am Gedanken der „feindseligen Willensrichtung“: „Das rechtspraktisch überaus relevante Definitionselement des Ausnutzungsbewusstseins dient der Besserstellung spontan agierender sowie affektiv erregter Täter; ihnen wird vielfach attestiert, dass sie auf Grund ihres inneren Zustands bei Vornahme der Tathandlung (möglicherweise) nicht in der Lage gewesen seien, die zutreffend wahrgenommenen äußeren Randbedingungen der Tat in ihrem Bedeutungsgehalt für die Lage des Opfers gedanklich zu verarbeiten. Freilich weiß niemand, nach welchen (Psycho-)Maßstäben das Vorliegen oder Entfallen des Ausnutzungsbewusstseins geprüft werden soll.“47 Hinter der Figur des Ausnutzungsbewusstseins verbirgt sich „nichts anderes als eine ganz und gar beliebige Billigkeitsrechtsprechung nach Art der vom Bundesgerichtshof dezidiert abgelehnten negativen Typenkorrektur.“48

42 Pisal, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 124 aus der Gender-Perspektive von Frauen als einschlägigen Täterinnen. 43 Vgl. oben IV. bei Fn. 24. 44 Siehe bereits etwa Rengier, MDR 1979, 969 f.; 1980, 1 ff.; Eser (Fn. 6), S. 46 f. 45 BGH NStZ 2014, 507 mit Anm. Schiemann, NStZ 2015, 30 f. 46 Eser (Fn. 6), S. 45. 47 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 866. 48 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 866 in Fn. 11.

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Resümierend zieht der Kritiker Schneider das Fazit: „Diesem unbefriedigenden Umstand sollte der Reformgesetzgeber ein Ende bereiten.“49 Eine Abstimmung über diese Forderung ist in der Expertengruppe aber wiederum nicht erfolgt. Dementsprechend kann auf das zur „feindseligen Willensrichtung“ Gesagte verwiesen werden: Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Beibehaltung der Heimtücke, sollte er deutlich darauf hinweisen, dass die hinter der Rechtsprechung zum Ausnutzungsbewusstsein stehenden Restriktionstendenzen nunmehr ihren Platz im neuen minder schweren Fall haben sollen. 2. Ersetzung der heimtückischen Tatbegehung „mittels eines hinterhältigen Angriffs“ oder „mittels eines hinterlistigen Überfalls“ Vor dem Hintergrund der vorstehenden Kritik hat man in der Expertengruppe Restriktionen erörtert, die mittels der Kriterien des Hinterhalts und der Hinterlist eine stärkere Konturierung anstreben. Diskutiert wurde mit drei abschließenden Abstimmungen über die Ersetzung des Abgrenzungskriteriums der heimtückischen Tatbegehung durch (1) „mittels hinterlistiger Begehung“ (abgelehnt mit null gegen sieben Stimmen bei sieben Enthaltungen), (2) „mittels eines hinterlistigen Überfalls“ (abgelehnt mit drei gegen fünf Stimmen bei sechs Enthaltungen) und (3) „mittels eines hinterhältigen Angriffs“ (angenommen mit vier zu eins Stimmen bei neun Enthaltungen).50 Bezüglich des letzten positiven Votums für den „hinterhältigen Angriff“ fällt die hohe Zahl der Enthaltungen auf. Dies könnte andeuten, dass relativ viele Experten keine klaren Vorstellungen zur Tragweite des Änderungsvorschlags hatten. Dölling führte erläuternd aus, dass von den Heimtückefällen der empirischen Untersuchung Siols51 76 Prozent auch vom Kriterium des hinterhältigen Angriffs erfasst würden; 24 Prozent fielen aber heraus, das seien Fälle, in denen der Täter das Opfer offen, aber plötzlich und unerwartet, demnach heimtückisch, angreife.52 Dies ist wohl so zu verstehen, dass mit dem Merkmal „hinterhältig“ zwar der überraschende Angriff von hinten, aber nicht derjenige von vorne (so verstehe ich das „offen“) sein soll.53 Überzeugend ist das kaum, wenn die „Überraschung“ so oder so, ob sie nun von hinten oder von vorne kommt, keine effektiven Verteidigungsmöglichkeiten eröffnet. Um eine vertiefende Interpretation des Hinterhaltbegriffs hat sich die Expertengrup49 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 112. Siehe auch die vergleichbare Kritik von Deckers, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 141 f. („Gesamtwürdigung“, keine „Vorhersehbarkeit der richterlichen Rechtsfindung“) und S. 443 („völlig unkalkulierbare, weil widersprüchliche Auslegung“). 50 Hierzu Abschlussbericht (Fn. 1), S. 44. 51 Siol, Mordmerkmale in kriminologischer und kriminalpolitischer Sicht, 1973. 52 Dölling, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 469 f. 53 Deutlich so Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 112 („Angriff von hinten sowie Locken des Opfers in einen Hinterhalt“).

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pe nicht bemüht. Schaut man in Wörterbücher, landet man unter anderem wieder beim Ausgangspunkt, nämlich der Heimtücke. So zählt der Duden54 als Synonyme zu „hinterhältig“ unter anderem „arglistig, heimtückisch, hinterlistig, tückisch“ auf. Daher ist jedenfalls im Kernbereich nicht zu erkennen, welche Konturierung der Schritt von der Heimtücke zum Hinterhalt bringen soll.55 Mehr Konturierung brächte die Übernahme des von § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB her bekannten „hinterlistigen Überfalls“.56 Denn die Hinterlist setzt ein planmäßiges Vorgehen voraus, so dass die bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit allein nicht genügt. Von daher wären Spontantaten und damit ein großer Bereich, in dem das äußerst fragwürdige „Ausnutzungsbewusstsein“ eine Rolle spielt, ausgeklammert. An wesentlichen strukturellen Schwächen würde sich aber nichts ändern. Auch das Merkmal des hinterlistigen Überfalls ist ein tatbezogenes Merkmal und klammert die Täterseite aus. Daher blieben die Probleme etwa in den Konstellationen des Familientyrannen, des Mitnahmesuizids und der Mitleidstötung bestehen. Ebenso wenig wäre die kritisierte Privilegierung des Starken57 beseitigt.

VI. Kritik an der Enge des Heimtückemerkmals 1. Ausklammerung von nicht wegen ausgenutzter Arg- und Wehrlosigkeit hilf- und schutzlosen Opfern Neben der Kritik an den geschilderten unstimmigen Bemühungen, die Weite des Heimtückemerkmals durch das Kriterium der „feindseligen Willensrichtung“ und den Gedanken des Ausnutzungsbewusstseins einzuschränken, wird zugleich eine fragwürdige Enge der Heimtücke kritisiert. Schon allein diese in entgegengesetzte Zielrichtungen gehende Kritik sollte die Zweifel an der Heimtücke verstärken. Die Heimtücke erfasst nicht die Tötung von Säuglingen, Kleinkindern und anderen hilflosen Personen (wie z. B. von nicht mehr ansprechbaren Kranken und Besinnungslosen), weil solche Opfer keinen Argwohn hegen können.58 In den Augen der Kritiker wirkt es „gekünstelt“, Kleinkinder und Bewusstlose anders zu behandeln als Schlafende und Erwachsene.59 Vielmehr erscheine auch die Tötung solch wehr-

54

www.duden.de Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 112 weist noch auf das Ziel hin, dem Definitionselement des „Ausnutzungsbewusstseins“ ein Ende zu bereiten. 56 Zur Definition BGH NStZ 2004, 93; 2007, 702; 2012, 698; Rengier, BT II (Fn. 17), § 14 Rn. 44 f. 57 Vgl. oben V.1. 58 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 112, 871; Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 488. Für Besinnungslose ist das umstritten; dazu Rengier, BT II (Fn. 17), § 4 Rn. 29a. 59 Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 488. 55

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loser Personen „höchststrafwürdig“; den „bislang defizitären Kinderschutz“ dürfe eine Reform der Tötungsdelikte nicht negieren.60 Gegen derartige Ausdehnungstendenzen wurde eingewandt, hiermit würden namentlich „sämtliche Fälle der Tötung von Neugeborenen zu Fällen des Mordes, was angesichts der besonderen Ausnahmesituationen, in der sich eine Mutter befinden könne, die ihr Kind in oder direkt nach der Geburt töte, nicht angemessen sei“.61 Nach dem geltenden Strafrecht scheidet in den letztgenannten Fällen eine heimtückische Begehungsweise aus und oft kann ein minder schwerer Fall gemäß § 212 i.V.m. § 213 StGB in Betracht kommen.62 2. Ergänzung der heimtückischen Tatbegehung um das Merkmal „Ausnutzung einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzlosigkeit“ In der Expertengruppe fanden die Überlegungen, den höchststrafwürdigen Bereich zu erweitern, eine gewisse Mehrheit. Mit sieben gegen vier Stimmen bei vier Enthaltungen sprach sich die Gruppe dafür aus, das Heimtückemerkmal um die Alternative „oder Ausnutzung einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzlosigkeit“ zu ergänzen.63 Damit würde, wie erstens zu kritisieren ist, der Strukturmangel der Heimtücke, nicht typischerweise höchststrafwürdiges Tötungsunrecht zu erfassen,64 auf das die Schutzlosigkeit einbeziehende Mordmerkmal übertragen; denn man weiß von vornherein, dass jedenfalls im Bereich der Neugeborenentötungen oft eine Strafmilderung angemessen wäre. Ein zweiter grundlegender Einwand gegen das die Heimtücke ergänzende Schutzlosigkeitsmerkmal besteht: Mit den Worten Schneiders, der sich in der Expertengruppe für die Beibehaltung der Heimtücke besonders eingesetzt hat,65 soll der tragende Grund dieses Mordmerkmals darin liegen, „dass der heimtückisch vorgehende Täter durch die Art der Tatausführung nach Perfektionierung seines Tötungsverbrechens strebt. Nachgerade deshalb wird der die Erfolgsträchtigkeit der Tat gezielt steigernde Mörder gegenüber dahinter zurückbleibenden (Spontan-)Tätern des § 212 StGB als besonders gemeinschaftsbedrohlich wahrgenommen.“66 Von all dem kann aber in den Schutzlosigkeitskonstellationen nicht die Rede sein. Hinter dem Schutzlosigkeitsgedanken steckt offenbar die Idee, dass man auf der Opferseite 60

Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 112. Zusammenfassend Abschlussbericht (Fn. 1), S. 43. Zu den Einwänden näher Pisal, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 124, 696 ff. und die dort auf S. 125 f. genannten Stimmen. Zur Diskussion ferner Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 490 f. 62 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 43. 63 Abschlussbericht (Fn. 1), S. 44. 64 Vgl. schon oben V.1. 65 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 111 ff., 121, 126 f., 128 ff., 136 f., 835 f., 864 ff. 66 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 877. 61

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nicht zwischen arglosen Personen einerseits und argwohnunfähigen schutzlosen Personen andererseits differenzieren könne. Das mag man so sehen. Nur: Wenn man das Qualifizierungskonzept mit dem Grunddelikt der vorsätzlichen Tötung und zum Mord führenden strafschärfenden Merkmalen für richtig hält, wie es die Expertengruppe mehrheitlich tut, fehlt dieses „höchststrafwürdige“, über § 212 StGB hinausgehende Merkmal bei den Schutzlosen, nämlich ein Merkmal, das in irgendeiner Weise mit der gezielt gesteigerten Erfolgsträchtigkeit der Tat bei Ausnutzung der Arglosigkeit vergleichbar ist. Darüber können Schlagworte wie „defizitärer Kinderschutz“ nicht hinweghelfen. Vielmehr soll anscheinend allein der argwohnunfähige Status als Säugling, Kleinstkind, dahinsiechender Kranker usw. den Schritt zur grundsätzlich höchststrafwürdigen Tötung legitimieren. Mit der Gleichwertigkeit allen Lebens sind solche Differenzierungen nicht vereinbar. Demnach erzeugt die beanstandete Enge der Heimtücke und die befürwortete „Lückenschließung“ durch Einbeziehung schutzloser Personen weitere Wertungswidersprüche, welche die strukturellen Mängel der Heimtücke nur bestätigen.

VII. Schluss Alles in allem gelingt es nicht, der Heimtücke Konturen zu verleihen, die es erlauben, ein Mordmerkmal zu statuieren, das in der Regel eine höchststrafwürdige Tötung kennzeichnet. Gewiss gibt es Konstellationen, die mit der Heimtücke erfasst werden und höchststrafwürdig erscheinen.67 Aber dieser Teilbereich legitimiert nicht die Heimtücke als Ganzes, als unrechtstypisierendes Merkmal. Auch mag die aktuelle Interpretation „keineswegs in Stein gemeißelt“ und es vorstellbar sein, „dass die höchstrichterliche Rechtsprechung im Interesse einer schärferen Konturierung der Heimtücke Korrekturen vornimmt.“68 Doch worin soll der Nutzen einer „Reform“ liegen, die sich für die Beibehaltung eines problematischen Mordmerkmals ausspricht und sich ohne greifbare Anhaltspunkte auf die bloße Hoffnung stützt, der Rechtsprechung werde schon irgendwie eine schärfere Konturierung gelingen? In der Expertengruppe haben sich Befürworter der Heimtücke auch auf das Heimtückemerkmal tragende gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen berufen69 und dieses Mordmerkmal „als das in der Bevölkerung präsenteste“ bezeichnet.70 Ferner sei es „unbestreitbar, dass die erdrückende Mehrheit der Rechtsgenossen die Tötung Schlafender und Anschläge aus dem Hinterhalt sowie allgemein Tötungen eines hiervon überraschten Opfers von hinten nachgerade als ,klassische‘ Kandidaten für die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Verübung eines Mordverbrechens 67

Vgl. Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 870 ff., 877, 878 f. Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 877, ergänzend S. 879. 69 Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 137. 70 Rissing-van Saan, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 138; auf dieser Linie auch Reinhard, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 143. 68

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erachten. Gleiches gilt für Fälle, in denen das Opfer mit Gift getötet wird.“71 Es falle auf, „dass die Abolitionisten mit ihrem Plädoyer für die ersatzlose Streichung der Heimtücke dieses unumstößliche sozialpsychologische Faktum konsequent ignorieren.“72 Belege für die Herkunft des behaupteten „empirischen Wissens“ fehlen. Außerdem kann die Sicht der Bevölkerung nicht der Maßstab dafür sein, was höchststrafwürdiges Unrecht ist.73 Solchen Behauptungen ebenfalls entgegen tretend betont Grünewald, die Streichung sei gesellschaftlich umsetzbar: „Den Bürgerinnen und Bürgern seien die derzeitigen Mordmerkmale, wie Umfragen gezeigt hätten, nicht bekannt.“74 Im Übrigen sehen auch die Reformvorschläge der „Abolitionisten“ die lebenslange Freiheitsstrafe vor, deren Verhängung freilich in herkömmlichen Heimtückefällen nicht an das abgelehnte Mordmerkmal geknüpft werden kann, sondern eine umfassendere Gesamtwürdigung voraussetzt.75 Überzeugende Gründe für das Überleben der Heimtücke liefert der Abschlussbericht also nicht. Unabhängig davon ist auf jeden Fall die Empfehlung zu begrüßen, den Exklusivitäts-Absolutheits-Mechanismus aufzugeben. Immerhin würde damit auch dem Mordmerkmal der Heimtücke, sollte sich der Gesetzgeber für die – nicht zu befürwortende – Beibehaltung aussprechen, seine die Reichweite betreffende Schärfe76 genommen. Ob man daran aber auch die Hoffnung knüpfen kann, die Auslegung der Heimtücke werde einfacher und berechenbarer, ist zweifelhaft. Immerhin könnte der Gesetzgeber die Rechtsprechung anregen, in Zukunft auf die Kriterien der „feindseligen Willensrichtung“ und des „Ausnutzungsbewusstseins“ zu verzichten und insoweit mit dem neuen minder schweren Fall zu operieren.77 Ob freilich die Praxis darauf einginge, ist keineswegs selbstverständlich. Denn es macht einen Unterschied aus, ob die Heimtücke bejaht und ein minder schwerer Fall des Mordes angenommen oder ob das Mordmerkmal verneint wird und von daher der Strafrahmen des Grunddelikts der vorsätzlichen Tötung mit der nur dann denkbaren weiteren Milderung gemäß § 213 StGB eröffnet ist. Vor diesem Hintergrund wäre die Prognose optimistisch, die Etablierung eines minder schweren Falls des Mordes würde an der Heimtückekasuistik und der Tendenz zu weiteren Ausdifferenzierungen78 viel ändern.

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Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 878 f. Schneider, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 879. 73 Zu Recht kritisch Ignor, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 515. 74 Grünewald, in: Abschlussbericht (Fn. 1), S. 138. 75 Zu solchen Vorschlägen siehe Abschlussbericht (Fn. 1), S. 90 (Konzeption von Deckers/ Grünewald/König/Safferling von 2015), S. 196 f. (Konzeption Eser von 1980), S. 234 f. (Konzeption AE-Leben von 2008). 76 Vgl. oben V.1. 77 Vgl. oben V.1. 78 Zuletzt festzustellen in Konstellationen der Ausnutzung der Arglosigkeit schutzbereiter Dritter (zusammenfassend Rengier, BT II, Fn. 17, § 4 Rn. 30 ff.; zu weitgehend BGH NStZ 2008, 93; 2013, 158). 72

Wider die Strafbarkeit des assistierten Suizids Henning Rosenau

Einleitung Im November 2015 wird der Deutsche Bundestag entschieden haben, ob es dabei bleiben wird, dass in Deutschland die Beihilfe zum Suizid straflos ist. Befreit vom Fraktionszwang liegen aus der Mitte des Bundestages vier Anträge vor, die die gesamte Bandbreite der derzeitigen Diskussion abbilden. Diese reichen von der schärfsten Möglichkeit, die Suizidbeihilfe gänzlich unter Strafe zu stellen, und sogar bloß die versuchte Anstiftung und die versuchte Beihilfe zum Suizid zu pönalisieren,1 bis zum Vorschlag der Bundestagsabgeordneten Hintze und Lauterbach, es alles beim Alten zu lassen und im Zivilrecht den Ärzten den assistierten Suizid zu gestatten.2 Von diesem Antrag abgesehen bestehen gegen alle Vorschläge erhebliche Bedenken. Diese finden sich in einer Resolution, in der sich – was relativ einmalig in der Geschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft ist – 151 Strafrechtsprofessorinnen und Strafrechtsprofessoren bzw. Privatdozenten wider jegliche Strafbarkeiten der Suizidbeihilfe ausgesprochen haben.3 Diese Resolution ist auf große Resonanz gestoßen.4 Ob sie in der Sache im Bundestag Erfolg haben wird, bleibt allerdings zweifelhaft. Leider haben die Verfasser der Gesetzesentwürfe den Aufruf entweder nicht zur Kenntnis genommen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen.5 Bevor ich auf die Einwände gegen eine Pönalisierung eingehe, ist die Suizidbeihilfe von anderen Formen der Sterbehilfe abzugrenzen. Denn es hat sich gezeigt, dass in der öffentlichen Diskussion bis in den Bundestag hinein die verschiedenen Formen nicht sauber auseinandergehalten werden und damit der Blick auf die rechtlichen Maßstäbe verstellt wird. 1

Ein krasser Fehlgriff, ist doch die versuchte Teilnahme überhaupt erst bei Verbrechensbeteiligungen überhaupt strafwürdig: § 30 StGB, und ist dieser Vorschlag auch systematisch in sich unstimmig, weil er die Grundtat gerade nicht als Verbrechen ausflaggt, sondern eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren vorsieht, s. Vorschlag Sensburg/Dörflinger u. a., BT-Drs. 18/ 5376. 2 Letzteres wollen auch Borasio u. a., Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben, Stuttgart 2014, erreichen, wählen dazu aber eine Konstruktion über eine strafrechtstheoretisch völlig verfehlte Annahme der grundsätzlichen Strafbarkeit der Suizidbeihilfe mit Strafausschließungs- und Rechtfertigungsgründen, a.a.O., S. 22 f. 3 Hilgendorf/Rosenau, medstra 2015, 129 ff. 4 s. nur FAZ vom 14. 5. 2015, S. 1. 5 Positive Ausnahme der Entwurf Hintze/Reimann/Lauterbach u. a., BT-Drs. 18/5374, S. 9.

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I. Klassische Formen der Sterbehilfe Also schauen wir zuerst einmal, wie die Sterbehilfe bislang verstanden wurde. Klassischerweise werden die drei Formen der indirekten, passiven sowie der aktiven Sterbehilfe unterschieden. Als vierte Kategorie spielt die Suizidbeihilfe eine Rolle. Es zeigt sich, dass die Rechtslage selbst von Abgrenzungsproblemen und Wertungswidersprüchen gekennzeichnet ist. Die neue Vermessung der Sterbehilfe in Deutschland war dringend geworden. Einen ersten Schritt dazu hat am 25. 6. 2010 der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Fall der „passiven Sterbehilfe“ getan, mit dem er Rechtsgeschichte geschrieben hat.6 Mit diesem Urteil ist die bislang gelehrte Systematik der Sterbehilfe neu justiert worden. 1. Indirekte Sterbehilfe als zulässige Form der aktiven Sterbehilfe Die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe ist in Deutschland schon seit längerem unbestritten. Dabei steht die Linderung von Schmerzen so im Vordergrund, dass eine unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf. Der Arzt darf einem im Sterben liegenden Patienten, der von Schmerzen gequält ist, hoch dosierte Schmerzmittel verabreichen und dabei in Kauf nehmen oder sicher voraussehen, dass als Nebenfolge ein früherer Tod eintritt.7 Hingegen wird wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) bestraft, wer einem Sterbenden auf dessen „ausdrückliches und ernstliches“ Verlangen gezielt eine tödliche Dosis an Schmerzmitteln injiziert, also mit Absicht den Tod herbeiführt. Das wird als Fall der aktiven (direkten) Sterbehilfe eingeordnet. Die Differenzierung ist überaus problematisch. Denn es geht in beiden Fällen darum, dass der Tod eines Patienten aktiv und vorsätzlich beschleunigt, also sehenden Auges herbeigeführt wird. Für die h.M. entscheidet sich die Abgrenzung zwischen Straffreiheit und Strafbarkeit durch die verschiedenen Vorsatzarten. Steht die Schmerzlinderung im Fokus und ist die Beschleunigung des Todeseintrittes unbeabsichtigte Nebenfolge, handelt der Arzt mit dolus eventualis oder – erkennt er die sichere Lebensverkürzung – mit dolus directus 2. Grades. Dann soll bloß eine indirekte Sterbehilfe vorliegen. Beabsichtige

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BGHSt 55, 191 ff. = NJW 2010, 2964 ff. BGHSt 42, 301, 305; 46, 279, 285. Z. T. wird von ärztlicher Seite die Relevanz der indirekten Sterbehilfe bestritten (vgl. Oduncu, MedR 2005, 516, 518; Beckmann DRiZ 2005, 252, 253 f.). Wissenschaftliche Daten der palliativmedizinischen Forschung zeigten, dass Opioide und andere Schmerzmittel die Sterbephase nicht verkürzen, sondern sogar leicht verlängern. Indes heißt es, dass es die indirekte Sterbehilfe bei korrekter Medikamentenanwendung so gut wie gar nicht gebe. Es gibt sie folglich. In der Tat herrscht unter den Palliativmedizinern selbst keine Einigkeit. Nicht in allen Fällen, etwa bei Lungenkrebs, sei eine wirksame Schmerztherapie gegen die Vernichtungsschmerzen möglich, vgl. Schöch/Verrel, GA 2005, 553, 574; Wolfslast, in: FS Schreiber 2003, S. 913, 918. 7

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der Arzt dagegen den Tod, handelt er mit dolus directus 1. Grades. Der Tod wird zur Hauptfolge. Dann liegt eine aktive Sterbehilfe vor.8 Das überzeugt schon aus strafrechtsdogmatischen Gründen wenig. Denn es gilt der Grundsatz, dass alle drei Vorsatzformen gleich zu behandeln sind.9 Die Tötungstatbestände der §§ 212 ff. StGB enthalten keine Differenzierungen in der subjektiven Tatseite. Man muss einfach akzeptieren, dass die indirekte Sterbehilfe einen besonderen Unterfall der aktiven Sterbehilfe darstellt,10 den wir für straffrei erklären. 2. Passive Sterbehilfe Die passive Sterbehilfe kommt zum einen in der letzten Lebensphase beim Sterben zum Tragen. Das Leiden des Patienten hat unumkehrbar einen tödlichen Verlauf genommen. In kurzer Zeit wird der Tod eintreten. Man spricht von der Hilfe beim Sterben. In diesem Fall ist eine ärztliche Behandlung nicht mehr indiziert. Der Sterbende hat damit auch keinen Anspruch mehr auf den Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen. Passive Sterbehilfe ist darüber hinaus auch als Hilfe zum Sterben geboten, wenn die Krankheit einen unheilbaren Verlauf angenommen hat.11 Dies gilt auch dann, wenn der komatöse Patient noch längere Zeit mit Hilfe der Apparaturen am Leben gehalten werden könnte. In diesen Fällen können lebensverlängernde, insbesondere intensivmedizinische Maßnahmen unterbleiben. Was bereits eingeleitet wurde, wie die künstliche Beatmung, kann abgebrochen werden. Der Gesetzgeber hat diese zweite Form bestätigt. Denn er hat gerade keine Beschränkung zulässiger Sterbehilfe auf die letzte Sterbephase vorgesehen. Mit der Kodifikation der Patientenverfügung am 1. 9. 200912 bestimmt § 1901a Abs. 3 BGB nun eindeutig, dass es auf Art und Stadium einer Erkrankung nicht mehr ankommt.13 Gegensätzliche Alternativanträge, die eine sog. Reichweitenbeschränkung vorsahen,14 wurden abgelehnt. Der Begriff „passive Sterbehilfe“ ist problematisch. Erstens darf der Patient in seinem Sterben nicht allein gelassen werden. Eine Basisversorgung ist zu gewährleis-

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Duttge, GA 2005, 573, 578 f. Merkel, in: FS Schroeder, 2006, S. 297, 314. 10 Rosenau, in: FS Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 577; MK-Schneider, Vor § 211 Rn. 91; Birnbacher, Tun und Unterlassen, 1995, S. 345. 11 Auch der Behandlungsabbruch kann daher Hilfe bei Sterben sein, was der Gesetzesentwurf Brand/Griese u. a., BT-Drs. 18/5373, S. 11, übersieht. 12 BGBl. I, 2286 f.; sog. Patientenverfügungsgesetz (PatVG). 13 s. dazu Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, Baden-Baden 2011, § 7 AII1. 14 Vgl. den Entwurf Bosbach, BTDrs. 16/11360 sowie Eibach, MedR 2002, 123, 138. 9

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ten.15 Das Behandlungsziel bekommt eine neue Richtung. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung sprechen davon, dass an die Stelle von lebenserhaltenden Maßnahmen palliativ-medizinische Versorgung einschließlich Maßnahmen der Pflege treten.16 Zum zweiten ist die passive Sterbehilfe gar nicht passiv. Das zeigt sich in juristischer Perspektive, wenn das laufende Beatmungsgerät per Knopfdruck abgeschaltet wird. Die herrschende Meinung wertet diese Situation zurückgehend auf einen von Roxin wieder aufgegriffenen Vorschlag als Unterlassen durch Tun.17 Warum? Nur so lässt sich die Tat als Tötung durch Unterlassen begreifen. Das Unterlassen bedarf aber einer Garantenpflicht, die den Arzt in Sterbehilfesituationen nicht mehr trifft, so dass sich das gewünschte Ergebnis ergibt: Der Arzt bleibt straflos. Im Grunde ist das ein Griff in die dogmatische Trickkiste.18 Aber an dieser Sterbehilfe ist gerade nichts passiv. Das Abschalten einer HerzLungen-Maschine verlangt nicht weniger Aktivität als das Injizieren eines Giftes. Wer ehrlich ist und das Abschalten des Respirators oder der Ernährungssonde phänomenologisch als das versteht, was es ist, nämlich positives Tun,19 kommt nicht darum herum, eine aktive Sterbehilfe anzunehmen. Die Strafrechtsdogmatik kann nicht aus einer Handlung eine Nicht-Handlung machen.20 Allerdings sind wir uns einig, dass hier nicht bestraft werden kann. Weder normativ noch nach dem sozialen Sinngehalt kann es einen Unterschied machen, auf welche Art und Weise eine Behandlungseinstellung vorgenommen wird: indem man diese erst gar nicht aufnimmt (Unterlassen) oder indem man diese später abbricht (Tun). Auch hier geht es der h. M. offenbar darum, ein richtiges Ergebnis zu bekommen, ohne in die Nähe einer Sterbehilfe durch aktives Tun zu geraten. An diesem Problem setzt nun das Urteil des BGH aus dem Jahr 2010 an. Dazu gleich mehr. 3. Beihilfe zum Suizid Die dritte Ungereimtheit findet sich, wenn die Straflosigkeit der Suizidbeihilfe der Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe gegenübergestellt wird. In Deutschland gilt der Grundsatz: keine Teilnahme ohne Haupttat. Da der Suizid straflos ist, hat 15

Schreiber, NStZ 2006, 473, 474; Hahne, FamRZ 2003, 1619, 1621. DÄBl. 2011, A 346, 347. 17 BGHSt 6, 46, 59; Roxin, in: FS Engisch, 1969, S. 380, 396; ders., in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. Stuttgart 2010, S. 75, 95. 18 Gropp, in: GS Schlüchter, S. 173, 182; Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, Gutachten C zum 66. DJT, München 2006, S. C 26. 19 Rosenau, in: FS Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 577 ff. 20 Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. Bielefeld 2003, § 15 Rn. 33. 16

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das auch die Straflosigkeit einer Beihilfe zum Suizid zur Folge. Es wird nicht bestraft, wer dem Lebensmüden ein Gift besorgt und ihm reicht, das dieser dann selbst injiziert. Auf den Grund für die Selbsttötung kommt es nicht an, es geht der dümmste Grund durch, wie ein einigermaßen durchschnittlicher Liebeskummer.21 Dagegen wird derjenige bestraft, wer auf den dringenden Wunsch aufgrund sehr plausibler und jedem Vernünftigen einleuchtender Motive des Lebensmüden für diesen die Injektion vornimmt. Die Verwirrung wird noch größer, weil die Rechtsprechung auch beim freiverantwortlichen Suizid eine Rettungspflicht konstruiert hatte und damit die Straffreistellung der Teilnahme am Suizid hinterging. Hatte der Lebensmüde das Bewusstsein verloren, sollte die Tatherrschaft zum noch anwesenden Arzt wechseln. Dieser sei als Garant sodann verpflichtet, nunmehr den Patienten zu retten. Das führte zur Groteske, dass es dem Gehilfen zunächst gestattet war, das tödliche Mittel zu besorgen, um nach Eintritt der Bewusstlosigkeit sogleich den Magen auspumpen zu müssen.22 Die Konsequenz war, dass die Ärzte den Lebensmüden entweder allein im Sterben ließen. Oder sie verwendeten Zyankali, das zwar zu einem schrecklichen Tod führt, Rettungsmöglichkeiten aber abschneidet.23 Diese Judikatur ist anerkanntermaßen überholt und wird auch von der Staatsanwaltschaft nicht mehr beachtet.24

II. Die Neuordnung der Sterbehilfe 1. Einordnung des Putz-Urteils Das Grundsatzurteil des BGH im Jahre 2010, das sog. Putz-Urteil,25 enthält zwei wichtige Aussagen. 1. räumt es mit dem in den Erfahrungen des 3. Reiches wurzelnden EuthanasieTabu auf. Viele wollen die erlaubten Sterbehilfe-Formen strikt von aktiver Sterbehilfe getrennt sehen.26 Das Putz-Urteil zeigt dagegen, dass es Situationen gibt, in denen auch die aktiv vorgenommene Tötung zulässig und geboten ist. Das wusste man bei 21

Treffend Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 14. Vgl. BGHSt 32, 367, 376. 23 Vgl. den Fall Hackethal, OLG München, NJW 1987, 2940, 2942 f. 24 Staatsanwaltschaft München I, NSrZ 2011, 347; LG Gießen, NSrZ 2013, 43, 44. Zutreffend Roxin in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 75, 108; v. Heintschel-Heinegg/Eschelbach, § 216 Rn. 5; Dölling, in: FS Maiwald 2010, S. 119, 123; Kutzer, ZRP 2012, 135, 137 f.; Saliger, medstra 2015, 132, 136; Duttge in: Prütting, Medizinrecht, 3. Aufl. 2014, § 212 StGB, Rn. 29; vorsichtiger Hillenkamp, in: FS Kühl, S. 521, 530. 25 BGHSt 55, 191 ff. = NJW 2010, 2963 ff. mit Anmerkungen von Duttge, MedR 2011, 36 ff.; Gaede, NJW 2010, 2925 ff.; Hirsch, JR 2011, 37 ff.; Kubiciel, ZJS 2010, 656 ff.; Lipp, FamRZ 2010, 1555 ff.; Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, 2011, S. 545 ff.; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286 ff.; Verrel, NStZ 2010, 671 ff. 26 Holzhauser, FamRZ 2006, 518, 524. 22

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der indirekten Sterbehilfe schon lange. Nunmehr liegt eine höchstrichterliche Entscheidung vor, die sich dieser Einsicht auch bei der sog. passiven Sterbehilfe stellt. Glasklar formuliert der „amtliche“ Leitsatz Nr. 2: „Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.“27 Respekt für diesen Mut des BGH. Zum zweiten, und wichtiger: Das auf Roxin zurückgehende „Unterlassen durch Tun“28 wird als Kunstfigur entlarvt. Damit wird die passive Sterbehilfe ad acta gelegt. Von nun an kann nur vom Behandlungsverzicht oder -abbruch gesprochen werden. 2. Von der passiven Sterbehilfe zum Behandlungsabbruch In dem Urteil ging es um eine 76 Jahre alte Komapatientin. Diese lag im Wachkoma und war nicht mehr ansprechbar. Nach fünf Jahren und einer Amputation des linken Armes war sie nur noch 1,59 m groß und auf 40 kg abgemagert. Eine Besserung dieses Zustandes war nicht mehr zu erwarten. Der Hausarzt und die Tochter hatten sich zum Behandlungsabbruch entschieden. Sie hatten die künstliche Ernährung zunächst eingestellt. Der Arzt sah keine Indikation für eine weitere Behandlung. Die Frau hatte sich nach einer Hirnblutung beim Ehemann gegenüber ihren Kindern dahin geäußert, dass sie für den Fall der Bewusstlosigkeit keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und Beatmung wünsche. Sie wolle nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen werden. Die Geschäftsleitung des Altersheimes allerdings griff ein und forderte die Betreuerin auf, die Ernährung wieder aufzunehmen. Es wurde mit einem Hausverbot gedroht und angekündigt, die Patientin eigenmächtig weiterzubehandeln. Daraufhin durchtrennte die Betreuerin den Schlauch der Sonde, mit dem die Patientin künstlich ernährt wurde. Rechtsanwalt Putz hatte dies der Betreuerin geraten. Die Patientin wurde zwar noch in ein Krankenhaus verbracht, starb dort aber wenige Tage später eines natürlichen Todes. Das Landgericht (LG) Fulda hat Rechtsanwalt Putz wegen gemeinschaftlichen versuchten Totschlags nach §§ 212, 22, 23, 25 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.29 a) Passive Sterbehilfe Zunächst fragt man sich, wie es überhaupt zu solch einem Fall kommen konnte. Denn er erfüllt eindeutig die Voraussetzungen der passiven Sterbehilfe.

27

Hervorhebung durch den Verfasser. Roxin, in: FS Engisch, 1969, S. 380, 396. 29 LG Fulda, ZfL (Zeitschrift für Lebensrecht) 2009, 97 ff. Die Einordung als Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB ist zweifelhaft, musste vom BGH aber nicht thematisiert werden, weil er Putz freigesprochen hat. 28

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aa) Art und Stadium der Erkrankung Zwar befand sich die alte Frau noch nicht in der letzten Sterbephase. Aber die Krankheit hatte bereits einen unheilbaren Verlauf angenommen. Die Frau war geistig und körperlich verfallen, so dass die zweite Stufe der passiven Sterbehilfe vorlag: Hilfe zum Sterben durfte man leisten. bb) Patientenwille Dann ist der Wille der Patientin entscheidend. Dieser kann ausdrücklich oder im Rahmen einer Patientenverfügung nach § 1901a BGB schriftlich erklärt worden sein. Fehlt es an einem solchen ausdrücklichen Willen, ist der mutmaßliche Patientenwille maßgeblich.30 Hier lag eine ausdrückliche Äußerung vor. Die alte Frau hatte künstliche Ernährung und Beatmung im Falle ihrer Bewusstlosigkeit ausgeschlossen. Das ist freilich äußerst karg geschehen. Pauschale Anordnungen, keine lebenserhaltenden Maßnahmen zu wollen oder kein behindertes Leben zu wünschen, erscheinen zu pauschal, um unmittelbare Bindungswirkung zu erzeugen.31 In Anbetracht des Umstandes, dass die Frau das mit Blick auf die Hirnblutung ihres Ehemannes geäußert hatte, ist davon auszugehen, dass ein wirklicher Wille bestand.32 cc) Betreuungsrechtliche Genehmigung Eine betreuungsrechtliche Genehmigung der Ernährungseinstellung war hier nach § 1904 Abs. 4 BGB nicht nötig. Danach sind die Betreuungsgerichte als Kontrollinstanz nur in Konfliktfällen zuständig, wenn also der Betreuer und der behandelnde Arzt unterschiedlicher Meinung sind.33 Eine generelle Kontrolle durch das Betreuungsgericht sieht das Gesetz nicht vor. b) Tradierte Rechtfertigung passiver Sterbehilfe Indem aber nun Putz bzw. die Betreuerin einschritt und den Schlauch mit der Schere durchtrennte, gerät die passive Sterbehilfe als gerechtfertigter Behandlungsabbruch an ihre Grenzen. Zur Erinnerung: es galt die Lehre vom „Unterlassen durch Tun“. Wird also eine nicht mehr indizierte oder vom Patienten abgelehnte Ernährung abgebrochen, wird dieser Knopfdruck am Schalter des Ernährungsgerätes als Unterlassen (durch Tun) gewertet. Damit ließ sich die Strafbarkeit problemlos begründen. 30

Vgl. auch BGHZ 154, 205, 211. BTDrs. 16/8442, 15. Zur Seltenheit solcher Situationen auch NK-Neumann, 3. Aufl. Baden-Baden 2010, Vor §§ 211, Rn. 119. 32 BGHSt 55, 191, 196. 33 BGHZ 154, 205, 227; BGH, NJW 2005, 2385. 31

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Denn eine Tat durch Unterlassen einer weiteren Behandlung scheidet mangels Garantenpflicht des Arztes aus. Es war hier aber nicht der Arzt, der straflos die Behandlung abgebrochen hatte. Es war ein Dritter in der Person der Betreuerin, die diesen Schritt tat, bzw. Putz als (angeblicher) Mittäter. Damit haben beide in einen fremden, rettenden Kausalverlauf eingegriffen. Der Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf ist aber nach ganz h.M. niemals ein Unterlassen, sondern immer aktives Tun!34 c) Der Behandlungsabbruch als neues Institut der Sterbehilfe Das Landgericht Fulda hätte damit richtig entschieden. Deshalb musste der BGH einen Schritt weitergehen. Und er macht diesen weiteren Schritt, verwirft die Kategorie des Unterlassens durch Tun und lässt eine – im Ergebnis begrenzte – Zulassung einer Sterbehilfe durch aktives Tun geschehen.35 Dem ist uneingeschränkt Beifall zu zollen. Der BGH erkennt in der problematischen Figur der herrschenden Meinung nun einen unzulässigen „Kunstgriff“ und räumt ein, dass diese Umdeutung zum Widerspruch mit der Realität führen muss. Die Rechtslage wird dadurch aber schwieriger. Denn man gelangt nicht mehr über eine fehlende Garantenpflicht zu einer Straflosigkeit. Der BGH bildet daher Fallgruppen, die er unter einem normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammenfasst. Der Behandlungsabbruch ist dann straflos, wenn aufgrund 1. des Patientenwillens eine Maßnahme beendet bzw. reduziert wird 36 und sich 2. die Sterbehilfehandlung auf ein medizinisches Handeln bezieht37, und zwar 3. bei einer lebensbedrohenden Erkrankung. Handeln dürfen 4. Mediziner oder deren Hilfspersonen. d) Grund der Straflosigkeit des Behandlungsabbruchs Die Sterbehilfe trägt den Grund ihrer Straflosigkeit nicht in sich selbst. Der BGH argumentiert mit der Autonomie des Patienten. Er spricht zutreffend die Kehrseite der Sterbehilfe an: wird gegen den Willen weiterbehandelt, liegt tatbestandlich eine Körperverletzung vor. Das umfassende Selbstbestimmungsrecht des Patienten über die Einleitung und Fortsetzung einer ärztlichen Behandlung entscheidet damit einerseits, ob eine strafbare Körperverletzung vorliegt. Das wäre bei fehlender Einwilligung in die Behandlung der Fall. Es entscheidet damit umgekehrt zugleich, wann die Voraussetzungen der Sterbehilfe vorliegen. 34

SSW-StGB/Kudlich, § 13 Rn. 7; Sch/Sch/Stree/Bosch, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 13 ff. Rn. 159. 35 BGHSt 55, 191, 202. So auch schon die Forderung von Gropp, in: GS Schlüchter, S. 173, 188. 36 BGHSt 55, 191, 203. 37 BGHSt 55, 191, 204.

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Indem der BGH auf die Einwilligung des Patienten abstellt, ergeben sich indes neue Probleme. Da die Sterbehilfe – wie wir gesehen haben völlig zutreffend – auch bei aktivem Tun in Betracht kommt, gerät er mit der Einwilligungssperre des § 216 StGB notgedrungen in Konflikt.38 Danach ist eine Tötung auch auf Verlangen selbst bei einer ausdrücklichen Einwilligung strafbar. Der BGH versucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem er auf die Neuregelung der §§ 1901a ff. BGB Bezug nimmt. Zunächst erstreckt der BGH die im BGB gefallenen Entscheidungen des Gesetzgebers auf die strafrechtliche Beurteilung passiver Sterbehilfe. Das kann, da das Strafrecht nur als ultima ratio überhaupt zur Anwendung kommen darf, auch gar nicht anders sein. Es gilt das Gebot der Einheit der Rechtsordnung.39 Ein Tun kann schlechterdings nicht unter Strafe stehen, wenn es zivilrechtlich erlaubt wäre. Also hat sich die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Sterbehilfe verschoben:40 „Die Neuregelung (im Betreuungsrecht) entfaltet auch für das Strafrecht Wirkung.“ Doch dann lesen wir: „Allerdings bleiben die Regelungen der §§ 212, 216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt, …“?41 Das kann nicht überzeugen. Alles, was nicht erlaubter Behandlungsabbruch ist, ist bereits nach den §§ 212, 216 StGB strafbar. Indem Putz nun anders als früher nicht mehr zu bestrafen ist, ist ohne weiteres zu erkennen, dass die Neukonzeption der Sterbehilfe mit Hilfe des Betreuungsrechts notwendig auch die Anwendung der §§ 212, 216 StGB verschiebt. Die Begründung für die Straflosigkeit beim Behandlungsabbruch liegt nicht in der Einwilligung. Tragfähiger ist ein Gedanke, den der 3. Strafsenat des BGH zur Frage der indirekten Sterbehilfe entwickelt hat. Der 3. Strafsenat: „Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen … ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“.42 Mit der Überlegung, dass vorliegend zwischen zwei Übeln abzuwägen ist – grob: Leidvermeidung versus Lebensverlängerung – ist bereits der dogmatisch zutreffende Weg gewiesen. Dieser weist auf die Notstandsregelung des § 34 StGB, bei dem es darum geht, zwischen zwei Übeln abzuwägen und das geringere zu wählen.

38 Sch/Sch/Eser/Sternberg-Lieben, Vor §§ 211 ff., Rn. 21; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, Köln 2004, S. 218; LK-Hirsch, 11. Aufl. 2003, Vor § 32 Rn. 115. 39 BGHSt 11, 241, 244; HK-GS-Duttge, Baden-Baden 2008, Vor §§ 32 Rn. 4, vgl. BTDrs. 16/8442, 8. 40 BGHSt 55, 191, 199. 41 BGHSt 55, 191, 199, vgl. auch 205. 42 BGHSt 42, 301, 305.

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Die Einwände gegen diese Lösung lassen sich entkräften. So wird erstens gesagt, § 34 StGB habe Rechtsgutskonflikte zwischen zwei Personen im Blick.43 Bei der Sterbehilfe geht es aber um ein- und denselben Patienten, es ist also nur ein Interessenträger im Spiel. Bei der Abwägung gegenläufiger interner Interessen eines Rechtsgutsinhabers wäre als Spezialfall das Institut der Einwilligung heranzuziehen. Dem steht aber gerade § 216 StGB entgegen. Wir bewegen uns im Kreis. Doch liegt hier ein Erst Recht-Schluss nahe: wenn aufgrund der Regelung des § 34 StGB in das Leben zugunsten fremder Interessen eingegriffen werden kann, dann muss dies erst recht zugunsten eigener Interessen richtig sein.44 Weder der Wortlaut der Norm noch deren systematische Stellung widersprechen der Anwendbarkeit bei einer Wertekollision desselben Rechtsgutsträgers. Zweites ist die Voraussetzung des § 34 StGB problematisch, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen muss. Ist nicht das Rechtsgut „Leben“ als verfassungsrechtlicher Höchstwert einer Abwägung nach § 34 StGB unzugänglich? Damit werden die wirklichen Güter, um die es geht, verkannt. Denn es stehen sich nicht die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht einerseits und das Rechtsgut Leben andererseits gegenüber.45 Es geht stattdessen bei der Abwägung um ein Sterben in Würde und damit um die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde, die verfassungssystematisch das Höchstwertprädikat – auch vor dem Leben – für sich beanspruchen kann.46 Zutreffend ist indes, dass trotz der Einwilligungssperre in § 216 StGB bei diesem Abwägungsprozess der geäußerte oder mutmaßliche Wille des Patienten zu berücksichtigen ist. Die Einwilligung ist ein gewichtiger Faktor bei der Rechtsgüterabwägung zugunsten eines selbstbestimmten Sterbens in Würde, weil die Autonomie des Einzelnen mitbestimmt, was dessen Menschenwürde ausmacht.47 Damit sind für die Rechtfertigung der Sterbehilfe neben der Normstruktur des rechtfertigenden Notstandes – insoweit bewege ich mich auf den BGH zu – auch Einwilligung bzw. mutmaßliche Einwilligung heranzuziehen.

43 HK-GS/Duttge, § 34 Rn. 9; Kindhäuser, StGB, 4. Aufl. 2009, § 34 Rn. 39; Engländer, Die Anwendbarkeit von § 34 StGB auf intrapersonale Interessenskonflikte, GA 2010, 15; Jakobs, Strafrecht AT 1991, 13/34; a.A. Kühl, Strafrecht AT 7. Aufl. München 2012, § 8 Rn. 34. 44 SSW-Rosenau, § 34 Rn. 15; LK-Rönnau, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 59, 61; Fischer, StGB, 63. Aufl. München 2016, § 34 Rn. 12. 45 BGHSt 55, 191, 197 f. 46 SSW-Rosenau, § 34 Rn. 21; Hufen in: Albers (Hrsg.), Patientenverfügungen, BadenBaden 2008, S. 91. 47 Vgl. Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. Stuttgart 2010, S. 75, 88.

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III. Entwicklungen bei der Suizidbeihilfe 1. Gesetzesentwürfe zur Einführung einer Strafbarkeit der Suizidbeihilfe Seit 2005 haben sich Sterbehilfeorganisationen in Deutschland etabliert, oftmals als Ableger Schweizer Einrichtungen wie DIGNITAS oder EXIT. Die Politik zeigte sich alarmiert und reagierte auf diese Entwicklung mit der Forderung nach der Bestrafung einer solchen Tätigkeit. In der letzten Legislaturperiode lag ein Entwurf der Bundesregierung vom 22. 10. 201248 zur Schaffung eines neuen § 217 StGB-E, des Tatbestands der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung, zur Diskussion. Er hat folgenden Wortlaut: „(1) Wer absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ein nicht gewerbsmäßig handelnder Teilnehmer ist straffrei, wenn der in Absatz 1 genannte andere sein Angehöriger oder eine andere ihm nahestehende Person ist.“

Der Entwurf scheiterte, weil konservative Kräfte innerhalb der CDU/CSU noch mehr wollten und das Verbot jeglicher organisierter Sterbehilfe forderten.49 Das hat die Debatte in die derzeitige Legislatur überführt. Da man richtigerweise den Fraktionszwang aufgehoben hat, haben sich die Parlamentarier über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammengefunden und aus ihrer Mitte heraus Überlegungen entwickelt. Es liegen nunmehr vier Gesetzesentwürfe vor, die in der zweiten Lesung am 2. 7. 2015 beraten wurden50 und am 6. 11. 2015 zur endgültigen Abstimmung anstanden: 1. Der Entwurf der Abgeordneten Brand und Griese u. a., die die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellen wollen.51 2. Der Entwurf der Abgeordneten Sensburg, Dörflinger u. a., die jegliche Form der Suizidbeihilfe als Straftat einstufen und nicht davor zurückschrecken, selbst die versuchte Anstiftung bzw. versuchte Beihilfe, die sonst nur bei einem Verbrechen unter Strafe steht (§ 30 StGB), zu pönalisieren.52 3. Der Entwurf der Abgeordneten Künast, Sitte u. a., die grundsätzlich die Suizidbeihilfe straflos sehen, allerdings die gewerbsmäßige Form pönalisieren wollen.53 4. Schließlich der Entwurf der Abgeordneten Hintze, Reimann und Lauterbach u. a., die es bei der bisherigen Straflosigkeit belassen wollen, das StGB also nicht an48

BT-Drs. 17/11126. DÄ 2013, 110 (4), A 112; vgl. auch http://www.rp-online.de/politik/deutschland/unionwill-gesetz-zur-sterbehilfe-verschaerfen-1.3113671 (zuletzt abgerufen am 08. 08. 2015). 50 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/115. 51 BT-Drs. 18/5353. 52 BT-Drs. 18/5376. Zur Kritik s. Fn. 1. 53 BT-Drs. 18/5375. 49

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rühren, im Zivilrecht allerdings eine Regelung in § 1921a BGB einfügen wollen, nach der es den Ärzten unter bestimmten Kautelen gestattet ist, beim Suizid zu assistieren.54 151 deutsche Strafrechtswissenschaftler haben gegen alle Pönalisierungsbestrebungen deutlich Widerspruch eingelegt;55 denn diese sind 1. ahistorisch, 2. undogmatisch, 3. verfassungswidrig und 4. medizinethisch wie rechtspolitisch verfehlt.56 a) Der Einwand der Unhistorizität Schon in der Antike wurde der Suizid überwiegend nicht als Straftat angesehen, teils genoss er sogar den Status als natürliches Recht jedes freien Menschen. Erst seit Aufkommen der christlichen Theologie und im Kirchenrecht wurde der Suizid als Unrecht gewertet, das aber nur Kirchenbußen zur Folge hatte.57 Rechtlich ist der Suizid in Deutschland schon Jahrhunderte toleriert worden. Bereits die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. aus dem Jahr 1532 (Carolina) behandelt den Suizid nicht als Straftat.58 Dennoch wurde der Suizid auch noch bis über die Zeit der Aufklärung hinweg teilweise als straffrei, aber rechtswidrig angesehen.59 Das StGB kennt ebenso keine Strafbarkeit des Suizids bzw. Suizidversuchs. Seit 1813 verzichtet Bayern, seit 1851 Preußen auf jede Sanktion bei der Selbsttötung. Auch der Reichsgesetzgeber entschied sich 1871 beim RStGB gegen die Strafbarkeit auch der Anstiftung und der Beihilfe zum Suizid. Selbst die Nationalsozialisten, die den Suizid als Pflichtverletzung gegen den Staat sahen, beließen es dabei.60 Mit der Strafnorm des § 217 StGB n. F. wird damit in Deutschland erstmals im Bereich des Suizids eine Strafnorm geschaffen. Eine tragfähige Begründung, die einen solchen historischen Systemwechsel gerechtfertigt erscheinen lassen könnte, lässt sich freilich nicht ausmachen. b) Der Einwand der Systemwidrigkeit, des Undogmatischen Der allgemeinen Strafrechtsdogmatik folgend kommt wegen der Akzessorietät der Teilnahme, die stets eine vorsätzlich begangene, rechtswidrige Haupttat voraussetzt (vgl. §§ 26, 27 StGB), eine Bestrafung wegen Beihilfe zum Suizid mangels Haupttat schon aus dogmatischen Gründen nicht in Betracht.61 Eine Pönalisierung

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BT-Drs. 18/5374. Hilgendorf/Rosenau, medstra 2015, 129 ff. 56 Dazu im einzelnen Rosenau/Sorge, NK (Neue Kriminalpolitik), 2013, 108 ff. 57 Vgl. den historischen Rückblick bei Dreier, JZ 2007, 317 f. 58 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 5. 59 Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 5 ff. 60 Hillenkamp FAZ vom 14. 5. 2015; Henking, JR 2015, 174. 61 Zu Recht ist die Gegenansicht von Bringewat, ZStW 87 (1975), 623, 649 ohne Gefolgschaft geblieben. 55

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der Beihilfe ist folglich im Grundsatz systemwidrig und daher abzulehnen.62 Das hat auch der Deutsche Juristentag 2006 in Stuttgart mit großer Mehrheit so gesehen und auf meinen Vorschlag hin sich ausdrücklich gegen entsprechende Vorschläge ausgesprochen: „Die Poenalisierung der Teilnahme am Suizid ist – den Regeln der allgemeinen Strafrechtsdogmatik folgend – abzulehnen.“63 Es finden sich im StGB nur wenige Konstellationen, die mit der Beihilfe ohne strafbare Haupttat systematisch eine gewisse Ähnlichkeit verbinden. Es geht dabei um das Verleiten, das als besondere Handlungsform in drei Fällen für sich genommen unter Strafe gestellt wird – ohne dass die Anknüpfungstat selbst, zu der verleitet wird, bestraft werden kann. Das Merkmal des Verleitens nutzt der Gesetzgeber dann, wenn eine mittelbare Täterschaft nicht möglich ist – z. B. beim Verleiten zur uneidlichen Falschaussage nach § 160 StGB, die ein eigenhändiges Delikt darstellt mit der Konsequenz, dass § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB, die mittelbare Täterschaft, nicht angewendet werden kann. Das ist bei § 212 StGB aber gerade nicht der Fall, so dass die Konstellation eines Verleitens schon durch die allgemeine Zurechnungsnorm des § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB erfasst wird, also das Verleiten zum Suizid ohne freie Selbstbestimmung bestraft werden kann. Das Verleiten wird zweitens auch dann genutzt, wenn der Gesetzgeber meint, die Teilnahme sei in einem speziellen Bereich über die Strafbarkeit der regulären Anstiftung hinaus zu verschärfen – wie beim Verleiten eines Untergebenen zu einer Straftat: § 357 StGB. Dieser Ansatz passt hier ebenfalls nicht, weil mit der Strafbarkeit nach §§ 212, 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB bei einem Verleiten zum Suizid schon die Höchststrafe von 15 Jahren verhängt werden könnte, eine Verschärfung also gerade nicht nötig ist. Drittens wird das Verleiten eingesetzt, wenn die Teilnahmehandlung zum selbständigen Tatbestand erhoben wird, weil die Haupttat aus kriminalpolitischen Gründen straflos bleibt. Das ist beim Verleiten zur Selbstbefreiung von Gefangenen der Fall (§ 120 Abs. 1 StGB). Da hier eine Teilnahme an einer straflosen Haupttat unter Strafe gestellt wird, könnte man insoweit eine Parallele zum Gesetzesvorschlag Brand/Giese ziehen. Allerdings ist unstreitig, dass bei der Gefangenenbefreiung ein schützenswertes Rechtsgut, nämlich die legitime Verwahrungsgewalt des Staates,

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Bottke, R & P 1993, 174, 181; a.A. Dölling, in: FS Maiwald, S. 119, 129 f. Dieser Beschluss wurde mit dem Stimmenverhältnis 51:34:24 angenommen, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages, Verhandlungen des Sechsundsechzigsten Deutschen Juristentages, Band II/2, 2006, N 204 u. N 207. Freilich hatte sich die Abteilung unmittelbar zuvor auch dafür ausgesprochen, die Förderung einer Selbsttötung aus Selbstsucht oder bei Ausbeutung einer Zwangslage unter Strafe zu stellen, a.a.O. Beide Beschlüsse stehen erkennbar perplex gegeneinander, was zugleich ein bezeichnendes Licht auf die Weisheit des Deutschen Juristentages wirft. 63

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besteht, auch wenn wir den Gefangenen selbst nicht bestrafen.64 Das ist bei der freiverantwortlichen Selbsttötung gerade nicht der Fall, wie gleich zu zeigen sein wird, so dass auch die Gleichsetzung zu § 120 StGB hinkt. Die Strafbarkeit der Beihilfe zum in Deutschland straflosen Suizid wäre somit ein dogmatisches und systematisches Unikum wie Monstrum. c) Der Einwand der Verfassungswidrigkeit aa) Verfassungsgüter Die Straflosigkeit des Suizids findet ihren normativen Grund in der Verfassung. Sie ist Ausdruck der verfassungsrechtlich gewährten Autonomie des Einzelnen. Die überholte Gegenposition65 würde eine Lebenspflicht begründen, die es nicht gibt.66 Es wäre eine Verkürzung und nicht eine Verstärkung der Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes (GG).67 Somit ist der Ausschluss der Strafbarkeit von Suizid und Suizidversuch sogar verfassungsrechtlich geboten. Umstritten ist, ob aus der Verfassung auch ein Recht auf Suizid folgt. Ausdrücklich ist es nicht verbürgt. Das BVerfG hat dazu nicht Stellung genommen. Da aber die Selbstbestimmung in den letzten Jahren eine beachtliche Aufwertung erfahren hat, insbesondere in unserem Putz-Fall aus dem Jahr 201068 und im Patientenverfügungsgesetz aus dem Jahr 200969, ist die Frage zu bejahen.70 Was für den Fall des Behandlungsabbruchs gilt, muss für den ernstlichen und wohldurchdachten freiverantwortlichen Willen zum Suizid genauso gelten. Nun könnte man die Hilfe zum Suizid anders sehen als den Suizid per se. Doch wird bei einem Verbot zur Hilfe das Grundrecht auf Suizid in seinem Wesensgehalt tangiert, jedenfalls in den Fällen, in denen der Suizident auf fremde Hilfe angewiesen ist. Vor allem aber beachtet der Vorschlag nicht die Grenzen rechtmäßigen Strafrechts. Voraussetzung einer verfassungskonformen Strafnorm ist, dass diese dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient. Nur dann kann sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen und die drohende Freiheitsentziehung rechtfertigen, 64

Entsprechendes gilt für § 323b StGB (Rechtsgut ist die Rechtspflege im weiteren Sinne) bzw. § 328 Abs. 2 Nr. 4 StGB (Rechtsgut ist der Schutz von Leben, Gesundheit etc. vor nuklearen Gefahren). 65 In diesem Sinne BGHSt (GrS) 6, 141, 153: niemand dürfe selbstherrlich über sein Leben verfügen. Bedenklich rückschrittlich auch BGHSt 46, 279, 285; erneut Lüttig, ZRP 2008, 57, 58. 66 Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 49 f.; Dreier JZ 2007, 317, 319 m.w.N. 67 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 82. 68 BGHSt 55, 191 ff. 69 PatVG vom 29. 07. 2009, BGBl. I, 2286 f.: §§ 1901a ff. BGB. 70 Matthes-Wegfraß, Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 2013, S. 121; Saliger, medstra 2015, 132, 135 m.w.N.

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die einen Eingriff in die persönliche Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darstellt.71 Schon hinsichtlich des geschützten Rechtsguts bestehen bei der Suizidbeihilfe Zweifel. Denn wer sein Recht auf Suizid verwirklicht, muss sich dabei auch helfen lassen können.72 Das Leben als Individualrechtsgut des freiverantwortlich handelnden Suizidenten kann gerade nicht geschütztes Rechtsgut sein.73 Es fehlt schlicht an einem schützenswerten Rechtsgut, an dem eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anknüpfen könnte.74 bb) Gewerbs- oder geschäftsmäßiges Handeln An diesem Befund ändert das gewerbsmäßige oder geschäftsmäßige Handeln nichts. Überhaupt erscheint es systematisch verfehlt, mit rein strafschärfenden Merkmalen wie der Gewerbsmäßigkeit Strafbarkeiten zu konstituieren.75 Der Begriff der Gewerbsmäßigkeit ist auch deshalb in hohem Maße problematisch, weil nicht auszuschließen ist, dass auch Ärzte gewerbsmäßig handeln und daher von der Strafnorm erfasst werden. Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von gewisser Dauer und gewissem Umfang verschaffen will.76 Zwar sehen die einschlägigen Gebührenordnungen nicht vor, dass die Suizidbegleitung als eigenständige Leistung abgerechnet wird. Da sich diese aber im ärztlichen Alltag gar nicht von den allgemeinen ärztlichen Leistungen und Beratungen, die im Zusammenhang mit den Entscheidungen am Lebensende stehen, trennen lassen, ergibt sich bereits durch die allgemeine ärztliche Vergütung ein gewerbsmäßiges Handeln dann auch einer daran anschließenden Suizidhilfe.77 Dasselbe Strafbarkeitsrisiko tritt für die Ärzte ein, wenn der noch weitere Begriff der Geschäftsmäßigkeit zum Anknüpfungspunkt für eine Strafbarkeit hergenommen wird.78 Dabei kommt es nicht mehr darauf an, dass das Handeln auf die fortlaufende Erzielung eines Gewinns gerichtet ist. Geschäftsmäßig handelt ein Täter, der seine Handlung in gleicher Art zu wiederholen gedenkt und sie dadurch zu einem dauernden oder wenigstens zu einem wiederkehrenden beruflichen Bestandteil seiner wirtschaftlichen Betätigung macht.79 Von dieser Definition abweichend wird teilweise 71

BVerfGE 120, 224, 239. A.A. Sowada, ZfL 2015, 34, 37. 73 Das konzedieren auch die Verfasser des AE-StB, die gleichwohl die gewinnsüchtige Suizidbeihilfe unter Strafe gestellt sehen wollen, vgl. Schöch/Verrel u. a., GA 2005, 553, 582. 74 Wie hier Henking, JR 2015, 174, 175. 75 Feldmann, GA 2012, 498, 507; Fischer, StGB, 60. Aufl. München 2012, § 217-E, Rn. 4; Saliger, medstra 2015, 312, 138. 76 BT-Drs. 17/11126, 9; allgemeine Definition, vgl. Matt/Renzikowski/Saliger, Strafgesetzbuch, 2013, § 263 Rn. 316 m.w.N. 77 Das Strafbarkeitsrisiko sieht auch Schreiber, NStZ 2006, 473, 478. 78 So im Antrag Brand/Griese, BT-Drs. 17/5373, S. 15. 79 RGSt 61, 47, 51 f.; BGH NJW-RR 2005, 286, 287; BayObLG NStZ 1981, 29; Lackner, in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., Vor § 52 Rn. 20; Lüttig, ZRP 2008, 57, 59; Sch/Sch/ Sternberg-Lieben/Bosch, Vorbem. § 52 Rn. 97. 72

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eine wirtschaftliche oder berufliche Komponente der Tätigkeit nicht verlangt.80 Dieser Umstand dürfte vor allem auf ein leicht differenziertes Verständnis des Begriffes der Geschäftsmäßigkeit in verschiedenen Gesetzen zurückzuführen sein.81 Eine wiederholte Begehung muss nicht vorliegen, die einmalige Tat in Verbindung mit der Absicht, diese zu wiederholen, genügt.82 Es wird aber deutlich, dass jeder Arzt, der mehr als einmal im Leben seinen Patienten beim Suizid zur Seite zu stehen beabsichtigt, schnell in die Definition der Geschäftsmäßigkeit fällt und daher einem hohen Strafbarkeitsrisiko unterliegt. Das wird vom Gesetzesvorschlag Brand/Griese u. a. in geradezu palliativ-medizinischer Manier bemäntelt, wenn es heißt, dass der Entwurf die Suizidhilfe in einer schwierigen Konfliktsituation im Einzelfall nicht kriminalisieren will.83 Denn wenn der Arzt bei mehr als einem Patienten eine solche schwierige Konfliktsituation diagnostiziert, kann er diesen nicht mehr helfen, ohne bei sauberer Subsumtion geschäftsmäßig zu handeln und sich somit strafbar zu machen! Dogmatisch ist einzuwenden, dass die Geschäftsmäßigkeit (wie auch die Gewerbsmäßigkeit) für sich allein genommen eine Strafnorm keinesfalls rechtfertigen kann.84 Stets bedarf es eines Rechtsguts, das in geschäftsmäßiger Manier angegriffen wird. Ein solches Rechtsgut weisen alle Straftatbestände auf, in denen die Geschäftsmäßigkeit Tatbestandsmerkmal ist, wie § 206 Abs. 1 StGB (Verletzung des Postoder Fernmeldegeheimnisses) oder im nebenstrafrechtlichen Umfeld etwa die §§ 4 Nr. 10 PostG, § 3 Nr. 10 TKG; § 29 BDSG, § 1 BPefG, § 8a StVG, § 46 Abs. 4 S. 1 AO, § 2 StBerG, § 1 PAngV, § 1 AusSG und § 5 AdVermiG. cc) Gefahrenpotential Die Entwürfe argumentieren nun mit abstrakten Gefahren für das Leben potentieller Suizidenten. Diese seien in ihrem Suizidentschluss keineswegs gefestigt und könnten sich kurzentschlossen oder unter gefühltem Druck zu einem Suizid hinreißen lassen.85 Allerdings hat diese Einschätzung keinen realen Boden und wird ins Blaue hinein behauptet.86 Es ist daher verfassungsrechtlich ungenügend, wenn sich die Beurteilung lediglich auf einen pauschalen Vergleich mit Sterbehilfezahlen aus dem Ausland und vage Befürchtungen stützt. Die tatsächlichen Zahlen entkräften 80

BR-Drs. 230/06, S. 4; BGH NJW 1986, 1051 f.; Fischer, StGB, 63. Aufl., Vor § 52 Rn. 63; Schliemann, ZRP 2013, 51, 52. 81 Siehe dazu BR-Drs. 230/06, S. 6 f.; BT-Drs. 18/5373, S. 2; BT-Drs. 17/11126, S. 1, 6 f. m. w. N. 82 RGSt 61, 47, 51 f.; Fischer, StGB, 63. Aufl., Vor § 52 Rn. 63; Sch/Sch/Sternberg-Lieben/Bosch, Vorbem. § 52 Rn. 97. 83 BT-Drs. 18/5373, S. 1. Zur Kritik s. auch Rosenau, BayÄBl. 3/2016. 84 Sowada, ZfL 2015, 34, 43. 85 So bereits der alte Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 17/11126, 9, 6 f. 86 Henking, JR 2015, 174, 180.

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ganz im Gegenteil einen Zusammenhang von Sterbehilfeorganisationen mit dem Ansteigen von Suiziden. Die Suizidzahlen in Deutschland pendeln um 10.000 Fälle pro Jahr.87

Während aber die Entwicklung von 2007 bis 2010 leicht steigend war, sanken im selben Zeitraum die Zahlen der Inanspruchnahme von Suizidbegleitung durch „Dignitas“. Zwar stiegen die absoluten Zahlen bis 2011 auch bei „Dignitas“ wieder an.

Blickt man jedoch auf die Methoden und stellt die Zahl an Suiziden durch Erhängen, Strangulieren und Ersticken88 der Einnahme von Pharmaka, der gängigsten Methode der Sterbehilfeorganisationen, gegenüber, sind diese Zahlen im selben Zeitraum insgesamt leicht rückläufig gewesen. Der Einfluss der Sterbehilfeorganisatio87 Statistisches Bundesamt, Zahlen unter http://de.statista.com/statistik/daten/studie/ 75844/umfrage/selbstmorde-in-deutschland-seit-2000/ (zuletzt abgerufen am 08. 08. 2015). 88 ICD-10, Diagnoseschlüssel X70.

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nen ist auch allein deshalb schon minimal, weil deren Anteil an allen Suiziden unter 2 %-Punkt liegt. Besteht also keine begründbare abstrakte Gefahr, fehlt es am legitimen Zweck des Gesetzes. Es ist unverhältnismäßig. In gleicher Weise lässt sich kein Gefährdungspotential mit Blick auf das Ausland ausmachen. Teilweise wird indes auf die Entwicklungen in den Niederlanden verwiesen, wonach die Zahlen der Tötung auf Verlangen – die aber gerade zur Suizidbeihilfe abzugrenzen ist – etwa seit 2007 berechnet auf 1.000 Todesfälle im Jahr deutlich angewachsen sind. Von 12 ist die Häufigkeitsziffer auf 28,2 Fälle der Tötung auf Verlangen im Jahr 2012 signifikant gestiegen.89 Ist damit der Damm gebrochen, und wäre das gleiche Szenario zu befürchten, wenn die Suizidbeihilfe wie bislang schon straflos bliebe? Das verkennt völlig den demographischen Hintergrund dieses Anstieges. Denn in den Niederlanden hat es mit einer vergleichbaren Steigerungskurve zum Jahr 1946 hin einen Babyboom – nach Ende des 2. Weltkrieges – gegeben. Diese hohen Jahrgänge befinden sich derzeit in dem Alter, in dem die aktive Sterbehilfe in den Niederlanden am häufigsten stattfindet, nämlich in der Altersgruppe von 65 bis 69 Jahren,90 überwiegend bei Krebspatienten. Das bedeutet aber auch, dass in den letzten Jahren wegen der altersmäßig anderen Zusammensetzung der holländischen Bevölkerung sich auch das Verhältnis der Todesursachen verschieben musste. Da die Alterskohorte der 65 bis 69-Jährigen deutlich gegenüber anderen Altersstufen zugenommen hat, sterben derzeit beispielsweise in den Niederlanden zwangsläufig anteilsmäßig weniger Menschen aufgrund von Autounfällen als früher, und es muss bei 1.000 Sterbefällen der Anteil der Tötungen auf Verlangen aufgrund der Verschiebungen in der Alterspyramide zugenommen haben, und zwar muss dieser Anteil wegen des enormen Anstiegs der Geburtenrate im Jahr 1946 signifikant zugenommen haben.91 Und dieser Anstieg muss, wenn in Wahrheit wie in den Jahren 1990 bis 2010 ein stabiles Niveau festzustellen ist,92 noch bis in das Jahr 2016 andauern, weil dann der Jahrgang 1946 69 Jahre alt sein wird, also sich in einem Alter befindet, in welchem die aktive Euthanasie überwiegend gewünscht wird. Dass ein Dammbruch gerade nicht stattfindet, zeigen schließlich auch die Zahlen des assistierten Suizids, um den es vorliegend geht, in den Niederlanden wie im Bundesstaat Oregon der USA: hier lässt sich ein gleichbleibendes Niveau über die letzten zehn Jahre konstatieren.93 dd) Strafbarkeitslücke Ebenso wenig lässt sich eine Strafbarkeitslücke ausmachen. Fehlt es an einer Freiverantwortlichkeit des Lebensmüden, greift die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tö89

Nachgewiesen bei Borasio u. a., The Lancet 2014, Vol. 384, S. 127. Griffiths/Bood/Weyers, Euthanasia & Law in the Netherlands, 1998, S. 203. 91 Diesen Hinweis verdanke ich stud. iur. Patrick Mayer in meinem Seminar „Rechtsfragen am Lebensende“ 2015 in Sion. 92 Onwuteaka-Philipsen/Brinkman-Stoppelenburg u. a., The Lancet 2012, Vol. 380, S. 908 ff. 93 Borasio u. a., The Lancet 2014, Vol. 384, S. 127. 90

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tung gem. § 222 StGB, bei Vorsatz sogar wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 212, 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB. Tatsächlich reagieren die drei „strafrechtlichen“ Entwürfe auf gesellschaftlich geäußerte Empörung und erheben bloße Moralvorstellungen zum Maßstab des Strafrechts.94 Das verstößt gegen das „ultima ratio“Prinzip im Strafrecht, welches zuletzt das BVerfG in seiner Inzest-Entscheidung nochmals dem Gesetzgeber als Grenze für das Strafrecht in das Stammbuch geschrieben hat.95 d) Der medizinethische Einwand Rechtspolitisch sind die kriminalisierenden Entwürfe verfehlt, weil die Kriminalisierung von Sterbehilfeorganisationen Suizidwillige in den Brutal-Suizid drängt. Es geht vom Entwurf das fatale Signal aus, dass sich zwar jeder Mensch in Deutschland das Leben nehmen darf, dass er sich dazu aber von der Brücke zu stürzen, vor den Zug zu werfen oder den Strick zu nehmen habe. Es verwundert, dass sich diese aufdrängende Konsequenz allenthalben verdrängt oder verschwiegen wird. Sie ist medizinethisch in hohem Maße zweifelhaft; denn gerade die Lebensmüden brauchen Unterstützung statt Abwendung.96 Umso erstaunlicher ist, dass auch die deutsche Ärzteschaft die Strafbarkeit fordert und in ihrem Satzungsrecht – § 16 MBO-Ä – vorschreibt, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen.97 Die Festlegung ist schon rechtlich zweifelhaft, weil sie in die Rechtssphäre des Einzelnen und dessen Selbstbestimmung eingreift und damit über die Satzungshoheit der Ärzteschaft hinausreicht.98 Aber auch inhaltlich kann diese Selbstbeschränkung nicht überzeugen. Gerade die Ärzte haben die nötige Empathie, pflegen zumeist eine persönliche Bindung zum Patienten und verfügen über das nötige fundierte medizinische Wissen99, das für einen würdevollen Suizid erforderlich ist.100 So bleibt die Tätigkeit der Sterbehilfe-Organisationen. Diese können durchaus segensreich wirken. Im Ergebnis kann deren Begleitung dazu führen, dass der Suizid-

94 In diesem Sinne auch Saliger, ZRP 2008, 199. Vgl. Merk, die von „Unbehagen“ spricht, in: FS Gauweiler 2009, S. 457, 460. 95 BVerfGE 120, 224, 239 f. 96 Hillenkamp, in: FS Kühl, S. 521, 536; Sowada, ZfL 2015, 34, 40. 97 DÄBl 2011, 108 (38), A 1980, A 1984. Dazu Wenker, Ethik Med (2013) 25: 73 ff.; ablehnend Wiesing, Ethik Med (2013) 25: 67 ff. Diese Orientierungsvorschrift ist allerdings nur in 10 von 17 Landesärztekammern umgesetzt worden, zwei Kammern haben daraus eine Soll-Vorschrift gemacht; die übrigen Kammern haben abweichende, liberalere Regelungen getroffen. 98 Freund, in: FS Bohl, S. 569, 579; a.A. wohl Duttge MedR 2014, 621, 625. 99 Lorenz, MedR 2010, 823, 827. 100 Vgl. Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, 2012, Bd. 2, 1033, 1052; Schreiber, in: FS Jakobs, S. 615, 622; ders. in: ders., Schriften zur Rechtsphilosophie, zum Strafrecht und zum Medizin- und Biorecht, 2013, S. 489, 493.

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willige von seinem Suizidwunsch Abstand nimmt oder sich bereitfindet, in ein Hospiz zu ziehen und dort zu sterben.101

IV. Schluss Wir haben zwei völlig gegenläufige Entwicklungen in Deutschland gesehen. Das Putz-Urteil stellt die Sterbehilfe auf völlig neue Füße und erweitert im Sinne der Autonomie der einzelnen die Sterbehilfe. Dagegen kämpft die Politik in Deutschland gegen zu viel Autonomie an, was sich darin zeigt, dass eine Hilfe beim Suizid ahistorisch wie adogmatisch und – wie ich meine – auch unethisch zurückgedrängt wird, indem man Suizidhilfeorganisationen und die Suizidbeihilfe insgesamt, auch bei Wahrnehmung durch die Ärzte, kriminalisieren will. Leider ist der Freiheitsgedanke auf der Strecke geblieben und die große Mehrheit der deutschen Strafrechtswissenschaft hat sich nicht durchsetzen können, die jede Kriminalisierung des assistierten Suizids ablehnt. Die reaktionären Kräfte haben dem Entwurf Brand/Giese am 6.11.201 im Deutschen Bundestag zur Mehrheit verholfen.102

101

Zu entsprechenden Erfahrungen aus Oregon Kreß, Patientenverfügungen, assistierter Suizid und Präimplantationsdiagnostik 2011, S. 39. 102 Mit 360 Stimmen gegen 233 Gegenstimmen bei 9 Enthaltungen. § 217 StGB n. F. ist am 10. 12. 2015 in Kraft getreten.

(Medizinisch) assistierter Suizid aus juristischer und ethischer Sicht Ulrich Schroth

I. Die medizinische Situation Anfang des 21. Jahrhunderts Fortschreitend verlaufende chronische Krankheiten, zentral Herz-Kreislauf-, Krebs- und Lungenerkrankungen, stellen in der heutigen Zeit die häufigste Todesursache in Europa dar.1 Die moderne Medizin ist vielfach nicht in der Lage, diese Krankheiten zu heilen, sie vermag aber oft deren Verlauf deutlich zu verlangsamen. Gerade die Möglichkeiten einer Lebenserhaltung am Lebensende durch Intensivmedizin haben sich erheblich verbessert.2 Diese Entwicklung in der Medizin hat nicht nur dazu beigetragen, dass sich die Lebenserwartung seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat, sondern hat auch eine enorme Bedeutung für den Umgang mit den Tod. Der Grundsatz „mors certa, ora incerta“ wurde jedenfalls in Teilen außer Kraft gesetzt.3 Der Eintritt des Todes ist nach wie vor sicher, der Todeszeitpunkt ist über Intensivmedizin häufig veränderbar. In einer großen europäischen Studie, die über 20000 Todesfälle untersuchte, wurde festgestellt, dass nur in einem Drittel der Fälle der Tod völlig unerwartet auftrat; bei zwei Dritteln der Todesfälle war der Tod absehbar.4 Die Tatsache, dass der Tod absehbar ist, führt bei tödlich Kranken zu dem Wunsch, über die Art und den Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen.5 Hinzu kommt, dass in der heutigen Zeit für das Menschenbild Freiheit und Eigenverantwortlichkeit bestimmend sind. Kirche und Religionsgemeinschaften haben im Hinblick auf das Lebensende nicht mehr die gleiche Autorität, wegweisend zu sein, wie 1 Vgl. insoweit auch Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa, Faktenblatt: Häufigste Todesursachen in Europa, http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0020/ 185312/Leading-causes-of-death-in-Europe-Fact-Sheet-Ger.pdf?ua=1 (zuletzt aufgerufen am 18. 04. 2016). 2 Jox, Sterben lassen: Über Entscheidungen am Ende des Lebens, Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2011, S. 14 ff. m.w.N. 3 So richtig ebd., S. 14 ff. 4 Van der Heide A., Deliens L., Faisst K., et al. End-of-life decision-making in six European countries: descriptive study. Lancet. 2003; 362 (9381): 345 – 350. 5 Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt: Rechtsgutachten zum Verbot organisierter Sterbehilfe, Norderstedt: BoD – Books on Demand GmbH, 2015, S. 22 ff.

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noch vor hundert Jahren. Auch die handlungsleitende Funktion des vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patient hat in einer Medizin, die durch Arbeitsteilung, Professionalisierung und Ökonomisierung geprägt ist, an Bedeutung verloren.6

II. Juristischer Handlungsspielraum Weithin in der juristischen Kommunikationsgemeinschaft in Deutschland akzeptiert ist, dass Dritte kein Recht haben sollen, einen Schwerkranken auf dessen Wunsch hin aktiv zu töten.7 Das Verbot der Tötung auf Verlangen wird zentral weich paternalistisch mit der Notwendigkeit von Vernunft- und Übereilungsschutz begründet.8 Nicht als aktive Tötung, die durch § 216 StGB ausgeschlossen ist, gilt allerdings die von der juristischen Kommunikationsgemeinschaft, auch vom Bundesgerichtshof, akzeptierte indirekte Sterbehilfe, d. h. die durch aktives Handeln bewirkte Schmerzlinderung durch Ärzte, die möglicherweise zu einer Lebensverkürzung führt.9 Uneinigkeit in der Strafrechtswissenschaft besteht allerdings darüber, wie dieses Ergebnis zu begründen ist.10 Anerkannt ist weiter, dass das, was Juristen passive Sterbehilfe nennen, zum legitimen Handlungsspielraum von Ärzten gehört.11 Hierunter wird nicht nur die 6

Jox (Fn. 2), S. 22. Vgl. hierzu Roxin, Tötung auf Verlangen und Suizidteilnahme: Geltendes Recht und Reformdiskussion, GA 2013, S. 313 ff.; vgl. auch etwa Eser, in Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, § 216 Rn. 1 m.w.N.; es existieren allerdings auch Stimmen, die sich für eine begrenzte Zulassung der aktiven Sterbehilfe aussprechen, vgl. etwa Neumann, „Der Tatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) als paternalistische Selbstbestimmung“, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2010, S. 245 – 266 m.w.N. 8 Schroth, Sterbehilfe als strafrechtliches Problem: Selbstbestimmung und Schutzwürdigkeit des tödlich Kranken, GA 2006, 549 (559) m.w.N.; Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem: Öffentlicher Vortrag vom 2. Februar 1998, München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1998, insbes. Kapitel 3. 9 BGHSt 42, 301; zur indirekten Sterbehilfe grundsätzlich Merkel, „Aktive Sterbehilfe – Anmerkungen zum Stand der Diskussion und zum Gesetzgebungsvorschlag des „AlternativEntwurfs Sterbebegleitung“, in: Hoyer/Müller/Pawlik/Wolter, Festschrift für FriedrichChristian Schroeder, Heidelberg/München: C.F. Müller Verlag, 2006, S. 297 ff. 10 Einerseits wird § 216 StGB hier für nicht anwendbar erklärt; es wird stattdessen die Überlegung angestellt, der Arzt ginge in den Fällen der indirekten Sterbehilfe ein erlaubtes Risiko ein. Von anderer Seite wird argumentiert, in den Fällen der indirekten Sterbehilfe läge keine Handlung vor, die als Tötungshandlung bewertet werden könne. Vertreten wird auch, dass in den Fällen der indirekten Sterbehilfe der Tötungsvorsatz entfalle. Schließlich wird dargetan, in den Fällen der indirekten Sterbehilfe greife § 34 StGB und nur hieraus erfahre sie ihre Rechtfertigung. Zum Meinungsstand vgl. Schroth (Fn. 8), 549 (559) m.w.N. 11 Roxin, „Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe“, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, Stuttgart: Richard Boorberg Verlag, 4. Auflage, 2010, S. 75 7

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Nichtaufnahme einer Behandlung, die sich auf den Willen des Patienten stützt, subsumiert, sondern auch die Nichtweiterführung und sogar der aktive Abbruch einer Behandlung. Lebenserhaltende Apparaturen dürfen auf Wunsch des Patienten abgestellt werden. Abgeleitet wird dies ganz überwiegend aus dem Verbot der Zwangsbehandlung und der Notwendigkeit der Wahrung der Patientenautonomie.12 Bevor nun auf die Frage eingegangen wird, ob der Grundsatz „Der Patient entscheidet“ auch auf Suizidpatienten anwendbar ist, ist auf die juristische Bewertung der Teilnahme zum Suizid einzugehen. Das deutsche Strafrecht hatte bisher, anders als viele Nachbarstaaten in Europa, weder die Beihilfe noch die Anstiftung zum freiwilligen Suizid unter Strafe gestellt. Die Aufhebung der Sanktionierung der Teilnahme zum Suizid geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Literarisch nahm man Bezug auf Voltaire, Montesquieu sowie Beccaria.13 Das Reichsstrafgesetzbuch hat sich bewusst gegen eine Bestrafung der Teilnahme am freiwilligen Suizid ausgesprochen.14 Für die damaligen Strafrechtswissenschaftler war die Beihilfe zum Suizid eine Sünde, aber keine Straftat. Dies hat sich im Dezember 2015 durch die Einführung des § 217 StGB partiell geändert. Nunmehr ist zwar immer noch die Teilnahme am Freitod straflos, nicht aber die geschäftsmäßige Förderung des Suizids. Soweit Suizidwünsche nicht auf einer freiwilligen Entscheidung fußen und der Suizidhelfer dies erkennt, wird von der deutschen Strafrechtspflege davon ausgegangen, dass der Suizidhelfer mittelbarer Täter eines vorsätzlichen Tötungsdelikts ist.15 Die Förderung einer nicht freiwilligen Selbsttötung mutiert zu einer Fremdtötung. Einschlägig ist in diesem Fall nicht der Tatbestand der Tötung auf Verlangen, vielmehr kommt dann eine Strafbarkeit wegen Totschlags bzw. Mordes in Betracht. Wenn der Suizidhelfer nicht erkennt, dass der Suizident nicht selbstbestimmt handelt, macht er sich wegen einer fahrlässigen Tötung strafbar, soweit ihm sein diesbezüglicher Irrtum vorgeworfen werden kann.16 (92); Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II. Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit, München: C.H. Beck, 17. Auflage, 2016, § 7 Rn. 5. 12 Schroth (Fn. 8), 549 (551). 13 Vgl. etwa Montesquieu, Perserbriefe, Berlin: Insel Verlag, 1986; Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, Wien: Tendler und Comp.,1988. 14 Dies wird von Positionen, die behaupten, § 212 StGB erfasse auch die Selbsttötung, bestrafe diese aber nicht, verkannt. Von hier aus lässt sich aber dann die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid erklären, vgl. Köhler, Die Rechtspflicht gegen sich selbst, Jahrbuch für Recht und Ethik, Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 425. Diese Position ist immer eine absolute Minderheitenposition gewesen. Dagegen bspw. auch Ellscheid, Das Paternalismusproblem im System der Kant’schen Moralphilosophie, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), (Fn. 7), S. 182. 15 Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar, München: Verlag C.H. Beck, 63. Auflage, 2016, Vor §§ 211 – 216 Rn. 22. 16 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch Band 2, BadenBaden: Nomos Verlag, 4. Auflage, 2013, § 222 Rn. 4 ff.

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Umstritten ist in der Strafrechtsdogmatik allerdings die Frage, wann von einer Freiwilligkeit des Suizidenten ausgegangen werden muss. Es existiert einerseits die Auffassung, die auch in München von gewichtigen Stimmen vertreten wird, dass die Regeln des Strafrechts zur Exkulpation die Unfreiwilligkeit begründen.17 Überwiegend wird der Einwilligungslösung gefolgt. Hiernach ist Freiwilligkeit nicht mehr anzunehmen, wenn die Entscheidung des Suizidenten, wenn man sie als Einwilligung sähe, als rechtsunwirksame Einwilligung zu bewerten wäre.18 Für die erste Auffassung spricht die Rechtssicherheit, für die letzte – in weich paternalistischer Art – der Gedanke der Vernunft- und Einsichtskontrolle von Suizidentscheidungen.19 Einsichtsfähigkeit lässt sich wesentlich eher in Frage stellen als Zurechnungsfähigkeit. Außerdem können Irrtümer und Wissensdefizite jeglicher Art dann zur Annahme der Unfreiwilligkeit des Suizids führen. Die Vernunftkontrolle der Suizidentscheidung lässt sich über die Einwilligungslösung besser gewährleisten. Das Strafbarkeitsrisiko des Suizidhelfers wird hierdurch deutlich erhöht. Strafrecht verhindert durchaus effektiv die Teilnahme an verblendeten und irrationalen Suiziden. Weiter wird der legitime Handlungsspielraum des Suizidhelfers dadurch eingeschränkt, dass die vielfach kritisierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein strafbewehrtes Handlungsgebot für jedermann aufgestellt hat, sobald der Suizident seine Handlungsfähigkeit verloren hat. Garanten haben dann besondere Handlungspflichten, die Verletzung kann ein Tötungsdelikt begründen. Nicht Garantenpflichtige können den Tatbestand des § 323 c StGB erfüllen. In einer viel diskutierten Entscheidung20 hatte eine 76-jährige schwerkranke Witwe nach dem Tode ihres Mannes ihrem Leben durch eine Überdosis an Morphium und Schmerztabletten ein Ende setzen wollen. Sie hinterließ neben anderen Texten ähnlicher Art ein Schreiben mit dem Inhalt: „Im Vollbesitz meiner Sinne bitte ich meinen Arzt keine Einweisung in ein Krankenhaus oder Pflegeheim, keine Intensivstation und keine Anwendung lebensverlängernder Medikamente. Ich möchte einen würdigen Tod sterben.“ Der Hausarzt kam hinzu, als die Witwe schon bewusstlos war, aber noch lebte. Er sah von einer Einweisung ins Krankenhaus ab, legte sie auf ihr Bett und hielt ihre Hand, bis sie am nächsten Morgen verstarb. Er ging davon aus, dass er sie nur unter Inkaufnahme schwerer zerebraler Dauerschäden retten könne. Der Bundesgerichtshof hat ihn im Ergebnis zu Recht freigesprochen. Dies aber nur, weil im Konflikt zwischen Notwendigkeit des Lebensschutzes und Achtung 17

Zu diesem Meinungsstreit vgl. ibid., Vor § 211 Rn. 60 ff. Vgl. Rengier (Fn. 11), § 8 Rn. 4 f. 19 Zur Problematik des übereilten Suizids grundlegend Engländer, „Strafbarkeit der Suizidbeteiligung“, in: Hefendehl/Hörnle/Greco (Hrsg.), Streitbare Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag, Berlin/Boston: De Gruyter, 2014, S. 583 ff. 20 BGHSt 32, 367. 18

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des Selbstbestimmungsrechts die Gewissensentscheidung des Arztes angesichts der Tatsache, dass – nach dessen Meinung – ihre Rettung notwendigerweise mit schweren zerebralen Schädigungen verbunden gewesen sei, hinzunehmen sei. Das nahezu einhellige strafrechtliche Schrifttum lehnt nicht das Ergebnis, aber diese Begründung ab.21 Die Entscheidung der Suizidentin, nicht mehr weiterbehandelt werden zu wollen, ist hinzunehmen, soweit nicht psychische Störungen, für die es in diesem Fall keinerlei Anhaltspunkte gab, vorliegen. Zwangsbehandlungen sind auch im Kontext eines Suizids nicht legitim. Der Bundesgerichtshof geht von einer Kategorisierung in „Normal“- und Suizidpatienten aus. Nur beim Normalpatienten gilt der Grundsatz „Der Patient entscheidet“. Dem BGH wird zu Recht vorgeworfen, zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Sterben zu unterscheiden.22 Beim „guten“ Sterben wird die Entscheidung des Patienten, nicht weiter behandelt werden zu wollen, akzeptiert, beim „schlechten“ Sterben nicht. Dass der BGH Suizid als „schlechtes“ Sterben ansieht, zeigt sich an dessen Argumentation: „Da das Sittengesetz jeden Selbstmord streng missbilligt, da niemand über sein Leben verfügen und sich den Tod geben darf, kann das Recht nicht anerkennen, dass die Hilfspflicht des Dritten hinter dem sittlich missbilligten Willen des Selbstmörders zu seinem eigenen Tode zurückzustehen habe.“23 Diese Argumentation stammt aus einer früheren Entscheidung; spätere Entscheidungen sehen den Suizid nicht mehr explizit als Verstoß gegen das Sittengesetz an, sondern bewerten ihn teilweise als rechtswidrig, verwenden aber zur Begründung immer noch die Entscheidung, die den „Selbstmord“ als Verstoß gegen das Sittengesetz ansieht.24 Es steht zu vermuten, dass im Hintergrund dieser Rechtsprechung die theologische Bewertung des freiwilligen Suizids steht. Thomas von Aquin,25 der große christliche Moralist, hat die freiwillige Selbsttötung im Anschluss an Augustinus, der Fremdtötung und Selbsttötung gleich bewertete,26 als Verstoß gegen das Gebot, sich selbst zu erhalten und zu lieben, angesehen, weiter als Verstoß gegen die Gemeinschaft, deren Teil man ist, und als Verstoß dagegen, dass das Leben ein Geschenk Gottes sei und man deshalb auch seiner Gewalt unterworfen sei. David Hume27 nahm hiergegen schon engagiert in einer Schrift, die erst nach seinem Tode in seinem Namen veröffentlicht wurde, Stellung. Es sei willkürlich, das Leben als Geschenk Gottes aufzufassen, nicht aber auch die anderen dem Menschen 21 Vgl. dazu mit umfassenden Schrifttumsnachweisen Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), Vor § 211 Rn. 41 ff. 22 So richtig Duttge, Strafrechtlich reguliertes Sterben: Der neue Straftatbestand einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, NJW 2016, 120 (121). 23 BGHSt 6, 153. 24 BGHSt 46, 279 (285). 25 Thomas von Aquin, Summa theologica, Band 18, Stuttgart: Kröner Verlag, 1953, II, q. 64, art. 5. 26 Augustinus, Der Gottesstaat, hrsg. von Perl/Simon, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1979. 27 David Hume, „Über Suizid“, in: David Hume, Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei. Über die Unsterblichkeit der Seele. Über Suizid, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1984, S. 89 – 99.

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verliehenen Handlungsmöglichkeiten, einschließlich der Möglichkeit, sein Leben zu beenden. Dass der Suizident der Gesellschaft Schaden zufüge, wurde von ihm ebenfalls bestritten, indem er fragte, was denn der Suizident der Gesellschaft eigentlich entziehe. Das Argument, der Selbsterhaltungstrieb und die notwendige Selbstliebe verböten den Suizid, wurde von ihm mit dem Argument attackiert, dies gelte nicht mehr für den Schwerstkranken, der auf seinen Tod wartet. Einigkeit besteht in heutigen säkularen Ethiken, dass die freiwillige Entscheidung zu sterben „an sich“ jedenfalls keinen ethischen Makel hat.28 Die moralische Qualität von Selbsttötungshandlungen, auch von freiwilligen, hängt von ihrem Motiv ab. Suizide können eine verwerfliche Motivation haben, etwa sich den Unterhaltszahlungen zu entziehen, sie können aber auch verblendet und irrational sein.29 Einigkeit besteht auch, dass die Kantische intrinsische Begründung dafür, dass Suizid verboten sei, zwar raffiniert, jedoch nicht in der Lage ist, ein Suizidverbot für den freiwilligen Suizid zu begründen.30 Das Kantische Argument der Unverfügbarkeit – das in unterschiedlichen Varianten existiert – geht dahin, dass der Suizident sich widersprüchlich verhielte. „Man könne sein Leben nicht durch seinen Willen aufheben, denn die Macht, seine Willkür zu zerstören, widerstreitet (…) der freien Willkür selbst, wenn die Freiheit die Bedingung des Lebens ist, so könne sie nicht dazu dienen, das Leben aufzuheben, denn sonst zerstört und hebt sie sich selbst auf.“31

Die Behauptung, dass der Gedanke, zu wollen, dass man später nicht mehr wollen kann, widersprüchlich sei, vermag nicht zu überzeugen. Dieser Gedanke ist ebenso wenig widersprüchlich wie die Idee, dass man seine Freiheit auch dazu gebrauchen kann, diese aufzuheben.32 In der heutigen Ethikdiskussion wird zu Recht angenommen, dass das Kant’sche Verbot des Suizids sich bei ihm nicht zufällig in der Tugendlehre findet. Es ist eine Pflicht gegen sich selbst. Eine Rechtspflicht gegen sich selbst kennt auch Kant nicht. Bevor nunmehr auf den neuen Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids eingegangen wird, sollen noch kurz zur Empirie des Suizids einige knappe Bemerkungen gemacht werden.

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Dazu Birnbacher, „Suizid und Suizidprävention aus ethischer Sicht“, in: Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, Stuttgart: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2006, 195 (210). 29 Ebd., 195 (207). 30 Vgl. hierzu Kühl, „Fünf Kapitel aus dem Buch über (Straf-)Recht und Moral“, in: Hefendehl/Hörnle/Greco (Fn. 19), S. 157 ff, insbes. S. 163 ff. 31 Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hrsg. von Menzer, Berlin: Pan Vlg. R. Heise, 1984, S. 184. 32 Ausführlich mit Kant und seinen Unverfügbarkeitsargumenten setzt sich auseinander Birnbacher (Fn. 28), S. 198 – 204.

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III. Empirie des freiwilligen Suizids Suizide sind zentral ein Problem der alternden Gesellschaft. Ein Gipfel der Häufigkeit findet sich nach dem 65. Lebensjahr. Im Alter von 81 bis 90 steigt die Suizidrate exponentiell an.33 Im Staat Oregon in den USA dürfen seit 1997 Ärzte unter strengen Bedingungen Schwerstkranken ein tödlich wirkendes Mittel verschreiben.34 Vier andere US-Staaten haben diese Regelung inzwischen übernommen. Wie man aus seriösen empirischen Untersuchungen im Staat Oregon weiß, nehmen in erster Linie Menschen Suizidhilfe in Anspruch, die unter tödlich verlaufenden fortschreitenden Krankheiten leiden, wobei Krebserkrankungen führend sind.35 An zweiter Stelle folgt die amyotrophe Lateralsklerose. Darauf folgt die chronisch obstruktive Lungenerkrankung, die bekannte Raucherlunge. Analoge Ergebnisse finden sich auch in der Suizidforschung der Schweiz.36 Psychiatrische Untersuchungen, die in Oregon vor der Verschreibung eines tödlich wirkenden Mittels vorgeschrieben sind, haben ergeben, dass aktuelle Schmerzen, körperliche Beschwerden, soziale Vereinsamung, finanzielle Belastungen und die Sorge, anderen zur Last zu fallen, eine nur marginale Rolle bei der Entscheidung für einen Suizid spielen.37 Dies ist ein überraschendes Ergebnis. Entscheidend bei der Suche nach Suizidbeihilfe ist der Wunsch, die Todesumstände in Erwartung des Todes zu kontrollieren, die Angst, vor Verlust der Selbständigkeit und Würde, sowie die Angst vor zukünftigen Schmerzen und körperlichen Beschwerden, wie etwa Atemnot.38 Da allen drei Beweggründen nur schwer entgegengewirkt werden kann, ist die Vorstellung, eine palliative Rundumversorgung erledige das Problem des Suizids, ein frommer Wunsch.

33 Bundesamt für Gesundheit, Epidemiologie von Suiziden, Suizidversuchen und assistierten Suiziden in der Schweiz, April 2015, http://www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspoli tik/index.html?lang=de, S. 7 (zuletzt aufgerufen am 18. 03. 2016), wobei darauf hinzuweisen ist, dass der drastische Anstieg den männlichen Suizid betrifft; Jox (Fn. 2), S. 168. 34 https://public.health.oregon.gov/ProviderPartnerResources/EvaluationResearch/Death withDignityAct/Documents/year18.pdf (zuletzt aufgerufen am 29. 02. 2016). 35 Vgl. Fn. 34, S. 4. 36 Epidemiologie von Suiziden, Suizidversuchen und assistierten Suiziden in der Schweiz, April 2015, S. 13, http://www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/14149/14173/?lang=de (zuletzt aufgerufen am 29. 02. 2016). 37 Sullivan AD, Hedberg K, Fleming DW, Legalized physician-assisted suicide in Oregon – the second year. N Engl J Med. 2000; 342 (8): 598 – 604; Ganzini L, Goy ER, Dobscha SK. Oregonians’ reasons for requesting physician aid in dying. Arch Intern Med. 2009; 169 (5): 489 – 492; Ganzini L, Goy ER, Dobscha SK. Why Oregon patients request assisted death: family members’ views. J Gen Intern Med. 2008; 23 (2): 154 – 157; Ganzini L, Harvath TA, Jackson A, Goy ER, Miller LL, Delorit MA. Experiences of Oregon nurses and social workers with hospice patients who requested assistance with suicide. N Engl J Med. 2002; 347 (8): 582 – 588; Ganzini L, Dobscha SK, Heintz RT, Press N. Oregon physicians’ perceptions of patients who request assisted suicide and their families. J. Palliat Med. 2003; 6 (3): 381 – 390; Pearlman RA, Hsu C, Starks H, et al. Motivations for physician-assisted suicide. J Gen Intern Med. 2005; 20 (3): 234 – 239. 38 Jox (Fn. 2), S. 175.

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Dies bedeutet natürlich nicht, dass ein Staat nicht gehalten ist, für eine palliative Rundumversorgung zu sorgen. Diese löst aber nicht alle Probleme. 40 % der Personen mit Suizidwünschen in Oregon besorgen sich das Rezept, nehmen es aber nicht in Anspruch.39 Den Patienten ist es wichtig, die Möglichkeit zum Suizid zu haben. Suizidenten stammen häufig aus dem Bildungsbürgertum und haben eher eine geringe religiöse Bindung.40 Es sind keineswegs Randgruppen oder durch das soziale Netz Gefallene, die den Wunsch nach Suizid haben. Fakt ist auch, dass in Ländern, in denen Beihilfe zum Suizid sanktioniert wird, die Suizidrate höher ist als in Ländern, in denen die Beihilfe zum Suizid straffrei ist. In Osteuropa etwa wird die Suizidbeihilfe zumeist bestraft, gleichwohl kommt der Suizid sehr viel häufiger vor als in Deutschland, in Russland sogar dreimal so oft.41 Man mag einwenden, in Osteuropa seien die Lebensverhältnisse völlig anders und es existiere keine Suizidprävention. Aber auch in Österreich, wo die Lebensverhältnisse ähnlich sind wie in Deutschland, und die Suizidbeihilfe generell bestraft wird, ist die Suizidrate deutlich höher als in Deutschland.42 Die Bestrafung der Beihilfe zum Suizid hat offensichtlich nicht zur Folge, dass die Suizidrate zurückgeht. Möglicherweise trägt sie vielmehr dazu bei, dass Suizid sowie die Beihilfe zum Suizid tabuisiert werden. Die Tabuisierung verhindert Kommunikation und damit jedenfalls auch die Möglichkeit, dass Suizidwünschen durch fachkundige und nahestehende Personen entgegengewirkt werden kann. Im Folgenden soll nunmehr die strafrechtliche Beurteilung des neuen Tatbestands des § 217 StGB, der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids, erfolgen.

IV. Der Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung Das deutsche Strafrecht kennt nunmehr seit Dezember 2015 den Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung.43 Dieser Tatbestand legt fest, dass mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird, „(1) wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz I genannten anderen ist oder diesem nahe steht.“ (§ 217 StGB)

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Vgl. Fn. 34, S. 3. Vgl. Fn. 33. 41 Vgl. Fn. 36, S. 10. 42 Vgl. Fn. 36, S. 10. 43 § 217 StGB wird kommentiert von Oglakcioglu, in: Beck’scher Online-Kommentar, § 217 StGB, 29. Edition, Stand 01. 12. 2015. 40

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1. Schutzzweck Wir wollen uns zunächst mit dem Schutzzweck des § 217 StGB befassen und uns dann der Frage zuwenden, ob, selbst wenn man die vom Gesetzgeber verfolgten Schutzzwecke als richtig unterstellt, diese eine angemessene Umsetzung erfahren haben. Basis jeglicher Beschäftigung mit dem Schutzzweck des § 217 StGB ist zunächst, dass niemand eine Pflicht zum Leben, sehr wohl aber das Recht hat, über Art und Zeitpunkt des Todes selbstbestimmt zu entscheiden. Dies wurde durch den Gesetzgeber insbesondere durch die Anerkennung der Verbindlichkeit der Patientenverfügung unterstrichen.44 Der Bundesgerichtshof ist ebenfalls dieser Auffassung und hat sich spätestens im Putz-Urteil45 hierzu bekannt. Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod wird in der strafrechtlichen Literatur von nahezu allen anerkannt.46 In der Grundrechtsdogmatik gilt das Gleiche.47 Ganz überwiegend wird deshalb auch zu Recht vertreten, dass § 217 StGB jedenfalls nicht mit dem Argument legitimiert werden kann, dieser sei zum Schutz des Lebens vor Freitodentscheidungen erforderlich.48 Die Verfasser des Gesetzes sehen den Zweck und Strafgrund darin, dass „durch die Einbeziehung geschäftsmäßig handelnder Personen und Organisationen die personale Eigenverantwortlichkeit beeinflusst werde. Die Tätigkeit dieser sei eine zumindest abstrakte Gefährdung einerseits des menschlichen Lebens und andererseits der Autonomie.“49 Es existieren jedoch derzeit keinerlei empirische Hinweise darauf, dass in Deutschland durch geschäftsmäßiges Verhalten die Selbstbestimmtheit von Entscheidungen in Frage gestellt wird. Die deutschen Organisationen, die beim Suizid helfen, – dies haben die Untersuchungen Hilgendorfs gezeigt –50 orientieren sich am Leitbild einer ergebnisoffenen und lebensbejahenden Beratung, die häufig zur Überwindung des Sterbewunsches beiträgt. Es existieren auch keinerlei empirische Belege dafür, dass geschäftliches Handeln die Gefahr heraufbeschwört, dass die Anzahl unfreiwilliger Suizide zunimmt. Soweit vielfach für diese These angeführt wird, 90 % aller Suizide seien nicht selbstbestimmt, dürfte diese Aussage, gerade wenn es um Schwerkranke am Ende ihres Lebens geht, völlig an den Tatsachen vor44

Im Jahre 2009. BGHSt 55, 191 ff. 46 Saliger (Fn. 5), S. 62 ff m.w.N. 47 Herdegen, Stellungnahme zu den Gesetzesentwürfen zur Sterbehilfe, https://www.bun destag.de/blob/387372/eef149cd33fed27865472dda29978c1d/herdegen-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 29. 02. 2016), S. 4. 48 Vgl. hierzu Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, NStZ 2016, 185 (186). 49 BT-Drucks. 18/5373, S. 12/13. 50 Hilgendorf, Zur Strafwürdigkeit von Sterbehilfegesellschaften: aktuelle Strafbarkeitsprobleme im Kontext der assistierten Selbsttötung, Jahrbuch Recht und Ethik 15, Berlin: Duncker & Humblot, 2007, S. 479. 45

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beigehen. Denn gerade in diesen Fällen hat der Sterbewille, worauf Roxin zu Recht hingewiesen hat, einen nachvollziehbaren Grund, wenn er von dem Wunsch getragen ist, Selbständigkeit am Ende des Lebens zu bewahren.51 Wäre die Behauptung, 90 % aller Suizide am Lebensende seien nicht selbstbestimmt, richtig, so beträfe sie – wie Reinhard Merkel zu Recht bemerkt – „auch den jährlich vieltausendfach praktizierten Therapieverzicht mit lebensverkürzender Wirkung, dessen Zulässigkeit niemand bestreitet.“52 Insgesamt ist festzustellen, dass die Anzahl der Suizide in Deutschland in den letzten dreißig Jahren deutlich zurückgegangen ist.53 Sie hat sich fast halbiert. Momentan liegt sie bei 9,2 pro 100.000. Seit 2005 – seit dieser Zeit lässt sich organisierte Sterbehilfe in Deutschland feststellen – ist sie konstant; wenn man auf kurzfristige Zeiträume abstellt, schwankt sie minimal. Von einer schiefen Ebene, auf die Deutschland mit der organisierten Sterbehilfe geraten ist, kann nicht ausgegangen werden. Suizidenten sind, wie bereits dargestellt, insofern geschützt, als jeder Suizidhelfer schon immer verpflichtet war, zu prüfen, ob eine Entscheidung zum Suizid selbstbestimmt ist. Damit kann festgestellt werden: Ein diskutabler Grund für die in § 217 StGB getroffene Regelung kann nicht in einer Lebensgefährdung durch geschäftliches Handeln liegen.54 Abstrakte Gefährdungsdelikte sind nur dann legitim, wenn und soweit sie empirische Daten, die für eine Gefährdung sprechen, für sich in Anspruch nehmen können. Schließlich wird als Grund für das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe angeführt, dass der Gefahr begegnet werden soll, dass Menschen durch Normalität suggerierende Angebote zur Selbsttötung verleitet werden, die ohne ein solches Angebot keinen Suizid begehen würden. Auf diesen Grund hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 21. Dezember 2015, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Außervollzugsetzung des § 217 StGB ablehnt, hingewiesen.55 Roxin sieht diese mögliche Zweckverfolgung durch den Gesetzgeber prinzipiell als legitim an, nicht aber die Verfolgung dieses Zwecks mit einem strafrechtlichen Tatbestand.56 Eine derartige Zweckverfolgung ist – wie Roxin zu Recht aus-

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Roxin (Fn. 48), 185 (187). Merkel, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung am 23. September 2015 im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz, https://www.bundestag. de/blob/388404/ad20696aca7464874fd19e2dd93933c1/merkel-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 29. 02. 2016), S. 2. 53 Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, http://www.suizidpraevention-deutschland. de/uploads/RTEmagicC_2013_02_Suizide_Ziffer.png.png (zuletzt aufgerufen am 07. 03. 2016). 54 Roxin (Fn. 48), 185 (186 f.). 55 BVerfG NJW 2016, 558. 56 Roxin (Fn. 48), 185 (188 f.). 52

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führt – nämlich einerseits unverhältnismäßig.57 Andererseits ist dieser Zweck kein sinnvolles Schutzgut eines Strafrechts, das seine Aufgabe darin sieht, in subsidiärer Weise Rechtsgüter zu schützen. Ich denke, man muss noch einen Schritt weitergehen. Es existieren keine hinreichenden empirischen Belege dafür, dass geschäftsmäßiges Verhalten den Anschein von Normalität erweckt und dieser Anschein Bürger zum Suizid verleitet. Auch dieser Zweck legitimiert § 217 StGB keinesfalls. Richtig ist zwar, dass in der Schweiz die Suizidhilfeorganisation Exit, die ausschließlich Schweizern Suizidbeihilfe leistet und seit über 30 Jahren existiert, deutlich häufiger beim Suizid assistiert als noch vor 10 Jahren. Auch die Suizidbeihilfe von Dignitas ist etwas gestiegen. Insgesamt ist aber in den letzten 30 Jahren, auch noch in den letzten 10 Jahren, in der Schweiz die Anzahl der Suizide deutlich zurückgegangen.58 Von einer schiefen Ebene, auf die die Schweiz mit organisierter Sterbehilfe geraten ist, kann keine Rede sein. Die Behauptung, die immer wieder getätigt wird, dass die Suizidhäufigkeit in der Schweiz gerade aufgrund der Organisationen, die Beihilfe leisten, besonders hoch sei, ist ebenso unrichtig. Ganz im Gegenteil liegt die Schweiz, was die Suizidrate betrifft, in Europa im Mittelfeld.59 Sie ist beispielsweise auch niedriger als in Österreich. Über den Werther-Effekt60 lässt sich die These, geschäftsmäßiges Verhalten führe zu einer erhöhten Suizidrate, ebenfalls nicht begründen. Der Begriff geht zurück auf die angebliche Suizidwelle, die nach Veröffentlichung von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ im Jahr 1774 eingetreten ist. Einerseits ist unklar, inwiefern dieser sozialpsychologische Effekt überhaupt existiert, andererseits gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid einen Werther-Effekt auslösen könnte. Man kennt zwar Nachahmungssuizide, aber keine Suizide, die durch den Anschein von Normalität verursacht werden. Die Stadt Leipzig hat 50 Jahre den Verkauf von Goethes Roman verboten, weil man diesen Effekt glaubte feststellen zu können.61 Der deutsche Gesetzgeber sollte sich an dem Verhalten der Bürgerschaft Leipzig aus dem Jahr 1774 kein Beispiel nehmen. Wenn es richtig ist, dass Suizidwünsche bei Krankheiten, die zum Tode führen, wesentlich gehäuft auftreten, weil Schwerkranke die Umstände des Todes bestimmen wollen und weil sie Angst haben, ihre Selbständigkeit zu verlieren, so ist

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Roxin (Fn. 48), 185 (188). Bundesamt für Statistik – Schweizerische Eidgenossenschaft, http://www.bfs.admin.ch/ bfs/portal/de/index/themen/21/02/ind32.indicator.70301.3201.html (zuletzt aufgerufen am 27. 04. 2016). 59 Vgl. Fn. 36, S. 10. 60 Phillips, The Influence of Suggestion on Suicide: Substantive and Theoretical Implications on the Werther Effect, in: American Sociological Review. 39 (1974), S. 340 – 354. 61 Steinberg, „Der „Werther-Effekt“. Historischer Ursprung und Hintergrund eines Phänomens“, in: Psychiatrische Praxis. 26, 1999, S. 37 – 42. 58

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nicht einsichtig, warum diese Personengruppe über geschäftsmäßiges Handeln bei der Suizidbeihilfe zum Suizid verleitet werden soll. Sieht man das Verhindern der Verleitung zum freiwilligen Suizid als notwendig zu verfolgendes strafrechtliches Ziel an, so wäre man vor allen Dingen gehalten, die Anstiftung zum freiwilligen Suizid unter Strafe zu stellen. Anstiftung ist nämlich die deutlichste Form, andere zum Suizid zu verleiten. Es ist widersprüchlich, die Verleitung zum Freitod durch geschäftsmäßiges Verhalten kriminalisieren zu wollen und umgekehrt die intensivste Form der Verleitung zum Suizid, die Anstiftung nämlich, weiterhin straflos zu lassen. Für die Auffassung, dass § 217 StGB verhindern soll, dass Personen zum Suizid verleitet werden, lassen sich empirisch keinerlei Notwendigkeiten erkennen, weiter fügt sich diese Zweckverfolgung normativ nicht in das geltende Strafrecht ein. Dieser Zweck ist schließlich kein sinnvolles Rechtsgut eines strafrechtlichen Tatbestandes.62 2. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung Der Gesetzgeber will mit § 217 StGB einerseits die Straflosigkeit der individuellen Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid aufrechterhalten und andererseits vor Gefährdungen einer geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe schützen.63 Er glaubt deshalb, die geschäftsmäßige Förderung des Suizids, soweit durch diese eine Gelegenheit zum Suizid gewährt, verschafft oder vermittelt wird, kriminalisieren zu müssen. Straffrei bleiben Teilnehmer, soweit sie einerseits selbst nicht geschäftsmäßig handeln und andererseits entweder Angehörige oder nahestehende Personen sind. Die Strafbefreiung ist von ihren Bedingungen kumulativ zu verstehen.64 Fragwürdig ist zunächst, wie aus an sich nicht strafbarem Verhalten, nämlich geschäftsmäßigem Verhalten, und weiterem nicht strafbarem Verhalten, nämlich Freitodbeihilfe, strafbares Unrecht entstehen soll.65 Geschäftsmäßigkeit wirkt bei Strafrechtsnormen üblicherweise nur dann unrechtsbegründend, wenn es sich auf rechtswidriges Verhalten bezieht. Der freiwillige Suizid ist aber – nach dem Willen des Gesetzgebers – kein rechtswidriges Verhalten. Neumann und Saliger formulieren des62 Soweit ein Übereilungsschutz im Hinblick auf die Beihilfe zum Suizid gefordert wird, legitimiert dies § 217 StGB auch nicht (vgl. Engländer (Fn. 19), 583 – 596). M. E. ist ein Übereilungsschutz auch nicht erforderlich, da doch hinreichend Hemmungen bestehen, Hand an sich anzulegen (so auch Roxin, GA 2013, 313, 318 f.). Das Argument, viele Suizide seien Appellsuizide bzw. Kurzschlussreaktionen, vermag die Notwendigkeit des Übereilungsschutzes nicht zu begründen, da die Appellsuizide und Kurzschlussreaktionen i. d. R. ohne Beihilfe vorgenommen werden. Außerdem sind diese Suizide gerade nicht freiwillig, weshalb hier eine Haftung zumindest wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes eingreift. 63 BT-Drucks. 18/5373, S. 1. 64 Das heißt, soweit eine Sterbehilfeorganisation tätig wird, wie etwa in der Schweiz, macht sich der Teilnehmer, etwa derjenige, der die Adresse der Organisation besorgt, selbst dann strafbar, wenn er nicht Angehöriger ist und selbst nicht geschäftsmäßig handelt. 65 Kritisch zur Geschäftsmäßigkeit auch Schroth (Fn. 8), S. 570.

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halb mit Recht, dass „bei einem verantwortlichen Suizid eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Gehilfen aus zwingenden Gründen der Struktur strafrechtlicher Verantwortlichkeit nicht in Betracht komme – gleichgültig, ob diese Hilfe individuell oder geschäftsmäßig geleistet wird.“66 Mit § 217 StGB wird offensichtlich ein Schritt zur weltanschaulichen Ethisierung des Strafrechts unter dem Deckmantel der vermeintlich notwendigen Gefahrenabwehr getan. Sieht man sowohl Suizid als auch die Beihilfe zum Suizid als Verstöße gegen die Heiligkeit des Lebens und damit als Verstoß gegen das Sittengesetz an, so soll offensichtlich der geschäftsmäßigen Teilnahme an Verstößen gegen das Sittengesetz strafbegründende Wirkung zugesprochen werden. Gegen eine derartige Ethisierung spricht zentral der Grundsatz, dass strafrechtliche Tatbestände von ihrer Wertausrichtung betrachtet weltanschaulich neutral sein sollten.67 Das Tatbestandsmerkmal der Geschäftsmäßigkeit ist auch unbestimmt. Unter Geschäftsmäßigkeit versteht der Gesetzgeber einerseits, dass ein Suizidhelfer mehrere gleichartige Suizidhilfen ausführt. Geschäftsmäßigkeit besteht – nach Meinung des Gesetzgebers – andererseits dann, wenn der Suizidhelfer bei der ersten Suizidbeihilfe die Absicht hat, diese zu wiederholen. Wenn man die gesetzgeberische Motivation, der Tatbestand solle vor Autonomiegefährdung schützen, als begründet ansieht, ist nicht nachvollziehbar, wie eine einmalige Suizidbeihilfe mit Wiederholungsabsicht eine Gefährdung der Autonomie des Suizidenten begründen kann. Es wird mit einem derartigen Tatbestandsverständnis eine neue Form des Gesinnungsstrafrechts geschaffen. Der Gesinnungswert (nämlich die Wiederholungsabsicht) begründet dann bei nur einer an sich nicht strafbaren Beihilfe zum Freitod die Strafbarkeit. Zu den Vermächtnissen des Münchner Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann gehört die Erkenntnis, dass Gesinnungswerte im Strafrecht, soweit man das strafrechtliche Subsidiaritätsprinzip erst nimmt, nichts verloren haben.68 Gesinnungswerte zeichnen sich auch dadurch aus, dass deren Beweis ins Willkürliche abzurutschen droht. Auch deshalb sollte man auf sie verzichten. Vor allem aber wird mit Gesinnungsstrafrecht die Trennung von Strafrecht und Moral aufgegeben.69 Mit der These, dass Geschäftsmäßigkeit dann anzunehmen sei, wenn Mehrfachsuizidhilfe ausgeübt wird, stellt sich die Frage, welche Anforderungen an die Mehrfachhilfe zu stellen sind. Unproblematisch ist die Annahme von Geschäftsmäßigkeit nur dann, wenn Organisationen wie Dignitate oder Sterbehilfe e.V. handeln. Schwierig wird die Beurteilung ärztlichen Handelns. Hier ist unklar, welche Anforderungen an die Mehrfachsuizidhilfe von Ärzten zu stellen sind, damit sie unter das Merkmal 66 Neumann/Saliger, Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung – Kritische Anmerkung zur aktuellen Sterbehilfedebatte, HRRS 2006, 280 ff. (288). 67 Fateh-Moghadam, Suizidbeihilfe: Grenzen der Kriminalisierung, Preprints and Working Papers of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Münster 2015/79, S. 3 ff. 68 Kaufmann, Strafrecht zwischen Gestern und Morgen: Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Subsidiaritätsprinzip und Strafrecht, Köln/Berlin/Bonn/München: Heymann Verlag 1983, S. 92. 69 Duttge (Fn. 22), 120 (124) m.w.N.

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der Geschäftsmäßigkeit subsumiert werden können. Wenn ein Arzt aufgrund einer Gewissensentscheidung fünfmal Suizidbeihilfe in 10 Jahren leistet, handelt er dann schon geschäftsmäßig? Wohl kaum. Ausgeschlossen werden soll die permanente, regelmäßige Suizidbeihilfe durch Laien, aber auch durch Ärzte. Wann aber beginnt diese? Der Gesetzeszweck, vor Gefährdungen der Autonomie schützen zu wollen, lässt keine vernünftige Präzisierung zu. Noch problematischer ist die Frage zu beurteilen, wie die Wiederholungsabsicht aussehen muss, die es schon beim ersten Einzelfall erlaubt, Geschäftsmäßigkeit beim Suizidhelfer anzunehmen. Es drängt sich die Frage auf, ob auch Wiederholungsvorbehalte als Wiederholungsabsicht anzusehen sind. Ärzte werden, wenn sie als solche handeln, ihr Handeln an den gleichen Maßstäben ausrichten. Damit haben sie immer auch einen Wiederholungsvorbehalt. Wäre letzterer der Wiederholungsabsicht gleichzustellen, wofür sich der gesetzgeberische Wille anführen lässt, würde dem Gesinnungsstrafrecht noch mehr Raum gewährt. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn ein Arzt auf einer Palliativstation arbeitet, von einem stabilen und autonom gefassten Suizidwunsch eines tödlich Erkrankten weiß, von dem dieser sich auch nicht abbringen lässt, der Schwerstkranke schon Palliativhilfe in Anspruch genommen hat, und keinerlei psychische Auffälligkeiten hat und der Arzt sich vornimmt, in derartigen Konstellationen generell Suizidbeihilfe zu leisten, handelt er dann schon bei der ersten Suizidbeihilfe geschäftsmäßig? Die Selbstinterpretation des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung legt diese Annahme nahe. Dies ist kaum überzeugend. Sogar in säkularen ethischen Diskussionen wird vielfach darauf hingewiesen, dass die gerade geschilderten Voraussetzungen, von denen unser Arzt die Beihilfe abhängig macht, auch unter ethischen Aspekten eine Suizidhilfe akzeptabel erscheinen lassen.70 Diese genannten Voraussetzungen sind genau die materiellen Voraussetzungen, die in vier Staaten der USA die Verschreibung eines tödlich wirkenden Medikamentes gestatten. Ein den Arzt beratender Jurist kann nur dringend davon abraten, sich in einer derartigen Entscheidungssituation für die Suizidbeihilfe zu entscheiden. Das strafrechtliche Risiko ist erheblich. Im medizinischen Diskurs wird in Teilen die Hoffnung ausgesprochen, dass Ärzte als nahestehende Person anzusehen sind und unter die Strafbefreiungsklausel fallen. Der Gesetzgeber wollte jedoch ausweislich der Gesetzesbegründung den Arzt gerade nicht als nahestehende Person verstanden wissen. Nicht hinreichend ist auch der Begriff der Selbsttötung geklärt. Einigkeit besteht dahingehend, dass aktives Handeln, durch das der Einzelne seinem Leben ein Ende setzt, als Selbsttötung anzusehen ist. Konsens herrscht wohl auch darüber, dass Patienten, die am Ende des Lebens einen Behandlungsabbruch wünschen, nicht von einer Suizidabsicht im Sinne des § 217 StGB geleitet sind. Jede andere Auffassung würde die Patientenautonomie endgültig konterkarieren und Ärzte auf Intensivstationen einem erheblichen Strafbarkeitsrisiko aussetzen. 70

Birnbacher (Fn. 28), S. 208.

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Ich hoffe, dass sich Einigkeit dahingehend erzielen lassen wird, dass der frühe Behandlungsverzicht – nach einer Krebsdiagnose etwa – nicht als Selbsttötung angesehen wird, obwohl hier allseits von passivem Suizid gesprochen wird. Mit guten Gründen lässt sich hier argumentieren, das bloß sichere Wissen vom Todeseintritt durch Nichtbehandlung begründe Wissentlichkeit, § 217 StGB verlange aber Selbsttötungsabsicht. Völlig unklar ist jedoch, ob die Einordnung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit, das sogenannte Sterbefasten,71 als Selbsttötung anzusehen ist. Ein derartig verfolgter Suizidwunsch bedarf des ärztlichen Beistandes, wenn er nicht mit erheblichem Leiden verbunden sein soll. Eine Subsumtion unter den Selbsttötungsbegriff würde eine ärztliche Begleitung des Sterbefastens unmöglich machen und Ärzte wiederum einem strafrechtlichen Risiko aussetzen. Es ist offensichtlich, dass zentrale Begriffe der Unrechtsbegründung sehr unbestimmt sind. Die Gesetzesbegründung geht explizit davon aus, dass Ärzte bei der Suizidbeihilfe nur dann straflos bleiben, wenn sie in absoluten Einzelfällen Suizidbeihilfe gewähren. Der Arzt wird vom Gesetzgeber wie ein Laie behandelt. Im Endeffekt folgt der Gesetzgeber mehr oder weniger explizit der Auffassung der Bundesärztekammer, die in § 16 ihrer Musterberufsordnung für Ärzte die Regel aufgestellt hat, dass sie keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Das Schadensvermeidungsprinzip wird hier durch die Bundesärztekammer absolut gesetzt. Patientenautonomie gerät in Gänze auf ein Abstellgleis. Unter Ärzten ist die Frage, ob Suizidbeihilfe gewährt werden darf, erheblich umstritten.72 Nicht ohne Grund haben nicht alle Landesärztekammern das standesrechtliche Verbot der Suizidbeihilfe in ihren Berufsordnungen übernommen. Schildmann, ein Bochumer Medizinethiker und Internist, hat jüngst deutsche Ärzte zu diesem Thema befragt.73 Nur 5 der 17 Landesärztekammern erlaubten ihm eine Befragung. Offensichtlich fürchtet man derartige Meinungsumfragen. Geantwortet haben immerhin 743 Ärzte. 21 % wurden schon einmal um Hilfe bei der Selbsttötung gebeten. 40 % der befragten Ärzte erklärten, grundsätzlich zur Suizidbeihilfe bereit zu sein. Für ein Verbot der ärztlich assistierten Suizidbeihilfe sprachen sich nur 25 % der Befragten aus.

71 Vgl. michaelcoors, Das neue Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, veröffentlicht am 11. 12. 2015 auf einwürfe, Kommentare zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, https://einwuerfe.wordpress.com/2015/12/11/das-neue-verbot-der-geschaeftsmaessi gen-foerderung-der-selbsttoetung/ (zuletzt aufgerufen am 22. 03. 2016). 72 Zur Problematik des ärztlich assistierten Suizids anders als hier Jäger, Der Arzt im Fadenkreuz der juristischen Debatte um assistierten Suizid, JZ 2015, S. 875 ff. 73 Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Neueste wissenschaftliche Daten zum assistierten Suizid in Berlin präsentiert, http://stifterverband.info/stiftungen_und_stifter/aktuel les/2015_06_15_assistierter_suizid/index.html (zuletzt aufgerufen am 29. 02. 2016).

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Von einer generellen Ablehnung der Suizidhilfe durch die Ärzteschaft kann jedenfalls nicht ausgegangen werden. Vielmehr ist offensichtlich eine durchaus große Anzahl von Ärzten zur Freitodbegleitung bereit. Von vielen strafrechtlichen Kollegen (151 haben eine Resolution verfasst74) wird die standesrechtliche und strafrechtliche Zulassung eines ärztlich assistierten Suizids bei tödlichen Krankheiten dagegen befürwortet und § 217 StGB abgelehnt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Niemand will, dass Ärzte zur Suizidbeihilfe verpflichtet sind. Jedoch gibt es gute Gründe dafür, dass Ärzte, wenn sie es für richtig halten, Freitodassistenz nach angemessener Prüfung bei Todkranken leisten dürfen. Claus Roxin hat die für die Zulassung des ärztlichen Suizids sprechenden Argumente übersichtlich zusammengefasst. Ich darf sie in verkürzter Form zitieren: • „Einmal ist es inhuman, Menschen mit unheilbarer Krankheit, deren Leidenszustände keiner zufriedenstellenden therapeutischen Behandlung zugänglich sind, auf Selbsthilfe wie den Sprung von einer Brücke oder den Beistand von Laien zu verweisen.“75 Weiter sinngemäß:76 • Zum anderen sind lebensverkürzende Maßnahmen, soweit sie auf dem Wunsch und Willen einer verantwortlichen Person beruhen, als Bestandteil ärztlicher Sterbebegleitung inzwischen allseits anerkannt. (…) Ich ergänze: Von einer Absolutsetzung des Schadensvermeidungsprinzips – auch durch die Ärzteschaft – kann hier keinerlei Rede mehr sein. • Der behandelnde Arzt kennt den Patienten im Übrigen viel besser als jeder andere und hat herausragende Fähigkeiten, die Einsichtsfähigkeit und Wissensbasis des Patienten zu beurteilen. • Die Nichttabuisierung führt auch zu einer besseren Suizidprophylaxe. Dies zeigen vor allen Dingen die empirischen Befunde im Staat Oregon. • Möglicherweise werden ja auch Sterbehilfeorganisationen, was wünschenswert wäre, überflüssig, wenn Ärzten eine verantwortliche Suizidbeihilfe ermöglicht würde. Dem ist nichts hinzuzufügen. § 217 StGB wird, was die Zulässigkeit ärztlicher Suizidbeihilfe betrifft, zu einem Kollateralschaden führen. Ärzten muss von einer Suizidassistenz abgeraten werden. Dieses Gesetz wird zur Folge haben, dass tödlich kranke Deutsche vermehrt Hilfe zum Suizid in der Schweiz suchen werden. Über die Teilnahmebestrafung wird 74

Vgl. Saliger (Fn. 5), Anhang 1, S. 216. Roxin (Fn. 48), 185 (189). 76 Roxin (Fn. 48), 185 (189 f.); zur Problematik ausgesprochen interessant Henking, Der ärztlich assistierte Suizid und die Diskussion um das Verbot von Sterbehilfeorganisationen, Juristische Rundschau, S. 178. 75

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sogar verhindert, dass Ärzte ihren Patienten bei der Kontaktaufnahme mit Sterbehilfeorganisationen behilflich sind. Sie machen sich als Teilnehmer selbst dann strafbar, wenn sie nicht geschäftsmäßig handeln. Die Suizidrate wird über § 217 StGB nicht abnehmen. Die Anzahl der Sprünge von Brücken und hohen Stockwerken wird hoffentlich nicht zunehmen. § 217 StGB ist ein Anschlag auf das Recht – gerade des todkranken Bürgers – über Art und Zeitpunkt des Todes selbstbestimmt zu entscheiden. Ich erlaube mir zum Schluss, Martin Walser zu zitieren: „Dass wir glauben, der Staat oder die Religion oder die Familie darf darüber bestimmen, wie wir aufhören, ist so mittelalterlich, wie sich wegen eines Abendmahlunterschieds die Köpfe einzuschlagen. Wie kann man der Meinung sein, dass uns nicht einmal der eigene Tod gehört?“77

77 Interview von Martin Walser, Die Welt, 11. 01. 2016, http://www.welt.de/kultur/literari schewelt/article150834783/Ich-moechte-keine-Sauerei-hinterlassen.html (zuletzt aufgerufen am 22. 03. 2016).

Die unterlassene Hilfeleistung aus rechtsvergleichender und rechtsethischer Sicht Roland Wittmann Der Jubilar hat neben vielen anderen Themen des japanischen Strafrechts auch die unechten Unterlassungsdelikte grundlegend behandelt. Daher bietet sich an, ihm eine Untersuchung über ein echtes Unterlassungsdelikt zu widmen, und zwar ein solches, das in Japan nicht strafbar ist. Die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung ist nach japanischem Strafrecht bisher nicht vorgesehen. Demgegenüber ist die unterlassene Hilfeleistung im Sinne der Verweigerung der allgemeinen Menschenhilfe nach § 323c des deutschen StGB und nach dem Strafrecht zahlreicher anderer Länder unter bestimmten Voraussetzungen strafbar. Die allgemeine Menschenhilfe hat auch zivilrechtliche Relevanz. Der Retter kann nach deutschem Recht als Geschäftsführer ohne Auftrag vom Geretteten Aufwendungsersatz und Ersatz der bei der Rettungshandlung erlittenen Schäden verlangen. Der Retter selbst kann als Notgeschäftsführer nur dann ersatzpflichtig werden, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig einen Schaden verursacht.1 Die Kategorie der echten Unterlassungsdelikte ist dem japanischen Strafrecht bekannt.2 Damit ist nicht gesagt, dass die Abgrenzung zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten im Einzelnen ähnlich erfolgt wie nach deutschem Strafrecht. So wird in Japan die Unterlassung der Hilfe für alte, unreife, gebrechliche oder kranke Personen durch einen für sie Verantwortlichen als echtes Unterlassungsdelikt angesehen.3 Die Unterlassung der allgemeinen Menschenhilfe in einem Unglücksfall wäre, falls sie in Japan strafbar wäre, ein echtes Unterlassungsdelikt. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob aus rechtsvergleichender und aus rechtsethischer Sicht erwartet werden kann, dass der japanische oder der chinesische Strafrechtsgesetzgeber sich in Zukunft für die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung entscheiden könnte. Mit der Straflosigkeit der unterlassenen Hilfeleistung steht Japan in Ostasien nicht allein. Auch nach chinesischem Strafrecht ist die Strafbarkeit der unterlassenen Menschenhilfe nicht vorgesehen. Das chinesische StGB (xingfa)4 vom 1. 7. 1979 1

§ 680 BGB. Vgl. Yamanaka, Keiho Soron (Strafrecht, Allg.Teil), 2. Aufl. (2008), S. 217 f. 3 Art. 218 des japanischen StGB. 4 Die chinesischen Begriffe und Namen werden in der Pinyin-Umschrift, aber ohne die diakritischen Zeichen für die Töne wiedergegeben. Zum gegenwärtigen Stand der chinesi2

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in der revidierten Fassung vom 14. 3. 1997, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. 2. 2011, enthält keine entsprechende Vorschrift. Die Stadt Hangzhou hat zwar eine Frau aus Uruguay, die eine Selbstmörderin gerettet hat, mit einer Belohnung ausgezeichnet und hierbei hervorgehoben, dass sie die traditionellen chinesischen Werte als Ausländerin (laowai) besser als Einheimische vertreten hat. Mit der chinesischen Tradition lässt sich jedoch eine allgemeine Hilfeleistungspflicht kaum begründen. Es kam zwar im Anschluss an die Reformen von Deng Xiaoping zu einer Wiederbelebung der Beschäftigung mit Konfuzius, der während der Kulturrevolution zur Unperson geworden war. Das Grundwerk der konfuzianische Ethik, lunyü, (Analekten, japanisch rongo) enthält ein Gebot, das der Goldenen Regel entspricht: Füge anderen nicht zu, was du nicht willst, dass man dir tut.5 Hieraus lässt sich jedoch eine allgemeine Hilfeleistungspflicht, eine Pflicht zum Eingreifen zur Abwendung von Gefahr in einem Unglücksfall, kaum ableiten. Auch aus dem für die konfuzianische Ethik grundlegenden Begriff Li, der einen Sammelbegriff für die Regeln der Sozialmoral darstellt,6 folgt keine allgemeine Pflicht zur Menschenhilfe. Ebenso wenig lässt sich eine solche Pflicht aus der – ohnehin utopischen – konfuzianischen Vorstellung der großen Einheit (Datong) ableiten. Die taoistische Lehre vom Handeln durch Nichthandeln (wu wei) führt nicht zu der Verpflichtung, zugunsten eines anderen bei einem Unglücksfall aktiv einzugreifen. Mitmenschlichkeit (ren)7 steht zwar nach der Dialektik des Daodejing höher als Moral und noch höher als das bloße Ritual, es bleibt jedoch offen, ob sie allgemeine Menschenhilfe einschließt. Diese ist in China auch nicht Teil der aktuellen Sozialmoral. Am 13. 1. 2011 wurde in der neben Guangzhou (Kanton) gelegenen Stadt Foshan ein zweijähriges Mädchen, Wang Yue, angefahren und lag auf der Straße, ohne dass von den Fußgängern jemand helfend eingegriffen hätte. Zuletzt half eine Müllsammlerin dem Kind, doch es starb acht Tage später im Krankenhaus. In der Volksrepublik China wurde bisher lediglich in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen eine Regelung eingeführt, die den Helfer vor Haftung schützt. Ob eine ähnliche Regelung in ganz China allgemein verankert werden soll, wird unter dem Stichwort haorenfa („guter-Mensch-Gesetz“) diskutiert. Der Ausdruck knüpft an den englischen Terminus good Samaritan law an, der wiederum eine Anspielung an die Erzählung im Lukasevangelium8 enthält. Durch ein solches Gesetz könnte der Angst schen Strafrechtslehre vgl. Zhongde xingfaxuezhe duihua (= Dialog zwischen chinesischen und deutschen Strafrechtslehrern), Beijing 2013. 5 Lunyü, 15, 23. 6 Vgl. Chen Zhuo/Han Guang, Intercultural Communication Studies XVI 2 (2007), 81 ff. 7 Vgl. Daodejing, Kap. 38: als die Mitmenschlichkeit verlorenging, kam die Moral auf, als die Moral verlorenging, kam das Ritual auf. 8 Lukas 10, 25 – 37. Ein Mann aus Samaria rettete einen Israeliten, der aus Jerusalem kommend unter die Räuber gefallen und verletzt war. Die Samaritaner waren zwar auch Israeliten, lehnten aber den Tempel von Jerusalem ab. Insofern ist die Rettung des aus Jerusalem kommenden Reisenden ethisch besonders bemerkenswert. Mit Hilfe dieser Erzählung erläutert nach der neutestamentlichen Überlieferung Jesus das Gebot der Nächstenliebe.

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vor den rechtlichen Folgen entgegengewirkt werden, die der Einsatz für fremde Menschen mit sich bringen kann. Die Regelung in Shenzhen ist seit dem 1. 8. 2013 in Kraft. Ihr offizieller Titel lautet: Verordnung zum Schutz der Rechte und Interessen von Helfern (jiuzhuren quanyi baohu guiding). Art. 2 der Verordnung enthält eine Legaldefinition des Helfers. Er ist eine natürliche Person, die ohne gesetzliche oder vertragliche Pflicht jemandem in einer Notlage freiwillig Hilfe leistet, der körperlich geschädigt ist oder dem Schaden an Leib oder Leben droht. Wenn derjenige, dem Hilfe geleistet wurde, behauptet, dass der Helfer ihm einen körperlichen Schaden verursacht hat, so trifft gemäß Art. 3 der Verordnung ihn die Beweislast. Gelingt ihm der Beweis nicht, so muss er die nachteiligen Folgen tragen. Diese Regelung stellt eine Reaktion auf den Fall des 26-jährigen Studenten Peng Yu dar. Dieser half in Nanjing einer älteren Frau, die beim Aussteigen aus einem Bus hingefallen war. Der Student brachte die Frau sogar ins Krankenhaus. Die Frau verklagte ihn auf Schadensersatz. Der Richter hat den Studenten zum Schadensersatz in Höhe von über 45.000.– yuan verurteilt mit dem Argument, dass niemand eine derart gute Tat begehe, der nicht an dem Unfall schuld sei. Wenn der Gerettete behauptet, dass der Retter bei der Hilfeleistung nicht den angemessenen Grad der Sorgfaltspflicht erfüllt und dadurch seinen körperlichen Schaden vergrößert hat, so trifft nach Art. 4 Satz 1 der Verordnung von Shenzhen ihn die Beweislast. Gibt es für diese Behauptung keinen Beweis oder reicht das Beweismittel nicht aus, um sie zu beweisen, dann hat der Gerettete die nachteiligen Folgen zu tragen. Gemäß Art. 5 hat der Retter, wenn der Gerettete einen Sachverhalt erfindet und hierbei eine falsche Anschuldigung erhebt und Kosten entstehen, dem Gesetz gemäß gegen den Geretteten das Recht auf Kompensation. Auch die übrigen Regelungen der Verordnung haben den Zweck, die Menschenhilfe zu begünstigen, nicht die Bestrafung der unterlassenen Hilfeleistung. In Hinblick auf die Straflosigkeit der unterlassenen Hilfeleistung stimmen das japanische und das chinesische Strafrecht im Ergebnis mit dem angloamerikanischen Rechtskreis überein. Im angloamerikanischen Rechtskreis stehen der Individualismus und die Vorstellung der Selbstverantwortlichkeit im Vordergrund.9 Spontane Hilfeleistung durch andere erscheint aus US-amerikanischer Sicht als aufgedrängte Einmischung in die eigenen Angelegenheiten (officious intermeddling). Deshalb gibt es zivilrechtlich auch keine Ansprüche des nichtprofessionellen Retters oder Helfers aus Geschäftsführung ohne Auftrag. Die Tatsache, dass professionellen Helfern Ansprüche aus Quasikontrakt zugebilligt werden, zeigt, dass nicht der Individualismus allein der Grund dafür ist, nichtprofessionelle Hilfe als officious intermeddling zu betrachten. Nichtprofessionelle Hilfe birgt auch die Gefahr in sich, dass der Schaden nicht gemindert, sondern womöglich noch vergrößert wird.

9 Zum englischen Recht vgl. Andrew Ashworth, in: Solidarität im Strafrecht, hrsg. v. Hirsch, Neumann, Seelmann, S. 115 ff.

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Das angloamerikanische Recht kennt dementsprechend keine allgemeine Hilfeleistungspflicht (duty to rescue). Hilfeleistungspflicht besteht nur bei Ingerenz oder bei einer sog. special relationship, also etwa der Eltern zu den Kindern, außerdem auf Grund beruflicher Stellung, so bei einem Arzt oder Feuerwehrmann. Dies gilt in den meisten Staaten der USA. Einzelne Staaten der USA haben jedoch zur unterlassenen Hilfeleistung Regelungen eingeführt, die eine allgemeine Hilfeleistungspflicht statuieren. Es handelt sich um die Staaten Minnesota, Rhode Island und Vermont.10 In Minnesota und Rhode Island ist die Verletzung der Hilfeleistungspflicht eine Ordnungswidrigkeit (petty misdemeanor). Zu leisten ist zumutbare Hilfe (reasonable assistance) zur Verhinderung eines schweren körperlichen Schadens (grave physical harm). In Vermont ist eine Geldbuße von höchstens 100 Dollar vorgesehen. In einigen anderen Staaten, so in Kalifornien, Florida, Hawaii, Massachusetts, Ohio, Washington und Wisconsin gibt es good Samaritan laws, die den nicht professionellen Helfer zumindest von einer Haftung frei stellen, um dadurch die Bereitschaft zur Menschenhilfe zu fördern. Im Strafrecht der meisten europäischen Staaten wird demgegenüber die unterlassene Hilfeleistung als Straftat betrachtet. Hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen ein nicht professioneller Helfer Hilfe leisten muss, bestehen jedoch erhebliche Unterschiede. In Deutschland war die Verweigerung der Nothilfe zunächst nur als Übertretung und nur dann strafbar, wenn die Hilfe trotz Aufforderung der Polizeibehörde oder ihres Stellvertreters verweigert wurde. Diese in § 360 Nr. 10 des Reichsstrafgesetzbuchs enthaltene Regelung11 wurde trotz ihrer milden Form vielfach als Fremdkörper empfunden und eher spöttisch als „Liebesparagraph“ bezeichnet.12 Als echtes Unterlassungsdelikt wurde die unterlassene Hilfeleistung durch die Strafrechtsnovelle vom 28. 6. 1935 eingeführt (RGBl I 839). Die damalige Vorschrift des § 330 c enthielt eine Bezugnahme auf das „gesunde Volksempfinden“: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist, insbesondere wer der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt, obwohl er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten genügen kann, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“.

10 Vgl. J. Silver: The duty to rescue: A Reexamination and Proposal, William & Mary Law Review, Bd. 26, S.422 ff.; John M. Adler: Relying Upon the Reasonableness of Strangers. Some Observations about the Current State of Common Law Affirmative Duties to Aid or Protect Others, Wis. Law Review, 1991, S. 867 ff. 11 Sie entsprach § 340 Nr. 7 des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851. 12 Vgl. LK-Werner, 8. Aufl. § 330 c Anm. 1.

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Die Hilfeleistungspflicht war mit der Vorstellung des nationalsozialistischen Rechts als „Gemeinschaftsordnung“ verknüpft; aus ihr folgerte man die Hilfeleistungspflicht zugunsten anderer sog. „Volksgenossen“13. Die Vorschrift des früheren § 330c wurde im westlichen Teil Deutschlands erst durch Art. 2 Nr. 45 des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. 8. 195314 neu gefasst. Die grundsätzliche Frage, ob die unterlassene Hilfeleistung überhaupt weiterhin strafbar bleiben soll, wurde vom Gesetzgeber nicht ernsthaft gestellt. Den für jede Art von Gesetzgebung wichtigen Grundsatz cessante ratione cessat lex ipsa hat der Gesetzgeber des Jahres 1953 nicht konsequent in Betracht gezogen.15 Statt des sog. gesunden Volksempfindens wurde als Gesetzeszweck nachgeschoben, es gehe darum, den Gedanken der sozialen Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft zu stärken. Strafgrund sei die Versäumung einer wirklichen Chance zur Schadensabwendung.16 An die Stelle des sog. Volksgenossen trat allgemein der „Einzelne“, an die Stelle der sog. Volksgemeinschaft die „Gemeinschaft“. Die Voraussetzungen der unterlassenen Hilfeleistung – Unglücksfall oder gemeine Gefahr oder Not, Erforderlichkeit, Zumutbarkeit – sind im Übrigen die gleichen geblieben.17 Vor Inkrafttreten des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes hat der Bundesgerichtshof die Fortgeltung des Wortlauts der Fassung von 1935 angenommen und das sog. gesunde Volksempfinden durch Auslegung dahin entschärft, dass bei der Frage der Zumutbarkeit des helfenden Eingriffs auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten sei.18 Nach Art. 491 des Strafgesetzbuchs des Staates Israel ist die unterlassene Hilfeleistung strafbar, wenn der Täter eine ihm mögliche Hilfeleistung ablehnt, sofern ein Beamter ihn im Falle einer im Gang befindlichen Straftat, eines Schiffsbruchs, eines Feuers, einer Überschwemmung, eines Erdbebens oder eines anderen öffentlichen Unglücks hierzu auffordert. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe von einem Monat. Maimonides geht in seiner Mishneh Torah demgegenüber von einer allgemeinen 13 Dieser Ausdruck der NS-Propaganda tauchte schon in Nr. 4 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. 2. 1920 auf. Zum NS-ideologischen Hintergrund vgl. im Einzelnen Regina Harzer, Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung, Frankfurt am Main, 1999, S. 60 ff. 14 BGBl I 735. 15 Der aus dem kanonischen Recht stammende Satz ist nicht so zu verstehen, dass ein Gesetz durch Wegfall von Grund und Zweck von selbst seine Geltung verliert, vielmehr bedarf es der Aufhebung, sei es durch einen Akt des Gesetzgebers, sei es durch derogatorisches Gewohnheitsrecht. Der Gesetzgeber des Jahres 1953 hätte die Vorschrift des § 330c aus dem Jahre 1935 aufheben können. Demgegenüber versuchte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – vgl. insbesondere BGHSt 6,147 – die Hilfeleistungspflicht des sog. Volksgenossen durch ein an jedermann gerichtetes Gebot der Sittlichkeit zu ersetzen. 16 Das ist nur eine Umschreibung des für den Tatbestand vorausgesetzten Geschehens. 17 Weiterführende Überlegungen zur Rechtfertigung der Kriminalisierung der unterlassenen Hilfeleistung sei es aus verfassungsrechtlicher, sei es aus rechtsethischer Sicht finden sich demgegenüber in den Beiträgen des Bandes Solidarität im Strafrecht, hrsg. v. Hirsch, Neumann, Seelmann. Keiner der Autoren stützt sich auf den Gedanken, dass es um die Stärkung der Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft gehe. 18 BGHSt. 1, 266.

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Pflicht zur Nächstenhilfe aus19. Dies schließt auch die Leistung von Nothilfe gegenüber einem rechtswidrigen Angriff ein. Der Grundtatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nach § 95 des österreichischen StGB setzt einen Unglücksfall oder Gemeingefahr voraus. Außerdem muss die Hilfeleistung zur Rettung aus der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung offensichtlich erforderlich sein. Die Rechtsgüter, um deren Rettung es geht, sind also – anders als in § 323c StGB20 – als Einschränkung der Hilfeleistungspflicht ausdrücklich genannt. Es ist dadurch klar, dass es dem österreichischen Gesetzgeber um Rechtsgüterschutz geht. Eine Pflicht zur Hilfeleistung besteht nicht, wenn diese dem Täter nicht zumutbar ist. Die Rechtsfolge der unterlassenen Hilfeleistung ist Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen. Ein qualifizierter Fall liegt vor, wenn die Unterlassung der Hilfeleistung den Tod eines Menschen zur Folge hat. In Art. 128 des schweizerischen StGB werden verschiedene Verhaltensvarianten unter Strafe gestellt. Zunächst geht es um den Fall, dass der Täter einem Menschen nicht hilft, den er verletzt hat. Hier folgt die Hilfeleistungspflicht aus Ingerenz, es handelt sich also insoweit um ein unechtes Unterlassungsdelikt. Um ein echtes Unterlassungsdelikt geht es dann, wenn der Täter trotz Zumutbarkeit der Hilfeleistung einem Menschen nicht hilft, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt. Hält der Täter einen anderen davon ab, Nothilfe zu leisten oder behindert er ihn dabei, so begeht er ein Sonderdelikt durch aktives Tun. Letztlich bleibt also für die allgemeine Menschenhilfe nur die Rettung aus unmittelbarer Lebensgefahr, der Gesetzeszweck ist somit der Schutz des Rechtsguts Leben.21 Nach Art. 162 § 1 des polnischen Strafgesetzbuchs vom 2. 8. 1997, in Kraft seit 1. 9. 1998, ist die unterlassene Hilfeleistung (nieudzielenie pomocy) nur dann – mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren – strafbar, wenn der Täter einem anderen, der sich in unmittelbarer Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsverletzung befindet, nicht hilft, obwohl er ohne die Gefahr des Verlusts des Lebens oder einer schweren Gesundheitsverletzung, seiner selbst oder eines Dritten, Hilfe leisten könnte. Die Unterlassung ist nicht strafbar, wenn für die Hilfe ein ärztlicher Eingriff notwendig ist oder wenn unverzügliche Hilfe seitens einer hierzu berufenen Institution oder Person möglich ist. Im Gegensatz zum deutschen Recht kann die Gefahr für Sachen von bedeutendem Wert die Hilfeleistungspflicht nicht begründen. Die unterlassene Hilfeleistung (segítségnyújtás elmulasztása) hat in Ungarn eine wechselvolle Geschichte. Der Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 1843 enthielt den 19 Er stützt sich hierbei auf Leviticus 19,16. Vgl. hierzu A. Kirschbaum, The ,Good Samaritan‘ and Jewish Law, Dine Israel 7 (1976) 7 ff. 20 Dementsprechend kann eine Hilfeleistungspflicht nach deutschem Recht auch dann bestehen, wenn es um die Hilfe zur Rettung von Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist, vgl. nur Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke-Schröder, 29. Aufl., § 323c RNr. 14. 21 Zur allgemeinen Nothilfepflicht im schweizerischen Strafrecht vgl. im einzelnen H. Maihold, in: Solidarität im Strafrecht, hrsg. v. Hirsch, Neumann, Seelmann, S. 131 ff.

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Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung, er wurde jedoch in das im Jahre 1878 kodifizierte Strafrecht nicht übernommen, sondern wurde erst 1948 strafrechtlich geregelt. Nach § 166 des geltenden ungarischen Strafgesetzbuchs aus dem Jahre 2012 ist die unterlassene Hilfeleistung dann strafbar, wenn der Täter einem anderen trotz einer Gefahr für dessen Leben oder körperliche Integrität keine zumutbare Hilfe leistet. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren. Wenn das Opfer, das die Hilfeleistung hätte retten können, stirbt, ist die Tat mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren strafbar. Die Vorschrift behandelt in Abs. 3 den Fall der Ingerenz und den Fall einer sonstigen Hilfeleistungspflicht; sie entfernt sich damit von einem echten Unterlassungsdelikt. In diesen Fällen ist eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, bei Eintritt des Todes des Opfers eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren vorgesehen. Art. 125 des StGB der Russischen Föderation von 1996 enthält keine allgemeine Hilfeleistungspflicht. Nur der Täter ist verantwortlich, der zur Sorge für Personen jugendlichen Alters, Kranke oder Hilfsbedürftige verpflichtet ist, die sich nicht selbst helfen können. Der Gedanke einer allgemeinen Menschenhilfe ist mithin dem geltenden russischen Strafrecht fremd. Art. 98 des Strafgesetzbuchs der Türkischen Republik begrenzt die Verpflichtung zur Leistung zumutbarer Hilfe oder Benachrichtigung der zuständigen Behörden auf den Fall, dass es sich um alte, behinderte oder gesundheitlich verletzte Personen handelt. Eine Qualifizierung greift ein, wenn die Unterlassung der Hilfeleistung oder der Benachrichtigung der Behörden zum Tod führt. Nach Art. 223 – 6 Abs. 2 des code pénal (früher: Art. 63 Abs. 2) macht sich strafbar, wer einer Person in Gefahr nicht die Hilfe leistet, die er ohne Risiko für sich oder für Dritte ihr leisten konnte, sei es durch eigenes Handeln, sei es, indem er Hilfe holte. Nach Art. 195 Abs. 1 des spanischen StGB ist wegen unterlassener Hilfeleistung (omisión del deber de socorro) strafbar, wer einem anderen, der hilflos ist und sich in offenkundiger und schwerer Gefahr befindet, nicht Hilfe leistet, wenn er ohne Risiko für sich und für Dritte dies tun könnte. Rechtsvergleichend ist zunächst als Ergebnis festzuhalten, dass den Staaten, in denen die Unterlassung der allgemeinen Hilfeleistung straflos ist, andere gegenüberstehen, in denen sie ein echtes Unterlassungsdelikt darstellt. In den Voraussetzungen und der Reichweite der Nothilfepflicht und damit der Strafbarkeit gibt es jedoch erhebliche Unterschiede. Gemeinsam ist den Einschränkungen der Nothilfepflicht, dass die Hilfeleistung zumutbar sein muss, wobei die Zumutbarkeit zum Teil schon im Gesetz konkreter gefasst wird (z. B. Hilfeleistung ohne Risiko für sich oder Dritte). Es ist davon auszugehen, dass jeder Strafrechtsgesetzgeber, der anders als der nationalsozialistische Gesetzgeber die Idee des Rechts nicht bewusst negiert, nur Straftatbestände zu schaffen bestrebt ist, die er nach seiner Vorstellung von Rechtsethik auch rechtsethisch für geboten hält. Es liegt daher nahe, den rechtsvergleichenden Befund auch vom rechtsethischen Standpunkt aus zu analysieren.

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Auf Grund von Kants kategorischem Imperativ lässt sich nicht entscheiden, ob die angloamerikanisch-chinesisch-japanische oder die kontinentaleuropäische Lösung rechtsethisch vorzugswürdig ist. Denn sowohl die Maxime, ohne Garantenstellung sich nicht einmal in einem Unglücksfall in fremde Angelegenheiten einzumischen, als auch die Maxime, anderen bei einem Unglücksfall Hilfe zu leisten, lässt sich als allgemeines Gesetz aufstellen, ohne dass deshalb die Existenz des Staates oder der menschlichen Gemeinschaft in Frage gestellt würde. Die mit dem kategorischen Imperativ verknüpfte reductio ad absurdum versagt daher als Kriterium für die Wahl der einen oder der anderen Alternative. Anders sieht es aus, wenn man von einem präferenzutilitaristischen Ansatz ausgeht. Denn dann spricht einiges dafür, dass es besser ist, in einer Gemeinschaft zu leben, die ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Solidarität, also auch eine Solidaritätspflicht, kennt. Das gleiche Ergebnis dürfte sich selbst dann ergeben, wenn man im Sinne des klassischen Utilitarismus auf die Vermehrung des Gesamtnutzens aller abstellt. Denn die Nothilfe zugunsten eines Einzelnen vermehrt zugleich den Gesamtnutzen aller, zumindest dann, wenn der Retter selbst nicht einen erheblichen Schaden erleidet. Daher ist die Leistung zumutbarer Hilfe bei einem Unglücksfall von einer utilitaristischen Ethik aus gesehen geboten. Freilich bleibt dann noch die Frage, ob die Verletzung der Solidaritätspflicht durch Unterlassung zumutbarer Hilfe bei einem Unglücksfall oder gemeiner Gefahr bestraft werden sollte. So positiv auch zwischenmenschliche Solidarität ethisch zu bewerten ist, folgt daraus allein noch nicht, dass der Mangel an Solidarität als solcher – und darum geht es bei der unterlassenen Hilfeleistung – als strafwürdiges Unrecht betrachtet werden sollte.22 Die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung nach deutschem Recht wird zum Teil mit dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes begründet, der für die Strafwürdigkeit eines Verhaltens seit Feuerbach von allgemeiner Bedeutung ist. Diese Begründung ist nicht überzeugend. Die Rechtsgüter des Dritten, um deren Schutz es geht, werden im Wortlaut des § 323c StGB gar nicht genannt. Es geht daher bei der Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung nach deutschem Recht darum, ein Mindestmaß an Solidarität sicherzustellen. Der rechtsvergleichende Befund und die rechtsethische Analyse dürften allerdings dafür sprechen, dass in vielen Rechtsordnungen, so auch in Japan und China, die unterlassene Hilfeleistung im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Recht weiterhin straflos bleiben wird. Eher ist die weitere Verbreitung von good Samaritan laws zu erwarten. Diese begünstigen die Menschenhilfe, führen aber nicht zur Bestrafung ihrer Unterlassung.

22 Äußerst klar insoweit Kristian Kühl, Zur Anwendung des Solidaritätsbegriffs auf die unterlassene Hilfeleistung, in: Solidarität im Strafrecht, hrsg. v. Hirsch, Neumann, Seelmann, S. 93 ff., 100 f.

Zur Anwendungsgrenze des Betruges in Japan anhand der Fälle über die Boryokudan-Ausschließung Junko Yamanaka1

A. Einleitung In Japan verringert sich heutzutage nach und nach2 die Anzahl der Mitglieder3 von Boryokudan („gewalttätige Bande“)4. Dazu tragen die gesellschaftlichen Maßnahmen wie Gesetze und Verordnungen zur Ausschließung von Boryokudan bei. Allerdings gibt es auch Kritik an der breiten Anwendung des Betrugstatbestandes nach § 243 des japanischen StGB5 auf die Boryokudan-Mitglieder im Zusammenhang mit dem betreffenden Vermögensschaden. In diesem Beitrag werden zunächst die gesetzlichen Maßnahmen der Kontrolle gegen die Kriminalität von Boryokudan erläutert. Heute beeinflussen die Gesetze und Verordnungen nicht nur die BoryokudanMitglieder, sondern auch Bürger und Unternehmen. Sie spielen eine große Rolle, um Boryokudan aus der Gesellschaft auszuschließen (B.). Danach werden die umstrittenen Entscheidungen des japanischen OGH6 zum Betrug durch BoryokudanMitglieder vorgestellt, damit das Problem einer breiten Anwendung des Betrugstatbestandes deutlich wird. Anschließend werden die verschiedenen Theorien zum Tat1 Meine Meinung, die in diesem Beitrag dargestellt wird, ist meine persönliche Meinung und hat keinen Zusammenhang mit den Meinungen der Organisationen, zu denen ich gehöre oder gehört habe. 2 Die Zahl der Boryokudan-Mitglieder hat seit 2004 die Tendenz abzunehmen. Ende 2014 betrug die Zahl 53.500. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl damit um 5.100 verringert; vgl. Nationales Polizeiamt, Situation von Boryokudan 2014, S. 1. 3 Der Ausdruck „Boryokudan-Mitglieder“ umfasst auch Quasimitglieder und Personen aus der Umgebung des Boryokudan. – Mit „Boryokudan“ werden im vorliegenden Beitrag sowohl die betreffende Organisation als auch deren Mitglieder bezeichnet. 4 Im Ausland ist das Wort „Yakuza“ als Bezeichnung für Boryokudan bekannt, dieser Ausdruck wird aber nur in der Umgangssprache benutzt; vgl. Haruo Nishihara, Bestrebungen zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in Japan, in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, Köln, 2008, S. 1206. Ein Boryokudan stellt normalerweise seine Zugehörigkeit zur Schau und droht anderen. Insoweit unterscheidet er sich von anderen MafiaGruppen, die ihre Mitgliedschaft in der Mafia verstecken; vgl. Masahiro Tamura, Die Verordnung zur Ausschließung von Boryokudan und das künftige Rechtswesen der organisierten Kriminalität, in Sendai-Hogaku 48, 1/2, 2015, 90 ff. 5 Im Folgenden: jStGB. 6 OGH heißt der „Oberste Gerichtshof“ in Japan.

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Junko Yamanaka

bestandsmerkmal des betrugsbedingten Vermögensschadens erörtert, um die problematisch erscheinenden Entscheidungen verstehen zu können (C.). Schließlich werden die Bedeutung von Gesetzen und Verordnungen zur Ausschließung von Boryokudan und die Aufgabe einer angemessenen Anwendung des Betrugstatbestandes zusammengefasst (D.).

B. Maßnahmen zur Ausschließung von Boryokudan I. Die Lage von Boryokudan Seit dem Jahre 2006 nimmt die Anzahl der Festnahmen von Boryokudan-Mitgliedern in Japan tendenziell ab.7 Trotzdem war im Jahr 2014 die Anzahl von Festnahmen wegen Betruges nach § 246 jStGB in der Vergangenheit am höchsten.8 Außerdem schickt der Boryokudan in den letzten Jahren illegal Zeitarbeiter zu Wiederherstellungs- und Wiederaufbauarbeiten nach Ostjapan, damit sie sich an der Wiederherstellung und dem Wiederaufbau nach dem großen Erdbeben in Ostjapan beteiligen.9 In Japan ist auf diese Weise die Präsenz des Boryokudan immer noch stark. Ferner ist der Boryokudan nicht nur wegen des Yakuza-Films weltweit berühmt, sondern wird auch in der Welt als eine transnationale Verbrecherorganisation gesehen.10 In Deutschland wurden schon mehrere Forschungen über die Entwicklung sowie die Bekämpfung des japanischen Boryokudans veröffentlicht.11

7 Die Zahl der Festnahmen von Boryokudan-Mitgliedern 2014 betrug 22.495, die sich im Vergleich zum Vorjahr um 336 (im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre 2.597) verringert hat; vgl. Nationales Polizeiamt, a.a.O. (Fn. 2), S. 5. 8 Vor allem nimmt der Anteil des Sonderbetrugs durch Boryokudan-Mitglieder weiter zu. „Sonderbetrug“ ist die allgemeine Bezeichnung für einen Betrugsstil, bei dem der Täter ohne Zusammentreffen mit dem Opfer dieses anruft und Vertrauen aufbaut, damit er von unbestimmt vielen Opfern durch Überweisungen auf ein von ihm bestimmtes Konto oder durch andere Methoden Bargeld u. a. erschwindelt. Dieser Sonderbetrug umfasst beispielsweise auch den sogenannten Enkeltrick; vgl. Nationales Polizeiamt, a.a.O. (Fn. 2), S. 5. 9 Vgl. Polizei-Weißbuch 2014. S. 128. 10 Die US-amerikanische Regierung hat am 25. Juli 2011 die japanische Yakuza als eine der transnationalen Verbrecherorganisationen, die sie besonders bekämpfen will, öffentlich bekannt gemacht: http://iipdigital.usembassy.gov/st/english/texttrans/2011/07/2011072515373 3su0.5098492.html?distid=ucs#axzz1T9Tm8fr7. 11 Vgl. Hans-Heiner Kühne/Koichi Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Japan, Sonderband der BKA-Forschungsreihe, 2. Auf. 1991, S. 157 ff.; Ulrich Sieber, Organisierte Kriminalität in Japan und in Deutschland, in: Festschrift für Koichi Miyazawa: Dem Wegbereiter des japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurses, Baden-Baden, 1995, S. 264 ff.; Nishihara, a.a.O. (Fn. 4), S. 1205 ff.; Keiichi Yamanaka, Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan, in: Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, 2012, S. 377 ff.

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II. Das Boryokudan-Bekämpfungsgesetz (BBG) Während die Bildung krimineller Vereinigungen in Deutschland nach § 129 des deutschen StGB12 bestraft wird, gibt es keinen vergleichbaren Straftatbestand im japanischen Recht, der unmittelbar die Bildung des Boryokudan bzw. der Beteiligung an dem Boryokudan unter Strafe stellt.13 Trotzdem werden die notwendigen Kontrollen und Maßnahmen in dem „Gesetz zur Verhütung usw. unberechtigter Taten der Boryokudan-Mitglieder (Boryokudan-Bekämpfungsgesetz14)“ vom 15. Mai 1991 (in Kraft getreten am 1. März 1992) normiert. Das Gesetz bezeichnet typischerweise in § 9 BBG die gewalttätigen Forderungstaten der Boryokudan-Mitglieder als unberechtigte Taten und normiert die Unterlassungsanordnungen durch die Sicherheitskommission in § 11 BBG sowie die Sanktion für den Verstoß gegen die Anordnungen in § 46 BBG.15 Außerdem trifft die Sicherheitskommission eine Anordnung für die Benutzungsbeschränkung des Büros eines Boryokudan nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 BBG, damit die Mitglieder sich nicht mehr während eines Streits zwischen einander gegenüberstehenden Boryokudans dort sammeln können.16 Dank des BBG hat die Zahl der Boryokudan-Mitglieder sowie der Streitigkeiten abgenommen.17 Das muss zwar hoch geschätzt werden, aber es hatte die Folge, dass die Anzahl der heimlichen Boryokudan-Mitglieder, die der Kontrolle durch das BBG entgehen, zugenommen hat. Während sie vor der Inkraftsetzung des BBG unmittelbar und gewalttätig Verbrechen im Namen des Boryokudan begangen haben,18 wurde die Art und Weise ihrer Verbrechen danach geschickter und undurchsichtiger; sie mischen sich nämlich in den Geschäftsverkehr der Unternehmen ein und ziehen daraus Gewinn.19

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Im Folgenden: dStGB. Vgl. Sieber, a.a.O. (Fn. 11), S. 274. 14 Im Folgenden: BBG. 15 Vgl. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 11), S. 387 ff. 16 Im Jahr 2012 gab es eine Novelle des BBG, wodurch die Kontrolle gegen Boryokudan stärker wurde. 17 Die Zahl der Boryokudan-Mitglieder hat in fünf aufeinander folgenden Jahren die Mindestzahl seit der Inkraftsetzung des BBG erneuert; vgl. Nationales Polizeiamt, a.a.O. (Fn. 2), S. 1. 18 Der Boryokudan stellt normalerweise seine Zugehörigkeit zur Schau und droht anderen. Insoweit unterscheidet er sich von anderen Mafia-Gruppen, die ihre Mitgliedschaft in der Mafia verstecken; vgl. Tamura, a.a.O. (Fn. 4), S. 90 ff. 19 Vgl. Masahiko Sugita, Die Forschung über die Verordnung zur Ausschließung von Boryokudan, die gesetzlichen Maßnahmen gegen Boryokudan, in Aoyama-Houmukenkyuronshu, 2012, S. 79 ff. 13

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III. Die Richtlinien über die Ausschließung unberechtigter Forderungen Daher wurde die „Richtlinie zur Verhütung von Schäden der Unternehmen durch antigesellschaftliche Mächte“ im Jahr 2007 von der japanischen Regierung über die Ausschließung unberechtigter Forderungen nach dem BBG hinaus erlassen.20 Nach dieser Richtlinie bezeichnen japanische Unternehmen „den völligen Abbruch des Umgangs mit antigesellschaftlichen Mächten“ als Compliance Policy und ergreifen entsprechende Maßnahmen, z. B. die Einführung einer Boryokudan-Ausschließungsklausel21 in Verträge. Außer der unmittelbaren Kontrolle des Boryokudan durch das Gesetz übernehmen demnach Unternehmen, die in der Gesellschaft tätig sind, auch die öffentliche Rolle, den Boryokudan auszuschließen.22 Allerdings wird in der Richtlinie darauf aufmerksam gemacht, dass sie keine Rechtsverbindlichkeit hat, sowie die Maßnahmen durch mittlere und kleine Unternehmen verspätet sind.23

IV. Die Verordnung zur Ausschließung von Boryokudan (VAB)24 1. Die Festsetzung der VAB In dieser Situation wurde die Verordnung zur Ausschließung von Boryokudan in jeder Präfektur seit 2009 erlassen und im Oktober 2011 wurden die Verordnungen aller 47 Präfekturen in Japan in Kraft gesetzt. Im Gegensatz zur Richtlinie haben diese Verordnungen Rechtsverbindlichkeit. Außerdem wurden die Gegenstände der Kontrolle präzise festgelegt. Deshalb steht zu erwarten, dass die Verordnungen zur Ausschließung von Boryokudan besser wirken als bisher.25 Die Verordnungen richten sich sowohl an Boryokudan als auch an Bürger sowie Unternehmen. Bisher waren sie unter allen Umständen Opfer, deswegen wurden sie nicht kritisiert, auch wenn sie auf Verlangen von Boryokudan diese finanziell unterstützt haben.26 Dage20 Der Ausdruck „Antigesellschaftliche Mächte“ meint Banden oder Personen, die mit Gewalt, Macht und betrügerischen Mitteln wirtschaftliche Vorteile erstreben, einschließlich des Boryokudan; das offizielle Statement des Premierministers „betreffend die Richtlinie zur Verhütung von Schäden der Unternehmen durch antigesellschaftliche Mächte“ siehe auf der folgenden Internetseite: http://www.kantei.go.jp/jp/singi/hanzai/dai9/9siryou8_2.pdf. 21 Im Folgenden: BAK. 22 Die Idee der Maßnahme zur Ausschließung des Boryokudan wurde von „Polizei gegen Boryokudan“ in „Die ganze Gesellschaft gegen Boryokudan“ geändert; vgl. Sugita, a.a.O. (Fn. 19), S. 75. 23 Vgl. Hiroki Teuchi, Über die Verordnung der Präfektur von Tokyo zur Ausschließung des Boryokudan, in Libra 12/5, 5. 2012, S. 3. 24 Im Folgenden nur noch: VAB. 25 Vgl. Teuchi, a.a.O. (Fn. 23), S. 3. 26 Vgl. Tamura, a.a.O. (Fn. 4), S. 96.

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gen wird ihnen das nach der Inkraftsetzung der VAB vorgeworfen, weil die Finanzierung durch Unternehmen die wichtigste Rolle für die Tätigkeit von Boryokudan spielt. Deshalb wird den Unterstützern von Boryokudan durch manche Regelungen des VAB ein Nachteil zugefügt.27 2. Die Tokioter VAB28 a) Die konkrete Regelung Im Folgenden wird die Tokioter VAB vom 18. März 2011 als eine repräsentative VAB detailliert erklärt. Das Grundprinzip lautet: In der Erkenntnis, dass der Boryokudan einen ungerechten Einfluss auf das Leben der Bürger sowie die Geschäftstätigkeit im Gebiet der Präfektur ausübt, wird die Tätigkeit zur Ausschließung des Boryokudan auf der Grundlage der Prinzipien dieser Verordnung, nämlich „kein Umgang mit Boryokudan, keine Frucht vor Boryokudan, keine Finanzierung für Boryokudan und keine Nutzung von Boryokudan“, unter Mitarbeit und Kooperation der Präfektur, der Bezirke und der Gemeinden sowie der Bürger und Unternehmen gefördert (§ 3 VAB). An diesem Grundprinzip erkennt man, dass die VAB sich nicht nur an Boryokudan richtet,29 sondern auch an Bürger und Unternehmen, die potenzielle Opfer sind. Konkret gesagt werden die folgenden Verpflichtungen normiert: sich zu vergewissern, dass der Vertragspartner kein Boryokudan-Mitglied ist (§ 18 Abs. 1 VAB); die BAK in einen Vertrag aufzunehmen (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 VAB); das Verbot gegen Unternehmen, Boryokudan mit Vorteilen zu versorgen (§ 24 VAB), zu achten usw. Beachtenswert ist, dass es auch die Möglichkeit der Bestrafung von Unternehmen gibt. Beispielsweise wird die folgende mittelbare (vierstufige) Bestrafung gegen Unternehmen nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 VAB normiert. (1) Wenn ein Unternehmen, Boryokudan mit Vorteilen im Sinne von § 24 Abs. 1 VAB versorgt hat, kann die Sicherheitskommission ihm eine Anweisung, die die notwendige Maßnahme für die Verhütung eines Verstoßes gegen § 24 VAB bezeichnet, erteilen (§ 27 VAB). (2) Wenn das Unternehmen trotz der Anweisung wieder in einem Jahr nach der Anweisung Boryokudan rechtswidrig mit Vorteilen versorgt hat, kann die Sicherheitskommission das bekannt machen (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 VAB). (3) Wenn das Unternehmen trotzdem in einem Jahr nach der Bekanntmachung wieder Boryokudan mit Vorteilen versorgt hat, erhält es eine Unterlassungsanordnung (§ 30 Abs. 5 VAB). (4) Wenn das Unternehmen trotz der Anordnung wiederum Boryokudan mit Vorteilen versorgt hat, wird es (bzw. sein Repräsentant) mit Zuchthausstrafe bis zu 1 Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 5.000.000 Yen bestraft (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 VAB). 27 In Fukuoka wurde ein Unternehmen wegen der Verschaffung eines Vorteils unmittelbar bestraft (§§ 25 Abs. 1 Nr. 3, 15 Abs. 1 Fukuoka VAB); vgl. Tamura, a.a.O. (Fn. 4), S. 100 f. 28 Vgl. Tokyoter Polizeiamt: http://www.keishicho.metro.tokyo.jp/sotai/image/jourei.pdf. 29 Beispiele für die an Boryokudan gerichteten Artikel sind das Verbot der Gründung und der Führung eines Büros für Boryokudan (§ 22 VAB), das Verbot, Jugendliche in das Büro eintreten zu lassen (§ 23 VAB) usw.

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b) Die Bedeutung der Regelung Die Versorgung mit Vorteilen bedeutet, dass das Unternehmen Boryokudan eine Gegenleistung für dessen unberechtigte Tat gibt. Durch die Versorgung mit Vorteilen billigt oder fördert es Boryokudan. Deswegen ist es angemessen und bedeutsam, das Unternehmen in solchen Fällen zu bestrafen. Aber nur das verbrecherische Unternehmen, das die Anweisung, die Bekanntmachung und die Anordnung der Sicherheitskommission ignoriert und unberechtigt die Tat wiederholt, kann bestraft werden. In diesem Sinne ist die Bestrafung zwar nachsichtig, jedoch sie ist gleichzeitig eine einen Schritt weitergehende Vorschrift. Denn das Unternehmen, das eigentlich vor Boryokudan geschützt werden soll, kann bestraft werden, obwohl die Verordnung in erster Linie auf die Ausschließung von Boryokudan abzielt. 3. Der Einfluss der VAB In Folge der Richtlinie und der VAB führte jede Industriegruppe ein Modell der BAK ein und förderte dessen Einführung in jedem Unternehmen. Als repräsentatives Beispiel fertigte die Japanische Bankiers Gesellschaft e.V. „ein Modell der BAK in Bankgeschäftsbedingungen“ sowie „ein Modell der BAK in Kontokorrentklauseln“ nach Rücksprache mit dem Nationalen Polizeiamt und dem Amt für Finanzdienstleistungen an und veröffentlichte diese. Die erstere Klausel zeigt für Kunden beim Vertragsschluss unter dem Titel der Ausschließung antigesellschaftlicher Mächte eine schriftliche Verpflichtung zur Erklärung der Nichtzugehörigkeit zum Boryokudan an.30 Die letztere Klausel zeigt unter dem Titel der Ablehnung eines Geschäfts mit antigesellschaftlichen Mächten an, dass die Bank die Eröffnung des Kontokorrents ablehnt, falls der Betreffende ein Boryokudan-Mitglied ist.31 Außerdem veröffentlichten auch die anderen Industriegruppen ein ähnliches Modell der BAK, z. B. die Immobilien Gesellschaft e.V.32, der Japanische Bauindustrie Verband e.V.33 usw. Diese großen Industriegruppen, die zur Geldbeschaffung von Boryokudan beitragen könnten, übernehmen jetzt die öffentliche Rolle, Boryokudan auszuschließen. Auf diese Weise setzt die japanische Gesellschaft nach Gesetz und Verordnungen nun ernstliche Gegenmaßnahmen zur Ausschließung von Boryokudan ins Werk.

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Japanische Bankiers Gesellschaft e.V., betreffend die Änderung des Modells der Boryokudan-Ausschließungsklausel beim Finanzierungsgeschäft sowie Kontokorrentgeschäft: http://www.zenginkyo.or.jp/fileadmin/res/news/news230602_1.pdf. 31 Japanische Bankiers Gesellschaft e.V., s. o. (Fn. 30); http://www.zenginkyo.or.jp/filead min/res/news/news230602_2.pdf. 32 Immobilien Gesellschaft e.V., betreffend der Maßnahme zur Ausschließung der antigesellschaftlichen Mächte aus dem Immobiliengeschäft: http://www.fdk.or.jp/f_suggestion/. 33 Japanische Bauindustrie Verband e.V., Modelle der Boryokudan-Ausschließungsklausel: http://www.nikkenren.com/about/haijo.html.

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C. Rechtslage und Anwendung des japanischen Betrugstatbestandes I. Die Betrugsrechtsprechung gegen Boryokudan-Mitglieder Bezüglich der Ausschließung von Boryokudan hat der japanische OGH in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Entscheidungen zum Betrug erlassen. Besonders wurden zwei Entscheidungen zum Diskussionsgegenstand34, und zwar ein Fall, in dem ein Vorteilsbetrug (§ 246 Abs. 2 jStGB35) auf Golfplätzen bejaht wurde, und ein Fall, in dem dieser verneint wurde. Zu diesen Fällen wurde darüber gestritten, ob das Merkmal der betrugsbezogenen Täuschung erfüllt war. 1. Der erste Golfplatz-Fall (Miyazaki-Fall)36 Das Boryokudan-Mitglied X hatte auf einem Golfplatz37 gespielt, ohne seine Zugehörigkeit zu dem Boryokudan anzugeben. Der OGH hat folgende Feststellungen getroffen: Der Golfclub habe zwar in seinen AGB geregelt, die Benutzung des Golfplatzes durch Boryokudan-Mitglieder abzulehnen, und auf einem Plakatträger am Eingang erklärt, dass Boryokudan-Mitglieder hier nicht Golf spielen dürften. Auf dem Antragsformular habe es aber weder einen Eintrag über eine eventuelle Zugehörigkeit zu den Boryokudan gegeben noch seien für Gastspieler andere Maßnahmen wie eine Erklärung oder ein Versprechen der Nichtzugehörigkeit vorgesehen gewesen. Der Angestellte des Golfclubs habe daher auch nicht festgestellt, dass X kein Boryokudan-Mitglied war. X habe einfach seinen richtigen Namen in das Antragsformular für Gastspieler eingetragen und auch nicht ausdrücklich erklärt, kein Boryokudan-Mitglied zu sein. Außerdem hätten andere Golfclubs in der Nähe schon öfter ein Golfspiel von Boryokudan-Mitgliedern auf ihrem Platz geduldet. Da der Angestellte des Golfclubs glaubte, X wäre kein Boryokudan-Mitglied, konnte X eine Nutzungsvereinbarung mit dem Golfclub treffen, Golf spielen und danach die Spielgebühren bezahlen. Dass Gastspieler ohne Erklärung der Nichtzugehörigkeit zu den Boryokudan wie andere Gäste den Antrag mit ihrem richtigen Namen stellten, umfasste nach Auffassung des OGH nur ihren Willen, den Golfplatz normal zu nutzen und die Gebühren nach dem Golfspiel zu bezahlen. Darüber hinaus bedeute der Antrag aber nicht, nicht zu den Boryokudan zu gehören. Deshalb sei die Antragstellung keine tatbestandsmäßige Täuschung, sodass der OGH einen Betrug nach § 246 Abs. 2 jStGB verneint und X freigesprochen hat. 34

Im Folgenden werden die beiden OGH-Entscheidungen „Golfplatz-Fälle“ genannt. s. u. (C. II. 1.). 36 OGH, Beschl. v. 28. 3. 2014 = Keishu, Bd. 68, 3, 646. 37 Tatsächlich hatte X zwei Golfplätze besucht und der OGH hatte für beide Fälle gesondert entschieden. Hier wird nur einer der Fälle erwähnt, da sich Sachverhalt und Begründung beider Fälle weitestgehend gleichen. 35

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2. Der zweite Golfplatz-Fall (Nagano-Fall)38 Das Boryokudan-Mitglied Y hatte im Komplott mit A die Benutzung des Golfplatzes als dessen Begleiter beantragt und dann selbst auch Golf gespielt, ohne seine Zugehörigkeit zu den Boryokudan zu offenbaren. Der Golfclub hatte in seinen AGB Boryokudan-Mitgliedern das Betreten und Benutzen des Golfplatzes untersagt. Gäste mussten vielmehr beim Eintritt versprechen, selbst nicht Boryokudan-Mitglied zu sein, kein Boryokudan-Mitglied im Golfclub vorzustellen oder als Begleiter mitzubringen. A hatte dies bei früheren Eintritten dementsprechend selbst erklärt und versprochen. Gleichwohl hatte er die Boryokudan-Mitgliedschaft des Y verheimlicht und ihn als Begleiter mitgebracht. Y hatte bemerkt, dass er wegen der strengen Ausschließung von Boryokudan-Mitgliedern abgelehnt werden würde und deswegen seinen Antrag dem A überlassen. Dieser befürchtete, dass es herauskommen könne, dass Y ein Boryokudan-Mitglied sei und deshalb keine Erklärung abgegeben, den Namen des Y vielmehr vermischt mit anderen Namen ungeordnet auf die Reservierungsliste geschrieben und dann der Rezeption vorgelegt. Außerdem hatte er im Auftrag des Y den Golfclubangestellten um Unterschrift gebeten, damit Y nicht selbst zur Unterschrift an die Rezeption kommen musste. So konnte Y eine Nutzungsvereinbarung mit dem Golfclub abschließen und Golf spielen. Die Spielgebühr des Y hat A am nächsten Tag bezahlt. Der OGH hat in seiner Begründung ausgeführt: Der Grund, dass der Golfclub die Benutzung durch Boryokudan-Mitglieder ablehnt, liege darin, dass die Anzahl der Gäste des Clubs sich verringern könnte, wenn andere Gäste Boryokudan-Mitglieder fürchteten und deswegen nicht die erhoffte sichere und bequeme Spielumgebung haben würden. Außerdem wolle der Club den Verlust seiner Vertrauenswürdigkeit und Reputation vermeiden. Der Ausschluss von Boryokudan-Mitgliedern sei also allein aus betrieblichen Gesichtspunkten veranlasst. Deswegen habe der Club Boryokudan-Mitgliedern das Betreten sowie die Benutzung untersagt und Erklären sowie Versprechen der Nichtzugehörigkeit zu den Boryokudan verlangt. Zudem habe er anhand eines Namenseintrags solcher Gäste in einer clubeigenen Boryokudan-Datenbank deren Identität überprüft. Der Golfclub hätte nie ein Golfspiel des Y erlaubt, wenn er von dessen Boryokudan-Mitgliedschaft gewusst hätte. Unter diesen Umständen bedeute allein der Antrag des A für seinen Begleiter seinen Willen, auch zu gewährleisten, dass sein Begleiter kein Boryokudan-Mitglied ist. Die Nichtzugehörigkeit zu den Boryokudan sei deshalb eine ausschlaggebende Tatsache und der Entscheidungsgrund des Angestellten für die Erlaubnis zu einer Benutzung des Golfplatzes. Der Antrag des A habe daher den Angestellten über die Nichtzugehörigkeit des Y zu den Boryokudan in den falschen Glauben versetzt. Der OGH hat dementsprechend hier eine tatbestandsmäßige Täuschung bejaht und einen Betrug nach § 246 Abs. 2 jStGB angenommen.

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OGH, Beschl. v. 28. 3. 2014 = Keishu, Bd. 68, 3, 582.

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II. Der japanische Betrugstatbestand 1. Die Tatbestandsmerkmale des Betruges Das jStGB regelt den Betrug in § 246 jStGB wie folgt: „Wer einen anderen täuscht und sich dadurch eine Vermögenssache aushändigen lässt, wird mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren bestraft (§ 246 Abs. 1 jStGB). Wer mit letztgenannter Methode sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft oder von einem Dritten sich verschaffen lässt, wird auch mit Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren bestraft“ (§ 246 Abs. 2 jStGB)39. Der Betrugstatbestand bedarf also der Täuschung, der Irrtumserregung, der Vermögensverfügung und der Kausalität zwischen den Tatbestandmerkmalen. Ein Vermögensschaden ist dem Gesetzeswortlaut nach nicht vorausgesetzt. 2. Der Vermögensschaden als Tatbestandsmerkmal des Betruges Trotzdem wird der Vermögensschaden der h. M. zufolge kraft Natur der Sache als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal angesehen.40 Denn der Betrug wird in Japan historisch wie der Diebstahl als ein Vermögensdelikt geregelt und behandelt41 und das geschützte Rechtsgut ist dabei das Vermögen.42 Nach anderer Meinung bedarf es keines Vermögensschadens als eines besonderen Tatbestandsmerkmals.43 Trotzdem wird die Beeinträchtigung des Rechtsguts selbstverständlich auch von dieser Meinung verlangt und der Vermögensschaden durch alle anderen Elemente der Tatbestandsmäßigkeit als Ganzes festgestellt, und zwar anhand der irrtumsbedingten Vermögensverfügung.44 Aber das ruft eine „Verschleifung“ der Tatbestandsmerkma39

Im jStGB werden Sachbetrug (§ 246 Abs. 1) und Vorteilsbetrug (§ 246 Abs. 2) unterschieden; vgl. Keiichi Yamanaka, Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Eigentums- und Vermögensdelikten anhand der Entscheidungen in der japanischen Judikatur, ZIS 5/2012, 253; nach dem alten jStGB wurde nur der Betrug in Bezug auf Vermögenssachen und Urkunden bestraft. Diese Vorschrift wurde kritisiert, weil danach kein Rechte- und Vorteilsentzug bestraft werden konnte. Deshalb wurde der Vorteilsbetrug als Abs. 2 bei der Gesetzesänderung hinzugefügt; vgl. Keiichi Yamanaka, Strafrecht BT, 3. Auflage, Tokyo, 2015, S. 384. 40 Vgl. Tomoko Adachi, Täuschungshandlung beim Betrug (1), Wiedergestaltung des Rechtsguts und des Täuschungsbegriff beim Betrug, in: Housei-Ronshu 208/2005, 98. 41 Vgl. Hirobumi Shitara/Chizuho Fuchiwaki, Rechtsgutsbeeinträchtigung und Vermögensschaden beim Betrug, in: Law & Practice 08/2014, 162. 42 Yamanaka, Strafrecht BT, a.a.O. (Fn. 39), S. 343. 43 Nach der Lehre des rechtsgutsbezogenen Irrtums über Tatsachen ist beispielsweise das Augenmerk vielmehr auf den Irrtumsgegenstand zu richten, d. h. worüber man geirrt hat. Es sei einfacher, den Irrtumsbegriff zu beschränken, als den Begriff des Vermögensschadens zu betrachten; vgl. Takeyoshi Imai/Kentaro Kobayashi/Soichiro Shimada/Takashi Hashizume, Strafrecht Besonderer Teil, Tokyo, 2007, S. 168 ff. 44 Atsushi Yamaguchi, Die neue Tendenz über den Betrug, in: Kenshu, 794, S. 7; vgl. Shogo Takahashi, Großer Kommentar Strafgesetzbuch, Band 13, 2. Auflage, Tokyo, 2000, § 246, Rn. 252: Nach der Mindermeinung ist der Vermögensschaden nicht erforderlich, weil der Betrug in täuschungsbezogenem Sach- und Vorteilsschwindel besteht.

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le Vermögensverfügung und Vermögensschaden hervor45 und der Tatbestand verliert damit seine „Bedeutung als Garantiefunktion für das Strafgesetz“, wonach „er alle gesetzlich normierten Voraussetzungen der Strafbarkeit einschließt, die zu Ungunsten des Täters weder durch Gewohnheitsrecht noch durch Analogie begründet oder erweitert werden können.“46 Wenn man den Vermögensschaden zuletzt feststellt, ist es nötig, ihn als besonderes ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal festzulegen.47 Das erklärt auch, warum der Vermögensschaden als Tatbestandsmerkmal notwendig ist. Der Vermögensschaden spielt selbstverständlich auch eine materielle Rolle. Er fungiert als Abgrenzungsmerkmal zur Strafbarkeit, wenn der Getäuschte beim betrugsbezogenen Geschäft eine angemessene Gegenleistung erhält. Auch wenn der Betroffene wegen der Täuschung einem Irrtum verfällt, sollte man solche Fälle nicht durch den Betrug schützen. Denn der Betrug schützt nicht die Dispositionsfreiheit.48 Gerade bei den Golfplatz-Fällen geht es um eine solche Abgrenzung zur Strafbarkeit bei wirtschaftlich angemessenen Geschäften.49 Daher diskutiert man heute, was eigentlich ein Vermögensschaden ist und wie man die Erweiterungstendenzen der Betrugsstrafbarkeit einschränken kann.50

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Das Verschleifungsverbot wurde bei der Untreue vom bundesdeutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG Beschl. v. 23. 6. 2010 = NStZ 2010, 626 ff.) ins Feld geführt und wurde auch beim Betrug (BVerfG Beschl. v. 7. 12. 2011 = NStZ 2012, 496 ff.) entsprechend erörtert. 46 Sog. Garantietatbestand; vgl. Johannes Wessels/Werner Beulke/Helmut Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Straftat und ihr Aufbau, 45. Auflage, Heidelberg, 2015, Rn. 175. 47 Vgl. Imai/Kobayashi/Shimada/Hashizume, a.a.O. (Fn. 43), S. 167 ff.; Takaaki Matsumiya, Die Golfplatzbenutzung der Boryokudan-Mitglieder und der Betrug, in: Festschrift für Toyoji Saito zum 70. Geburtstag, Tokyo, 2012, S. 149 ff. Anders Madoka Nagai, Die theoretische Struktur der Lehre des formell einzelnen Vermögens beim Betrug, in: Hogaku-Shinmpo 121. 11/12, 3.2015, Tokyo, S. 366, der meint, dass ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal aus dem Gesetzeswortlaut der anderen Tatbestandsmerkmale ersehen werden müsse, dies aber beim Vermögensschaden nicht der Fall sei. 48 Vgl. Tomoko Adachi, Täuschungshandlung beim Betrug (3), Wiedergestaltung des Rechtsguts und des Täuschungsbegriff beim Betrug, in: Housei-Ronshu 212/2006, 372 ff.; ders., Housei-Ronshu 214/2006, 355. Nach ihrer Auffassung ist aber die Dispositionsfreiheit als Rechtsgut des Betruges anzusehen. 49 Der Kontoeröffnungs-Fall ist auch umstritten, weil es hier anscheinend keinen wirtschaftlichen Schaden gibt. Ein Boryokudan-Mitglied Z wollte ein Konto im Namen von Z bei einer Postbankfiliale eröffnen. Beim Antrag hat er erklärt und fest versprochen, kein Boryokudan-Mitglied zu sein. Infolge der Kontoeröffnung hat er ein Sparbuch und eine Cash-Karte bekommen. Aber der Angestellte der Postbank hätte sie nie ausgehändigt, wenn er die ausschlaggebende Tatsache, dass Z ein Boryokudan-Mitglied ist, gekannt hätte. Der OGH hat in diesem Fall einen Betrug angenommen (OGH, Beschl. v. 7. 4. 2014 = Keishu, Bd. 68,4, 715). 50 Vgl. Hirokazu Kawaguchi, Zur Strafbarkeit wegen Betrugs in Japan, Korea und Deutschland, in: Die Erträge und die Defizite der rechtsvergleichenden Forschungen, Konstanz, 2015: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352 – 0 – 296270, S. 150 ff.

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III. Die Erörterung der Golfplatz-Fälle 1. Die Annahme einer Täuschung a) Das Tatbestandsmerkmal der Täuschung Die OGH-Entscheidungen in den Golfplatz-Fällen betreffen die Diskussion über den Vermögensschaden im Rahmen der Erörterung der tatbestandmäßigen Täuschung51 und kommen nicht auf den Vermögensschaden zu sprechen. In den Fällen wird darüber gestritten, ob die Handlung des Angeklagten bzw. eines Mittäters eine tatbestandsmäßige Täuschung im Sinne des Betruges ist. Die Täuschung besteht dabei aus den folgenden beiden Elementen52 : (1) Eine Täuschungshandlung liegt vor, ggf. auch bei konkludenter Begehung oder auch bei einer Unterlassung. (2) Gegenstand und Inhalt der Täuschung sind dann die ausschlaggebenden Tatsachen und die Grundlage der Entscheidung. Das heißt, das Opfer hätte nie die Vermögensverfügung vorgenommen, wenn es sich nicht über die betreffenden Tatsachen und ihren Inhalt geirrt hätte.53 b) Die Täuschung im Miyazaki-Fall Im Miyazaki-Fall wurde (1) die Täuschungshandlung verneint. Es ist umstritten, ob der Antrag des X eine konkludente Täuschung war, da er nicht aktiv getäuscht hatte, sondern nur verschwiegen hatte, Boryokudan-Mitglied zu sein. Der OGH hat seinen Antrag als einen normalen Antrag auf Golfspielen behandelt. Weil der Golfclub keine genügenden Vorkehrungen getroffen hatte, gab es kein gemeinsames Einverständnis der Parteien darüber, dass ein normaler Antrag auch bedeute, dass der Antragsteller kein Boryokudan-Mitglied sei. c) Die Täuschung im Nagano-Fall Im Gegensatz dazu wurde die Täuschung im Nagano-Fall bejaht. Anders als im Miyazaki-Fall hat der Golfclub von dem Mittäter eine Erklärung und das Versprechen verlangt, kein Boryokudan-Mitglied vorzustellen und mitzubringen. Trotzdem hat A diesen Erklärungen zuwider gehandelt, und zwar durch eine konkludente Täuschung (Täuschungshandlung). Daneben hat der OGH (2) den Inhalt einer Täu51

Yukinori Naruse, Der Schutzbereich des Betruges, in: Keihou-Zasshi 54.2, 2.2015, 287. Anonymer Richter, Der Fall, in dem die Handlung der Antragstellung auf Benutzung eines Golfplatzes, der die Benutzung durch Boryokudan-Mitglieder ablehnt, ohne Erklärung über die Zugehörigkeit zum Boryokudan, nicht als betrugsbezogene Täuschung beurteilt wurde, in: Hanrei-Times 1409, 4.2015, 137. 53 Hanrei-Times, a.a.O. (Fn. 52); vgl. Masaaki Kato, Die Täuschungshandlung beim Betrug, in: Kanagawa-Hogaku 47. 1, 2014, 75, der meint, dass die Täuschungshandlung dazu eine zivilrechtliche Bedeutung haben müsse; Mitsue Kimura, Die Erforschung des Betrugs, Tokyo 2000, S. 274, die meint, dass die Täuschungshandlung sich auf den wirtschaftlichmateriellen Schaden richten müsse. 52

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schung bejaht und die Tatsache, über die Y getäuscht hatte, inhaltlich für ausreichend erachtet. Dass der Golfclub keinen Vertrag mit Boryokudan-Mitgliedern erlaube, sei betrieblich entscheidend.54 2. Die Problemstellung der Golfplatz-Fälle Auf diese Weise spricht die Entscheidung der Golfplatz-Fälle den Vermögensschaden nicht an. Der OGH hat die Entstehung eines Betruges über das Tatbestandsmerkmal der Täuschung im Miyazaki-Fall eingeschränkt.55 Aber wie oben schon erwähnt,56 ist das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens notwendig und diese Fälle sind deshalb problematisch, weil sie scheinbar zu keinem Vermögensschaden führten. Die Golfplatz-Fälle haben einen ähnlichen Sachverhalt und man bemerkt unter dem Gesichtspunkt des Schadens nicht, welcher Unterschied zwischen den beiden Fällen zu den unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Wie kann man nun die Fälle aus der Sicht des Tatbestandsmerkmals des Vermögensschadens nach den japanischen Theorien auflösen?57 54

Dieses Kriterium, ob der Golfclub Maßnahmen zum Erwerb der Informationen über die Boryokudan-Zugehörigkeit getroffen hat, gleicht dem Ansatz der „Viktimodogmatik“. In Deutschland wird unter dem Stichwort „Viktimodogmatik“ debattiert, ob und wann das Opferverhalten eventuell dazu führen kann, dass ein Tatbestand nicht eingreift. Danach erfährt durch die Viktimodogmatik die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit eine negative Eingrenzung von der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit her. Die tatbestandsmäßige Täuschung sollte nur bei Verletzung eines Rechts des Opfers auf Wahrheit strafbar sein. Es sei nur dort angemessen, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen, wo sich das Opfer nicht in anderer zumutbaren Weise gegen die Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter habe wehren können. Daher sei dort, wo sich das Opfer selbst ohne Weiteres die notwendigen Informationen verschaffen könne, kein Raum für eine strafbare Täuschung. Die Golfplatz-Fälle können auch der Viktimodogmatik entsprechend verstanden werden; vgl. Tatjana Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, JZ 19/2006, 957, Bernd Schünemann, Die Zukunft der Viktimo-Dogmatik: die viktimologische Maxime als umfassendes regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung im Strafrecht, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, München, 1984, 362; Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, StGB Band 9/1: §§ 263 bis 266b, 12. Auflage, Berlin, 2012, Klaus Tiedemann, Vor § 263, Rn. 35; Peter Kasiske, Die konkludente Täuschung bei § 263 StGB zwischen Informationsrisiko und Informationsherrschaft, GA 2009, 367. 55 Vgl. Naruse, a.a.O. (Fn. 51), 288 f. 56 s. o. (C. II. 2.). 57 In Deutschland gibt es ein aufschlussreiches Urteil (LG Mannheim, NJW 1977, 160.), das einen Betrug nach § 263 dStGB angenommen hat, weil es einen tatbestandsmäßigen Vermögensschaden festgestellt hat. In diesem Fall hatte der Angeklagte dem Vermieter vorgespiegelt, die Wohnung für seine Sekretärin anzumieten, tatsächlich sie dann aber einem Callgirl überlassen. Das Gericht begründete die Verurteilung wie folgt: Das Vermögen des Hauseigentümers sei durch die konkrete Gefährdung seines Rufes und der damit erschwerten Vermietbarkeit der übrigen Wohnungen im Hause geschädigt. Gemessen am Maßstab des Callgirl-Falles könnte vielleicht auch ein Vermögensschaden bei den Golfplatz-Fällen festgestellt werden. Denn die OGH-Entscheidung im Nagano-Fall erwähnt den Gästeverlust wegen befürchteter Boryokudan-Gäste sowie die Verletzung der Vertrauenswürdigkeit und der

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IV. Der betrugsbedingte Vermögensschaden 1. Die Theorien zum Vermögensschaden In Japan gibt es viele verschiedenen Theorien zum Vermögensschaden.58 Nach der Lehre von der Gesamtsaldierung wird ein Vermögensschaden unter dem Gesichtspunkt des Vermögens als Ganzes in seinem wirtschaftlichen Wert festgestellt.59 Ein Vermögensschaden tritt ein, wenn der Gesamtsaldo eine Einbuße an Vermögenswerten aufweist (Lehre von der Gesamtsaldierung). Aber diese Meinung ist eine Mindermeinung, weil der Betrug anders als die Untreue gemäß § 247 jStGB60 ein Delikt gegen einzelne Vermögensgegenstände oder Vermögenswerte ist. Nach h. M. ist der Schadensbegriff des Betruges der Verlust eines einzelnen Vermögensgutes (Lehre des Einzelvermögens). Auch innerhalb dieser Meinung gibt es aber verschiedene Ansichten darüber, wann tatsächlich ein wesentlicher Schaden entsteht.61 a) Die Lehre des formell einzelnen Vermögens Nach der Lehre des formell einzelnen Vermögens ist die Verlagerung einer Vermögenssache oder einzelner Vermögenswerte eine Beschädigung des einzelnen Vermögens. Dann aber ist der Vermögensschaden nicht von der Vermögensverfügung verschieden62 und die Bedeutung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals

wirtschaftlichen Stellung im Wettbewerb. Jedoch ist der Mietvertrag ein fortdauernder Vertrag, die Nutzung des Golfclubs dagegen ein einmaliger Vorgang. Die Reputation der Wohnungen verringert sich bei dauernder Nutzung durch Callgirls. Dagegen bemerken andere Gäste auf dem Golfplatz nicht die Anwesenheit der Boryokudan-Mitglieder, wenn diese normal Golf spielen und ihre Mitspieler nicht gerade bedrohen. In solch einem einmaligen Zusammentreffen erkennt man allenfalls eine abstrakte und noch keine konkrete Gefährdung. 58 Vgl. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 39), S. 253 ff.; Rikizo Kuzuhara, Sachbetrug ohne Vermögensschaden?, Strafbarkeitserweiterung des Betruges in der japanischen Rechtsprechung, in: Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag, Berlin, 2013, S. 825 ff.; Masamitsu Tomikawa, Vermögensschaden in Rahmen des japanischen Betrugstatbestandes, in: Japanisches Recht im Vergleich, Frankfurt am Main, 2014, S. 99 ff. 59 Mikito Hayashi, Neue Tendenzen des Betruges, in: Hoso-Jiho, 57/2005, 664, 666. 60 Untreue: Wenn jemand, der Geschäfte eines anderen für ihn betreibt, in der Absicht, sich oder einem Dritten eine Bereicherung zu verschaffen oder dem anderen einen Nachteil zuzufügen, seiner Aufgabe zuwiderhandelt und dem anderen einen Vermögensnachteil zufügt, wird er mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 500.000 Yen bestraft (§ 247 jStGB). 61 Wataru Ito, Notwendigkeit und Begrenzung des Vermögensschadens beim Betrug (1), in: Keisatsu-Kenkyu 63, 4.1992, 27 ff.; ders., Betrug und Vermögensschaden (1), in: KeihouHanrei-Hyakusen 1, 220/2014, 98. 62 Dieses Phänomen ist der sog. Verschleifung nicht unähnlich, (s. o. C. II. 2. mit Fn. 45).

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„Vermögensschaden“ verliert sich. Es kann nicht als Abgrenzungsmerkmal für die Strafbarkeit dienen.63 b) Die Lehre des materiell einzelnen Vermögens (Die Zweckverfehlungslehre) aa) Die Zweckverfehlungslehre Deshalb hält man nach h. M. die Verlagerung der Vermögenssache nur dann für einen Schaden, wenn ein einzelnes Vermögen materiell geschädigt wird (Lehre des materiell einzelnen Vermögens). Die Frage ist, wann und wie ein materieller Schaden festgestellt wird. Dafür berücksichtigt man subjektive Aspekte, und zwar den Zweck des Getäuschten. Die Zweckverfehlungslehre stellt einen materiellen Schaden fest, wenn man den Zweck eines Geschäftes verfehlt, obwohl man die Sache oder den Vorteil für einen angemessenen Preis als Gegenleistung erhält. Diese Lehre kann zur Strafbarkeitseinschränkung beim Betrug verwendet werden. bb) Der geschützte Zweck Doch wie soll welcher Zweck geschützt werden? Es gibt viele verschiedene Meinungen über einen sozialen Zweck64, einen vernünftigen Zweck65 oder einen vertraglich wichtigen Zweck66. Jeder Zweck berücksichtigt die subjektive Seite des Getäuschten und ist auch dafür wichtig. Aber der Begriff des vernünftigen und vertraglich wichtigen Zwecks ist ungewiss und vielgestaltig. Und der soziale Zweck kann nicht kommerzialisiert werden. Nach der h. M. wird der vertraglich vorausgesetzte ökonomische Zweck geschützt67 (Ökonomische Zweckverfehlungslehre). Anders als in Deutschland68 wird die Zweckverfehlungslehre in Japan hauptsächlich bei ge63 Vgl. Nagai, a.a.O. (Fn. 47), S. 365 ff., der von seinem Standpunkt aus an der Lehre des formell einzelnen Vermögens kritisiert, dass das Abgrenzungsmerkmal von der Lehre des materiell einzelnen Vermögens nur ein offenes Merkmal sei. 64 Vgl. Kyoko Kikuchi, Vermögenschaden im Fall des angemessenen Entgeltes beim Betrug (2) – Das Problem der Dispositionsfreiheit (2) –, in: Tokai-Hogaku 18, 1997, 55. 65 Hideki Oshita, Vermögensschaden beim Betrug, in: Shin-Hanrei-Kaisetsu-Watch 24. 1. 2014, 3. 66 Vgl. Satomi Tayama, Vermögensschaden beim Betrug, in: Festschrift für Takehiko Sone und Morikazu Taguchi zum 70. Geburtstag (2), Tokyo, 2014, S. 154 ff.; Naoki Oda, Aspekte des Vermögensdeliktes und die Auffassung des Betruges, in: Hiroshima-Hogaku 26. 3, 2003, 210 ff., der die Handelsfreiheit als Rechtsgut des Betruges ansieht und meint, dass die Verfehlung des Geschäftszwecks eine Verletzung des Rechtsguts sei. 67 Hiroshi Otsuka, Betrug und Vermögensschaden, in: Keihou-Hanrei-Hyakusen 1, 220/ 2014, 103; Keiichi Yamanaka, Vermögensschaden und Geschäftszweck beim Betrug, in: Hogaku-Shimpo 121. 11/12, 3.2015, 402 ff.; Tayama, a.a.O. (Fn. 66), S. 162 ff.: Dabei handelt es sich nicht um eine Zweckverfehlung, aber einen „ökonomischen Vermögensschaden, der eine direkte Beziehung zum Gegenstand des Vertrags hat“, was fast gleich interpretiert wird. 68 In Deutschland ist die Zweckverfehlungslehre hauptsächlich bei einseitigen Geschäften wie Spenden- und Bettelbetrug entwickelt worden; vgl. BGH, NStZ 1995, S. 134 ff.; aber auch

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genseitigen Geschäften und wirtschaftlichen Tätigkeiten angewendet. Werden die wirtschaftlichen Aspekte in Erwähnung gezogen, ist man zur Grundlage des Vermögensdeliktes zurückgekehrt und richtet das Hauptaugenmerk auf den ökonomischen Zweck.69 Ansonsten würde die bloße Dispositionsfreiheit geschützt, die bei wirtschaftlichen Aktivitäten nicht berücksichtigt werden soll. Daher ist die ökonomische Zweckverfehlungslehre überzeugend. cc) Die Beurteilung des ökonomischen Zwecks Der ökonomische Zweck sollte aus individuell-objektiver Sicht bewertet werden, um den Schutz der bloßen Dispositionsfreiheit zu vermeiden. Also ist es wichtig, dass Getäuschter und Täuschender jeweils für sich den Zweck als den Grund der betreffenden Vermögensverfügung anerkennen. Der Zweck ist daher von beiden Geschäftspartnern als Vertragsvoraussetzung anzusehen70. 2. Der Vermögensschaden in den Golfplatz-Fällen Nach der ökonomischen Zweckverfehlungslehre könnte man die Entscheidungen in den Golfplatz-Fällen als konsistent verstehen. a) Die Erörterung des Nagano-Falles Der OGH hebt hervor, dass die ausschlaggebende Tatsache für die Entscheidung der Getäuschten die Boryokudan-Mitgliedschaft des Gastes ist. Denn die anderen Gäste würden aus Furcht vor den Boryokudan nicht mehr kommen, wenn der Golfclub das Golfspiel der Boryokudan-Mitglieder erlaube. Außerdem werde die Ausschließung der Boryokudan von der Gesellschaft verlangt und streng durch Gesetze und Verordnungen geregelt.71 Einen Golfclub, der diese gesellschaftliche Forderung nicht berücksichtige, besuchten wahrscheinlich weniger Gäste. Der Club brauche daher ihr Vertrauen, um seinen Rang für seinen Betrieb zu halten. Die Ablehnung der Boryokudan sei betrieblich sehr wichtig, um andere Gäste ständig zu halten.

beim wirtschaftlich ausgeglichenen Austauschgeschäft wird die Zweckverfehlungslehre angewandt (OLG Düsseldorf v. 6. 3. 1990, 5. St 449/89, BGH v. 11. 9. 2003, StR 524/02): vgl. Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, StGB Band 5: §§ 263 – 358, 2. Auflage, München, 2014, Roland Hefehdehl, § 263, Rn. 728; Gerhold, Zweckverfehlung und Vermögensschaden, S. 11 ff. 69 Vgl. Yamanaka, a.a.O. (Fn. 67), 402 ff., der meint, dass die Vermögenswerte der Gegenleistung eines Geschäfts auch bei jedem einseitigen Geschäft wie beim Spendenbetrug anerkannt werden können. 70 Yamanaka, a.a.O. (Fn. 67), 403, 430. 71 s. o. (B. II., III, IV.).

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Das genau sei der ökonomische Zweck,72 den man auch an den strengen Maßnahmen zur Ausschließung der Boryokudan, der beim Eintritt geforderten Erklärung und dem Versprechen objektiv erkennen kann. Der Golfclub habe dennoch einem Boryokudan-Mitglied den Golfplatz angeboten, womit er seinen ökonomischen Zweck verfehlt habe. Hierin sei sein Vermögensschaden zu sehen73. b) Die Erörterung des Miyazaki-Falles Hier hatte der Golfclub die Ablehnung des Golfspielens von Boryokudan-Mitgliedern in seinen AGB und per Stellplakat erklärt. Auch er wollte grundsätzlich deren Anwesenheit vermeiden. Dennoch hat der OGH (1) die Handlung als Täuschung verneint und deswegen nicht (2) den Inhalt der Täuschung erwähnt. Ob der Ausschluss der Boryokudan betrieblich wichtig war, ist deswegen nicht direkt aus der Entscheidung zu ersehen. Der OGH hat trotzdem festgestellt, dass der Golfclub keine genügenden Maßnahmen zum Ausschluss der Boryokudan getroffen hat. Während der Golfclub im Nagano-Fall dem Mittäter die Erklärung und das Versprechen beim Eintritt abverlangt hatte, hat der Golfclub im Miyazaki-Fall beides nicht an der Rezeption verlangt.74 Ferner konnte X nicht erkennen, dass der BoryokudanAusschluss für den Golfclub so wichtig war, da andere Golfclubs in der Nähe manchmal das Golfspiel von Boryokudan-Mitgliedern geduldet hatten. Schließlich galt der Zweck nicht als vertraglich vorausgesetzt, konnte er doch nicht objektiv erkannt werden. Wenn der Zweck aber nicht vertraglich vorausgesetzt werde, könne er auch nicht als betrieblich wichtig gelten. Der Golfclub habe keinen ökonomischen Zweck verfehlt und deswegen auch keinen Vermögensschaden erlitten. So kann man auch den Miyazaki-Fall im Sinne der ökonomischen Zweckverfehlungslehre verstehen.

72 Vgl. Masamitsu Tomikawa, Die Vortäuschung der eigenen sozialen Stellung und die Strafbarkeit des Betruges, in: Hogaku-Shimpo 121. 5/6, 10.2014, 293 ff. Er verneint die wirtschaftlichen Aspekte der Ausschließung der Boryokudan. Nach der Richtlinie „zum völligen Abbruch des Umgangs mit den antigesellschaftlichen Mächten“ ist der Ausschluss der Boryokudan für Unternehmen primär unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verantwortung notwendig und wichtig. Aber der Hauptzweck der Unternehmen ist kein soziales Engagement, sondern die wirtschaftliche Tätigkeit. 73 Dagegen wird dieser Fall mangels Stoffgleichheit kritisiert, weil der Schaden auf Grund der verringerten Gästezahl nicht unmittelbar dem Angebot des Golfplatzes (der Verfügung des Vermögensvorteils) entspreche. Ein entfernter und mittelbarer Schaden betreffe aber keinen betrugsbezogenen Vermögensschaden; so Tayama, a.a.O. (Fn. 66), S. 162; Matsumiya, a.a.O. (Fn. 47), S. 162,165; ders., Der Betrug und das funktionelle Sicherheitsrecht, in: Festschrift für Katsuyoshi Ikuta, Kyoto, 2014, S. 374 ff.; Takehito Sasai, Die Grenze der Anwendung des Betruges bei der Ausschließung von Boryokudan, in: Festschrift für Minoru Nomura zum 70. Geburtstag, Tokyo, 2015, S. 343. 74 Die VAB und der wirkliche Stand des Betriebes sind diskrepant; Kyotaro Takimoto, Erforschung der strafrechtlichen Rechtsprechung – Der wirkliche Stand des Betriebs des Opfers und die Beurteilung der Täuschungshandlung –, in: Hokudai-Hogaku-Ronshu 66. 2. 76, 7.2015, 318 ff.

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V. Kurze Zusammenfassung Die OGH-Entscheidungen in den Golfplatz-Fällen erörtern statt des Vermögensschadens nur die tatbestandsmäßige Täuschung. Im Nagano-Fall hat der OGH anscheinend den Betrug ohne Vermögensschaden angenommen. Um diese problematisch erscheinende Rechtslage zu erklären, kann man die ökonomische Zweckverfehlungslehre verwenden. Diese Lehre setzt den Schutzbereich des betrugsbedingten Vermögens wirtschaftlich fest und unterscheidet überzeugend zwischen den beiden Golfplatz-Fällen, die einen ähnlichen Sachverhalt haben. Auf diese Weise kann man verstehen, dass das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens wirkungsvoll funktioniert und eine Ausweitung der Betrugsstrafbarkeit damit begrenzt wird. Trotzdem scheint es noch problematisch, einen Betrug in Fällen wie dem NaganoFall anzunehmen, wenn der japanische Betrugstatbestand andere Werte als das individuelle Vermögen, und zwar das gesellschaftliche Interesse schützen würde. Die Betrugsstrafbarkeit in den Golfplatz-Fällen kann unter dem Gesichtspunkt des Vermögensschadens nicht zutreffend eingeschränkt werden, falls das gesellschaftliche Interesse an der Bekämpfung des Boryokudan-Unwesens, das der Betrug gegen individuelles Vermögen ursprünglich nicht als Rechtsgut schützt, geschützt wird. Wenn die OGH-Entscheidungen demnach ein an sich nicht erfasstes Rechtsgut dennoch geschützt hätten, wäre dies unter dem Gesichtspunkt des ultima-ratio-Prinzips problematisch.75 Um dieses Problem zu vermeiden, schlage ich vor, dass man die Lehren zur Einschränkung der Strafbarkeit strikt anwendet. Es ist notwendig, bei der Frage des Vermögensschadens zu entscheiden, ob das Vermögen unter dem Gesichtspunkt des Rechtsguts eigentlich noch innerhalb des Schutzbereichs liegt. Dazu trägt eine noch strikter ausgelegte ökonomische Zweckverfehlungslehre bei. Wichtig ist, den Zweck auf den vertraglich vorausgesetzten ökonomischen Zweck zu beschränken. Hierbei ist zu berücksichtigen, ob Selbstschutzmaßnahmen vom Opfer getroffen worden sind oder nicht, um so den fraglichen Zweck festzulegen und zu dokumentieren. Die Selbstschutzmaßnahme indiziert, ob ein Zweck vertraglich vorausgesetzt ist oder nicht. Erst wenn der Zweck noch innerhalb des Schutzbereichs des Betruges liegt, lässt sich beurteilen, ob er durch das Geschäft auch verfehlt worden ist. Diese Zweckverfehlung muss dann den individuellen Vermögensschaden verursacht haben.

D. Fazit In der japanischen Gesellschaft ist heute die Ausschließung von Boryokudan sicherlich erforderlich. Wie oben erwähnt,76 wurden das BBG und die Richtlinie sowie 75 Vgl. Hokuto Shijo, Verdecktes Rechtsgeschäft und Betrug – bezüglich der Benutzung des Golfplatzes von Boryokudan-Mitgliedern –, in: Toin-Hogaku 20. 2, 2014, 97. 76 s. o. B.

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die VAB erlassen, um Boryokudan aus der Gesellschaft auszuschließen. Die BAK beim Vertrag, die infolge der VAB von jedem einzelnen Unternehmen eingeführt werden soll,77 gibt Anlass zur Analyse der neuen Betrugsfälle von Boryokudan-Mitgliedern. Diese Maßnahmen zur Ausschließung von Boryokudan haben einerseits guten Erfolg bei der Verringerung der Anzahl von Boryokudan-Mitgliedern. Anderseits wäre es problematisch, wenn der japanische Betrugstatbestand anhand der BAK übermäßig erweiternd angewendet würde. Der japanische Betrug ist deswegen in seinem Anwendungsbereich zu begrenzen. Heutzutage sind zahlreiche unterschiedliche Meinungen, einschließlich der ökonomischen Zweckverfehlungslehre, zur Abgrenzung der Betrugsstrafbarkeit entwickelt worden. Aber jedenfalls muss man im Hinblick auf jeden einzelnen Fall sorgfältig erörtern, ob und wie jedes Opfer effektive Maßnahmen, z. B. eine Dokumentierung, zur Ausschließung von Boryokudan ergreift.78 Denn diese Maßnahmen beeinflussen heute mehr oder weniger die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale des Betruges.79 In diesem Sinne wirkt sich die VAB, die sich auch an Bürger und Unternehmen richtet und die genannten Maßnahmen von ihnen verlangt, nicht nur auf die Ausschließung von Boryokudan aus, sondern auch auf den Schutz des potenziellen Opfers eines Betruges. Außerdem darf man nicht vergessen, dass der Betrug das Individualrechtsgut schützt. Als Betrug darf deshalb nur ein Fall, in dem das Vermögen als Individualrechtsgut des Opfers verletzt wird, geahndet werden. Der Schutz der Sicherheit der Gesellschaft durch die Ausschließung von Boryokudan ist ein gesellschaftliches Interesse, das als ein Universalrechtsgut geschützt werden muss. Ein Fall, in dem dieses Universalrechtsgut beeinträchtigt wird, darf nicht als Betrug bestraft werden.80 Die Funktion des Rechtsgüterschutzes im Strafrecht muss auch hier ausreichend berücksichtigt werden. Eine praktische Auslegung des Betruges, bei der das ultima ratioPrinzip des Strafrechts gesichert bleibt, ist daher gefragt.81 77 Der Japan Golfplatz Unternehmer e.V. hat am 11. Oktober 2011 die Mitteilung gemacht, dass jeder Golfplatz-Unternehmer die Maßnahmen einschließlich der BAK zur Ausschließung von Boryokudan infolge der VAB in ganz Japan treffen soll: http://www.golf-ngk.or.jp/gyou sei/23/bouryokudannhaijyo.pdf. 78 Die Maßnahmen zur Ausschließung von Boryokudan werden zwar durch die VAB verlangt, aber die Feststellung der Nichtzugehörigkeit des Vertragspartners zum Boryokudan ist keine gesetzliche Pflicht (§ 18 Abs. 1 VAB). In der Tat sind die Maßnahmen jedes Golfclubs sehr unterschiedlich, obwohl viele Golfclubs AGB zur Ausschließung von Boryokudan eingeführt haben; vgl. Eichi Miyazaki, Der Schutzbereich des Betruges, in: Keihou-Zasshi 54. 2, 2.2015, 332 ff. 79 s. o. C. III. 80 Matsumiya, a.a.O. (Fn. 73), S. 383; er gibt an, dass die ausgedehnte Anwendung des Betruges die Rolle eines „funktionellen Gesetzes zur öffentlichen Sicherheit“ spielt und zur Politik, Boryokudan auszuschließen, beiträgt. Nach § 263 dStGB werden Allgemeininteressen (etwa „die Wirtschaftsordnung“) auch nicht geschützt; vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 63. Auflage, München, 2016, § 263, Rn. 3. 81 Sasai, a.a.O. (Fn. 73) , S. 344.

Zu Strafrechtsphilosophie und -theorie

Vergeltung als relativer Strafzweck bei Plato und Aristoteles José de Sousa e Brito

I. Prävention als Strafzweck in Platon Seneca führt Platon als den Philosophen an, der für die Prävention und gegen die Vergeltung als Strafzweck plädiert. In De ira, I, 19, 7 lesen wir: „wie Platon sagt: ,Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde; ungeschehen machen nämlich kann man Vergangenes nicht, Zukünftiges wird verhindert‘“.1 Seneca zitiert wörtlich aus dem platonischen Dialog Protagoras, wo die Lehre ausführlicher dargelegt wird: „niemand bestraft die, welche Unrecht getan haben, darauf seinen Sinn richtend und deshalb, weil einer eben Unrecht getan hat, außer wer sich ganz vernunftlos wie ein Tier eigentlich nur rächen will. Wer aber mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen, denn er kann sich das Geschehene nicht ungeschehen machen, sondern des Zukünftigen wegen, damit nicht ein andermal wieder, weder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe. Und indem er dieses beabsichtigt, denkt er doch wohl, daß die Tugend kann angebildet werden; denn der Abwendung wegen straft er. Dieser Meinung sind also alle zugetan, welche Strafe verhängen von Volks wegen und zu Hause … wer auf die Züchtigung und Belehrung nicht merkt, [wird] als ein unheilbarer aus dem Staate getrieben oder getötet.“2 Keine Vergeltung, nur Spezialprävention des Verbrechers und Generalprävention aller anderen sind der Vernunft gemäß. Von Liszt wußte 1883 in seinem berühmten Marburger Programm im Grunde nicht Anderes und nicht Besseres zu sagen3. Obwohl Platon die Lehre durch den Mund des Protagoras vortragen lässt, gibt es keinen Zweifel, dass Platon sie selbst verteidigt. Schon deswegen, weil Sokrates anschließend Nichts zu beanstanden weiß. Aber auch weil dieselbe Lehre ohne jeden Hinweis auf Protagoras von Sokrates in Gorgias vertreten wird: „Dies aber kommt jedem in Strafe Verfallenen zu, der von einem anderen auf die Rechte Art bestraft 1

Übersetzung von Manfred Rosenbach, L. Aennaeus Seneca, 1995: „ut Plato ait: ,nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; reuocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur.‘“ 2 Platon, Protagoras 324 a6 – c1, 325 a7 – b1 (Schleiermachers Übersetzung). 3 von Liszt (1882), S. 145 ff.

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wird, daß er entweder selbst besser wird und Vorteil davon hat oder daß er den Übrigen zum Beispiel gereicht, damit andere, welche ihn leiden sehen, was er leidet, aus Furcht besser werden.“4 Der Text des Protagoras wird stillschweigend vorausgesetzt, ohne den Namen des Sophisten zu nennen, wenn Platon in seinem letzten Dialog, die Gesetze, die eigene Meinung in den Mund des Atheners legt: „er [der Übeltäter] diese Strafe nicht wegen seiner Übeltat erleidet – Geschehenes läßt sich ja niemals ungeschehen machen –, sondern damit für die Folgezeit er selbst und diejenigen, die sehen, wie ihm Gerechtigkeit widerfährt, die Ungerechtigkeit gänzlich verabscheuen oder doch zu einem großen Teil von einem solchen Mißgeschick loskommen.“5 Der Passus des Protagoras ist also echt platonisch, ob Plato es nun ursprünglich verfasst oder von dem Sophisten übernommen hat.6 Der Sinn der Kritik von Protagoras an der kausalen Erklärung der Strafe als instinktive Handlung ist, dass eine solche Erklärung nicht das Niveau einer vernünftigen (meta logou) Begründung hat, welche erfordert, dass der Zweck der Handlung gedacht wird. Die Rationalität der Handlung wird aber nicht schon durch die finalistische Struktur der Handlung gewährt, weil nicht jeder Zweck vernünftig ist. Protagoras würde wohl zugeben, dass die Rache als Zweck und nicht nur als Folge von gewissen Antezedenten gedacht werden kann. Die Rache ist aber nicht vernünftig, obwohl sie mit der Handlung bezweckt wird, weil sie das Unrecht vergilt, indem sie ein zukünftiges Übel und nicht etwas Gutes bezweckt. Damit erweist sich jede Vergeltungstheorie, die die Strafe als Übel verstehen wollte, wie die Talionslehre Kants, als unhaltbar. Das gilt natürlich für jede Art des Strafens aus Gründen der allgemeinen Ethik, nämlich, dass nur eine Handlung, deren Zweck als gut gedacht wird, in einem ethischen Begründungszusammenhang stehen bzw. als vernünftig betrachtet werden kann. Somit darf die philosophische Begründung der Theorie der Strafe als Prävention als ein Glanzstück der Anfänge der Moralphilosophie gelten. Wie ein präventives Strafrecht vernünftig gestaltet werden soll, wird aber weder in Protagoras noch in Gorgias behandelt, die keine Gesetzgebung vorschlagen. In den Gesetzen wird jedoch ein kompletter Entwurf der Strafrechtsgesetzgebung vorgestellt. Der Gedanke der Spezialprävention wird dabei konsequent in Bezug auf ungerechte Schädigungen und Bereicherungen entwickelt: „Der Athener: Was nun aber die ungerechten Schädigungen und Bereicherungen betrifft, falls jemand durch eine ungerechte Handlung einen anderen bereichert, so soll man hiervon alles, was heilbar ist, weil es sich hierbei um Krankheiten in der Seele handelt, heilen; diese Heilung der Ungerechtigkeit, so müssen wir sagen, zielt in folgende Richtung. Kleinias: In welche? 4

Platon, Gorgias 525 b1 – 4 (Schleiermacher Übersetzung). Platon, Leges 934 a6 – b3 (Schöpsdau Übersetzung); s. auch im gleichen Sinne: Leges 854 d 8 – 855 a 1. 6 Untersteiner (1967), 106 druckt es in seiner Ausgabe unter den „imitazioni“, kann aber nicht sagen, aus welchem Werk des Protagoras Plato imitieren könnte. Nach Taylor (1976), 96 „There seems to be insufficient evidence to decide wether Plato here reproduces the views of the historical Protagoras“. 5

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Der Athener: Daß ein Gesetz, mag nun einer eine große oder eine kleine Ungerechtigkeit begangen haben, den Täter belehrt und ihn zwingt, eine derartige Tat künftig entweder überhaupt niemals mehr willentlich zu wagen oder doch beträchtlich weniger oft, und zwar zusätzlich zu Wiedergutmachung des Schadens. Ob dies nun jemand durch Taten oder durch Worte oder mit Hilfe von Lust oder Schmerz oder durch Zuerkennung oder Aberkennung von Ehrungen oder durch Geldstrafen oder gar Geschenke oder auf welche Weise auch immer er dies überhaupt erreicht, daß man die Ungerechtigkeit haßt und die wahre Natur des Gerechten liebt oder nicht haßt: genau dies ist die Aufgabe der schönsten Gesetze. Wenn aber der Gesetzgeber merkt, daß einer in dieser Hinsicht unheilbar ist, welche Strafe und welches Gesetz soll er für diese aufstellen? Da er vermutlich einsieht, daß es einerseits für alle Menschen dieser Art selber nicht besser ist, am Leben zu bleiben, daß sie aber andererseits den übrigen einen doppelten Nutzen erweisen, wenn sie aus dem Leben scheiden, indem sie erstens den anderen ein warnendes Beispiel geben, kein Unrecht zu begehen, und sodann die Stadt von schlechten Menschen befreien, so muß also der Gesetzgeber für solche Menschen als Strafe für ihr Vergehen den Tod verhängen, sonst aber auf gar keinen Fall.“7

Plato stellt hiermit klar auf ein Täterstrafrecht ab. Für die Täter, die besserungsfähig sind, soll die Strafe nicht nach der Schwere des Unrechts, sondern, „mag nun einer eine große oder eine kleine Ungerechtigkeit begangen haben“, nach dem Notwendigen zur Heilung der Seele des Verbrechers variieren. Wenn die Strafe hier ausschließlich von der Spezialprävention bestimmt wird, impliziert das, dass die Generalprävention außer Acht bleibt? Nicht unbedingt. Platon behandelt so nur die Vermögensdelikte seitens der Besserungsfähigen und fordert nicht nur spezialpräventive Strafe, sondern auch volle Entschädigung8. Es ist anzunehmen, dass er dachte, dass beides zusammen ausreicht, um die Generalprävention in diesem Bereich zu gewährleisten. Was die übrigen Deliktstypen der Nomoi betrifft, spielt die Generalprävention eine fast immer entscheidende Rolle9. Ein schwerwiegender Fehler des Protagoras liegt darin, zwischen der Strafe „zu Hause“ und der Strafe „von Volks wegen“ keine Unterscheidung zu machen, als ob die gleiche Theorie für die Hausstrafe und für die politische Strafe gelten würde. Es ist aber bei weitem nicht so. Das dürfte schon ersichtlich sein für die Hausstrafe. Denn die allgemeine Prävention hat keinen Platz in der Bestrafung eines Kindes, welche der Öffentlichkeit verborgen bleiben soll. Für die politische Strafe ist sie aber gravierender, weil die Theorie der Strafzwecke außerstande ist, die politische Strafe zu begründen. Die Strafe ist eine der sozialen Handlungen, die den Staat selbst konstituieren. In der Sprache des Protagoras ist der Staat ein Werk der politischen Kunst (politikê technê), dessen Bestand von den demokratischen Dispositionen, von der po7

Leges 862 c 6 – 863 a 2. In Leges 857a 4 – 5 wird doppelter Ersatz erfordert, Dies soll man nach Schöpsdau (2011) durch die spätere Fassung des Diebstahlsgesetzes in 933e 7 – 8 ersetzt betrachten, wonach Ersatz „genau in der Höhe, in der jemand jeweils einen anderen geschädigt hat“, befohlen wird. 9 Als Versuche, die vielen Deliktstypen und Strafen, die in Nomoi vorgeschlagen werden, durch Beziehung auf die Strafzwecke und andere Grundsätze systematisch zu erfassen, vgl.: Wolf (1970), S. 260 – 276, Saunders (1991), S. 139 – 356, Schöpsdau (2011) S. 278 – 305. 8

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litischen Tugend (politikê aretê) aller seiner Bürger abhängt10. Die vernünftige Begründung der staatlichen Strafe hängt damit mit der vernünftigen Rechtfertigung des Staates zusammen, ist eigentlich nur ein Teil davon11.

II. Vergeltung der Schuld als Strafzweck bei Platon Wenn über die Vergeltung als Strafzweck in Plato nachgedacht werden soll, muss zunächst gegen den platonischen Protagoras – und gegen von Liszt – gesagt werden, dass die Vergeltungsstrafe nicht unbedingt eine Instinkthandlung ist. Wenn die Vergeltung als Vergeltung der Schuld verstanden wird, ist sie schon deswegen keine Instinkthandlung, sondern ein relativer Strafzweck. Das erste hat schon von Liszt anerkannt, wenn er bemerkt hat, dass die Strafe als Triebhandlung «im gleichen Verhältnis» zum Schuldbegriff wie zum Zweckgedanken, und zwar vor beiden steht: „Die in der menschlichen Geschichte auftretende primitive Strafe ist unabhängig von irgendeinem sittlichen Urteile über die geschehene Störung der Lebensbedingungen. Sie richtet sich gegen das schädigende Tier, gegen das Kind, gegen den Wahnsinnigen; sie tritt ein ohne jede Rücksicht auf das Verschulden des Täters, ohne Scheidung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall, sie beschränkt sich auch gar nicht auf den Täter, sondern wendet sich in der Blutrache gegen die ganze Sippe desselben. Der Schuldbegriff ist das Ergebnis einer langen allmählichen Entwicklung.“12 Wenn die Strafe nach der Schuld gemessen wird, wird die Vergeltung schon deswegen als relativer Strafzweck gedacht. Die Strafe ist eine gesollte aktive oder passive Leistung des Verbrechers, die Inhalt seiner Verpflichtung ist, und insoweit die spontane Erfüllung nicht stattfindet, wird die Zwangserfüllung angeordnet. Als Leistung variiert sie nach anderen Kriterien als die Schuld. Die Freiheitsstrafe variiert zum Beispiel zwischen lebenslang und zeitig, wobei sie in dem letzteren Fall mehr oder weniger Tage dauern kann. Die Schuld variiert nach den Umständen und insbesondere nach den subjektiven Umständen der Tat, so, zum Beispiel, eine kleinere Schuld, wenn die Tat im Jugendalter, eine größere Schuld, wenn sie aus unprovoziertem Zorn begangen wurde. Die Strafe nach der Schuld zu messen kann nur bedeuten, dass die Strafleistung nach ihren spezifischen Maßkriterien entsprechend der Variationen der Schuld nach den Tatelementen bzw. Umständen variiert: Um so schwerer die Schuld, um so schwerer die Strafe und umgekehrt, und ohne Schuld keine Strafe. Die Strafe nach der Schuld zu messen und die Schuld mit der Strafe zu vergelten, sind gleichbedeutende Ausdrücke derselben zweckgerichteten Aktivi10

So der anthropologische Mythos des Protagoras in Platon, Protagoras, 320 c 8 ff. Darüber: Wolf (1950), S. 35 ff. 11 Im Rechtsstaat wird die Frage nach den Strafzwecken erst durch die verfassungsgemäße Bestimmung des Strafrechts beantwortet. Darüber, ausführlich, s. Brito (2010), S. 305 ff. 12 von Liszt (1882), S. 143 – 144.

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tät. „Vergelten“ bedeutet schon etymologisch „zurückzahlen“13 : Indem die Strafe sich nach der Schuld misst, zahlt sie die Schuld zurück oder vergilt sie. Jede Vergeltungstheorie, selbst wenn sie die Strafe einfach als Vergeltung der Schuld versteht, muss jedoch folgenden Einwand des Protagoras beantworten: nach der praktische Vernunft kann eine Handlung nur dadurch begründet werden, dass sie ein zukünftiges Gut bezweckt. Wie kann die Vergeltung der vergangenen Schuld als ein zu bezweckendes zukünftiges Gut gedacht werden? Die Antwort wurde schon von Platon gegeben, wenn er die Schuld als eine Art von seelischer Krankheit, als persönliche Abwertung oder Schaden in der Person des Verbrechers und die Strafe als Heilverfahren, als persönliche Wiederaufwertung und Ersatz des Schadens auffasste. Wir finden die Theorie erstmals in Gorgias: „Sokrates: War nun nicht Bestraftwerden die Befreiung von dem größten Übel, der Schlechtigkeit der Seele? Polos: Das war sie. Sokrates: Denn die Strafe macht besonnener und gerechter, und ihre Verwaltung wird die Heilkunde für diese Schlechtigkeit.“14 Die Lehre von Platon in Gorgias ist aber formell: die Fortsetzung des Textes15 zeigt, dass er die Strafen, die in vorhandenem Strafrecht als verdient gelten, nämlich Schläge, Gefängnis, Geldbußen, Verbannung, Tod, nicht in Frage stellt, sondern nur als Heilverfahren betrachtet, weil sie als „verdient“ gelten. Wie aber solche Strafen allesamt heilen, bzw. besonnener und gerechter machen können, wird nicht gezeigt. Die Fortsetzung des Dialoges erweist, dass Plato zu dieser Zeit noch nicht die theoretische und praktische Revolution begriff, die eine therapeutische Theorie der Strafe implizierte, indem sie, erstens, die Spezialprävention als Ersatz des vorherigen seelischen Schadens und somit als Vergeltung darstellen konnte und, zweitens, eine radikale Reform des Strafrechts erforderte. Während in Protagoras die Theorie der Strafe als Prävention ohne Beanstanden allein akzeptiert wird, wird sie in der entsprechenden Stelle in Gorgias mit einem Mythos in Verbindung gesetzt, demnach die Vergeltung ein absolutes Erfordernis der Gerechtigkeit ist. Es fragt sich, ob in Platon der Philosoph und der Mythologe sich gegenseitig aufheben. Sokrates sagt dem Kallikles: „Höre denn, wie sie zu sagen pflegen, eine gar schöne Rede, die du zwar für ein Märchen (mythos) halten wirst, wie ich glaube, ich aber für Wahrheit (logos). Denn als volle Wahrheit (ale¯the¯s) sage ich dir, was ich sagen werde“16. Sokrates erzählt anschließend: „Nun war solches Gesetz wegen der Menschen unter dem Kronos schon immer, besteht aber noch jetzt bei den Göttern, daß, welcher Mensch sein Leben gerecht und fromm geführt hat, der gelangt nach seinem Tode zu den Inseln der Seligen, und lebt dort sonder Übel in vollkommener Glück13

Der Große Duden. Etymologie, Mannheim, 1963, Wort „gelten“. Platon, Gorgias 478 d4 – 7 (Schleiermachers Übersetzung). 15 Gorgias 480 a6-d7. 16 Gorgias 523 a 1 – 3.

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seligkeit; wer aber ungerecht und gottlos, der kommt in das zur Zucht und Strafe bestimmte Gefängnis, welche sie Tartaros nennen.“17 Zeus habe ein Gericht mit seinen drei Söhnen Rhadammanthys, Ayakos und Minos nach deren Tod besetzt, um als bloße Seelen die bloße Seele jedes Verstorbenen in vollkommen gerechter Weise zu beurteilen. Nach Erzählung des Mythos kommt die oben zitierte Stelle über die rechte Art des Strafens durch Spezial- und Generalprävention. Sokrates setzt dann fort: „Es sind aber die, welchen selbst zum Vorteil gereicht, daß sie von Göttern und Menschen gestraft werden, diejenigen, welche sich durch heilbare Vergehungen vergangen haben. Dennoch aber erlangen sie diesen Vorteil nur durch Schmerz und Pein hier sowohl auch in der Unterwelt, denn auf andere Weise ist nicht möglich von der Ungerechtigkeit entledigt zu werden. Welche aber das Äußerste gefrevelt haben und durch solche Frevel unheilbar geworden sind, aus diesen werden die Beispiele aufgestellt, und sie selbst haben davon keinen Nutzen mehr, da sie unheilbar sind. Anderen aber ist es nützlich, welche sehen, wie diese um ihrer Vergehungen willen die ärgsten, schmerzhaftesten und furchtbarsten Übel erdulden auf ewige Zeit, offenbar als Beispiele gestellt in der Unterwelt, im Gefängnis, allen Frevlern, wie sie ankommen zur Schau und zur Warnung.“18 Dass die Theorie der politischen Strafe in Zusammenhang mit einer Theorie der Gerechtigkeit nach dem Tode gebracht wird und somit Teil einer einheitlichen Theorie des gerechten Strafens wird, ist einerseits verständlich, andererseits aber unhaltbar. Es ist verständlich, weil Sokrates beide Teiltheorien als logos bezeichnet und besonders betont, dass der Mythos wahr (ale¯the¯s) ist. Außerdem geht es Sokrates in dem Gespräch mit Kallikles – in dem der Satz über die Präventionsstrafe steht – darum, ihn zu überzeugen, dass „man das Unrecht tun mehr scheuen müsse als das Unrecht leiden“, dass wenn jemand schlecht wird, er dann bestraft werden muss und „daß dies das zweite Gut ist nächst dem Gerechtsein“19, dass deswegen der Tyrann Archelaos, der von Polos als Beispiel des glücklichen Unrechtstuenden angeführt wurde, auf jeden Fall elend und, da unbestraft, noch elender ist, weil er „und wer sonst ein solcher Machthaber ist“ ewig in Tartaros leiden wird20. Alle Argumente des Sokrates hängen aber von der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz eines Gerichts nach dem Tode ab. Die Strafe nach dem Tode kann aber keinen präventiven Zweck haben, weil die Seele nach dem Tode kein Verbrechen begehen kann. Die Strafe ist dann reine Vergeltung. Um eine Theorie zu haben, die „sowohl hier wie auch in der Unterwelt“ gilt, muss Platon den Gedanken der Prävention preisgeben. Das tut er auch in Gorgias, wenn er sagt, dass die Täter von heilbaren Vergehungen, welchen die Strafen von Göttern und Menschen zum Vorteil reichen, diesen Vorteil erlangen, aber „nur durch Schmerz und Pein hier sowohl auch in der Unterwelt, denn auf andere 17

Gorgias 523 a 5 – b 4. Gorgias 525 b 4 – c 8. 19 Gorgias 527 b 4 – c 1. 20 Gorgias 525 d 1 – 2. 18

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Weise ist nicht möglich, von der Ungerechtigkeit entledigt zu werden“. Der Vorteil ist also die Entledigung der Ungerechtigkeit durch Vergeltungsstrafe. Kelsen versucht in seinem Platon-Buch21 die Präventionstrafe in Gorgias dadurch zu retten, dass er annimmt, dass man dort schon eine Lehre der doppelten Wahrheit findet. Was für eine? Es gibt eine Interpretation der doppelten Wahrheit, die von Kelsen meines Erachtens zu Recht abgewiesen wird: „die Interpreten, die behaupten, daß Platon nur die dialektische Wahrheit als Wahrheit gelten läßt und den Mythos selbst für ein bloßes Märchen hält, das zu pädagogisch-politischen Zwecken die große Masse der Nicht-Philosophen glauben machen will, steht in offenen Widerspruch zu der Darstellung des Mythos in Gorgias.“ Sokrates richtet seine wiederholte Versicherung, daß der Mythos „wahr“ und kein bloßes Ammenmärchen sei, an drei Personen, die er als „die Weisesten von allen Hellenen“ bezeichnet, nämlich Kallikles, Polos und Gorgias. Der Mythos nach Platon ist „wahrer“ als irgend eine andere Lehre betreffend Lebensführung, denn er ist „besser“; und er ist „wahr“, weil man mit ihm was „beweisen kann“, was nützlich ist, nützlich für das Jenseits, und das heißt hier „sittlich“. Man kann also die doppelte Wahrheit, die Platon in Gorgias nicht annimmt, mit Kelsens Worten als platonische Wahrheit versus pragmatische Wahrheit sehen22. Kelsen kommt dann zu einem anderen Sinn von doppelter Wahrheit: „diese Wahrheit des Mythos schließt aber nicht eine anderer Wahrheit aus, eine Wahrheit höheren Grades, die Wahrheit rational-logischer Erkenntnis“, die Kelsen auch „die dialektische Wahrheit“ nennt. Wir haben hier eine doppelte Wahrheit in einem anderen Sinn – sittliche Wahrheit versus dialektische Wahrheit. Man kann sagen, dass eine doppelte Wahrheit in diesem Sinne in Gorgias zu Sprache kommt, dass aber die dialektische Wahrheit der Prävention von der sittlichen Wahrheit der Vergeltung ganz verdrängt wird. Die Vergeltungsstrafe mag auch präventiv wirken, sie wird nicht dadurch Präventionsstrafrecht, weil sie nicht durch den Zweck der Prävention bestimmt wird. In Gesetzen wird, wie schon gezeigt, anders als in Gorgias, ein konsequentes Spezialpräventionsstrafrecht entwickelt, welches ein Täterstrafrecht auch impliziert. Damit wird aber auch ein Schuldstrafrecht verbunden. Denn im gleichen Abschnitt über Diebstahl und Raub von Privateigentum, wo Platon sein Modell eines Präventionsstrafrechts entwickelt, lässt er die dem Verbrechen entsprechende Strafe nur nach Schuldgesichtspunkten variieren: „der, der durch die Unvernunft eines anderen übel gehandelt hat, weil er sich infolge seiner Jugend oder sonst etwas dieser Art dazu überreden ließ, eine leichtere; derjenige dagegen, der aus eigener Unvernunft übel gehandelt hat infolge seiner Unbeherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz, als er in Ängste der Feigheit und in mancherlei Begierde oder Neidgefühle oder in schwer 21

Kelsen (1985), 165. Es ist ein offensichtlich Versehen Kelsens, wenn er hier sagt „daß Platon nicht wie die Pragmatisten Wahrheit nur als Nützlichkeit, daß er neben dieser Wahrheit auch eine andere gelten läßt, die ein anderes Kriterium als das der Nützlichkeit hat, daß er mit einer doppelten Wahrheit operiert“. Platon mag mit dieser doppelten Wahrheit anderswo operieren, aber in Gorgias gerade nicht. 22

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heilbare Zornleidenschaften geriet, eine schwerere“.23 Diese Orientierung an der Schuld wird dadurch verstärkt, dass Platon anschließend von der Notwendigkeit spricht, dass die Unterscheidungen, die im gesetzlichen Strafmaß zum Ausdruck kommen, durch die richterliche Bemessung der Strafe weiter spezifiziert und konkretisiert werden: „Aus diesem Grunde und mit Blick auf dies alles müssen die Gesetze nach Art eines nicht ungeschickten Bogenschützen in jedem Einzelfall auf die rechte Größe der Strafe und überhaupt ihre Angemessenheit hinzielen. Dieselbe Aufgabe muß der Richter übernehmen und dadurch dem Gesetzgeber zu Hilfe kommen, sooft ihm das Gesetz die Abschätzung dessen überläßt, was der Verurteilte zu erleiden oder zu zahlen hat, der Gesetzgeber hat dagegen wie ein Maler die Aufgaben zu skizzieren“.24 Diese Ausführungen, ebenso wie die vorhergehenden über den Zweck der Strafen, sind offensichtlich von allgemeinem Charakter und gehen über den Rahmen der Vermögensdelikte hinaus. Die Orientierung an der Schuld kommt in Gesetze grundsätzlich zur Sprache, wenn Platon das Problem der Vereinbarkeit der Strafgesetzgebung mit der sokratischen These von der Unfreiwilligkeit der Ungerechtigkeit ausführlich behandelt25. Der entscheidende Gesichtspunkt, der nach Platon die Freiwilligkeit der Handlung begründen kann, ist der der Beherrschbarkeit der Antriebskräfte, die als Schmerz (Oberbegriff von Zorn, Furcht und Neid) oder als Lust und Begierde die Handlung verursachen26. Insoweit die Antriebskräfte oder Motive der Handlung beherrscht werden konnten und sollten und nicht beherrscht wurden, ist die Handlung nicht nur freiwillig (ekonta: willentlich, vorsätzlich), sondern auch schuldig (eine Ungerechtigkeit: adikia) und gegebenenfalls (wenn so von dem Gesetzgeber vorgesehen) strafbar. Wenn eine Schädigung (blabe¯) wegen Unwissenheit begangen wurde, wird sie von den meisten als eine unfreiwillige (unwillentliche, fahrlässige) Ungerechtigkeit (akousios adikia) bezeichnet, ist aber eine bloße Verfehlung (amarte¯ma), die gesetzlich geregelt werden soll. Die Strafe wird nach alledem von der Tatschuld bedingt und die Tatschuld wird insoweit vergolten, als die Schuld der Tat einen Teil der ganzen Krankheit der Seele konstituiert, die von der Strafe geheilt werden soll. Dass die spezialpräventive Strafe insoweit Vergeltung der Schuld der Tat ist, wird dadurch auf dem Begriff gebracht. Die Tatschuld bestimmt aber nach Platon weder die Auswahl noch das Maß der Strafe. In Gesetzen wird die Strafe allein nach der Prävention im Rahmen eines Täter23 Leges 934 a 1 – 6. Aus dem Vergleich zwischen Platons Vorschlägen und dem damaligen Stand der vielen Diebstahlsgesetze Athens schließt Saunders (1991), S. 293 – 294, dass Platon „has achieved a radical simplification of Athenian law… In short, the crude twofold distinction of Attic law between ,simple‘ and ,aggravated‘ theft, and the crude alternatives – stocks apart – of a fine or death, are largely replaced by a single category of theft from private sources, and by a single sliding scale of penalties based on motives and psychic states.“ Vgl. Schöpsdau (2011), S. 509 – 513. 24 Leges 934 b 3 – c 1. 25 Leges 860 c 4 – 864 c 9. Siehe die Kommentierung von Schöpsdau (2011), S. 282 – 288. 26 Leges 863 e 5 – 864 a 9.

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strafrechts bemessen. Die Prävention bleibt begrifflich an die Gefährlichkeit, und die Spezialprävention an die Gefährlichkeit des Täters, gebunden. Wenn aber dessen Gefährlichkeit seine Ursache in der ganzen Krankheit seiner Seele hat, dann erfolgt die Beseitigung der Gefährlichkeit durch das Heilen der Krankheit. Besteht diese Krankheit in der Ungerechtigkeit seiner Seele, die das Ergebnis seiner Willensentscheidungen ist, das heißt, in seiner Schuld, dann ist die spezialpräventive Strafe gleichzeitig Vergeltung der Schuld. Platon entwickelt auch einen Begriff von Charakterschuld. Er sagt in Gesetze: „Denn wohin einer sein Begehren lenkt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist, dahin und zu eine solcher Beschaffenheit pflegt sich meistens ein jeder von uns zu entwickeln.“27 Diese Beschaffenheit hat ihre Ursachen in den Willensentscheidungen des einen und wird als Charakter (e¯thos) bezeichnet.28 Das griechische Wort für Vergeltung, timo¯ria, bleibt aber für Platon zu sehr an seiner ursprünglichen Bedeutung von Rache hängen und mit erleiden verbunden, um auch heilen, oder „Wiederaufhebung des intellektuellen Schadens“29, auszudrücken. Es fragt sich jedoch, ob wir in Gesetze nicht beim gleichen Paradox angelangen, das wir bereits in Gorgias gefunden haben: die Vergeltung, die als unvernünftig verabschiedet wurde, kommt wieder als letzte Wahrheit im Rahmen eines Mythos zurück. Denn auch hier kommt die Vergeltung innerhalb eines eschatologischen Mythos zur Sprache. Es gibt aber wichtige Unterschiede zwischen dieser und dem Mythos des Gorgias. Denn in Gesetze ist der Mythos die Ergänzung des dialektischen Beweises davon, dass Gott nicht nur existiert, sondern sich auch um den Menschen kümmert. Außerdem übernimmt der Mythos die Seelenlehre, die in Gesetze30 die Grundlage für den Beweis der Existenz Gottes darstellt und die die Theologie und die Physik des Timaios fortsetzt31, so dass sein wesentlicher Gehalt vernünftig ist und nicht von der mythischen Bezauberung abhängt. „Es verändern sich nun alle Wesen – sagt Platon –, die einer Seele teilhaftig sind, da sie in sich selbst die Ursache der Veränderung besitzen, und bei dieser Veränderung bewegen sie sich gemäß der Ordnung und dem Gesetz des Schicksals. Wenn sie sich in unwesentlichen Charaktereigenschaften nur wenig verändern, so wechseln sie ihren Platz auf der Oberfläche der Erde, wenn sie sich aber häufiger und zu größerer Ungerechtigkeit hin verändern, so wandern sie in die Tiefe und in die sogenannten unteren Orte, vor denen sie sich gewaltig fürchten und von denen sie träumen, sowohl im Leben als auch nach der Trennung vom Körper. Wenn aber die Seele in größerem Maße an Schlechtigkeit 27

Leges 904 c 2 – 4. Leges 903 d 7, 904 c 9. 29 Das ist der Begriff, der von Karl Theodor Welcker (1813), S. 251 und, unter Berufung auf ihn, von Reinhard von Frank (1931) S. 47 ff., dem Nachfolger von von Liszt als Präsident des Internationalen Kriminalistischen Vereins, benutzt wird, um die begriffliche Äquivalenz von Prävention und Vergeltung in einem Tatschuldsystem des Rechtsstaates auszudrücken. Die letztgenannte Qualifizierung unterscheidet beide von Platon. 30 Leges 893 b 4 – 899 d 3. 31 Der Aufbau auf dem physikalischen Weltbild des Timaios wird von Saunders (1991) S. 203, Mayhew (2008), S. 79 und Schöpsdau ( 2011), S. 432, 441 nachgewiesen. 28

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oder an Tugend zugenommen hat durch ihre eigenen Willensentscheidungen und durch den starken Einfluß ihres Umgangs, so wechselt sie, wenn sie durch das Zusammensein mit göttlicher Tugend in hervorragendem Maße ebenso göttlich geworden ist, auch in einem hervorragenden, gänzlich heiligen Ort und wird so an einen anderen, besseren Ort versetzt; im entgegengesetzten Fall verlegt sie ihr Leben an dem entgegengesetzten Ort.“32 Es gibt hier wie in Timaios keine Unterwelt und weder Gericht noch Bestrafung im Jenseits. Es ist ein Prozess, den die Seelen gesetzmäßig erleiden müssen, und zwar „im Leben und bei allen Toden“33, was wohl die Möglichkeit von Reinkarnationen voraussetzt. Der Mythoserzähler spricht zwar von einem König, der, wie ein Brettspieler,34 sich ausdachte, „wo ein jeder Teile hingestellt sein müsse, um im Weltganzen den Sieg der Tugend und die Niederlage der Schlechtigkeit am ehesten und auf die leichteste und beste Weise herbeizuführen“35. Man kann aber dieser bildhafte Personifizierung wegdenken und mit Plato in Philebos sagen, dass die Vernunft König des Himmels und der Erde ist.36 Wesentlich bei alledem ist, dass es Strafen nur im Diesseits gibt, so dass, wenn die Schlechtigkeit des Charakters durch die Bestrafung im Diesseits nicht beseitigt wird, sie an der Seele bis zur nächsten Inkarnation hängen bleibt. Dieser Zustand und die damit verbundene Seelenwanderung ist gewiss nicht göttlich und kann für die Seele wie eine Strafe aussehen, aber Plato spricht hier unrichtig von Vergeltung37, wo es keine gibt. Sondern einen Zustand, welcher im Diesseits der präventiven Bestrafung bedarf. Das ändert nichts an dem System und dem Zweck der Strafen im Diesseits. Die wissenschaftliche38 Grundlage des Mythos garantiert, dass die dialektische Argumentation über die Strafzwecke nicht angetastet, sondern sogar verstärkt und ergänzt wird. Zu den vernünftigen Argumenten fügt der Mythos seine eigenen Zauberungen39 hinzu, mit dem übergreifenden Ziel, Überzeugung zu bewirken. Wissenschaft und Mythos tragen zu der allgegenwärtigen Staatsideologie bei, die im utopischen Staat Magnesia die Staatsmacht erhält und von der Staatsmacht mit strafrechtlichen Mitteln unterstützt wird. Wir können trotzdem Kelsen nicht folgen, wenn er sagt dass Plato in Gesetze die Ideologie für notwendig hält, „ohne Rücksicht darauf, ob sie der Wahrheit entspricht: aber er weiß vielleicht, daß sie der Wahrheit entsprechen wird, wenn man an sie glaubt… Wenn die Menschen wirklich glauben, daß Gott herrscht, herrscht Gott tatsächlich in dem Sinne, daß sich dann die Herrschenden hüten werden, ihre Interessen schamlos auf Kosten der Beherrschten zu befriedigen. 32

Leges 904 c 6 – e 3. Leges 904 e 7. 34 Leges 903 d 7. 35 Leges 904 b 2 – 6. 36 Philebos 28 c 7. 37 Leges 905 a 7. 38 So Saunders (1991), S. 206, Pietsch (2002), S. 113 (herkömmlichen Mythen gegenüber „befindet sich der Mythos des Athenischen Fremden auf der höheren Reflexionsstufe einer nicht bloß richtigen, sondern begründeten Meinung“) und Schöpsdau (2011), S. 432. 39 Leges 903 b 1 – 2. 33

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Ist eine Ideologie wirksam, wird, was sie behauptet, irgendwie zur Wirklichkeit. Und gerade darin bewahrt sich solch nützliche Lüge als relative Wahrheit.“40 Das widerspricht den tiefsten Absichten von Platon in Gesetze. Gerade dort versucht er die philosophische Wahrheit zur Staatsideologie zu machen und nicht sie durch Ideologie zu ersetzen. Das geschieht beispielhaft in seiner Philosophie der Strafe: statt wie in Gorgias die Prävention als philosophische Lehre zu betrachten, die in Gemeinsamkeit mit der religiösen Überzeugung die soziale Wirklichkeit unverändert lässt und sogar unterstützt, lässt er in Gesetze die soziale Wirklichkeit des Strafrechts durch die Prävention allein bestimmen und lässt dieses Strafrecht von der Überzeugung unterstützen, die eine philosophisch revidierte Staatsreligion hervorbringt.

III. Prävention und Vergeltung der Schuld in Aristoteles Aristoteles folgt der platonischen Lehre der Strafe als Heilverfahren der Schlechtigkeit, wenn er in der Eudemischen Ethik sagt: „es gehen ja die Bestrafungen in ihrer Funktion als Heilverfahren und, wie sonst mit Kontrasten wirkend, mit Hilfe dieser (= Lust und Unlust) vor sich“41. Wenn diese Lehre aristotelisch ist, wie ist es zu verstehen, was Aristoteles über die korrigierende Gerechtigkeit sagt: „es liegt nichts daran, ob der Gute den Schlechten um etwas betrogen hat oder der Schlechte den Guten, noch auch, ob der Gute Ehebruch begangen hat oder der Schlechte: das Gesetz schaut nur auf den Unterschied zwischen Höhe (des Unrechts und)42 des Schadens, es betrachtet die Partner als gleich – ob der eine das Unrecht getan und der andere es erlitten hat, ob der eine den Schaden verursacht hat und der andere davon betroffen ist.“43 Dieser Passus der Nikomachischen Ethik scheint eine rein objektive Auffassung des Verbrechens zu implizieren, die mit der platonischen Lehre unvereinbar wäre. Deswegen meint Ross44, dass die korrektive oder regelnde Gerechtigkeit nicht in Strafsachen, sondern nur in Zivilsachen Anwendung findet, was mit der Aufzählung der Verbrechen, die unter dieser Gerechtigkeit stehen45, nicht zu vereinbaren ist. Und Dirlmeier46 schließt, dass Aristoteles, indem er den moralischen Status des Täters keine Rolle spielen lässt, sich von Platon radikal entfernt, was er selbst für frappierend hält. Mir scheint es, dass Aristoteles tatsächlich von Platon abweicht, 40

Kelsen (1985), S. 183 – 184. Aristoteles, Eudemische Ethik 1220 a 35 – 37. 42 Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 7, 1132a2 – 6. Ich übernehme die Übersetzung von Dirlmeier, obwohl der Text nur die Worte „gemäß dem Schaden (prost tu blabous)“ hat. Der Kontext jedoch zeigt, dass das Gesetz „gemäß dem Unrecht und dem Schaden“ meint, eine Formel die Burnet (1900), S. 218 – 219 als festgesetzt betrachtet (Platon, Leges, 862 b 7) und die von Aristoteles verkürzt zitiert wird. 43 EN V 7, 1132a2 – 6. 44 In W. D. Ross (ed.), The Works of Aristotle, London, 1915, Fn. zu 1132a2. 45 In EN V 5, 1131a6 – 9. 46 A.a.O., 409. 41

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aber nicht so viel. Um die Personen gleich zu behandeln, darf der Richter im Strafmaß den gesamten vorigen Charakter des Verbrechers nicht berücksichtigen, der vom platonischen Standpunkt einer kompletten Therapie des Verbrechers aus, oder einer grenzenlosen Spezialprävention, für die Bestimmung der Strafe entscheidend sein sollte. Er berücksichtigt nur den Charakter, insoweit er in der verbrecherischen Tat aufgewiesen und dadurch in die Ungerechtigkeit (mit Schuld eingeschlossen) der Handlung integriert ist. In den Worten des Aristoteles, „wertvolles Handeln und dessen Gegenteil ist undenkbar innerhalb eines menschlichen Tuns, das sich ohne Denken und ohne charakterliche Festigkeit vollzöge.“47 Ross betont jedoch zutreffend, dass der Passus der Nikomachischen Ethik im Kontext der korrigierenden Gerechtigkeit steht. Bei dieser geht es allgemein um die Beziehung von Mensch zu Mensch und bei Straftaten speziell um die Beziehung von Täter zu Opfer. Deswegen denkt Aristoteles hier grundsätzlich an die „Höhe des Schadens“ und an dessen Ersatz oder Reparation und nicht an die Höhe der Schuld und an deren Bestrafung. Die Anwendung des Begriffes der austeilenden Gerechtigkeit, die analogische oder proportionale bzw. geometrische Beziehungen als gleich (a:b = c:d)48 etabliert, auf das Strafrecht ist naheliegend49, weil, wie oben dargelegt, die Strafleistung nach ihren spezifischen Maßkriterien variiert, und solche Variationen nicht gleich, sondern nur analogisch den Variationen der Schuld, nach den Tatelementen bzw. Umständen sein können. Das wird von Aristoteles in den Magna Moralia am klarsten gesagt, zunächst an einem Beispiel, dann verallgemeinernd über den ganzen Bereich der Straftaten: „wenn jemand dem anderen das Auge ausgeschlagen hat, so ist es nicht Recht, daß ihm lediglich das seine zur Vergeltung ausgeschlagen wird, sondern, daß er mehr zu verspüren bekommt, indem man so dem Proportionalen [analogia] folgt. Denn er hat ja den Anfang gemacht und Unrecht verübt: ist also in zweifachem Sinne (persönlich) im Unrecht, woraus folgt, daß es sich bei den Straftaten entsprechend [analogon] verhält. Und so ist es Recht, daß er zum Ausgleich mehr zu verspüren bekommt, als er getan hatte.“50 Aristoteles folgt hier Platon in zweifacher Hinsicht: einerseits unterscheidet er in einer Straftat die Unrechtshandlung („er hat den Anfang gemacht und Unrecht verübt“) und den Schaden („das Auge ausgeschlagen hat“) als zwei Grundlagen des Unrechts- und Schuldmaßes; andererseits qualifiziert er die gerechte Strafe ihrem Maß nach als analogisch oder proportional gleich der Straftat nach dem Maß des Unwertes derselben und weist sie somit der austeilenden Gerechtigkeit zu51. 47

EN VI 2, 1139a34 – 35. Vgl. EN V 6 – 7, 1131b3 – 14. 49 So auch Arthur Kaufmann (2004), S. 36 f. 50 MM I, 33, 1194a37 – 1194b3. Ich schliesse mich Dirlmeier an, der die Magna Moralia als die erste der drei Fassungen der aristotelischen Ethik betrachtet: s. Aristoteles/Dirlmeier (1979) und Dirlmeier (1970). 51 Platon unterscheidet in Gorgias 508a6 zwischen geometrischer und arithmetischer Gleichheit und weist in Leges 757a5–d1 die Strafgerechtigkeit der „wahren“ geometrischen Gleichheit zu. 48

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Wie ist es dann zu verstehen, dass Aristoteles im Hinblick auf Straftaten von einer Art der korrigierenden (iustitia correctiva) oder regelnden52 Gerechtigkeit53 spricht, die gleiche bzw. arithmetische Beziehungen als gleich (a-b = c-d) etabliert? Denn Aristoteles unterscheidet die korrigierende von der austeilenden Gerechtigkeit (welche „wirksam ist bei der Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens zustehen“54). Die korrigierende Gerechtigkeit sorgt dafür, dass die Synallagma, d. h., die Beziehungen von Mensch zu Mensch, rechtens sind. Nach Siegfried55 umschließt, das Wort „Synallagma“ „seiner allgemeinsten Bedeutung nach alles das, was beim Zusammenleben die Menschen sich gegenseitig antun und voneinander empfangen“. Es gibt freiwillige und unfreiwillige Synallagma. Die unfreiwilligen Synallagma sind nach Aristoteles: „a) teils heimlich, wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Abspenstigmachen von Sklaven, Meuchelmord, falsches Zeugnis. Zu einem anderen Teil (b) sind sie gewaltsamer Art, z. B. Misshandlung, Freiheitsberaubung, Totschlag, schwerer Raub, Verstümmelung, üble Nachrede und entehrende Beschimpfung.“56. Es handelt sich hier um Straftaten, sie werden aber nur in der Beziehung vom Täter zum Opfer und deswegen im Hinblick auf Reparation oder Ersatz berücksichtigt. Die wesentlichen Dimensionen der Strafgerechtigkeit bleiben außerhalb der korrigierenden Gerechtigkeit, sie haben mit den Beziehungen der Straftat zu der Gemeinschaft bzw. dem Staat, dessen Gesetze verletzt werden, und mit der Stellung des schuldigen Täters gegenüber der Gemeinschaft zu tun. Die gerechte Erfassung der Straftat muss mehrere Aspekte und Beziehungen derselben mit mehreren aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffen verbinden: nicht nur Schaden und Ersatz mit der korrigierenden Gerechtigkeit, sondern auch Rechtswidrigkeit mit der Generalprävention und Schuld und Spezialprävention mit der austeilenden Gerechtigkeit. Es wäre ein Fehler, die aristotelische Strafrechtslehre auf ein Kapitel der korrigierenden Gerechtigkeit reduzieren zu wollen57. Siegfried trifft auch hier die richtige aristotelische Auslegung, wenn er sagt: „Die Ahndung von Delikten hat einen dreifachen Sinn. Sie geschieht um der Allgemeinheit willen, um einer Tyrannei der Schlechtgesinnten vorzubeugen (IN. E. 1132b34), zweitens um des Geschädigten willen, damit er für das Erlittene einen (absoluten oder relativen) Ausgleich erhält, und drittens, um des

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Aristoteles/Dirlmeier (1956), S. 408. EN V 7, 1132a18 – 19. 54 EN V 5, 1130b32 – 33. Anstatt „Beziehungen von Mensch zu Mensch“ übersetzt Dirlmeier „vertragliche Beziehungen von Mensch zu Mensch“; aber dabei vergisst er, dass die unfreiwilligen Beziehungen auch Synallagma und nicht vertraglich sind. In unserem Sinne Rolfes/Bien (1995) („Verkehr der einzelnen untereinander“) und Jolif in Aristote/Gauthier/ Jolif (1970) („rapport entre individus“). 55 Siegfried (1947), S. 13. 56 EN V 5, 1131a5 – 9. 57 Ganz abwegig wäre, darin sogar ein neues Paradigma einer restaurativen Gerechtigkeit zu sehen, worauf Barret nach Miller (1995) S. 72 abzielt. 53

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Delinquenten willen, den die Züchtigung, einem medizinischen Mittel vergleichbar, auf den rechten Weg bringen soll.“58 Obwohl Aristoteles die platonische Lehre der Strafe als Heilverfahren rezipiert, vertraut er (im Unterschied zu Platon und wie später Cicero59) mehr auf Abschreckung als auf positive Prävention. In der Nikomachischen Ethik sagt er: „die Vielen beugen sich eher dem Zwang als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns. Daher sind manche der Ansicht, die Gesetzgeber sollten zur Trefflichkeit auffordern und anregen, indem sie auf das Schöne und Edle verweisen – wobei zu erwarten wäre, daß solche, die durch Gewöhnung schon ein richtiges Stück auf dem Wege (zur Trefflichkeit) vorangekommen sind, auf die Anregungen hören; den Ungehorsamen aber und den wenig bildsamen Naturen sollten sie mit Züchtigung und Strafe beikommen und die Unverbesserlichen schließlich ganz aus der Gemeinschaft stoßen“60. Damit verweist Aristoteles auf die Proömien, die Platon in Nomoi seiner Gesetze vorgestellt hat und die zur Trefflichkeit auffordern. „Manche“ meinen, dass Platons Beispiel von anderen Gesetzgebern gefolgt werden sollte61. Die darauffolgende Aufteilung der drei Arten der Spezialprävention, die drei Grundtypen von Verbrechern entsprechen, klingt wie ein Zitat des platonischen Protagoras.62 So kommen wir auf den Punkt zurück, wo wir, und vor uns die ganze Philosophie der Strafe, angefangen haben.

Literatur Aristote: L’Éthique à Nichomaque, introduction, traduction et commentaire par René Antoine Gauthier et Jean Yves Jolif, Louvain, 1970 (4 Bde.). Aristoteles: Eudemische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, Berlin, 1962. – Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, Berlin, 1956. – Magna Moralia, übersetzt von Franz Dirlmeier, Berlin, 4. Auf., 1979. Aristotle: The Works, ed. W. D. Ross, vol. IX, Oxford, 1915. Brito, José de Sousa e Brito: Strafzwecke im Rechtsstaat, in: Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg, 2010, S. 305 ff. Burnet, John: The Ethics of Aristotle, London, 1900. Dirlmeier, Franz: Zur Chronologie der Großen Ethik des Aristoteles, Heidelberg, 1970. Frank, Reinhard von: Vom intellektuellen Verbrechensschaden, in: Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin, Arthur Benno Schmidt, hrsg. von Heinrich Stoll. Tübingen, 1931, S. 47 ff. 58

Siegfried (1947), S. 19. De Legibus I, 40. 60 EN X 10, 1180a 4 – 10. 61 So Dirlmeier in seiner Kommentierung der Nikomachischen Ethik (1956), S. 601 und vor ihm Burnet (1900), S. 470. 62 So wiederum Dirlmeier (1956), S. 601 und Burnet (1900), S. 470. 59

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Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg, 2004. Kelsen, Hans: Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, Wien, 1985. Miller, Jr., Fred D.: Nature, Justice and Rights in Aristotle’s Politics, Oxford, 1995. Pietsch, Christian: Mythos als konkretisierter Logos. Platons Verwendung des Mythos am Beispiel von Nomoi X, 903B – 905D, in: Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, hrsg. Markus Janka/Christian Schäfer, Darmstadt, 2002, S. 99 ff. Plato: Laws 10, translated with a commentary by Robert Mayhew, Oxford, 2008. Platon: Nomoi, Übersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau, Buch I-III, Buch IV–VII, Buch VIII–XII, Göttingen, 1994, 2003, 2011. Saunders, Trevor J.: Platos Penal Code. Oxford, 1991. Seneca, L. Aennaeus: Philosophischen Schriften, Hrsg. Manfred Rosenbach, 1. Bd., Darmstadt, 1995. Siegfried, Walter: Der Rechtsgedanke bei Aristoteles, Zürich, 1947. Untersteiner, Mario: Sofisti. Testimonianze e Frammenti, I, Firenze, 1967. Liszt, Franz von: Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882), in: Liszt, Franz von: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Berlin, 1905. Welcker, Karl Theodor, Letzte Gründe von Recht, Staat und Strafe, Gießen, 1813 (Nachdruck: Aalen, 1964). Wolf, Erik: Griechisches Rechtsdenken II, Frankfurt am Main, 1952. – Griechisches Rechtsdenken IV, 2. Platon. Dialoge der mittleren und späteren Zeit und Briefe, Frankfurt am Main, 1970.

Grund-Folgeverhältnisse als Bausteine des Strafrechtssystems Karl Heinz Gössel Alles fließt1. Alles, was ist, ändert, wandelt sich. Alles, was ist, wird. Alles Sein ist Werden. Das, was Seiendes werden lässt, heißt Ursache, auch: Grund des Werdenden.2 Alles Seiende ist auf Ursachen gegründet: „Nichts ist ohne Grund, warum es sei“3, „immer und überall“ ist „Jegliches nur vermöge eines Andern“4. Das gilt auch im Bereich des Strafrechts5, das hier als Strafrechtssystem und damit als eine systematisch geordnete Menge zusammenhängender und intersubjektiv nachvollziehbarer Erkenntnisse, Lehrsätze und Regeln über das Strafrecht verstanden wird. Als Seiendes ist auch das Strafrecht ohne ursächliche Beziehungen nicht denkbar. In vielfältigen Formen und Inhalten begegnen wir im Strafrecht allenthalben Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, Verknüpfungen in Grund-Folge-Verhältnissen, die, ihrer Zahl nach wie durch ihren Inhalt, Aufbau und Struktur des materiellen wie ebenso des formellen Strafrechts beeinflussen. Nach einer Übersicht über verschiedene Arten von Gründen (sogleich u. I.), soll dies an einigen Beispielen aus dem materiellen (s. u. II.) und dem formellen (s. u. III.) Strafrecht aufgezeigt und das Ergebnis dieser Bemühungen in abschließenden Thesen (s. u. IV.) zusammengefasst werden.

I. Grund-Folge-Verhältnisse im Strafrecht Ausführungen über Grund-Folge-Verhältnisse setzen zunächst Klarheit über den Grund einer möglichen Folge voraus, dazu aber auch über dessen Verhältnis zu einer möglichen Folge. An dem für das materielle Strafrecht wohl elementaren Beispiel möglicher Ursachen von strafrechtlichen Sanktionen soll versucht werden, diese Klarheit zu gewinnen. 1

Nach Hermann Diels, Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca 10), S. 1313, Berlin 1895 (Nachdr. de Gruyter 1954), so nur bei Simplikios zitiert. Dieser Satz wird auf Heraklit zurückgeführt. 2 Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 3, in der Ausgabe Hamburg 1987, S. 63; Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813, § 20, zitiert in der Fassung der Zürcher Ausgabe der Werke Schopenhauers 1977. 3 Schopenhauer (Fn. 2), § 5: „Satz vom zureichenden Grunde“. 4 Schopenhauer (Fn. 2), § 52. 5 Vgl. Schopenhauer (Fn. 2), § 46: „Alle Wissenschaften nämlich beruhen auf dem Satze vom Grunde, indem sie durchweg Verknüpfungen von Gründen und Folgen sind“.

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1. Die Begründung strafrechtlicher Sanktionen Strafrechtliche Sanktionen in jeder Form, es seien Strafen, Maßregeln oder sonstige Eingriffe in den Rechtsbestand der Rechtsunterworfenen, sind nicht voraussetzungslos, sondern mit sie begründenden Ursachen verknüpft: Die Freiheitsstrafe verlangt die gesetzliche Anordnung dieser Strafe durch ein Gericht unter den gesetzlich benannten Voraussetzungen, die so als Grund dieser Strafe angesehen werden dürfen. So kommen der Gesetzgeber und ein Gericht als möglicher Grund einer Freiheitsstrafe in den Blick, ebenso ein Gesetz (etwa § 242 StGB), ferner die verschiedenen im Gesetz genannten Voraussetzungen für deren Anordnung, wie etwa die Tat (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) eines Diebstahls durch einen Täter (§§ 242, 25 StGB). Damit sind nicht nur inhaltlich verschiedene, sondern auch ihrer Form nach verschiedenartige Gründe einer Freiheitsstrafe anzuerkennen. a) Die Verschiedenartigkeit von Ursachen (Gründen) Sie ist von alters her bekannt. So verlangt schon Aristoteles „bezüglich der Ursachen die Untersuchung anzustellen, welche und wie viele der Zahl nach es sind“, so z. B. neben dem, „woraus als schon Vorhandenem etwas entsteht“, auch „das Ziel“ und damit „alles, was nach einem Anstoß durch Anderes zwischen diesem und dem Ziel erfolgt“ wie es auch „viele Ursachen eines und desselben Gegenstandes geben“ könne.6 Den philosophischen Lehren über die Vielfalt und Verschiedenartigkeit möglicher Gründe kann hier nicht im einzelnen und schon gar nicht umfassend nachgegangen werden; es erscheint indessen möglich, sich insoweit im Wesentlichen auf Schopenhauers Werk über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde7 zu beschränken, unter zusätzlicher Berücksichtigung der Untersuchungen von Laun8 und Spendel9. Entstehen und Vergehen empirisch realer, sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände wie etwa von Haushaltsgeräten ist offenkundig auf andere Gründe zurückzuführen als innersubjektiv ablaufende gedankliche Vorgänge wie Wahrnehmungs- oder Erkenntnisprozesse. Deshalb erscheint es sinnvoll, verschiedene Klassen von Objekten zu unterscheiden und zu deren möglicher Begründung verschiedene Arten von Ursachen oder Gründen10 anzuerkennen11. Unter Anlehnung an die soeben genannten Autoren12 soll hier von fünf verschiedenen Arten von Gründen ausgegangen werden: 6

Physik, Buch II, Kap. 3 (Fn. 2). s. Fn. 2. 8 Laun, Der Satz vom Grunde, 2. Aufl. 1956. 9 Grundfragen jeder Strafrechtsreform, in: FS Rittler 1957, 39. 10 Zur Frage der notwendiger Ursächlichkeit kann hier nicht Stellung genommen werden; vgl. dazu Gössel, Über die Bedeutung des Irrtums im Strafrecht, 1974, S. 45 f. und die dort genannte Literatur. 11 Vgl. dazu Schopenhauer (Fn. 2), § 16. 12 s. Fn. 7 – 9. 7

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Real- und Erkenntnisgrund, Final- oder Zweckgrund, Rechtsgrund und endlich Sollens- oder Verpflichtungsgrund.13 Voraussetzungsgemäß sei dies nun am Beispiel der möglichen Gründe strafrechtlicher Sanktionen untersucht. b) Ursächlichkeit als gesetzmäßiger Zusammenhang Die nähere Bestimmung eines Grund-Folge-Verhältnisses bereitet wegen dessen nur teilweiser sinnlicher Wahrnehmbarkeit Schwierigkeiten. Wahrnehmbar sind lediglich zwei zeitlich aufeinanderfolgende faktische Ereignisse: Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung. Das beide tatsächlichen Ereignisse miteinander verknüpfende Verhältnis ist indessen sinnlich nicht wahrnehmbar – lediglich die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Ereignisse kann gehört oder gesehen werden, die aber darüber hinaus keine Aussagen zu deren etwaiger Verknüpfung erlaubt. Aussagen über das (Nicht-)Bestehen solcher Verknüpfung haben keine Tatsachen zum Gegenstand, sondern relationale objektive Zusammenhänge, die auch als gesetzliche bezeichnet werden14 können und nur als Urteil15 möglich sind. 2. Die Gründe strafrechtlicher Sanktionen im Einzelnen a) Der Sollensgrund strafrechtlicher Sanktionen Als Sollensgrund (oder auch: Verpflichtungsgrund) soll jener Gegenstand verstanden werden, der die Anordnung strafrechtlicher Sanktionen vorschreibt.16 Als Eingriffe in Grundrechte setzen strafrechtliche Sanktionen eine konkrete gesetzliche Grundlage voraus (Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 19 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG), welche die Gerichte zur Anordnung solcher Sanktionen verpflichtet und damit deren Sollensgrund darstellt, im hier gewählten Beispiel also § 242 StGB (s. o. 1.). b) Der Rechtsgrund strafrechtlicher Sanktionen Dieser Grund ist in jenem Gegenstand zu finden, der staatliche Machtausübung rechtfertigt: einen Gegenstand, den allein die Staatstheorien benennen können17, worauf an dieser Stelle indessen nicht eingegangen werden kann.

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Vgl. dazu schon Gössel, in: FS Pfeiffer 1988, 3, 7 ff. Vgl. dazu Kaulbach, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3 1974, Stichwort Gesetz, S. 479 ff., 501. Wie hier auch SK/Hoyer, Anhang § 16, 64; Hilgendorf, in: FS Weber 33, 36 f.: „regelmäßiger Zusammenhang“, s. auch S. 48. 15 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 28, II 4; Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 21, 24 f. 16 Laun (Fn. 8), 287 ff., 300. 17 s. dazu E. A. Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), 786, 801 ff. 14

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c) Der Zweckgrund strafrechtlicher Sanktionen Unter Zweckgründen sind die Ziele zu verstehen, zu deren Erreichung strafrechtliche Sanktionen angeordnet werden. aa) Indessen erwecken Kants berühmte Worte Zweifel daran, dass solche Ziele verfolgt werden dürfen: „Richterliche Strafe … kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gutes zu bewirken, für den Verbrecher oder die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden“18.

Demnach dürfte man strafrechtliche Sanktionen niemals zur Erreichung bestimmter Ziele einsetzen. Indessen wird man den heute ganz überwiegend vertretenen Auffassungen zustimmen müssen, die insbesondere die Verhängung von Strafen nur zur Erreichung bestimmter Ziele für zulässig halten, wie sie etwa schon im Gesetz (§§ 2, 3 StVollzG: Resozialisierung; §§ 47, 56 StGB: Prävention) ausdrücklich benannt sind oder etwa mit den bekannten sog. Straftheorien sonst denkbar sein mögen. Solche künftig zu erreichenden Ziele bilden jene Zwecke, zu deren Erreichung strafrechtliche Sanktionen verhängt werden und damit deren Zweckgrund. bb) Als mit den zu verhängenden Sanktionen zukünftig zu erreichende Gegenstände sind Zweckgründe damit notwendig von den Sanktionen selbst zu unterscheiden und nicht mit ihnen identisch – anders wäre mit der Anordnung der Sanktionen zugleich deren Zweck gegeben, ein von diesen verschiedenes Ziel könnte nicht mehr erreicht werden: die Existenz von Zweckgründen anzunehmen, wäre sinnlos geworden. cc) Schon die bisher benannten Arten von Gründen lassen erkennen, dass deren Gegenstände selbst wieder gegründet sein können. So bedürfen etwa die Finalgründe strafrechtlicher Sanktionen eines Rechtsgrundes, der von dem zur Anordnung dieser Sanktionen verschieden sein muss: ob etwa die (spezialpräventive) Verhängung einer Körperstrafe zur Verhinderung künftiger Straftaten eines bestimmten Straftäters angeordnet werden darf, bedarf eines selbständigen Rechtsgrundes. Ist auch die Verhinderung künftiger Straftaten grundsätzlich durchaus ein rechtlich anzuerkennendes Ziel strafrechtlicher Sanktionen, so aber doch dann nicht, soll dieses Ziel etwa in der Erziehung zu einer staatlich vorgeschriebenen religiösen oder politischen Lebensführung bestehen, auch nicht zu dem in der NS-Zeit verlangten „einen Zweck, dem alles Menschenleben von Natur zu dienen hat: der Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Nation, des Volkstums, der Rasse“19. Rechtlich begründen lassen sich nur jene Ziele, deren Verfolgung und Erreichung insbesondere 18 Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, II. Teil, 1. Abschnitt, § 49, Allgemeine Anmerkung, E I, S. 331, Zeilen 25 ff. 19 Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, 1933, S. 4.

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mit der Wahrung der Menschenwürde vereinbar sind, womit etwa Strafen an Leib und Leben nicht vereinbar sind und also eines Rechtsgrundes entbehren. d) Der Realgrund strafrechtlicher Sanktionen aa) Realgründe sind Ursachen von Gegenständen, die realiter in der Welt existieren und durch diese Gründe verändert werden (s. o. vor I). Mit den Worten Wittgensteins ist „die Welt … durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle Tatsachen sind“ und damit „alles, was der Fall ist“ – folglich ist das, „was der Fall ist, die Tatsache, … das Bestehen von Sachverhalten“.20 Tatsachen und Sachverhalte sind damit Gegenstände der Welt, der auch das Leben und dessen Wirklichkeit zugehört; sie existieren wirklich, besitzen eine reale Natur. Realgründe (einen oder mehrere) strafrechtlicher Sanktionen kann es nur geben, wenn diesen kritisch erfahrbare „empirische Realität“21 zukommt, sie also als Tatsachen oder, bei deren Mehrheit, als (tatsächliche) Sachverhalte wirklich sind und nicht, als bloß Gedachtes,22 das Produkt menschlicher Vorstellungen und verändernd auf die zu begründenden Tatsachen einwirken. Dies aber dürfte außer Frage stehen. Freiheitsentziehende Strafen oder Maßregeln sind schon in den dafür vorgesehenen Anstalten und die dort getroffenen Sicherungsmaßnahmen empirisch erfahrbare Tatsachen oder Sachverhalte, wie auch die Zahlung einer Geldstrafe; Ähnliches gilt für die Entziehung der Fahrerlaubnis sowie für Verfall und Einziehung, wie aber auch für die übrigen strafrechtlichen Sanktionen. Überdies bilden alle genannten Sanktionen reale soziale Tatsachen,23 welche die reale Lebensführung des Sanktionierten verändern24 und ebenso dessen bisherigen erfahrbaren sozialen Status (s. dazu o. vor I). bb) Welche realen Ursachen zu dieser Veränderung führen, sagt das Gesetz selbst: Es sind die in den strafrechtlichen Tatbeständen als strafbare Handlungen beschriebenen Taten, zusätzlich aber auch in einigen Fällen die Eigenschaft des Sanktionierten, gefährlich hinsichtlich der Begehung künftiger Straftaten zu sein, eine Eigenschaft, die zwar nur prognostisch, aber doch aufgrund von Tatsachen festgestellt werden kann, wie etwa bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), bei der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 StGB). Tat und Tätergefährlichkeit bilden damit mögliche Realgründe strafrechtlicher Sanktionen, die damit in

20 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921, Ausgabe der edition suhrkamp 1963, 1, 1.11, 2. 21 Schopenhauer (Fn. 2), §§ 17 und 18; vgl. dazu auch Duden, Fremdwörterbuch, 9. Aufl. 2006, Stichwort: Empirie. 22 Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 2014, § 43, 132 mit weit. Nachw. 23 Gössel (Fn. 10), S. 47 ff. und FS Pfeiffer 1988, 3, 8 f. 24 Gössel (Fn. 10), S. 49.

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den jeweiligen gesetzlichen Vorschriften auf das Gesetz als deren Sollensgrund gegründet sind.25 e) Der Erkenntnisgrund strafrechtlicher Sanktionen Werden innersubjektiv verlaufende Erkenntnisprozesse durch neue Erkenntnisse verändert, so beruht diese Veränderung selbst auf der eigenständigen Ursache einer Erkenntnis: dem Erkenntnisgrund, der deshalb auch zu Recht als logischer Grund eines Erkenntnisurteils bezeichnet wird, weil jede Erkenntnis ein Urteil darstellt.26 Von einem Erkenntnisgrund strafrechtlicher Sanktionen kann demnach nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn diesen Sanktionen selbst ein Erkenntnisurteil wesentlich ist. Das allerdings ist zu bejahen: Jede verhängte Sanktion enthält zugleich die Erkenntnis, dass die Sanktion als Teil der Lebenswirklichkeit die Folge des jeweiligen Realgrundes der betreffenden Sanktion ist, also der Tat oder der Tätergefährlichkeit.27

II. Grund-Folgeverhältnisse als Bausteine des Systems des materiellen Strafrechts 1. Die Ursache einer tatbestandlichen Rechtsgutsbeeinträchtigung a) Handlungen als Realgründe von Rechtsgutsbeeinträchtigungen Bestraft werden können nur bestimmte Formen menschlicher Verhaltensweisen: nur Handlungen, die eine in einem gesetzlichen Tatbestand beschriebene Rechtsgutsbeeinträchtigung verwirklichen,28 die Rechtsgutsbeeinträchtigung also mit einer Handlung ursächlich verknüpfen. aa) Das damit bestehende reale Verknüpfungsverhältnis zwischen diesen Gegenständen wird in der Literatur nach den verschiedenen sog. Kausalitätstheorien oder den Lehren von der objektiven Zurechnung zu bestimmen versucht. Wie indessen an anderer Stelle ausgeführt wurde, kann diesen Theorien und Lehren nicht gefolgt werden: Die Kausalitätstheorien stellen auf ein zu den realen Gegenständen der Lebenswirklichkeit hinzuzudenkendes oder hinweggedachtes und eben deshalb nicht reales Geschehen ab, und die Äquivalenztheorie setzt überdies zirkelhaft voraus, was sie erst feststellen will29 : Erst „wenn man schon vorab weiß, ob die Bedingung kausal ist“, kann ermittelt werden, welches „Resultat … sich beim Wegdenken der Bedin-

25

Gössel, in: FS Pfeiffer 1988, 3, 8 ff. Von Schopenhauer (Fn. 2), § 29 als „principium rationis sufficientis cognoscendi“ bezeichnet. 27 Gössel, in: FS Pfeiffer 1988, 3, 11 f. 28 s. dazu Gössel (Fn. 22), § 39, 2 – 7. 29 Engisch (Fn. 15), S. 16. 26

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gung ergibt“30. Die Äquivalenztheorie erweist sich damit zugleich als eine Wiederbelebung der überwundenen Haftungsformel der Lehren des „versari in re illicita“: Wie Ursache eines Erfolges jede Bedingung ist, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass mit ihr zugleich der Erfolg entfiele, so ist demjenigen, der Verbotenes tut, alles zuzurechnen, was aus diesem Tun folgt – damit jedes Ereignis, das beim Hinwegdenken des verbotenen Tuns ebenfalls entfällt. Die Lehren von der objektiven Zurechnung übernehmen die Äquivalenztheorie dennoch, insbes. auch trotz ihrer logischen Fehlerhaftigkeit, und können deshalb die Zuordnung eines bestimmten Ereignisses zu einer beliebigen Ursache mit der Konsequenz uferloser Haftungsausweitung nicht verhindern31 – diese Lehren sind auch nicht in der Lage, der zirkelschlüssigen Konsequenz der Äquivalenztheorie dadurch zu entgehen, dass sie die Ursächlichkeit von der Schaffung einer unerlaubten Gefahr abhängig machen: Es ist weder möglich, die erlaubte von der unerlaubten Gefahrschaffung als einer möglichen Ursache einer Rechtsgutsbeeinträchtigung justiziabel klar zu unterscheiden32 noch auch, eine erlaubte Gefahrsetzung als nicht zurechenbar aus dem Bereich der für eine Rechtsgutsbeeinträchtigung tauglichen Ursachen auszuscheiden (etwa: Ausheben einer ordnungsgemäß abgesicherten Baugrube ohne Genehmigung als Ursache der Körperverletzung eines in diese Grube stürzenden und die deutliche Absicherung missachtenden Volltrunkenen).33 Überdies erliegen die Lehren von der objektiven Zurechnung damit einem weiteren Zirkelschluss: Sie erheben die objektive Zurechnung zu einer Voraussetzung der Rechtswidrigkeit, machen aber gleichzeitig die objektive Zurechnung vom Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens abhängig; überdies vereinen sie unterschiedlichste Straftatmerkmale (wie z. B. Kausalität, Sorgfaltspflichtverletzung, Rechtswidrigkeit, Täterschaft und sogar subjektive Elemente) unter Verkennung des Aufbaus der Straftat zu Unrecht unter einem einheitlichen Begriff.34 Alle diese Lehren versäumen es, das den Grund mit seiner Folge verknüpfende Verhältnis selbst zu bedenken. Dazu wird hier vorgeschlagen, dieses Verknüpfungsverhältnis als ein Begründungsverhältnis unter Berücksichtigung der hier erwähnten (s. o. I.) verschiedenen Gründe zu bestimmen und insbesondere Handlungen als Realgründe von Rechtsgutsbeeinträchtigungen anzusehen. bb) Beide Gegenstände dieses Verknüpfungsverhältnisses, also Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung, sind als Tatsachen oder Sachverhalte reale Gegenstände (s. o. I. 2. d) aa)). Das gilt für die Handlung auch dann, wenn man dieser, entgegen der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur, kein in der Außenwelt wahrnehmbares Element zuerkennt, wie etwa eine Körperbewegung. Hier wird unter einer Handlung ein bewusst gesteuertes zielgerichtetes willentliches menschliches Verhal30

Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 7/9. Gössel (Fn. 22), § 43, 112. 32 Dehne-Niemann, GA 2012, 89, 90. 33 Gössel (Fn. 22), § 43, 22. 34 Näheres dazu Gössel (Fn. 22), § 43, 114 ff.; Gössel, GA 2015, 18, 20 ff. 31

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ten verstanden35, das trotz seiner innerpsychischen Natur einen tatsächlichen Sachverhalt darstellt, sich also nicht in einem Gedachten als einer bloßen Vorstellung erschöpft und nicht etwa der Kategorie reiner Erkenntnisprozesse zugehört (s. dazu o. I. 1. e)). Ebenso bildet die tatbestandliche Rechtsgutsbeeinträchtigung einen tatsächlichen Sachverhalt, etwa in Form der Vernichtung des Rechtsguts menschliches Leben oder der Zerstörung fremder Sachen. b) Das Realgrundverhältnis als realgesetzliches und zudem finalgesetzliches Verknüpfungsverhältnis Das Realgrundverhältnis selbst, welches die reale Handlung mit der realen Rechtsgutsbeeinträchtigung verknüpft, ist sinnlich unerfahrbar und kann nur als gesetzmäßiger Zusammenhang (s. o. I. 1. b)) zwischen einer realen Handlung und deren realer Folge einer Rechtsgutsbeeinträchtigung durch ein Urteil erfasst werden.36 Dieses Urteil kann ein Realgrundverhältnis nur unter zwei Voraussetzungen bejahen: Zunächst muss ein realgesetzliches Verhältnis zwischen Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung vorliegen, zum anderen die Verletzung eben jener Rechtsnorm, die den Schutz des beeinträchtigten Rechtsgutes zum Ziele hat (finaler Schutzzweckzusammenhang). aa) Der realgesetzliche Zusammenhang setzt voraus, dass die Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Naturgesetze, wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Regeln oder durch sonstige diesen entsprechende allgemein anerkannte Erfahrungssätze „retrospektiv jederzeit nachprüfbar“ (Realgesetze), auch hinsichtlich deren Richtigkeit und richtiger Anwendung, als Folge einer bestimmten Handlung festgestellt wird, also gerade nicht durch eine objektiv-nachträgliche Prognose,37 die als bloß Gedachtes keine Tatsache ist. Als Beispiel diene hier eine Normwidrigkeit38 eines Pkw-Fahrers, die in § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB als strafbar beschrieben und erfasst ist. Erleidet derjenige, der aus dem Fenster seiner Wohnung den grob verkehrswidrigen und gefährlichen Überholvorgang eines Pkw-Fahrers beobachtet, einen tödlichen Schock, so lässt sich aufgrund biologischer und medizinischer Erfahrungssätze feststellen, ob zwischen dem Verhalten des Kfz-Führers und dem Tod des Beobachters ein realgesetzlicher Zusammenhang besteht. Lässt sich ein solcher Zusammenhang, etwa mangels ausreichender wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht feststellen, auch nicht im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO), so erscheint ein Freispruch (in dubio pro reo) nicht nur geboten, sondern auch hinnehmbar: Diese Fälle sind einmal nicht allzu zahlreich und überdies 35 Zu dem umstrittenen Begriff der Handlung kann hier nicht Stellung genommen; s. dazu dazu Gössel (Fn. 22), § 42, 14 – 26, insbes. 22 f. 36 s. dazu Jescheck/Weigend (Fn. 15), § 28 II 4; Engisch (Fn. 15) S. 21, 24 f. 37 Gössel (Fn. 22), § 43, 135. 38 Näher zur Normwidrigkeit strafbarer Handlungen s. Gössel (Fn. 22), § 39, 5 ff.

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sollte es nicht hingenommen werden, ein verurteilendes Erkenntnis etwa mit der Äquivalenztheorie nicht auf einen tatsächlichen Sachverhalt zu stützen, sondern stattdessen auf ein hinzu- oder hinweggedachten hypothetisches Ereignis und also auf eine bloße gedankliche Überlegung. bb) Lässt sich in dem soeben geschilderten Fall ein realgesetzlicher Zusammenhang feststellen, kann aber damit allein das zur Strafbarkeit notwendige Realgrundverhältnis noch nicht bejaht werden. Dazu ist weiter notwendig, dass die Norm, gegen die der Kfz-Führer in der in § 315c StGB beschriebenen Weise verstoßen hat, auch den Schutz des Lebens des Beobachters zum Ziele hat. Das aber ist im Beispielsfall zu verneinen: § 315c StGB bezweckt nur den Schutz der Rechtsgüter derjenigen, die als Teilnehmer am Straßenverkehr durch die in dieser Vorschrift erfassten verkehrswidrigen Verhaltensweisen gefährdet werden, nicht aber den Schutz von Leib und Leben bloßer Beobachter. 2. Ursächliche Verknüpfung bei erfolgsqualifizierten Straftaten a) Kritik der Rechtsprechung Erfolgsqualifikationen sind dadurch gekennzeichnet, dass zur tatbestandlichen ursächlichen Verknüpfung einer Handlung mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung (etwa der körperlichen Integrität durch Misshandlung) eine weitere ursächliche Verknüpfung dieser Rechtsgutsbeeinträchtigung (also der körperlichen Integrität) mit einer weiteren Rechtsgutsbeeinträchtigung (Tod des Opfers) hinzutreten muss, so z. B. im Fall der ursächlichen Herbeiführung des Todes durch eine Körperverletzung (§ 227 StGB: Körperverletzung mit Todesfolge; s. ferner aber auch z. B. §§ 251, 176b, 178 StGB). aa) Während die Rechtsprechung in diesen Fällen die Ursächlichkeit einer Handlung für die zunächst herbeigeführte Rechtsgutsbeeinträchtigung (etwa die Körperverletzung) nach wie vor nach der der Äquivalenztheorie beurteilt, hat sie indessen für die weitere Verknüpfung dieser ersten Rechtsgutsbeeinträchtigung des Opfers mit dessen Tod „eine engere Beziehung“ verlangt: „Im tödlichen Ausgang muß sich gerade die der Körperverletzung anhaftende, ihr eigentümliche Gefahr verwirklicht haben“39. Damit versucht die Rechtsprechung, die Unzulänglichkeiten der Äquivalenztheorie durch einen zur äquivalenten Kausalität zusätzlich verlangten gefahrenspezifischen Zusammenhang zu heilen:40 Wird „der Tod des Verletzten nicht unmittelbar ,durch‘ die Körperverletzung, sondern erst vermöge des Eingreifens eines Dritten herbeigeführt“, so soll es an diesem engeren Zusammenhang und damit an der

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BGHSt 32, 25, 28. Zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2004, § 13, 82 ff. und Steinberg, NStZ 2010, 72. 40 Zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Gössel/Dölling (Fn. 39), § 13, 82 ff. und Steinberg, NStZ 2010, 72.

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vom Tatbestand verlangten äquivalenten Kausalität fehlen,41 es sei denn, „der Tod des Opfers“ tritt „auf Grund eines Geschehensablaufs“ ein, „der nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit“ liegt42 Gleiches gilt grundsätzlich auch bei „selbstgefährdendem Verhalten des Opfers“43, nicht aber schon dann, wenn der Tod das Ergebnis eines „durch eine Flucht ,Hals über Kopf‘ geprägtes Opferverhalten“44 ist.45 bb) Der ursächliche Zusammenhang in diesen Fällen ist stattdessen auch hier nach dem Satz vom Grunde zu beurteilen. Dazu ist zunächst der Gesetzeswortlaut zu beachten, der im Fall des § 227 StGB die Verursachung des Todes durch die stets vorsätzliche Körperverletzung verlangt, sich damit also entgegen der Rechtsprechung46 gerade nicht mit einer bloßen Verletzungshandlung begnügt: Eine Handlung, mit der eine Körperverletzung bloß herbeigeführt werden soll, diese aber nicht erreicht, ist dem in § 227 StGB verwendeten Begriff „Körperverletzung“ nicht subsumierbar (Entsprechendes gilt in den Fällen der §§ 176b, 178, 251 StGB) – mit dem dehnbaren Begriff der „Verletzungshandlung“ erreicht die Rechtsprechung ebenfalls eine kaum noch zu bändigende Ausweitung der Strafbarkeit, mit der sie die doch beabsichtigte Beschränkung der äquivalenten Ursächlichkeit durch die Formel vom gefahrenspezifischen Zusammenhang weitgehend entwertet. b) Der Verletzungserfolg als Realgrund der Erfolgsqualifikation Die Körperverletzung (hier also verstanden als Verletzungserfolg) ist ebenso ein tatsächlicher Sachverhalt wie der Tod als deren Folge. Damit verlangt § 227 StGB zusätzlich zur Ursächlichkeit der Täterhandlung für die Körperverletzung ein weiteres Grund-Folge-Verhältnis: ein Realgrundverhältnis zwischen Körperverletzung und Tod, das auch hier zweierlei voraussetzt (s. o. 1. b) vor aa)): einen realgesetzlichen Zusammenhang zwischen Körperverletzung und Tod und überdies einen finalgesetzlichen Schutzzusammenhang zwischen beiden Rechtsgutsbeeinträchtigungen. aa) Dieses Realgrundverhältnis kann schon mangels eines realgesetzlichen Zusammenhangs entfallen. Wer seine Pistole als Schlaginstrument benutzt und seinem Opfer mit dem Griff seiner Pistole mit mehreren Schlägen eine stark blutende Kopfverletzung zufügt, kann nach § 227 StGB nur dann bestraft werden, wenn diese Kopfverletzung realgesetzlich zum Tode des so Misshandelten führt, nicht aber dann, wenn sich etwa beim dritten Schlag mit dem Pistolengriff, vom Täter nicht gewollt, 41

BGHSt 32, 25, 28 mit weit. Nachw. BGH 4 StR 305/08 v. 3. 9. 2008, mitgeteilt von Steinberg, NStZ 2010, 72, 76. 43 Nachweise bei BGHSt 48, 34, 39. 44 BGHSt 48, 34, 38 f. 45 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen die Lehren von der objektiven Zurechnung, auch wenn diese, anders als die Rechtsprechung, einen gefahrenspezifischen Zusammenhang nur bei unerlaubter Gefahrsetzung genügen lassen. diesen Lehren kann hier jedoch nicht mehr gefolgt werden, vgl. dazu Gössel (Fn. 22), § 43, 114 ff. und GA 2015, 18, 19 ff.), anders noch Gössel/Dölling (Fn. 39), § 13, 90 ff. 46 So seit BGHSt 14, 110, 112, bestätigt von BGHSt 48, 34, 37 f. 42

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ein für das Opfer tödlicher Schuss löst: Weder Naturgesetze noch wissenschaftliche Erkenntnis noch sonstige Regeln (s. o. 1. b) aa)) können hier zur Bejahung eines realen Zusammenhangs zwischen Körperverletzung und Tod führen. Gleiches gilt, tritt der Tod des verletzten Opfers aufgrund fehlerhafter Selbstbehandlung oder auch ärztlicher Fehlbehandlung ein (s. o. a) aa)). bb) Sehr viel seltener als in den soeben benannten Fällen wird ein Realgrundverhältnis mangels eines finalen Schutzzweckzusammenhangs entfallen: dient doch die Norm, die durch eine von § 227 StGB erfasste Handlung verletzt wird, stets dem Schutz des Lebens, mögen auch Ausnahmen denkbar sein. 3. Realgrundverhältnisse bei Erscheinungsformen von Straftaten a) Realgrundverhältnisse bei fahrlässigen Straftaten Wird bei vorsätzlichen Straftaten eine Rechtsgutsbeeinträchtigung allein schon durch den Verzicht auf eine darauf gerichtete finale Steuerung verhindert, so aber nicht bei fahrlässigen Taten, deren Tatbestand die Anwendung von „Mittel(n) zur Vermeidung“ einer Rechtsgutsbeeinträchtigung anzuwenden47 verlangt, kurz: die Anwendung der „zum Schutz des je in infrage kommenden Rechtsguts notwendige(n) objektive(n) Sorgfalt“48. So kann der Tatbestand fahrlässiger Taten nur durch eine in Bezug auf das beeinträchtige Rechtsgut sorgfaltswidrige Handlung verwirklicht werden. Sorgfaltswidrige Handlung und Rechtsgutsbeeinträchtigung bilden jeweils tatsächliche Sachverhalte, die ursächlich miteinander verknüpft sein und deshalb in einem Realgrundverhältnis stehen (s. o. I. 2. d)) müssen. Deshalb ist ein fahrlässiges Handeln nur dann tatbestandlich und strafbar, ist die jeweilige Rechtsgutsbeeinträchtigung mit der sorgfaltswidrigen Handlung realgesetzlich verknüpft und wird überdies jene Norm verletzt, die dem Schutz eben jenes Rechtsguts dient, das durch die sorgfaltswidrige Handlung beeinträchtigt wird (s. o. 1. b)). Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Auf dem Weg von A nach C über B missachtet ein Kfz-Fahrer F auf der ersten Wegstrecke bis B mehrfach Geschwindigkeitsbeschränkungen gröblich, in C aber beachtet er die Verkehrsregeln und verletzt dort ein Kind körperlich, das sich unvorhersehbar von der Hand seiner Mutter losreißt und ihm ebenso unvorhersehbar direkt vor sein Kfz läuft. aa) Das Verhalten des F (Führen eines Kfz) steht hier zwar in einem unleugbaren realgesetzlichen Zusammenhang mit der Körperverletzung des Kindes: Dessen Verletzungen führen in Verbindung mit den am betroffenen Kfz feststellbaren Unfallspuren unter Anwendung physikalischer und medizinischer Erkenntnisse (s. o. 1. b) aa)) zu dem unwiderlegbaren Schluss eines bestehenden realgesetzlichen Zusammen47

Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 336. Gössel (Fn. 22), § 43, 9. Dies entspricht der überwiegend vertretenen Meinung; zu gegenteiligen Auffassungen s. die Nachw. dort § 43, 17 ff. 48

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hangs zwischen den Verletzungen des Kindes und dessen Aufprall auf das von F gesteuerte fahrende Kfz. bb) Zur Beurteilung eines etwa bestehenden finalen Schutzzweckzusammenhangs kann nun nicht übersehen werden, dass F immerhin auf dem Weg von A nach B Geschwindigkeitsvorschriften missachtet hat (vgl. § 3 StVO), die auch dem Schutz von Leib und Leben dienen. Allein deshalb kann aber der hier nötige finale Schutzzweckzusammenhangs nicht bejaht werden: dienen doch die Vorschriften über die Teilnahme am Straßenverkehr nur dem Schutz von Rechtsgütern vor den unmittelbaren Gefahren, die mit der jeweiligen Missachtung von Verkehrsvorschriften verbunden sind, nicht aber dem Erreichen bestimmter Orte zu bestimmten Zeiten, wie in der Rechtsprechung zu Unrecht angenommen und deshalb im Beispielsfall eine strafbare Handlung bejaht49 wurde, weil F bei Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung erst zu einem Zeitpunkt in C eingetroffen wäre, zu dem er das Kind nicht mehr angetroffen hätte. Der Beispielsfall zeigt, dass bei der Beurteilung eines etwaigen Schutzzweckzusammenhangs zeitliche und örtliche Grenzen zu beachten sind, darüber hinaus aber auch solche sachlicher Art etwa dann, wenn jemand im ersten Stock eines Hauses bei der Beobachtung eines extrem schnell fahrenden Fahrzeugs erschrickt und deshalb einen Blumentopf aus dem Fenster fallen lässt, der einen anderen Beobachter auf dem Gehsteig trifft und verletzt: Die Geschwindigkeitsvorschriften dienen auch nicht dem Schutz von Rechtsgütern solcher Personen, die von den von der Missachtung von Verkehrsvorschriften ausgehenden Gefahren gar nicht betroffen sind. b) Realgrundverhältnisse bei Unterlassungsstraftaten Die Kausalität der Unterlassung für eine Rechtsgutsbeeinträchtigung erscheint insbesondere deshalb problematisch, weil die Unterlassung vor allem unter dem Eindruck von Radbruchs Habilitationsschrift über den Handlungsbegriff50 vielfach als ein „Nichts“51 angesehen wurde: Unter „Handlung“ sei ausschließlich ein „Tun“ zu verstehen, der Begriff der Unterlassung dagegen erschöpfe „sich durchaus in der Negation einer bestimmten Handlung“52, der deshalb auch keine vorrechtliche ontische Qualität zuerkannt werden konnte53 – ist aber die Unterlassung keine Tatsache, kein Sachverhalt, kann sie auch keine realen Folgen haben: „Der Erfolg der Unterlassung ist, daß sie keinen hat“54. Dabei bleibt allerdings schon offen, wie denn ein „Nichts“ bestraft werden kann, ja, ob denn etwas anderes als menschliche Handlungen bestraft werden können, 49

Vgl. OLG Karlsruhe NJW 1958, 430 und dazu Gössel (Fn. 22), § 43, 121 ff. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904. 51 Gössel, in: FS Kühl 2014, S. 225, 238 mit weit. Nachw. 52 Radbruch (Fn. 50), S. 139. 53 Vgl. dazu die Nachw. bei Gössel (Fn. 51), S. 239. 54 Radbruch (Fn. 50), S. 138.

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wenn doch schon weder Zufall noch tierisches Verhalten bestraft werden können und sich die Rechtsordnung ausschließlich an Menschen richtet.55 Schon mangels überzeugender Antworten auf diese Fragen wird hier die Unterlassung als ein tatsächlicher Sachverhalt deshalb angesehen, weil sich der Begriff der Handlung in innerpsychischen Tatsachen (etwa beim Kopfrechnen) erschöpft, unabhängig von einem äußeren Verhalten wie etwa einer Körperbewegung: Handlungen sind Sachverhalte, „die von innerpsychischen Antriebserlebnissen ausgelöst“ und durch einen willentlichen56 Richtungs- und Steuerungsvorgang „zu den jeweiligen Antriebszielen hingeleitet werden“.57 Damit aber erweist sich auch die Unterlassung als eine Tatsache, die ebenso einen Realgrund von Rechtsgutsbeeinträchtigungen bilden kann wie alle sonstigen Handlungsformen auch. Damit gilt: Auch eine Unterlassung kann einen Realgrund einer Rechtsgutsbeeinträchtigung unter den schon bisher genannten Voraussetzungen bilden: wenn sie realgesetzlich mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung verknüpft ist und jene Norm verletzt, die dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient (s. dazu z. B. o. 1. b)). c) Realgrundverhältnisse beim Versuch Eine umfangreiche Literatur bemüht sich um den sog. „Strafgrund des Versuchs“, verstanden als dem Grund der Strafbarkeit des Versuchs,58 welcher als entscheidend für die Abgrenzung des strafbaren Versuchs von der im Regelfall straflosen Vorbereitung angesehen wurde – und deshalb erscheint es verständlich, wenn versucht wurde, zunächst das zu Begründende näher zu bestimmen, also den Versuch selbst. So mutierte die Frage nach dem Grunde der Strafbarkeit in die davon verschiedene nach dem Gegenstand des zu Begründenden, also danach, was unter „Versuch“ zu verstehen sei. aa) Objektive Theorien erblicken den Strafgrund des Versuchs in der (abstrakten oder konkreten) Gefährdung59 des in der tatbestandlichen Rechtsgutsbeeinträchtigung benannten Tatobjekts, subjektive im betätigten rechtsfeindlichen Willen60 und objektiv-subjektive Lehren in einer Verbindung subjektiver und objektiver Faktoren z. B. in der sog. Eindruckstheorie, die den Strafgrund in der durch den betätigten rechtsfeindlichen Willen hervorgerufenen Erschütterung des Vertrauens in die Geltung der Rechtsordnung61 erblicken will, ferner z. B. auch im „Expressiv-Werden eines Normbruchs“62. 55 Näheres zur Straftat als als Verstoß gegen allein dem Menschen geltende Verhaltensnorm s. bei Gössel (Fn. 22), § 39, 1 ff. 56 Vgl. dazu Gössel (Fn. 22), § 42, 14 ff., 22 ff. und FS Kühl 2014, S. 225, 242 f. 57 Gössel (Fn. 51), 242 f. 58 s. dazu Gössel (Fn. 22), § 40, 1 ff., 7. 59 Vgl. z. B. Jescheck/Weigend (Fn. 15), § 49 II 1. 60 So vor allem in der Rechtsprechung, vgl. z. B. RGSt 1, 439, 441; BGHSt 11, 268, 271; Lackner/Kühl, StGB, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 22, 11. 61 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 44. Aufl. 2014, Rn. 594.

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Die Rechtsgrundtheorien benennen mit Gefährdung, rechtsfeindlichem Willen, Erschütterung des Vertrauens tatsächliche Sachverhalte, wie auch die übrigen Rechtsgrundtheorien63, und begnügen sich damit aber mit der Beschreibung dessen, worin die Rechtsgutsbeeinträchtigung des Versuchs zu erblicken ist, ohne aber auf den Grund für deren Verknüpfung mit strafrechtlichen Sanktionen einzugehen. All diese Lehren benennen lediglich mögliche Erkenntnisgründe der Strafwürdigkeit als Strafgrund der in §§ 22, 23 StGB gesetzlich angeordneten Strafbarkeit des Versuchs (Sollensgrund), nicht aber das Grund-Folge-Verhältnis selbst und verkennen so, dass das Gesetz das unmittelbare Ansetzen zu einer Rechtsgutbeeinträchtigung zum Realgrund für die Verknüpfung mit strafrechtlichen Sanktionen bestimmt, der hier grundsätzlich ebenso nur unter zwei Voraussetzungen zu bejahen ist, wie in den bisherigen Fällen: Auch der Versuch muss realgesetzlich mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung verknüpft sein und jene Norm verletzen, die dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient (s. dazu z. B. o. 1. b)). bb) Der in § 24 StGB benannte tatsächliche Sachverhalt einer Verhinderung ebender tatbestandlichen Rechtsgutsbeeinträchtigung, zu deren Verwirklichung der Täter bereits angesetzt hatte, führt zu einer Veränderung des tatsächlichen Sachverhalts bereits eingetretener Strafbarkeit, deren Aufhebung in § 24 StGB angeordnet ist; Gleiches gilt für den weiteren Sachverhalt der Aufgabe jenes Tuns, mit dem zur Verwirklichung einer Rechtsgutsbeeinträchtigung angesetzt wurde. Aufgabe oder Verhinderung der bereits in Gang gesetzten Rechtsgutsbeeinträchtigung bilden damit den Realgrund der Strafaufhebung, dessen Vorliegen ebenfalls anhand der Kriterien eines realgesetzlichen sowie eines finalen Schutzzweckzusammenhangs zu beurteilen ist. Sollensgrund der Straflosigkeit des Rücktritts vom Versuch ist die Anordnung in § 24 StGB; die in dieser Anordnung liegende Erkenntnis beruht auf dem Erkenntnisgrund fehlender Strafwürdigkeit.64 d) Realgrundverhältnisse bei der Teilnahme Wie schon der Strafgrund des Versuchs, so ist auch der „Strafgrund der Teilnahme“ schon lange Gegenstand wissenschaftlichen Bemühens65, und dies nur allzu berechtigt: Besteht doch zwischen dem Gegenstand „Teilnahme“ und den deswegen angeordneten strafrechtlichen Sanktionen offenkundig eine Grund-Folge-Verknüpfung66. Nach § 28 Abs. 1 StGB ist unter Teilnahme dasjenige Verhalten zu verstehen, 62

Jakobs (Fn. 30), 25/21. Gössel, in: FS Wolter 2013, 403, 406. 64 Vgl. dazu Gössel (Fn. 22), § 41, 11. 65 Vgl. z. B. Jescheck/Weigend (Fn. 15), § 64 I; Jakobs (Fn. 30), 22/1 ff.; Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 2014, § 50, 10 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 26, 11 ff. 66 Vgl. dazu schon Gössel, in: FS Spinellis, Athen 2001, 379. 63

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welches in §§ 26, 27 StGB als Anstiftung und Beihilfe beschrieben ist: Hilfeleistung zur Begehung einer vorsätzlichen Straftat oder die Bestimmung eines anderen zu solcher Tat. Beide Verhaltensweisen sind tatsächliche Sachverhalte, wie es ebenfalls die als Straftaten erfassten Rechtsgutsbeeinträchtigungen sind, zu denen bestimmt oder Hilfe geleistet worden ist wie aber auch die jeweils angeordneten strafrechtlichen Sanktionen (s. o. I. 2. d)). Damit sind Bestimmen/Helfen, soweit sie gesetzlich als strafbar bestimmt sind, ursächlich mit strafrechtlichen Sanktionen verknüpft. aa) Die Lehren zu dem erwähnten Strafgrund der Teilnahme, von denen hier nur diejenigen erwähnt werden können, die bisher in der Diskussion besondere Beachtung gefunden haben, bemühen sich indessen, wie schon die Lehren vom Strafgrund des Versuchs (s. o. c) aa)), nicht um die Bestimmung dieses Verhältnisses, machen vielmehr Aussagen über die Natur der Teilnahme: Der Strafgrund der Teilnahme soll nach der Schuldteilnahmetheorie darin liegen, dass „er den Täter in Schuld und Strafe geführt und außerdem bei der Tat mitgewirkt hat“ (eine Lehre, die schon an § 29 StGB scheitert: Prinzip der limitierten Akzessorietät)67 – und die Unrechtsteilnahmelehre erblickt den Strafgrund in der Verursachung fremden Unrechts und begnügt sich so ebenfalls mit der Beschreibung68 dessen, was der Teilnehmer tut; Gleiches gilt für die sog. Verursachungstheorie, auch in ihrer akzessorietätsorientierten Form69, die auf die Herbeiführung der tatbestandsmäßigen Rechtsgutsbeeinträchtigung abstellt. So verkennen die Lehren vom Strafgrund der Teilnahme auch hier, wie schon diejenigen vom Strafgrund des Versuchs (s. o. c) aa)), die Realgründe der Verknüpfung der Teilnahme mit strafrechtlichen Sanktionen, die in den §§ 26, 27 StGB (in Verbindung mit § 28 StGB als Sollensgrund dieser Strafbarkeit) erfassten tatsächlichen Sachverhalten des Bestimmens oder Hilfeleistens liegen. bb) Damit stehen Bestimmen/Helfen in einem Realgrundverhältnis einmal zur Rechtsgutsbeeinträchtigung eines anderen, zudem aber auch zu den strafrechtlichen Sanktionen gegen den, der einen anderen zu einer Straftat bestimmt oder ihm dazu hilft – und dieses Verhältnis ist ebenfalls (s. dazu o. 1. b) vor aa)) anhand der Kriterien eines realgesetzlichen sowie eines finalen Schutzzweckzusammenhangs zu beurteilen, eine umfangreiche Problematik, der hier nicht mehr nachgegangen werden kann.

III. Grund-Folge-Verhältnisse im Strafverfahrensrecht 1. Ausgewählte Beispielsfälle Zur Beurteilung der Zulässigkeit oder Begründetheit des Verfahrens und auch einzelner Prozesshandlungen ist die Ursächlichkeit zwischen verschiedenen Gegenständen nicht selten von Bedeutung, auch wenn das Gesetz die Begriffe der Ursächlich67

Jescheck/Weigend (Fn. 15), § 64 I 1. Vgl. dazu z. B. Roxin (Fn. 65), § 26, 16 ff. 69 Von Roxin (Fn. 65), § 26, 26 ff. vertreten.

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keit oder Begründetheit oder entsprechende Begriffe nicht immer ausdrücklich verwendet. So kann etwa die Einstellung des Verfahrens durch das Vorliegen eines Prozesshindernisses oder das Fehlen einer Prozessvoraussetzung begründet sein (vgl. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO). § 163d Abs. 1 StPO etwa macht die Anordnung der Schleppnetzfahndung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen abhängig, die den Verdacht hinsichtlich bestimmter Straftaten begründen, wie auch bestimmte Vernehmungsmethoden verboten und deshalb unzulässig sind, wenn durch sie die „Freiheit der Willensbildung und der Willensbetätigung des Beschuldigten“ beeinträchtigt wird (§ 136a Abs. 1 und 2 StPO), und § 136a Abs. 3 StPO normiert ein Verwertungsverbot für solche Aussagen, die durch die Verletzung dieser verbotenen Vernehmungsmethoden zustande gekommen sind. Ferner sind hier die Vorschriften der §§ 261, 264 Abs. 1 StPO zu nennen, die verlangen, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme auf dem „Inbegriff der Verhandlung“, verstanden als mündliche Hauptverhandlung, beruhen muss und der Gegenstand des Urteils allein auf deren Ergebnis. Ausdrücklich erwähnt wird ein Grund-Folge Verhältnis z. B. in § 363 Abs. 1 StPO, der die Unzulässigkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens für den Fall einer anderen Strafbemessung „auf Grund desselben Strafgesetzes“ normiert und § 337 Abs. 1 StPO, der die Begründetheit des Rechtsmittels der Revision davon abhängig macht, ob „das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes“ beruht. 2. Das in § 337 StPO erfasste Grund-Folge-Verhältnis Alle diese Grund-Folge-Verhältnisse näher zu untersuchen, kann hier nicht geleistet werden. Beispielhaft sei hier jedoch auf jenes Verhältnis hingewiesen, dass zwischen einem Rechtsfehler und dem darauf beruhenden Urteil zur Begründung des Rechtsmittels der Revision verlangt wird. a) Die Beurteilung des Grund-Folge-Verhältnisses durch den Bundesgerichtshof Bekanntlich beruht das Urteil „schon dann auf dem Rechtsfehler, wenn es möglich erscheint oder nicht auszuschließen ist, dass es ohne den Fehler anders ausgefallen wäre“, also die Möglichkeit besteht, dass das Urteil ohne den Gesetzesverstoß anders ausgefallen wäre.70 Wie unsicher diese Formel zur Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Rechtsfehler und dem mit der Revision angefochtenen Urteil ist, sei an einem Urteil des Bundesgerichtshofs zu den Folgen eines unterbliebenen Gerichtsbeschlusses zur Anordnung des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 StPO)71 aufgezeigt. Der Fünfte Strafsenat hat hier zu Recht gerügt, dass es die Strafkammer unterlassen hat, über den unverzüglichen Widerspruch des Verteidigers gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens entgegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO zu entscheiden. 70 71

LR/Franke, 26. Aufl., § 337, 179 mit zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung. BGH JR 2013, 380 mit abl. Anm. Gössel.

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Mit Recht wurde darin eine Gesetzesverletzung erblickt und zudem anerkannt, „dass aufgrund des Gerichtsbeschlusses vom Selbstleseverfahren Abstand genommen worden“ und bei dann ordnungsgemäßer „Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO ein abweichendes Ergebnis denkbar wäre“.72 Gleichwohl meint der Senat im direkten Gegensatz dazu, es sei auch „nicht ansatzweise ersichtlich, wie eine Verlesung in der Hauptverhandlung zu einer anderen Bewertung“ des Ergebnisses der Beweisaufnahme hätte führen können als bei dem tatsächlich fehlerhaft durchgeführten Beweisverfahren.73 b) Unzulänglichkeit der Beurteilung des Grund-Folge-Verhältnisses Es erscheint verständlich, dass der Strafsenat das angefochtene Urteil in diesem Fall deshalb nicht aufheben wollte, weil es in der Tat naheliegt, ein Beruhen des Urteils auf dem von ihm selbst aufgezeigten Gesetzesverstoß zu verneinen. Indessen verstieß der Senat damit gegen die von ihm selbst anerkannte Regel zur Beurteilung der etwaigen Kausalität des Gesetzesverstoßes für das angefochtene Urteil nach der bloßen Möglichkeit eines anderen Ausfalls des angefochtenen Urteils. Im Ergebnis wenden sich einige Stimmen zu Recht deshalb dagegen, den Beruhenszusammenhang nach den „Zurechnungsmodelle(n) des materiellen Strafrechts zu bestimmen“74 – allerdings nur deshalb zu Recht, weil die von diesen Autoren genannten „Zurechnungsmodelle“, wie zuvor dargelegt wurde (s. o. II.), entscheidend auf die Äquivalenztheorie abstellen. aa) Die Beruhensformel der Rechtsprechung zu § 337 StPO indessen dürfte der Äquivalenztheorie des materiellen Rechts doch sehr weitgehend entsprechen. Wie die Feststellung, dass beim Hinwegdenken eines Ereignisses zugleich dessen Erfolg entfällt, bereits voraussetzt, dass zwischen Ereignis und Erfolg eine kausale Verknüpfung besteht, die doch aufgrund dieser Formel erst festgestellt werden soll, so setzt auch die Beruhensformel des § 337 StPO bereits voraus, was sie feststellen will: Erst wenn man schon weiß, ob das Urteil auf dem Gesetzesverstoß beruht, kann festgestellt werden, zu welchem Ergebnis das Hinwegdenken dieses Verstoßes führt. (vgl. dazu o. II. 1. a)). Auch die Beruhensformel kann damit jener Konsequenz nicht entgehen, die schon die Fehlerhaftigkeit der Äquivalenztheorie ausmacht: die unerträgliche bis zur Willkürlichkeit gehende Ausweitung der jeweiligen ursächlichen Verknüpfung, wie auch das o. a) erwähnte Urteil des Bundesgerichtshofes zeigen dürfte. bb) Der Ablehnung materiell-rechtlicher Maßstäbe zur Beurteilung kausaler Zusammenhänge (s. o. vor aa)) kann deshalb nur hinsichtlich der Heranziehung der Äquivalenztheorie zugestimmt werden. Stattdessen wird zu erwägen sein, auch die Beruhensformel des § 337 StPO und auch die sonst im Strafverfahrensrecht er72

BGH JR 2013, 380 (Nr. 9). BGH JR 2013, 380 (Nr. 12). 74 LR/Franke26 § 337, 178 m.w.N.; dafür aber wohl Kudlich FS Wolter 2013, 995, 1003 ff.

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fassten Grund-Folge-Verhältnisse unter Anwendung des Satzes vom Grunde näher zu bestimmen – eine erst zukünftig zu bewältigende umfangreiche Aufgabe.

IV. Fazit 1. Grund-Folge-Verhältnisse entscheiden in weiten Bereichen des materiellen Strafrechts über die Strafbarkeit eines Verhaltens (s. o. vor I.). a) Keine der Kausalitätstheorien ist geeignet, Grund-Folge-Verhältnisse zutreffend zu bestimmen. Die Äquivalenztheorie und die auf ihr aufbauenden Lehren setzen voraus, was sie vorgeben feststellen zu können; überdies wird von diesen Lehren, wie zudem von sonst vertretenen Kausalitätstheorien, die Strafbarkeit zu Unrecht von hypothetischem Geschehen abhängig gemacht und gerade nicht von Tatsachen oder tatsächlichen Sachverhalten (s. o. II. 1. a) aa), Abs.1). Alle diese Lehren lenken damit von der eigentlichen – und verkannten – Aufgabe ab: der näheren Bestimmung der jeweiligen Grund-Folge-Verhältnisse (s. o. II. 1. a) aa), Abs.2). b) Existierende Lehren über den Grund strafrechtlich bedeutsamer Gegenstände beschreiben das zu Begründende ohne zum jeweiligen Grund-Folge-Verhältnis selbst vorzudringen (s. o. II. 3. c) und d)). c) Grund-Folge-Verhältnisse sind unter Anwendung des Satzes vom Grunde zu bestimmen. Zu unterscheiden sind Real- und Erkenntnisgründe, Sollens- und Rechtsgründe sowie Zweck- oder Finalgründe (s. o. I. 1.). Realgründe setzen ein realgesetzliches Verhältnis zu ihrer Folge voraus sowie einen finalgesetzlichen Schutzzweckzusammenhang (s. o. II. 1. b)). 2. Grund-Folge-Verhältnisse im Strafprozessrecht entscheiden in weitem Umfang über die Zulässigkeit des Verfahrens insgesamt, wie aber auch über Zulässigkeit oder Begründung einzelner Prozesshandlungen. Es bleibt zu untersuchen, ob auch diese Verknüpfungsverhältnisse nach dem Satz vom Grunde bestimmt werden können (s. o. III.).

Zur Rolle des Satzes ultra posse nemo obligatur bei lobender und tadelnder (insbes. strafender) Zurechnung Jan C. Joerden Dieser Beitrag ist Keiichi Yamanaka, dem unermüdlichen Vermittler und Brückenbauer zwischen japanischer und deutscher Strafrechtswissenschaft in herzlicher Verbundenheit zu seinem 70. Geburtstag am 16. März 2017 gewidmet. Mögen dem Jubilar noch viele Jahre der Begegnung mit seinen deutschen Kolleginnen und Kollegen vergönnt sein und die deutsche Strafrechtswissenschaft weiterhin von seinen Erkenntnissen profitieren.

I. Herkunft und Deutung des Satzes ultra posse nemo obligatur Der gleichermaßen für Recht und Moral relevante Satz ultra posse nemo obligatur („Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet“) findet sich seinem Inhalte nach schon im Römischen Recht, wenngleich in anderen Formulierungen. So fasst etwa Celsus in den Digesten einen ganz ähnlichen Gedanken in die Worte „Impossibilium nulla est obligatio“ („Zum Unmöglichen besteht keine Verpflichtung“).1 Dieser Satz formuliert den Gedanken allerdings etwas weiter als der eingangs angesprochene Satz, indem bei Celsus auch die sog. objektive Unmöglichkeit mit erfasst wird, während der Satz ultra posse nemo obligatur sich auf das individuelle Unvermögen einer Person, also auf die subjektive Unmöglichkeit, bezieht. Für das Strafrecht kommt es indes gerade hierauf und – anders als möglicherweise im Zivilrecht2 – nicht so sehr auf die objektive Unmöglichkeit an. Denn es geht im Strafrecht ja stets darum, ob einer Person ein (individueller) Vorwurf gemacht werden kann; und ein solcher Vorwurf ist, so muss man den Satz ultra posse nemo obligatur verstehen, dann nicht akzeptabel, wenn es der betreffenden Person schon gar nicht möglich war, sich anders zu verhalten, als sie es getan hat. Dabei ist dann allerdings bei objektiver Unmöglichkeit der Vornahme einer bestimmten Handlung erst recht auch subjektive Unmöglichkeit gegeben. Der Satz bleibt aber auch dann anwendbar, wenn die jeweilige 1 D. 50,17,185; vgl. dazu auch Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln, 7. Aufl., München 2007, S. 98 m. w. N. zu Literatur über diesen Satz. 2 Vgl. insbesondere § 306 BGB a. F., der aber inzwischen vom Gesetzgeber offenbar als entbehrlich angesehen wird, da er nach der Schuldrechtsreform aus dem BGB verschwunden ist.

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Handlung zwar objektiv möglich, aber jedenfalls subjektiv (d. h. hier: für den jeweiligen Pflichtadressaten) unmöglich ist. Diese Überlegung gilt nun ganz allgemein im Bereich praktischer Philosophie, also nicht nur für das Strafrecht, sondern auch für die Ethik. Hier findet sich allerdings für besagten Gedanken häufig auch die Formulierung „ought implies can“.3 Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass man nur dann sinnvoll sagen kann, eine Person solle etwas tun, wenn man dabei zugleich von der Annahme ausgeht, dass sie diese von ihr verlangte Handlung auch ausführen kann. Das aber heißt umgekehrt, dass dann, wenn sie diese Handlung nicht vornehmen kann, sie hierzu auch nicht verpflichtet ist: ultra posse nemo obligatur. Kant greift diesen Grundsatz auf, wenn er in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) schreibt:4 „Die Moral ist schon an sich selbst eine Praxis in objectiver Bedeutung, als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln s o l l e n , und es ist offenbare Ungereimtheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, daß man es doch nicht k ö n n e . Denn alsdann fällt dieser Begriff aus der Moral von selbst weg (ultra posse nemo obligatur);…“

Was Kant hier als „Ungereimtheit“ bezeichnet, wäre etwa die Vorstellung eines Pflichtengebers, er könnte einerseits eine Person zu einem Handeln verpflichten, obwohl eben dieser Pflichtengeber andererseits zugleich annimmt, die Erfüllung dieser Pflicht sei dem Pflichtadressaten gar nicht möglich. Darin läge ein pragmatischer Selbstwiderspruch des Pflichtengebers, der ja bei einem solchen Vorgehen etwas erreichen wollte (Pflichterfüllung durch die verpflichtete Person), was er doch selbst zugleich für unmöglich hält. Kant hat allerdings diese Überlegung auch noch insofern erweitert, als er aus der Perspektive des Pflichtunterworfenen den Schluss von der Erkenntnis der Pflicht auf die eigene Fähigkeit, diese auch erfüllen zu können, also den Schluss auf die Freiheit zur Pflichterfüllung hinzu nimmt. Diese Überlegungen haben dann auch zu seiner berühmten Feststellung geführt:5 „Er6 urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ Diese und ähnliche Passagen sind Kant dann bekanntlich in den Xenien von Schiller und Goethe in der ironisch verkürzten Form „Du kannst, denn du sollst“ zugeschrieben worden, im Grunde eine deontologisch äquivalente Umformulierung von „ought implies can“.

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Zum logischen Verhältnis der genannten Sätze zueinander im Hinblick auf ein deontologisches Sechseck, vgl. Joerden, Logik im Recht, 2. Aufl., Heidelberg 2010, S. 207 ff. m. w. N. zur Literatur über „ought implies can“. 4 Kant, Zum ewigen Frieden, Akad.-Ausg., Bd. 8, S. 370. 5 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg., Bd. 5, S. 30. 6 Gemeint ist der Adressat einer Pflicht.

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Zu ergänzen ist, dass der Annahme, Sollen impliziere Können, nicht etwa ein sog. naturalistischer Fehlschluss zugrunde liegt. Ein naturalistischer Fehlschluss entsteht bekanntlich dann, wenn von einem (bloßen) Sein auf ein Sollen geschlossen wird.7 Dies ist bei dem hier diskutierten Grundsatz indes nicht der Fall. Zwar geht es durchaus auch um eine Beziehung zwischen Sein und Sollen.8 Doch wird nicht von einem Sein (bzw. Können) auf ein Sollen geschlossen, sondern umgekehrt folgt aus einer pragmatisch sinnvollen Verwendung des Sollensbegriffs, dass mit dem Sollen notwendig mitgedacht wird, dass der Adressat dieses Sollens der entsprechenden Anforderung auch nachkommen kann.

II. Anwendungsbereiche des Satzes ultra posse nemo obligatur 1. Zum Handlungs- und Unterlassungsbegriff Der Satz ultra posse nemo obligatur spielt eine wesentliche Rolle schon bei der Frage, ob ein bestimmtes Ereignis einer Person als von deren Handlung hervorgebracht zugerechnet werden kann. Zumindest dann, wenn man „Handlung“ als einen Begriff der praktischen Philosophie interpretiert,9 setzt er sinnvollerweise den Satz ultra posse nemo obligatur in dem Sinne voraus, dass jede Handlung einer Handlungsalternative bedarf, um überhaupt Handlung zu sein. Diese Handlungsalternative besteht gerade darin, die Handlung auch nicht vornehmen zu können. Das ist für den „Normalfall“ einer Handlung ganz unproblematisch: Man kann nur dann von einer Person sagen, dass sie einen Menschen (durch ihr Handeln) tötet, wenn sie dies auch hätte lassen können. Überfährt ein Lokomotivführer einen plötzlich vor ihm auf den Gleisen liegenden Menschen tödlich, weil er trotz aller Anstrengung nicht mehr in der Lage ist, die Lokomotive rechtzeitig vor dem Opfer zum Stehen zu bringen, dann kann man das nicht sinnvoll als seine Tötungshandlung bezeichnen.10 7

Der Gedanke, dass Sein und Sollen voneinander zu trennen sind, wird David Hume zugeschrieben; vgl. dazu Hume, A treatise of human nature (1740), 3. Buch, 1. Teil, 1. Abschnitt. G. E. Moore, hat im Anschluss daran insbesondere die Möglichkeit bestritten, aus einem Sein auf ein Sollen zu schließen; vgl. Principia Ethica (1903), Stuttgart 1970, 1. und 2. Kapitel. Danach bezeichnet man den Versuch, aus einem Sein auf ein Sollen zu schließen, als naturalistischen Fehlschluss („naturalistic fallacy“). Näher vgl. etwa Art. „Sollen II. (angelsächsische Philosophie)“, HWP, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 1045 ff. (Hügli). 8 Hans Albert bezeichnet den Satz Sollen impliziert Können daher auch treffend als „Brücken-Prinzip“ zwischen Sollen und Sein; vgl. Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1980, S. 76. 9 Etwas anderes mag z. B. für den Begriff „Handlung“ in einem Roman oder auf einer Bühne gelten, sofern dieser Begriff mehrere individuelle Handlungen, aber auch andere Ereignisse, zu einem Gesamtgeschehen verknüpft. 10 Vorbehaltlich einer Situation, bei der der Lokomotivführer sich, als er noch handlungsfähig war, so verhalten hat, dass er später keine Möglichkeit mehr hatte zu bremsen; zu solchen Situationen vgl. noch unten Abschnitt 6.

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Ebenso wenig handelt eine Person P1, die mit vis absoluta von einer anderen Person P2 z. B. durch eine (fremde) Fensterscheibe gestoßen wird, ohne dies vermeiden zu können. Dass dies schon keine Sachbeschädigungshandlung von P1 ist, sondern allenfalls die von P2, ist dementsprechend im Strafrecht allgemein anerkannt, und zwar ganz unabhängig davon, ob P1 weiß, dass sie gerade durch eine (fremde) Fensterscheibe gestoßen wird und dies vielleicht sogar „billigt“; denn es fehlt für eine Handlung an einer wirkmächtigen Betätigung des Willens von P1, und zwar eben wegen der ihr fehlenden Handlungsalternative. Eine nicht hier, sondern im Abschnitt 6. noch näher zu erörternde Frage ist es dabei, inwieweit an diesem Ergebnis dann Korrekturen vorzunehmen sind, wenn P1 sich „freiwillig“ in die Lage gebracht hat, von P2 durch die Fensterscheibe gestoßen zu werden. Entsprechendes wie für Handlungen gilt auch für Unterlassungen. Auch sie erfordern schon begrifflich eine Verhaltensalternative. Wer etwa ohnmächtig am Ufer eines Sees liegt, unterlässt es nicht, einen gleichzeitig im See Ertrinkenden zu retten. Ebenso wenig unterlässt es der Nichtschwimmer N, den Ertrinkenden E zu retten, wenn er keine Möglichkeit hat, den E aus dem tiefen Wasser herauszuholen.11 Da der N hier mangels Verhaltensalternative die Rettung nicht unterlässt, ist die Rettung in dieser Fallkonstellation auch nicht möglicher Inhalt einer Pflichtanforderung, denn: ultra posse nemo obligatur. Gleichsam erst recht besteht daher auch keine Basis dafür, das Nicht-Retten durch N zu kritisieren. Denn wo schon keine Pflicht besteht, kann es auch keine kritikwürdige Pflichtverletzung geben. Es fehlt bereits am Substrat dessen, was überhaupt einer Kritik unterworfen werden könnte. Dabei liegt diesen Überlegungen eine Differenzierung zwischen Bewertungsregeln einerseits und Zurechnungsregeln andererseits zugrunde.12 Während die ersteren Regeln die Kritik an einer Handlung (oder Unterlassung) steuern, indem sie dafür den Maßstab liefern, geben die letzteren Regeln die Bedingungen dafür an, wann überhaupt ein kritikwürdiges Geschehen – im strafrechtlichen, aber auch im allgemein ethischen Kontext: eine Handlung oder eine Unterlassung mit einem bestimmten Erfolg – gegeben ist, womit eine Person so in Verbindung gebracht werden kann, dass sie für dieses Geschehen dann die Verantwortung trägt. Damit ist es die Aufgabe der Bewertungsregeln, die Grenzen der Freiheit von Personen, sofern sie in ihrem Verhalten aufeinander Einfluss nehmen, abzustecken; sie regeln in diesem Sinne

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Vorausgesetzt sei, dass für N auch keine andere Möglichkeit zur Rettung des Ertrinkenden (etwa durch Herbeiholen von Hilfe Anderer) bestand. Unberücksichtigt bleibt hier (wie schon bei der Zurechnung von Handlungen) die Fallkonstellation, in der der Nichtschwimmer z. B. absichtlich sein Handy weggeworfen hat, um später keine Hilfe für einen Ertrinkenden mehr herbeiholen zu können; vgl. dazu aber noch Abschnitt 6. 12 Ausführlich dazu Hruschka, „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, in: Rechtstheorie Bd. 22 (1991), S. 449 ff.; dort heißt es statt „Bewertungsregeln“ allerdings „Verhaltensregeln“, um auch deren prospektivischen Charakter erfassen zu können. Dieser Aspekt sei hier aus Gründen der Vereinfachung ausgeblendet.

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die Grenzen der „interpersonellen Freiheit“.13 Die Zurechnungsregeln dagegen legen fest, ob eine bestimmte Person für ein Geschehen deshalb verantwortlich gemacht werden kann, weil sie in der Lage gewesen wäre, es zu vermeiden. Damit definieren die Zurechnungsregeln zum einen den Gegenstand für eine Kritik des Geschehenen und konkretisieren dabei zum anderen die Grenzen der „intrapersonellen Freiheit“ der betreffenden Person.14 Auf den ersten Blick scheint nun im Lichte der vorbezeichneten Differenzierung zweier Regelarten der Satz ultra posse nemo obligatur eigentlich eine Bewertungsregel wiederzugeben. Darauf deutet zumindest der Bezug zum Pflichtbegriff („obligatur“) hin, bei dem es ja offenkundig (verwendet man die eine solche Pflicht formulierende Regel retrospektiv als Maßstab zur Beurteilung einer Handlung) auch um eine Bewertung der betreffenden Handlung geht. Diese Betrachtungsweise ist aber vordergründig und erfasst den Charakter des Satzes ultra posse nemo obligatur nur unvollständig. Vielmehr geht es bei diesem Satz darum, bestimmte Situationen als Gegenstand eines (möglichen) Pflichtbezugs und damit auch einer (negativen) Bewertung im Falle einer Pflichtverletzung auszuschließen. Anders formuliert: Situationen, in denen die betreffende Person keine Alternative zu ihrem Verhalten hat, scheiden von vornherein als Gegenstand für eine bewertende Kritik aus. Womit der Charakter des Satzes ultra posse nemo obligatur als Zurechnungsregel klar hervortritt. Bestätigt wird dies, wenn man den Grundsatz auf den Bereich lobender Beurteilung überträgt. Er ist dann in seiner Stoßrichtung unverändert anwendbar. Allerdings bedarf er insofern einer Umformulierung, als er im strafrechtlichen Kontext tadelnder Zurechnung gerade auf den Fall der möglichen Verletzung einer Pflichtenordnung bezogen war. Der Gedanke aber, dass es keine Handlung (oder Unterlassung) sein kann, wenn der betreffenden Person die Handlungsalternative fehlt, gilt ohne inhaltliche Abwandlung auch im Bereich lobender Beurteilung: Wem etwa mit unwiderstehlicher Gewalt (vis absoluta) Geld weggenommen wird, das dann bedürftigen Personen zugute kommt, ist für sein Verhalten nicht zu loben. Man kann dies so formulieren: „Über sein Können hinaus verhält sich niemand supererogatorisch und ist deshalb auch nicht zu loben.“15 Ein weiteres Beispiel bestätigt dies: Wer aus physischen Gründen16 nicht in der Lage ist, bei einem armen Schuldner eine an sich zu seinen Gunsten bestehende Geldforderung einzutreiben, ist für einen Verzicht auf

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Vgl. näher Joerden „Lob und Tadel; Relevante Regelarten und ihr Zusammenwirken“, GS Unberath, München 2015, 221 ff. 14 Ebd. 15 Der Begriff „supererogatorisch“ erfasst diejenigen Handlungen (und Unterlassungen), die weder geboten noch verboten noch (rechtlich bzw. moralisch) indifferent sind, sondern „über das (moralisch bzw. rechtlich) Geforderte hinausgehen“; näher etwa David Heyd, Supererogation. Its status in ethical theory, Cambridge u. a. 1982; Joerden (Fn. 3), S. 221 ff. m. w. N. 16 Z. B., weil der Schuldner untergetaucht ist.

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diese Schuldeintreibung nicht zu loben. Er unterlässt die Schuldeintreibung nicht und unterlässt daher dieses Verhalten auch nicht supererogatorisch. Es ist nachgerade ein wesentliches formales Kriterium der Unterscheidung von Bewertungsregeln und Zurechnungsregeln, dass letztere bei einer Transformation in einen lobenden Kontext konstant bleiben. Was eine Handlung (oder Unterlassung) ist und was nicht, ist für eine lobende oder tadelnde Zurechnung gleich, bleibt mithin auch dasselbe, wenn die Handlung (oder Unterlassung) getadelt wird oder wenn sie gelobt wird. Die Bewertung der Handlung als (straf-)rechtswidrig oder als supererogatorisch muss sich demgegenüber ändern, wenn die fragliche Regel von einem tadelnden in einen lobenden Kontext transformiert werden soll. Deshalb konnte hier der Regelteil „ultra posse“ unverändert übernommen werden, während der andere Teil der Regel „nemo obligatur“ verändert werden muss, wenn man die Regel auch im Bereich lobender Zurechnung verwenden will. Erkennbar formuliert der Satz ultra posse nemo obligatur indirekt auch eine Bedingung für einen „Abbruch des Verfahrens“17 im Regress entlang der von einem Ereignis zurückführenden Ursachenkette bis hin zum Erreichen einer causa libera („freie Ursache“).18 Denn der Satz macht klar, dass jedenfalls bei Fehlen einer Verhaltensalternative (also „ultra posse“) keine „causa libera“ gegeben sein kann; dementsprechend wird auch an einer solchen Stelle der Kausalkette kein Regressverbot ausgelöst; vielmehr kann (und muss ggf.) nach einer anderen, weiter zurückliegenden causa libera gesucht werden.19 2. Zur sog. objektiven Zurechnung Der Ausdruck „posse“ („können“) in dem Satz ultra posse nemo obligatur hat nun über das Erfordernis einer Verhaltensalternative im engeren, soeben im Kontext des Handlungs- und Unterlassungsbegriffs besprochenen, Sinn hinaus eine erweiterungsfähige Bedeutung. „Können“ lässt sich nämlich – zumindest im strafrechtlichen Kontext – ganz allgemein als die Möglichkeit fassen, den Eintritt eines bestimmten Ereignisses zu vermeiden.20 „Ohne Vermeidbarkeit keine Zurechnung“ 17 Eine von Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 4. Aufl., Tübingen 1980, S. 13 entlehnte Formulierung; näher dazu Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, Berlin 1988, S. 26 f. 18 Kant formuliert dies so: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria s. valida), sonst aber nur eine beurtheilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde.“ Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd. 6, S. 227. 19 Vgl. dazu näher Joerden (Fn. 17), S. 16 ff., 30 ff.; vgl. auch noch unten Abschnitt 6. 20 Ausführlich zu der strafrechtlichen Dimension der Vermeidbarkeit vgl. auch schon Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-qua-non-Formel, Diss. Hamburg 1968.

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wäre daher die sinngemäß erweiterte Übersetzung von ultra posse nemo obligatur. Auf der Basis dieser Interpretation sind dann, von der fehlenden Verhaltensalternative abgesehen (Unvermeidbarkeit im engeren Sinne), auch andere Zurechnungsausschlüsse im Strafrecht erfasst (Unvermeidbarkeit im weiteren Sinne). So ist der Eintritt eines Ereignisses für die damit in einem kausalen Zusammenhang stehende Person auch dann unvermeidbar, wenn sich zum relevanten Zeitpunkt, zu dem die Vermeidung des fraglichen Ereignisses erforderlich gewesen wäre, schon objektiv gar nicht voraussehen ließ, dass das Ereignis als Folge des zu beurteilenden Verhaltens eintreten wird. Dies ist zugleich der Kern der Lehre von der sog. objektiven Zurechnung.21 Wobei es für die Beantwortung der Sachfrage wenig beiträgt, wenn man hier stattdessen den unscharfen Begriff der Setzung einer „unerlaubten Gefahr“ einführt,22 weil die Frage der Zurechnung geklärt werden muss, bevor an eine Kritik („unerlaubt“) der zugerechneten Handlung (oder Unterlassung) gedacht werden kann, da die Zurechnungsproblematik gerade unabhängig davon ist, ob die betreffende Verhaltensweise erlaubt ist oder nicht (oder supererogatorisch ist oder nicht). Um es an einem oft in diesem Kontext verwendeten Beispiel zu zeigen: Wenn der Vater V sein Kind K auf eine Wiese setzt, weil er die Zahlung der Alimente leid ist, und dabei darauf hofft, K möge von einem Meteor erschlagen werden, so ist die Tötung des Kindes, wenn dann tatsächlich zufällig ein Meteor dort einschlägt, gleichwohl für V nicht in zurechnungsrelevanter Hinsicht vermeidbar gewesen. Dabei sei vorausgesetzt, dass auch aus objektiver ex-ante-Perspektive23 keine konkreten An21 Allgemein und zusammenfassend zu den Problemen der objektiven Zurechnung vgl. Weigend, „Objektive Zurechnung – mehr als nur ein Wort?“, in: Hilgendorf (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen des chinesischen und deutschen Strafrechts, Tübingen 2015, S. 117 ff.; Hilgendorf, „Wozu brauchen wir die ,Objektive Zurechnung‘? Skeptische Überlegungen am Beispiel der strafrechtlichen Produkthaftung“, FS Weber, Bielefeld 2004, S. 33 ff.; zur Diskussion der objektiven Zurechnung in Japan im Vergleich zu der deutschen Diskussion ausführlich K. Yamanaka, Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin 2012, Dritter Teil: Die Lehre von der objektiven Zurechnung, S. 147 ff. 22 Kritisch auch Weigend (Fn. 21), S. 118 f. unter Verwendung des Bildes einer Gleichung mit „zwei weiteren Unbekannten“ (S. 119). – Schon der Ausdruck „objektive Zurechnung“ ist ungenau, weil eigentlich auch der Erfolgseintritt (bei Erfolgsdelikten) und die Kausalität Elemente der „objektiven Zurechnung“ einer Handlung sind. Im Unterschied zur Kausalitätsfrage, die aus einer ex-post-Perspektive beantwortet wird, wird die Frage „objektiver Zurechnung“ zudem aus einer (nachträglichen objektiven) ex-ante-Perspektive vom Moment des tatbestandlichen Handelns aus in Richtung auf den Erfolgseintritt beantwortet, weshalb Hruschka, Strafrecht AT, 2. Aufl., Berlin 1988, insbes. S. 404 f. statt des Ausdrucks „objektive Zurechnung“ und im Unterschied zum „objektiven Kausalzusammenhang“ den Begriff „objektiver Finalzusammenhang“ vorschlägt. 23 Was man aus dieser Perspektive genau weiß, ist natürlich zu präzisieren. Jedenfalls nicht alles, was der Laplacesche Weltgeist weiß, der bekanntlich alles weiß, was in Zukunft geschehen wird, sondern nur das, was ein „besonnener Beobachter“ hätte voraussehen können. Wem das zu vage ist, wird möglicherweise ganz auf das Kriterium der objektiven Zurechnung verzichten – wie etwa auch der BGH – und diese Fragen ganz in die subjektive Tatseite verlagern.

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haltspunkte dafür vorhanden waren, ob überhaupt oder gar wo genau ein Meteor einschlagen wird (alles wäre selbstredend anders, wenn es konkrete Berechnungsgrundlagen für die Bahn des Meteors gäbe etc.). Nun ist zwar offenkundig das Verhalten des Vaters (Verbringen des Kindes auf die Wiese) nicht nur für den Tod des Kindes kausal, sondern auch durchaus vermeidbar; aber betrachtet man dieses Verhalten als Tötungshandlung, so kann man die These von der Vermeidbarkeit nicht mehr aufrecht erhalten. Denn dies würde voraussetzen, dass zum Zeitpunkt des eventuellen Vermeideverhaltens überhaupt klar war, dass hier ein Tötungserfolg zu vermeiden ist, was aber mangels objektiver Vorhersehbarkeit dieses Erfolges gerade nicht möglich ist. Man kann sich das auch dadurch verdeutlichen, dass das Verbringen des Kindes an eine andere Stelle der Wiese (oder sonst wo hin) bzw. jedes andere Alternativverhalten aus objektiver ex-ante-Perspektive ebenso gut wie die von dem Vater tatsächlich ergriffene Handlung zur zufälligen Tötung durch einen Meteoreinschlag hätte führen können. Kurz gefasst: Was man nicht voraussehen kann, kann man auch nicht vermeiden.24 Entsprechendes gilt nun auch für den Kontext der lobenden Beurteilung. Auch hier wird man den Eintritt eines Ereignisses nicht als von der Handlung einer Person P hervorgebracht verstehen können, wenn der Eintritt eben dieses Ereignisses zum Zeitpunkt des in Betracht kommenden Verhaltens von P aus objektiver ex-ante-Perspektive nicht vorhersehbar war. Und dies ist auch nicht etwa erst ein Problem der Bewertung, sondern schon ein solches der Zurechnung, weil bei fehlender objektiver Vorhersehbarkeit der Gegenstand für eine mögliche (positive) Bewertung bereits in Wegfall gerät. Dazu folgendes Beispiel: A kauft sich ein Lotterielos im Wert von 10 Euro. Dann überlegt er sich, dass er damit dem in ärmlichen Verhältnissen lebenden B eine Freude machen könnte, und schenkt es ihm. Sehr zur Verwunderung von A und B erzielt B den Hauptgewinn in Höhe von 1 Million Euro. In einem solchen Fall dürfte es unproblematisch sein, den A dafür zu loben, dass er dem B ein Los im Wert von 10 Euro geschenkt hat. Denn dabei hat er fremdbegünstigend und zugleich selbstschädigend gehandelt; sein Verhalten ist daher supererogatorisch.25 Nicht dagegen ist er dafür zu loben, dass er dem B einen Gewinn in Höhe von 1 Million Euro verschafft hat. Zwar ist sein Verhalten dafür zweifellos kau24 Für die Strafbarkeit des Vaters V wäre daher allenfalls an einen – untauglichen, je nach Fallgestaltung eventuell auch abergläubischen – Versuch zu denken, wenn V sich vorgestellt hat, er könne die Bahn des Meteors bis zu dem Platz auf der Wiese berechnen. Sollte V dagegen selbst von vornherein nur auf den Zufall gehofft haben, liegt nicht einmal ein (untauglicher) Versuch vor. 25 Supererogatorisches Verhalten zeichnet sich im Regelfall dadurch aus, dass eine Person P sich bei einer konkreten Handlung (oder Unterlassung) fremdbegünstigend und selbstschädigend verhält, während strafrechtswidriges Verhalten regelmäßig dadurch charakterisiert ist, dass jemand sich fremdschädigend und selbstbegünstigend verhält. Näher dazu Joerden (Fn. 13), S. 233 ff., auch dazu, dass (und in welchen Fällen) bei supererogatorischem Verhalten allenfalls auf die Selbstschädigungskomponente, bei strafrechtswidrigem Verhalten allenfalls auf die Selbstbegünstigungskomponente verzichtet werden kann.

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sal geworden. Aber man kann nicht von einer 1-Million-Euro-Selbstschädigungsund Fremdbegünstigungshandlung ausgehen, als A dem B das Los schenkte. Zwar hat er dem B die ganz ungewisse Chance auf den Hauptgewinn (oder einen anderen Gewinn) verschafft, aber diese Chance hatte (maximal) den (Markt-)Wert von 10 Euro und nicht etwa den Wert von 1 Million Euro (denn deshalb werden Lose gerade zu diesem geringen Preis verkauft). Dass dieses Los den Hauptgewinn einbringen würde, war objektiv ex ante gesehen so unwahrscheinlich,26 dass man nicht ernstlich behaupten kann, der A habe durch sein Verhalten dem B 1 Million Euro geschenkt (und sich dadurch in dieser Höhe selbst geschädigt und den B begünstigt). Die Übergabe des Loses war so wenig geeignet, zielgerichtet den B um 1 Million Euro zu bereichern, wie das Versetzen des Kindes auf die Wiese in dem oben genannten strafrechtlichen Beispiel geeignet war, das Kind zu töten. Bei beiden Vorgängen konnte man nur auf ein „Wunder“ hoffen. Das aber ist objektiv ex ante kein zielführendes (zurechenbares) Handeln und fällt daher von vornherein aus dem Rahmen der Gegenstände möglicher Bewertung (als strafrechtswidrig oder supererogatorisch) heraus. Sicherlich stellt sich hier ein Problem der Grenzziehung. Erzielt man mit dem Los etwa häufig (d. h. für viele Teilnehmer an der Lotterie) den ausgespielten Gewinn von z. B. 100 Euro, so wird man den A auch insoweit (d. h. auch „in dieser Höhe“) loben, weil ein solcher Gewinn bei der Übergabe des Loses keineswegs außerhalb eines vernünftigerweise erwartbaren Geschehensablaufs lag. Ganz entsprechend würde man auch (noch) von einer Tötungshandlung ausgehen, wenn jemand einem anderen einen sechsschüssigen Trommelrevolver, der mit nur einer Patrone geladen ist, an den Kopf hält, einmal abdrückt und das Opfer dabei zu Tode kommt, weil gerade die eine Patrone sich („zufällig“) vor den Zündmechanismus des Revolvers geschoben hat. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts jeweils für eine objektive Zurechnung noch hinreichen mag und welcher nicht, kann allerdings weder bei tadelnder noch bei lobender Beurteilung allgemein festgelegt werden. 3. Zur subjektiven Zurechnung (Vorsatz) Wenn es stimmt, dass das Erfordernis der sog. objektiven Zurechnung letztlich ein Spezialfall des Satzes ultra posse nemo obligatur ist, dann trifft dies auch für die subjektive Zurechnung zu, sofern es hierbei im Strafrecht um den Vorsatz des Täters geht.27 Denn wenn der Täter im Moment seines Handelns nicht voraussieht, was er gerade tut bzw. unterlässt, kann er auch nicht vermeiden, jenes zu tun bzw. zu un26 Man kann natürlich immer die Frage aufwerfen, ob der Erfolgseintritt denn so unwahrscheinlich ist, dass man ihn objektiv ex ante nicht vorhersehen konnte. Aber diese Frage entspricht der bekannten Frage danach, wie viele Sandkörner einen Haufen bilden. Wenn man überhaupt einen Fall anerkennt, in dem die objektive Vorhersehbarkeit fehlt (zur Gegenposition vgl. ob. Fn. 23), dann muss es ein korrespondierendes Beispiel zum vorliegenden Fall geben. 27 Andere subjektive Unrechtsmerkmale mögen hier außer Betracht bleiben.

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terlassen – ultra posse nemo obligatur. Dass man ihm in bestimmten Situationen trotz fehlenden Tatvorsatzes gleichwohl einen strafrechtlichen Vorwurf machen kann, und zwar dann, wenn er selbst dafür verantwortlich ist, dass er im Moment des Handelns bzw. Unterlassens nicht weiß, was er tut bzw. unterlässt (sog. Fahrlässigkeit), ist eine andere Frage, die weiter unten noch näher zu erörtern sein wird.28 Am Grundsatz des Zurechnungsausschlusses bei fehlendem Vorsatz ändert das jedenfalls nichts. Wieder konkretisiert hier der Satz ultra posse nemo obligatur indirekt die Stelle eines „Abbruchs des Verfahrens“ im Regress entlang einer Kausalkette auf der Suche nach einer causa libera des Erfolgseintritts. Wobei allerdings das Fehlen von Vorsatz gerade den „Abbruch des Verfahrens“ ausschließt, da ohne Vorsatz keine causa libera gegeben ist, ein weiterer Regress auf davor liegende Ursachen also möglich bleibt. Man mag gegen die These, auch die Forderung nach (Tat-)Vorsatz bei der (subjektiven) Zurechnung beruhe auf dem Gedanken des Satzes ultra posse nemo obligatur, eventuell einwenden, der Täter, der zwar keinen Vorsatz, aber immerhin eine Handlungsalternative habe, hätte die Handlung doch unterlassen und damit vermeiden können, weshalb eine Anwendung des Satzes ultra posse nemo obligatur von vornherein ausscheide. Das überzeugt aber letztlich nicht. Denn wer z. B. auf einen Lichtschalter drückt, ohne zu wissen, dass er damit eine Bombe zur Explosion bringt, die einen Menschen tötet, kann die Tötungshandlung nicht wirklich vermeiden. Um es an einem Extremfall zu zeigen: Es ist einfach nicht sinnvoll, von einem Blinden zu sagen, er habe es vermeiden können, eine vor ihm stehende Vase umzustoßen, indem er sich erst gar nicht vom Fleck bewegt hätte. Denn irgendwie handeln (oder unterlassen) muss jeder zu jeder Zeit, und dabei kann er nur das wirklich vermeiden, von dem er auch weiß. Wieder sei hier zunächst nur der Grundsatz in den Blick genommen und die denkbare Ausnahme, die man dann machen kann, wenn der Täter hätte wissen können, dass er die tatbestandsrelevanten Umstände verwirklicht (Fahrlässigkeit), für eine Erörterung in einem späteren Abschnitt vorbehalten.29 Dass die Forderung nach Vorsatz im allgemeinen Sinne einer Annahme aller relevanten objektiven Umstände des Handelns (oder Unterlassens) durch den Handelnden (bzw. den Unterlassenden) auch im Kontext lobender Beurteilung in ganz entsprechender Weise aufzustellen ist, macht deutlich, dass es sich hierbei wiederum um eine Anforderung für die Zurechnung handelt. Das zeigt folgendes Beispiel: A wirft einen Briefumschlag, in dem sich 100 Euro befinden, was A aber nicht weiß, in einen öffentlichen Papierkorb. Der Stadtstreicher B findet das Geld und behält es. Man würde den A hier kaum für seine „Spende“ loben, obwohl er sich durchaus (objektiv) fremdbegünstigend und selbstschädigend verhalten hat. Aber diese Begünstigung des B (und die Selbstschädigung des A) sind A gerade nicht als supererogatorisches Handeln (vollständig) zuzurechnen, weil es ihm am erforderlichen „Tatbewusstsein“ gefehlt hat.

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Abschnitt 6. Abschnitt 6.

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4. Zur Zurechnung von Schuld und von Verdienst Auf den ersten Blick scheint der Satz ultra posse nemo obligatur auf der Ebene der (strafrechtlichen) Schuldzurechnung schon deshalb deplatziert, weil hier ja gerade bereits klar ist, dass die betreffende Handlung oder Unterlassung einen Pflichtverstoß darstellt (indem sie rechtswidrig ist) und daher von der Frage einer Verpflichtung (obligatur) eigentlich gar nicht mehr die Rede sein kann; und doch besteht eine nahe liegende Analogie zu dem „Normalfall“ des ultra posse nemo obligatur-Satzes. Wer sich etwa unter dem Einfluss von vis compulsiva (oder sonst einer relevanten Gefahr) befindet, ist in seiner psychischen Fähigkeit, der (rechtlichen) Verpflichtung Folge zu leisten, erheblich eingeschränkt.30 Man kann es etwa dem Schiffbrüchigen im bekannten Brett des Karneades-Fall nicht „verdenken“, wenn er seiner Pflicht, den anderen Schiffbrüchigen, der sich auf eine Planke gerettet hat, nicht zu töten, wegen der akuten Bedrohung seiner eigenen physischen Existenz keine Folge leistet. Zwar ist hier die Vornahme der Handlung vermeidbar (sonst wäre es ja gar nicht zur Feststellung der Rechtswidrigkeit gekommen), aber man kann sagen, dass der Pflichtverstoß für den Schiffbrüchigen letztlich nicht „vermeidbar“ war. Wenn der Gesetzgeber eine Situation wie die in § 35 Abs. 1 StGB erfasste Lage als Entschuldigungsgrund ausweist, liegt dem jedenfalls dieser Gedanke zugrunde.31 Ähnliches gilt für die Situation des Notwehrexzesses, wo die Last der Pflichterfüllung für den betreffenden Täter wegen seines asthenischen Affekts einfach zu hoch ist, um von ihm noch getragen werden zu können (wieder eine Analogie zu dem Satz ultra posse nemo obligatur). Noch deutlicher wird dies bei einer Situation des § 20 2. Alt. StGB: Wer nicht in der Lage ist, nach seiner Unrechtseinsicht zu handeln, wird letztlich aus einer dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur korrespondierenden Überlegung entschuldigt. Kennt der Täter das Unrecht seiner Tat erst gar nicht (§ 17 Satz 1; § 20 1. Alt. StGB) gilt korrespondierend zu dem Fall der fehlenden Tatsachenkenntnis (vgl. obigen Abschnitt 3), dass eine Zurechnung zur Schuld ausscheidet, weil jemand, der die Norm bzw. deren Anwendbarkeit nicht kennt, auch nicht vermeiden kann, rechtswidrig zu handeln: ultra posse nemo obligatur. Die dagegen eventuell formulierbaren Einwände sind ebenso wie oben im Abschnitt 3 letztlich nicht stichhaltig. Parallelen zu diesen Überlegungen finden sich im Kontext supererogatorischen Verhaltens etwa in folgendem Fall: A spendet 1.000 Euro für eine wohltätige Organisation, hat dies aber nur deswegen getan, weil ihm der B andernfalls Prügel angedroht hat. An sich handelt es sich hier wegen ihres selbstschädigenden und fremdbegünstigenden Charakters um eine supererogatorische Handlung. Diese wird dem A aber gleichwohl nicht zum Verdienst zugerechnet (und A daher auch nicht gelobt), 30

Vgl. dazu schon Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin 1976, S. 40 ff. So zumindest die nach wohl h. M. maßgebliche Begründung für § 35 Abs.1 StGB im Rahmen der Theorie des psychologischen Drucks; vgl. etwa Lackner/Kühl, StGB, Kommentar, § 35, Rn. 1 m. w. N. auch zu Gegenansichten. 31

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weil er unter erheblichem psychischem Druck stand, so zu handeln, was sein Verdienst entscheidend (ggf. auf Null) reduziert. Natürlich besteht hier kein Automatismus, der es erzwänge, die strafrechtliche Regelung des § 35 Abs. 1 StGB unmittelbar in den Kontext supererogatorischen Verhaltens zu übertragen. Denn sicherlich können Zurechnungsmaßstäbe je nach Rechts- und Moralsystem inhaltlich voneinander abweichen, ebenso wie ja auch die Regelung des § 35 Abs. 1 StGB für das Strafrecht durchaus nicht sakrosankt ist. Für den Vergleich zwischen strafrechtlichem Kontext und dem supererogatorischen Handelns ist allein wichtig, dass die Stoßrichtung auch des in § 35 Abs. 1 StGB aufbewahrten Gedankens, wonach die Zurechnung von Schuld (deutlich) herabzusetzen ist (bzw. ganz zu entfallen hat), wenn der Täter unter erheblichem psychischem Druck steht, sich gegen ein rechtmäßiges Verhalten zu entscheiden, auch bei supererogatorischem Handeln entsprechend erhalten bleibt: Auch hier wird die Zurechnung zum Verdienst (deutlich) herabgesetzt, wenn der Täter unter (erheblichem) psychischem Druck steht, die betreffende supererogatorische Handlung vorzunehmen. Ganz entsprechend wird man auch denjenigen, der sich durch eine Geisteskrankheit genötigt sieht, sein gesamtes Vermögen (oder auch nur Teile davon) zu spenden, dafür kaum loben. Analog zu der Regelung des § 20 1. Alt. StGB mindert die von dem Handelnden angenommene Pflicht zum Spenden den Charakter der Handlung als lobenswert. Entsprechendes gilt in Analogie zu § 17 StGB, wenn jemand irrtümlich annimmt, zur Vornahme der Spende (rechtlich) verpflichtet zu sein.

5. Zur sog. Pflichtenkollision Ein weiterer Anwendungsbereich des Satzes ultra posse nemo obligatur wird durch die Fälle gebildet, die üblicherweise unter dem Stichwort „Pflichtenkollision“ diskutiert werden. Von den unterschiedlichen Fallkonstellationen der „Pflichtenkollision“ sei dabei hier nur die einer Kollision von gleichwertigen Handlungspflichten herangezogen.32 So kann es geschehen, dass eine Person (Pflichtadressat) sich vor die Situation gestellt sieht, von zwei ihr angesonnenen gleichwertigen Pflichten nur die eine oder die andere erfüllen zu können, nicht aber beide zugleich. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Vater Vam Ufer eines tiefen Sees seine beiden im See schwimmenden Kinder ertrinken sieht und erkennt, dass es ihm nur gelingen wird, eines der beiden Kinder zu retten, während er das andere dann nicht mehr erreichen kann. Entscheidet er sich nun für die Rettung des einen Kindes und das andere Kind ertrinkt, stellt sich die Frage seiner Strafbarkeit wegen eines Unterlassungsdelikts gem. §§ 212, 13 StGB. Denn zumindest auf den ersten Blick hatte V ja die Möglichkeit, dieses andere Kind zu retten (und dann allerdings das erste Kind ertrinken zu lassen). 32 Zu anderen Konstellationen näher Joerden (Fn. 3), S. 71 ff m. w. N.; vgl. zum Vergleich mit dem japanischen Recht K. Yamanaka (Fn. 21), „Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision“, S. 105 ff.

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Bekanntlich gibt es im Strafrecht eine Debatte33 dazu, auf welcher Ebene des sog. Verbrechensaufbaus diese Problematik zu diskutieren ist. Unstreitig ist nur, dass eine Strafbarkeit des Vaters nicht in Betracht kommt. Die wohl h.M. sieht in einem solchen Fall die Notwendigkeit, einen speziellen Rechtfertigungsgrund anzunehmen, der als „rechtfertigende Pflichtenkollision“ bezeichnet wird. Danach ist der Vater V dann strafrechtlich nicht zur Verantwortung zu ziehen, wenn er von zwei gleichwertigen Handlungspflichten jedenfalls die eine der beiden erfüllt. Zu begründen ist dies letztlich mit der These, dass das Recht nicht mehr von einer Person verlangen darf, als diese auch zu leisten in der Lage ist: ultra posse nemo obligatur.34 Wie schon dargelegt, ist diese Regel allerdings letztlich keine Bewertungsregel, die erst über die Frage der Rechtswidrigkeit einer Handlung (oder hier: Unterlassung) entscheidet, sondern eine Zurechnungsregel, die danach fragt, mit welchen eingetretenen Erfolgen im strafrechtlichen Sinne ein Mensch überhaupt in verantwortungsrelevante Verbindung gebracht werden kann. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn der Vater sich (frei35) dazu entscheidet, weder das eine noch das andere Kind zu retten. Nimmt man hier die oben wiedergegebene Formulierung der h. M. beim Wort, wonach eine Rechtfertigung in einer Pflichtenkollisionslage nur dann möglich sei, wenn der Pflichtadressat jedenfalls eine der beiden Pflichten erfüllt, dann wäre der Vater wegen zweier idealkonkurrierender Delikte aus §§ 212, 13 StGB zu bestrafen. Und dies, obwohl er doch von vornherein überhaupt nur in der Lage war, eines der beiden Kinder zu retten. In einem solchen Beurteilungsergebnis läge indes ein Verstoß gegen den Satz ultra posse nemo obligatur. Auf die zutreffende Beurteilung dieser Fallvariante kommt man erst dann, wenn man den Satz ultra posse nemo obligatur als Zurechnungsregel versteht. Dann wird nämlich klar, dass dem Pflichtadressaten V in der hier geschilderten Konstellation von vornherein – unabhängig davon, für welches Verhalten sich V entscheidet – allenfalls die Unterlassung der Rettung eines Menschen zugerechnet werden kann, und zwar dann, wenn er beide Kinder nicht rettet. Denn mehr als die Rettung eines Kindes stand von vornherein nicht in seiner Macht. Rettet er dagegen das eine Kind (K1), ist ihm wegen des Satzes ultra posse nemo obligatur die Nichtrettung des anderen Kindes (K2) nicht als (Tötung durch) Unterlassung zurechenbar. Der Satz ultra posse nemo obligatur beschränkt daher schon „vorab“ die Entstehung von zwei Pflichten

33 Vgl. etwa Lackner/Kühl (Fn. 31), § 34, Rn. 15; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., München 2014, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 71 ff., jeweils m. w. N. 34 K. Yamanaka (Fn. 32) nennt auch aus der japanischen Lehre eine Ansicht, die sich bei der „Pflichtenkollision“ auf den Satz „impossibilium nulla obligatio est“ stützt, vgl. a. a. O., S. 119. 35 Von einer freien Entscheidung des Vaters ist allerdings insbesondere dann nicht mehr auszugehen, wenn er durch die tragische Situation der „Wahlmöglichkeit“ so paralysiert ist, dass er entscheidungsunfähig ist.

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in dieser Situation auf eine Pflicht „entweder das Kind K1 oder das Kind K2“ zu retten und rechtfertigt nicht erst die Pflichtverletzung.36 Dass hier nur die Erfüllung einer der beiden Pflichten (entweder die der einen oder die der anderen) vom Pflichtadressaten verlangt werden kann, korrespondiert wiederum der Zurechnungsebene (Handlungs- bzw. Unterlassungszurechnung), die vor einer jeden Feststellung einer Pflichtverletzung immer vorausgesetzt werden muss, da die Zurechnung ja erst den Gegenstand feststellt, den es ggf. anhand von Bewertungsregeln zu kritisieren gilt. Da in Fällen wie diesen letztlich nur eine Unterlassung überhaupt zugerechnet werden kann – und zwar dann, wenn der Pflichtadressat beide Kinder nicht rettet –, kann auch allenfalls eine dieser Unterlassungen als pflichtwidrig (bzw. rechtswidrig) kritisiert werden. Wieder bestätigt sich diese These, wenn man auf einen korrespondierenden Fall mit supererogatorischem Verhalten Bezug nimmt. Supererogatorisches Unterlassen ist insbesondere dann gegeben, wenn eine Person (aus uneigennützigen Motiven) auf die Durchsetzung eines (z. B. zivilrechtlichen) Anspruchs verzichtet. Angenommen, der A hat einen durchsetzbaren Anspruch gegen den B auf Zahlung von 10.000 Euro, verzichtet aber auf dessen Durchsetzung, weil er den bereits knapp über dem Existenzminimum lebenden Familienvater nicht in den finanziellen Ruin treiben will, so ist dieser Verzicht ein Unterlassen37, das supererogatorisch und grundsätzlich auch lobenswert ist. In diesem Zusammenhang sind indes Fälle denkbar, in denen P einen Anspruch auf 10.000 Euro gegen zwei verschiedene Schuldner durchsetzen könnte, aber (aus rechtlichen Gründen) nur entweder gegen den einen oder den anderen. So etwa dann, wenn die beiden Schuldner Gesamthandsschuldner des P sind und demnach zwar jeder für sich (im Außenverhältnis zu P) von P auf die volle Summe in Anspruch genommen werden kann, aber P gleichwohl den Betrag von 10.000 Euro insgesamt nur einmal verlangen darf (entweder von S1 oder von S2). Wenn P hier auf die Geltendmachung der Forderung verzichtet, weil er weder S1 noch S2 ins finanzielle Unglück stürzen will, so käme auch niemand auf die Idee, ihn zweimal, d. h. für den Verzicht auf 20.000 Euro, zu loben, da er ja gar nicht auf die Ansprüche gegen zwei Schuldner verzichten kann, weil der Anspruch in Höhe von 10.000 Euro nur gegenüber maximal einem der Schuldner durchsetzbar ist. Ihm kann – korrespondierend zu den „Pflichtenkollisionsfällen“ – wieder nur ein Unterlassen (= Verzicht auf die Durch-

36 Vgl. Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, Berlin 1986, S. 85 ff.; ders., „Der Widerstreit zweier Gründe der Verbindlichkeit“, JRE 5 (1997), S. 43 ff; ähnlich etwa auch Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, Köln 1992, S. 281 ff.; Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, Heidelberg 2006, S. 30. 37 Hier zeigt sich im Übrigen einmal mehr, dass der Unterlassungsbegriff keine Handlungspflicht voraussetzt, sondern davon unabhängig ist – jedenfalls dann, wenn man den Blick über das Strafrecht hinaus erweitert.

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setzung der Forderung in Höhe von 10.000 Euro) zum Verdienst zugerechnet werden.38 6. Zurechnung bei Verantwortlichkeit für einen Zurechnungsmangel In manchen Fallgestaltungen ist der handelnden Person zwar ihr Verhalten nicht zurechenbar, aber der Grund für die mangelnde Zurechenbarkeit liegt in ihrem eigenen Verhalten. Hier ist zu erwägen, inwieweit Ausnahmen von dem Satz ultra posse nemo obligatur dann angemessen sind, wenn die betreffende Person für ihre Unfähigkeit, also dafür, dass etwas jenseits ihres Könnens (ultra posse) liegt, selbst verantwortlich ist. Im Strafrecht werden solche Fragen üblicherweise unter dem Stichwort actio libera in causa diskutiert; allerdings ist die Thematik dieser Fragestellung weiter, als man dies mit der Konzentration auf die unglückliche Gesetzesfassung des § 20 StGB vermuten würde. Bereits in einer Nachschrift von Kants Vorlesung über Moralphilosophie kommt der erheblich weitere Anwendungsbereich der Fragestellung zum Ausdruck, wenn es dort unter expliziter Bezugnahme auf den Satz ultra posse nemo obligatur heißt:39 „Die consectaria facti libera sive moralia, so nämlich aus der Freiheit des Handelnden entspringen, sind allein imputabel, das oppositum sind alle eventus inevitabiles, und in delictis die delicta fortunae, von denen man nicht die Ursache ist oder sie nicht einsieht, oder die man nicht in seiner Gewalt hat: nämlich 1) sie gehen über die Kräfte eines Menschen, oder 2) der Mensch hat sie nicht vorhersehen können, oder 3) sie doch nicht hindern können, 4) oder es war ihm moralisch nicht erlaubt, oder er nicht befugt, sie zu hindern; von allen diesen Umständen gilt die Regel: ultra posse nemo obligatur, und sie sind nicht imputabel. Jedoch ist diese Impotenz zu handeln oder eine Handlung zu unterlassen, die hier als absolut angenommen wird, nur dann nicht imputabel, insofern der Handelnde nicht causa libera dieser Impotenz ist, oder sie nur durch eine Bedingung entstand, die in ihm lag. Causa causati est causa causae. Mit der Vorsicht hätte er z. B. den Erfolg einsehen können, – die nächste Ursache war zwar zufällig, aber die entfernte lag in ihm.“

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Dass die Formel bei supererogatorischem Verhalten nicht mehr „ultra posse nemo obligatur“ heißen kann, liegt auf der Hand, ist aber nur ein weiteres Zeichen dafür, dass unsere Zurechnungssprache sehr einseitig auf das Strafrecht zugeschnitten ist. Vgl. dazu auch schon oben Abschnitt 1. 39 Immanuel Kant: Vorlesung über Moralphilosophie, Nachschrift des Vigilantius, Akademie-Ausgabe, Bd. 27, 2, 1, 563. – Dass in der hier zitierten Passage die bekannte Formel zur Transitivität der Kausalrelation – näher Joerden (Fn. 3), S. 255 ff. – „causa causae est etiam causa causati“ in einer abgekürzten und merkwürdig umgekehrten Fassung verwendet wird („Causa causati est causa causae“), sollte man in der Übersetzung wie folgt lesen, damit ihr ursprünglicher Sinn erhalten bleibt: „Eine Ursache des Verursachten ist auch die Ursache der Ursache.“

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Der Text macht deutlich, dass es Fälle gibt, in denen einer Person ihr Verhalten zugerechnet werden kann, obwohl sie im Moment ihres Handelns unfähig ist, die Folgen ihres Handelns zu vermeiden, weil sie verantwortlich für diese Unfähigkeit ist. Kant nennt in Bezug auf die Moral die Fälle, in denen jemand nicht (1) „die Kräfte“ hat (strafrechtlich: keine Handlungsalternative hat; vgl. ob. Abschnitt II. 1.), (2) er „sie nicht hat vorhersehen können“ (strafrechtlich: fehlende objektive Zurechnung bzw. fehlendes Tatbewusstsein; vgl. ob. Abschnitt II. 2. und 3.), (3) er „sie doch nicht [hat] hindern können“ (strafrechtlich: wie vorstehend (1)) oder (4) „es ihm moralisch nicht erlaubt, oder er nicht befugt [war], sie zu hindern.“40 Für alle diese Fallkonstellationen wendet Kant die Regel ultra posse nemo obligator an, stellt diese Anwendung aber unter den Vorbehalt, dass die betreffende Person nicht ihrerseits freie Ursache („causa libera“) ihrer Unfähigkeit („Impotenz“) ist. Ist letzteres der Fall, kann ihr Verhalten trotz der aktuellen Unfähigkeit zugerechnet werden; es geht in diesem Sinne eben nicht über ihr Können hinaus. Allerdings ist dies eine gegenüber der („normalen“) ordentlichen Zurechnung andere Form der Zurechnung, die deshalb als außerordentliche bezeichnet wird.41 Im strafrechtlichen Kontext gehören hierher die Fälle, in denen jemand für die Voraussetzungen eines Entschuldigungstatbestandes selbst verantwortlich ist (vgl. insbes. „Verursachung“42 einer Notstandslage i. S. d. § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB; Vermeidbarkeit des fehlenden Unrechtsbewusstseins, § 17 Satz 2 StGB; Selbstverschuldung der Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB43), aber auch die Fälle, in denen schon auf Tatbestandsebene eine ordentliche Zurechnung nicht möglich ist, der Betreffende aber für diesen Zurechnungsmangel selbst verantwortlich ist (etwa bei selbstverschuldeter Handlungsunfähigkeit, aber auch bei selbstverschuldet fehlendem Tatbewusstsein, also bei Fahrläs40

Dieser 4. Fall ist für die hiesige Argumentation nicht von besonderem Interesse, weil es kaum ein Beispiel dafür geben kann, in dem jemand selbst dafür verantwortlich ist, dass sein Verhalten moralisch nicht erlaubt, oder er nicht zu diesem Verhalten befugt ist, sie [die Folgen] zu hindern. Gleichwohl gilt hier natürlich ultra posse nemo obligatur, allerdings sind wohl kaum Ausnahmefälle außerordentlicher Zurechnung denkbar. 41 Grundlegend Hruschka mit Hinweisen zur Entwicklungsgeschichte: „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf – Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa“, ZStW 96 (1984), S. 661 ff.; ders., „Imputation“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung: Rechtsvergleichende Perspektiven – Justification and Excuse: Comparative Perspectives, Bd. I, 1987, S. 121 ff.; zusammenfassend Joerden (Fn. 3), S. 264 ff. 42 Um dem Schuldprinzip im Strafrecht Genüge zu tun, wird die entsprechende Formulierung des Gesetzes („verursacht“) bekanntlich als „verschuldet“ verstanden; vgl. etwa Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 33), Rn. 20 m. w. N. auch zu anderen Vorschlägen für eine Präzisierung des „Verursachungsbegriffs“ in dieser Vorschrift. 43 Bei § 20 StGB fehlt allerdings die erforderliche gesetzliche Ausnahmeregelung, was insbesondere von der Rechtsprechung bekanntlich durch die sog. Vorverlegungstheorie versucht wird zu überspielen. Eine interessante Modifikation dieser Theorie, die sich auf unterschiedliche Gefährdungsgrade im Laufe des Verlustes der Zurechnungsfähigkeit des Täters bezieht, schlägt K. Yamanaka (Fn. 21), „Strafrechtliche Erfassung in rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten“, S. 130 ff, 142 ff., vor.

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sigkeit). Inwieweit es dabei sinnvoll ist, in Konstellationen außerordentlicher Zurechnung eine Strafmilderung im Verhältnis zur ordentlichen Zurechnung vorzusehen, dürfte insbesondere vom Grund und vom Ausmaß der Verantwortlichkeit für den Zurechnungsmangel abhängen. Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist, dass sich grundsätzlich niemand erfolgreich auf den Satz ultra posse nemo obligatur berufen kann, wenn er selbst dafür verantwortlich ist, dass das in Rede stehende Verhalten über sein Können hinausgeht.44 Ganz ähnlich verhält es sich nun auch bei den Fällen, in denen jemand schuldhaft die Lage einer „Pflichtenkollision“ herbeiführt, zumindest dann, wenn man die Regel bei „alternativer Pflichtenstellung“, wie die „Pflichtenkollision“ besser heißen sollte,45 als Zurechnungsregel interpretiert (vgl. oben Abschnitt 5.). Wer etwa durch Unachtsamkeit bewirkt, dass zwei seiner Kinder K1 und K2 ins Wasser fallen und nunmehr von ihnen aus tatsächlichen Gründen nur noch eines (K1 oder K2) retten kann, hat seine „Pflichtenkollisionslage“ selbst verschuldet. Deshalb kann ihm sein Verhalten in dieser Notsituation auch (außerordentlich) zugerechnet werden, und er kann sich in der Lage, in die er sich schuldhaft gebracht hat, nicht (mehr) auf den Satz ultra posse nemo obligatur berufen. Wenn er in dieser Situation beide Kinder nicht rettet (aus welchen Gründen auch immer), haftet er insoweit für zwei Tötungen durch Unterlassen.46 Aber auch dann, wenn er eines der beiden Kinder rettet, kann man ihn strafrechtlich trotz der „Pflichtenkollisionslage“ für die (fahrlässige) Tötung durch Unterlassen eines der beiden Kinder im Wege außerordentlicher Zurechnung haftbar machen, weil er seine Unfähigkeit, beide Kinder zu retten, selbst zu verantworten hat. Anders formuliert: Eine selbstverschuldete „Pflichtenkollisionslage“ entlastet den Pflichtenadressaten nicht. Überträgt man die Problematik der „Verantwortlichkeit für einen Zurechnungsdefekt“ auf den Kontext des ggf. lobenswerten supererogatorischen Verhaltens, so lassen sich parallele Strukturen erkennen wie im strafrechtlichen Zusammenhang. So kann man dann, wenn jemand in relevanter Hinsicht bei seinem Handeln nicht weiß, was er tut, dies aber hätte wissen können, ein außerordentlich zurechenbares (fahrlässiges) supererogatorisches Verhalten annehmen, wie im folgenden Beispiel: A ist ziemlich leichtsinnig in eigenen finanziellen Angelegenheiten und merkt nicht, dass er einer wohltätigen Organisation statt 10 Euro, wie geplant, 100 Euro zukom44 In § 162 BGB ist dieser Gedanke wie folgt formuliert: „§ 162 BGB. (Unzulässige Einwirkung auf die Bedingung) (1) … (2) Wird der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Vorteil er gereicht, wider Treu und Glauben herbeigeführt, so gilt der Eintritt als nicht erfolgt.“ 45 Joerden (Fn. 3), S. 71 ff. 46 Hätte er die Lage nicht selbst verschuldet, würde er nur wegen einer (vorsätzlichen) Tötung durch Unterlassen bestraft werden können (vgl. oben Abschnitt 5.): ultra posse nemo obligatur. – Entscheidet er sich indes, wenn er an der Kollisionslage (fahrlässig) schuld ist, gegen die Rettung beider Kinder, so haftet er (vorbehaltlich des Eingreifens von Konkurrenzregeln) neben zwei (fahrlässigen) Tötungen durch Begehen für eine ordentlich zurechenbare (vorsätzliche) und eine außerordentlich zurechenbare Tötung durch Unterlassen.

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men lässt. Hinsichtlich der 10 Euro ist sein Verhalten supererogatorisch und lobenswert; aber auch die Zuwendung der „überschießenden“ 90 Euro kann man ihm lobend zurechnen, wenn auch möglicherweise nicht so stark wie die vorsätzlich gespendeten 10 Euro. Dies deshalb, weil die Selbstschädigungskomponente seines supererogatorischen Verhaltens zwar unfrei bewirkt war (kein Vorsatz), er aber selbst dafür verantwortlich war, dass er bei diesem selbstschädigenden Verhalten nicht das erforderliche „Tatbewusstsein“ hatte. Ähnliches gilt auf der Ebene der Zurechnung von Verdienst (der Parallele zur Schuldzurechnung im Strafrecht). Wer sich selbst in einer Lage befindet, in der ihn ein anderer zur Vornahme einer supererogatorischen Handlung (z. B. Geldspende) zwingt, dem wird wegen dieser Nötigungsnotstandslage sein Verhalten kaum zum Verdienst zuzurechnen sein. Hat er sich indes selbst „sehenden Auges“ in diese Nötigungsnotstandslage gebracht, dürfte es plausibel sein, ihn für sein Verhalten insgesamt zu loben, weil er selbst dafür verantwortlich war, dass er sich in diesem Zurechnungsdefekt befand. Auch wer sich selbst bis zum Zustand der Zurechnungsunfähigkeit betrinkt und dann einen nennenswerten Betrag spendet, ist an sich wegen seiner Zurechnungsunfähigkeit nicht für diese Handlung zu loben, es sei denn, er hat sich gerade deshalb betrunken, weil er – wie er weiß – dann besonders spendabel ist. Schließlich wird derjenigen, der glaubt, zu einer Geldzahlung an eine wohltätige Organisation verpflichtet zu sein (Gebotsirrtum) kaum Lob für seine Spende verdienen. Beruhte diese Annahme seiner Verpflichtung indes auf einem besonders ausgeprägten, aber vermeidbaren Pflichtbewusstsein, könnte man erwägen, ihn trotz der irrigen Annahme, zu der Geldspende verpflichtet zu sein, zu loben.

III. Fazit Die voranstehenden Überlegungen zur Rolle des Satzes ultra posse nemo obligatur bei lobender und tadelnder Zurechnung lassen sich in folgenden Thesen zusammenfassen. 1. Der Satz ultra posse nemo obligatur ist primär eine Zurechnungsregel und hat nur indirekt Auswirkungen auf die Bewertung des betreffenden Verhaltens. 2. Die Rolle des Satzes ultra posse nemo obligatur besteht darin, Grenzen der intrapersonellen Freiheit, die für eine erfolgreiche Zurechnung erforderlich ist, aufzuzeigen. 3. Der Satz ultra posse nemo obligatur findet auf der Ebene der Schuld eine entsprechende Anwendung, wenn es auch dort um die Grenzen der zurechnungsrelevanten intrapersonellen Freiheit geht. 4. Auch im Bereich der sog. Pflichtenkollision (genauer: alternative Pflichtenstellung) fungiert der Satz ultra posse nemo obligatur als Zurechnungsregel.

Zu Gegenstand und Aufgabe der Strafrechtswissenschaft Urs Kindhäuser

I. Theorie und Praxis 1. Die Strafrechtswissenschaft1 ist eine praktische Wissenschaft. Ihr Gegenstand, das Strafrecht, wird formal durch seine spezifische Sanktion definiert: Strafrecht bezeichnet den Teil der Rechtsordnung, der die Voraussetzungen und Folgen der mit einer Strafe bedrohten Verhaltensweisen regelt. Als wissenschaftliche Disziplin formuliert die Strafrechtswissenschaft dementsprechend die Bedingungen, unter denen sich methodisch erarbeitetes, systematisch geordnetes, objektiv gesichertes, lehrund lernbares rationales Wissen vom Strafrecht erlangen lässt. Zudem will sie das Strafrecht kritisch prüfen; sie hat dafür Sorge zu tragen, dass das Recht den Menschen und ihren Interessen dient.2 Ihrem Selbstverständnis nach ist die Strafrechtswissenschaft damit eine zugleich dem geltenden Recht verpflichtete wie auch kritische wissenschaftliche Disziplin. Um diese gegenläufigen Tendenzen ausbalancieren zu können, bedarf sie eines hierzu geeigneten methodischen und begrifflichen Instrumentariums. Die praktische Aufgabe der Strafrechtswissenschaft ergibt sich in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite wird der zu erfassende Rechtsstoff im Wege eines institutionalisierten Verfahrens – insbesondere durch die Gesetzgebung – vorgegeben. Auf der anderen Seite soll der Rechtsstoff nach seiner wissenschaftlichen Aufbereitung der legislativen Zielsetzung entsprechend durch die Rechtsprechung rational anwendbar sein. Insoweit befasst sich die Strafrechtswissenschaft nicht nur mit dem Inhalt der einschlägigen Normen und Institutionen, sondern auch mit dem sozialen 1 Die Strafrechtswissenschaft, wie sie im Folgenden dargestellt wird, beruht auf einer Verbindung von Philosophie und Recht, die der Herkunft nach typisch für die kontinentaleuropäische Rechtsfamilie des Civil Law – in Abgrenzung zum Common Law – ist und eine besonders starke Ausprägung im deutschen Recht erfahren hat. Fletcher, in: Eser/Hassemer/ Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 236 f., ordnet diesem Kernbereich auch die wissenschaftliche Befassung mit dem Strafrecht zu, wie sie in den romanischen Ländern Spanien, Portugal und Italien sowie in Lateinamerika betrieben wird. Um dieses Zentrum zieht Fletcher einen zweiten Kreis, in den er Japan, Korea, Griechenland, Finnland, Polen und die Türkei legt. Der zweite Kreis dürfte allerdings größer sein und jedenfalls auch Georgien, Taiwan und (der Tendenz nach auch) China umfassen. 2 v. Liszt, Aufsätze und kleinere Monographien, Bd. 1, hrsg. von Rüping, 1999, S. 214 f., 223.

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Prozess ihrer Genese, Implementation und Anwendung. Sie vermittelt Verbindungen und Rückkoppelungen zwischen den staatlichen Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative und trägt zur Fortbildung des Rechts wie auch zu Verbesserungen und Korrekturen de lege ferenda bei. Der vorgegeben enge Rahmen, in dem sich die Strafrechtswissenschaft zwischen parlamentarisch organisierter Kriminalpolitik einerseits und Rechtsprechung andererseits bewegt, besagt allerdings wenig über ihre Nützlichkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Gestaltungskraft bei der Bewältigung ihrer Aufgaben. Die Strafrechtswissenschaft kann durchaus auch auf engem Raum ein erhebliches Leistungspotenzial aufweisen, und zwar durch Einlösung des von ihr zu erhebenden Anspruchs, ihre Ergebnisse unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden zu erzielen. Wissenschaftlichkeit vermag zum einen institutionelle Schwäche zu kompensieren und zum anderen Existenzberechtigung und Eigenständigkeit zu begründen. Wissenschaftlichkeit ist positiv besetzt, hebt die eigene Stellungnahme von spontanen, singulären und beliebigen Äußerungen ab und erlaubt zugleich Kritik, namentlich die ablehnende Stellungnahme: konkurrierende Behauptungen seien nicht wissenschaftlich und damit entweder nicht gesichert, inadäquat oder gar unlogisch. Insoweit bedarf es der Klärung, welches – in einem Kantischen Sinne – die Bedingungen der Möglichkeit sind, unter denen die Strafrechtswissenschaft gerade in ihrer Eigenschaft als wissenschaftliche Disziplin mit Rechtsprechung und Gesetzgebung wechselseitig vorteilhaft zusammenleben kann. 2. Wie die theologische und die medizinische Fakultät gehörte die juristische Fakultät zu den drei alten Fakultäten, die für die Praxis und deren Verbesserung auszubilden hatten. Daher versteht sich die Wissenschaft vom Strafrecht traditionell als eine praktische Disziplin, die nicht nur die Voraussetzungen der methodisch überprüfbaren Anwendung rechtlicher Regelungen zum Gegenstand hat, sondern auch zur Begrenzung und Kontrolle legislativer Entscheidungen befähigt und berufen ist. Die Strafrechtswissenschaft will nicht, wovor bereits Feuerbach3 gewarnt hat, einsiedlerisch in einer von ihr selbstgeschaffenen Welt leben. Sie will dem Gesetzgeber als Kontrollinstanz gegenübertreten.4 Als Maßstab können der Strafrechtswissenschaft hierzu zum einen verfassungsrechtliche Grundsätze dienen, zum anderen sozialethische Prinzipien, auf denen als Fundament die Institution des staatlichen Strafrechts beruht. Die Strafrechtswissenschaft tritt dann als Verwalterin des Rechts auf, welche die Rechtsidee vor einer Deformation durch den Gesetzgeber bewahrt

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Feuerbach, Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft (1810), in: Roellecke (Hrsg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?,1988, S. 25 ff. 4 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 331 f.; Bloy, in: Fritz Loos/Martin Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 33 ff.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19, 40 ff.; Neumann, Wahrheit im Recht, 2004, S. 48 ff.; Pöcker Rechtstheorie 37 (2006), S. 155 f.

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und so die rechtsunterworfenen Bürger vor Willkür und inadäquatem Strafen schützt.5 Ferner kann die Strafrechtswissenschaft kritisch überprüfen, ob legislative Entscheidungen mit den empirischen Gegebenheiten soziologischer, psychologischer und biologischer Natur zu vereinbaren sind.6 Allerdings fehlen der Strafrechtswissenschaft die wissenschaftlichen Instrumentarien, um empirische Befunde feststellen und bewerten zu können. Sie hat insoweit nur die Möglichkeit, die Ergebnisse der empirischen Nachbarwissenschaften aufzugreifen und auf diese zu verweisen. Dies gilt im Übrigen auch für empirische Behauptungen, die sie auf ihrem eigenen Gebiet aufstellt, etwa hinsichtlich der biologischen und psychologischen Voraussetzungen strafrechtlicher Schuldunfähigkeit. Wenn diese nicht wissenschaftlich ungesichert erfolgen sollen, müssen sie durch die empirischen Wissenschaften hinreichend bestätigt sein. 3. Die gesamte Praxis des Strafrechts ist rechtsethischen Grundwerten verpflichtet und steht unter dem Postulat der Gerechtigkeit, die zur Anschauung und Geltung zu bringen ist. Insoweit muss die Strafrechtswissenschaft auch zur Legitimation der staatlichen Institution einer Übelszufügung in Form von Kriminalstrafe beitragen. Wie die Rechtswissenschaft insgesamt, so lässt sich auch die Strafrechtswissenschaft als ihr Teilgebiet nicht auf eine Sozialtechnologie reduzieren, sondern erhebt den Anspruch, als „Gerechtigkeitswissenschaft“ dem Menschen zu dienen. Sie muss eine Antwort darauf geben, welches Strafrecht in der jeweiligen Zeit legitimes Strafrecht ist, und damit prüfen, ob das jeweils geltende Strafrecht mit der normativen Struktur der Gesellschaft übereinstimmt. Um dies leisten zu können, muss die Strafrechtswissenschaft das normative Selbstverständnis der Zeit analysieren und die leitenden Prinzipien der strafrechtlichen Normen und Zurechnungsregeln auf den sie legitimierenden Grund zurückführen. 4. Die Strafrechtswissenschaft muss sich – auch wegen ihres Praxisbezugs – der Frage stellen, worin der genuin wissenschaftliche Gehalt ihrer Beiträge zur Kriminalpolitik und zur Rechtsanwendung bestehe. Denn die bloße Aufbereitung der rechtlichen Grundlagen für praktische Entscheidungen ist als solche ebenso wenig eine wissenschaftliche Tätigkeit wie die Anwendung technischer Regeln durch einen Handwerker.7 Auch die Formulierung kriminalpolitischer Forderungen und kritischer Stellungnahmen gegenüber dem Gesetzgeber haben zunächst noch keinen

5 Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 2007, S. 353; Engisch, in: Roellecke (Hrsg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, 1988, S. 271; Frisch, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 167, 174. 6 So die grundlegende Forderung von v. Liszt (Fn 2), S. 294 f.; ferner Hassemer, in: Eser/ Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 37 ff.; Hilgendorf Jahrbuch für Recht und Ethik 11, 2003, 98; Kuhlen, in: Wolter/ Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 83 f. 7 v. Hippel, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964, S. 14 f.; Hruschka JZ 1985, 9.

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wissenschaftlichen Charakter.8 Auslegung und Kritik des geltenden Rechts sowie die Kontrolle seiner Anwendung müssen somit in einer spezifischen Art und Weise erfolgen, die dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügt. Eine Mindestvoraussetzung hierfür ist, dass die Strafrechtswissenschaft verallgemeinerungsfähige Aussagen zu erarbeiten vermag, und zwar nicht nur wegen ihres Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit, sondern auch mit Blick auf die praktische Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse.9 Von ihrer Aufgabenstellung und ihrem Selbstverständnis her ist die Strafrechtswissenschaft jedoch keine homogene wissenschaftliche Disziplin. Sie umfasst vielmehr methodisch und erkenntnistheoretisch höchst unterschiedliche Teilbereiche, die jeweils spezifischen wissenschaftlichen Kriterien gerecht werden müssen, auch wenn sie in der Sache häufig ineinander übergehen und in die Bildung komplexer Theorien münden. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sind zumindest vier solcher Teilbereiche für die Strafrechtswissenschaft konstitutiv: 1. Dogmatik: An erster Stelle steht die Strafrechtswissenschaft im engeren Sinne, die sog. Strafrechtsdogmatik. Sie formuliert und begründet die Bedingungen, unter denen das jeweils geltende Strafrecht den anerkannten Paradigmen entsprechend anzuwenden ist (hierzu unten III.). 2. Rechtstheorie: Um widerspruchsfrei, logisch korrekt und begrifflich exakt arbeiten zu können, muss die strafrechtliche Dogmatik die Ergebnisse der allgemeinen Wissenschaftstheorie und der spezifischen Rechtstheorie beherrschen und beachten. Insoweit gehört zur Strafrechtswissenschaft auch eine rechtstheoretische Metadogmatik des Strafrechts im Sinne einer logisch-analytischen Grundlagenforschung. Ihr Ziel ist insbesondere eine Strukturtheorie des Strafrechts, die das Zusammenspiel der das Strafrecht konstituierenden Regeltypen analysiert (hierzu unten IV.). 3. Empirie: Die Anwendung rechtlicher Regeln erfordert das zutreffende Erfassen der natürlichen und gesellschaftlichen Tatsachen, an die das Recht als Sollensordnung anknüpft und die es für bewahrens- oder veränderungswürdig hält. Dieser Bereich kann als empirische Rechtstatsachenforschung bezeichnet werden (hierzu unten V.). 4. Philosophie: Schließlich gehört zur Strafrechtswissenschaft die materielle Grundlagenforschung, die sich mit den Paradigmen und Grundbegriffen auseinandersetzt, an denen die Theorien der Rechtsanwendung auszurichten sind. Zur materiellen Grundlagenforschung zählen insbesondere die inhaltliche Bestimmung der Konzepte von Schuld und Strafe (hierzu unten VI.).

8 Merkel, Grünhuts Zeitschrift für das Private und Öffentliche Recht der Gegenwart, 1874, 405 f. 9 Erb ZStW 113 (2001), 1 ff.

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Jeder dieser vier genannten Bereiche besitzt eine ihm eigene Stringenz. Und folglich bindet jeder dieser Bereiche kraft seiner genuinen Wissenschaftlichkeit in unterschiedlichem Maße den Gesetzgeber einerseits und die Rechtsprechung andererseits.

II. Historischer Abriss 1. Zur Wissenschaft vom Strafrecht gehört die Analyse des normativen Selbstverständnisses einer Zeit, die Rückführung des Zusammenhangs der Rechtsinstitutionen auf den sie legitimierenden Grund. Denn dieser Grund steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers, sofern die Gesetze auch in ihrer Zeit wirkungsmächtig werden sollen. Die Wissenschaft verbindet das Recht mit dem Geist ihrer Zeit und ordnet und deutet es aus diesem Geist. Dementsprechend kann das Recht je nach Zeit höchst unterschiedliche Legitimations- und Ordnungsgründe haben. Die Strafrechtswissenschaft ist in einen spezifischen Überlieferungszusammenhang eingebunden, in dem sich ihre Aufgaben und Methoden herausgebildet haben. Nach ihrem heutigen Selbstverständnis sieht sich die Strafrechtswissenschaft als eine rationale Wissenschaft, die einer säkularen und liberalen Staatstheorie verpflichtet ist. Die Wurzeln dieses Denkens gehen auf eine Zeit zurück, in der sich das auf Gott bezogene Weltbild der mittelalterlichen Ordnung auflöste und das Recht sein theologisch begründetes Fundament verlor.10 In Anpassung an die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft mussten die wissenschaftlichen Plausibilitätsstandards der Zeit in das Recht integriert werden. Das Recht im Allgemeinen und das Strafrecht im Besonderen fanden als Boden, auf dem sich ihre Prinzipien und Regeln hinreichend rational legitimeren ließen, die zunehmend weltlich orientierte und durch Vernunft geprägte Natur des Menschen.11 Wie freilich die Natur des Menschen zu verstehen ist und welche Konsequenzen aus diesem Verständnis für die Begründung des Staates und der staatlichen Strafe zu ziehen sind, beantworteten die Vertreter der Naturrechtslehre durchaus unterschiedlich.12 John Locke geht noch von einem Schöpfergott aus und kann damit den Naturzustand als normativ durchwirkte Schöpfung deuten.13 In diesem so verstandenen Naturzustand existieren zur Durchsetzung der Rechte erster Ordnung auch Rechte 10 Hierzu Neiman, Evil in Modern Thought, 2002, S. 3 ff., 36 ff.; Oehler, Wurzel, Wandel und Wert der strafrechtlichen Legalordnung, 1950, S. 44 ff., S. 81 ff.; Winkler, Geschichte des Westens, 2009, S. 226 ff. 11 Nagler, Die Strafe, Bd. 1, 1918, S. 291; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 144; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 25 f. 12 Zum Zusammenhang der Begründung von Staat und Strafe in dieser Zeit Hüning, in: Kesper-Biermann/Klippel (Hrsg.), Verbrechen und Strafen. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte von Kriminalität im Mittelalter und der frühen Neuzeit, 2007, S. 77 ff. 13 Locke, Über die Regierung, 1986, Kapitel II, Abschnitt 4, 5, S. 6 f., Kapitel IX, Abschnitt 123 ff., S. 95 ff.

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zweiter Ordnung, zu denen ein natürliches Strafrecht zählt, mit dessen Hilfe sich Menschen davon abhalten, sich gegenseitig in ihren Rechten zu beeinträchtigen und einander Schaden zuzufügen.14 Da die Menschen die Rechte erster Ordnung behalten, die Rechte zweiter Ordnung aber an den Staat abtreten sollen, kommt dem staatlichen Strafrecht die Aufgabe zu, die Rechte und Sicherheit der Menschen zu gewährleisten. Insoweit lässt sich der Staat interpretieren als künstliche Veranstaltung zur Sicherung der natürlichen Gesetze.15 Bei Thomas Hobbes unterwerfen sich die als rationale Egoisten interpretierten Menschen dem staatlichen Souverän, um den Gefahren, die sich aus ihrem wesensmäßig friedlosen Naturzustand ergeben, zu entkommen.16 Bei dieser Sicht ist die Strafe ein Übel, das der Souverän zur Abschreckung und Herstellung von Gehorsam einsetzt, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern.17 Die Staatsgewalt umfasst alles, was der Friedenssicherung dient und kennt damit keine innere Begrenzung: Jeder Anlass zum Unfrieden – sei es durch anstößiges Verhalten, sei es durch politische oder religiöse Meinungsäußerungen oder sei es durch Verletzung der Rechte anderer – kann Gegenstand eines strafbaren Delikts sein. Für Pufendorf ist der Mensch ein auf Selbsterhaltung angelegtes Lebewesen, das die Gemeinschaft mit anderen sucht, um überall drohenden Gefahren zu begegnen.18 Aus der Notwendigkeit, in Gemeinschaft zu leben, folgt das Grundprinzip des Naturrechts, demzufolge jeder verpflichtet ist, die Gemeinschaft nach Kräften zu schützen und zu fördern.19 Nach diesem naturrechtlichen Verständnis ist die Förderung des Gemeinwohls der maßgebliche Grund für den staatlichen Zusammenschluss und die Unterstellung des Einzelnen unter einen Souverän. Von diesem Strafzweck wird auch die Aufgabe des Strafrechts abgeleitet: Die Strafe ist primär ein Instrument der Prävention zur Sicherung und Förderung des Allgemeinwohls.20 Zu dieser Aufgabe gehört auch die sittliche Erziehung der Bürger.21 Die Ausrichtung am gemeinen Wohl führt damit zu einer umfassenden Strafgewalt, die – wie bei Hobbes – keine innere Begrenzung kennt.

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Locke (Fn. 13), Kapitel II, Abschnitt 7, S. 7. Locke (Fn. 13), Kapitel VII, Abschnitt 88 f., S. 66 ff.; hierzu Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 206. 16 Hobbes, Leviathan, 1970, 17. Kapitel, S. 151 ff. 17 Hobbes (Fn. 16), 28. Kapitel, S. 238. 18 Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 1994, S. 47 f.; hierzu auch Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 24 f. 19 Pufendorf (Fn. 18), S. 47 f. 20 Frisch, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 179; Klippel, in: Lück (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum, 1998, S. 80 f.; Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 94. 21 Pufendorf (Fn. 18), S. 187 f.; hierzu auch Reulecke, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, 2007, S. 119. 15

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Pufendorfs Betonung der socialitas lieferte die gesellschaftstheoretische Grundlage für ein in den absolutistischen Wohlfahrtsstaat eingepasstes Verständnis der Aufgabe des Strafrechts. Die Wissenschaft vom Strafrecht hatte sich um die Interpretation und Systematisierung des Rechtsstoffs zu kümmern. Die dem Recht zugrundeliegende Vernunft war mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden aufzudecken und in eine systematische Ordnung zu bringen.22 In diese Richtung geht auch das Postulat Christian Wolffs, dass jeder Bürger im Staat verpflichtet sei, das Wohl und die Sicherheit des Gemeinwesens nach Maßgabe seines Standes und seines Vermögens zu unterstützen.23 Entscheidend und folgenreich war für die Strafrechtswissenschaft in dieser Epoche des Naturrechts die Anbindung des Strafrechts an die rechtsphilosophische Staats- und Gesellschaftstheorie. Das Strafrecht wurde hinsichtlich seines Inhalts wie auch seiner Legitimation zum Bestandteil einer rational zu entfaltenden Staatsphilosophie. Diese Einbindung des Strafrechts in die moderne Staats- und Rechtsphilosophie gab der Wissenschaft vom Strafrecht wegweisende Rationalitätsimpulse. 2. Die Einbindung der Strafrechtswissenschaft in die allgemeine Staats- und Rechtsphilosophie hatte ein Jahrhundert später zur Konsequenz, dass auch das Staatsverständnis der idealistischen Philosophie unmittelbar auf die Strafrechtswissenschaft durchschlug. Für Tittmann ist die Strafrechtswissenschaft eine „rein philosophische Wissenschaft“; sie hat nur das „Vernunftgesetz zur Quelle“, das positive Recht ist allein Gegenstand der „Strafgesetzkunde“.24 Dies führte von der Autorität des Althergebrachten und der tradierten Gerichtspraxis zu der von Kant inspirierten Frage Feuerbachs nach den Bedingungen der Möglichkeit und Grenzen des natürlichen Rechts in seiner Kritik des natürlichen Rechts (1796). Für das herkömmliche Strafrecht steht der Name Benedikt Carpzov (1595–1666), der in seinem von 1635 bis 1758 immer wieder neu aufgelegten Hauptwerk Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1635) die Rechtsprechung in Sachsen, das römische Recht, die italienische Jurisprudenz und die Constitutio Criminalis Carolina zusammenführte; auch Kirchenväter, die Bibel und kanonisches Recht finden sich bei ihm kompilatorisch aufgelistet. Die einzelnen Rechtsmeinungen wurden ausführlich dargestellt und nach den für und gegen sie sprechenden Argumenten gewichtet.

22 Braun (Fn. 15), S. 278 f.; Hofmann, in: FS für Roellecke, 1997, S. 119 f.; Schuhr, Rechtsdogmatik und Wissenschaft, 2006, S. 38 f.; Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 309 f. 23 Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, 4. Aufl.1736, Nachdruck Frankfurt/Main 1975, §§ 1, 213, 217 und passim. Sinngleich Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Einleitung § 73. Zur Verknüpfung von Rechtswissenshaft und System bei Wolff Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979, S. 82 ff. 24 Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der Strafgesetzkunde, 1. Theil, 1806, S. 5.

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In den staatlichen und gesellschaftlichen Umbruchphasen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gilt dieses tradierte Verständnis des Strafrechts und seiner Darstellung nunmehr als veraltet und in hohem Maße reformbedürftig. Mit großem Einfluss kämpfen Beccaria25 und Hommel26 für eine humane Kriminalpolitik. Auch für Feuerbach sind die Carolina und die Gesetzbücher des Absolutismus von einer unangemessenen Strenge geprägt, welche sich nicht selten bis zur Grausamkeit steigert. Die Deliktskataloge waren unsystematisch angelegt, vermengten leichte und schwere Kriminalität und wiesen nicht unerheblichen Lücken auf. Deshalb milderte die Rechtsprechung zu scharf empfundene Rechtsfolgen und schärfte als zu milde angesehene Strafen; ferner konstruierte sie sog. „delicta extraordinaria“, die als ungeschriebene Delikte strafwürdige, aber gesetzlich nicht erfasste Taten erfassen sollten.27 Dem setzten die Vertreter der idealistischen Philosophie ein von Grund auf anderes Konzept des Rechts und des Staates entgegen. Maßgebliche Autorität ist nicht mehr das Althergebrachte, sondern die alles in Frage stellende Vernunft. Ein Staat, wie er Kant vorschwebt, ist verpflichtet, die individuellen Handlungssphären seiner Bürger zu schützen und Rechtszwang nur zur Überwindung von Hindernissen der Freiheit einzusetzen.28 Die Beförderung von allgemeiner Wohlfahrt und sittlicher Vervollkommnung des Einzelnen sind keine rechtlichen Kategorien mehr.29 Sittliches Handeln ist vielmehr Gegenstand der Vernunftpflicht des Einzelnen, für deren Erfüllung der Staat nur die äußeren Bedingungen zu gewährleisten hat. In der Strafrechtswissenschaft führt diese Absage an den Sittlichkeitsstaat zu der Forderung Feuerbachs, dass der Staat mit dem Instrument des Strafrechts ausschließlich die wechselseitige Freiheit aller Bürger sichern dürfe.30 Die Strafe muss damit nicht nur als soziale Institution, sondern auch gegenüber dem Straftäter, in dessen Freiheit durch Bestrafung eingegriffen wird, als vernünftig legitimiert werden. Wie Pufendorf bestimmt auch Feuerbach Inhalt und Legitimation des Strafrechts mit Blick auf den Zweck der staatlichen Ordnung. Jedoch reduziert Feuerbach 25

Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766, übersetzt und hrsg. von Alff, 1998. 26 Hommel, Philosophische Gedanken über das Criminalrecht (1784), zitiert nach Rüping, Philosophische Gedanken über das Criminalrecht aus den Hommelischen Handschriften, 1998. 27 Näher hierzu Hruschka, in: FS Puppe, 2011, S. 18 f.; Schmidt (Fn. 11), S. 166 ff.; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft, 1930, S. 39 ff. 28 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Einleitung in die Rechtslehre §§ C ff., S. 229 ff., Rechtlehre §§ 43 ff., S. 311 ff.; näher Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 181 ff. 29 Beispielhaft Fichte, J.G., in: Fichte, I.H. (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd. 6, 1845 – 1846, S. 9; Humboldt, in: Leitzmann/Gebhardt (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1903, S. 177; hierzu auch Klippel (Fn. 20), S. 93 ff. 30 v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. 1 1799 (Nachdruck Aalen 1996), S. 39.

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den Staatszweck unter Berufung auf Kant auf den Schutz der äußeren Freiheit des Einzelnen und negiert die Berechtigung des Strafrechts, die sittliche Ordnung zu garantieren.31 Die sittliche Ordnung verwirklicht sich vielmehr von allein, wenn der Staat die erforderliche Freiheitssicherung durchsetzt. Mit Strafe geahndet werden darf grundsätzlich nur die Verletzung negativer Pflichten, also der verbotene Eingriff in die rechtlich garantierte Freiheit anderer. Die Strafbarkeit der Verletzung positiver Pflichten, die den Schutz oder die Verbesserung der Lage eines anderen zum Gegenstand haben, setzt dagegen zusätzlich voraus, dass die betreffende Pflicht auf einem besonderen Rechtsgrund beruht; moralische Verbindlichkeiten als solche genügen zur Begründung nicht.32 Beherrschend für die Strafrechtswissenschaft wurde jedoch für gut ein halbes Jahrhundert die Rechts- und Staatsphilosophie Hegels, allerdings bisweilen in durchaus eigenwilliger Interpretation. Für Hegel ist das Verbrechen als Negation des Rechts „in sich nichtig“ und wird durch die Strafe wiederum negiert. Durch eine solche Negation der Negation des Rechts wird das Recht wiederhergestellt, wobei die Strafe in ihrer Höhe dem Unwert des Verbrechens entsprechen muss.33 Hegel lässt präventive Gesichtspunkte zu, die in das Strafmaß nach Maßgabe der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft einfließen können.34 Dieser präventive Gedanke wird insbesondere von Köstlin aufgegriffen, der die Strafe nicht nur als Vergeltung der Schuld des Täters, sondern auch als Mittel der Abwehr von Gefahren begreift, die vom konkreten Verbrecher, aber auch von Dritten, denen die Straftat Beispiel ist, drohen.35 Solche spezial- und generalpräventiven Aspekte dürfen jedoch den von der Schuld des Täters gesteckten Rahmen nicht überschreiten.36 3. Die Strafrechtswissenschaft ist seit der Zeit des Naturrechts bis tief in das 19. Jahrhundert hinein durch die Rezeption der allgemeinen Rechts- und Staatsphilosophie geprägt. Von dort erhielt sie die Anstöße, die sie zu einer säkularen, rationalen und – seit Feuerbach – auch kritischen Wissenschaft machten. Binding charakterisierte deshalb zu Recht die Strafrechtswissenschaft als „Spross der Philosophie“.37 Die Philosophie galt als eine der Quellen des Strafrechts, und dessen allgemeine Regeln wurden gewöhnlich als „Philosophischer Teil“ bezeichnet.38 Die Zu31

v. Feuerbach, (Fn. 30), Bd. 1, S. 24, 31 f; Bd. 2, S. 215; ders, Anti-Hobbes, 1967, S. 46 f. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 11. Aufl. 1832, § 23. 33 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1820/21 , in: Glockner (Hrsg.), Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, Bd. 7, §§ 95, 97, 99, 101. 34 Hegel (Fn. 33), § 218. 35 Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Kriminalrechts, 1845, S. 676 f. 36 Köstlin (Fn. 35), S. 414. 37 Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, Bd. 1, S. 7. 38 Vgl. nur Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Strafrechts, 14. Aufl. 1847, § 5; Tittmann (Fn. 24), § 5; hierzu auch Kesper-Biermann, Einheit und Recht, 2009, S. 102 ff.; Vormbaum (Fn. 11), S. 72 ff. 32

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rechnungslehre der praktischen Philosophie und philosophische Bestimmungen strafrechtlicher Grundbegriffe gehörten ebenso zur Strafrechtswissenschaft wie Reflexionen über das Wesen und die Strafwürdigkeit von Verbrechen. An der Wende zum 20. Jahrhundert traten dagegen die empirischen Wissenschaften ihren Siegeszug auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft an und wollten diese von der „Knechtung des Rechts unter die Philosophie“ befreien.39 Der mit ihnen verbundene Positivismus wurde – jedenfalls in Deutschland – durch umfassende Kodifikationen, die teils bislang ungeschriebene allgemeine Grundsätze in Gesetzesform brachten, noch erheblich begünstigt. Der Rückgriff auf die Philosophie sollte allenfalls noch zur Erarbeitung einer Auslegungslehre erlaubt sein.40 Jede Ausweitung des geltenden Rechts mit Hilfe philosophischer Theorien wurde dagegen scharf abgelehnt. Programmatisch (und vor allem gegen die Hegelianer gerichtet) forderte Loening, dass die Strafrechtswissenschaft allein der „Erkenntnis des bestehenden, positiven gültigen Rechts in seinem ganzen Umfang und in seiner ganzen Tiefe“ dienen soll.41 Ende des 19. Jahrhunderts trennt Binding streng die Dogmatik des geltenden Rechts von der kritischen Aufgabe des Strafrechts durch kriminalpolitische Stellungnahmen und lässt für Letzteres auch philosophische Betrachtungen über die Vernünftigkeit rechtlicher Regelungen zu. Die Strafrechtswissenschaft bleibt also hier noch auf der Suche nach dem legitimierbaren Recht.42 Aber auch die Interpretation des geltenden Strafrechts soll aus geschichtlichen Zusammenhängen und dem gesamten Rechtssystem, nicht aus der Alltagssprache und dem Rechtsleben einer bestimmten Zeit erschlossen werden.43 Während Binding noch in bürgerlich-liberalen Modellvorstellungen denkt, dass unter gerechten Verhältnissen die Gesellschaft im stabilen Gleichgewicht bleibe, negiert sein wissenschaftlicher Antipode v. Liszt jegliche Berechtigung „metaphysischer Spekulation“.44 Die vom Strafrecht geschützten und zu schützenden Rechtsgüter sollten durch abstrahierende Logik aus dem positiven Recht gewonnen und lediglich zur Systematisierung des Rechtsstoffs verwendet werden.45 Externe, philosophisch begründete Maßstäbe zur Kritik des geltenden Rechts waren damit der Rechtswissenschaft aus der Hand genommen. Vielmehr richtete sich der wissenschaftliche Blick auch auf die Praxis des Strafrechts. v. Liszt will die sozialen Auswirkungen des Strafrechts unter den Bedingungen fortschreitender Industrialisierung empirisch berechnen und kontrollieren können. Er propagiert eine Strafrechtswis39

Nagler, Die Strafe, Bd. 1, 1918, S. 292 f. Binding (Fn. 37), Bd. 1, S. 35. 41 Loening ZStW 3 (1883), 219 ff., 223, 256. 42 Binding (Fn. 37), Bd. 1, S. 13 ff. 43 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 1, 1902, S. 3. 44 v. Liszt (Fn. 2), Bd. 1, S. 133. 45 v. Liszt (Fn. 2), Bd. 1, S. 221 ff. 40

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senschaft, die auch die kriminologische Ursachenforschung des Verbrechens betreibt. Strafe kann sich nach v. Liszt allein durch ihren (positiven) Effekt legitimieren. Gerecht ist nur eine notwendige Strafe. Sie muss den besserungsfähigen Täter bessern, den nicht besserungsbedürftigen Täter abschrecken und den nicht besserungsfähigen Täter unschädlich machen können.46 Die Straftat selbst wird nicht mehr – wie bei den Hegelianern – als Sinnausdruck einer zurechnungsfähigen Person, sondern nur noch als kausales Phänomen, als Veränderung in der Außenwelt, die auf menschlichem Wollen beruht, verstanden.47 Im Zuge allgemeiner kriminalpolitischer Reformbestrebungen forderte v. Liszt in seinem sog. Marburger Programm die Möglichkeit einer stärkeren Individualisierung der Strafzumessung, um so das veraltete Straffolgensystem des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 zu korrigieren. Er tritt für eine deutliche Trennung des Erwachsenen- vom Jugendstrafrecht ein und wendet sich scharf gegen kurzfristige Freiheitsstrafen, die den Verbrecher eher weiter verderben als verbessern.48 In der Konsequenz der Gedanken v. Liszts liegt eine Ersetzung des Tatstrafrechts durch ein Täterstrafrecht und die Abkehr von der Schuldvergeltung zur reinen Gefahrenprävention. Da das Täterstrafrecht jedoch in der Zeit des Nationalsozialismus Dominanz gewinnt – Verbrechen als Gesinnungsverfall, Feindschaft und Verrat –, wird es nach dessen Ende als ideologische Verirrung angesehen und völlig abgelehnt. 4. Der positivistischen, naturwissenschaftlichen Orientierung v. Liszts stellt Welzel in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit großem Einfluss auf Theorie und Praxis ein wertphilosophisch und anthropologisch geprägtes Verständnis der Straftat entgegen.49 Wie die Hegelianer betont Welzel wieder den sozialen Sinn der Straftat,50 reduziert diesen aber auf individuelle menschliche Zwecktätigkeit. Das Verbrechen wird begriffen als finales Verhalten, das bei der vom Täter verlangten Wertentscheidung vermeidbar gewesen wäre.51 Die soziale Bedeutung gewinnt bei Welzel noch an anderer Stelle Bedeutung. Er bewertet Verhaltensweisen, die formal unter die Beschreibung eines Delikts fallen, nicht als Unrecht, wenn sie sozial adäquat sind, also im gesellschaftlichen Leben üblich und unauffällig sind. Dieser Ansatz hat in der Folgezeit unter dem Stichwort der objektiven Zurechnung erhebliche Bedeutung erlangt.52 Objektive Zurechnung bedeutet, nach der Verantwortlichkeit für schädigende Verhaltensweisen zu fragen. Bloße Verursachung eines Schadens reicht zur Begründung strafbaren Unrechts nicht aus, schon deshalb nicht, weil strafbare Unterlassungen nicht auf einem aktiven Eingriff in einen Geschehensverlauf beruhen, 46

v. Liszt ZStW 3 (1883), 34. v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 4. Aufl., 1891, S. 119. 48 Grundlegend v. Liszt (Fn. 46), S. 1 ff. 49 Grundlegend Welzel ZStW 58 (1939), 491 ff. 50 Näher hierzu Loos, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 486 ff., 504 f. 51 Welzel (Fn. 49), S. 561 f. 52 Näher hierzu Cancio Meliá GA 1995, 179 ff. 47

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sondern die Zuständigkeit für das unterlassene Verhindern des Verlaufs zum Gegenstand haben. Aber auch aktive Verursachung begründet noch keine strafbare Verantwortlichkeit für einen Schadensverlauf, wenn dieser – etwa bei Einwilligung oder einem Handeln auf eigene Gefahr – vom Geschädigten selbst zu vertreten ist. 5. In kriminalpolitischer Hinsicht blieben die Bemühungen der Strafrechtswissenschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ohne Wirkung.53 So wurde etwa das moralisierende Sexualstrafrecht durch ein an bestimmten Rechtsgütern – etwa Jugendschutz, sexuelle Selbstbestimmung – ausgerichtetes Strafrecht ersetzt. Es wurde ein spezifisches Wirtschafts- und Umweltstrafrecht geschaffen. Im Allgemeinen Teil wurden die Notrechte systematisch erfasst und die Irrtumsregelungen überarbeitet. Zurückhaltend kritisch bis scharf ablehnend steht die Strafrechtswissenschaft insbesondere der permanenten Expansion strafrechtlicher Tatbestände und der damit verbundenen Schaffung von Gefährdungsdelikten gegenüber. Hinter dieser Kritik steht die grundsätzliche Auffassung, dass das Strafrecht als schärfstes staatliches Mittel nur als „ultima ratio“ der Sozialkontrolle eingesetzt werden dürfe. Dagegen ist die heutige Strafrechtswissenschaft überwiegend positivistisch ausgerichtet, soweit es um die Erkenntnis, Auslegung und systematische Ordnung des Rechtsstoffs geht, auch wenn die Naturrechtslehre und die idealistische Philosophie noch deutliche Spuren im Rechtsverständnis und in den Prinzipien und Grundbegriffen der strafrechtlichen Zurechnung hinterlassen hat. Ein Rückgriff auf vorpositive Grundlagen insbesondere philosophischer Natur wird mit Blick auf die in der Verfassung kodifizierten Grundprinzipien zumindest für überflüssig gehalten.54 Gleichwohl spielen hinsichtlich der Begründung von Schuld und Strafe, der wissenschaftstheoretischen Erarbeitung der Auslegungsmethoden und der kriminalpolitischen Diskussion neben soziologischen und psychologischen Ansätzen nach wie vor philosophische Positionen eine gewichtige Rolle. Insoweit ist für die Strafwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schuld kennzeichnend, der heute normativ verstanden wird: Schuld ist ein Defizit an rechtstreuer Motivation, das in der konkreten Tat seinen Ausdruck gefunden hat. Der Täter verfehlt durch die Tat das von ihm erwartete Maß an hinreichender Rechtstreue. Nicht schuldhaft handelt, wer diese Rechtstreue bedingt durch (kindliches) Alter oder seelische Krankheit nicht zu erbringen in der Lage ist, wem unvermeidbar die Anforderungen des Rechts im konkreten Fall nicht bekannt sind (unverschuldeter Verbotsirrtum) oder wer sich in einem existentiellen Konflikt befindet (entschuldigender Notstand). Man kann den normativen Schuldbegriff auch als Teilstück einer umfassenden kommunikativen Interpretation der sozialen Institution des Strafrechts verstehen, die auch den Strafprozess und den Strafvollzug umfasst. Straftat und Strafe stehen 53 Vgl. Maihofer, in: Baumann (Hrsg.), Das Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 116 ff. 54 Vgl. nur Stuckenberg GA 2011, 657.

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dann in einer kommunikativen Relation zueinander, wie Rede und Gegenrede. Der Täter widerspricht durch sein Verhalten der Norm, er negiert – in Anlehnung an Hegels Diktum – die Geltung der Norm, während mit der Strafe ausgedrückt wird, dass die Norm doch gilt und das von Rechts wegen verbindliche Motiv sozialen Handelns sein soll. Zur Verdeutlichung werden dem Täter die Kosten des Konflikts auferlegt, er muss gewissermaßen Schadensersatz leisten, wobei der Wert der Geltung der verletzten Norm für die freiheitliche Entfaltung des Einzelnen in Staat und Gesellschaft als Kriterium für das Maß der Strafe dient. Der schuldig gesprochene Täter muss mit anderen Worten eine solche Menge an Gütern – Freiheit, Geld – opfern, dass sein Entschluss zur Tat im Nachhinein als schlechthin unverständlich erscheint.55 Im Strafprozess wird der Konflikt unter Wahrung der rechtlich geschützten Interessen der Beteiligten zur Sprache gebracht und mit den vorgesehenen rechtlichen Möglichkeiten erledigt. Die Formalisierung des Verfahrens hat zugleich eine erzieherische Seite: Es soll gezeigt werden, dass die rechtliche Bewältigung eines Konflikts nicht um jeden Preis, sondern nur auf eine gerechte, prinzipienorientierte und die Würde des Menschen achtende Weise erfolgen darf und soll.

III. Dogmatik 1. Die Erarbeitung der inhaltlichen Bedingungen einer gleichmäßigen und überprüfbaren Anwendung der lex lata ist das Betätigungsfeld der Strafrechtswissenschaft im engeren Sinne, der sog. Strafrechtdogmatik. Sie hat die Klärung der rechtlichen Voraussetzungen des Ob und Wie der Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweisen zum Gegenstand. Die Dogmatik soll durch Interpretation Sinn und Begründungszusammenhang der einzelnen Rechtssätze aufweisen und diese auf tragende Rechtsgedanken zurückführen und in ein stimmiges System bringen.56 Der wissenschaftliche Charakter der Strafrechtsdogmatik liegt zum einen in der Rationalität ihrer Methode und zum anderen in der systematischen Zusammenführung ihrer Erkenntnisse.57 In ihrer dogmatischen Funktion ist die Strafrechtswissenschaft die Wissenschaft von der praktischen Anwendung des Strafrechts. Ihre Aufgabe besteht darin, die Entscheidungen der Gerichte und Ermittlungsbehörden vorzubereiten. Diese Funktionen erfüllt sie zunächst, indem sie den Entscheidungsträgern einen Vorrat an Informationen zur Verfügung stellt, die für die Rechtsanwendung erforderlich und nützlich sind. Sie vereinfacht so die Rechtsanwendung und trägt zu einer denkökonomi55

Jakobs, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 132. Vgl. zu einer entsprechenden Definition der Rechtsdogmatik Hollerbach, in: GörresGesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. 1988, S. 751 f.; allgemein zum Systembegriff des Rechts Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 23 ff.; Peine, Das Recht als System, 1983; Pawlik, in: FS Jakobs, 2007, S. 469. 57 Erb (Fn. 9), S. 1; Hoerster, Was ist Recht?, 2006, S. 7; v. Liszt (Fn 2), S. 212 ff.; Radtke ZStW 119 (2007), 73. 56

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schen Entscheidungsfindung bei. Der für die Entscheidungsfindung maßgebliche Rechtsstoff wird nach didaktischen Kriterien systematisch aufbereitet und kann von der Rechtspraxis wie auch in der akademischen Ausbildung in der Form von schulmäßigen Lehrsätzen übernommen werden.58 Die Dogmatik versucht, den Inhalt des für Entscheidungen maßgeblichen Rechts zu ermitteln, indem sie die relevanten Rechtstexte – seien dies nun gesetzliche Regelungen oder richterliche Präjudizien – auf mögliche Interpretationen befragt und der Rechtspraxis einen mehr oder weniger großen Fundus an Auslegungsmöglichkeiten anbietet.59 Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Interpretationsmöglichkeiten soll die Rechtspraxis eine Verbindung zwischen den Rechtssätzen und dem konkreten Fall herstellen.60 Solche begründeten Vorschläge der Gesetzesanwendung werden gewöhnlich „Theorien“, „Lehrsätze“ oder „Meinungen“ genannt. Bisweilen wird die Auffassung vertreten, dass sich anhand solcher Theorien sowie unter Zuhilfenahme allgemeiner Rechtsprinzipien auch stets eine objektiv richtige Antwort auf Rechtsfragen geben lasse.61 Der Rechtsanwender muss dann mögliche Interpretationsvarianten simulieren und die einzelnen Theorien auf ihre Vernünftigkeit und Angemessenheit hin überprüfen.62 Aber auch wenn man eine solche Entscheidungsfindung, bei welcher der Rechtsanwender durch sorgsames Abwägen der Argumente im Wege eines inneren Dialogs zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt, für realitätsfern hält, sind dogmatische Modelle nicht überflüssig. Sie geben der Entscheidung eine Grundlage und lassen diese nicht als willkürlich getroffene Ansicht des Rechtsanwenders erscheinen, sondern sind Ausdruck einer geordneten und festen Regeln folgenden und damit auch intersubjektiv überprüfbaren Entscheidungsfindung. Insoweit lässt sich sagen, dass die Strafrechtsdogmatik der Rechtspraxis die „legal needs“ liefert.63 Auch wenn dogmatische Theorien mit der Zielsetzung entwickelt werden, die Anwendung richtigen Rechts vorzubereiten und zu ermöglichen, können sie ihrerseits nur eine relative Gültigkeit beanspruchen. Sie stützen sich mit unterschiedlichem Gewicht auf Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Zweck der jeweiligen Regelungen und orientieren sich an grundlegenden Paradigmen wie etwa dem principle of harm, dem Rechtsgüterschutz, dem Schuldgrundsatz oder dem strafrechtlichen Garantieprinzip. Nur relativ zur Gültigkeit solcher Paradigmen können sie selbst Gültigkeit beanspruchen. Meist begnügen sich die Theorien mit kurzen Ablei58 Lagodny, in: FS Amelung, 2009, S. 51 ff.; Schulz, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 144 ff. 59 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 196 f. 60 Burkhardt, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft an der Jahrtausendwende, 2000, S. 112 f. 61 Grundlegend für diese Auffassung Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 144 ff., 182 ff. 62 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 200. 63 Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, 1996, S. 3; ferner Erb (Fn. 9), S. 1; Hassemer (Fn. 6), S. 31; Schulz (Fn. 58), S. 144.

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tungsketten, die mehr oder weniger konkludent in Evidenzbehauptungen münden oder sich auf passende Autoritäten – herrschende Meinung, Gesetzgeber oder ständige Rechtsprechung – berufen. Insoweit kann man Methode und Ergebnisse der Strafrechtsdogmatik auf der Ebene der Rechtsanwendung als topisch bezeichnen. 2. Ein (jedenfalls gedanklich) erster Schritt zur Entwicklung einer dogmatischen Theorie, die der Anwendbarkeit von Recht dient, ist die Auslegung der Begriffe in den relevanten Rechtstexten, insbesondere den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen. Maßgebliche Methode der Auslegung ist ein spezifisches hermeneutisches Vorgehen64 mit dem Ziel, Sinn und Zweck der sprachlichen Formulierung möglichst adäquat zu erfassen, um so festzulegen, ob der Rechtstext für bestimmte Fallkonstellationen zutrifft oder nicht. Wesentliche Aufgabe der Auslegung ist also die Konkretisierung des Rechtstextes.65 Für das Strafrecht, das dem Garantieprinzip der Gesetzesbestimmtheit unterliegt, bedeutet dies, dass der Text in den Grenzen seines möglichen Wortlauts, seiner historischen Genese und seines systematischen Zusammenhangs so zu interpretieren ist, dass er zweckentsprechend anwendbar ist. In diesem Sinne erfolgt die Auslegung nach grammatikalischen, historischen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkten.66 Die grammatikalische Auslegung der Begriffe dient der Aufdeckung ihrer alltagssprachlichen Bedeutung. Der Idee nach soll jeder Bürger die ihn betreffenden gesetzlichen Regelungen verstehen können. Diese müssen also – im Prinzip – allgemeinverständlich sein. Zum anderen legt der umgangssprachliche Sinn eines strafrechtlichen Begriffs die äußerste Grenze seiner möglichen Anwendung fest. Über diese Grenze hinaus darf eine strafrechtliche rechtliche Regelung nicht zu Lasten (!) eines betroffenen Bürgers angewendet werden. Insoweit gilt für das kodifizierte Strafrecht neben dem Grundsatz der Schriftlichkeit (nullum crimen sine lege scripta), des Verbots des Gewohnheitsrechts (nullum crimen sine lege stricta) und des Rückwirkungswirkungsverbots (nullum crimen sine lege praevia) das Garantieprinzip der gesetzlichen Bestimmtheit (nullum crimen sine lege certa). Auf der Basis der umgangssprachlichen Bedeutung lassen sich mehr oder minder vollständige Definitionen formulieren, die allerdings noch erheblicher – einschränkender – Modifikationen bedürfen, um für die Rechtsanwendung tauglich zu sein. Solche Modifikationen können sich etwa aus historischer Perspektive ergeben, wenn den Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist, dass der Gesetzgeber mit den fraglichen Begriffen nur bestimmte Sachverhalte regeln wollte.

64 Vgl. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1972; Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, zur juristischen Hermeneutik insbesondere S. 307 ff.; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 10 ff. 65 Vgl. hierzu nur Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953. 66 Näher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 312 ff.; ferner Kubiciel (Fn. 18), S. 30 ff.

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Eine weitere (eingrenzende) Präzisierung eines Rechtsbegriffs kann sich aus seiner Einordnung in den systematischen Gesetzeskontext ergeben. So sind etwa die Tathandlungen des Bankrotts67 der Terminologie des Insolvenzrechts anzugleichen, um Widersprüche mit den Anforderungen des Zivilrechts zu vermeiden und Gleichklang in der Schutzrichtung zu erzielen. Im Zentrum der Begriffsklärung steht jedoch die sog. teleologische Auslegung, die sich mit der Ausrichtung der Begriffsbedeutung am Zweck der den Begriff enthaltenden Norm befasst. In diesem Sinne kommen z. B. nur solche Zuwendungen an Amtsträger als „Vorteile“ im Sinne der Bestechungsdelikte in Betracht, die das Vertrauen in die unparteiische und ordnungsgemäße Funktionsfähigkeit der Verwaltung zu erschüttern geeignet sind. Wer einem Polizisten sein Auto zur Verfolgung eines Flüchtigen zur Verfügung stellt, gewährt diesem keinen korruptionsrelevanten Vorteil. 3. Der wissenschaftliche Charakter der Strafrechtsdogmatik beruht neben der Rationalität des Vorgehens auf der Erarbeitung übergreifender systematischer Zusammenhänge. Die Begriffe und Normen eines strafrechtlichen Regelungsbereichs müssen gewissermaßen einen Ort in einem kohärenten Netz haben. Beispielhaft hierfür mag der Begriff des Vermögensschadens sein, der auf die Bedeutung der Begriffe des Schadens und des Vermögens verweist, wobei letzterer wieder mit den zivilrechtlichen Begriffen der Vermögensrechte, des Eigentums und der ungerechtfertigten Bereicherung korreliert. Das hier einschlägige Netz überspannt weite Teile der rechtlichen Ordnung des Wirtschaftssystems. Solche dogmatischen Netze erlauben es auch, neue Gesetze in die allgemeine Rechtslage einzupassen und mit den anerkannten Standards und Wertungen in Einklang bringen. Für alle Netze gilt, dass sie die Forderungen nach Widerspruchsfreiheit in ihrem Rahmen erfüllen müssen. Insbesondere darf nicht eine Norm etwas verbieten, was eine andere erlaubt oder sogar gebietet. Kollisionen können nach unterschiedlichen Grundsätzen behoben werden, z. B. nach dem Grundsatz, dass das spätere Gesetz das frühere derogiert. Bei der Kollision von Pflichten gilt die Regel, dass die Erfüllung der wichtigeren der weniger wichtigen vorgeht oder dass – bei gleichwertigen Pflichten – die Erfüllung der einen Pflicht die Nichterfüllung der anderen rechtfertigt (sog. rechtfertigende Pflichtenkollision). Dogmatische Netze haben eine unterschiedliche Spannweite, je nachdem, ob sie sich auf Verhaltensnormen oder auf das Zurechnungssystem beziehen. Verhaltensnormen sind präskriptive Regeln und sagen, welche Verhaltensweisen verboten, erlaubt, geboten oder freigestellt sind. Zurechnungsregeln sind dagegen askriptiver Natur und sagen, unter welchen Voraussetzungen jemand für ein (schädigendes) Ereignis oder ein einer Verhaltensnorm widersprechendes Verhalten verantwortlich ist. Die theoretischen Netze, in die Normen eingebunden sind, stehen in der Regel klassifikatorisch nebeneinander, wobei die Einteilung nach Maßgabe des jeweiligen Schutzzwecks erfolgt. In diesem Sinne werden die Normen am Schutz der Rechtsgüter Leben, körperliche Integrität, Ehre, sexuelle Selbstbestimmung, Vermögen usw. ausgerichtet. Aufgrund ihrer klassifikatorischen Ordnung stehen solche dogma67

§ 283 deutsches Strafgesetzbuch.

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tische Netze in keinem allumfassenden systematischen Gesamtzusammenhang. Lehrbuchmäßige Systematisierungen von Verhaltensnormen haben gewöhnlich den Charakter von Kochbüchern, bei der sich die Qualität des Rezepts an der präsumtiven Kochkunst des Lesers orientiert. Insoweit kann man Methode und Ergebnisse der Strafrechtsdogmatik in diesem Bereich als topisch bezeichnen.68 Demgegenüber können dogmatische Netze, die sich auf Zurechnungsregeln beziehen, nahezu den gesamten Bereich der Voraussetzungen strafbarer Verantwortlichkeit umfassen. Sie beruhen in der von der deutschen Strafrechtswissenschaft beeinflussten Dogmatik in der Regel auf einem philosophischen – erkenntnistheoretischen oder ethischen – Fundament (unten VI.). Durch die Wahl dieses Fundaments, auf dessen Basis das dogmatische Netz entwickelt wird, können einzelne Regelungen einen durchaus unterschiedlichen Inhalt bekommen. Beispielhaft hierfür sei der Paradigmenwechsel zwischen der an äußeren Veränderungen orientierten kausalistischen Lehre v. Liszts zu der am Täterwillen ausgerichteten finalistischen Konzeption Welzels angeführt. Während für v. Liszt die Ziele und Vorstellungen des Täters für das verwirklichte Unrecht ohne Belang sind, werden sie bei Welzel zum Kern des Unrechts. 4. Dogmatische Theorien lassen sich relativ einfach als unhaltbar ausweisen, wenn sie mehr oder minder offen in Wertungswidersprüche hineinlaufen, klar gegen den Wortlaut verstoßen, systematische Zusammenhänge ignorieren oder zu Ergebnissen führen, die den Normzweck glatt verfehlen. Umgekehrt gilt dies nicht: Ob eine Theorie richtig ist, lässt sich nicht verifizieren.69 Es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb des dogmatischen Diskurses. Folglich schließen sich zwei miteinander konkurrierende Theorien nicht im Sinne von wahr und falsch wechselseitig aus. Es sollte vielmehr, negativ formuliert, die Theorie gewinnen, die möglichst wenig mit den gängigen Paradigmen konfligiert. Oder positiv ausgedrückt: Die größere Erklärungskraft hat die Theorie, die den Kriterien des Auslegungskanons und den grundlegenden Paradigmen am ehesten entspricht. Auch äußerliche Kriterien wie eine gewisse Entscheidungssicherheit durch Weiterführung tradierter Problemlösungen spielen in diesem Zusammenhang eine keineswegs unberechtigte Rolle. Da es nicht selten der Fall ist, dass konkurrierende Theorien jeweils Pluspunkte für sich verbuchen können und auch die Gewichtung dieser Punkte fallweise variieren kann, ist im Bereich der topischen Rechtsdogmatik ein gewisses Maß an Dezision, sofern sich diese plausibel machen lässt, unumgänglich. Daraus folgt allerdings, dass die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Strafrechtsdogmatik, auf Rechtsprechung und Gesetzgeber einzuwirken, begrenzt sind. Selbst wenn die Rechtsprechung Kritik beachtet oder einen wissenschaftlichen Vorschlag aufgreift, muss die neue Richtung der alten keineswegs überlegen sein. Mag die Rechtspre68

Zur Topik Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 4. Aufl. 1969. Zum Verhältnis der Dogmatik zu verschiedenen Wahrheitstheorien Schulz (Fn. 58), S. 138 ff. 69

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chung das Gesetz auch im Gewand institutioneller Macht anwenden, so sind die von ihr – obendrein auch nur fallweise – explizierten Theorien von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen so kritikwürdig wie jede andere Rechtsauffassung auch.

IV. Analytische Grundlagenforschung 1. Die Strafrechtswissenschaft muss, um ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu genügen, die für sie relevanten Ergebnisse der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie berücksichtigen. Auf entsprechende Einsichten und Methoden hat die Strafrechtswissenschaft insbesondere dann zurückzugreifen, wenn es um die Analyse und Rekonstruktion der semantischen, pragmatischen und deontischen Bedingungen dogmatischer Theorien geht. Im Bereich der Semantik kann die Strafrechtswissenschaft mit Gewinn auf die Ergebnisse der Begriffsanalyse zurückgreifen. Dies gilt nicht nur für die Grundlagen wissenschaftlicher Definitionen und Explikationen, sondern auch für die adäquate Erfassung qualitativer, komparativer und evaluativer Begriffe. Bedeutsam ist die Beachtung dispositionaler Prädikate, die in Gesetzesformulierungen insbesondere für psychische Tatcharakterisierungen verwendet werden, etwa bei einer Lebensgefährdung im Straßenverkehr durch „rücksichtsloses“ Fahrverhalten.70 Solche Prädikate lassen sich nicht abschließend definieren, sondern nur durch die Angabe typischer Verhaltensweisen explizieren.71 Eine wissenschaftlichen Anforderungen genügende Dogmatik sollte ferner unter dem Postulat arbeiten, dass ihre Schlussfolgerungen in die Kalküle der Aussagen- und Prädikatenlogik übertragbar sind. Auch die Ergebnisse der Normenlogik sollten beachtet werden. 2. Als Forschungsgebiet ist eine allgemeine analytische Strukturtheorie des Strafrechts bislang nur in Ansätzen entwickelt.72 Eingang in die Dogmatik hat die analytische Philosophie zunächst auf dem Gebiet der Handlungstheorie gefunden. Insoweit sind die Fragen der Interpretation eines Verhaltens als Handlung und der Identität von Handlungen bedeutsam. Zu klären sind insoweit auch das Verhältnis von Kausalität und Handlung und damit zugleich die Voraussetzungen der kausalen und der intentionalen Erklärung von Handlungen. Hiermit hängt wiederum die für die Erfassung der Straftat grundlegende Klärung des Verhältnisses von Geist und Körper und die Erfahrbarkeit des Fremdseelischen zusammen. Schließlich ist der zwar bereits auf Aristoteles zurückgehende, in der neueren analytischen Philosophie aber eingehend entwickelte praktische Syllogismus ein geeignetes Instrumentarium, um Vorsatz und Fahrlässigkeit handlungstheoretisch präzise zu erfassen.

70

§ 316 c deutsches Strafgesetzbuch. Hierzu Ryle, The Concept of Mind, 1949, S.112 ff. 72 Hierzu programmatisch Hruschka (Fn. 7), 1 ff.; ferner Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz, 1991. 71

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3. Der Schwerpunkt der strafrechtlichen Strukturtheorie liegt heute im Bereich der Normentheorie, wobei mehrere Fragenkreise in der Diskussion stehen. So geht es etwa um das Verhältnis von Sein und Sollen, konkret um das Verhältnis der faktischen Fähigkeiten einer Person zur Erfüllung der Anforderungen strafrechtlicher Verhaltensnormen. Vor allem im Bereich der Fahrlässigkeitshaftung ist die Reichweite des Grundsatzes ultra posse nemo obligatur zu bestimmen. Ferner sind die Besonderheiten bestimmter Regeltypen zu analysieren.73 So sind primäre Normen von sekundären Normen (Metanormen), die das Verhältnis primärer Normen zueinander regeln, abzugrenzen. Sätze einer Objektsprache haben einen anderen Status als Sätze einer Metasprache, mit der Konsequenz, dass Konkurrenz- und Kollisionsregeln einer anderen logischen Ebene angehören als deliktskonstitutive Regeln. Außerdem folgen Regeln, mit denen Verantwortung zugeschrieben wird, anderen logischen Gesetzen als Regeln, mit denen Wertungen oder Sollensanforderungen formuliert werden.74 Dementsprechend unterscheiden sich bereits auf einer logischen Ebene die Regeln des rechtfertigenden von denen des entschuldigenden Notstands. Oder: Eine rechtfertigende Pflichtenkollision ist logisch verschieden von einer allgemeinen Erlaubnisnorm, da sie sich auf die Handlungsfähigkeit und nicht auf die Verhaltensbeschreibung bezieht. 4. Die Strukturtheorie des Strafrechts ist eine exakte Wissenschaft. Insoweit ist die ihr immanente Logik zwingend und bindet kraft analytischer Wahrheit auch Gesetzgebung und Rechtsprechung. Da die Strukturtheorie des Strafrechts zudem unabhängig von der kontingenten Gestalt der lex lata ist, erlaubt sie einen weltweiten Diskurs jenseits der Provinzialität des nationalen Strafrechts.

V. Empirische Grundlagenforschung 1. Das Recht ist eine Sollensordnung, schafft also auf der Basis der natürlichen Welt eine institutionelle Welt: Es transformiert natürliche Tatsachen in institutionelle Tatsachen. Die Schuldfähigkeit eines Menschen etwa ist keine natürliche Eigenschaft wie die Zusammensetzung seines Blutes, sondern sie wird mittels diverser Regeln zugeschrieben, die besagen, dass ein Mensch, der eine Reihe von natürlichen Eigenschaften aufweist oder nicht aufweist, als schuldfähig gilt. Dass ein Mensch als schuldfähig gilt, ist also eine sekundäre Eigenschaft gegenüber seinen primären natürlichen Eigenschaften, wobei der Prozess der Konstitution von Eigenschaften keine immanenten Grenzen kennt. Aus sekundären Eigenschaften können tertiäre gebildet werden usw.

73

Vgl. hierzu Bentham, in: Hart (Hrsg.), Of Laws in General, 1970, S. 133 ff.; Fletcher, Basic Concepts of Legal Thought, 1996, S. 43 ff.; Hart, The Concept of Law, 1961, S. 79 ff. 74 Grundlegend Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, Proceedings of the Aristotelian Society, 1949.

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Die Zuschreibung strafrechtlich relevanter institutioneller Eigenschaften ist untauglich, wenn die entsprechenden primären Tatsachenbehauptungen falsch oder nur mangelhaft gesichert sind. Insoweit ist die adäquate Erfassung der empirisch erfahrbaren Realität notwendige Voraussetzung der adäquaten Konstitution rechtlicher Tatsachen. Sofern es in der abendländischen Entwicklung von Recht und Moral überhaupt einen Fortschritt gibt, ist dieser auch und vor allem der empirischen Aufdeckung von Irrtümern über die biologischen, anthropologischen und sozialen Bedingungen des Menschen zu verdanken: Hexenwahn und Fehldeutungen von Homosexualität sind hierfür anschauliche Beispiele. Im Verhältnis zur Empirie ist freilich die Strafrechtswissenschaft einseitig abhängig. Soweit sie die Welt nach den Wertungen des Rechts gestalten will, kann sie nur auf solche Mechanismen zurückgreifen, die auch effektiv reale Veränderungen bedingen können. Sie ist namentlich auf Erkenntnisse über Kausalprozesse angewiesen. Allerdings kann die Dogmatik die sie interessierenden Fragen an die einschlägigen empirischen Wissenschaften herantragen und so den Forschungsgegenstand und das Erkenntnisinteresse dieser Disziplinen punktuell beeinflussen oder interdisziplinäre Forschungsbereiche anregen, wie dies exemplarisch in der Kriminologie oder der Rechtsmedizin geschieht. Dies kann wiederum in der Konsequenz mittelbar auf Gesetzgebung und Rechtsprechung abstrahlen. Insoweit kann die Strafrechtsdogmatik durch problemadäquate Fragen an die empirischen Wissenschaften dazu beitragen, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung über sachdienliche Informationen verfügen. 2. Da sich das Strafrecht auf eine soziale Praxis bezieht, ist seine empirische Basis – man möchte sagen: naturgemäß – umso dürftiger, je grundlegender sie ist. Elementare soziale Befindlichkeiten und Reaktionen lassen sich allenfalls bedingt unter Laborbedingungen testen. Das gilt vor allem für die Frage nach den effektiven Steuerungsmöglichkeiten durch Strafe samt ihrer möglichen Modifikationen und Alternativen. Insoweit hat es einen gewissen verführerischen Reiz, diese weißen Stellen auf der empirischen Landkarte mit metaphysischem Pathos bunt auszumalen und gegen Empirie zu immunisieren – ein wissenschaftlich fragwürdiger Ausweg. In der Strafrechtswissenschaft, aber auch in der Rechtsprechung (und im Gesetzgebungsverfahren) spielen Argumente eine nicht unerhebliche Rolle, die intuitiv richtig zu sein scheinen, aber – häufig mangels Operationalisierbarkeit – mehr oder weniger unbewiesen sind.75 Dies gilt etwa für die noch keinem empirischen Test unterworfene Annahme, dass derjenige, der eine Straftat plant, über größere kriminelle Energie verfüge als der spontan Handelnde.

75

Hierzu auch Schulz (Fn. 58), S. 153 f.

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VI. Materielle (philosophische) Grundlagenforschung 1. Bloßes topisches Problemlösen ist freilich unbefriedigend, und dies nicht nur, weil ein sicherer Halt fehlt, sondern auch, weil es nicht erlaubt, die Institution des Strafrechts als funktionales Element der gesellschaftlichen Realität zu begreifen. Doch nur in einer solchen Perspektive lassen sich die Paradigmen näher bestimmen, innerhalb deren sich die dogmatischen Theorien bewegen. Wissenschaftlich betriebene Dogmatik darf sich nicht in der Bildung der klassifikatorischen Ordnung der Begriffe erschöpfen, also – bildlich gesprochen – im Sortieren der Gegenstände eines Handwerkkastens nach Schrauben, Nägeln und Werkzeugen.76 Auch die Bildung eines teleologischen Systems – das Ordnen des Werkzeugs nach der zweckmäßigen Reihenfolge seines Gebrauchs – ist noch unzureichend. Wissenschaftlich betriebene Dogmatik bedarf vielmehr, um wissenschaftlich zu sein, notwendig einer materiellen Grundlagenforschung, deren Gegenstand die Reflexion ihrer Paradigmen ist. Während die Strafrechtsdogmatik im engeren Sinne das Ob und Wie der Strafbarkeit zu klären hat, geht es bei der materiellen Grundlagenforschung um die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Warum der Strafbarkeit. Ohne die Angabe der Gründe für eine rechtliche Regelung lässt sich deren Sinn schwerlich ermitteln. Die materielle Grundlagenforschung ist damit wesentlicher Bestandteil einer wissenschaftlichen Behandlung des Strafrechts.77 Im Gegensatz zur analytischen Strukturtheorie steht die materielle Grundlagenforschung im Zentrum der strafrechtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Hier werden die Prinzipien formuliert, überprüft, anerkannt oder verworfen, auf deren Basis Stellung zur allgemeinen Entwicklung des Strafrechts genommen werden kann. Die Strafrechtswissenschaft greift in diesem Bereich zumeist die aktuellen Strömungen der geistesgeschichtlichen Entwicklung auf, namentlich in den Bereichen der Philosophie, der Sozialwissenschaften und der Medizin. Neuere Stichworte sind unter vielen anderen Hirnforschung, funktionaler Schuldbegriff oder Risikogesellschaft. Die permanente Suche der Strafrechtsdogmatik nach einem Fundament lohnt sich zumindest aus zwei Gründen. Zum einen bleibt so die Grundlagendiskussion auf der Höhe der Zeit und erhält weiterführende Impulse. Zum anderen wird der Dogmatiker aus sich stets veränderndem Blickwinkel mit der unverändert elementaren Einsicht konfrontiert, dass er mit den Voraussetzungen der Zufügung eines Übels befasst ist. Die Strafrechtsdogmatik sieht sich insoweit einem steten Legitimationsdruck ausgesetzt, der nicht nur zu sorgfältiger Arbeit, sondern auch zu tiefer Skepsis gegenüber den Segnungen des eigenen Fachs anhält. 2. Die Selbstreflexion des eigenen Fundaments mit dem damit einhergehenden geschärften Bewusstsein, dass Strafe ein dringend der Legitimation bedürftiges Übel ist, eint Strafrechtslehrer ganz unterschiedlicher politischer und weltanschau76

So das Bild von Jakobs (Fn. 55), S. 105 f. Hassemer, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 186 ff. 77

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licher Ausrichtung in der Grundeinstellung, der Kriminalpolitik Grenzen aufzeigen zu müssen. Dies führt zu einer gewissermaßen systembedingten Konfrontation zwischen tendenziell skrupulöser Dogmatik auf der einen Seite und unbekümmert forscher Kriminalpolitik auf der anderen Seite. Daher akzeptieren Strafrechtsdogmatiker den sog. fragmentarischen Charakter des Strafrechts ohne weiteres als Barriere ihrer eigenen systematischen Arbeit. Brüche und Lücken auf der Ebene der topischen Rechtsanwendung werden anerkannt, wenn sie als Ausdruck des als lücken- und bruchstückhaft angesehenen Strafrechtsschutzes eingestuft werden können. Kriminalpolitisch wird dagegen der fragmentarische Charakter allenfalls hingenommen, wenn er sich mit dem ultima ratio-Prinzip vereinbaren lässt, während er dort als unbillig empfunden wird, wo er zur Ungleichbehandlung gleichen und vergleichbaren Unrechts führt. 3. Bisweilen wird diese Konfrontation von dogmatischer Seite aus dergestalt kämpferisch ausgetragen, dass zwischen gutem und schlechtem Strafrecht unterschieden und das eigene, als aufgeklärt und reflektiert verstandene Strafrecht per se für vorzugswürdig gehalten wird. Aus dieser Perspektive wird sogar die Entwicklung der lex lata als eine permanente Verschlechterung dargestellt. Das Strafgesetz taumele gewissermaßen blind in eine Richtung, die sich immer mehr von einem rechtsstaatlich gezähmten, auf den Schutz personalisierter Güter vor Verletzung beschränkten Strafrecht entferne. Dieser „unmögliche“ Zustand des gegenwärtigen Strafrechts78 wird etwa anhand der Symptome einer Ausweitung von abstrakten Gefährdungsdelikten, einer Reduktion des Schuldprinzips und einer Verpolizeilichung des Prozessrechts diagnostiziert. Indessen leidet diese Diagnose an einer erheblichen Unklarheit, der Unklarheit nämlich, mit welchem Zustand des Strafrechts der heutige Zustand überhaupt wertend verglichen wird. Sollte es sich um eine historische These handeln, halte ich sie – gemessen an unseren heutigen Standards – für schlicht falsch. Zu den großen Leistungen der Aufklärung gehört sicher auch ihr Beitrag zu einer humaneren Ausgestaltung von Form, Inhalt und Durchsetzung der staatlichen Strafe. Aber auch das wegen seiner Liberalität gerühmte Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 ist weit davon entfernt, ernsthaft als Vorbild zu dienen, da es Todes- und Kettenstrafen, Zucht- und Arbeitshäuser, körperliche Züchtigungen, Pranger und isolierte Kerkerhaft kennt. Historisch gesehen ist das heutige Strafrecht in seiner Achtung der menschlichen Freiheit und Würde sowie in seinem Verständnis schuldangemessener Strafe jedem seiner neuzeitlichen Vorgänger im Grundsatz bei weitem überlegen. Sollte sich die These dagegen auf einen gedachten Zustand beziehen, müsste zunächst einmal die Frage beantwortet werden, warum dieser idealisierte Zustand des Strafrechts besser sein soll als ein Zustand, in dem es überhaupt keine Übelszufügung qua Strafe gibt. Die Legitimation des Ob ist viel schwieriger als die Legitimation des 78 So lautet der Titel eines Buches, das sich kritisch mit der neueren Entwicklung des Strafrechts in Deutschland auseinandersetzt, vgl. Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (1995).

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konkreten Wie. Ist aber erst einmal das Ob legitimiert, so sind die Paradigmen, innerhalb deren sich eine rechtsstaatliche und an humanitären Werten ausgerichtete Kriminalpolitik zu bewegen hat, nichts anderes als die anerkannten verfassungsrechtlichen Prinzipien. Selbstverständlich gilt auch stets das Gebot, das Strafrecht vom Umfang her möglichst eng auszugestalten und inhaltlich am Schuldprinzip zu orientieren. Aber dieses Gebot ist nicht mehr als eine axiologisch gut begründete und begründbare Forderung, keineswegs aber der erinnernde Hinweis auf eine reale oder gedachte Phase, in der sich das Strafrecht einmal in einem weniger problematischen Zustand befunden hätte als heute. In dem Diskurs über ein richtiges Strafrecht sind Strafrechtsdogmatiker gewiss in der Lage, die einschlägigen technischen Fragen adäquat und nach rationalen Standards zu beantworten. Dass der Dogmatiker jedoch im allgemeinen demokratischen Diskurs über die das Strafrecht fundierenden Paradigmen gewissermaßen ein Sonderwissen gegenüber anderen Bürgern hätte, lässt sich schwerlich behaupten. Vielmehr ist die mehr oder weniger bunte Ansammlung der einzelnen im Strafgesetz fixierten Delikte in einer demokratisch verfassten Gesellschaft Ausdruck ihrer sozialen Probleme und Wertvorstellungen. Das Strafgesetz spiegelt zugleich die Werte und die Schattenseiten der Gesellschaft ab, es gehört – in der Formulierung Hegels – „vornehmlich seiner Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an“.79

79

Hegel (Fn. 33), § 218.

Die präventive Bestrafungsnotwendigkeit als Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit Claus Roxin

I. Einführung Nach meiner Lehre1 heißt die auf das Unrecht folgende und auf ihm aufbauende Deliktskategorie „Verantwortlichkeit“. Die Verantwortlichkeit gründet sich danach auf zwei Voraussetzungen: Der Täter muss erstens schuldhaft handeln, und es muss zweitens eine präventive Notwendigkeit seiner Bestrafung bestehen. Die zweite Voraussetzung ergibt sich normalerweise ohne Weiteres aus der Schuld des Täters: Wenn jemand schuldhaft strafrechtliches Unrecht verwirklicht, ist es aus spezial- oder mindestens aus generalpräventiven Gründen in der Regel angezeigt, darauf mit einer Strafsanktion zu reagieren. In Notsituationen kann das Urteil aber anders ausfallen. Das gilt nach deutschem Recht für den entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) und den Notwehrexzess (§ 33) sowie auch für etwa anzuerkennende Fälle eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes. In den Fällen der §§ 35, 33 StGB, auf die ich mich hier beschränke, kann der psychische Druck, unter dem der Täter handelt, seine Schuld zwar mindern, aber nicht ausschließen. Das ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz: Denn nach § 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 StGB wird dem Täter eine Straffreistellung ausdrücklich versagt, wenn „er die Gefahr selbst verursacht hat“ oder „in einem besonderen Rechtsverhältnis“ stand oder die notstandsbegründenden Umstände vermeidbarerweise irrtümlich angenommen hat. In allen drei Fällen ist aber der auf dem Täter lastende Motivationsdruck derselbe wie im Falle der Straffreistellung, so dass dieser Gesichtspunkt allein die gesetzliche Regelung nicht erklären kann. Die Auffassung, die das Reichsgericht vertreten hatte2 und die sich noch in den Materialien zum neuen Allgemeinen Teil des StGB findet,3 dass „der Überdruck, der auf die Motivation einwirkt“, zum Schuldausschluss führe, hat daher heute keine Anhänger mehr und kann im Folgenden außer Betracht bleiben. 1 Ihre letzte Fassung findet sich in: Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 1 – 9, S. 855 – 859; hier finden sich die im folgenden Text des Lehrbuches näher ausgeführten Grundgedanken. Auch der Diskussionsstand bis zum Jahr 2005, auf den ich hier nicht näher eingehe, wird dort nachgewiesen. 2 Nachweise bei Roxin (Fn. 1), § 22 Rn. 7. 3 Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V, 4095, 16.

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In der Gegenwart streiten im Wesentlichen drei Konzeptionen um die Begründung der Straffreistellung in den §§ 35, 33 StGB: die Lehre von der doppelten Schuldminderung (II.), die in dieser Abhandlung verteidigte These, dass das zur verminderter Schuld hinzutretende Fehlen eines präventiven Strafbedürfnisses die Nachsicht des Gesetzgebers erkläre (III.) und schließlich eine in verschiedenen Variationen vertretene, vielfach staatsphilosophisch untermauerte („kontraktualistische“) Auffassung (IV.), wonach der Staat nicht berechtigt sei, in den Fällen des § 35 StGB ein normgetreues Verhalten zu fordern. Die damit bezeichneten Streitfragen haben auch in Japan Aufmerksamkeit gefunden. Dort hat sich eine Lehre von der „strafwürdigen Schuld“ entwickelt, die davon ausgeht, dass neben der Schuld auch deren Strafwürdigkeit erforderlich ist, wenn eine Sanktionierung erfolgen soll. Asada4 hat diese Rechtsfigur näher geschildert und kommt zu dem Ergebnis: „Die strafwürdige Schuld verlangt einen bestimmten Grad an normativer Schuld und den Verzicht auf Strafe, falls ein Präventionsbedürfnis nicht besteht.“ Das entspricht im Ergebnis der von mir vertretenen Konzeption. Aber auch Yamanaka, der verehrte Jubilar, schreibt5 über seine Weiterentwicklung der Lehre von der strafwürdigen Schuld, dass sie durch meine Lehre von der Verantwortlichkeit „stark beeinflusst“ worden sei. Dieser Umstand gibt mir Veranlassung, in einer Yamanaka und dem deutsch-japanischen Meinungsaustausch gewidmeten Festschrift die Diskussion noch einmal aufzugreifen und den Versuch zu machen, das strafrechtliche „Grundlagenproblem“, das hier im Streit steht, einer weiteren Klärung zuzuführen.

II. Die Lehre von der doppelten Schuldminderung Die heute wohl noch überwiegende Auffassung6 führt die Straffreistellung auf die „Kumulationswirkung zweier Schuldminderungsgründe“ (Sternberg-Lieben) zurück. Dabei wird neben dem schuldmindernden Motivationsdruck, unter dem der Täter handelt, zu seinen Gunsten in Rechnung gestellt, dass er nicht nur ein fremdes Rechtsgut beeinträchtigt, sondern zugleich ein hochrangiges eigenes Rechtsgut (Leben, Leib oder Freiheit) oder das einer nahestehenden Person vor Schaden bewahrt. Dadurch werde das Unrecht seiner Tat verringert. Diese Unrechtsreduzierung bewirke auch eine weitere Verringerung der Schuld, aus der sich die doppelte Schuldminderung und damit die Straflosigkeit des Täters erkläre. Gegen diese Deutung der Strafbefreiung lassen sich aber mindestens acht Gründe geltend machen.

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Asada, in: FS Roxin, 2001, S. 519 ff. (536). Yamanaka, in: FS Roxin, 2001, S. 773 ff. (774, Fn. 8). 6 Ich beschränke mich hier auf die Anführung zweiter großer Kommentare, die umfassende Nachweise enthalten: Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 3 ff.; Sch/Sch/Lenckner/SternbergLieben, StGB, 29. Aufl. 2014, vor §§ 32 ff. Rn. 111. 5

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1. Die Straflosigkeit der Restschuld bleibt unerklärt Selbst wenn man eine doppelte Schuldminderung unterstellt, ist nicht recht ersichtlich, wieso diese zur Straflosigkeit führen soll. Denn eine Restschuld des Täters bleibt immer noch bestehen. Nach § 21 StGB führt selbst eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht zur Straflosigkeit, sondern zu einer lediglich fakultativen Strafmilderung. Mit dieser gesetzlichen Wertentscheidung ist es schwerlich zu vereinbaren, dass die Straflosigkeit nach §§ 35, 33 StGB auf diesem Grund beruhen soll. 2. Die bloße Unrechtsminderung im Sinne der kritisierten Auffassung ist auch sonst kein Strafbefreiungsgrund Eine Unrechtsminderung – wenn man das Vorliegen einer solchen einmal unterstellt – wird bei Rettungshandlungen auch sonst vom Gesetzgeber nicht mit Straffreiheit honoriert. Wer einen ihm nicht nahestehenden Menschen – aus welchen Gründen auch immer – auf Kosten eines Unbeteiligten rettet, bleibt voll verantwortlich und kann selbst im Falle des § 213 StGB noch eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren erhalten. Der höhere Motivationsdruck kann aber alleine die völlige Straflosigkeit in §§ 35, 33 StGB nicht erklären.7 3. Eine Unrechtsminderung durch Saldierung von Schädigung und Rettung ist unmöglich Aber schon die Annahme einer Unrechtsminderung überzeugt in den Fällen der §§ 35, 33 StGB nicht. Das Unrecht einer Tat wird durch die tatbestandsmäßig-rechtswidrige Rechtsgutsverletzung und deren Ausmaß bestimmt. Außerhalb dieser Verletzung liegende Umstände können daher nur berücksichtigt werden, wenn sie sich in gesetzlichen Rechtfertigungsgründen niedergeschlagen haben, wie dies etwa in § 34 StGB der Fall ist, wonach man aus Gründen mitmenschlicher Solidarität kleinere Einbußen hinnehmen muss, wenn dies zur Abwendung einer wesentlich größeren Gefahr unerlässlich ist. Hörnle8 sagt mit Recht: „Wurde die Solidaritätsschwelle überschritten, so handelt es sich nicht um ,ein bisschen Unrecht‘, sondern um ungemindertes Unrecht. Es spielt deshalb im Hinblick auf das Ausmaß des Unrechts keine Rolle, dass derjenige, der einen anderen tötet, damit sein eigenes Leben oder das eines Angehörigen retten kann.“ Neumann9 weist zusätzlich darauf hin, dass eine Verrechnung von Unrechtsquanten auch wegen „des höchstpersönlichen Charakters“ der in Rede stehenden Rechtsgüter unzulässig sei. 7

Dieses Argument findet sich auch bei Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013, 20. Kap. Rn. 3. 8 Hörnle, JuS 2009, 873 ff. (875); im selben Sinne Renzikowski, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 11, 2003, S. 269 ff. (275); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 222 ff. 9 Neumann, NK, 4. Aufl. 2013, § 35 Rn. 4.

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4. Die gesetzliche Regelung stellt nicht auf das Unrechtsquantum ab Das Operieren mit Unrechtsquanten ist zur Erklärung der Straflosigkeit in diesen Fällen auch deshalb ungeeignet, weil der Täter selbst dann straffrei ausgeht, wenn der angerichtete Schaden viel größer ist als der verhinderte. Wer in einem brennenden Haus zur Rettung seines Lebens drei vor ihm stehende Menschen von der Feuerleiter in den Tod stößt, ist nach § 35 StGB straflos, obwohl mindestens ein zweifaches Tötungsunrecht ohne Kompensation bleibt. Auch bei Tötungen zur Abwendung von Körperschäden übertrifft der zugefügte Schaden den Erhaltungseffekt der Notstandstat erheblich. 5. Die Ausnahmen des § 35 I, 2 StGB widersprechen dem Prinzip der doppelten Schuldminderung Wenn der Notstandstäter „die Gefahr selbst verursacht hat“ und deshalb strafbar bleibt, ändert das nichts an dem Wert des erhaltenen Rechtsguts. Sieht man aber die Selbstverursachung als eine die Unrechtsminderung wieder aufhebende Unrechtserhöhung an, so verfällt eine solche Einbeziehung rechtsguts- und tatbestandsferner Umstände in den Unrechtsbegriff der Beliebigkeit und ist ohne Erklärungswert. Denn die Verursachung (und selbst die Verschuldung) der Gefahr ist kein Tötungsunrecht. Ähnliches gilt, wenn der Täter „in einem besonderen Rechtsverhältnis stand“. Wenn ein Polizist oder Feuerwehrmann, um sich aus einer Lebensgefahr zu retten, einen Unbeteiligten tötet, erhält er dasselbe Rechtsgut wie ein anderer Notstandstäter in derselben Situation. Rogall10 beruft sich deshalb für die Ablehnung einer Unrechtsminderung auf eine erhöhte Pflichtenbindung, „so dass die an sich bei einer Notstandstat gegebene Unrechtsminderung durch das in der Verletzung dieser Pflicht liegende zusätzliche Unrecht wieder aufgewogen wird. Damit fehlt es aber an der von § 35 vorausgesetzten Minderung des Handlungsunwertes.“ Auf diese Weise wird jedoch der Ausgangspunkt der Theorie verlassen, weil der nach dieser Lehre herabgeminderte Erfolgsunwert nicht durch seine anderweitige Erhöhung, sondern schon durch eine Steigerung des Handlungsunwertes bedeutungslos gemacht wird. Auf das Ausmaß des Erfolgsunwertes kommt es danach also überhaupt nicht mehr an. Auch erklärt ja die Erhöhung der Pflicht und des Handlungsunwertes sich nicht durch ihre bloße Behauptung, sondern sie kann nur die Konsequenz eines die Straffreistellung verbietenden Sachgrundes sein, den die Lehre von der doppelten Schuldminderung aber im Dunkeln lässt.

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Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 3.

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6. Die Straflosigkeit auch des misslingenden Rettungsversuchs lässt den Erfolgsunwert ungemindert Die Lehre von der doppelten Schuldminderung ist auch insofern irreführend, als die in § 35 StGB angeordnete Straflosigkeit keineswegs einen durch die Erhaltung eines Rechtsguts herabgeminderten Erfolgsunwert voraussetzt. Denn auch die fehlgeschlagene Notstandstat führt nach § 35 I, 1 StGB zur Straflosigkeit. Rogall11 sagt dazu: „In diesen Fällen kann natürlich nur auf den Handlungs-(un-) wert abgestellt werden, ohne dass sich dadurch etwas am Ergebnis ändert.“ Wenn danach aber schon der Rettungswille zur Exkulpation führt, wird der die Strafbefreiung angeblich tragende Gedanke der Rechtsgutserhaltung bedeutungslos. Dass die Herabminderung des Handlungsunwertes durch einen bloßen Rettungswillen die Straflosigkeit nicht tragen kann, zeigt auch § 35 II StGB, der bei irriger Annahme einer Notstandssituation keineswegs eine generelle Straflosigkeit anordnet. Der Gedanke, dass eine zum Motivationsdruck hinzutretende Unrechtsminderung die Strafbefreiung erklärt, wird auch dadurch relativiert, dass § 35 nur eine „Gefahr“ für die darin genannten Rechtsgüter voraussetzt. Es wird also weder ein bestimmtes Ausmaß der Gefahr noch der Nachweis verlangt, dass diese sich bei einem Unterbleiben der Notstandstat verwirklicht hätte. Wer sich gegen einen Revolverschützen durch einen Schuss verteidigt und dabei notwendigerweise auch die Verletzung eines Unbeteiligten in Kauf nimmt, ist auch dann entschuldigt, wenn der Revolver des Angreifers ungeladen war. Auch insoweit kann von der Erhaltung eines Rechtsguts nicht die Rede sein, und dass der Wille dazu allein ebenfalls nicht ausreichen kann, wurde schon gezeigt (arg. § 35 II StGB). 7. Keine Straffreistellung bei der Rettung hoher Vermögenswerte Schließlich lässt sich aus der Saldierung von Unrechtsquanten auch kaum erklären, warum eine Unrechtshandlung – bei Überschreitung der Grenze des § 34 StGB – in vollem Umfang strafbar bleibt, wenn sie der Rettung aus einer anders nicht abwendbaren Gefahr für die wirtschaftliche Existenz dient. Rogall12 als Vertreter der Lehre von der doppelten Schuldminderung sagt dazu: „Hier versagt das Recht eine entschuldigende Wirkung bei Notstandstätern vor allem, um die verhaltensdeterminierende Kraft strafrechtlicher Normen nicht über Gebühr einzuschränken.“ Das ist gewiss richtig. Aber es handelt sich dabei um einen eindeutig präventiven Gesichtspunkt, der auf die Frage der Unrechtsminderung keinerlei Rücksicht nimmt.

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Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 11. Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 4.

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8. Das Fehlen einer Unrechtsminderung beim Notwehrexzess Auch beim Notwehrexzess liegt, wie Kindhäuser13 sagt, „nach überwiegender Auffassung … der tragende Grund für die Straflosigkeit in einer doppelten Schuldminderung“. Diese soll sich daraus ergeben, dass einerseits die im Gesetz genannten Affekte die Schuld mindern, andererseits aber auch die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs „das Maß des Unrechts“ (und infolgedessen auch der Schuld) herabsetzt.14 Bei Rogall15 heißt es, durch die Angriffsabwehr schaffe der Täter „zugleich einen dem Erfolgsunwert gegenüberstehenden Erfolgswert“, der neben dem Affekt zur Straflosigkeit führe. Doch ist das aus zwei Gründen keine stichhaltige Argumentation. Erstens gründet sich der Unrechtsvorwurf nur auf den Exzess, also auf die zur Abwehr des Angriffs nicht erforderliche, überschüssige Gewalt. Das Unrecht dieser durch Notwehr nicht gedeckten Gewalt kann aber nicht durch den Abwehrzweck gemindert werden, weil sie zur Abwehr unnötig war. Zweitens lässt sich auch mit der angeblichen Unrechtsminderung nicht erklären, warum nur die asthenischen Affekte (Verwirrung, Furcht oder Schrecken) die Straflosigkeit begründen, nicht aber Empörung oder Zorn, die durch den rechtswidrigen Angriff ausgelöst werden. Wenn Kühl16 meint, der aus den Motiven des § 33 StGB handelnde Exzesstäter „bewährt … das Recht“, müsste das doch für den aus Empörung oder Zorn handelnden Täter ebenso gelten, zumal da „sthenische“ Affekte die Motivation mit derselben Stärke beeinflussen können wie die im Gesetz genannten. Fazit: Ich kann also Rogall17 nicht zustimmen, wenn er sagt: „Im Ergebnis ist jedenfalls mit Nachdruck zu bestreiten, dass die Lehre von der doppelten Schuldminderung an Begründungsschwächen leidet.“ Sie ist im Gegenteil unhaltbar.

III. Die fehlende präventive Bestrafungsnotwendigkeit als Grund der Straffreistellung Nach der von mir schon vor 45 Jahren entwickelten und seither gegen mannigfache Einwände und Missverständnisse verteidigten Auffassung18 beruht die Straflosigkeit in den Fällen der §§ 35, 33 StGB nicht auf einer doppelten Schuldminderung, sondern auf dem zum affektbedingten Motivationsdruck hinzutretenden Fehlen einer präventiven Bestrafungsnotwendigkeit. 13

Kindhäuser, NK, 4. Aufl. 2013, § 33 Rn. 5. Kindhäuser lässt aber (Rn. 6) ebenso wie Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 12 Rn. 129/130 auch eine strafzweckorientierte Erklärung des § 33 StGB gelten. 15 Rogall, SK StGB, 2010, § 33 Rn. 1. 16 Kühl (Fn. 14), § 12 Rn. 129. 17 Rogall, SK StGB, 2010, § 35, Rn. 12. 18 Vgl. die Nachweise bei Roxin (Fn. 1), § 19 Rn. 5 Fn. 7 (am Ende). 14

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Diese Konzeption hat eine Reihe von Anhängern19 gefunden, wird aber nach wie vor auch vielfach abgelehnt und bedarf daher in Auseinandersetzung mit neueren Kritikern einer vertiefenden Begründung. Der Grundgedanke ist der, dass in den Fällen der §§ 35, 33 StGB ein Verzicht auf Strafe weder aus Gründen des Rechtsgüterschutzes unzulässig noch geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Durchsetzungskraft des Rechts zu erschüttern. Der Gesetzgeber kann also Nachsicht üben und dabei auf das Verständnis der Allgemeinheit rechnen. Im Einzelnen beruht das auf acht zusammenwirkenden Aspekten, die sich auf jeweils unterschiedliche präventive Gesichtspunkte zurückführen lassen. 1. Die das fehlende Präventionsbedürfnis begründenden Argumente a) Jeder kann in eine Notlage im Sinne der §§ 35, 33 StGB kommen Die Begehung von Straftaten liegt rechtstreuen Menschen normalerweise fern. Eine Notstandssituation oder ein rechtswidriger Angriff kann aber jeden treffen. Da niemand in einem solchen Fall im Voraus wissen kann, wie er reagieren wird (denn Angstreaktionen lassen sich kaum prognostizieren), wird es ihm recht sein, wenn er ggf., d. h. bei einer Rettung auf Kosten anderer oder einer Überschreitung der Notwehrgrenzen von der Milde des Gesetzgebers profitieren kann.20 Die entsprechenden Vorschriften werden also als sozial angemessen empfunden und begründen kein gesellschaftliches Strafbedürfnis. b) Es besteht keine spezialpräventive Sanktionsnotwendigkeit Der Täter der §§ 35, 33 StGB ist kein Krimineller. Er ist vielmehr ein sozial integrierter Bürger, der durch äußere Umstände in eine Gefahr geraten ist, aus der er sich nur durch die Beeinträchtigung eines anderen befreien konnte oder in der er aus ängstlicher Verwirrung die Grenze des Erlaubten überschritten hat. Da es sich bei den Tätern um normale Gesellschaftsmitglieder handelt, besteht keine Wiederholungsgefahr, so dass auch keine spezialpräventive Notwendigkeit einer Sanktionierung besteht. Hörnle21 findet es „plausibel, dass die Gefahr einer Tatwiederholung meist gering sein wird“. „Aber die Überlegung ,keine spezialpräventiven Bedürfnisse‘ ist generell nicht geeignet, die Forderung nach Straffreiheit zu begründen.“ Sie demonstriert das am Beispiel der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, bei denen unter heutigen 19 Im Einzelnen Roxin (Fn. 1), § 19 Rn. 5 Fn. 7 und speziell zu § 35 im selben Band § 22 Rn. 12. Zustimmend jetzt auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 717 ff. 20 Ähnlich Tonio Walter, in: FS Roxin II, 2011, S. 763 ff. (773 f.) in einer Abhandlung, die meiner Konzeption nahesteht. 21 Hörnle, JuS 2009, 873 ff. (876).

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Verhältnissen keine Wiederholungsgefahr besteht und die dennoch bestraft werden müssen. Das trifft bei den NS-Verbrechern zu und ist auch von mir immer betont worden.22 Meine Argumentation in den Fällen des Notstandes und des Notwehrexzesses beruht aber gerade darauf, dass weder hinreichende spezial- noch generalpräventive Gründe für eine Sanktionierung bestehen. So verhält es sich bei den NS-Tätern nicht. Denn deren Bestrafung ist generalpräventiv unerlässlich. Timpe23 hält mir entgegen, dass auch ein resozialisierungsbedürftiger Notstandstäter nach § 35 StGB exkulpiert werde, während umgekehrt in den Ausnahmefällen des § 35 I, 2 StGB eine Strafe eintrete, auch wenn kein Resozialisierungsbedürfnis bestehe. Aber dabei wird verkannt, dass eine etwaige Resozialisierungsbedürftigkeit sich jedenfalls nicht aus der Notstandstat ergibt und deshalb nicht zum Anlass einer Strafsanktion gemacht werden darf. Andererseits beruhen die Ausnahmen des § 35 I, 2 StGB auf generalpräventiven Erfordernissen, die, wie schon bei der Auseinandersetzung mit Hörnle bemerkt wurde, eine Bestrafung auch allein tragen können. c) Die Ausnahmen des § 35 I, 2 StGB lassen sich befriedigend nur generalpräventiv erklären Die Strafbefreiung für Notstandstaten wird in § 35 I, 2 StGB in zwei ausdrücklich genannten Fällen (Selbstverursachung der Gefahr und Bestehen eines besonderen Rechtsverhältnisses) vom Gesetzgeber zurückgenommen. Wenn man das auf ein erhöhtes Unrecht solcher Notstandstaten zurückführt, so ist das eine sehr unspezifische Erklärung. Denn es bleibt völlig offen, warum eine solche Unrechtserhöhung vorgenommen wird. Richtigerweise lässt sich das Bestehenbleiben der Strafbarkeit in beiden Fallgruppen aus jeweils unterschiedlichen generalpräventiven Gesichtspunkten herleiten.24 Wenn jemand die Gefahr, in der er sich befindet, in zurechenbarer Weise selbst verursacht hat,25 würde er das allgemeine Rechtsvertrauen erschüttern, wenn er die Folgen seines selbstgefährdenden Verhaltens durch die Schädigung Unbeteiligter straflos von sich abwenden dürfte. „Die Allgemeinheit hätte kein Verständnis dafür, wenn sich der Täter aus pflichtwidrig herbeigeführten Gefahren durch erhebliche Eingriffe in Rechtsgüter Unbeteiligter herausziehen könnte“, sagt Wolter26 mit

22

Roxin (Fn. 1), § 3 Rn. 19, 29; § 22 Rn. 12. Timpe, JuS 1984, 862. 24 Auch Neumann, NK, 4. Aufl. 2013, der sonst meiner Lehre eher kritisch gegenübersteht, nennt sie „zum Verständnis der Ausnahmeregelungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 hilfreich“. 25 Zu den damit verbundenen Streitfragen näher Roxin (Fn. 1), § 22 Rn. 44 ff. 26 Wolter, GA 1996, 213. 23

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Recht. Immerhin übt der Gesetzgeber noch so viel Nachsicht, dass er – je nach Lage des Falles – dem Richter eine fakultative Strafmilderung ermöglicht. Bei den besonderen Rechtsverhältnissen ist es dagegen die zentrale Aufgabe des Strafrechts – der Rechtsgüterschutz –, die aus präventiven Gründen vom Betroffenen (etwa Soldaten, Polizisten oder Feuerwehrleuten) ein Bestehen der Gefahr verlangt, zu deren Bekämpfung sie eingesetzt werden. Wenn solche Personen um ihrer eigenen Sicherheit willen den ihnen obliegenden Rechtsgüterschutz vernachlässigen und andere sogar straflos schädigen dürften, würde das die Sicherheit in intolerabler Weise beeinträchtigen und das Strafrecht diskreditieren. Deshalb ist in diesen Fällen auch mit Recht keine Strafmilderungsmöglichkeit vorgesehen. d) Die Strafbarkeit bei vermeidbar irriger Annahme eines Notstandes erklärt sich aus generalpräventiven Gründen Wenn jemand sich aus eigenem Verschulden nur einbildet, in Gefahr zu sein, kann er für die Schädigung Unbeteiligter nicht mit dem Verständnis der Allgemeinheit rechnen, so dass die Strafbarkeit erhalten bleiben muss. Da aber der schuldmindernde Motivationsdruck, der auf dem Täter lastet, derselbe ist wie bei einer wirklichen Notstandsgefahr, ist in diesen Fällen mit Recht eine obligatorische Strafmilderung vorgesehen. e) Die Seltenheit von Notstandstaten mindert das Schutzbedürfnis der Bürger und damit die Notwendigkeit einer Strafsanktion Ein weiterer Grund, der zum Fehlen einer präventiven Bestrafungsnotwendigkeit beiträgt, liegt in der Seltenheit von Notstands- und Exzesstaten. Es gibt kaum Entscheidungen zu § 35 StGB, und beim Notwehrexzess (§ 33 StGB), der etwas häufiger vorkommen mag, hat der Einzelne es selbst in der Hand, durch Vermeidung rechtswidriger Angriffe eine Opferrolle auszuschließen. Da also der Bürger kaum befürchten muss, Opfer solcher Taten zu werden, mindert dies das generalpräventive Strafbedürfnis, so dass unter Hinzunahme der weiteren Gründe, die gegen eine Sanktionierung sprechen, ein Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als durchaus angemessen erscheint. Zimmermann27 meint, obwohl er im präventionsorientierten Ansatz „eine insgesamt plausible Erklärung der Notstandsentschuldigung“ sieht, dass das von mir „flankierend bemühte Kriterium der Seltenheit der Situation“ nur „von bescheidener Überzeugungskraft“ sei; „denn die Tötung eines Ururgroßvaters oder die Vorbereitung eines Angriffskrieges ist ebenso selten wie unzweifelhaft strafbedürftig“. Aber das ist kein tauglicher Einwand. Denn im ersten Fall handelt es sich um ein durch keinerlei Gefahr motiviertes Tötungsdelikt, das mit einer Notstandstötung und der daraus resultierenden Reaktion des Rechtsbewusstseins völlig unvergleichbar ist 27

Zimmermann (Fn. 8), S. 226 unter Ausführung weiterer Kritiken in Fn. 835, 836.

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und wie jede andere ohne angstbedingten Motivationsdruck begangene Tötung selbstverständlich bestraft werden muss. Auch kann die Seltenheit von Tötungen nicht aus dem Verwandtschaftsverhältnis von Täter und Opfer hergeleitet werden. Ein Angriffskrieg aber bedroht – in völligem Gegensatz zu den Fällen der §§ 35, 33 StGB – das Leben von Millionen Menschen und erschüttert das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit in dem Maße, dass sogar schon seine Vorbereitung und die Aufstachelung dazu (§§ 80, 80a StGB), wenn es einmal dazu kommt, unter Strafe gestellt werden müssen. f) Die geringe Präventionswirkung einer Strafdrohung in den Fällen der §§ 35, 33 StGB erleichtert den Verzicht auf sie Es gibt zwar nicht wenige Menschen, die den in §§ 35, 33 StGB geschilderten Gefahren standhalten können, und sogar solche, die, ohne selbst in Gefahr zu sein, Leben und Gesundheit zur Rettung anderer aufs Spiel setzen. Aber gerade bei Menschen, die auf solche Situationen mit Angst reagieren, wird eine Strafdrohung wenig Einfluss auf ihr Handeln haben. Dem Opfer einer Notstands- oder Exzesstat wird also nicht viel an effektivem Schutz genommen, wenn der Gesetzgeber auf eine Bestrafung verzichtet. Denn ihm bleibt ja das Notwehrrecht erhalten. Rogall28 sagt ganz richtig: „Die Stellung des Eingriffsopfers ist … normativ betrachtet gar nicht so schlecht. Das Einzige, was ihm verlorengeht, ist die Strafbewehrung der Notstandshandlung. Aber diesen Verlust sollte er verschmerzen können, wenn es richtig ist, dass der Motivationsdruck in der Notstandssituation nicht immer, aber doch in aller Regel zur Wirkungslosigkeit des Pflichtansinnens führt.“ Natürlich ist auch dieses gegen eine präventive Bestrafungsnotwendigkeit sprechende Argument nur eines unter den vielen anderen, die den präventionsorientierten Ansatz tragen. Neumann29 will das hier vorgetragene Argument nicht gelten lassen. Denn damit sei „noch nicht erklärt, warum der Gesetzgeber auf die vermutete Motivationsschwäche mit Strafverzicht statt, wie in anderen Fällen eines situativen Drucks zur Normverletzung (Verdeckungsmord, § 211 StGB), mit Erhöhung des Motivationsdrucks der Norm durch Strafverschärfung reagiert.“ Das ist aber leicht zu erklären. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand zur Rettung aus einer unverschuldeten Gefahrenlage oder zur Verdeckung einer Straftat handelt. Das erste Motiv ist verzeihlich, das zweite unverzeihlich. Der Täter einer Straftat, der seine Situation selbst verschuldet hat, verdient keine Nachsicht, sondern muss durch Verschärfung der Strafdrohung von einer in den meisten Fällen noch weitaus schlimmeren Tat nach Möglichkeit abgehalten werden. Auch ist die drohende Gefahr einer Entdeckung von den Notstandsgefahren des § 35 StGB 28 29

Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 12. Neumann, NK, 4. Aufl. 2013, § 35 Rn. 5.

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weit entfernt und muss selbstverständlich hingenommen werden. Neumanns Kritik ist daher nicht geeignet, das vorgetragene Argument zu invalidieren. g) Die Einschränkung der Straffreistellung auf die Bewahrung höchstrangiger Persönlichkeitswerte und die Eingrenzung des begünstigten Personenkreises sind generalpräventiv bedingt Wenn der Gesetzgeber nur die Rettung aus Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit von Strafe freistellt, so lässt sich das weder aus psychologischen Gründen noch aus einer Unrechtsminderung erklären. Denn auch die Gefahr eines Verlustes hoher Vermögenswerte oder der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz kann einen hohen Druck erzeugen, diese Rechtsgüter auf Kosten anderer zu retten. Auch eine Unrechtsminderung auf Grund des „Erhaltungswertes“ ließe sich auf diese Weise gut begründen (sofern man eine solche Saldierung entgegen der hier vertretenen Meinung überhaupt für zulässig hält). Dem stehen aber generalpräventive Gründe entgegen. Die Sicherung der körperlichen Integrität ist eine primäre Aufgabe des Strafrechts. Deshalb ist es sinnvoll, der Selbsthilfe bei der Rettung solcher Rechtsgüter mit Nachsicht zu begegnen, wenn dem Staat ein Eingreifen nicht möglich ist. Im Verhältnis dazu haben Vermögenswerte einen geringeren Rang. Mit ihrem Verlust muss im Wirtschaftsleben aus vielerlei Gründen gerechnet werden. Es wäre daher generalpräventiv unangemessen, um ihretwillen eine über die Grenze des § 34 StGB hinausgehende Schädigung anderer oder gar Eingriffe in die vom Staat vorrangig zu schützende physische Integrität Unbeteiligter zu tolerieren. Entsprechendes gilt für die Beschränkung des Personenkreises, dessen Rettung auf Kosten anderer straflos bleibt. Wer zur Rettung seiner selbst oder nahestehender Menschen notgedrungen andere schädigt, kann wegen seiner für jedermann nachvollziehbaren persönlichen Bindungen und Gründe mit Verständnis und Nachsicht rechnen. Wer aber unabhängig davon eine Gefahr von einer Person auf die andere abwälzt, spielt ohne persönliche Not Schicksal und beeinträchtigt – weil die aus dem Näheverhältnis resultierenden Gründe wegfallen – die Rechtssicherheit in nicht mehr erträglicher Weise. Dies gilt auch deshalb, weil die Zahl möglicher Rettungsschädigungen dadurch in einer die Rechtssicherheit gefährdenden intolerablen Weise ausgeweitet würde. h) Die Beschränkung der Straffreiheit beim Notwehrexzess auf asthenische Affekte hat generalpräventive Gründe Ein generalpräventives Motiv liegt auch der Regelung des Notwehrexzesses zugrunde. Wenn der Gesetzgeber die Straffreistellung nur bei einem Handeln aus „Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ gewährt, privilegiert er Motive, die niemanden zur Nachahmung anreizen und die auch durch den Willen des Täters nicht hervorgerufen oder verstärkt, sondern allenfalls unterdrückt werden können.

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Wenn dagegen auch Affekte wie Wut, Empörung oder Zorn eine Notwehrüberschreitung straflos machen würden, würde das die Gefahr in sich bergen, dass der Täter seinen Aggressionen im Vertrauen auf die Straflosigkeit freien Lauf lassen würde. Das könnte ansteckend wirken und zu einer Verrohung des Notwehrrechts führen, die generalpräventiv nicht hinnehmbar wäre. Fazit: Ich glaube, die vorstehenden Gründe zeigen in ihrem Zusammenwirken mit aller Deutlichkeit, dass die Straffreistellung des Täters sich in den Fällen der §§ 35, 33 StGB aus dem Fehlen einer präventiven Bestrafungsnotwendigkeit überzeugend erklären lässt. Doch bedürfen noch fünf Einwände der Erörterung, die nicht einzelne Begründungsaspekte, sondern den präventiven Erklärungsansatz als solchen betreffen. 2. Prinzipielle Einwände a) Die angebliche Verwechselung von Ursache und Wirkung Rogall30 meint unter Berufung auf Stratenwerth/Kuhlen31 und andere Autoren, dass die Berufung auf das Fehlen präventiver Strafbedürfnisse die Gegebenheiten auf den Kopf stelle. In Wahrheit erkläre sich „das Fehlen präventiver Bedürfnisse aus dem Mangel an substanzieller Schuld und nicht umgekehrt.“ In ähnlicher Weise, aber ohne Berufung auf die auch von ihr abgelehnte doppelte Schuldminderung sagt ebenfalls Hörnle32, es handele sich bei der Berufung auf eine fehlende präventive Bestrafungsnotwendigkeit „nicht um ein eigenständiges Argument, sondern um ein Argument, das auf vorgelagerte Bewertungen angewiesen ist … Bezugnahmen auf Generalprävention benennen nur ein Sekundärphänomen.“ An diesen Aussagen ist richtig, dass natürlich jede Begründung für die Straffreistellung in §§ 35, 33 StGB auf die Verneinung einer Bestrafungsnotwendigkeit oder gar eines Bestrafungsrechtes hinausläuft, auch wenn man diese, wie Rogall, auf eine doppelte Schuldminderung oder, wie Hörnle (dazu IV.) auf staatstheoretische Gründe zurückführt. Wie meine Darlegungen gezeigt haben, ist aber das präventive Erklärungsmodell nicht so zu verstehen. Vielmehr ist ein präventives Strafbedürfnis nicht nur im Ergebnis zu verneinen. Auch die Voraussetzungen dieser Verneinung beruhen, wie sich aus meinen acht Gründen ergibt, samt und sonders auf präventiven Erwägungen. Damit erledigt sich der Einwand.

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Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 8 (weitere Nachweise in Fn. 27). Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 101. 32 Hörnle, JuS 2009, 876.

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b) Der angebliche Begründungszirkel Er lautet nach Tonio Walter:33 „In welchen Fällen gewährt § 35 Straffreiheit? In denen, die präventiv keine Strafe erfordern. Welche Fälle sind das? Die in § 35 erfassten.“ Das hört sich so an, als liefere der an den präventiven Notwendigkeiten orientierte Erklärungsansatz eine Behauptung ohne Begründung. Doch habe ich dieser These in der obigen Darstellung acht recht konkrete, aus dem Präventionsgedanken gewonnene Argumente unterlegt, die die gesetzliche Regelung nicht einfach paraphrasieren, sondern sachhaltige Gründe dafür liefern. c) Der Vorhalt mangelnder empirischer Fundierung Dieser Kritikpunkt klingt schon bei Walter an, wenn er im obigen Zusammenhang sagt, die „funktional inspirierten Autoren“ zeichneten sich „bislang von dem Erfordernis frei, empirisch zu belegen, wie Strafe präventiv wirke“. Am nachhaltigsten hat das Bernsmann34 vorgetragen: „Den general- und spezialpräventiven Ableitungen Roxins kann durchaus zugestimmt werden, doch ist das dabei verwendete ,Prinzip‘ so unscharf und inhaltlich so offen, dass es zur Herleitung der Grenzen der Straffreiheit untauglich wird.“ Tatsächlich wissen wir nur wenig über die empirischen Voraussetzungen und Wirkungen legislatorischer Präventionsbemühungen. Aber darauf kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Denn die Aufgabe des Interpreten ist es, die im Gesetzestext enthaltenen legislatorischen Einschätzungen und Zielsetzungen so plausibel zu erklären wie möglich. Die Lehre von der doppelten Schuldminderung kann dies genauso wenig leisten wie die noch zu erörternde „kontraktualistische“ Auffassung, zu deren Wortführern Bernsmann gehört. Die von mir bevorzugte Erklärung der gesetzlichen Regelung aus zahlreichen einander ergänzenden präventiven Gesichtspunkten vermeidet die Friktionen der anderen Lehren und hat die Überzeugungskraft von Common-Sense-Erwägungen, auf die kein Gesetzgeber verzichten kann. d) Die Anzweiflung einer Berufung auf das Verständnis der Allgemeinheit Walter35 leuchtet es nicht ein, „dass jede Notstandstat zugunsten des Personenkreises, den § 35 nennt, in der Öffentlichkeit so viel Verständnis findet, dass eine gesetzgeberische Nachsicht generalpräventiv vertretbar erscheint“. Er fragt: „Findet in der Öffentlichkeit Verständnis, wer zugunsten eines verhassten Angehörigen einen Unschuldigen tötet, weil er sich eine Erbeinsetzung erhofft?“

33

Tonio Walter, in: FS Roxin II, 2011, S. 771. Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand. Studien zu § 35 StGB, 1989, S. 215 (226). 35 Walter (Fn. 33), S. 770. 34

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Das ist ein wenig lebensnahes Beispiel, das aber den Grundsatz nicht erschüttern kann. Denn die Wertung des Gesetzgebers und das Verständnis der Allgemeinheit beruhen auf dem Prinzip der Familiensolidarität.36 Die Erforschung der in diesem Rahmen bestehenden emotionalen Beziehungen und Motive ist mit dem Schutz der Privatsphäre und dem Gebot der Rechtssicherheit unvereinbar. Walter selbst sagt an anderer Stelle,37 der Gesetzgeber müsse und dürfe „typisieren; die Balance zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit ist das Ziel“. Das gilt auch für Walters umgekehrtes Beispiel, mit dem er Verständnis für Handlungen postuliert, die nach dem Gesetz nicht zur Straffreiheit führen.38 „Und findet in der Öffentlichkeit wirklich kein Verständnis, wer zugunsten einer Frau, die er liebt, die ihm aber (noch) nicht im Sinne des § 35 nahesteht, einen anderen in höchster Not befristet der Freiheit beraubt?“ Das ist ein Grenzfall, dessen Beurteilung von den konkreten Umständen abhängt. Wenn es sich um eine Lebensrettung oder die Verhinderung schwerer Körperschäden handelt, würde wohl schon § 34 StGB eingreifen. Und wenn die Liebe auf gegenseitiger Zuneigung beruht, würde die Hilfe auch einer nahestehenden Person gelten. Ist aber beides nicht der Fall, bleibt festzuhalten: Irgendwo muss für das präventiv Tolerable eine Grenze gezogen werden; und das ist in § 35 StGB durch die Beschränkung der Straffreiheit auf Taten zugunsten nahestehender Personen in sachgerechter Weise geschehen. e) Die These, dass ein Normverstoß notwendig ein präventives Strafbedürfnis zur Folge habe Frister39 meint, „das generalpräventive Bedürfnis nach einer Zurückweisung des in der Straftat enthaltenen Normwiderspruchs“ sei „die notwendige Folge einer persönlich vorwerfbaren Verletzung der betreffenden Norm …“. „Würde die Rechtsordnung eine … Entscheidung, auf Grund einer existenziellen Notlage eine vorsätzliche Tötung zu begehen, als Widerspruch gegen das Tötungsverbot bewerten, so bestünde auch ein generalpräventives Bedürfnis, diesen Widerspruch durch eine Bestrafung des Täters zurückzuweisen.“ Er führt die Straflosigkeit im Falle des § 35 StGB daher auf einen fehlenden „Widerspruch gegen das Tötungsverbot“40 und nicht auf ein fehlendes präventives Bestrafungsbedürfnis zurück (zur Theorie vom fehlenden Verbotsverstoß vgl. näher IV. 1.). Die Auffassung, dass jeder schuldhafte Normwiderspruch eine Strafe erfordere, ist jedoch nicht haltbar. Nach §§ 153 ff. StPO kann in vielen Fällen auf eine Bestrafung schuldhafter Deliktsbegehung verzichtet werden. § 60 StGB lässt ein Absehen 36 In diesem Sinne auch Hörnle, JuS 2009, 877, und Neumann, NK, 4. Aufl. 2013, § 35 Rn. 6. 37 Walter (Fn. 33), S. 774. 38 Walter (Fn. 33), S. 770. 39 Frister, JuS 2013, 1057 (1063). 40 Frister, JuS 2013, 1064.

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von Strafe sogar bei vorsätzlicher Tötung (in den Fällen des § 213 StGB) zu. Das Vorliegen einer schuldhaften Tat und die Notwendigkeit ihrer Bestrafung sind also verschiedene Probleme. Gerade Notsituationen sind typische Beispiele dafür, dass es Gründe geben kann, auch bei schuldhafter Unrechtsverwirklichung auf deren Sanktionierung durch Strafe zu verzichten.

IV. Das kontraktualistische Begründungsmodell Eine zuerst wohl von Bernsmann41 näher begründete Auffassung stützt die Regelung des § 35 StGB auf eine staatsphilosophische Grundlage. Der Staat sei durch den Gesellschaftsvertrag („kontraktualistisch“) verpflichtet, das Leben seiner Bürger zu schützen. Wo er dies nicht könne, fehle ihm bei einer Selbsthilfe des Bürgers die „Strafkompetenz“.42 „Der Staat muss das Leben schützen und achten und kann unter keinen Umständen die Hinnahme des Todes bei Strafe gebieten.“43 Er sieht daher in § 35 StGB einen Strafausschließungsgrund. Diese Konzeption hat – mit verschiedenen Abwandlungen – in der neueren Literatur manche Anhänger gewonnen. Zimmermann44 hat unter Berufung auf Bernsmann, Renzikowski45 und Momsen46 diese Lehre weiter ausgearbeitet. Hörnle47 dekretiert (unter mehrfachem Hinweis auf Bernsmann): „Es kollidierte … mit einem Staatskonzept, das Individuen ernst nimmt …, wenn von Bürgern generell gefordert würde, sich auch normgetreu zu verhalten, wenn der Preis dafür ihr Leben wäre.“ In ähnlicher Weise (und unter Anführung Hörnles) sagt Frister48, der Verzicht auf Strafe könne „nur bedeuten, dass die Rechtsordnung in einer solchen Entscheidung … keinen Widerspruch gegen das Tötungsverbot sieht, dieses also in einer existenziellen Notlage nicht beachtet werden muss“. An anderer Stelle heißt es,49 „dass nach dem individualistischen Weltbild unserer Gesellschaft für jeden Einzelnen die eigene Existenz nicht nur ungleich wichtiger ist, sondern auch ungleich wichtiger sein darf als die Existenz der jeweils anderen. Dies erklärt die Regelung des § 35 StGB. Eine im entschuldigenden Notstand begangene Tat verdient deshalb keinen Vorwurf.“ Auch Neumann50 will „Tötungen unter den Voraussetzungen des § 35 … nicht als ,normale‘ Tötungen … behandelt“ wissen und erklärt: „Entscheidend dürfte hier der 41

Bernsmann (Fn. 34). Bernsmann (Fn. 34), S. 382. 43 Bernsmann (Fn. 34), S. 308. 44 Zimmermann (Fn. 8), S. 227 – 262. 45 Renzikowski (Fn. 8), S. 269, 276 ff. 46 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 168 ff. 47 Hörnle, JuS 2009, 873 ff. (877). 48 Frister, JuS 2013, 1057 ff. (1064). 49 Frister (Fn. 7), 20. Kap. Rn. 5. 50 Neumann, NK, 4. Aufl. 2013, § 35 Rn. 5, 6, 6a. 42

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Gesichtspunkt sein, dass sich auf anerkannte gesellschaftliche Wertungen berufen kann, wer seine Angehörigen und sich selbst auf Kosten gleichwertiger Interessen Außenstehender rettet.“ Ein solches Verhalten sei „situationsadäquat“. Er hält das mit einer Begründung der Straflosigkeit durch „vertragstheoretische Überlegungen“ für „vereinbar“, ohne sich freilich auf diese festzulegen. Eine solche „kontraktualistische“ oder ein individualistisches Staatskonzept in Anspruch nehmende Begründung der Straflosigkeit aus Not begangener Unrechtshandlungen ist jedoch abzulehnen.51 Ich nenne nur vier Gründe. 1. Die ausschließliche Geltungsmacht des kodifizierten Gesetzes In einer parlamentarischen Demokratie beruht das Strafrecht auf Gesetzen und kann in seiner Reichweite nicht auf gesellschaftsvertragliche Begründungen „im Anschluss an staatstheoretische Erwägungen von Pufendorf, Fichte und insbesondere Hobbes“52 gestützt werden. Diese können als rechtspolitische Forderungen ins Gespräch gebracht werden, aber nicht das geltende Recht konterkarieren. Dieses aber hat den Fall gesetzlich geregelt und nicht etwa wegen einer angeblichen „Unverbietbarkeit der Selbsterhaltung“53, wie es die Konsequenz des Ansatzes sein müsste, in einen rechtsfreien Raum der Unverbotenheit verwiesen. Denn in den Fällen des § 35 ist die Notstandshandlung genau wie die Überreaktion des Angegriffenen in der Situation des § 33 rechtswidrig und – wenn auch infolge der Gefahrenlage in minderem Maße – schuldhaft. Sie belässt dem Opfer sein Notwehrrecht, so dass der Täter seine notwehrbedingte Tötung ggf. hinnehmen muss. Es bleibt unverständlich, wie das mit der These zu vereinbaren sein soll, dass vom Täter keine Unterlassung der Notstandstat gefordert wird. Wenn der Gesetzgeber Nachsicht übt und auf Strafe verzichtet, weil keine präventiven Gründe sie unerlässlich machen, kann das angesichts der gesetzlichen Regelung also keine Rücknahme der Verhaltensnorm bedeuten. Das wäre auch „vertragstheoretisch“ nicht einmal sinnvoll. Denn die Verpflichtung des Staates zum Lebensschutz besteht natürlich gegenüber dem Täter und dem Opfer gleichermaßen. Daher bietet das Aufrechterhalten der Norm bei gleichzeitigem Sanktionsverzicht einen vernünftigen Kompromiss in einer vom Staat nicht zu verantwortenden und nicht schadensfrei zu bewältigenden Notsituation. Frister will den Widerspruch zwischen der postulierten Unverbietbarkeit der Notstandstat und ihrer aus dem Gesetz zu entnehmenden Rechtswidrigkeit durch eine Spaltung des Rechtswidrigkeitsbegriffes auflösen.54 Er sagt allerdings selbst:55 51

Zutreffende Kritik bei Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 9. Zimmermann (Fn. 8), S. 228. 53 Schünemann, in: FS Lampe, 2003, S. 537 ff. (558). 54 Er findet damit Beifall bei Zimmermann (Fn. 8), S. 230 Fn. 856. 55 Frister, JuS 2013, 1064. 52

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„Die Bewertung eines nicht zu unterlassenden Verhaltens als rechtswidrig erscheint auf den ersten Blick geradezu widersinnig …“ Dass dies doch nicht so ist, begründet er,56 indem er zwischen der Perspektive des Rechts und derjenigen des Täters unterscheidet: „Mit der Rechtswidrigkeit steht zwar fest, dass die Tat aus der neutralen Perspektive eines nicht an dem zu lösenden Rechtskonflikt Beteiligten negativ zu bewerten und deshalb nach Möglichkeit zu verhindern ist. Dies bedeutet aber noch nicht, dass auch von dem Täter selbst erwartet wird, sich gegen die Begehung der Tat zu entscheiden.“ Das ist aber keine konstruktiv mögliche Lösung. Denn die Erklärung eines Verhaltens als rechtswidrig impliziert den Verstoß des Täters gegen eine Verhaltensnorm. Mit Recht sagt Sternberg-Lieben,57 Fristers Unterscheidung enthalte einen „Widerspruch in sich“, „da das ,Rechtswidrigkeitsurteil‘ nicht nur eine ,Bewertungs‘-, sondern zugleich eine ,Bestimmungsfunktion‘“ habe. Etwas zurückhaltender als Frister, aber tendenziell ähnlich, äußert sich Hörnle,58 indem sie den Widerspruch auf die Schuld verlagert: „Der Täter wird nicht im engeren Sinne ,ent-schuldigt‘ (seine Schuld bleibt bestehen) – aber der Staat darf ihm nicht vorwerfen, nicht sein Leben geopfert zu haben.“ Wenn der Täter in den Fällen des § 35 nicht entschuldigt ist, kann jedoch die Konsequenz nur sein, dass ihm zwar eine – juristische59 – Schuld zugesprochen, dass aber auf eine Bestrafung des schuldhaften Verhaltens verzichtet wird. Auch Hörnles Lösung führt daher aus dem Dilemma des hier kritisierten Ansatzes nicht heraus. Der Gedanke einer aus staatsphilosophischen Lehren abgeleiteten Unverbietbarkeit von Notstandstaten ist daher mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren. 2. Die Erstreckung der Straffreiheit auf andere Fälle als die Lebensrettung lässt sich aus gesellschaftsvertraglichen Konstruktionen nicht erklären Selbst wenn man bei existenziellen Notlagen – also wo es um Leben und Tod geht – der Ansicht folgen wollte, dass der Staat dem Bedrohten nicht das Recht verweigern darf, sich auf Kosten Unbeteiligter zu retten, versagt dieser Gedanke doch bei den geringeren Gefahren, deren Abwendung § 35 StGB ebenfalls straflos stellt. Schünemann60 sagt mit Recht, „die schlichte These der Unverbietbarkeit der Selbsterhaltung“ passe „nur für die Bedrohung des Lebens, nicht aber für die

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Frister (Fn. 7), 20. Kap. Rn. 6. Sch/Sch/Lenckner/Sternberg-Lieben, StGB, 29. Aufl. 2014, vor § 32 Rn. 110. 58 Hörnle, JuS 2009, 877. 59 Dass der Staat keine sittlichen Vorwürfe erheben sollte, habe auch ich immer betont, vgl. Roxin (Fn. 1), § 19 Rn. 46. 60 Schünemann (Fn. 53), S. 558. 57

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bloße Bedrohung von Körper oder Freiheit“. Ebenso betont Rogall,61 die hier abgelehnte Theorie lasse sich „nur – wenn überhaupt – in Bezug auf das Leben durchhalten“. Tatsächlich argumentieren diejenigen, die gegen das Verbot einer Fremdschädigung durch den Notstandstäter eintreten, fast ausschließlich mit dem Lebensnotstand. Hörnle62 sieht das Problem und will deshalb bei fehlender Lebensgefahr eine „Entschuldigung nur in Extremfällen“ in Betracht ziehen (sie spricht von mehrjährigem Freiheitsverlust oder einer „bleibenden Lähmung des ganzen Körpers“). Das widerspricht aber eindeutig dem Gesetz, wo nur von einer „Gefahr für … Leib oder Freiheit“ die Rede ist, obwohl der Gesetzgeber, wenn er das gewollte hätte, ohne Weiteres von einer „sehr schweren“ oder „extremen“ Gefahr hätte sprechen können. Gewiss kann eine leichte Gefahr nicht ausreichen, sondern muss durch die Zumutbarkeitsklausel des § 35 I, 2 StGB ausgeschlossen werden. Wenn man aber die Straflosigkeit auf „Extremfälle“ beschränkt, bleibt von der Straflosigkeit der vom Gesetzgeber prinzipiell uneingeschränkt gelassenen Notstandshandlung zugunsten von „Leib oder Freiheit“ fast nichts übrig. Die scheinbare Täterfreundlichkeit einer staatstheoretisch begründeten Unverbietbarkeit schlägt dann zum schweren Nachteil des Notstandstäters aus. Wesentlich plausibler erscheint mir die Annahme, dass der Gesetzgeber in den Fällen des § 35 StGB zwar einen Verstoß gegen die Sollensnorm bejaht, aber aus Rücksicht auf die in der Angstreaktion des Täters liegende, der kriminellen Motivation entbehrende menschliche Schwäche eine Bestrafung nicht für notwendig hält. Die dafür sprechenden Präventionserwägungen habe ich schon dargelegt. Zimmermann63, der auf eine rigorose Einschränkung der Strafbefreiung bei Leibes- und Freiheitsgefahren verzichtet, bezieht sich zwar auch „in erster Linie“ auf den Lebensschutz. Doch richteten sich die „Ansprüche eines vernünftigen Individuums“ auch auf den „Entwurf eines einigermaßen sorgenfreien Lebens“. Damit werden aber die Grenzen dessen, was der Staat seinen Bürgern gesellschaftsvertraglich garantieren kann, weit überschritten. Das gilt umso mehr, wenn die Verwirklichung dieses Entwurfs auf Kosten Unbeteiligter erfolgen soll. 3. Auch die in § 35 I, 2 StGB ausdrücklich genannten Ausnahmen von der Strafbefreiung lassen sich mit einer Unverbietbarkeit der Notstandstaten nicht vereinbaren Wer bei einer Notstandstat „die Gefahr selbst verursacht hat oder … in einem besonderen Rechtsverhältnis“ steht, befindet sich in derselben Bedrohungssituation wie ein anderer Notstandstäter. Die gesetzlich statuierten Ausnahmen sind also 61

Rogall, SK StGB, 2010, § 35 Rn. 9. Hörnle, JuS 2009, 878. 63 Zimmermann (Fn. 8), S. 235. 62

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mit der angeblichen gesellschaftsvertraglichen Garantie der in § 35 genannten Rechtsgüter nicht zu vereinbaren. Was die „Selbstverursachung“ betrifft, so meint Zimmermann,64 es sei „nicht so, dass die Notstandslage … ihrer exkulpierenden Wirkung verlustig ginge. Die eigentliche Notstandstat“ bleibe „subjektiv nicht zurechenbar“. Vorwerfbar sei „nicht die Selbsterhaltungstat an sich, sondern die zeitlich vorgelagerte Verletzung der Obliegenheit, die Verursachung der Gefahr zu unterlassen“. Aber eine solche Obliegenheitsverletzung ergibt natürlich kein Tötungs- oder Verletzungsdelikt, wenn die eigentliche Tathandlung „nicht zurechenbar“ ist.65 Bei den „besonderen Rechtsverhältnissen“ soll die Freiwilligkeit der Gefahrübernahme das Bestehenbleiben der Strafbarkeit erklären.66 „Bei gefahrträchtigen Aufgaben liegt in deren Übernahme die Erklärung, eigene Verletzungen in Kauf zu nehmen …“67 Aber einerseits müssen die zu ertragenden Gefahren nicht notwendig freiwillig übernommen sein (man denke an Soldaten bei Bestehen der allgemeinen Wehrpflicht); der Gesetzgeber sagt nichts von der „freiwilligen Übernahme eines besonderen Rechtsverhältnisses“. Und andererseits ist problematisch, ob gesellschaftsvertragliche Reduktionen der staatlichen Strafbefugnisse, wenn man sie dem § 35 StGB zugrunde legt, durch stillschweigende individuelle Übernahmeerklärungen aufgehoben werden können. Weitaus einleuchtender ist es, auf die schon dargelegten präventiven Notwendigkeiten abzustellen, die selbst einer postulierten freiwilligen Übernahme zugrunde liegen. Selbst Zimmermann68 weist auf die „unerträglichen Konsequenzen“ einer Straflosstellung hin, und Hörnle69 hält es „mit der Verpflichtung zum Schutz anderer“ für „unvereinbar, Risiken auf die zu Schützenden abzuwälzen“. Warum diese generalpräventiven Erfordernisse „eine gesellschaftsvertragliche Begründung der Strafbewehrung jener erhöhten Gefahrtragungspflichten nicht ersetzen“ können und sollen,70 ist mir unerklärlich. 4. Das konktraktualistische Modell ist auf den Notwehrexzess unanwendbar Gegen die hier kritisierte Begründung spricht auch der Umstand, dass sie auf den Notwehrexzess von vornherein nicht passt. Denn wenn der Gesetzgeber die Notwehr

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Zimmermann (Fn. 8), S. 242 f. Dieser Einwand gilt auch gegenüber den differenzierteren Ausführungen von Hörnle, JuS 2009, 879, die prinzipiell ebenfalls auf eine Obliegenheitsverletzung abstellt. 66 Zimmermann (Fn. 8), S. 247. 67 Hörnle, JuS 2009, 879. 68 Zimmermann (Fn. 8), S. 246. 69 Hörnle, JuS 2009, 879. 70 Zimmermann (Fn. 8), S. 246 f. 65

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auf das Maß des Erforderlichen beschränkt, impliziert das die Forderung, eine Überschreitung dieser Grenze zu unterlassen. Frister will gleichwohl eine Erklärung der Strafbefreiung aus einem fehlenden präventiven Strafbedürfnis nicht gelten lassen:71 „Soweit die Verteidigung als strafrechtliche Schuld begründende Normverletzung bewertet wird, besteht auch ein generalpräventives Bedürfnis, die Geltung der verletzten Norm durch eine strafrechtliche Ahndung der Tat zu demonstrieren.“ Dass dies nicht stichhaltig ist, wurde schon oben (III. 5.) angesichts derselben Argumentation im Falle des § 35 StGB dargelegt. Frister72 will stattdessen den § 33 StGB „als eine typisierende Regelung des auf die Erforderlichkeit der Verteidigung bezogenen Erlaubnistatbestandes verstehen“. Denn es liege „sehr nahe, dass der Verteidiger die Existenz des milderen Verteidigungsmittels weder erkannt hat noch erkennen konnte“. Gegen eine Umdeutung des § 33 in eine Irrtumsvorschrift sprechen aber zwei entscheidende Gründe. Erstens sind „Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ kein Nährboden für Erforderlichkeitsüberlegungen. Auch der Bericht des Sonderausschusses für das neue StGB73 fasst den Fall ins Auge, dass der Täter „sich infolge des Affektes überhaupt keine Gedanken macht, sondern instinktiv reagiert“. Zweitens hat der Sonderausschuss bei seinen Beratungen74 die Formulierung „überschreitet der Täter, ohne dies zu erkennen, die Grenzen der Notwehr“ in einer Grundsatzabstimmung ausdrücklich verworfen. Es ist daher ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber die Straflosigkeit des Notwehrexzesses auf eine falsche Beurteilung der Sachlage durch den Exzesstäter anstatt auf die Nachsicht mit der Angstreaktion von Angriffsopfern stützen wollte.

V. Schluss Mein Ergebnis ist also: Die Straflosigkeit bei Notstandstaten folgt nicht aus einer doppelten Schuldminderung oder einer staatsphilosophisch („kontraktualistisch“) begründeten Unverbietbarkeit von Notstandshandlungen. Ebenso wenig ergibt sich die Straflosigkeit des Notwehrexzesses aus doppelter Schuldminderung oder einem unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum. Vielmehr fehlt es an der spezialund generalpräventiven Notwendigkeit einer Strafsanktion, wenn Taten nach § 35 StGB ohne kriminelle Motivation aus Angst um das Leben oder eine erhebliche Beeinträchtigung hochrangiger Persönlichkeitsrechtsgüter des Täters, eines Angehörigen oder einer anderen nahestehenden Person begangen werden oder ein rechtswidriger Angriff eine angstbedingte Überreaktion nach sich zieht. 71

Frister (Fn. 7), 16. Kap. Rn. 38. Frister (Fn. 7), 16. Kap. Rn. 39. 73 BT-Drucks. V/4095, 23. 4. 1969, S. 14. 74 Protokolle V, 1821 (91. Sitzung vom 14. 12. 1967). 72

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In den Begriffen der japanischen Dogmatik ausgedrückt: Der Täter handelt rechtswidrig und schuldhaft, aber es fehlt die „strafwürdige Schuld“. Über die Einzelheiten werden wir mit den japanischen Kollegen noch diskutieren müssen. Mein Anliegen war es deshalb, nicht nur meine eigene Position zu verteidigen, sondern auch alle anderen in Deutschland vertretenen Lehren vorzustellen und kritisch zu hinterfragen. Vor allem aber habe ich den Wunsch, Keiichi Yamanaka mit meinem Beitrag zu ehren. Er war einst mein Schüler und ist heute nicht nur ein bedeutender Gelehrter, sondern auch einer der wichtigsten Vermittler zwischen der japanischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft. Ich widme ihm diese Studie mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag! Möchten Ihnen, lieber Freund Yamanaka, noch viele schöpferische Jahre und uns und unseren Familien noch häufige Begegnungen vergönnt sein!

Institutionelle Tatsachen und pluralistische Rechtsgeltung* Frank Saliger

I. Institutionelle Tatsachen, Ethik und Recht 1969 hat Searle in Anknüpfung an Anscombe die Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen in die sprachphilosophische Debatte um eine Theorie der Sprechakte eingeführt. Danach besteht eine signifikante Differenz zwischen rohen („natürlichen“) Tatsachen, die unabhängig von allen menschlichen Institutionen existieren, und institutionellen Tatsachen, die nur innerhalb von menschlichen Institutionen existieren. Beispiel für eine rohe Tatsache ist, dass die Sonne rund 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist, Beispiele für institutionelle Tatsachen sind Spiele, Heiraten, Parlamente und Gesetze.1 Die Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen ist in der Wissenschaft auf eine relativ breite Resonanz gestoßen. Sie hat nicht nur in der Sprachphilosophie, sondern auch in der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, ja vielfach sogar in der juristischen Dogmatik Widerhall gefunden. Letzteres zeigt sich etwa bei der Frage der Abgrenzung von deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen2, der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum3 sowie insbesondere der Abgrenzung von strafbarem (untauglichen Versuch) und straflosem Wahndelikt.4 Für unsere Fragestellung einschlägig sind die Rezeptionen in der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. So verwenden Weinberger und MacCormick die Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen im Rahmen ihres institutionalisti* Vortrag gehalten am 20. 08. 2011 auf dem von Klaus Lüderssen initiierten Workshop „Wirtschaftsethik und Rechtsquellenlehre“ im Institut für Law and Finance im Rahmen des 25. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 1 Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt am Main 1971 (deutsche Übersetzung der englischen Ausgabe von 1969), S. 78 ff.; ders., Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Reinbek bei Hamburg 1997 (deutsche Übersetzung der englischen Ausgabe von 1995), S. 37 ff. 2 Darnstädt JuS 1978, 441 (443); NK-Puppe, StGB 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 31, 45 ff.; LKVogel, StGB, Bd. 1 12. Aufl. 2007, § 16 Rn. 23 f. 3 Stellvertretend U. Neumann, FS-Puppe, 2011, S. 171 (181 ff.). 4 Burkhardt JZ 1981, 681 (683); Puppe, FS-Herzberg, 2008, 275 (277); U. Neumann (Fn. 3), 171 (182 ff.).

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schen Rechtspositivismus.5 Gärtner zieht in ihrer vor allem auf Searle basierenden Untersuchung zu der Frage „Ist das Sollen ableitbar aus einem Sein?“ Konsequenzen u. a. für die Frage der Rechtsgeltung. Sie gelangt zu einer empirisch verstandenen generell-konkreten Anerkennungstheorie, wonach eine konkrete Rechtsnorm gilt, wenn ihre Befolgung überwiegend wahrscheinlich ist, was in der Regel bei der Befolgung durch die Mehrheit der Bevölkerung bzw. der Normadressaten der Fall ist.6 Noch näher zu unserer Fragestellung führt eine Rezeption der institutionellen Tatsachen durch U. Neumann, der die Rechtsgeltung als institutionelle Tatsache begreift. Danach ist das Recht jenseits von normativistischen und realistischen Geltungskonzeptionen ein soziales Faktum, dessen Sinn ein Sollen ist. Denn „erst die moderne Sprachphilosophie liefert mit der Theorie der institutionellen Tatsachen ein Modell, das es erlaubt, das Verhältnis von Faktizität und Normativität ohne erkenntnistheoretisch fragwürdige Annahmen überzeugend zu bestimmen und die Kluft zwischen Sein und Sollen unter Verzicht auf metaphysische Annahmen zu überbrücken.“7 Ins Herz unseres Themas schließlich trifft die Fragestellung, die Lüderssen mit der Theorie der institutionellen Tatsachen verbindet. Hinsichtlich der Bedeutung von Natur der Sache und Konventionen für die Normativität des Rechts (Stoffbestimmtheit der Rechtsidee) nimmt er Bezug auf die Searleschen Begriffe von naturimmanenten und beobachterrelativen Eigenschaften sowie von rohen und institutionellen Tatsachen, die durch kollektive oder individuelle Zuweisung geschaffen werden. Lüderssen ist der Auffassung, dass diese Begriffe „bis in die Wortwahl hinein mit der traditionellen Lehre von der Natur der Sache“ verknüpft werden können.8 Und mit Bezug u. a. auf performative Sprechakte im Recht gibt er die Maßgabe: „Die Zukunft der Regulierungsverhältnisse im Wirtschaftsleben, insbesondere des Finanzmarktes, wird einen durchlässigen Begriff von Rechtsgeltung und Unternehmensethik ertragen müssen, und deshalb allmählich die der Einheit von System, Kodifikation und Souveränität folgende einfache Vorstellung einer staatlichen Rechtsgeltung verabschieden.“9 5 Weinberger, Einleitung. Ausgangspunkte des Institutionalistischen Rechtspositivismus, in: MacCormick/Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 11 (22 ff.); MacCormick, Das Recht als institutionelle Tatsache, in: MacCormick/ Weinberger a.a.O., S. 76 (78). 6 Gärtner, Ist das Sollen ableitbar aus einem Sein? Eine Ontologie von Regeln und institutionellen Tatsachen unter besonderer Berücksichtigung von John R. Searle und der evolutionären Erkenntnistheorie, 2010, S. 359. 7 U. Neumann, Rechtswissenschaft als säkulare Theologie, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 318 (325); ders., Das Problem der Rechtsgeltung, in: ders., a.a.O., S. 224 (233). 8 Lüderssen, „Methodenfragen im Umgang mit der Sachlogik des Finanzmarktes“ – Grenze oder Herausforderung juristischer Intervention?, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, Berlin 2011, S. 241 (275). 9 Lüderssen (Fn. 8), S. 241 (277).

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Wie man sieht, verbinden sich mit dem Searleschen Begriff der institutionellen Tatsachen große Leistungen und Hoffnungen in der Rechtsphilosophie. Ich möchte im Folgenden in zwei Schritten hinterfragen, ob der Begriff diese Erwartungen erfüllen kann. Im ersten Schritt rekonstruiere ich kritisch Searles Theorie der institutionellen Tatsachen als zentrales Element seiner Theorie der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (unten II.). Dazu werde ich insbesondere die Unterscheidung von institutionellen Tatsachen und brute facts (II. 1.), die Differenzierung von regulativen und konstitutiven Regeln (II. 2.), die Bedeutung der institutionellen Tatsachen für das Recht (II. 3.) sowie seine Konzeption des Versprechens behandeln (II. 4.). Dabei wird immer wieder auch auf Einwände eingegangen werden. Im zweiten Schritt erfolgt eine kursorische Analyse der Bedeutung der institutionellen Tatsachen für die Regelbildung und Regelgeltung in Ethik und Recht (unten II.). Im Einzelnen streife ich die Problematik des Sein-Sollen-Dualismus (II. 1.), kläre danach die Aussagekraft der institutionellen Tatsachen für die Abgrenzung von Recht und Ethik (II. 2.), um abschließend auf die Bedeutung der institutionellen Tatsachen für die Frage eines Rechtspluralismus aus nichtstaatlichen und staatlichen Rechtsquellen einzugehen (II. 3.). Letztere Frage einer privaten Rechtsetzung wird, wie zahlreiche Phänomene belegen – etwa die International Financial Reporting Standards, der Deutsche Corporate Governance Kodex oder der IDW S4-Standard der Wirtschaftsprüfer10 –, vor allem im Wirtschafts(straf)recht, aber auch im Gesundheitswesen zunehmend praxisrelevant. Der Beitrag ist dem verehrten Jubilar Keiichi Yamanaka gewidmet in Respekt vor seinen großen Verdiensten um die Vermittlung von japanischer und deutscher Strafrechtswissenschaft.

II. Searles Theorie der institutionellen Tatsachen Zur Rekonstruktion von Searles Theorie der institutionellen Tatsachen stütze ich mich auf seine Werke „Sprechakte“ von 1969 und „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ von 1995.11 Searles Theorie erschließt sich am besten, wenn man bei seiner Unterscheidung zwischen brute facts und institutionellen Tatsachen ansetzt. 1. Institutionelle Tatsachen und brute facts Searle unterscheidet im Anschluss an Anscombe zwei Klassen von Tatsachenbehauptungen über die Welt. Die erste Klasse bilden die brute facts oder natürliche bzw. – genauer – rohe (unbehandelte) Tatsachen. Charakteristisch für die Vorstellung roher Tatsachen ist, dass sie sich auf Dinge körperlicher oder geistiger Art beziehen 10 Dazu exemplarisch Möllers, Standards als sekundäre Rechtsquellen, in: ders. (Hrsg.), Geltung und Faktizität von Standards, 2009, S. 143 (162 ff., 166 ff.). 11 Siehe die Nachweise oben in Fn. 1.

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und Gegenstand vor allem der Naturwissenschaften sind. Das entsprechende physische oder psychische Wissen entsteht auf der Grundlage einfacher empirischer Beobachtungen, in denen Sinneserfahrungen registriert werden. Rohe Tatsachen sind z. B. Bäume, Berge, Flüsse, die Lage von Dingen oder Bewegungsgesetze.12 Neben den rohen Tatsachen identifiziert Searle eine zweite Klasse von Tatsachen. Diese baut auf den rohen Tatsachen auf13, lässt sich aber nicht auf eine Reihe einfacher Aussagen über physische oder psychische Eigenschaften von Sachlagen zurückführen. So bestehen Fußballspiele, eine Hochzeitsfeier, Gerichtsverfahren oder ein Gesetzgebungsakt aus einer Menge physischer Bewegungen. Doch beschreiben diese physischen Vorgänge nicht den Sinn jener Ereignisse als Fußballspiel, Hochzeitsfeier, Gerichtsverfahren etc. Dieser erschließt sich erst, wenn bestimmte Bedingungen institutioneller Art miteinbezogen werden. Beispielsweise ermöglicht erst die Existenz der Institution des Geldes, dass das mit verschiedenen Mustern bedruckte Papier in meiner Geldbörse ein 10-Euro-Schein ist. Diese Tatsachen können deshalb institutionelle Tatsachen genannt werden, die wirkliche Tatsachen sind, deren Vorhandensein indes anders als bei den natürlichen Tatsachen die Existenz bestimmter menschlicher Institutionen voraussetzt (in den Beispielen die Institutionen des Fußballspiels, der Heirat, des Gerichtsverfahrens etc.).14 Den Grund für die Abhängigkeit dieser Gruppe von Tatsachen von menschlichen Institutionen identifiziert Searle im Begriff der konstitutiven Regel. Am Beispiel des Fußballspiels: Gleichgültig, welche statistischen Regelmäßigkeiten man auch während der Beobachtung der physischen Bewegungsvorgänge eines Fußballspiels feststellt – z. B. regelmäßige Personenkonstellationen beim Anstoß, Freistoß oder Eckball –, es ist nicht möglich, mit Hilfe dieser Regelmäßigkeiten das Fußballspiel als Fußballspiel zu beschreiben. Denn es fehlen alle Begriffe, die von konstitutiven Regeln abhängen, und damit fehlen alle wahren Aussagen, die unter Verwendung eben jener Begriffe über das Fußballspiel gemacht werden können, wie Anstoß, Freistoß oder Eckball.15 Insoweit stellen Institutionen nach Searle Systeme konstitutiver Regeln dar. Jeder institutionellen Tatsache liegt eine (konstitutive) Regel bzw. ein System von Regeln der Form „X gilt als Y im Kontext K“ zugrunde.16 Im Beispiel: Das Handheben gilt als Gebot im Kontext einer Kunstauktion. Die Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen gründet bei Searle auf einer noch vorgelagerten Differenzierung, nämlich der zwischen immanenten und beobachterrelativen Eigenschaften der Welt. Naturimmanent sind die Eigenschaften eines Gegenstandes, die unabhängig von uns existieren wie Masse, Zusammensetzung und Größe eines Gegenstandes. Als beobachterrelativ können dagegen alle Eigenschaften eines Gegenstandes gelten, die relativ auf die Intentionalität von 12

Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 79. Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 44 f. 14 Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 80 f. 15 Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 82; ders., Konstruktion (Fn. 1), S. 38. 16 Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 81; ders., Konstruktion (Fn. 1), S. 38.

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Beobachtern oder Benutzern existieren wie die Funktion eines Gegenstandes als Schraubendreher. Im Beispiel: Eine immanente Tatsache zum Ausdruck bringt etwa der Satz „Dieses Objekt ist ein Stein“, eine beobachterrelative Tatsache der Satz „Dieses Objekt ist ein Briefbeschwerer“.17 Soweit beobachterrelative Eigenschaften eine Funktionszuweisung der Form „X gilt als Y“ (Beispiel: Dieser Stein gilt als Trainingsgerät) enthalten, sind alle institutionellen Tatsachen beobachterrelativ.18 Die Unterscheidung von rohen und institutionellen Tatsachen ist kritisiert worden. So hat MacCormick den Begriff der rohen Tatsachen im Hinblick auf den Umstand, dass auch deren Feststellung regelabhängig ist, für problematisch gehalten.19 In der Tat weist Searle selbst darauf hin, dass die Feststellung roher Tatsachen sowohl von der Sprache als auch von bestimmten Institutionen zur Messung abhängig ist. So setzt die Feststellung, dass die Sonne rund 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist, die Institution der Sprache und die Institution der Entfernungsmessung in Kilometern voraus. Das ändert für Searle aber nichts daran, dass die rohe Tatsachenfeststellung, dass es eine bestimmte Entfernung zwischen Sonne und Erde gibt, unabhängig von jeder Institution besteht.20 Das lasse sich für institutionelle Tatsachen so nicht sagen, die infolge ihrer Beobachterrelativität abhängig von menschlicher Existenz sind.21 2. Regulative und konstitutive Regeln Soweit für das Searlesche Konzept der institutionellen Tatsachen der Begriff der konstitutiven Regel zentral ist, bedarf seine Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Regeln der Prüfung. Searle nennt regulativ solche Regeln, die bereits bestehende oder unabhängig von ihnen existierende Verhaltensformen regulieren. Z. B. reguliere das Rechtsfahrgebot das Fahren, aber das Fahren kann bereits vor dem Bestehen einer solchen Regel existieren. Als weiteres Beispiel erwähnt Searle die Anstandsregeln, die unabhängig von einer Regulierung existierten.22 Demgegenüber formen konstitutive Regeln nicht nur 17

Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 19 ff. Vgl. Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 23 ff. 19 MacCormick, Über analytische Jurisprudenz, in: MacCormick/Weinberger (Fn. 5), S. 124 (134). 20 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 37; vgl. auch ders., Sprechakte (Fn. 1), S. 81 Fn. 21, wo noch von der Abhängigkeit von Konventionen die Rede ist. 21 Gärtner (Fn. 6), S. 356 formuliert das leicht modifizierend so: „Institutionelle Tatsachen unterscheiden sich damit von natürlichen Tatsachen neben ihrer größeren und vor allem schnelleren Wandelbarkeit … nur darin, dass Regelhaftigkeit bereits bei ihrer Genese eine Rolle spielt, da sie aus einem Geist resultieren, der Tatsachen immer in Form von Regelhaftigkeit verarbeitet und folglich auch entsprechend erschafft.“ Vgl. auch Weinberger (Fn. 5), S. 30, der für die rohen Tatsachen darauf insistiert, dass sie zum Bereich der rein beschreibenden, nicht-stellungnehmenden Informationen gehörten. 22 Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 54; ders., Konstruktion (Fn. 1), S. 38. 18

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vorhandene, sondern schaffen oder prägen auch neue Möglichkeiten des Verhaltens. So würden die Regeln des Schachspiels nicht eine schon bestehende Tätigkeit regeln, sondern dieses Spiel erst konstituieren. „Die Regeln sind für Schach konstitutiv in dem Sinn, dass Schachspielen eben dadurch konstruiert wird, dass man den Regeln gemäß spielt.“23 Nach Searle ist für regulative Regeln eine imperativische Form charakteristisch. Beispiel: Beim Betreten einer Gesellschaft hat man die Anwesenden zu grüßen. Konstitutive Regeln können darüber hinaus andere Formen annehmen, die mehr definitorischen Charakter besitzen. Beispiel: Im Fußball ist ein Tor erzielt, wenn der Ball während des Spiels zwischen Torpfosten und unterhalb der Querlatte vollständig über die Torlinie gespielt wird.24 Searle hat die Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Regeln auch für die Deutung des Strafrechts eingesetzt. Seiner Ansicht nach sei für das Strafrecht prägend, dass seine Regeln regulativ und nicht konstitutiv seien. So habe das Strafrecht die Aufgabe, bestimmte früher existierende Verhaltensformen wie das Töten zu verbieten. Da man zur Effektuierung der regulativen Regeln Sanktionen benötige, müsse man dem Gesetzesbrecher einen neuen Status zuweisen. Das bedeutet, dass dem Tötungstäter (X) unter bestimmten Bedingungen (K: Mordmerkmale, Gerichtsverfahren) der Status „wegen Mordes verurteilt“ (Y) zugewiesen wird. Insoweit würde das Regulativ „Du sollst nicht töten“ in das angemessene Konstitutiv „Töten unter bestimmten Umständen gilt als Mord, der mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird“ überführt.25 Ob diese Rekonstruktion des Strafrechts der komplexen Struktur von Strafrechtsnormen gerecht wird, mag bezweifelt werden. So gibt es im StGB zahlreiche Normen, die keinen regulativen Charakter haben wie die Definitionen in § 11 StGB oder die Vorschriften zum Antragserfordernis bei bestimmten Delikten. Nicht weiter behandelt werden soll auch die Frage, ob sich aus der Differenzierung unterschiedliche Anforderungen an die Rechtsgeltung ergeben. U. Neumann z. B. hält die Rechtsgeltungsfrage bei konstitutiven Regeln für unproblematisch, weil sie sich schlicht aus der Struktur der institutionellen Tatsache ergebe. Bei regulativen Regeln hingegen deutet er eine Spezifizierung an, gibt aber zu bedenken, dass sich mit der Qualifizierung einer Norm als rechtliche Regel eine prima-facie-Geltung der Norm verbinde.26 Wichtiger erscheint mir der Umstand, dass Searle selbst seine Unterscheidung als nicht perfekt angesehen hat.27 Das verrät auch sein Hinweis, dass eine verwandte Un-

23

Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 38; ders., Sprechakte (Fn. 1), S. 54 f. Vgl. Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 55. 25 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 60. 26 U. Neumann, Das Problem der Rechtsgeltung, in: ders. (Fn. 7), S. 224 (235 mit Fn. 38). 27 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 39. 24

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terscheidung von Rawls eingeführt worden sei.28 Dagegen ist allerdings festzustellen, dass es Rawls in dem in Bezug genommenen Aufsatz nicht um die Unterscheidung von regulativen und konstitutiven Regeln geht, die gar nicht angesprochen wird, sondern um die offenkundig anders gelagerte Unterscheidung zwischen der Rechtfertigung einer Praxis und der Rechtfertigung einer einzelnen Handlung.29 In der Tat ist gegen Searle mit Recht gerügt worden, dass der historische Aspekt, ob eine Verhaltensform bereits besteht (regulative Regel) oder erst geschaffen wird (konstitutive Regel), zufällig ist und für den Regelbegriff kaum entscheidend sein kann.30 Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Fixierung Searles auf die konstitutiven Regeln als Kennzeichen der institutionellen Tatsachen der Regelkomplexität institutioneller Tatsachen gerecht wird. Warum wird bei Searle etwa, um im Beispiel des Schachspiels zu bleiben, der gesamte Bereich der strategischen Schachregeln, die Anleitungen zur Erhöhung der Siegwahrscheinlichkeit enthalten, nicht berücksichtigt?31 Entgegen der Kritik kann man Searle freilich nicht vorwerfen, er habe übersehen, dass zu Institutionen auch normative Regeln gehörten.32 Zum einen zeigt bereits die angesprochene Searlesche Deutung des Strafrechts ein Zusammenspiel von normativen und konstitutiven Regeln. Zum anderen ist es eine im Wesentlichen begriffliche Frage, ob man Regeln, die bei einem Spiel bestimmte Spielzüge erlauben, zu den konstitutiven Rahmenregelungen des Spiels rechnet (so Searle) oder als eigenständige normative Regeln, die ein Sollen und Dürfen bestimmen, konzipiert (so z. B. Weinberger).33 3. Institutionelle Tatsachen und Recht Institutionelle Tatsachen besitzen nach Searle die konstitutive Struktur „X gilt als Y im Kontext K“, wobei es sich bei Y vor allem um nicht-physische Statuszuweisungen handelt.34 Mit dieser Struktur ist der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht nur ein erheblicher Möglichkeitsraum eröffnet (Beispiel: Der thailändische Kronprinz Vajiralongkorn hatte seinen mittlerweile verstorbenen Pudel „Foo Foo“ zum air chief marshal in der Royal Thai Air Force erhoben35). Institutionelle Tatsachen können nach Searle nur innerhalb eines Komplexes systematischer Beziehungen existieren. Im Beispiel: Um in einer Gesellschaft mit Geld operieren zu können, 28

Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 38 Fn. 9. Rawls, Zwei Regelbegriffe, in: Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, 1992, S. 135 ff. 30 Weinberger (Fn. 5), S. 11 (24). 31 Vgl. Weinberger (Fn. 5), S. 11 (27). 32 So aber Weinberger (Fn. 5), S. 11 (26). 33 Siehe Weinberger (Fn. 5), S. 11 (26). 34 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 54 ff. 35 Siehe McDonald, Thai politics becomes a dog’s dinner, in: The Sydney Morning Herald v. 12. 2. 2011. 29

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benötigt die Gesellschaft ein System, Güter und Dienstleistungen gegen Geld zu tauschen. Um über dieses Austauschsystem verfügen zu können, muss die Gesellschaft wiederum ein System von Eigentum und Besitz haben.36 Da sich die Struktur „X gilt als Y im Kontext K“ beliebig wiederholen lässt, also der X-Terminus einer höheren Ebene der Y-Terminus einer unteren Ebene sein kann, entsteht ein hierarchisches System institutioneller Tatsachen. Im Beispiel: Zum Bundespräsidenten wählbar (Y) ist jeder Deutsche (X), der das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat (K). Um Deutscher sein zu können, muss man eine Y-Statusfunktion einer niedrigeren Ebene haben, nämlich u. a. die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.37 Searle unterscheidet insoweit u. a. kodifizierte und nicht kodifizierte institutionelle Tatsachen. Die Notwendigkeit einer Kodifizierung hängt davon ab, wie wichtig eine gesellschaftliche Frage ist. Searle zufolge bedürfen z. B. institutionelle Tatsachen wie Eigentum, Ehe oder Geld der Kodifizierung in expliziten Gesetzen, während Freundschaft, Verabredung oder Cocktailparty im Regelfall nicht kodifizierungsbedürftig sind.38 Gesetze stellen damit für Searle kodifizierte institutionelle Tatsachen dar, was sich auf den gesamten Bereich des positivierten Rechts erstrecken lässt. Die konstitutive Struktur institutioneller Tatsachen beinhaltet dabei in zweifacher Hinsicht normative Implikationen. Das gilt zunächst für den Umstand, dass Statuszuweisungen im Rahmen institutioneller Tatsachen häufig über die Verleihung bzw. Verteilung von Rechten, Privilegien, Verantwortlichkeiten, Pflichten etc. erfolgen. Insoweit transportieren institutionelle Tatsachen deontische Macht in Gestalt von Berechtigungen, Befugnissen, Erlaubnissen usw. auf den Statusträger.39 Darüber hinaus schafft jede institutionelle Tatsache erst die Möglichkeit missbräuchlicher Verwendungen. Im Beispiel: In dem Augenblick, in dem eine Gesellschaft Geld als institutionelle Tatsache anerkennt, entsteht die Möglichkeit und später regelmäßig auch Realität von Falschgeld.40 In beiderlei Hinsicht entstehen die normativen Implikationen allein kraft menschlicher Übereinkunft. Searle formuliert, dass „wir überall dort, wo es um menschliche Institutionen geht, eine gesellschaftlich geschaffene normative Komponente akzeptieren. Wir akzeptieren, dass mit einer Person, die einen ihr zugeschlagenen Baseball einfach aufisst, irgendetwas nicht stimmt.“41

36

Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 45. Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 89 ff. 38 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 97 ff. 39 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 110 f. 40 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 58. 41 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 156.

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4. Searles Konzeption des Versprechens Den näheren Gehalt dieser Normativität vermittelt Searle mit seinem berühmten Beispiel des Versprechens (promising game). Searle vertritt die These, dass sich aus einem Sein ohne Hinzunahme normativer Prämissen ein Sollen ableiten lässt. Dazu bildet er folgende bekannte Ableitungskette aus Aussagesätzen: 1. Jones hat geäußert, „Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen.“ 2. Jones hat versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen. 3. Jones hat sich der Verpflichtung unterworfen (sie übernommen), Smith fünf Dollar zu zahlen. 4. Jones ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen. 5. Jones muss Smith fünf Dollar bezahlen.42

Searle ist der Ansicht, dass die ersten vier Sätze reine Aussagesätze bezeichnen, die ohne Hinzuziehung normativer Elemente in Gestalt offener oder versteckter Wertaussagen oder moralischer Prinzipien auseinander ableitbar sind. Träfe das zu, so hätte Searle erwiesen, dass man aus einem Sein (Aussagesätze 1 bis 4) ein Sollen (Satz 5) ableiten kann. Zentral im Ableitungszusammenhang von Searle ist, dass der Aussagesatz zu 1 unter bestimmten empirischen Bedingungen einen Versprechensakt darstellt. Searle begreift das Versprechen als performative Äußerung und illokutionäre Sprechhandlung. Das bedeutet, dass jedes Versprechen ein Akt ist, der die Übernahme einer Verpflichtung enthält, das Versprochene zu tun.43 Damit verbindet sich bereits mit der Institution des Versprechens notwendig die Übernahme einer normativen Verpflichtung, aus der sich letztlich der normative Schlusssatz 5 deduzieren lässt. Bei diesem Schluss von einem Sein auf ein Sollen ist wichtig zu sehen, dass Searle selbst nicht behauptet, aus brute facts ein Sollen abzuleiten. Er verficht lediglich die These, aus den normativ präformierten institutionellen Tatsachen – am Beispiel des Versprechens – ein Sollen deduziert zu haben. Die Relevanz dieser Schlussfolgerung für die Theorie der institutionellen Tatsachen ergibt sich für Searle daraus, dass performative Äußerungen häufig bei der Schaffung institutioneller Tatsachen verwendet werden. Performative Äußerungen sind Deklarationen, bei denen der vom propositionalen Gehalt des Sprechakts repräsentierte Sachverhalt durch die erfolgreiche Verrichtung des Sprechakts geschaffen wird. Beispiel: Institutionelle Tatsachen können mit der performativen Äußerung von Sätzen wie „Die Versammlung ist eröffnet“ oder „Ich ernenne Sie zum Vorsitzenden“ erzeugt werden.44 Die normativen Implikationen des Versprechensbeispiels gelten damit für den gesamten Bereich institutioneller Tatsachen. 42

Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 264 ff. Searle, Sprechakte (Fn. 1), S. 266. 44 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 44. 43

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III. Institutionelle Tatsachen und Regelbildung bzw. Regelgeltung in Ethik und Recht Was folgt aus der Searleschen Theorie der institutionellen Tatsachen für unser Thema einer pluralistischen Rechtsgeltung, also einer Rechtsgeltung, die sich aus staatlichen wie nichtstaatlichen Rechtsquellen speist? Eine Antwort fällt schon deshalb nicht leicht, weil Searle sich zu dieser Fragestellung, jedenfalls in den zwei von mir herangezogenen Hauptwerken, nicht äußert. Gleichwohl können in drei Problemfeldern mittelbar relevante Feststellungen getroffen werden.

1. Institutionelle Tatsachen und die Sein-Sollen-Problematik Das betrifft zunächst die Frage, ob sich mit Hilfe des Begriffs der institutionellen Tatsachen der Sein-Sollen-Dualismus tatsächlich überwinden lässt. Die Searlesche Analyse des Versprechens ist bekanntlich bis heute stark umstritten. Kritisiert wird u. a., dass Searle einen mehrdeutigen Begriff des Versprechens gebraucht, der normative und deskriptive Bedeutungselemente enthalte; dass die Aussagesätze 1 bis 4 sich sowohl deskriptiv als auch normativ verstehen ließen; und dass Searle nur unter der impliziten Annahme zu seiner Schlussfolgerung gelange, dass die meisten Mitglieder der Gesellschaft sich die konstitutiven Regeln des Versprechens zu eigen gemacht und anerkannt hätten. Von einem gelungenen Nachweis des Schlusses von einem Sein auf ein Sollen durch Searle könne mithin keine Rede sein.45 Es ist hier nicht der Raum, in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Kritik einzutreten. Wichtig erscheint mir zweierlei: Zum einen sollte Einigkeit darüber zu erzielen sein, dass Begriff und Sprachpraxis des Versprechens normative Konnotationen beinhalten. Im Begriff des Versprechens liegt es, dass ich mich in der Zukunft zu einem bestimmten Verhalten bereit erkläre. Dieser Bindungsmodus für die Zukunft findet als normativer Sinn des Versprechens seine Umsetzung in der Sprachpraxis des Versprechens. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Versprechen aufrichtig oder mit Vorbehalt abgegeben wird. Denn vom objektiven Empfängerhorizont her, der das Versprechen als institutionelle Tatsache prägt, kommt es nur darauf an, ob die konkrete Versprechenshandlung vom Empfänger mit normativer Bindungswirkung (wie im Regelfall) verstanden werden durfte oder nicht. Dass es ausnahmsweise Versprechen gibt, die einen solchen (rechtlichen) Bindungsmodus nicht enthalten (Beispiel: das Verlöbnis gemäß § 1297 BGB), ist unschädlich. Zum anderen kann es bereits als Erkenntnisfortschritt gewertet werden, hinsichtlich der Frage der Unzulässigkeit eines Sein-Sollen-Schlusses zwischen rohen und institutionellen Tatsachen zu differenzieren. Ob Searle dann bezüglich der institutionellen Tatsachen ein solcher Schluss erfolgreich gelungen ist, ist wiederum eine Frage der Begrifflichkeiten und Perspektiven. Isoliere ich im Versprechen die norma45 Vgl. den Überblick zur Kritik mit Auseinandersetzung und Nachweisen bei Gärtner (Fn. 6), S. 44 ff.

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tive Komponente zu selbständigen Prämissen, dann ist Searle kein Sein-SollenSchluss gelungen, sondern lediglich ein Sollen-Sollen-Schluss. Ordne ich alle fünf Sprechhandlungen im Versprechens-Beispiel dem Sein zu, so liegt ebenfalls kein Sein-Sollen-Schluss, sondern nur ein Sein-Sein-Schluss vor. Allein wenn man mit Searle den institutionellen Tatsachen Seins-Qualität zuspricht und Aussage 5 als normative Schlussfolgerung interpretiert, kann ein gelungener Sein-Sollen-Schluss angenommen werden. Wie dem auch sei: Die Amalgamierung von Empirischem und Normativem bei der institutionellen Tatsache macht diesen Begriff attraktiv für neuere Ansätze in der Rechtsgeltungslehre, sei es, dass die Geltung des Rechts aus seinem Charakter als sozialer Institution jenseits von Normativismus und Realismus abgeleitet wird46, sei es, dass man – was dem soziologisch-philosophischen Ansatz von Searle durchaus entspricht – unter Rückgriff auf Searle für eine generell-konkrete Anerkennungstheorie votiert.47 2. Institutionelle Tatsachen und die Abgrenzung von Ethik und Recht Weniger ertragreich ist die Searlesche Theorie der institutionellen Tatsachen für die Abgrenzung von Ethik, Moral und Recht. Das liegt bereits daran, dass Searle sich diese Frage in den beiden herangezogenen Werken ebenfalls nicht explizit gestellt hat. Soweit es Searle vorrangig um eine Theorie der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht, behandelt er die institutionellen Tatsachen nicht geschieden nach Gegenstandsbereichen und Quellen, so dass man regelmäßig auf bloße Aufzählungen stößt wie Geld, Eigentum, Regierungen, Ehe, Restaurants etc.48 Abgrenzungsansätze werden allenfalls im Vorbeigehen erkennbar, so wenn Searle, wie bereits ausgeführt, die Notwendigkeit einer Kodifizierung von institutionellen Tatsachen in expliziten Gesetzen nach der gesellschaftlichen Wichtigkeit des Problembereichs bestimmt.49 Ergänzend formuliert Searle im Zusammenhang mit der Schaffung institutioneller Tatsachen folgendes allgemeines Prinzip: „Je größer die Bedeutung des neuen institutionellen Status ist, desto eher sind wir geneigt zu fordern, dass er durch explizite, nach strikten Regeln zu vollziehende Sprechakte geschaffen wird.“50 Dass Searle hier hauptsächlich eine Abgrenzung zum Recht im Auge hat, darauf deuten seine Beispiele hin wie Krieg, Präsidentenwahl, Eigentum, eheähnliche Gemeinschaft. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass die Searleschen Schwereformeln (gesellschaftliche Wichtigkeit, Größe der Bedeutung) nicht nur 46

Oben I mit Fn. 7. Oben I mit Fn. 6. 48 Vgl. Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 11, 14. 49 Vgl. oben II. 3. mit Fn. 38. 50 Searle, Konstruktion (Fn. 1), S. 126. 47

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vage bleiben, sondern auch sachlich nicht notwendig die Grenze zum Recht markieren. Denn institutionelle Tatsachen kann man auch außerhalb des Rechts kodifizieren und durch explizite Sprechakte vollziehen. 3. Institutionelle Tatsachen und Rechtspluralismus Differenziert fällt die Einschätzung der Bedeutung institutioneller Tatsachen für die Frage des Rechtspluralismus aus, also die Frage, ob jenseits staatlicher Rechtsquellen eine nicht in den Staat integrierte private Rechtsetzung zulässig sein kann. Die Vermutung von Lüderssen, dass sich die Searleschen Begriffe von naturimmanenten und beobachterrelativen Eigenschaften sowie von rohen und institutionellen Tatsachen „bis in die Wortwahl hinein mit der traditionellen Lehre von der Natur der Sache“ verknüpfen lassen51, kann ich nicht bestätigen. Die Searleschen Unterscheidungen von rohen und institutionellen Tatsachen sowie von naturimmanenten und beobachterrelativen Eigenschaften sind hauptsächlich klassifikatorisch motiviert im Rahmen seiner Ontologie sozialer Tatsachen. Insoweit fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass jedenfalls die brute facts oder die naturimmanenten Eigenschaften von Gegenständen Verbindlichkeitsappelle erhöben. Anderes gilt für die institutionellen Tatsachen. Aus der gemeinsamen konstitutiven Grundstruktur institutioneller Tatsachen „X gilt als Y im Kontext K“ ergibt sich bereits eine formal-normative Übereinstimmung der Regelbildung in den verschiedenen Bereichen von Moral, Ethik und Recht, die das staatliche Rechtsquellenmonopol strukturell unterläuft. Das gilt in verstärktem Maße, wenn material-normative Interdependenzen zwischen privater und staatlicher Regelbildung hinzukommen. Tragen diese eine Indiz- und Vermutungswirkung sowie einen Vertrauensschutz auch für private Regelbildung, so mag ihre Qualifizierung als sekundäre Rechtsquelle nicht unmöglich erscheinen.52

51 52

Oben I mit Fn. 8. Dafür etwa Möllers (Fn. 10), S. 143 ff.

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I. Die 3 Stufen der Strafgerechtigkeit 1. Wenn ich über die philosophische Grundfrage des Strafrechts kat’exochen spreche, so muss ich mit den Philosophen beginnen, die diese Grundfrage vor über 2.400 Jahren zum ersten Mal außerhalb religiöser Zusammenhänge gestellt und analysiert haben. Ich nenne Sokrates und Plato, Protagoras und Aristoteles. Wir verdanken Protagoras den Strafzweck der Verbrechensverhütung, der so genannten Prävention1, während Aristoteles die gerechte Strafe als einen Sonderfall der ausgleichenden Gerechtigkeit versteht – nicht als formales Vergeltungsprinzip nach dem Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ des Alten Testaments der Bibel, sondern im Sinne einer proportionalen Wiederherstellung einer gerechten Verteilung von Gewinn und Verlust2. Schwieriger zu interpretieren ist die Straftheorie von Plato und Sokrates, die nach Meinung von Seneca im Lager von Protagoras stehen3, aber meiner Meinung nach eher als Schöpfer einer eigenen Sühnetheorie der Strafe gesehen werden müssen. 2. Anstelle dieser Frage nach der zutreffenden Interpretation historischer Denksysteme, die traditionell in der Rechtsphilosophie einen großen, meiner Meinung nach zu großen Raum einnimmt, will ich eine der heutigen, vergleichsweise weit weniger komplizierten Diskussion entsprechende Antwort auf die Frage zu geben versuchen, ob die Zufügung eines Übels an einen Menschen, der zuvor einem anderen ein Übel zugefügt hat, mit unseren fundamentalen Gerechtigkeitsüberzeugungen in Einklang gebracht werden kann. Dabei zwingt mich der beschränkte Raum, die Ge1

Plato, Protagoras, in: Sämtliche Werke (hrsg. v. Lambert Schneider), Bd. 1 S. 76. Auf die verstreuten Bemerkungen von Aristoteles zur Strafe kann hier nicht näher eingegangen werden, es finden sich Passagen, die fast schon die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs vorwegnehmen (s. etwa Nikomachische Ethik IV 4, 236: „Denn die Masse der Menschen ist so geartet, daß sie sich nicht von zarter Scheu bestimmen läßt, sondern von der Furcht, und schlechter Handlungen sich enthält nicht weil sie schimpflich sind, sondern weil sie Strafe eintragen. Indem sie ihren Affekten nachleben, jagen sie den ihrem Geschmack zusagenden Lüsten nach und den Mitteln dieser teilhaftig zu werden, und meiden die dem gegenüberstehenden Quellen der Unlust“), gegenüber der wohl zentralen Formulierung im 7. Kapitel: „Der Richter sucht, durch die Strafe einen Ausgleich herbeizuführen, indem er dem Täter seinen Vorteil entzieht.“ 3 Seneca, De ira, liber I, XIX, 7. 2

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rechtigkeitsfrage lediglich auf der ersten Stufe der Legitimation in einer abstrakten Weise zu erörtern, wie sie von den als Frucht jahrtausendelanger Bemühungen entwickelten Straftheorien, aber auch in der allerneuesten „kommunikativen Straftheorie“ traktiert wird. Und ich muss es einer späteren Gelegenheit vorbehalten, aus der unbestrittenen Prämisse, dass der Vorgang des Strafens gerecht sein muss, weitere Konsequenzen abzuleiten, die auf zwei weiteren, jeweils konkreteren Ebenen in den Blick treten: Die Beantwortung der abstrakten Frage, ob die staatliche Strafe durch die Idee der Schuldvergeltung oder durch ihren Präventionszweck gerechtfertigt werden kann, bildet nämlich eigentlich immer nur die erste Stufe, auf die sich als zweite Stufe die Frage anschließt, welche Verhaltensweisen überhaupt als Auslöser für die Strafe in Betracht kommen, also was der Staat bei Strafe verbieten darf bzw., anders formuliert, wie groß der Unwert eines Verhaltens sein muss, damit die Strafe deswegen sei es zur Vergeltung, sei es zur Prävention verhängt werden darf. Die Beschreibung und Abgrenzung des strafbaren Verhaltens ist deshalb keine im Ermessen des Gesetzgebers stehende Aufgabe, sondern ein Teilaspekt der Strafgerechtigkeit und muss sich deshalb der Kritik durch die Strafrechtsphilosophie stellen. Und dasselbe gilt auf einer weiteren Ebene der Konkretisierung, nämlich für die Regelung des Strafprozessrechts. Es ist ausgeschlossen, von der Gerechtigkeit einer verhängten Strafe zu sprechen, wenn nicht durch die Regelung des Verfahrens eine maximale Garantie dafür geschaffen worden ist, dass die auf der abstrakten Ebene und auf der materiellrechtlichen Ebene geltenden Anforderungen der Strafgerechtigkeit auch in der Wirklichkeit erfüllt werden. 3. Die rechtsphilosophische Frage nach der Gerechtigkeit der Strafe muss deshalb auf drei selbstständigen Stufen beantwortet werden, wobei jede spätere Stufe die auf der früheren Stufe erzielten Ergebnisse voraussetzt und weiterverarbeitet. Und man muss sogar noch einen Schritt weiter auch eine vierte Stufe verlangen: Das Strafrecht trennt den Bürger vom Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig gehaltenen Kreatur. Die deshalb hier zu verlangenden, besonders strengen Legitimationsanforderungen können nur von einer elaborierten Dogmatik eingelöst werden, deren Niveau nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in Japan und hier besonders von dem hochgeschätzten Jubilar, meinem langjährigen Freund Keichi Yamanaka, hochgehalten wird4, aber in großen Mitgliedstaaten der EU wie Großbritannien oder Frankreich nahezu unbekannt ist. Gegenüber der seit über zehn Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit ablaufenden Europäisierung des Strafrechts und des Strafverfahrens ist deshalb die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft, eine intellektuelle Kontrolle als eine Art machtloser, aber dennoch geistig wirkender vierter Gewalt auszuüben, einerseits noch wichtiger als im nationalen Rahmen. Und sie erscheint derzeit noch weniger realisierbar – wird sie doch an immer mehr Strafrechtslehrstüh-

4 Richtungsweisend seine Werke: Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, 2008; Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, 2012, von seinen zahlreichen wichtigen strafrechtsdogmatischen Abhandlungen in den führenden deutschen Fachzeitschriften, Festschriften und Kongress-Sammelbänden ganz zu schweigen.

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len völlig vernachlässigt und einem anspruchslosen Gesetzespositivismus geopfert.5 Mit den nachfolgenden Überlegungen zur Strafgerechtigkeit möchte ich deshalb dem hiervon noch unbelasteten deutsch-japanischen Strafrechtsdialog meine Reverenz erweisen und zugleich auch für die europäische Gerechtigkeit ein Apfelbäumchen pflanzen.

II. Die der heutigen globalen Kultur gemäße Straftheorie 1. Solange die staatliche Strafgewalt als eine Analogie oder gar Vorwegnahme religiöser Gerechtigkeit aufgefasst wurde, war die Theorie der Vergeltung als Aufgabe und Legitimation der Strafe selbstverständlich. Jahwes Vergeltungsorgien, das jüngste Gericht der Christenheit und das Gericht Allahs finden sich nicht nur in den Spiegelneuronen der von den betreffenden Religionen geprägten Rechtskulturen wieder, sondern auch in den Gedankengebäuden von Kant und Hegel, den philosophischen Titanen des deutschen Idealismus. Hegels berühmte Arithmetik, dass die Straftat die Negation des Rechts und die Strafe die Negation der Negation sei6, ist freilich schon mathematisch falsch, wie das von Kant favorisierte Talionsprinzip7 zeigt: Wenn jemand einem anderen ein Auge ausschlägt und daraufhin selbst ein Auge verlieren muss, so fehlen der Gesellschaft hinterher zwei Augen, der Schaden ist also sogar verdoppelt worden. Das einzige, was man direkt aus dem Prinzip der Gerechtigkeit als Rechtsfolge einer Rechtsverletzung ableiten kann, ist deshalb das Gebot der Wiedergutmachung. Das gilt auch für jene säkularisierte Form der Vergeltungstheorie, die an die Austauschgerechtigkeit anknüpft, sich erstmals bei Aristoteles findet, übrigens auch von Nietzsche vertreten worden ist8 und sich heute in der angloamerikanischen Straftheorie einer gewissen Beliebtheit erfreut in Gestalt der so genannten „unfair advantage theory“ von Morris und Murphy9. Rechtsverletzung 5 Dazu näher meine kritischen Überlegungen in: ZStW 126 (2014), 1 ff., sowie in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 223 ff.; diese Kritik gilt wohlgemerkt nicht der auf höchstem Niveau geführten Diskussion in der angloamerikanischen Strafrechtsphilosophie, deren Einwirkung auf die Dogmatik aber leider immer noch zu vermissen ist. 6 Von Hegel selbst formuliert in den Worten: „Die geschehene Verletzung des Rechts ist in sich nichtig. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung.“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 97). Die im Text zitierte Kurzformel findet sich im Zusatz zu § 97 aus der Vorlesungsnachschrift von Hotho. 7 Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Auflage 1798, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre II. Teil, Das öffentliche Recht, Allgemeine Anmerkung, Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins, E. Vom Straf- und Begnadigungsrecht, S. 227. 8 Dazu eingehend Straube, Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches, 2012, S. 154 ff. 9 Nachweise bei Schünemann, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 327, 328; Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 55.

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verlangt Rechtswiederherstellung, nicht aber zwecklose Verletzung des Verletzers – an dieser logisch zwingenden Konsequenz kann keine Wortakrobatik etwas ändern, die wir im Laufe der Jahrtausende in immer kurioserer Form erlebt haben. 2. Sobald wir den Schleier der Vergeltungsrhetorik zur Seite schieben, zeigt sich die Strafe in ihrer realen gesellschaftlichen Gestalt: als dem Opfer und seiner Sippe aus der Hand genommene und vom Staat stellvertretend wahrgenommene Rache. Um nicht falsch verstanden zu werden, möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich das Rachebedürfnis für eine der verständlichsten Emotionen halte, dass die Blutrache in archaischen, noch nicht staatlich verfassten Gesellschaften auch ohne Zweifel eine wichtige und nützliche Funktion hatte und dass deshalb auch die Ablösung der bei fehlender Versöhnungsbereitschaft der Sippe zu destruktiven Konsequenzen führenden Blutrache durch die staatliche Strafe einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet hat. Dennoch bietet das alles keine normative Legitimation der Strafe, denn es handelt sich ja ausschließlich um empirische Argumente, von denen ohne naturalistischen Fehlschluss nicht auf die normative Richtigkeit geschlossen werden kann. Das gilt auch für die moderne Domestizierung des Rachegedankens, die zuerst von dem Entführungsopfer Jan Philipp Reemtsma angedacht und in der modernen Straftheorie dahin gewendet worden ist, dem Opfer müsse bestätigt werden, dass ihm Unrecht geschehen sei und nicht etwa ein Zufall oder ein Unglück sein Schicksal bestimmt hätte. Die logisch nicht zu überwindende Klippe dieser so genannten expressiven Straftheorie10 liegt nämlich darin, dass sie zwar die Missbilligung, nicht aber die daran geknüpfte Übelszufügung plausibel machen kann. Wenn dies damit begründet wird, dass gerade auch zum Ausdruck des Ausmaßes der Missbilligung „die Unterfütterung des Verbalen durch handfeste Übelszufügung“ unentbehrlich sei11, dann wird erstens das reale Verhältnis von symbolischem Tadel und realer Strafe auf den Kopf gestellt, und zweitens fehlen gerade im europäischen Strafrecht alle diejenigen Konsequenzen, die im islamischen Strafrecht die Rechtfertigung der Strafe aus dem Bedürfnis des Opfers heraus allein plausibel machen. So müsste beispielsweise das Opfer selbst bei schwersten Straftaten durch nachträgliche Verzeihung die Strafe überflüssig machen können, was im europäischen Strafrecht aber nur umgekehrt bei ganz leichten Delikten möglich ist, bei denen es im Grunde überhaupt keiner Vergeltung zur Wiederherstellung der Opferposition bedarf. 3. Allen modernen Versuchen zum Trotz, Rache und Vergeltung gewissermaßen auf rein sprachlichem Wege zu domestizieren, bleibt es deshalb dabei, dass die Institution des Strafrechts nur durch den Zweck der Verbrechensverhütung, also präventiv gerechtfertigt werden kann.12 Und zwar durch Feuerbachs Modell der Androhungs-Generalprävention, welches zugleich als einziges Präventionskonzept über eine rein utilitaristische Begründung hinausreicht und die Brücke zu einer deontolo10

Dazu Hörnle (Fn. 9), S. 29 ff. So Hörnle (Fn. 9), S. 42 f. 12 Näher Schünemann, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 109 ff. 11

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gischen Legitimation gegenüber dem Betroffenen schlägt.13 Denn die Strafandrohung bedeutet einen Appell an den Normadressaten, keine Straftat zu begehen, wodurch also die Fähigkeit des Adressaten, sich hierdurch zu motivieren und von der Straftat abzusehen, notwendig vorausgesetzt wird. Die Zufügung des Strafübels erfolgt dementsprechend in den Worten Feuerbachs deshalb, damit die Drohung nicht als eine leere entlarvt werde14, setzt infolgedessen die individuelle Vermeidbarkeit der Tatbegehung durch den Täter voraus. Und genau darin liegt auch die Legitimation der Zufügung des Strafübels gegenüber dem Täter, denn eine Tat, die verboten und zugleich für den Täter individuell vermeidbar ist, begründet gegen diesen einen persönlichen Vorwurf und damit dessen Schuld.15 4. Dieser „Stellungswechsel“ des Schuldprinzips, durch den es aus einem Prinzip der Strafbegründung wie im Vergeltungsstrafrecht (also einer hinreichenden Bedingung der Strafe) in ein Prinzip der Begrenzung des durch den Präventionszweck begründeten Strafrechts (also in eine weitere notwendige Bedingung) verwandelt wird, relativiert zugleich die Bedeutung von der ebenfalls in der klassischen griechischen Philosophie begonnenen und wohl niemals endenden Auseinandersetzung um die Frage der Willensfreiheit. Denn als legitimatorisches, also deontologisches Prinzip dürfte Freiheit als „Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“16 genügen – aber auch unverzichtbar sein: Wenn der Täter die Verbotsnorm gar nicht kennen konnte, beispielsweise weil sie für den einzelnen nicht erkennbar ist, so ist einerseits ein Schuldvorwurf als Legitimation der Strafe ausgeschlossen, andererseits aber auch sinnlos, weil ein nicht vermeidbares menschliches Verhalten nicht durch Rechtsnormen gesteuert werden kann. Strafe dennoch zu verhängen, hieße den persischen Großkönig Xerxes zu imitieren, der nach Herodot bei einem Unwetter die hochgehenden Wellen des Hellespont mit 300 Rutenschlägen züchtigen ließ. Über die Torheit des Xerxes lacht man sicher auch in England und in Brüssel, aber dass das englische Strafrecht zahlreiche vergleichbare Torheiten aufweist und dass die Europäisierung des Strafrechts einige davon über die ganze EU auszudehnen trachtet, wird gewöhnlich ignoriert. Außer den Fällen einer das Schuldprinzip verletzenden Umkehr der Beweislast, die auf die dritte, prozessuale Konkretisierungsebene gehört, nenne ich exemplarisch die Verweigerung des Exkulpationsgrundes der Volltrunkenheit anstelle der aus dem Schuldprinzip folgenden, weitaus differenzierteren Figur der actio libera in causa und die sich gegenwärtig wie eine religiöse Lehre über ganz Europa ergießende echte Kriminalstrafe gegen juristische Personen. Denn die Individualstrafe wegen schuldhafter Verletzung einer rechtsgüterschützenden Norm und die einem Unternehmen wegen unzulänglicher Organisation auferlegte Geldzahlung sind nach Inhalt, Zweck und Legitimation so grundverschieden, dass 13

Zu Feuerbach umfassend Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009. Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 14. Aufl.1847, S. 39. 15 Näher Schünemann, Festschrift für Lampe, 2003, S. 537 ff. 16 Dazu näher Schünemann, FS f. Lampe, 2003, S. 537, 543 ff. m.w.N. in Fn. 23. 14

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es auf eine „Legitimationserschleichung“ mit Hilfe einer semantischen Verschmutzung der Sprache hinausläuft, wenn man auch die Unternehmenssanktion „Strafe“ nennt. Die Geldstrafe gegen juristische Personen, die nach wie vor die Standardsanktion im internationalen Verbandsstrafrecht darstellt, bedeutet im Endeffekt durch die Schmälerung des Unternehmensgewinns eine Übelszufügung an fast immer einflusslose Anteilseigner und schuldlose Arbeitnehmer und führt überdies in der Praxis regelmäßig zu einer Milderung der Bestrafung der verantwortlichen Manager, womit der präventive Effekt geradezu konterkariert wird. Und auch die rechtsethisch im Ausgangspunkt unverdächtige Verfalls-Komponente in der Geldstrafe wird in der Praxis der internationalen Korruptionsfälle regelmäßig wirtschaftlich von verarmten Drittweltländern aufgebracht, in denen das sanktionierte Unternehmen durch Bestechung der dortigen Kleptokraten die großen Profite erwirtschaftet hatte, und verliert damit als Finanzierungsquelle der Industrieländer jede Legitimation. Das anstelle der Verbandsstrafe allein sinnvolle Maßregelmodell beginnt zwar in der deutschen Doktrin allmählich Fuß zu fassen, ist aber in der vom angloamerikanischen Modell regierten Gesetzgebung und Gerichtspraxis einer zweck- und gedankenlos verhängten Geldstrafe bzw. -buße nach wie vor bloße Zukunftsmusik. Als geeignete und legitime Maßregel habe ich schon vor zwei Jahrzehnten die von mir so genannte Unternehmens-Kuratel vorgeschlagen, die ungefähr auf die vom Gericht angeordnete Etablierung eines unabhängigen Compliance-Systems im Unternehmen hinauslaufen und den Organisationsmangel, der allgemein als Anlass für Unternehmenssanktionen genannt wird, weitaus wirksamer beheben würde als eine simple Geldstrafe.17 5. Allein die von mir skizzierte Verbindung von Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip vermag deshalb die Strafe als eine zugleich zweckmäßige und legitimierbare Übelszufügung zu bewahren. Und deshalb verdient das deutsche Bundesverfassungsgericht hohes Lob dafür, dass es in seiner Lissabon-Entscheidung das Schuldprinzip zu den unveräußerlichen, europafesten Fundamenten des deutschen Rechtsstaats gezählt hat.18 6. Diese spezifische Verbindung von Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip bildet zugleich die einzige ernsthaft diskutabel Legitimationsgrundlage für die Wirklichkeit des Strafrechts, an der gerade das Schuldvergeltungsmodell meilenweit vorbeigeht, von der sogleich näher zu erörternden volkspädagogischen Absicht der Erhaltung von Normgeltung im Sinne von Jakobs und Frisch ganz zu schweigen. Wie Kant zutreffend ausgesprochen hat, wird eine Vergeltung durch das Talionsprinzip beschränkt. Denn wenn dem Übeltäter etwas Schlimmeres zugefügt wird, als er selbst zu verantworten hat, dann findet gerade keine Vergeltung, sondern nur noch Rache statt. Die Wirklichkeit des Strafrechts bleibt aber nur bei der Bestrafung von Tötungsdelikten und schweren Körperverletzungsdelikten hinter der Talion zu17 Dazu zahlr. Nachw. b. Schünemann, GA 2013, 193, 199 ff.; ders., ZIS 2014, 1, 7; GA 2015, 274, 281 f. 18 BVerfGE 123, 267 ff.=NJW 2009, 2267, 2287 ff. und dazu Schünemann, ZIS 2009, 393 ff., zur Zurückweisung der an der BVerfG-Entscheidung geübten, haltlosen Kritik ders./ Roger, ZIS 2010, 515 ff.

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rück, während sie im Regelfall weit darüber hinausgeht. Wer ein Vermögensdelikt begeht, erst recht im Rückfall, wird unter Umständen über Jahre hinweg wie ein wildes Tier in einen Käfig gesperrt. Und dasselbe passiert einem Sexualtäter, der Leib und Seele seines Opfers zweifellos übel mitgespielt hat, aber nur über eine ganz kurze Zeitspanne. Dieses fast permanente Übermaß der strafrechtlichen Sanktion, für das ich seiner größeren Plakativität halber ganz bewusst das Fremdwort Overkill benutzen möchte, entlarvt das Gerede der Vergeltungstheorie als einlullendes Gesäusel und lässt sich allein in dem androhungsgeneralpräventiven Kontext begründen. Denn weil nur ein geringer Teil der tatsächlich begangenen Verbrechen aufgeklärt und abgeurteilt werden kann, muss die Strafdrohung scharf genug sein, um auch diejenigen potentiellen Straftäter zu beeindrucken, die das Ausmaß der Entdeckungswahrscheinlichkeit in ihr Kalkül einbeziehen. 7. Und nicht nur für die Legitimation der Strafe, sondern auch für den Anwendungsbereich des Strafrechts insgesamt lässt sich nur aus dem von mir skizzierten Konzept die heute allgemein anerkannte Ultima-Ratio-Formel ableiten, die im Vergeltungskonzept der Wolff-Köhler-Schule ebenso einen Fremdkörper darstellt wie im Normgeltungskonzept von Jakobs und Frisch. Strafen dürfen gerade wegen ihres Overkill-Effekts nur verhängt werden, wenn alle anderen Mittel fruchtlos sind, und bei geringfügigen Verletzungen muss ganz auf sie verzichtet werden. Dagegen muss ein Anhänger der Vergeltungstheorie eigentlich auch bei Bagatelldelikten eine wenn auch geringfügige Vergeltung fordern, ebenso wie Jakobs und Frisch hier die Strafe zur Wiederherstellung der Geltung auch von weniger zentralen Rechtsnormen verlangen müssten.

III. Kritik der kommunikativen Theorie der Strafe 1. Das Strafrechtssystem von Günther Jakobs hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte durch eine immer schärfere und reinere Ausprägung des schon in der 1. Auflage seines Lehrbuches entfalteten Verständnisses von der kommunikativen Aufgabe der Strafe entwickelt, die positive Generalprävention sicher- und die Geltung der verletzten Norm wieder herzustellen, indem dem im Verhalten des Täters liegenden Widerspruch gegen die Norm der auf Kosten des Täters vollzogene Widerspruch in Gestalt der Strafe entgegengesetzt wird.19 Dabei hat er mit einer buchstäblich „strengen“ kommunikativen Wende der Straftheorie eine Reihe von grundlegenden Veränderungen des Strafrechtssystems bezweckt, denen ich vor kurzem auf breiter Front entgegengetreten bin,20 worauf ich hier verweisen muss. Weitaus vorsichtiger hat unlängst Frisch eine „eingeschränkte“ Version propagiert, die das herkömmliche Strafrechtssystem selbst unverändert lässt und nur eine bessere Begründung 19 Bereits Lehrbuch 1. Aufl., 1/4 ff., 10; um- und zusammenfassend ausgeführt in seiner Schrift „System der strafrechtlichen Zurechnung“, 2012. 20 ZStW 126 (2014), 1 ff.

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dafür liefern soll.21 Vor allem die Straflosigkeit des freiwilligen Rücktritts vom Versuch, des Notwehrexzesses und des entschuldigenden Notstandes (§§ 24, 33, 35 StGB) sei erst durch die kommunikative Theorie in das Strafrechtssystem integrierbar. Denn wenn die Straftat entsprechend der traditionellen Auffassung „nur als durch den Täter verschuldete Rechtsgutsbeeinträchtigung“22 verstanden würde, lasse sich beim freiwilligen Rücktritt vom Versuch (ebenso wie beim Notwehrexzess und entschuldigenden Notstand) „am verschuldeten Unrecht nicht rütteln“, die vom Gesetzgeber angeordnete Straflosigkeit deshalb nicht erklären. Das gelinge erst mit dem kommunikativen Straftatbegriff, weil „nur solche Missachtungen des Rechts zur Verurteilung und Bestrafung des Täters führen dürften, deren Zurückweisung zur Erhaltung der Geltungskraft der verletzten Norm noch notwendig“ sei.23 2. Dieses Argument ist jedoch schon in logischer Hinsicht problematisch und macht überdies einen versteckten Mangel der „kommunikativen Straftheorie“ deutlich. a) Weil der Gesetzgeber im Umfang der von ihm angeordneten Straflosigkeit die Geltungskraft der Norm ja selbst aufgehoben hat, ist die Erklärung durch die fehlende Notwendigkeit zu ihrer Erhaltung zirkulär. b) Stellt man aber auf die unberührt bleibende Geltungskraft der Norm, d. h. deren reale Befolgung in den übrigen Fällen ab, so wird offenbar die Bestrafung des Verletzers als Mittel zur Abschreckung anderer potentieller Verletzer gemeint, womit aber die „kommunikative Straftheorie“ nicht anders als die Theorie der Abschreckungsgeneralprävention den Straftäter als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke benutzt und dadurch in den Worten Kants „unter die Gegenstände des Sachenrechts mengt, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt“24, mit anderen Worten seine Menschenwürde verletzt. 3. Aber wie lassen sich dann die von Frisch als exemplum crucis angeführten drei Fallgruppen plausibel erklären? a) Beim Rücktritt vom Versuch knüpft § 24 StGB die nachträgliche Aufhebung der mit Versuchsbeginn an sich bereits begründeten Strafbarkeit nicht schon an die Aufgabe des Tatentschlusses als manifestierter Anerkennung der „Geltungskraft der Rechtsnorm“ (wie es nach der kommunikativen Theorie plausibel wäre), sondern verlangt zusätzlich das Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung.25 Es geht also auch hier um den Rechtsgüterschutz als dem fundamentalen Zweck der Strafrechtsnormen, 21

GA 2015, 65 ff. GA 2015, 82 oben. 23 GA 2015, 84/95. 24 Die Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1798, Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, II. Teil: Das öffentliche Recht, 1. Abschnitt Allgemeine Anmerkung E. Vom Straf- und Begnadigungsrecht (S. 226). 25 Der Täter trägt also das Risiko, dass sein Rücktritt misslingt und die Rechtsgutsverletzung – sei es durch Zufall – dennoch eintritt, s. Roxin, Strafrecht AT Band 2, 2003, § 30 Rn. 37 f. 22

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während die von Frisch (ebenso wie von Jakobs) in die Verletzungshandlung hineininterpretierte Leugnung der Geltungskraft der Norm entfallen kann, ohne dass automatisch auch die Strafbarkeit entfällt. b) Auch die vom Gesetz angeordnete Straflosigkeit beim Notwehrexzess aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken (§ 33 StGB) und beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) kann deshalb nicht allein mit einer in diesen Fällen fehlenden Notwendigkeit der Strafe zur „Erhaltung der Geltungskraft der Strafrechtsnormen“ begründet werden. Vielmehr muss primär die hierdurch statuierte Einschränkung des Rechtsgüterschutzes plausibel erklärt werden, zumal diese in vielen anderen Rechtsordnungen weitaus geringfügiger ausfällt.26 In beiden Fällen ist in meinen Augen die kreatürliche Angst der Grund dafür, dass der akute Selbsterhaltungsimpuls27 ab einer gewissen Stärke eine besonnene Orientierung des auf solche Situationen nicht trainierten Durchschnittsmenschen an der Rechtsordnung praktisch so gut wie ausschließt. Weil die Strafdrohung hier das Verhalten des normalen Menschen also gar nicht motivieren kann, wäre die Verhängung einer Strafe fast ebenso unsinnig wie die bereits erwähnte Auspeitschung des Meeres durch den Perserkönig Xerxes zur Bestrafung für den die Überquerung durch sein Heer hindernden hohen Wellengang.28 Für den klaren Fall des Lebensnotstandes hat das schon Immanuel Kant am klassischen Beispiel des Brettes des Karneades mit folgenden Worten ausgesprochen: „Denn die Obrigkeit kann keine Strafe mit dem Verbot verbinden, weil diese Strafe der Tod sein müsste. Es wäre aber ein ungereimtes Gesetz, jemandem den Tod androhen, wenn er sich in gefährlichen Umständen dem Tode nicht freiwillig überlieferte“.29 Es ist fast sensationell, dass Kant, der Begründer der bis heute einflussreichsten absoluten („deontologischen“) Straftheorie, die Straflosigkeit an dieser Stelle mit einem pragmatisch-konsequentialistischen Argument begründet, nämlich mit der praktischen Wirkungslosigkeit der Strafandrohung. c) Am Beispiel des Notwehrexzesses, wo § 33 StGB die Straflosigkeit einer Überschreitung der notwendigen Verteidigung nur bei den sog. asthenischen Affekten „Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ konzediert, nicht aber bei den sthenischen Affekten wie Zorn, Empörung, Kampfeseifer oder Rachedurst, lässt sich der primäre Stellenwert des Rechtsgüterschutzprinzips und die nur sekundäre, reflexartige Bedeutung der Normgeltung besonders einleuchtend demonstrieren. Zugleich scheint mir dadurch eine Verfeinerung der bekannten Theorie Roxins möglich, der die Systemstufe der Schuld zur individuellen „Verantwortlichkeit“ erweitert hat, die über die individuelle Vermeidbarkeit der Tat hinaus auch die Notwendigkeit der Strafe aus 26 So kommt etwa in den genannten Fällen nach Art. 21 des spanischen Código penal nur ein Strafmilderungsgrund in Frage. 27 Die Einbeziehung aller Angehörigen und nahestehenden Personen in § 35 StGB geht extrem weit und ist nur wegen ihrer Einschränkung durch die Zumutbarkeitsklausel vertretbar. 28 Laut Herodots Historien 7, 35. 29 In seiner 1793 erschienenen Abhandlung „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, hier zitiert nach der Ausgabe von Weischedel in 10 Bänden, Band 9 I S. 127, Fußnote zu S. 156.

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general- und spezialpräventiven Gründen einschließt.30 Die Konzession der Straflosigkeit des Notwehrexzesses allein bei asthenischen Affekten wird von Roxin damit plausibel gemacht, dass der in einem solchen Affekt handelnde, „sich durch eine besonders schreckhaft Ängstlichkeit auszeichnende“ Täter ein „sozial integrierter Bürger“ sei, der spezialpräventiver Einwirkung nicht bedürfe, und dass „eine Bestrafung aus generalpräventiven Gründen ebenfalls nicht geboten“ sei, weil ein „Schwächedelikt“ solcher Art „auch im Fall seiner Straflosigkeit nicht zur Nachahmung“ ermuntere und „ebenso wenig eine Erschütterung des Rechtsfriedens mit sich“ bringe.31 Diese (bezüglich des „Rechtsfriedens“ an die kommunikative Straftheorie erinnernde) Begründungskette setzt jedoch am Anfang das in das Rechtsgüterschutzprinzip einhakende Glied voraus, warum es legitimiert werden kann, dem Angreifer gegenüber dem Exzess des Angegriffenen den strafrechtlichen Schutz zu versagen. Die Erklärung besteht meiner Meinung nach in der von mir vor 40 Jahren parallel mit Amelung entwickelten und seither ausgebauten Viktimodogmatik32 : Weil der Angreifer die Furcht des Angegriffenen als typische Folge seines Angriffs ausgelöst hat und deshalb dafür verantwortlich ist, verdient er gegen eine durch diese Furcht ausgelöste Überreaktion des Angegriffenen keinen strafrechtlichen Schutz; anders ist es bei einem Wutanfall, durch den der Angegriffene selbst die Rolle des Angreifers übernimmt und deshalb dafür verantwortlich bleibt.33 d) Beim Notstand ist das deutsche Recht noch viel weiter gegangen und hat sogar den familiären Altruismus als zureichenden Grund für eine Einschränkung des Rechtsgüterschutzes anerkannt. In Verbindung mit der Definition des Angehörigen in § 11 Abs. 1 Nr. 1a StGB soll danach etwa ein Täter „ohne Schuld“ handeln, wenn er zur (anders nicht möglichen) Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit seiner Schwiegermutter oder der früheren Lebenspartnerin seiner Schwester eine rechtswidrige Tat begeht. Diese weit reichende Einschränkung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes mochte in einer Epoche mit fester, die Großfamilie einschließenden Familienstruktur als Grenzfall eines Strafmilderungsgrundes vertretbar gewesen sein, hatte aber schon damals weder mit dem Schuldprinzip noch mit einer Überflüssigkeit der Normbestärkung irgendetwas zu tun. Erst recht bildet es heute einen Anachronismus des deutschen Strafrechts, der keinesfalls als Ankerpunkt des Strafrechtssystems missverstanden werden sollte. Überdies zeigt die vom Gesetzgeber statuierte Gegeneinschränkung durch die Formel, dass dem 30

69. 31

Zusammenfassend Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 3 f., § 22 Rn. 20 ff.,

Strafrecht AT I, § 22 Rn. 69. Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 ff.; NStZ 1986, 193 ff.; in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem – Neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA, 2000, S. 1 ff.; in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 51 ff.; zuletzt in: Festschrift für Beulke. 2015, S. 543 ff. 33 In der Terminologie von Jakobs geht es hier also um eine Frage der „Zuständigkeit“, wobei aber darauf zu achten ist, dass dieser Begriff keine Begründung liefert, sondern eine solche voraussetzt. 32

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Täter „zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen“, dass der Grund für die Zurücknahme des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes primär nicht in der Irrelevanz für das Normvertrauen der Allgemeinheit, sondern in der Nachsicht mit der situativen Überforderung des Täters liegt, sei es wegen der isolierten Stärke des vom Selbst- oder Familienerhaltungstrieb ausgelösten Angstaffekts, sei es wegen dessen Verbindung mit der unter der Rechtfertigungsschwelle des § 34 StGB bleibenden34, aber doch unrechtsmindernden Rechtsgutserhaltung auf seiner Seite. 4. Auch auf der Begründungsebene bietet die kommunikative Straftheorie deshalb keine Vorteile. Es bleibt dabei: Strafrecht ist die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz durch Androhungsgeneralprävention, darin liegt der Zweck der Strafe, deren Legitimation gegenüber dem Betroffenen vom Schuldprinzip geleistet wird. Und das Strafrechtssystem als logische Ordnung der Strafbarkeitsvoraussetzungen ist aus diesen Fundamenten abzuleiten. Die im deutsch-japanischen Strafrechtsdialog globale Strafrechtsdogmatik sollte sich hüten, den Anker ihres Systems aus diesem festen Grund zu lösen, sei es um der Sirenentöne der kommunikativen Straftheorie willen, sei es durch ihre eigene Bankrotterklärung in einem EU-beflissenen Neopositivismus. Auch wenn ihre Verteidiger es in Deutschland zunehmend schwerer haben, brauchen sie nicht zu resignieren, solange ihnen in Japan Bundesgenossen vom Range Keiichi Yamanakas zur Seite stehen. Ad multos annos!

34 Weil das geschützte Rechtsgut des Täters oder seines Angehörigen den Wert des verletzten Rechtsguts nicht wesentlich überwiegt, wie es für einen rechtfertigenden Notstand erforderlich ist.

Zum Strafprozessrecht

Grundprinzipien der inländischen Gerichtsbarkeit und des Strafprozessrechts in Polen Ewa M. Guzik-Makaruk1 und Ewa Kowalewska-Borys2 Indem die Autorinnen diesen Beitrag dem ehrwürdigen Jubilar widmen, haben sie die facettenreichen Forschungsinteressen von Professor Keiichi Yamanaka berücksichtigt, der seit Jahren in engen wissenschaftlichen Beziehungen zu seinen Freunden an der Juristischen Fakultät der Universität Białystok, Polen steht. Während der zahlreichen Besuche von Prof. Yamanaka in Białystok haben die Autorinnen mehrfach dessen Vorträge und Aufsätze, die später in polnischen Zeitschriften oder Büchern veröffentlicht wurden, übersetzt.3 Unser hoch geschätzter Jubilar ist wissenschaftlich eng mit der Universität Białystok verbunden und deren Ehrendoktor.4 Der Senat der Universität zu Białystok hat auf Antrag des Rates der Juristischen Fakultät den Titel Doctor Honoris Causa an Herrn Prof. Dr. Keiichi Yamanaka verliehen. Die feierliche Übergabe des Diploms fand am 9. November 2007 im Versammlungs- und Festsaal der Juristischen Fakultät im Rahmen der Verleihung der Doktor- und Habilitationswürde der Universität Białystok statt. Die Person des Ehrendoktors und seine Biographie wurden vom Verfahrenspromotor Prof. Dr. hab. Emil W. Pływaczewski vorgestellt. Ehrengutachter in dem feierlichen Verfahren waren Prof. Tadeusz Bojarski (Fakultät für Recht und Verwaltung der Maria Curie-Skłodowska Universität in Lublin), Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch (Direktor des Kriminalwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln) und Prof. Dr. habil. Andrzej J. Szwarc (Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam Mickiewicz Universität in Poznan´). In der Laudatio zur Verleihung des Ehrendoktorats hat Prof. Pływaczewski gesagt: „Professor Yamanaka kann stolz auf das hohe wissenschaftliche Ansehen 1

Universität Białystok, Polen, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie. Universität Białystok, Polen, Lehrstuhl für Strafprozessrecht; LL.M. (Rechtsvergleichung, Universität Bonn). 3 Vgl. z. B. Yamanaka, „Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan – 100 Jahre nach in Kraft treten des geltenden StGB“ [polnische Übersetzung: „Nauka prawa karnego w Japonii (w stulecie obowia˛zywania kodeksu karnego)“], Pan´stwo i Prawo 2008, Nr 6, S. 38 – 52; Yamanaka, „Evolution der Rechtswissenschaftsdogmatik in Japan – Hundert Jahre nach dem Inkrafttreten des geltenden Strafgesetzbuches“ [polnische Übersetzung: „Rozwój dogmatyki prawa karnego w Japonii – sto lat po wejs´ciu w z˙ ycie obowia˛zuja˛cego kodeksu karnego“], in: Profesor Doktor Keiichi Yamanaka. Doktor honoris causa Uniwersytetu w Białymstoku (2009) S. 36 – 42. 4 Die Verleihung des Titels Doctor Honoris Causa hat im Jahr 2007 stattgefunden. 2

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sein, sowohl in seinem Heimatland als auch in Europa. Er ist nämlich Gelehrter mit umfassender Fachkenntnis und herausragender Kreativität mit außerordentlich breitem und vielseitigem Werk. […]. Ich bin auch überzeugt, dass Dir die Auszeichnung sowohl wegen Deiner wissenschaftlichen Verdienste als auch wegen Deiner organisatorischen Leistungen verliehen wurde, die Du sowohl in Deiner Heimat als auch auf internationaler Ebene vollbracht hast. Diese Auszeichnung ist der Ausdruck der Anerkennung und Ehre, die Du Dir unter polnischen Strafrechtlern und in der Gemeinschaft unserer Universität errungen hast. Möge diese Auszeichnung zu Deinen weiteren Leistungen auf dem schwierigen Weg des Schaffens einer Weltgemeinschaft der Wissenschaftler, die unterschiedliche Richtungen und Traditionen vertreten, beitragen.“5 Beide Autorinnen haben sich entschieden, einen gemeinsamen Aufsatz vorzubereiten und Grundprinzipien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der Strafprozessordnung in Polen näher darzustellen, um damit dem Jubilar zu gratulieren.

I. Grundprinzipien der inländischen Gerichtsbarkeit Im polnischen Strafgesetzbuch,6 das 1998 in Kraft getreten ist,7 finden sich Vorschriften über das Strafanwendungsrecht, welches dem Rechtsgüterschutz dient. Anerkannt sind dabei folgende vier Anknüpfungspunkte: der Begehungsort der Tat, die Staatsangehörigkeit des Täters, der Schutz inländischer Rechtsgüter und schließlich der Schutz von jenen Rechtsgütern, an deren Schutz ein gemeinsames Interesse aller Staaten besteht. In der polnischen Gesetzgebung gibt es im Hinblick auf das Strafanwendungsrecht sechs Grundprinzipien, die ebenso in den meisten Staaten Europas und der Welt gelten: 1. Territorialitätsprinzip (Art. 5 StGB); 2. Prinzip der Subjektsnationalität = aktives Personalitätsprinzip (Art. 109 StGB); 3. Prinzip der Objektsnationalität = passives Personalitätsprinzip (Art. 110 § 1 StGB); 4. Prinzip der Ersatzrepression = Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (Art. 110 § 2 StGB); 5. Staatsschutzprinzip (Art. 112 StGB); 6. Universalitätsprinzip (Art. 113 StGB). 5

Profesor Doktor Keiichi Yamanaka. Doktor honoris causa Uniwersytetu w Białymstoku, Białystok 2009, S. 57. 6 Strafgesetzbuch (StGB) vom 6. Juni 1997, Dz. U. (Gesetzesblatt) 1997, Nr. 88, Pos. 553 mit weiteren Änderungen, in Polen abgekürzt als kk – kodeks karny). 7 Das polnische StGB ist am 1. September 1998 in Kraft getreten.

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Das Territorialitätsprinzip wird ausdrücklich in Art. 5 StGB geregelt. Das polnische Strafrecht findet auf einen Täter Anwendung, der eine verbotene Tat auf dem Territorium der Republik Polen begangen hat, es sei denn, ein völkerrechtlicher Vertrag, bei dem die Republik Polen Partei ist, trifft eine abweichende Regelung. Sehr wichtig ist in diesem Kontext die Definition des „Tatorts“: Gemäß Art. 6 § 2 StGB ist eine verbotene Tat an dem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder an dem er das Handeln, zu dem er verpflichtet war, unterlassen hat oder an dem der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. Die Geltung des Strafrechts wird also an den Ort der Tathandlung und an den Erfolgsort geknüpft. Der polnische Gesetzgeber hat dabei die Ubiquitätstheorie (Einheitstheorie) in das Gesetz aufgenommen:8 Ein Staat kann seine Strafgewalt auf alle Menschen erstrecken, die sich auf seinem Staatsgebiet befinden, unabhängig davon, ob sie polnische oder ausländische Staatsbürger oder Staatenlose sind. Beispiel: Ein japanischer Bürger begeht einen Mord in Polen. Die polnischen Regelungen nehmen Bezug auf die Strafbarkeit der Tat am Tatort. Beiderseitige Strafbarkeit ist „conditio sine qua non“ bei folgenden Prinzipien: beim aktiven Personalitätsprinzip, beim passiven Personalitätsprinzip und beim Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege.9 Das Flaggenprinzip wird ebenfalls in Art. 5 StGB geregelt. Das polnische Strafrecht findet auf einen Täter Anwendung, der eine verbotene Tat auf einem polnischen Wasser- oder Luftfahrzeug begangen hat, es sei denn, ein völkerrechtlicher Vertrag, bei dem die Republik Polen Partei ist, trifft eine abweichende Regelung. Nach Art. 115 § 15 StGB ist ein Schiff auch eine feste Plattform, die sich auf dem Kontinentalschelf befindet. Das Schiff ist polnisch, wenn es die polnische Flagge berechtigterweise führt; das Luftfahrzeug ist polnisch, wenn es in Polen registriert ist. Das Flaggenprinzip ist eine erweiterte Form des Territorialitätsprinzips.10 Beispiel: Ein japanischer Bürger begeht einen Mord an Bord eines polnischen Flugzeuges. Nach dem aktiven Personalitätsprinzip (Prinzip der Subjektsnationalität), das in Art. 109 StGB geregelt ist, gilt das polnische Strafgesetz auch für jenen polnischen Staatsbürger, der im Ausland eine Straftat begeht. Jeder polnische Staatsbürger soll sowohl auf dem Territorium Polens als auch im Ausland das polnische Recht einhalten. Beispiel: Ein polnischer Bürger begeht einen Mord in Japan.

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Alle drei alternativen Kriterien begründen „einheitlich“ den Tatort: Begehungsort, Erfolgseintrittsort oder Versuchsort (als jener Ort, an dem der Erfolg eintreten hätte sollen). S. dazu: Buchała/Zoll, Polskie prawo karne [Polnisches Strafrecht] (1995) S. 89; Cies´lak, Polskie prawo karne [Polnisches Strafrecht] (1994) S. 99 – 100; Marek, Kodeks karny. Komentarz [Strafgesetzbuch. Kommentar] (2010) Leitsatz 5 zu Art. 6. 9 Filipkowski/Guzik-Makaruk/Laskowska/Szczygieł/Zatyka, Przewodnik po prawie karnym, [Wegweiser durch das Strafrecht] S. 47. 10 So wird das Flaggenprinzip durch Giezek beschrieben: Giezek/Kła˛czyn´ska/Łabuda, Kodeks karny: cze˛ s´c´ ogólna: komentarz [Strafgesetzbuch: Allgemeiner Teil. Kommentar] (2007) S. 52.

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Nach dem passiven Personalitätsprinzip (Prinzip der Objektsnationalität), das in Art. 110 § 1 StGB geregelt ist, gilt das polnische Strafgesetz auch für jenen ausländischen Staatsbürger, der im Ausland eine Straftat gegen die Interessen der Republik Polen, eines polnischen Staatsbürgers, einer polnischen juristischen Person, einer polnischen Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit oder eine terroristische Straftat begeht. Nach diesem Prinzip kann die Republik Polen also auch dann ihre Strafgewalt ausüben, wenn ein ausländischer Staatsbürger eine Straftat terroristischen Charakters verübt hat, mag diese auch nicht gegen Polen gerichtet sein. Die Einbindung der terroristischen Straftaten in die Regelung des passiven Personalitätsprinzips ist aber besonders misslungen, denn alle terroristischen Straftaten sind ohnehin auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips (vgl. sogleich unten) verfolgbar. Die vorliegende Ausgestaltung, die durch die Strafrechtsreform 2004 eingeführt wurde, wäre also nicht notwendig gewesen und wird daher stark kritisiert.11 Beispiel: Ein japanischer Bürger ermordet einen polnischen Staatsbürger in Deutschland. Nach dem Staatsschutzprinzip/Realschutzprinzip, das in Art. 112 StGB geregelt ist, gilt das polnische Strafgesetz unabhängig vom Recht des Tatorts für einen polnischen und einen ausländischen Staatsbürger im Fall der Begehung einer der folgenden Straftaten: 1. gegen die innere oder äußere Sicherheit der Republik Polen, 2. gegen die polnischen Ämter oder gegen polnische öffentliche Amtsträger, 3. gegen wesentliche polnische Wirtschaftsinteressen, 4. der falschen Aussage gegenüber polnischen Ämtern sowie 5. alle Straftaten, durch deren Begehung ein (wenn auch nur mittelbarer) materieller Vorteil auf dem Staatsgebiet der Republik Polen erlangt wurde. In diesem Bereich besteht kein Bedürfnis für die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit, denn am Ort der Begehung solcher Straftaten, die in Art. 112 StGB genannt werden, sind diese in der Regel gerade nicht strafbar.12 Beispiel: Ein polnischer Bürger macht eine Falschaussage in der polnischen Botschaft in Japan. Das Universalitätsprinzip (Weltrechtsprinzip) dehnt die Strafgewalt am weitesten aus und legt fest, dass das polnische Strafgesetz unabhängig vom Recht des Tatorts für jedermann gilt, der im Fall der Begehung einer Straftat im Ausland nicht ausgeliefert wird, wenn zur Verfolgung dieser Straftat die Republik Polen aufgrund völkerrechtlicher Verträge verpflichtet ist. In diesem Prinzip äußert sich deutlich die So11

Marek, Kodeks karny. Komentarz [Strafgesetzbuch. Kommentar] (2010) Leitsatz 1 zu Art. 110. 12 Wa˛sek, Zakres obowia˛zywania ustawy karnej polskiej wobec cudzoziemców [Der Geltungsbereich des polnischen Strafgesetzes gegenüber Ausländern] in: Szwarc (Hrsg) Przeste˛ pczos´c´ przygraniczna. Poste˛ powanie karne przeciwko cudzoziemcom w Polsce [Transnationale Kriminalität. Das Strafverfahren gegen Ausländer in Polen] (2000) S. 36.

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lidarität mit der internationalen Gemeinschaft. Es geht hier um sog. delicta iuris gentium13 wie z. B. Völkermord, Menschenhandel, Terrorismus, Sklaverei, Drogenhandel, Waffenhandel und Kinderpornographie. Beispiel: Ein Staatenloser, der sich in Polen aufhält und nicht ausgeliefert wird, betreibt Menschenhandel mit Kindern zum Zweck des sexuellen Missbrauchs. Nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (Prinzip der Ersatzrepression), das in Art. 110 § 2 StGB geregelt ist, gilt das polnische Strafgesetz für jene Ausländer, die im Ausland eine nicht vom Realschutzprinzip umfasste Straftat begangen haben, wenn diese Straftat nach dem polnischem Strafgesetz mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren bedroht ist, der Täter sich auf dem Gebiet der Republik Polen aufhält und nicht ausgeliefert wird. Vorrang hat in dieser Situation also die Auslieferung ins Ausland.14 Eine weitere Voraussetzung der Strafbarkeit wegen einer im Ausland begangenen Tat nach diesem Anknüpfungspunkt ist, dass diese Tat auch nach dem am Tatort geltenden Gesetz als Straftat angesehen wird (beiderseitige Strafbarkeit). Beispiel: Ein Japaner hat in Deutschland einen japanischen Staatsbürger getötet und ist anschließend nach Polen gereist. Wenn weder Japan noch Deutschland um Auslieferung des japanischen Staatsbürgers ersuchen, kann aufgrund des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege das polnische Strafgesetzbuch angewandt werden. Der polnische Gesetzgeber schützt über das Strafrecht sowohl inländische als auch ausländische Rechtsgüter. Das Schutzniveau bei inländischen und ausländischen Rechtsgütern ist jedoch unterschiedlich hoch. Man kann zwischen Individualrechtsgütern und öffentlichen Rechtsgütern unterscheiden. Jene Tatbestände, die Individualrechtsgüter schützen (z. B. Leben, Gesundheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum), „entfalten diesen Schutz unabhängig davon, ob es sich um Rechtsgüter von Inländern oder Ausländern handelt“.15 Im Hinblick auf öffentliche Rechtsgüter (z. B. die öffentliche Ordnung) gelten jedoch andere Regeln; denn die polnische Staatsgewalt ist nicht dazu berufen, ausländische Staatseinrichtungen und deren Belange über das Strafrecht zu schützen.16 Es ist daher insofern festzustellen, dass inländische öffentliche Rechtsgüter stärker geschützt werden als ausländische öffentliche Rechtsgüter. Bei Individualrechtsgütern, die im Inland betroffen sind, spielt es hingegen keine Rolle, wem sie zugehören – einem polnischen Staatsangehörigen, einem Ausländer oder einem Staatenlosen. Das Schutzniveau ist in all diesen Fällen identisch.

13 Kła˛czyn´ska in: Giezek/Kła˛czyn´ska/Łabuda, Kodeks karny: cze˛ s´c´ ogólna: komentarz, [Strafgesetzbuch: Allgemeiner Teil. Kommentar] (2007) S. 689. 14 Gardocki, Prawo karne [Strafrecht] (2009) S. 42. 15 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (62013) § 6 Rn. 1. 16 Ibidem S. 75.

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II. Grundprinzipien des polnischen Strafprozessrechts Es ist ein Axiom, dass das Recht und die Gesetze leben, denn die Rechtsvorschriften beschreiben die sich ständig verändernde Realität. Diese Beschreibung ist sehr wichtig; sie muss gut und korrekt die Realität widerspiegeln. In jeder Gesellschaft spielt das Strafrecht eine wichtige Rolle. Dieses wäre aber ohne das Strafprozessrecht eine Vogelscheuche. Seit 1. Juli 2015 begegnen wir in polnischen Gerichten einer neuen strafprozessualen Realität. Der polnische Strafprozess entwickelt sich in Richtung des amerikanischen Strafprozesses. Derzeit stellt er aber eine Mischform, ein Hybrid dar, weil das Ermittlungsverfahren unverändert geblieben ist, während sich die Axiologie und die Regeln der Hauptverhandlung in grundlegender Weise verändert haben. Die Hauptverhandlung nach dem novellierten polnischen Strafprozessrecht ist rein adversatorisch, das heißt, die aktiven, gleichberechtigten Prozessparteien stehen sich im Rechtsstreit vor einem passiven Gericht gegenüber. Das Gericht leitet die Verhandlung und wacht über ihren ordnungsgemäßen Gang; es entscheidet über die Schuld und die rechtliche Bezeichnung der Tat, es verhängt die Strafe sowie die Strafmaßnahmen. Vor der Strafprozessnovelle vom 27. September 201317 trug die ganze Verantwortung für die Wahrheitsfindung und die Entscheidung im Grunde das erkennende Gericht. Dieses war verpflichtet, die wahrheitsgetreuen Tatsachen festzustellen. Seit der Strafprozessnovelle 2013 trägt der Angeklagte eine größere Beweislast (im materiellen Sinn). Die Prozessparteien sind gezwungen, die nötigen Anstrengungen aufzubringen, um ihr Anliegen zu beweisen. Wenn die Prozessparteien die Beweisführung vernachlässigen, können sie den Prozess verlieren. Für den Ausgang des Strafprozesses macht der polnische Gesetzgeber nunmehr die Staatsanwaltschaft, den öffentlichen Ankläger, den Nebenkläger, den Privatkläger und de facto auch den Angeklagten verantwortlich. Es muss angemerkt werden, dass die rechtlichen Möglichkeiten der Prozessparteien (z. B. das erweiterte (!) Recht, die Hilfe eines Verteidigers in Anspruch zu nehmen), nicht mit den tatsächlichen Möglichkeiten dieser Parteien identisch sind – dies ist nicht unbedeutend für die Wahrung der Eigeninteressen. Die wichtigste Frage lautet, ob diese grundlegende Novellierung des Strafprozesses eine Evolution oder Revolution in der polnischen Strafjustiz darstellt und ob die polnische Gesellschaft, aber auch die polnische Staatsanwaltschaft und Polizei für diese grundlegenden Änderungen bereit sind. Vor der Strafprozessnovelle 2013 und damit vor dem 1. Juli 2015 war das polnische Strafverfahren so gestaltet, dass der Straftäter ermittelt und der Strafbarkeit zugeführt wurde, ein Unschuldiger hingegen straffrei bleiben sollte. Seit dem 1. Juli 17 Ustawa z dnia 27 wrzes´nia 2013 r. o zmianie ustawy – Kodeks poste˛ powania karnego oraz niektórych innych ustaw, Dz.U. z 2013 r., Poz. 1247 [Gesetz vom 27. September zur Änderung der Strafprozessordnung und anderer Gesetze; Dz. U. (Gesetzesblatt) 2013, Pos. 1247.

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2015 ist das polnische Strafverfahren so gestaltet, dass der Straftäter ermittelt und der Strafbarkeit zugeführt wird, während eine Person, deren Schuld nicht nachgewiesen wird, straffrei bleibt (Art. 2 § 1 Punkt 1 StPO)18. Außerdem bezwecken die Vorschriften der StPO, dass die Aufgaben des Strafverfahrens dadurch erfüllt werden, dass die im Strafrecht vorgesehenen Maßnahmen richtig angewandt sowie jene Umstände aufgeklärt werden, welche die Begehung der Straftat begünstigt haben; dies soll nicht nur im Hinblick auf die Kriminalitätsbekämpfung geschehen, sondern auch im Hinblick auf die Kriminalitätsvorbeugung und die Festigung der Achtung vor dem Recht und vor den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Art. 2 § 1 Punkt 2 StPO). Darüber hinaus sollen die rechtlich geschützten Interessen des Verletzten berücksichtigt werden (Art. 2 § 1 Punkt 3 StPO) und die Strafsache soll in einer angemessenen Frist zur Entscheidung gelangen (Art. 2 § 1 Punkt 4 StPO). Das bislang wichtigste Grundprinzip des polnischen Strafverfahrens, jenes der materiellen Wahrheit, bleibt unverändert. Nach Art. 2 § 2 StPO sollen allen Entscheidungen wahrheitsgetreue Tatsachenfeststellungen zugrunde liegen. In Wirklichkeit wird aber dieses Prinzip, das für das Strafverfahren so essentiell ist, durch die „neue adversatorische Hauptverhandlung“ gefährdet. Als Beispiel kann man (abgesehen von der Neufassung des Art. 2 § 1 Punkt 1 StPO) auf die Neufassung der Regel in dubio pro reo hinweisen: Gemäß Art. 5 § 2 StPO sind Zweifel, die durch die Beweisaufnahme nicht behebbar waren, zugunsten des Angeklagten zu entscheiden. Vor der Novelle wurden hingegen nur die unbehebbaren Zweifel zugunsten des Angeklagten entschieden. Sehr umstritten ist auch die Regelung in Art. 14 § 2 StPO, weil mit ihr die öffentliche Anklage samt ihrer Folgen einer Privatklage gleichgestellt wird. Nach dieser Vorschrift kann die Staatsanwaltschaft die öffentliche Anklage bis zum Beginn der präzisen Vorführung der Anklage zu Beginn der Hauptverhandlung zurücknehmen. Eine Zurücknahme der öffentlichen Anklage im Lauf der Hauptverhandlung vor dem Gericht erster Instanz ist dagegen nur mehr mit Zustimmung des Angeklagten möglich. Die Wiedererhebung einer Anklage gegen dieselbe Person wegen derselben Tat ist unzulässig. Der Vorsitzende leitet die Verhandlung und wacht über ihren ordnungsgemäßen Gang. Auf Aufforderung des Vorsitzenden (gemäß Art. 171 § 1 StPO) können folgende Beteiligte einer zu vernehmenden Person nach deren freier Äußerung Fragen stellen: der öffentliche Ankläger, der Nebenkläger, der Bevollmächtigte des Nebenklägers, der Privatkläger, der Bevollmächtigte des Privatklägers, der Sachverständige, der Vertreter der Staatskasse (der für die Forderung der Staatskasse auf Rückübertragung des durch die Straftat erlangten Nutzens verantwortlich ist) und dessen Bevollmächtigter, der Verteidiger, der Angeklagte und schließlich die Mitglieder des Spruchkörpers. Jene Prozesspartei, die den konkreten Beweis vorbringt, kann als 18 Strafprozessordnung (StPO) vom 6. Juni 1997 – Dz. U. (Gesetzesblatt) 1997, Nr. 89, Pos. 55 in der geänderten Fassung.

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erste den Zeugen befragen. Falls das Gericht den Beweis vorbringt, stellen die Mitglieder des Spruchkörpers als erste ihre Fragen. Die Bestrebungen des polnischen Gesetzgebers zur Stärkung des adversatorischen Charakters der Hauptverhandlung haben bereits in die StPO 1997 Eingang gefunden. Schon damals war in Art. 370 § 1 StPO dieselbe Reihenfolge vorgesehen, sie hat aber in der Praxis leider nicht funktioniert – denn Hauptvernehmer war immer das Gericht. Nach dem 1. Juli 2015 kann das Gericht grundsätzlich keine Beweise mehr selbst vorbringen (außer in bestimmten Ausnahmefällen, die durch besondere Umstände gerechtfertigt sind; in diesen Fällen sind von Amts wegen Beweise zuzulassen und durch das Gericht selbst vorzubringen; vgl. Art. 167 § 1 StPO). Im gerichtlichen Strafverfahren, das auf Initiative der Parteien eingeleitet wurde, obliegt die Beweisführung diesen Parteien, unter der Voraussetzung, dass der Präsident des Gerichtshofs, der Vorsitzende oder das Gericht die Beweise zulassen. Im Fall der Abwesenheit jener Partei, auf deren Antrag die Beweise zugelassen wurden, oder in durch besondere Umstände gerechtfertigten Ausnahmefällen, kann das Gericht in den Grenzen der Beweisthese die Beweisführung selbst vornehmen. Sehr kontrovers ist auch die neue Regelung des Art. 168a StPO, nach welcher es unzulässig ist, die durch eine rechtswidrige Tat (!) im Sinn des Art. 1 § 1 StGB19 zum Zweck des Strafverfahrens erlangten Beweismittel in das Strafverfahren einzuführen und zu verwenden. Damit wird ein ausdrückliches Beweisverwertungsverbot für Beweismittel aufgestellt, die unmittelbar durch eine Rechtsverletzung erlangt wurden. Diese Bestimmung stellt daher auf ein materiellrechtliches Kriterium ab. Das Beweisverwertungsverbot greift bei Verbrechen, Vergehen und auch bei sonstigen rechtswidrigen Taten ein, die durch einen der Verfahrensbeteiligten oder auch durch jemanden, der kein Beteiligter des Strafverfahrens ist, begangen wurden. Art. 168a StPO definiert allerdings weder den tatbestandlichen Rahmen noch den persönlichen Geltungsbereich. Die Regelung, die durch Straftaten erlangte Beweismittel von der Beweisführung vor Gericht ausschließt, wird in der Praxis als Interpretation des aus dem amerikanischen Verfahrensrecht stammenden Grundsatzes „fruit of the poisonous tree“ gesehen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass der vom Angeklagten vor Gericht erhobene Einwand, dass es sich bei einem belastenden Beweismittel um einen vom Beweisverwertungsverbot des Art. 168a StPO erfassten Beweis handelt, zu einer Aussetzung der Gerichtsverhandlung für die Dauer des separaten Strafverfahrens führen kann („Prozess im Prozess“). Der auf Beweise im Sinn des Art. 168a StPO bezogene Einwand des Angeklagten soll als eine Strafanzeige behandelt werden.

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Es kann nur derjenige zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gezogen werden, der eine rechtswidrige Tat begangen hat, welche zum Zeitpunkt der Tat nach dem Gesetz als Straftat bezeichnet wird und vor dem Tatzeitpunkt die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war; Strafgesetzbuch (StGB) vom 6. Juni 1997, Dz. U. (Gesetzesblatt) 1997, Nr. 88, Pos. 553 in der geänderten Fassung.

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Mit der Strafprozessnovelle 2013 wurden ferner zwei Formen der Verfahrensbeendigung erweitert, nämlich die sogenannten Urteilsabsprachen (Art. 335 i.V.m. Art. 343 StPO; Art. 338a i.V.m. Art. 343a StPO, Art. 387 StPO). Beim abgekürzten Strafverfahren nach Art. 335 StPO steht die freiwillige Unterwerfung des Angeklagten unter eine zwischen ihm (bzw. seinem Verteidiger) und der Staatsanwaltschaft vereinbarten Sanktion im Mittelpunkt. Diese Absprache zwischen dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft bezieht sich auf die zu verhängende Strafe und andere Strafmaßnahmen, ferner auf die Kosten des Strafverfahrens (dies war vor der Novelle nicht möglich). Dieser konsensuale Verfahrensabschluss ist bei allen Vergehen möglich (vor der Novelle nur bei Vergehen, die mit nicht mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind), wenn bezüglich der Umstände der Tatbegehung keine Zweifel bestehen und das Verhalten des Angeklagten die Annahme bestätigt, dass die Ziele des Strafverfahrens ohne Durchführung einer Hauptverhandlung erreicht werden können. Das Gesetz verlangt kein Geständnis des Angeklagten. Confessio non est regina probationum. Der Staatsanwalt kann der Anklageschrift den Antrag auf Erlass eines auf Strafe lautenden Urteils ohne Durchführung einer Hauptverhandlung sowie auf Verhängung einer mit dem Angeklagten vereinbarten Strafe oder Strafmaßnahme für ein Vergehen beifügen. Liegen die Voraussetzungen für einen solchen Antrag nach Art. 335 StPO vor und entstehen durch die Angaben des Beschuldigten im Hinblick auf die ermittelten Beweise keine Zweifel, so kann von der Durchführung weiterer Beweisaufnahmen im vorbereitenden Verfahren abgesehen werden; es sind jedoch jene Beweisaufnahmen durchzuführen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie in der späteren Verhandlung nicht (mehr) durchgeführt werden können. Die Begründung der Anklageschrift kann sich darauf beschränken, auf die ermittelten Umstände zu verweisen. Gibt das Gericht in einer Sitzung vor der Hauptverhandlung dem Antrag statt, so ergeht gegen den Angeklagten ein Urteil. Dem Antrag darf jedoch nur stattgegeben werden, wenn sich der Verletzte diesem nicht widersetzt. Das Gericht kann dem Antrag auch mit der Maßgabe zustimmen, dass die vom Gericht vorgenommene Änderungen durch die Staatsanwaltschaft und den Angeklagten akzeptiert werden. Erachtet das Gericht die Voraussetzungen für die im Antrag vorgeschlagene Entscheidung als nicht gegeben, wird das Strafverfahren nach den allgemeinen Grundsätzen entschieden (Art. 343 StPO). Die zweite Form der Urteilsabsprache ist (seit der Novelle 2013) in Art. 387 StPO (in der Phase der Hauptverhandlung) und in Art. 338a i.V.m. Art. 343a StPO (in der Phase vor der Hauptverhandlung) geregelt. Sie wird als freiwillige Unterwerfung des Angeklagten unter eine vereinbarte Strafe bezeichnet. Bei Art. 387 StPO handelt es sich um eine abgekürzte Hauptverhandlung und eine freiwillige Unterwerfung des Angeklagten unter eine zwischen ihm und dem Gericht vereinbarten Sanktion ohne Durchführung einer Beweisaufnahme. Diese Absprache zwischen dem Angeklagten und dem Gericht bezieht sich nur auf die zu verhängende Strafe und andere Strafmaßnahmen. Sie ist bei allen Verbrechen (!) und Vergehen möglich, wenn be-

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züglich der Umstände der Tatbegehung keine Zweifel bestehen und das Verhalten des Angeklagten die Annahme bestätigt, dass die Ziele des Strafverfahrens ohne Durchführung einer Beweisaufnahme erreicht werden können. Vor der Strafprozessnovelle 2013 war die sogenannte freiwillige Unterwerfung des Angeklagten nur bei Vergehen möglich. Gemäß Art. 387 StPO i.V.m. Art. 60 StGB ist das Gericht bei dieser Verfahrensbeendigung zur Anwendung einer außerordentlichen Strafmilderung berechtigt. Nach Art. 387 StPO kann ein Angeklagter bis zum Ende der ersten Vernehmung aller Angeklagten in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Erlass eines auf eine bestimmte Strafe oder Strafmaßnahme lautenden Urteils ohne Durchführung einer Beweisaufnahme stellen. Das Gericht darf diesem Antrag nur dann stattgeben, wenn an den Umständen der Tatbegehung keine Zweifel bestehen und die Ziele des Verfahrens auch ohne die Durchführung der gesamten Verhandlung erreicht werden; ferner, wenn weder die Staatsanwaltschaft noch der Verletzte dem Antrag widersprechen, sofern dieser ordnungsgemäß vom Termin der Verhandlung benachrichtigt und über die Möglichkeit der Antragstellung durch den Angeklagten belehrt wurde. Das Gericht kann sich vorbehalten, dem Antrag des Angeklagten nur dann stattzugeben, wenn dieser den Antrag nach den Vorgaben des Gerichts abändert. Stimmt das Gericht dem Antrag zu, so kann es die in der Anklageschrift angeführten Beweise oder die von einer Partei vorgelegten Dokumente als gerichtskundig ansehen. Seit der Strafprozessnovelle 2013 kann der Angeklagte schon vor der Zustellung der Mitteilung über den Verhandlungstermin einen Antrag auf Erlass eines auf eine bestimmte Strafe oder Strafmaßnahme lautenden Urteils ohne Durchführung einer Beweisaufnahme stellen (Art. 338a StPO). In einer Sitzung vor der Hauptverhandlung wird dann über diesen Antrag entschieden (Art. 343a StPO). Die Erweiterung der Vorschrift über die konsensuale Verfahrensbeendigung nach Art. 387 § 1 und § 4 StPO auf alle Straftaten schließt in Wirklichkeit die öffentliche und soziale Kontrolle über den Verlauf des Beweisverfahrens aus und hat auf diese Weise einen negativen Einfluss auf die Beurteilung von Strafsachen sogar bei schwersten Verbrechen. In einem solchen Strafverfahren, in dem der Ausgang des Strafverfahrens vereinbart wird, scheinen die Plädoyers der Prozessparteien überflüssig zu sein, obwohl diese Schlussreden kontradiktorisch und bestens geeignet sind, der Öffentlichkeit im Gerichtssaal alle Aspekte des Strafverfahrens und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten bzw. eines Freispruchs vor Augen zu führen. Gemäß Art. 406 StPO erteilt der Vorsitzende nach Abschluss der Hauptverhandlung den Parteien, ihren Bevollmächtigten und, falls, erforderlich, dem gesellschaftlichen Vertreter und schließlich dem Verteidiger und dem Angeklagten das Wort. Umstritten ist auch die neue Fassung des Art. 393 § 3 StPO, der die Verwertung „aller privaten Dokumente, die außerhalb des Strafverfahrens erstellt wurden“ ermöglicht. Nach dieser Vorschrift können in der Verhandlung vor Gericht sämtliche privaten Dokumente (insbesondere Erklärungen, Veröffentlichungen, Briefe und Notizen) verlesen werden, die außerhalb des Verfahrens verfasst wurden. Diese privaten

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Dokumente können unter der Bedingung Grundlage des Urteils sein, dass sie im Verlauf der Hauptverhandlung bekannt geworden sind.20 Die Strafprozessnovelle von 2013 hat damit die frühere Beschränkung, nach der alle außerhalb des Strafverfahrens, aber „für dessen Zwecke“ erstellten private Dokumente von der Beweisführung ausgeschlossen wurden, abgeschafft. Einer der Gründe für diese Abänderung war, dass ermöglicht werden sollte, alle Gutachten von „privaten Sachverständigen“ (informellen Experten) als Beweise für das Strafverfahren zu verwenden. Diese „privaten Sachverständigen“ sind im Beweisverfahren nur als Zeugen zu vernehmen. Der wichtigste Zweifel betrifft die Feststellung von Tatsachen durch diese Experten, die von erheblicher Bedeutung für die Entscheidung der Strafsache sind. Nach Art. 193 StPO erfordert nämlich die Feststellung von Tatsachen, die von erheblicher Bedeutung für die Entscheidung der Strafsache sind, besondere Sachkunde, weshalb ein oder mehrere Sachverständige dem Strafverfahren zugezogen werden. Um die Erstattung eines Gutachtens kann auch eine wissenschaftliche oder eine auf dem Fachgebiet spezialisierte Institution ersucht werden (Art. 193 StPO). Die Zulassung eines Sachverständigenbeweises bedarf überdies eines eigenen Beschlusses. Der Hintergrund der Strafprozessnovelle 2013 war insofern die Tendenz zu einem „sauberen“ Anklagegrundsatz und zu einem adversatorischen Strafverfahren. Das Gericht soll nicht mehr inquisitorisch vorgehen und selbst die Strafsache aufgreifen, sondern es sollte die Einsatzbereitschaft der Prozessparteien verstärkt und erweitert werden. Der Verzicht auf die „gemischte“ Form des Verfahrens in Strafsachen, die uneingeschränkt adversatorische Hauptverhandlung und die erweiterte Möglichkeit der gesetzlichen Vereinbarungen im Strafprozess (plea bargaining) erschweren es, eine für viele Menschen nicht akzeptable Wirklichkeit zu verstehen und gutzuheißen. Weit verbreitet entsteht daraus ein Gefühl der Axiom-normativen Inkohärenz innerhalb des Systems, der Unsicherheit und Ziellosigkeit in der Gesellschaft als Folge plötzlicher Veränderungen, des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung und der Missachtung des Rechts.21 20

Vgl. Art. 410 StPO. Vgl. Kmiecik, Kontrowersyjne unormowania w znowelizowanym kodeksie poste˛ powania karnego [Die umstrittenen Konzepte in der revidierten Strafprozessordnung] Prokuratura i Prawo 1 – 2, 2015; Grabowska-Moroz, Konsultacja [Rücksprache], in: Bodnar/Kładoczny, Reforma procesu karnego – oczekiwania i obawy, szanse i zagroz˙ enia [Reform des Strafverfahrens – Erwartungen und Anliegen, Chancen und Risiken] HFPC, ANALIZY i REKOMENDACJE Nr 4/2015; Ivanova/Krzyz˙anowska, Ryzykowne tempo k.p.k. [Das riskante Tempo der Strafprozessordnung] Dziennik Gazeta Prawna z 16 lutego 2015 r.; Opinia HFPC z 29 stycznia 2015 r. – http://programy.hfhr.pl/monitoringprocesulegislacyjnego/files/2015/01/ opinia-biegli-s%C4 %85dowi-skan.pdf; Grabowska/Wolny, Biegli sa˛dowi w Polsce – raport Helsin´skiej Fundacji Praw Człowieka i Polskiej Rady Biznesu [Gerichtssachverständige in Polen – Bericht der Helsinki-Stiftung für Menschenrecht und des polnischen Business Council] Kwartalnik o Prawach Człowieka 2/2014; Kardas, Podstawy i ograniczenia przeprowadzania i wykorzystywania w procesie karnym tzw. dowodów prywatnych [Grundlagen und Grenzen der Heranziehung und Verwertung von sogenannten privaten Dokumenten im Strafprozess] Palestra nr 1/2015, S. 7 – 23; Grabowska/Pietryka/Wolny, Biegli sa˛dowi w Polsce, Raport Helsin´skiej Fundacji Praw Człowieka i Polskiej Rady Biznesu [Gerichtssach21

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Es ist klar, dass sich das Modell des Strafverfahrens weiterentwickeln muss; seine Hauptfunktionen sollten aber gleich bleiben, weil das Modell des Strafprozesses eng mit einem bestimmten Rechtssystem, der Rechtskultur und dem Rechtsbewusstsein einer konkreten Gesellschaft verbunden ist. Aus diesem Grund weckt ein Teil der grundlegenden Veränderungen im polnischen Modell des Strafverfahrens berechtigte Zweifel.

III. Schluss Prof. Keiichi Yamanaka hat während der feierlichen Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Białystok im November 2007 gesagt: „Ich hoffe, dass der wissenschaftliche Austausch auf dem Gebiet des Strafrechts in Zukunft […] zwischen Polen und Japan anwachsen wird. Es würde mich sehr freuen, wenn die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch Ihre Universität dazu eine Gelegenheit und einen weiteren Anlass bieten könnte.“22 Neun Jahre nach dieser Rede kann man erfreulicherweise feststellen, dass sich die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Staaten sehr gut weiterentwickelt hat und man immer wieder positiven Beispielen dieser Zusammenarbeit begegnet.

verständige in Polen – Bericht der Helsinki-Stiftung für Menschenrecht und des polnischen Business Council] Warszawa 2014; Paradowska, Nadchodzi sa˛dny dzien´ [Der Tag der Abrechnung kommt] Polityka, 18 listopada 2014 r. 22 Profesor Doktor Keiichi Yamanaka. Doktor honoris causa Uniwersytetu w Białymstoku, Białystok 2009, S. 88.

Forensische Aussagepsychologie im Dienste eines wahren Opferschutzes oder Fachwissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Gerichtsgutachten Eleonora Hübner

Einleitung Die Einladung, an der Festschrift für Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka, Kansai Universität, Osaka in Japan anlässlich der Vollendung seines 70. Lebensjahres mitzuwirken, ist eine große Ehre: Abgesehen von seinen großen wissenschaftlichen Verdiensten u. a. auch im Hinblick auf eine intensiven Austausch zwischen japanischen und deutsch-sprachigen Strafrechtswissenschaftlern ist der Jubilar eine beeindruckende Persönlichkeit und ein sehr herzlicher Mensch. Seine Besuche in Salzburg, vor allem auch zur Abhaltung von Gastvorträgen zu hochinteressanten und äußerst aktuellen Strafrechtsthemen an der hiesigen Universität, aber auch zum regen Gedankenaustausch, sind immer eine große Bereicherung. Mein Beitrag befasst sich mit einem wichtigen Bereich der Forensischen Aussagepsychologie, die sich vor allem auch im gerichtlichen Strafverfahren, nämlich speziell in Verfahren gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung entwickelt hat:1 Wie oft kommt es vor, dass gerade in solchen Verfahren, aber auch bei Gewaltdelikten (z. B. Körperverletzung2) wenig bis gar keine Sachbeweise existieren und nur ein fehleranfälliger Personenbeweis3 vorliegt, z. B. lediglich eine belastende Aussage der/des Opferzeugin/-en4 und eine diesen Vorwurf bestreitende Aussage des zu diesem Zeitpunkt vermeintlichen Beschuldigten?5 Es versteht sich von selbst, 1

Vgl. Undeutsch 1967, 26. Vgl. Steller 2015, 17, 57: Nicht nur bei Sexualdelikten, sondern auch bei Mobbing oder Körperverletzungen fehlen „oft Beobachter als Augenzeugen“. 3 Vgl. auch Deckers 2014a, 121: Deckers spricht von den Zeugenaussagen im Strafprozess trotz ihrer hohen Bedeutung vom „wohl unzuverlässigste(n) Beweismittel“; vgl. dazu auch Steller 2015, 23; Kemme et al. 2013, 33, 35, 37; Rzeszut 2012, 288. 4 Zum Begriff des „Opferzeugen“ stellt Steller fest, dass nur dann von einem Opfer gesprochen werden kann, wenn die vermeintliche Tat nachgewiesen werden kann. Davor handelt es sich um einen Zeugen, der einen anderen Menschen beschuldigt, eine Tat begangen zu haben: vgl. Steller 2015, 31. – Der einfacheren Lesbarkeit wegen betreffen die in diesem Beitrag verwendeten personenbezogenen Ausdrücke Frauen und Männer gleichermaßen. 5 Vgl. auch Steller 2013, 11; Steller 2015, 11, 17; Wille 2012, 2, 5 ff., 71 f. 2

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dass es in einer solchen Ausgangslage, also bei der Konstellation Aussage gegen Aussage6, für alle Rechtsprechungsorgane eine äußerst schwierige Aufgabe darstellt, die materielle Wahrheit im Nachhinein zu erforschen. In diesen Fällen kommt daher der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der (Zeugen-) Aussage7 besonderes Gewicht zu, die bekanntlich ureigenste richterliche Aufgabe ist. Sollte aber diesbezüglich die Sachkunde des Richters bzw. des Gerichts nicht ausreichen, kann bzw. muss ein aussagepsychologischer Sachverständiger beigezogen werden. Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen ist sowohl für den Richter als auch für diesen Sachverständigen eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, zumal es einerseits um den Schutz der tatsächlichen Opfer von Sexual- oder Gewaltdelikten geht, zum anderen aber auch um den Schutz von tatsächlich Unschuldigen vor Falschbeschuldigungen samt ihrer katastrophalen Folgen vor allem auch in menschlicher und sozialer Hinsicht. Diese beiden so wichtigen Aspekte des Opferschutzes der Aussagepsychologie8 kommen im zuletzt erschienen Buch von Herrn Prof. Steller, einem erfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen, bereits in seiner Widmung nur allzu treffend zum Ausdruck: „Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Opfer geworden sind: Opfer von sexueller und körperlicher Gewalt oder Opfer von falscher Verdächtigung“.9 Zuvor schon hat er in diesem Zusammenhang betont, dass „diese Begutachtungsstrategie geeignet“ ist, „tatsächlichen Opfern als Zeugen zu ihrem Recht zu verhelfen.“10 Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 30. 7. 199911 Mindeststandards für aussagepsychologische Gutachten festgelegt, die sich vor allem an psychologische Sachverständige richten. Genauso wichtig 6 Steller 2013, 11; Steller 2015, 17; Steller 2008, 300; dazu auch Pfister 2014, 111 ff.; Wille 2012, 2. 7 Wie Pfister zutreffend feststellt, sind bei den Aussagen sowohl solche des Zeugen als auch solche des Beschuldigten gemeint, da beide Personen hinsichtlich „Aussagefähigkeit und Aussageehrlichkeit nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen“ sind: Pfister 2014, 101. 8 Vgl. Steller 2015, 16 f. 9 Steller 2015, o.S., 123 ff., 283, 257: Steller warnt auch vor Falschgeständnissen: „Strafjuristen und Aussagepsychologen sind gut beraten, die Gefahr von Falschgeständnissen ernst zu nehmen – auch bei Kapitaldelikten“; vgl. dazu auch Volbert 2013, 230 ff., die die Besonderheiten eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Frage der Glaubhaftigkeit eines Geständnisses bzw. eines Geständniswiderrufs darstellt, wie z. B. das Aufzeigen von möglichen Befragungsbedingungen oder -strategien, die zu einem falschen Geständnis geführt haben könnten; Wille 2012, 2. 10 Steller 2013, 13. 11 BGH, Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten. Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten): BGH, Urteil vom 30. 7. 1999 – 1 StR 618/98 (LG Ansbach). In NStZ 2000, 100 – 105, im Folgenden BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000.

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ist deren Kenntnis aber auch für den Richter bzw. das Gericht, die solche Gutachten u. a. nachvollziehen müssen, um diese der freien Beweiswürdigung unterziehen zu können. Daher soll hier zunächst auch auf die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Standards für den Richter bzw. das Gericht eingegangen werden. Diesbezüglich wird die berechtigte Frage erörtert, inwieweit diesen Rechtsprechungsorganen die – für ihre ureigenste Aufgabe der Glaubhaftigkeitsbeurteilung unerlässlichen – wissenschaftlichen Erkenntnisse der Forensischen Aussagepsychologie tatsächlich bekannt sind. Auch die richterlichen Bedenken werden erwähnt, „dass die Anzahl von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen durch Sachverständige überhandnehme.“ Letztendlich möchten die Richter ihre ureigenste Aufgabe mit den Methoden der Aussagepsychologie selbst erfüllen.12 Ungeachtet dieser Diskussion fordert Steller für jene Fälle, in denen Aussage gegen Aussage steht oder Sachbeweise fehlen, völlig zu Recht, dass „jeder Mensch das Recht auf diese Prüfmethode haben“ sollte.13 Er bezeichnet die „qualitative Inhaltsanalyse als Substantiierungsmethodik in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen“.14 In der Folge wird kurz auf die allgemeinen Aufgaben des Sachverständigen und speziell auf jene des aussagepsychologischen Sachverständigen eingegangen. Dabei beschränken sich die Ausführungen auf seine einschlägigen Aufgaben im gerichtlichen Strafverfahren, insbesondere zur Frage der Glaubhaftigkeit von Aussagen. Aus Platzgründen muss hier daher die familienrechtspsychologische Sachverständigentätigkeit unberücksichtigt bleiben: Deren vielfältigen und wichtigen Aufgabengebiete reichen beispielsweise von Familienpsychologischen Begutachtungen nach Trennung und Scheidung15, ,zu „Fragen des Sorgerechts und der Umgangsregelung im familienrechtlichen Verfahren“16 bis hin zu solchen Begutachtungen „im Familienrecht aus anderen Anlässen“, wie u. a. die psychologische Begutachtung bei Gefährdung des Kindeswohls oder in Adoptionsfragen17. Im Übrigen kann gerade der „Missbrauch des Missbrauchs“ vor allem auch in Obsorge und/oder Kontaktrechtsverfahren eine Rolle spielen.18 Im Anschluss daran soll die wissenschaftliche Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung von (Zeugen-)aussagen, also die Kernaussagen der Grundsatzentscheidung, näher beleuchtet werden. Selbstverständlich wird in diesem Zusammenhang auch auf die diesbezüglichen Erfahrungen von renommierten Sachverständigen eingegangen. 12

Steller 2013, 25 m. w. N. Steller 2015, 19. 14 Steller 2013, 13. 15 Vgl. statt vieler Balloff 2014, 288 ff. 16 Westhoff u. Kluck 2014, 162 ff.; dazu auch Skatsche u. Rominger 2013, 327 ff. 17 Vgl. statt vieler Salzgeber 2014, 310 ff. 18 Vgl. Hübner 2013, 292 m. w. N. 13

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Durch diese Grundsatzentscheidung sollte die wissenschaftliche Qualität für aussagepsychologische Gerichtsgutachten gesichert werden, zumal es in den 1990er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland zwei große Massenbeschuldigungsverfahren gegeben hat, die auf Grund suggestiv gewonnener kindlicher Zeugenaussagen mittels der sog. „Aufdeckungsarbeit“ in Gang gesetzt wurden: Der Montessori-Prozess vor dem Landgericht Münster in der Dauer von zweieinhalb Jahren und die Wormser Prozesse vor dem Landgericht Mainz in der Dauer von über zweieinhalb Jahren:19 Auf Grund suggestiv gewonnener Zeugenaussagen von möglichen kindlichen Opferzeugen saßen jeweils zahlreiche Personen wegen des Verdachts systematischer sexueller und physischer Misshandlungen in mehreren Kindergärten für lange Zeit in Untersuchungshaft und wurden deswegen angeklagt. In den sog. Wormser Prozessen I bis III wurden fast alle erwachsenen Mitglieder mehrerer Familien verhaftet (wobei eine Großmutter in der Untersuchungshaft „als Folge der falschen Anschuldigung“20 verstarb) und angeklagt, weil ihnen multipler sexueller – teilweise sexuell sadistischer – Missbrauch zahlreicher Kinder vorgeworfen wurde. In allen Verfahren waren jeweils mehrere aussagepsychologische Gutachter mit der sachverständigen Beurteilung des Realitätsgehaltes von Zeugenaussagen betraut. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden letztlich in sämtlichen Strafprozessen alle Angeklagten freigesprochen, weil keinem einzigen von ihnen der in der Anklage behauptete Missbrauch nachgewiesen werden konnte.21 In diesem Zusammenhang spricht Steller auch von „Kollateralschäden“22 und von „Kollateralschäden des Opferschutzes“.23 Steller, der auch in beiden genannten Verfahren beteiligt war und dem – neben anderen aussagepsychologischen Sachverständigen – auch der schlussendlich positive Ausgang der beiden Verfahren zu verdanken ist, spricht diesbezüglich von „Schlechtachten“.24 Diese „Massenmissbrauchsprozesse der 90er Jahre wurden als ,ground zero‘ der Strafjustiz bezeichnet.“ Daraus sollte für die Zukunft gelernt werden, dass ähnliches nicht mehr passiert.25

19

Vgl. Steller 2013, 17; Steller 2015, 144 ff.: für den Montessori Prozess; Dauer: November 1992 bis Mai 1995; 146 ff.: für die Wormser Prozesse: Dauer: November 1994 bis Juni 1997; dazu auch Köhnken 2007, 23; Köhnken 2008, 221; Jansen 2004, § 4 Rz 579 ff. 20 Steller 2015, 150 f.: Steller spricht in diesem Zusammenhang von „verheerenden Wirkungen auf die Kinder und ihre angeklagten Angehörigen“. 21 Dahle 2008, 1; dazu auch Köhnken 2007, 23 f.; Steller 2015, 144 ff.; 146 ff. 22 Steller 2013, 18; dazu auch Steller 2015, 236 f., 265. 23 Steller 2015, 282. 24 Steller 2015, 146, 147 f.; Steller 2013, 23; Steller 2015a, 51. 25 Steller 2013, 19 mwN; Steller 2015, 152 f.

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Durch diese Grundsatzentscheidung hat der BGH „der aussagepsychologischen Methodik Beweiswert zuerkannt und den damals weitverbreiteten eklektisch-intuitiven, zum Teil absurden Vorgehensweisen der Aufdeckungsarbeit eine klare Absage erteilt.“26 Seit einer klärenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz (OLG) im Jahre 200727 gelten diese wissenschaftlichen Standards für aussagepsychologische Gerichtsgutachten auch in Österreich, weshalb kurz auf die dortige spezielle Situation eingegangen werden soll.

I. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen durch den Richter bzw. das Gericht 1. Ureigenste richterliche Aufgabe Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen28 ist bekanntlich ureigenste richterliche Aufgabe. Rzeszut spricht in diesem Zusammenhang von „einer der größten Herausforderungen, denen sich die gerichtliche Rechtspflege regelmäßig zu stellen hat.“29 – Dabei werden nur in bestimmten Fällen Sachverständige für Forensische Aussagepsychologie beizuziehen sein.30 Daher richtet sich die Grundsatzentscheidung des BGH vor allem auch an den „Tatrichter“: Sollte dieser es „ausnahmsweise“ für erforderlich halten, ein Glaubhaftigkeitsgutachten einholen zu lassen, so liegt es „grundsätzlich“ an diesem, „insofern die Einhaltung der dargelegten wissenschaftlichen Mindestanforderungen sicherzustellen.“ Um diesen Zweck zu erfüllen, muss er gegebenenfalls seine Befugnis ausüben, die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten. Laut BGH wären in diesem Zusammenhang eine „präzise Auftragsbeschreibung“ an den Sachverständigen durch den Richter hilfreich: hier sind „insbesondere die Mitteilung der Anknüpfungstatsachen, von denen das Gutachten ausgehen soll“ umfasst. Laut BGH „reicht es aus, dass die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind.“31 26

Steller 2015, 152 f.; dazu auch Aymans 2012, 154 m. w. N. OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 1 ff. 28 Wie Pfister zutreffend feststellt, sind bei den Aussagen sowohl solche des Zeugen als auch solche des Beschuldigten gemeint, da beide Personen hinsichtlich „Aussagefähigkeit und Aussageehrlichkeit nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen“ sind: Pfister 2014, 101. 29 Rzeszut 2012, 288; vgl. dazu auch Pfister 2014, 99. 30 Vgl. Pfister 2014, 100, 102; Pfister 2008, 5, 8; Schneider et al. 2010, 320 f. mwN; Westhoff u. Kluck 2014, 206; vgl. auch Steller 2015, 49. Für die österreichische Rechtsprechung: statt vieler OGH 13 Os 84/07p, 15 Os 137/14 g. Näheres dazu siehe unten. 31 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 105; vgl. dazu auch Pfister 2014, 108 m. w. N. 27

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2. Umfang der Kenntnisse der Rechtsprechungsorgane in Forensischer Aussagepsychologie Diesen Anforderungen kann der Tatrichter laut Pfister zu Recht nur unter der Voraussetzung entsprechen, dass er sich „mit den Grundzügen der Aussagepsychologie vertraut gemacht hat“ und daher mit den Sachverständigen auf dieser Ebene kommunizieren kann. Laut Pfister wird „daraus“ „deutlich“, dass die Grundsatzentscheidung „nicht nur dem Sachverständigen, sondern auch dem Richter Pflichten auferlegt. Sie will aber erkennbar zugleich auch schon Hilfe für den Tatrichter sein, diesen Pflichten nachzukommen.“32 Wie Steller in diesem Zusammenhang feststellt, können die Methoden der Aussagepsychologie „auch von Richtern gelernt werden. Es bedarf nicht immer der Hinzuziehung von Sachverständigen. Es bedarf aber einer Offenheit für außerjuristisches Wissen.“33 Gleichzeitig beklagt er aber, „dass die Aussagepsychologie mancherorts gar nicht bekannt ist oder auf Grund einseitiger Festlegungen nicht benutzt wird.“34 Noch weiter geht die Argumentation, dass „das für die Glaubhaftigkeitsprüfung erforderliche Wissen um die Aussageanalyse ,zum Grundwissen des Richters‘ gehören“ sollte:35 Und genau weil dem Richter – zumindest derzeit mangels der einschlägigen wissenschaftlichen Ausbildung u. a. auch auf universitärer Ebene36 – eben diese Sachkunde fehle, sei er gerade im Hinblick auf die Verhinderung möglicher Fehlurteile verpflichtet, bei Vorliegen der Konstellation Aussage gegen Aussage „zwingend“ einen Sachverständigen zu beauftragen.37 Wenn sich der Richter z. B. in Grenzfällen über das Ausreichen seiner Sachkunde nicht sicher sein sollte, „muss“ er laut BGH „in der Zuziehung von Sachverständigen ,eher ein Zuviel als ein Zuwenig tun‘“.38 Deckers stellt im Zusammenhang mit den richterlichen Pflichten klar, dass „der Richter als Entscheidungsträger im erkennenden Verfahren mit den Prüfungskriterien aus der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs ebenso umzugehen verstehen muss wie der aussagepsychologische Sachverständige.“39 Das bedeutet, dass auch für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen durch den Richter selbst die „Erkenntnisse der Aussagepsychologie ihre Gültigkeit“ behal32

Pfister 2014, 108 f. Steller 2014, 49. 34 Steller 2015, 31. 35 Wille 2012, 28 m. w. N. 36 Vgl. auch zur „Aus- und Weiterbildung in Rechtspsychologie“ an deutschen Universitäten: die Rechtspsychologie ist in den dortigen Studienplänen „selten verankert“, und pflegt „eher ein ,Orchideendasein‘“: Kury u. Obergfell-Fuchs 2012, 36 ff.; dazu auch Volbert 2012, 256. 37 Wille 2012, 28, 30. 38 Schneider et al. 2010, 321 m. w. N. 39 Deckers 2014b, 131 m. w. N. 33

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ten: Je nach Einzelfall muss also der Richter die Aussage „auf Konstanz, auf Stimmigkeit, auf Qualitätsmerkmale“ untersuchen und dabei auch mögliche Fehlerquellen beachten. Daher ist auch der Eindruck Pfisters durchaus nachvollziehbar, dass die Grundsatzentscheidung des BGH „zu einer deutlichen Verbesserung der Urteile beigetragen“ hat.40 „Die eigentliche forensische Relevanz“ der wissenschaftlichen Methode der Aussagepsychologie entwickelt sich laut Deckers „– mehr und mehr – dahin, die unbewussten Verfälschungs- und Verzerrungsprozesse aufzuspüren, die eben nicht vordergründig daherkommen und leicht durchschaubar sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Prinzip der Glaubhaftigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage als ,ureigene Aufgabe des Tatrichters‘ als – zunehmend – problematisch dar.“41 Meines Erachtens kann es für den Richter tatsächlich sehr hilfreich sein, gerade in komplexen Strafverfahren auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden der Aussagepsychologie bei seiner ureigensten Aufgabe der Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen im Rahmen der Beweiswürdigung42 zurückgreifen zu können.43 Beispielsweise sind hier vor allem Sexual- oder Gewaltdelikte denkbar, bei denen z. B. eine „spezielle Beweissituation“44 gegeben ist, wie u. a. die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ oder ein „Missbrauch des Missbrauchs“. Dies gilt umso mehr, als es vor allem in solchen Verfahren um den bereits oben erwähnten Opferschutz in beiden Richtungen geht: Die Anwendung dieser wissenschaftlichen Methode kann nämlich entscheidend dazu beitragen, dass tatsächlich Schuldige zur Verantwortung gezogen werden können und vor allem auch verhindern, dass tatsächlich Unschuldige u. a. im Gefängnis sitzen.45 Genauso sollte die Hinzuziehung von aussagepsychologischen Sachverständigen in besonders schwierigen Fällen ebenfalls vom Richter als Unterstützung angesehen werden und keinesfalls als Vorwegnahme der freien richterlichen Beweiswürdigung. Selbstverständlich würden all diese Gründe eindeutig dafür sprechen, die Forensische Aussagepsychologie und ihre für den Richterberuf so wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse durch ihre feste Verankerung sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der Richterausbildung aufzuwerten.46 – Auch im Hinblick auf 40

Pfister 2014, 109; vgl. dazu auch Volbert 2012, 256; Hübner 2013, 281 m. w. N. Deckers 2014b, 148. 42 Vgl. Pfister 2014, 100: Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen ist Teil der richterlichen Beweiswürdigung, die ureigenste richterliche Aufgabe ist. 43 Vgl. dazu auch Pfister 2014, 117 mwN: „Die Erkenntnisse der Aussagepsychologie können helfen, dass der Strafprozess seine zentrale Aufgabe erfüllt, … : die Ermittlung der Wahrheit.“ 44 Pfister 2014, 111. 45 Vgl. Steller 2015, 19. 46 Vgl. Wille 2012, 75 f.: eine fundierte Ausbildung „in der forensischen Beweislehre“, „insbesondere in der Aussagepsychologie“ fehlt sowohl in Deutschland als auch in Österreich, dazu auch Kemme et al. 2013, 48 ff. 41

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die aussagepsychologischen Sachverständigen spricht sich Volbert für eine „universitäre Verankerung von Rechtspsychologie“ als „einen wesentlichen Bestandteil der Qualitätssicherung“ aus, „da Gutachtenqualität immer von den wissenschaftlichen Grundlagen, die zur Verfügung stehen, abhängig ist.“47 3. Beiziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen Wie wichtig die wissenschaftlichen Anforderungen für ein aussagepsychologisches Gutachten laut BGH sind, zeigt auch die Pflicht für einen Prozessbeteiligten, auf die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen hinzuwirken. Sollte das Gericht einem solchen Beweisantrag nicht entsprechen, muss dieses laut Grundsatzentscheidung seine Ablehnung nur dann begründen, wenn der Antragsteller einen Mangel des Erstgutachtens konkret vorgebracht hat. In diesem Fall wird letzterer grundsätzlich zu dem behaupteten Mangel gehört werden und Gelegenheit bekommen, dazu Stellung zu nehmen.48 Von Seiten der Verteidigung ist es in manchen Fällen schwierig, Staatsanwaltschaft oder Gericht von der Notwendigkeit und Bedeutung eines aussagepsychologischen Gutachtens zu überzeugen.49 Im Sinne des oben Erwähnten wäre es also auch diesbezüglich für den Richter umso hilfreicher, selbst über die Kenntnisse auf dem Gebiet der Aussagepsychologie zu verfügen. Dieser muss laut Grundsatzentscheidung des BGH aber auch Kenntnis von der Qualität des Sachverständigen haben, wofür notwendig ist, ebenfalls über die Mindestanforderungen an ein aussagepsychologisches Gutachten Bescheid zu wissen.50 Nach Westhoff und Kluck müssen Staatsanwaltschaften und Gerichte nunmehr auch prüfen, „ob ein vorgelegtes Gutachten den in dem genannten Urteil vom BGH vorgegebenen Richtlinien entspricht.“51 Laut BGH wird vom Richter nicht nur die Fähigkeit erwartet, Aussagen im Alltag auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, sondern etwa auch in Problemfällen die Qualität der Arbeit von aussagepsychologischen Sachverständigen richtig zu beurteilen.52 In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass das Gericht bei Ablehnung eines aussagepsychologischen Gutachtens unter Berufung auf die eigene Sachkunde dies im Urteil darzulegen hat.53

47

Volbert 2012, 256. BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 105. 49 Schwaighofer 2014, 21. 50 Pfister 2008, 5. 51 Westhoff u. Kluck 2014, 207. 52 Vgl. Pfister 2008, 5; an diesen Grundsätzen hat der BGH in seiner neueren Rechtsprechung festgehalten: Pfister 2008, S. 7 m. w. N. 53 Deckers 2014a, 128 mwN; dazu auch Kemme et al. 2013, 37. 48

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Auch gilt dies für den Fall, dass das Gericht einem eingeholten Gutachten nicht folgt: besonders hier ist das Gericht verpflichtet, sich genau mit dem Gutachten in seinem Urteil auseinanderzusetzen und zu belegen, dass dieses „über das notwendige Fachwissen verfügt“. Sinngemäß dasselbe gilt im umgekehrten Fall, wenn also das Gericht dem Gutachten vollinhaltlich folgt: auch hier muss es im Urteil die genaue Begründung dafür angeben.54 Abschließend sei noch erwähnt, dass der BGH beim Verdacht einer Sexualstraftat an einem Kind die Beiziehung eines Sachverständigen schon bei dessen ersten Vernehmung empfiehlt, der „über besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie verfügt.“55 Auch in Österreich kann ein Sachverständiger mit der Vernehmung bei der sog. „kontradiktorischen Vernehmung“ betraut werden, die dort schon seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten in der Strafprozessordnung verankert ist.56 Im Vordergrund dieser Regelung steht u. a. der Schutz des Opfers vor der sog. sekundären Viktimisierung: abgesehen von der angemessenen Reaktion des sozialen Umfeldes auf seine besondere Situation sollen dem Opfer dadurch mehrfache Vernehmungen erspart werden. Allerdings wird diese abgesonderte Vernehmung im Hinblick auf den schon mehrfach angesprochenen doppelten Opferschutz dahingehend kritisiert, dass das Verbot der erneuten Vernehmung des Opferzeugen z. B. in der Hauptverhandlung „die materielle Wahrheit beschränkt“.57 4. Akzeptanz der Aussagepsychologie in der Strafjustiz Die Grundsatzentscheidung des deutschen BGH hat laut Köhnken „sehr weit in die Sachverständigentätigkeit eingegriffen“. Trotzdem wurde sie sowohl bei den meisten deutschen psychologischen Sachverständigen als auch bei vielen dortigen Richtern und Staatsanwälten, die mit Sexualdelikten an Kindern befasst waren, als „(überwiegend sehr) positiv“58 bewertet, weil diese „ihre Arbeit erleichtert“ habe.59 An dieser Stelle sei nochmals auf den entsprechenden Eindruck Pfisters hingewiesen, dass die Grundsatzentscheidung des BGH „zu einer deutlichen Verbesserung der Urteile beigetragen“ hat.60 Auch Volbert bemerkt dazu positiv, dass Gerichte „heute“ 54 Deckers 2014a, 128 f.; dazu auch BGH, NStZ 2013, 56, der diesbezüglich vom „besseren Fachwissen“ spricht. 55 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103 m. w. N. 56 Vgl. § 165 öStPO. 57 Wille 2012, 111 ff. m. w. N. 58 Klammern durch die Verfasserin. 59 Köhnken 2007, 33 f.; Volbert 2012, 254. 60 Pfister 2014, 109; vgl. dazu auch Hübner 2013, 281 m. w. N.

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„die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen mit größerer Sorgfalt in den Urteilsgründen erörtern als früher und dabei regelmäßig geeignete Prüfkriterien anlegen.“61 In der Grundsatzentscheidung des BGH wurde „der aussagepsychologischen Logik und Methodik Beweiswert zuerkannt, während Deutungen von Spiel und Zeichnungen als nur pseudopsychologisch begründeten Beurteilungsstrategien eine Absage erteilt wurde.“ Wie Steller diesbezüglich weiter feststellt, kann „derzeit von einer breiten Akzeptanz der Aussagepsychologie in der Strafjustiz“ ausgegangen werden.62 Gleichzeitig gab es aber auch gegenteilige Stimmen aus richterlichen Kreisen, die eine vermehrte Anzahl von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen durch Sachverständige beklagten. Vor allem sprach sich ein deutscher Fachvertreter dafür aus, dass Richter ihre ureigenste Aufgabe „selbst erledigen“ sollten. Dabei werden laut Steller aber die „Erkenntnisse und Methoden der aussagepsychologischen Wissenschaft nicht in Frage gestellt“: Vielmehr wird von Richterseite gefordert, „dass diese von Richtern angenommen bzw. übernommen und angewendet werden sollen“.63 Angesichts dieser Ausgangslage steht einer erfolgreichen Zusammenarbeit der Strafjustiz mit den aussagepsychologischen Sachverständigen im Sinne eines erweiterten Opferschutzes nichts entgegen. Dafür sind laut Steller die Kenntnisse auf dem Gebiet der Aussagepsychologie bei den Richtern die Basis, wobei es keine Rolle spielt, ob sie sich diese „per Fortbildung oder per Sachverständigenbeweis zu Nutze machen.“64

II. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen durch den aussagepsychologischen Sachverständigen 1. Allgemeines zum Begriff des Sachverständigen Da sich etwaige aussagepsychologische Fragestellungen bekanntlich speziell im gerichtlichen Strafrecht, vor allem bei Sexual-, aber auch Gewaltdelikten auftun können, wird hier lediglich auf die Sachverständigen in diesen Verfahren eingegangen. Wenn die Sachkunde des Richters bzw. Gerichts nicht ausreicht65, kann von diesem ein Sachverständiger mit einer bestimmten Fragestellung beauftragt werden. Der Sachverständige an sich gehört zu den persönlichen Beweismitteln66 und

61

Volbert 2012, 256. Steller 2013, 25. 63 Steller 2013, 25 m. w. N. 64 Steller 2013, 25. 65 Dazu auch Kemme et al. 2013, 36. 66 Volbert 2010, 9; dazu auch Rzeszut 2012, 293, der betont, dass der Sachverständige „lediglich Beweismittel ist, ohne selbst als Beweis zu gelten.“ 62

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muss unabhängig sein: Das bedeutet, dass er – wie der Richter – zur Objektivität und Unparteilichkeit verpflichtet ist.67 Er ist auf Grund seines besonderen Fachwissens in der Lage, beweiserhebliche Tatsachen in einem Befund festzustellen und daraus ein Gutachten zu erstellen, indem er „rechtsrelevante Schlüsse“ zieht und diese begründet.68 Der Sachverständige beurteilt also nur die Tatfragen und keine Rechtsfragen, die dem Gericht vorbehalten bleiben. Befund und Gutachten unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung.69 Sachverständige müssen Befund und Gutachten „nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln Ihrer Wissenschaft oder Kunst oder Ihres Gewerbes“ abgeben. Zu ihren weiteren Pflichten gehören z. B. das Befolgen der Ladungen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts und das Beantworten der Fragen bei Verhandlungen, Vernehmungen und Tatrekonstruktionen.70 Der Sachverständige ist Teil der Rechtspflege und ein Hilfsorgan des Gerichts. So bezeichnen Steller und Volbert Sachverständige im Allgemeinen als „Gehilfen des Gerichts“: die Trennung der Aufgaben von Gerichten und aussagepsychologischen Sachverständigen funktioniert, „wenn Gerichte ihre ,Leitungsfunktion‘ wahrnehmen und Aussagepsychologen ihre ,Gehilfenrolle‘ sachkundig erfüllen.“71 Das bedeutet vor allem, dass es dem Gericht (und allen Verfahrensbeteiligten) also möglich sein muss, die Schlussfolgerungen des Sachverständigen nachzuvollziehen, um die Beweise autonom nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung würdigen zu können. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die Ergebnisse des Gutachtens unreflektiert übernommen werden könnten.72

2. Der aussagepsychologische Sachverständige Bezüglich der Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen hat der BGH festgestellt, dass dieser grundsätzlich erst bei Vorliegen von „Besonderheiten“ zu Rate gezogen werden soll, „die Zweifel an der Sachkunde des Gerichts hinsichtlich der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage aufkommen lassen können.“73 67

Volbert 2010, 11; dazu auch Scaria 2012, 172. Vgl. die Definition des Sachverständigen in § 125 Ziffer 1 öStPO. 69 Vgl. Schwaighofer 2014, 11; dazu auch Scaria 2012, 176. 70 Vgl. § 127 Abs 2 öStPO; dazu auch der Sachverständigeneid gemäß § 5 österreichisches Sachverständigen- und Dolmetschergesetz (SDG), BGBl 1975/137 idgF. 71 Steller u. Volbert 1997, 12 mwN; Steller 2013, 25: Steller bezeichnet sich selbst als „sachverständiger Gehilfe von Gerichten“; dazu auch Kemme et al. 2013, 48. 72 Köhnken 2007, 31 mwN; Näheres dazu siehe unten unter Transparenz und Nachvollziehbarkeit. 73 Pfister 2014, 103; dazu auch Deckers 2014a, 127; vgl. dazu auch BGH, NStZ 2001, 105 mwN; Pfister 2008, 7; Steller 2008, 300. 68

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Der gerichtliche Auftrag wird Sachverständigen nach Lau, Böhm und Volbert in der Regel nur dann erteilt werden, wenn die betreffende Zeugenaussage von zentraler Bedeutung für ein Verfahren ist und zumeist Opferzeugen, überwiegend zu Sexualdelikten, beteiligt sind.74 In solchen Fällen, in denen die Aussage des Opferzeugen das einzige Beweismittel ist, muss dieser Beweis vom Richter bzw. Gericht „unter Berücksichtigung der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitskriterien“ gewürdigt werden.75 So ist beispielsweise die Einholung eines Sachverständigengutachtens vom BGH bejaht worden, wenn der Zeuge Geschehnisse schildert, die lange zurückliegen und „der Erinnerung des Zeugen für eine längere Zeit entzogen waren“.76 Aus der aussagepsychologischen Gutachterpraxis an der Universität Berlin wird u. a. berichtet, dass „seit einigen Jahren“ solche Fallkonstellationen zunehmen, „bei denen eine Persönlichkeitsstörung der Aussageperson, d. h. der Belastungszeugin bei Sexualdelikten (deutlich seltener: Belastungszeuge), den Grund für die Auftragserteilung darstellt.“77 Dieser Trend bei aussagepsychologischen Fragestellungen spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des BGH wider: Vermehrt werden dort Probleme bei der Beurteilung von Aussagen psychisch auffälliger „und dabei vor allem persönlichkeitsgestörter erwachsener Zeugen“ erörtert. Hier kann z. B. die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine Rolle spielen.78 Das bedeutet aber laut Pfister „keinesfalls“, dass z. B. in diesem Fall „stets“ eine Begutachtung durch einen Sachverständigen notwendig ist. Eine diesbezügliche Begutachtung wird daher vom jeweiligen Einzelfall abhängen.79 3. Exkurs: Wann sollen laut deutschem BGH Sachverständige für Forensische Aussagepsychologie vom Richter/Gericht beigezogen werden?80 • Sollte der Richter/das Gericht es für erforderlich halten, kann ein Sachverständiger für Forensische Aussagepsychologie zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben z. B. eines Zeugen herangezogen werden, „wenn ,normalpsychologische‘ Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkprozesse in Rede stehen“. Auch 74

Lau et al. 2008, 60; vgl. dazu auch OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 2. Deckers 2014a, 129. 76 Deckers 2014a, 128. 77 Steller u. Böhm 2008, 37: dies wird auch von anderen deutschen Bundesländern bestätigt; dazu auch Steller 2013, 23 f. 78 Steller u. Böhm 2008, 37 f.; Steller u. Böhm 2006, 42 f.; Nach dem internationalen Diagnosesystem DSM-IV Cluster B „imponiert“ bei dieser „emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus“ der ICD-10 „das Dramatische, die starke Emotionalität und der launische Stimmungswechsel“ (Steller u. Böhm 2008, 38; Lau et al. 2008, 63); dazu auch Volbert 2010, 30 m. w. N. 79 Pfister 2014, 103. 80 Näheres dazu Hübner 2013, 283 f. m. w. N. 75

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bei einer intellektuellen Minderleistung eines Zeugen kann dies der Fall sein.81 Der forensisch-psychologische Sachverständige sollte zusätzlich allenfalls vorhandene frühere fachpsychiatrische Gutachten beachten.82 • bei kindlichen und jugendlichen Zeugen o Aussagepsychologische Sachverständige sollen laut deutschem BGH vom Richter bzw. Gericht hier nur dann herangezogen werden, „wenn das Kind oder der Jugendliche vom ,gewöhnlichen Erscheinungsbild‘ Gleichaltriger abweicht.“83 – Dies ist z. B. dann gegeben, wenn dieses „deutlich entwicklungsverzögert, verwahrlost, verhaltensauffällig oder geistig zurückgeblieben wirkt.“ Auch bei „Geschehensabläufen aus der Zeit der Geschlechtsreifung“ kann es notwendig sein, einen aussagepsychologischen Sachverständigen zu bestellen.84 o Dasselbe gilt, wenn das Tatgeschehen so weit zurückliegt, dass die Erinnerungsfähigkeit des Zeugen in Zweifel gezogen werden muss oder wenn der kindliche Zeuge noch besonders jung ist. Dies wird grundsätzlich für das Alter unter 4 12 Jahren angenommen.85 Die aussagepsychogische Begutachtung ist nach Westhoff und Kluck in diesen Fällen deshalb besonders notwendig, weil „hochspezifische psychologische Kenntnisse über entwicklungspsychologische Besonderheiten der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und der Kommunikation erforderlich sind, um die mögliche Erlebnisbegründetheit einer kindlichen Zeugenaussage beurteilen zu können.“86 o Für den Fall, dass das mutmaßlich geschädigte Kind bereits suggestiv befragt wurde, ist das Sachwissen des Richters/Gerichts vom deutschen BGH als nicht ausreichend angesehen worden.87 Auch in jenen Fällen muss laut BGH beispielsweise ein aussagepsychologischer Sachverständiger zu Rate gezogen werden, in denen der kindliche Zeuge „zuvor jeden sexuellen Kontakt mit dem Beschuldigten verneint hat und erst auf gezielte Befragung der Kriminalpolizei Aussagen zu einem mehrere Jahre zurückliegenden sexuellen Missbrauch macht.“88 So ist nach Volbert „gedächtnis-, entwicklungs- und/oder klinisch-psychologische Sachkunde notwendig“, „um in komplexen Fällen problematische Bedingungen zu identifizieren.“ Wie Volbert weiter dazu feststellt, „muss unterschieden werden, ob Besonderheiten im Einzelfall auch bei tatsäch81 Hervorhebungen durch die Verfasserin; Pfister 2008, 8; Lau et al. 2008, 60; Steller u. Böhm 2006, 42 m. w. N. 82 Pfister 2008, 8 m. w. N. 83 Hervorhebungen durch die Verfasserin. 84 Schneider et al 2010, 321 m. w. N. 85 Schneider et al. 2010, 321 m. w. N. 86 Westhoff u. Kluck 2014, 206 mwN, dazu auch Volbert u. Lau 2008, 290 mwN, 291 ff. 87 Vgl. BGH, NStZ 2001, 105. 88 Schneider et al. 2010, 321 mwN; dazu auch Westhoff u. Kluck 2014, 206 m. w. N.

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lichem Erlebnishintergrund erklärbar sind oder als Hinweis auf eine problematische Aussagegenese gewertet werden müssen.“89 Laut Entscheidung des OLG Linz vom 26. 1. 2007 hat sich z. B. „doch die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens als erforderlich herausgestellt und ist deshalb die Heranziehung eines Aussagepsychologen geboten“, um u. a. die „Aussagegenese“ „einer psychologischen Glaubwürdigkeitsbeurteilung zu unterziehen. Durch diese Gutachten sollte auch geklärt werden, ob eine möglicherweise überzogene Darstellung der Zeugin (sexueller Missbrauch im Auto) Einfluss auf die Glaubwürdigkeit/Glaubhaftigkeit der übrigen Schilderungen der Zeugin haben könnte, zumal der rechtskräftige Schuldspruch primär auf den Aussagen dieser Zeugin beruht.“90 • Auch bei den weiteren Besonderheiten des Falles kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen geboten sein.91 Dazu werden z. B. „aktuelle oder dauerhafte Einschränkungen der geistigen (kognitiven) Leistungsfähigkeit des Zeugen“ oder auch „Widersprüche zwischen verschiedenen Zeugenaussagen, die nicht durch andere Mittel aufgeklärt werden können“, gezählt.92 „Auch für Zeugen mit Persönlichkeitsstörungen“ hat der BGH „Diplom-Psychologen“ „als kompetente Sachverständige eingeschätzt“: Im Urteil vom 11. 09. 2002 (1 StR 171/02) „formulierte der 1. Strafsenat in einer Fallkonstellation mit einer persönlichkeitsgestörten Zeugin, dass der Tatrichter zu entscheiden gehabt habe, ob ,hier in erster Linie die Zuziehung jugendpsychiatrischen oder aber aussagepsychologischen Sachverstandes in Betracht gekommen wäre‘ “93 Der Vollständigkeit halber sei hier auch kurz erwähnt, dass Sachverständige für Forensische Psychiatrie grundsätzlich für die Beurteilung der reinen Glaubhaftigkeit von Aussagen in der Praxis nicht zuständig sind. Allerdings können diese sehr wohl bei bestimmten Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit94, z. B. beim Vorliegen einer schizophrenen Psychose oder einer Epilepsie vom Richter bzw. Gericht bestellt werden.95

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Volbert 2008, 18. OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 2, 8 m. w. N. 91 Schneider et al. 2010, 321 m. w. N. 92 Westhoff u. Kluck 2014, 206. 93 Zitiert nach Steller u. Böhm 2006, 48 m. w. N. 94 Näheres zum Begriff Aussagetüchtigkeit dazu siehe unten. 95 Vgl. Pfister 2008, 8 mwN; dazu auch Pfister 2014, 104 ff.; OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 8; Näheres dazu vgl. Hübner 2013, 283 f. mwN; „Aktueller Kriterienkatalog für Zuständigkeiten klinisch-psychologischer bzw. psychiatrischer Sachverständiger“, in: Giacomuzzi Salvatore (Hg.), Forensisch-psychologische Begutachtung in der Praxis, Verlag Krammer, 1. Auflage, Wien 2014, 387. 90

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III. Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Gerichtsgutachten Wie bereits oben erwähnt, sind diese Grundsätze auch für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung durch den Richter bzw. das Gericht von Bedeutung. 1. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung Wie bereits die Grundsatzentscheidung klärend feststellt und Köhnken diesbezüglich von einem „allgemein akzeptierten Grundsatz“ spricht96, steht bei der aussagepsychologischen Begutachtung nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit seiner Aussage im Mittelpunkt.97 Trotzdem lassen sich laut Steller „immer noch viele Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte und auch Gutachter bei der Wahrheitssuche dazu verleiten, personale Eigenschaften, also den vermeintlichen Charakter einer Person, zu bewerten.“ Dies kann u. U. zu „Vor- und Fehlurteilen“ führen.98 Vor allem im Hinblick auf diese berechtigten Sorgen solch eines renommierten und äußerst erfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen soll auf diese entscheidenden Begriffe auch hier99 näher eingegangen werden. a) Glaubwürdigkeit der aussagenden Person Da dieser Begriff sowohl in der deutschen als auch in der österreichischen Rechtssprache noch immer stark verbreitet ist100, kann es in der Praxis vorkommen, dass er u. a. auch bei Gutachtensaufträgen an aussagepsychologische Sachverständige häufig gebraucht wird. Steller und Volbert beurteilen die Verwendung des Begriffes „Glaubwürdigkeit der aussagenden Person“ allerdings „bei genauer Betrachtung (als) problematisch“, da er nämlich mit der „Existenz einer entsprechenden Eigenschaft i.S. eines (stabilen) Persönlichkeitsmerkmales“ verbunden ist.101 – In der Forensischen Aussagepsychologie ist es jedoch bis heute noch nicht gelungen, eine wissenschaftlich eindeutige Definition einer allgemeinen „,Glaubwürdigkeit‘ im Sinne eines Eigenschaftskonzeptes einer Person“, d. h. als „dauerhafte personale Eigenschaft“ zu erstellen.102 96

Köhnken 2014, 18 f. Vgl. Steller 2015, 49. 98 Steller 2015, 25 f. 99 Näheres auch schon bei Hübner 2010, 6 f.; Hübner 2013, 279 ff. 100 Steller u. Volbert 1997, 21. 101 Steller u. Volbert 1997, 21; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101; siehe auch Pfister 2008, 6 m. w. N. 102 Steller 2005, 6 mwN; Steller u. Volbert 1997, 21, 15, 36; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101; BGH NStZ 2001, 46; dazu auch Rzeszut 2012, 288. 97

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Daher kann es nicht darauf ankommen, ob ein Vernommener als Person generell „glaubwürdig“ ist oder eher nicht (z. B. Priester versus Prostituierte), sondern ausschließlich darauf, ob die Aussage des Vernommenen als solche glaubhaft ist (unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Person an sich).103 In der Praxis ist die Verwendung des Begriffs „Glaubwürdigkeit“ bei der Beauftragung eines Gutachtens durch einen aussagepsychologischen Sachverständigen dann kein Problem, wenn letzterer diesen Auftrag in einen solchen zur Beurteilung des Realitätsgehaltes der Aussagen z. B. eines Zeugen (berichtigend) umdeutet. Verwehrte man ihm dies, müsste der Sachverständige laut Steller den Gutachtensauftrag ablehnen, da nach dem soeben Ausgeführten zur Personeneigenschaft „Glaubwürdigkeit“ von psychologischer Seite nichts ausgesagt werden könnte.104 b) Glaubhaftigkeit der Aussage Wenn u. a. forensische AussagepsychologInnen in schwierigen Fällen vom Gericht als Sachverständige herangezogen werden, beurteilen sie seit über sechs Jahrzehnten die Glaubhaftigkeit der Aussage:105 Udo Undeutsch hat die Forderung 1953 auf dem 19. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Köln aufgestellt, dass die Glaubhaftigkeit der Aussage in den Mittelpunkt der Glaubhaftigkeitsbeurteilung gestellt werden soll. Damit hat eine neue Phase der Aussagepsychologie begonnen, die die Glaubhaftigkeitsbegutachtung bis heute bestimmt.106 Es geht hier also um die Frage, ob die Aussage z. B. des Opferzeugen erlebnisbasiert ist, d. h. der objektiven Realität entspricht oder nicht.107 Wie unten näher behandelt wird, spielt dabei die Persönlichkeit des Zeugen zwar auch eine Rolle, aber nur im Rahmen seiner individuellen Aussagekompetenz.108 c) Aussagetüchtigkeit In diesem Zusammenhang soll auch dieser wichtige Begriff der Forensischen Aussagepsychologie näher erläutert werden: Nach Greuel et al.109 ist eine Person aussagetüchtig, wenn sie überhaupt eine zuverlässige Aussage machen kann: Der Aus103

Vgl. dazu auch Steller u. Volbert 1997, 15; Steller 2005, 7 f.; Bender et al. 2007, Rz 214. Steller 2005, 7 f. mwN; dazu auch Steller u. Volbert 1997, 35 f. mwN; dazu auch OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 2, das die beiden Begriffe „Glaubwürdigkeit/Glaubhaftigkeit“ gebraucht. 105 Pfister 2008, 5. 106 Undeutsch 1967, 51 ff. mwN; Jansen, § 1.1 Rz 16; dazu auch BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101; Steller u. Böhm 2006, 39. 107 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101 mwN; Jansen 2004, § 1.2 Rz 69, § 1.1 Rz 16; Volbert 2004, 15. 108 Jansen 2004, § 1.2 Rz 69. 109 Zitiert nach Volbert u. Lau 2008, 289 mwN; Lau et al. 2008, 60 mwN; Volbert 2004, 13; Greuel et al. 1998, 79; Undeutsch 1967, 56. 104

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sagende muss also dazu fähig sein, einen spezifischen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, diesen in dem zwischen dem Geschehen und der Befragung liegenden Zeitraum im Gedächtnis zu bewahren, das Ereignis angemessen abzurufen, die Geschehnisse in einer Befragungssituation verbal wiederzugeben und Erlebtes von anders generierten Vorstellungen zu unterscheiden. Aussagetüchtigkeit bedeutet demnach nicht Glaubhaftigkeit110 und muss nur dann speziell geprüft werden, wenn sie im Einzelfall anzuzweifeln ist.111 Nach Steller liegt eine „allgemeine“ Einschränkung der Zeugentüchtigkeit z. B. vor, wenn es sich um sehr junge Zeugen handelt, also um Kinder vor Vollendung des 4. Lebensjahres. Dies bedeutet also, dass 1 bis unter 4 jährige Zeugen „in der Regel“ aussageuntüchtig sind.112 Auch manche (= schwere) psychopathologische oder auch somatische Auffälligkeiten des Zeugen zählen dazu,113 wenn z. B. eine Kommunikation mit dem Zeugen nicht möglich ist, etwa bei einem spastisch gelähmten Zeugen, der sich sehr schwer verständigen kann, selbst wenn er sich an den fraglichen Vorfall gut zu erinnern vermöchte.114 Die Aussagetüchtigkeit kann u. a. bei schweren chronischen organischen Psychosen oder schweren geistigen Behinderungen dauerhaft aufgehoben sein.115 Im Gegensatz dazu kann diese bei Persönlichkeitsstörungen, wie z. B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht von vorneherein verneint werden.116 Wenn die Aussagetüchtigkeit fehlt, kann eine gleichwohl erhobene Aussage im weiteren Verfahren selbstverständlich nicht verwertet werden.117 Aus der facheinschlägigen Gutachterpraxis wird dazu festgestellt, dass die Aussagetüchtigkeit nur in verschwindend wenigen Fällen nicht gegeben ist: So hat beispielsweise Volbert erklärt, dass sie in ihrer langjährigen Begutachtungstätigkeit als Sachverständige für Forensische Psychologie die Aussagetüchtigkeit nur bei etwa 5 Fällen verneinen musste.118

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Volbert u. Lau 2008, 289; Lau et al. 2008, 60; Volbert 2004, 13. Vgl. Steller 2008, 303. 112 Volbert 2010, 27 f., wobei „die Altersangaben nur eine grobe Orientierung“ darstellen, „von der es im Einzelfall Abweichungen gibt“.; Steller 2005, 7; Volbert u. Lau 2008, 291 ff.; dazu auch Lau et al. 2008, 60; Volbert 2004, 14 mwN; Michaelis-Arntzen 2007, 132; Greuel et al. 1998, 80 ff.; Westhoff u. Kluck 2014, 213; Haller 2008, 230. 113 Steller 2005, 7 mwN; dazu auch Volbert u. Lau 2008, 293 ff.; Volbert 2004, 13 f.; Michaelis-Arntzen 2007, 120. 114 Dazu auch Greuel et al. 1998, 82. 115 Volbert u. Lau 2008, 294; Lau et al. 2008, 62. 116 Volbert u. Lau 2008, 296 f.; Steller u. Böhm 2008, 38 f.; Lau et al. 2008, 63 f.; Steller u. Böhm 2006, 47 mwN; Greuel et al. 1998, 84 f. 117 Lau et al. 2008, 60; Volbert u. Lau 2008, 289; Volbert 2004, 14; dazu auch MichaelisArntzen 2007, 116. 118 Vgl. auch Steller 2008, 303. 111

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2. Glaubhaftigkeitsbeurteilung durch die merkmalsorientierte Aussageanalyse a) Methodisches Grundprinzip Eine der Kernaussagen der bereits mehrfach erwähnten Grundsatzentscheidung des BGH vom 30. Juli 1999 ist, dass die Überprüfung des Erlebnisgehalts von Zeugenaussagen inhaltsbezogen und in einem wissenschaftlich fundierten hypothesegeleiteten diagnostischen Prozess durch die Falsifikation der Nullhypothese (= Unwahrannahme119) erfolgen muss: Der Sachverständige geht bei der Begutachtung laut BGH-Urteil also zunächst davon aus, dass die Aussage z. B. des Zeugen unwahr sei. Erst wenn die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht übereinstimmt, wird sie verworfen und es gilt die Alternativhypothese (= Wahrheitsannahme120), die nahe legt, dass es sich doch um eine wahre Aussage handelt.121 Das methodische Grundprinzip besteht also laut BGH darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt z. B. die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage „so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist.“122 Laut Bender, Nack und Treuer kann man die Nullhypothese „als einen Versuch des Bundesgerichtshofs werten, den Richter zu einer gegenüber dem Angeklagten (im Zivilprozess gegenüber der nicht beweisbelasteten Partei) zumindest zu einer neutralen – eher zugunsten des Angeklagten neigenden (in dubio pro reo) Einstellung zu veranlassen“.123 Genau in diesem Sinne sieht Steller die Nullhypothese in der Wissenschaft an, nämlich „als die Unschuldsvermutung im Recht“. Sie „beinhaltet ein anerkanntes wissenschaftliches Denkprinzip, das auch als Falsifikationsstrategie bezeichnet wird.“124 Nach Volbert und Steller handelt es sich bei diesem methodischen Ansatz um psychologische Begutachtung „als hypothesengeleitete problemorientierte Entscheidungsstrategie“.125 Steller fasst das Wesentliche für die Praxis wie folgt zusammen: „Glaubhaftigkeitsgutachten müssen inhaltlich deutlich machen, dass in ihnen alle relevanten Al-

119 Volbert u. Steller 2014, 404; dazu auch Köhnken 2014, 3: Köhnken schlägt vor, die „Nullhypothese“ besser als „Hypothese einer fehlenden Erlebnisgrundlage“ zu bezeichnen. 120 Volbert u. Steller 2014, 404. 121 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101; dazu auch Steller u. Volbert 1997, 24 ff.; Volbert 2004, 140; Volbert 2010, 61 mwN; Köhnken 2007, 25 ff.; Arntzen 2007, 153 ff. mwN; Pfister 2008, 5; OGH, 12 Os 121/10a, 5; Westhoff u. Kluck 2014, 210; Bender et al. 2007, Rz 307 bis 309; kritisch zur Verwendung des Begriffs der Nullhypothese, jedoch positiv zu diesem methodischen Prinzip vgl. Volbert 2012, 254 m. w. N. 122 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101; dazu auch Steller 2015, 178 f.; Köhnken 2014, 3. 123 Bender et al. 2007, Rz 309. 124 Steller 2015, 179; dazu auch Steller 2013, 24 f.; Volbert u. Steller 2014, 404 mwN; Köhnken 2014, 4; Deckers 2014b, 131; Wille 2012, 75. 125 Volbert u. Steller 2014,404 m. w. N.

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ternativüberlegungen zur Wahrheitshypothese geprüft wurden. Ein rituelles Bekenntnis zur Nullhypothese in Gutachten ist dagegen eine Peinlichkeit.“126 Die „Leitfrage“ bei der aussagepsychologischen Begutachtung lautet u. a., ob ein (kindlicher) Zeuge „mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten diese spezifische Aussage machen (könnte), ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert ?“127 Es müssen in der Aussage also spezifische Inhalte nachgewiesen werden, die sich der jeweilige Zeuge nicht ausdenken konnte. Wie Volbert und Steller feststellen, geht es daher konkret „um die Abklärung von zwei Gegenannahmen zur Wahrannahme“: Vom aussagepsychologischen Sachverständigen ist einerseits zu prüfen, ob es sich bei der zu prüfenden Aussage um eine absichtliche Falschdarstellung handelt, ob also die Lügenhypothese vorliegt. Auf der anderen Seite ist abzuklären, ob die Suggestionshypothese erfüllt ist: d. h., es ist zu untersuchen, ob die Aussage auf sog. Pseudoerinnerungen oder Scheinerinnerungen basiert, die sich grundsätzlich „auf der Basis fremd- und / oder autosuggestiver Prozesse“ entwickeln: Der Zeuge hält also seine Schilderung subjektiv für wahr und sagt über eine vermeintliche sog. „Erinnerung“ aus, die sich jedoch tatsächlich in der objektiven Realität nie abgespielt hat.128 Dazwischen gibt es aber auch sog. „Subgruppen“: so kann ein Zeuge ein tatsächliches Erlebnis einem anderen Beschuldigten zuschreiben. Was auch nicht selten vorkommen kann, ist der Umstand, dass dem Zeugen eine Pseudoerinnerung durch einen Dritten intentional oder unbeabsichtigt induziert wurde.129 Wie Steller in diesem Zusammenhang feststellt, kann diese Suggestion durch „vermeintliche Fachleute“ geschehen, indem „Erzieher, Lehrer, Therapeuten, Psychologen und viele andere ihren Schutzbefohlenen und Klienten etwas“ einreden, was „mit den allerbesten Absichten“ geschehen kann.130 Selbstverständlich kommen bei Zeugen auch Aussageinhalte vor, von denen diese wissen, dass diese sich nicht in der Realität abgespielt haben und wieder andere, die ihrer Meinung nach erlebnisbasiert sind.131 Für einen lügenden Zeugen stellt es eine große kognitive Herausforderung dar, eine bewusst unwahre Aussage aus dem Gedächtnis zu konstruieren: In diesem Zu126

Steller 2013, 25; dazu auch Köhnken 2014, 4. Steller u. Volbert 1997, 25 mwN; Volbert 2004, 19 mwN; Westhoff u. Kluck 2014, 210; dazu auch Köhnken 2007, 25; Volbert 2010, 60 m. w. N.; Volbert u. Steller 2014, 391, 403 f.; Köhnken 2014, 25. 128 Volbert u. Steller 2014, 391, 404; dazu auch Volbert 2010, 31 f.; Volbert 2012, 253; Steller 2008, 302; Steller 2015, 26 f.; Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 146 m. w. N. 129 Volbert u. Steller 2014, 391. 130 Steller 2015, 32 ff.; dazu auch Volbert u. Steller 2014, 397 ff. 131 Volbert u. Steller 2014, 391. 127

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sammenhang spricht Volbert von der bewussten Falschaussage als Leistungsprodukt, da die kognitiven Anforderungen für den bewusst lügenden Zeugen sehr groß sind. Dieser muss also z. B. eine falsche Aussage plausibel konstruieren, diese gegebenenfalls spontan ergänzen, sich die selbst produzierte Information merken, keine Information erwähnen, die den Zuhörer skeptisch werden lassen könnte und die eigene Wirkung sowie die Wirkung der Aussage auf den Rezipienten kontrollieren.132 Hier spielt auch die unten näher erläuterte Undeutsch-Hypothese eine Rolle, nämlich, dass Aussagen über selbst erlebte Ereignisse sich in ihrer Qualität typischerweise von erfundenen Aussagen unterscheiden. Nach Steller ist die Aussageanalyse „das beste Werkzeug, um an der Lüge zu schrauben, bis die Wahrheit herausfällt.“133 Laut BGH muss ein Sachverständiger „ausschließlich methodische Mittel“ verwenden, „die den jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden“.134 Dabei müssen die eingesetzten Test- und Untersuchungsverfahren geeignet sein, dazu beizutragen, die gebildeten Hypothesen zu überprüfen. Sollten mehrere anerkannte und indizierte Testverfahren zur Verfügung stehen, trifft den aussagepsychologischen Sachverständigen ein sog. „pflichtgemäßes Ermessen“: Diesbezüglich bleibt es diesem überlassen, wie und auf welchen Grundlagen der Sachverständige zu seinem Gutachten gelangt.135 Für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch den aussagepsychologischen Sachverständigen sind vor allem die – unten erwähnte – Exploration zur Sache und die Überprüfung der inhaltlichen Konsistenz der von dem Zeugen dort gemachten Angaben von Bedeutung. Dabei betont der BGH den „aussagebezogenen Ansatz“, der davon ausgeht, dass die Aussage eine geistige Leistung darstellt.136 b) Konkrete wissenschaftliche Anforderungen an die aussagepsychologische Begutachtung durch den Sachverständigen aa) Aussagetüchtigkeit des Zeugen Wie bereits oben erwähnt, bedeutet Aussagetüchtigkeit eben nicht Glaubhaftigkeit137 und muss in aller Regel nur bei bestimmten Anhaltspunkten oder bei explizitem gerichtlichen Auftrag geprüft werden, also dann, wenn sie beeinträchtigt sein könn132

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; Volbert 2010, 36; Volbert u. Steller 2014, 392 ff.; Steller 2008, 302; Schneider et al. 2010, 327 mwN; vgl. dazu auch Steller 2015, 24, 83, 136; Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 147 m. w. N. 133 Steller 2015, 81. 134 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101 mwN; Hervorhebungen durch die Verfasserin; vgl. Pfister 2014, 107. 135 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101. 136 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; vgl. Näheres zur Aussage als Leistung: Steller 2015, 23; Undeutsch 1967, 56 ff.; Deckers 2014b, 134; Näheres zur Exploration zur Sache siehe unten. 137 Vgl. Volbert 2004, 14; Volbert 2010, 19.

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te.138 Dies ist laut Steller bekanntlich beispielsweise bei sehr jungen Zeugen oder u. a. bei manchen (= schweren) psychopathologischen oder auch somatischen Auffälligkeiten des Zeugen notwendig.139 In diesen Fällen muss also der aussagepsychologische Sachverständige den Entwicklungsstand bzw. die psychische Störung des Zeugen und seine relevanten Fähigkeiten im Hinblick auf Wahrnehmung, Speicherung und selbstständige Reproduktion von autobiografischen Ereignissen erfassen.140 Bei kindlichen Zeugen kann dies z. B. nach Volbert „teilweise mit Hilfe von standardisierten Tests“ geschehen. „Noch aufschlussreicher“ sind diesbezüglich aber Darstellungen von sachverhaltsneutralen Ereignissen durch diese Zeugen aus dem fraglichen Tatzeitraum, deren Richtigkeit sich anhand von Informationen Dritter überprüfen lassen.141 Wie bereits oben kurz erwähnt wurde, kann hier unter Umständen auch ein psychiatrischer Sachverständiger hinzugezogen werden, was u. a. die schweren psychopathologischen Auffälligkeiten des Zeugen betrifft.142 bb) Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage z. B. eines Zeugen Bei der merkmalsorientierten Aussageanalyse laut BGH-Urteil vom 30. 7. 1999 geht es um einen Vergleich der Aussagequalität mit der (Erfindungs-)Kompetenz der Aussageperson unter Berücksichtigung von Motivationen der Aussageperson und möglichen Fehlerquellen in der Aussageentwicklung:143 Wie Volbert und Steller zusammenfassen, geht es um die „Trias“, nämlich die Analyse der Aussageperson, der Aussagegenese und des Aussageinhalts.144 Die Motivationen der Aussageperson spielen unter gewissen Voraussetzungen eine kleinere Rolle.145 cc) Aussagepersönlichkeit bzw. Person des Aussagenden als solche Im Rahmen der sog. Kompetenzanalyse werden beim Zeugen je nach gegebener Indikation im Einzelfall u. a. seine Vorkenntnisse (z. B. beruflicher Hintergrund) und dessen bereichsspezifisches Wissen und Erfahrungen (z. B. Sexualanamnese bezüglich sexueller Vorerfahrungen bei Kindern bzw. Jugendlichen oder Gewaltanamnese) 138

Vgl. Volbert 2010, 63. Vgl. Steller 2013, 21. 140 Volbert 2010, 63. 141 Volbert 2010, 27 f. 142 Siehe oben; Näheres dazu vgl. Hübner 2013, 283 f. 143 BGH, Grundsatzentscheidung NStZ 2000, 101 ff.; Westhoff u. Kluck 2014, 210 ff.; Steller u. Volbert 1997, 24; Volbert 2004, 18 f.; Arntzen 2007, 126 f. mwN; vgl. dazu auch OGH, 12 Os 121/10a, 5 f. 144 Steller 2013, 21; dazu auch Steller 2008, 301. 145 Näheres dazu siehe unten. Vgl. Köhnken 2014, 13 ff.; dazu auch Volbert u. Steller 2014, 402. 139

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untersucht. Weiter sind diesbezüglich u. U. die allgemeine und sprachliche intellektuelle Leistungsfähigkeit der aussagenden Person zu erheben, obwohl auch minderbegabte Zeugen forensisch durchaus brauchbare Aussage machen können. Ebenso kann die Vorgeschichte z. B. hins. psychiatrischer Erkrankungen in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein.146 Wie Volbert und Steller diesbezüglich feststellen, sollen im Rahmen dieser Prüfung „aussagerelevante Kompetenzen des Zeugen“ festgestellt werden, „um Hypothesen darüber zu bilden, ob die im Einzelfall vorgefundene Aussagequalität durch sogenannte Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte.“ Zusammenfassend geht es hier also um die Abschätzung einer „potentiellen Erfindungs(= Lügen)kompetenz des Zeugen“ durch den aussagepsychologischen Sachverständigen.147 Diesbezüglich spielen vor allem „im Einzelfall vorliegende Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens“, wie z. B. Selbstwertprobleme oder Geltungsbedürfnis beim Zeugen eine Rolle. Dasselbe gilt für Zeugengruppen (z. B. mögliche Dramatisierungs- und Aggravationstendenzen) oder für Zeugen mit Persönlichkeitsstörungen. So ist bei emotional-instabilen persönlichkeitsgestörten Zeugen148 u. a. die Tendenz zu selbstschädigendem Verhalten zu beachten. Aus der Feststellung einer Persönlichkeitsstörung ergibt sich aber „zunächst noch keinerlei regelhafte Schlussfolgerungen für die Glaubhaftigkeit der Aussage“. Das bedeutet, dass der aussagepsychologische Sachverständige in jedem Einzelfall prüfen muss, inwieweit sich „störungsspezifische Besonderheiten“ „tatsächlich auf die zu beurteilende Aussage ausgewirkt haben“.149 Um u. a. aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Aussageperson wie z. B. Selbstwertprobleme oder gesteigertes Selbstbewusstsein ausforschen zu können, wird der Sachverständige grundsätzlich „üblicherweise mit den allgemeinen Methoden psychologischer Diagnostik“, wie u. a. Befragung, Beobachtung, Tests und Fragebögen arbeiten. In diesem Zusammenhang stellt der BGH aber klar, dass der Sachverständige in seiner Auswahl dabei zwar frei ist, allerdings „stets den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand“ beachten muss: Eine Sexualanamnese ist laut BGH nicht bei jeder Glaubhaftigkeitsbegutachtung notwendig und steht im „pflichtgemessen Ermessen“ des Sachverständigen. Demgegenüber hat der BGH in seiner Grundsatzentscheidung klärend festgestellt, dass beim 146

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103; dazu auch Volbert u. Steller 2014, 402; Steller u. Volbert 1997, 24; Steller 2008, 302 f.; Volbert 2010, 43 ff. mwN; Köhnken 2007, 30; Arntzen 2007, 127; OGH, 12 Os 121/10a, 6. 147 Volbert u. Steller 2014, 402; Steller 2013, 21; vgl. dazu auch BGH NStZ 2001, 46. 148 Es handelt sich hier um die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“: vgl. Volbert u. Steller 2014, 402; dazu auch Steller 2015, 197 ff., der darauf hinweist, dass bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung auf die Besonderheiten bei Persönlichkeitsstörungen Bedacht genommen werden muss. 149 Volbert u. Steller 2014, 402 f. m. w. N.

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Verdacht des Vorliegens eines Sexualdeliktes grundsätzlich immer die Sexualanamnese Anwendung finden muss: „Geht es aber um die Frage, ob ein Zeuge den Vorwurf an ihm begangener Sexualdelikte zutreffend erhebt, ist regelmäßig die Einschätzung seiner sexualbezogenen Kenntnisse und Erfahrungen notwendig.“150 In diesem Zusammenhang müssen aber in aussagepsychologischen Gutachten sowohl auf die „Ausdeutung von Kinderzeichnungen“ als auch auf die „Deutung von Interaktionen, die Kinder unter Einsatz sog. anatomisch korrekter Puppen darstellen“ verzichtet werden, da diesen laut BGH „keine Bedeutung“ zukommt.151 Wie Köhnken außerdem feststellt, ist „ein zuverlässiger Schluss von festgestellten Verhaltensauffälligkeiten auf einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch … nicht möglich.“152 Hinsichtlich des Einsatzes der – laut BGH zwar „wissenschaftlich eingeführten“ – sog. „Phantasieprobe“ durch den aussagepsychologischen Sachverständigen „sind jedoch stets die Grenzen ihres Anwendungsbereichs zu beachten“. Es geht hier also um die Klärung der Frage, ob eine Person bei einer unzweifelhaft erfundenen Erzählung eine ebenso der Realität entsprechende, d. h. inhaltlich plausibel und emotional getönte Darstellung erreichen kann, wie beim Bereich des behaupteten Sachverhalts. So wäre es laut BGH unzulässig, die Phantasieprobe „wie einen projektiven Persönlichkeitstest“ zu behandeln, indem vom Inhalt der berichteten Geschichten auf die persönliche Situation der Zeugin geschlossen wird.153 dd) Aussageentstehung und Aussageentwicklung (Aussagegenese) Bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist laut Steller eine akribische Analyse der Aussageentstehung und weiterer Aussageentwicklung von zentraler Bedeutung.154 Konkret geht es hier um die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Aussage 150

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103. BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103 mwN; dazu auch Steller 2013, 24; Steller 2008, 305 f.; Köhnken 2014, 7 f., 36; Volbert 2014, 415 m. w. N. – Im Hinblick auf die mögliche suggestive Wirkung dieser anatomischen Puppen auf kindliche Zeugen (z. B. Steller 2008, 305 f.) erscheint die Ansicht von Schneider et al. zumindest äußerst fragwürdig, die diese „daher allenfalls als Explorationshilfe“ ansehen, „die es dem Kind erleichtert, das Geschehen zu zeigen oder zu benennen.“: Schneider et al. 2010, 327 m. w. N. 152 Köhnken 2014, 5 f. mwN; dazu auch Steller 2015, 138 f., der darauf hinweist, dass „der zentrale Schlüssel zum Erkennen von sexuellem Missbrauch“ die Aussagen der kindlichen Zeugen sind. 153 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103; dazu auch Köhnken 2014, 11 ff., 27. 154 Steller 2008, 303 f.; Steller u. Volbert 1997, 24, 16; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102 mwN; Volbert 2010, 59; Köhnken 2007, 23, 27, 30; Volbert u. Steller 2014, 404: wie Volbert und Steller hinweisen, kann die „Notwendigkeit, die Aussageentwicklung für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung möglichst vollständig zu rekonstruieren“ „insofern gar nicht überbetont werden.“; dazu auch Deckers 2014b, 139 f. 151

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im Rahmen der sog. Fehlerquellenanalyse, um etwaige suggestive Einflüsse festzustellen155, aber auch, um eine mögliche Motivation für eine absichtliche Falschbezichtigung beim Zeugen herauszufinden.156 Hinsichtlich des Vorliegens von möglichen suggestiven Einflüssen muss vom aussagepsychologischen Sachverständigen konkret geprüft werden, ob bereits vor der ersten Aussage des Zeugen ein Verdacht bzw. eine bestimmte Erwartungshaltung vorgelegen ist, der bzw. die sich auf ein entsprechendes Ereignis bezieht, wie z. B. einen möglichen sexuellen Missbrauch. Dazu gehört auch die Untersuchung, „ob eine ergebnisoffene Abklärung eines Verdachts erfolgte oder dieser Prozess nur der Bestätigung der Ausgangshypothese diente“.157 Auch die Umstände der Erstbekundung wie z. B. Zeitpunkt, Anlass, Rahmenbedingungen und Erwartungen von Befragern sind bei dieser Prüfung von Bedeutung.158 Diesbezüglich sei auf das gefährliche Phänomen der sog. „Aufdeckungsarbeit“159 durch – meist ungeschulte – Befrager (und oft auch aufgrund von dubiosen Ratschlägen vereinzelter Beratungsstellen) hinzuweisen: objektiv oft verständliche Situationen werden aus dem Zusammenhang gerissen und als möglicher Anlass z. B. für einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch gedeutet. Mit dieser nicht näher hinterfragten vorgefassten Einstellung wird dann die Befragung des „Opfers“ begonnen. Steller und Volbert haben sich eingehend mit dieser Thematik befasst, u. a. auch mit der Beurteilung des Realitätsgehalts solcherart gewonnener Kinderaussagen.160 So wurde z. B. im bekannten Fall „Pascal“, der sich 2001 in Saarbrücken ereignet hat, bei dem geistig zurückgebliebenen Pflegekind von seiner Pflegemutter sexueller Missbrauch vermutet, weil sich der damals Siebenjährige auf deren knapp vierjährige nackte leibliche Tochter gelegt hat. Dass es sich lediglich um eine „harmlose Balgerei unter Kindern“ gehandelt haben könnte, hat sie kategorisch ausgeschlossen. Mit dieser einseitig ausgerichteten Erwartung hat sie mit diesem Pflegekind in einem Zeitraum von ca. einem halben Jahr Aufdeckungsgespräche suggestiv geführt, 155 Volbert u. Steller 2014, 402; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; vgl. auch OGH, 12 Os 121/10a, 6. 156 Volbert u. Steller 2014, 401. Näheres dazu siehe auch unten zur Motiv(ations)analyse. 157 Volbert u. Steller 2014, 402. 158 Köhnken 2007, 30; vgl. dazu auch Volbert u. Steller 2014, 402. 159 Steller 2013, 17 ff.; Volbert u. Steller 2014, 397 f.; 401 f.; Köhnken 2014, 21 mwN; Steller 2015, 152 f., 156, 167 f.: „Aufdeckungsarbeit hat immer und ausschließlich negative Konsequenzen. Sie führt bei nicht missbrauchten Kindern zur Entstehung von Scheinerinnerungen.“; Volbert 2010, 52; dazu auch Hübner 2010, 12, 14 jeweils mwN: vereinzelt wird auch vom „blindwütigen Aufdeckungsmarathon“ gesprochen. 160 Steller u. Volbert 1997, 27 ff.; Steller 2008, 305 f.; Volbert 2010, 52 ff. mwN; Köhnken 2007, 27; Jansen 2004, § 3.10, Rz 465 f. mwN; Volbert 2004, 117 ff., 120 f., 138 über die Rolle der Therapeuten bei der Konstruktion vermeintlicher wiederentdeckter Erinnerungen; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 101 mwN zur Gefahr der „auto- oder (bewusst) fremdsuggerierten Angaben“ speziell bei kindlichen Zeugen.

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deren Ergebnisse sie gleich selber „interpretiert“, in eigenen Worten dokumentiert und der Polizei mitgeteilt hat.161 Sollten z. B. irreale Inhalte in den Aussagen auftauchen, so wäre das laut Steller ein sehr eindeutiger Beleg dafür, dass suggestive Prozesse stattgefunden haben.162 So hat Steller in diesem Fall den Realitätsgehalt der Aussagen des Pflegejungen wie folgt negativ bewertet: „Damit weisen die fallrelevanten Aussagen von B. hinsichtlich Vorgeschichte und Aussageentwicklung solche Merkmale auf, die für suggerierte Falschaussagen typisch sind, also für Aussagen von Kindern, die subjektiv als wahr erlebt werden, aber dennoch fremdinduzierte Pseudoerinnerungen beinhalten.“163 Derartige „irreale Details“ lagen z. B. auch in Aussagen in den bereits eingangs erwähnten Wormser Missbrauchsprozessen vor, wie etwa „Batmans, die durch die Luft fliegen“. Analoges gilt etwa auch für Angaben des von der Pflegemutter mehrfach suggestiv befragten Pflegejungen im Fall „Pascal“, wie z. B. „Finger abgesägt“, „ans Auto gebunden“, „vom Balkon geworfen“, „Zement gegessen“ etc.164 Auch die Umstände weiterer Aussagen/Befragungen z. B. Aussageänderungen bei wiederholten Befragungen, suggestive Befragungen müssen in die Prüfung der Aussagegeschichte einbezogen werden.165 Wie bereits oben erwähnt wurde, kann von der sog. „Suggestionshypothese“ insbesondere dann ausgegangen werden, wenn „gravierende suggestive Bedingungen“ bei der Gewinnung der Aussage im jeweiligen Einzelfall vorgelegen haben könnten. Daher ist hier vor allem die Untersuchung der Aussageentstehung und -geschichte erforderlich, wobei auch die möglichen Dispositionen der Aussageperson und die Besonderheiten der Aussagequalität (des Aussageinhalts) berücksichtigt werden müssen.166 In diesem Zusammenhang stellt Volbert u. a. klar, dass der Einsatz der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse bei Vorliegen „gravierender suggestiver Bedingungen“ vor der Erstbekundung „überflüssig“ ist, „da von ihr keine relevanten Informationen zu erwarten sind.“167 Mit anderen Worten: Konnten durch die Analyse der Aussagegeschichte „relevante fremd- oder autosuggestive Einflüsse“ vom aussagepsycholo-

161 Vgl. Steller 2009, 213 ff.; dazu auch Steller 2013, 19 f.; Steller 2015, 168 ff.; Friedrichsen 2008, 63 f.; Näheres zum Befragungsmarathon 63 ff.; zu den Aufdeckungsgesprächen der Pflegemutter 75 ff. 162 Vgl. Hübner 2010, 14 mwN; Volbert 2010, 59 f. m. w. N. 163 Steller 2009, 214; Steller 2015, 172; dazu auch Steller 2008, 305 f. 164 Vgl. Hübner 2010, 14 m. w. N. 165 Köhnken 2007, 30; vgl. dazu auch Volbert u. Steller 2014, 402. 166 Volbert 2008, 17 f. 167 Volbert 2008, 18; Volbert 2010, 59 f. mwN; Köhnken 2007, 27.

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gischen Sachverständigen festgestellt werden, „ist ein positiver aussagepsychologischer Beleg eines tatsächlichen Erlebnisbezugs nicht möglich.“168 Wenn also die Suggestionshypothese nicht verworfen werden kann, muss die aussagepsychologische Untersuchung durch den Sachverständigen hier enden: Denn bei dieser Ausgangslage kann eben nicht mehr festgestellt werden, ob die Aussage des Zeugen wirklich erlebnisbasiert ist oder nicht. Vor diesem Hintergrund kommt auch die besondere Gefährlichkeit der zuvor erwähnten einseitigen und suggestiven Aufdeckungsarbeit besonders deutlich zum Ausdruck: Dadurch wird letztendlich auch die Erforschung der materiellen Wahrheit durch den Richter wesentlich erschwert bis unmöglich, was allerdings eindeutig gegen den am Anfang erwähnten Opferschutz spricht, ganz zu schweigen von den fatalen Folgen für die Opfer solcher Befragungen. ee) Aussagequalität und Aussagekonstanz169 Hier muss durch die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse170 untersucht werden, ob in der konkret zu begutachtenden Aussage Realkennzeichen171 vorliegen oder nicht. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die bereits oben erwähnte Undeutsch-Hypothese von Bedeutung: Sie besagt, dass Aussagen über selbst erlebte Ereignisse sich in ihrer Qualität typischerweise von erfundenen Aussagen unterscheiden.172 – Das Vorhandensein solcher Realkennzeichen kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Aussagende das Geschilderte tatsächlich erlebt hat.173 Realkennzeichen in der konkret zu begutachtenden Aussage sind laut BGH „aussageimmanente Qualitätsmerkmale“, „deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt“: laut BGH „können“ sie „als grundsätzlich empirisch überprüft angesehen werden“.174 Auch wurden die Realkennzeichen von Steller und Köhnken 1989 kategorisiert.175 Unter deren „allgemeinen Merkmalen“ werden u. a. die Bedeutung von Details (= quantitativer Detailreichtum) verstanden. Auch zählt hier u. a. eine unstrukturier168

Volbert u. Steller 2014, 402; Steller 2013, 21; Köhnken 2014, 21 m. w. N. Volbert u. Steller 2014, 400. 170 Steller 2008, 304; Niehaus 2008, 311 ff. 171 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102. 172 Undeutsch 1967, 125 f.; Steller 2013, 14 mwN: diesen Name („Undeutsch-Hypothese“) hat Steller ins Leben gerufen; Steller 2008, 302, der von „einer überlegenen inhaltlichen Qualität“ spricht; Volbert u. Steller 2014, 392; Volbert 2010, 33; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; Volbert 2011, 29; Bender et al. 2007, Rz 238 ff., Rz 294; Westhoff u. Kluck 2014, 211 mwN; Jansen 2004, § 1.1, Rz 16; dazu auch Volbert u. Steller 2014, 395 f. 173 Steller u. Volbert 1997, 24; dazu auch Volbert 2008, 13 ff.; Niehaus 2008, 315; Bender et al. 2007, Rz 238 ff., Rz 294; Nack 2010, 252. 174 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102. 175 Steller u. Volbert 1997, 15 ff.; Volbert 2010, 36 f.; Steller 2013, 13 f., 20; Volbert u. Steller 2014, 394 f.; vgl. dazu auch Westhoff u. Kluck 2014, 212; Haller 2008, 233 f. 169

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te Schilderung eines Geschehens dazu, wenn sie sich zu einem geschlossenen, logisch konsistenten Bild zusammenfügt (= „logische Konsistenz“). Ebenso können z. B. die Schilderung von raum-zeitlichen Verknüpfungen oder Interaktionen Indizien für eine glaubhafte Aussage sein (= „spezielle Inhalte“). Zu den „inhaltlichen Besonderheiten“ gehört die Schilderung z. B. nebensächlicher Einzelheiten oder eigener psychischer Vorgänge der Aussageperson (wie Angst, Ekel etc.). Ebenso können z. B. spontane Verbesserungen der eigenen Aussage oder das Eingeständnis von Erinnerungslücken bis hin zu Selbstbelastungen mögliche Hinweise auf eine erlebnisbasierte Aussage sein (= „motivationsbezogene Inhalte“). Dies gilt auch für „deliktspezifische Aussageelemente“, bei denen beispielsweise kindliche Opferzeugen subtile Details über ein an ihnen durchgeführtes Sexualdelikt berichten, die nicht durch Medien (Internet, Fernsehen, Videos, Illustrierte etc.) oder etwa durch Aufklärungsunterricht vermittelt worden sein konnten (= „deliktspezifische Aussageinhalte“).176 Mehrere nacheinander deponierte Aussagen eines Zeugen bzw. sein Aussageverhalten werden u. a. im Hinblick auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen verglichen (sog. Konstanzanalyse).177 Glaubhaftigkeitsbeurteilung bedeutet aber keinesfalls, dass es nur auf das Vorliegen von Realkennzeichen in der Aussage ankommen darf. Denn diese könnten z. B. auch in suggerierten Falschaussagen vorhanden sein. Laut BGH ist auch „stets zu beachten, dass die Realkennzeichen ungeeignet sind, zur Unterscheidung zwischen einer wahren und einer suggerierten Aussage beizutragen“.178 Suggerierte Falschaussagen sind bekanntlich Aussagen, in denen z. B. durch Dritte objektiv falsche Inhalte in den Aussagenden „hineingefragt“ worden sind.179 Der BGH geht auch davon aus, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, „dass sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen in ihrer Qualität unterscheiden.“ Es kann also kein schematisches Vorgehen geben: vielmehr muss immer im Einzelfall beurteilt werden, was genau von Rechtsprechungsorganen oder aussagepsychologischen Sachverständigen zu untersuchen ist.180 Auch stellen u. a. Steller und Arntzen 176 Vgl. Näheres zu den einzelnen Realkennzeichen Steller u. Volbert 1997, 15 ff.; Volbert 2010, 36 ff. mwN, die u. a. auf die modifizierte Zusammenstellung von Merkmalen durch Niehaus hinweist; Niehaus 2008, 312 ff.; dazu auch Westhoff u. Kluck 2014, 212; Eichberger 2007, 77 ff.; Bender et al. 2007, Rz 310 ff., 429 ff.; Nack 2010, 252, wobei Bender et al. und Nack von „Realitätskriterien“ und „Fantasiesignalen“ sprechen. 177 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; Steller 2008, 304; Volbert 2010, 41 ff.; Köhnken 2007, 30; Volbert u. Steller 2014, 396 f.; dazu auch OGH, 12 Os 121/10a, 5 f. 178 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102; dazu auch Volbert 2010, 40, 58 f. mwN; Volbert 2012, 253 mwN; Volbert 2008, 15 ff.; Köhnken 2007, 27; Steller 2013, 20. 179 Vgl. Volbert 2008, 15, Steller 2008, 305 f.; Volbert 2010, 52 ff. m. w. N. 180 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 102.

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dazu fest, dass es „keine fallunspezifischen Routinen zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung“ geben kann181 und dass Glaubhaftigkeitsmerkmale nicht als „Checklistenverfahren“ missverstanden werden dürfen.182 Eine hohe Aussagequalität allein bedeutet also noch nicht automatisch, dass der Zeuge den Sachverhalt selbst erlebt hat. Wie bereits oben erwähnt wurde, kann davon erst dann ausgegangen werden, wenn „gravierende hetero- oder autosuggestive Prozesse ausgeschlossen werden können“.183 Und sogar dann, wenn er es unzweifelhaft selbst erlebt haben muss, ist damit noch keinesfalls sicher, dass dieses reale Erlebnis z. B. mit dem Beschuldigten oder aber mit einer dritten Person zustande gekommen ist.184 ff) Motivationen der Aussageperson „Traditionell“ wird auch durch eine Motivationsanalyse bzw. Motivanalyse im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung untersucht, ob u. a. Belastungs- oder Entlastungsmotivationen sowie Dispositionen des Aussagenden z. B. zum „Flunkern“ oder „Wichtigmachen“ im jeweiligen Einzelfall vorliegen.185 So ist etwa schon längst bekannt, dass z. B. bei einem Verkehrsunfall die Aussage der Ehefrau des beteiligten Lenkers u. U. weniger glaubhaft sein kann als die eines am strittigen Geschehen unbeteiligten Dritten. Köhnken stellt in diesem Zusammenhang aber klar, dass diese Motivanalyse weder falsch angewendet noch überbewertet werden darf: die Kritik an dieser Methode besteht vor allem darin, dass es grundsätzlich problematisch ist, die NichtExistenz eines Sachverhaltes durch psychodiagnostische Methoden nachzuweisen. In diesem Sinn ist es tatsächlich „sehr schwierig, im Rahmen einer aussagepsychologischen Untersuchung jenseits alltagspsychologischer Spekulationen reliable und valide Indikatoren für die Motivlage eines Zeugen zu finden.“186 Volbert und Steller weisen diesbezüglich auch darauf hin, dass eine Motivation für eine Falschbezichtigung zwar schon in einer Schädigung des Beschuldigten bestehen kann, andererseits muss diese „keineswegs zwingend Bezug zum Beschuldigten aufweisen.“ So kann der Hintergrund einer Falschbezichtigung beispielsweise auch darin gelegen sein, u. a. vom eigenen Fehlverhalten abzulenken oder Aufmerksamkeit und Zuwendung von Dritten zu bekommen. 181 Steller 2008, 301, Steller 2013, 16: Glaubhaftigkeitsbeurteilung kann „nicht durch ein Auszählen von Realkennzeichen erfolgen“; auch 307; Steller u. Böhm 2006, 39. 182 Arntzen 2007, 158; dazu auch Steller 2013, 17; Köhnken 2014, 19 f.; Volbert 2004, 18; Westhoff u. Kluck 2014, 212 mwN; Volbert 2010, 40 f. 183 Volbert 2008, 15, auch 15 ff.; dazu auch Volbert 2010, 40, 52 ff. m. w. N. 184 Vgl. auch zur sog. „Übertragung“: Bender et al. 2007, Rz 242 ff.; Westhoff u. Kluck 2014, 213; Köhnken 2007, 27; BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 103. 185 Köhnken 2014, 13 der von „Motivanalyse“ spricht; Steller u. Volbert 1997, 24; Steller 2008, 302 f.; Volbert 2010, 48 f. mwN; BGH, NStZ 2000, 102 f. m. w. N. 186 Köhnken 2014, 14.

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Daher ist die bereits oben erwähnte Analyse der Aussageentstehung und der -entwicklung das effektivere Instrument, um die Frage zu klären, ob eventuell eine Motivation für eine absichtliche Falschbezichtigung vorliegt.187 Was in der Praxis relativ häufig vorkommt, sind Falschbezichtigungen während oder nach einem Scheidungsverfahren, wenn es z. B. um die vor Gericht zu schließende Vereinbarung geht, u. a. einen Elternteil mit der alleinigen Obsorge für ein gemeinsames Kind zu betrauen188: hier kann der eine Elternteil u. a. vorbringen, dass dieses Kind vom anderen während des Kontaktrechts sexuell missbraucht wurde, um das alleinige Sorgerecht für das Kind vom Gericht zu erlangen. Einschlägige Erhebungen haben ergeben, dass bis zu 95 % solcher Anschuldigungen falsch sind. Ebenso kann es z. B. vorkommen, dass eine Opferzeugin z. B. vom Täter unter Druck gesetzt wurde und ihn deshalb durch ihre Aussage zu entlasten versucht. Andere Zeugen wiederum können dazu neigen, durch eine be- oder entlastende Aussage bloß die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken.189

3. Praxis der Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch aussagepsychologische Sachverständige a) Aktenanalyse Zu Beginn der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist es Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen, die übersandten Gerichtsakten „gründlich“ auszuwerten, um die Untersuchung vorzubereiten. Volbert spricht hier vom „wesentlichen Teil der psychologischen Sachverständigentätigkeit“.190 Durch die Aktenanalyse sollen insbesondere folgende Sachverhalte bzw. Informationen erfasst werden: Zunächst geht es um den Tatvorwurf bzw. die Tatvorwürfe, wie sie vom Zeugen bis dato geschildet wurden. Außerdem sind in den Akten Informationen zur Aussageentstehung und Aussageentwicklung zu finden, wobei diesbezüglich folgende Fragen analysiert werden sollten: • „Wann hat der Zeuge zum ersten Mal zu wem in welcher Situation etwas gesagt? • Bestand bereits vorher ein Verdacht? 187

Volbert u. Steller 2014, 401 f.; dazu auch Köhnken 2014, 13 ff., der diesbezüglich von der Aussageanalyse ausgeht; Aymans 2012, 167 f.; Wille 2012, 21 mwN; vgl. zur Thematik auch Offe 2014, 87 ff., 97, der „die Motivationsanalyse für die Klärung des Erlebnisbezugs einer Aussage für weitgehend unergiebig“ hält. 188 Vgl. zur Problematik Steller 2013, 18; Pfister 2014, 99; § 179 Abs 1 ABGB idgF, eingefügt durch das Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013, BGBl 2013/15, in Kraft seit 1. 2. 2013. 189 Hübner 2010, 13 f. 190 Volbert 2010, 62; vgl. dazu auch Aymans 2012, 169 f.

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• Wie viele Befragungen erfolgten und welcher Art waren diese Befragungen? • Was war der weitere Verlauf der Aussage? Gab es Widersprüche, Inkonsistenzen, Aussagewiderrufe? • Bestehen Widersprüche zu anderen Informationen?“ Der aussagepsychologische Sachverständige muss aus den Akten auch „Anhaltspunkte für eine Motivation für eine Falschbezichtigung“ analysieren, wobei nach Volbert folgende Fragen geklärt werden sollen: • „Verhältnis von Beschuldigten und Zeugen? • Vorteile für Zeugen (oder Drittpersonen)? • Verdeckung eigenen Fehlverhaltens? • Gewinn aus Einnehmen der Opferrolle?“ Schließlich sind aus den Akten auch „persönlichkeitsspezifische Besonderheiten“ durch den aussagepsychologischen Sachverständigen herauszufiltern.191 Vom aussagepsychologischen Sachverständigen ist beim Aktenstudium besonders zu beachten, dass dort die chronologische Abfolge der Ermittlungen und nicht jene der Ereignisse zu finden ist. Zu Beginn findet sich meistens eine „durchaus überzeugende Aussage zum Tatvorwurf“. Hinweise auf Aussageentwicklung und problematische Motivationen finden sich nach Volbert allerdings erst „durch später erfolgte Angaben anderer Zeugen oder Einlassungen des Beschuldigten“. Gerade mit der Erforschung der chronologischen Aussagegeschichte sollte der Sachverständige seine Aktenanalyse beginnen.192 Volbert empfiehlt konkret den relevanten Akteninhalt zu exzerpieren sowie den chronologischen Ablauf samt der in der Untersuchung zu klärenden Fragen aufzulisten. Auch empfiehlt es sich in manchen Fällen Einsicht in weitere Unterlagen zu nehmen: So kann es z. B. sinnvoll sein, mit Einverständnis des Probanden Behandlungsakten oder bei Bedarf über Ersuchen des Auftraggebers Akten des Jugendamtes oder des Familiengerichts anfordern zu lassen.193 b) Untersuchung des Probanden durch die Exploration zur Sache Eine aussagepsychologische Untersuchung des Zeugen kann nur mit dessen Einwilligung bzw. bei minderjährigen Zeugen nur mit der Einwilligung der Erziehungs-

191

Volbert 2010, 62. Volbert 2010, 62. 193 Volbert 2010, 62 f. 192

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berechtigten (in Österreich des gesetzlichen Vertreters) durchgeführt werden, wobei in Deutschland keine Belehrungspflicht existiert.194 Eingangs muss dazu festgehalten werden, dass eine aussagepsychologische Exploration zur Sache weder in der Zielsetzung noch in der Methodik mit einer Vernehmung gleichzusetzen ist, weshalb hier also keinesfalls die Rekonstruktion eines fraglichen Sachverhalts im Mittelpunkt steht. Eine „Exploration zum in Frage stehenden Sachverhalt“ ist vielmehr Kernstück für die Gewinnung des Materials zur aussagepsychologischen Qualitätsanalyse: Zu deren Beginn sollte der Zeuge zu einem „zusammenhängenden Bericht“ durch den aussagepsychologischen Sachverständigen aufgefordert werden. Nach der sog. „Trichtertechnik“ sollte Letzterer daran anschließende Fragen „zunächst so offen wie möglich“ stellen und erst allmählich spezifischer werden. Ansonsten können keine sog. „inhaltlichen Qualitätsmerkmale“ durch den Zeugen gewissermaßen produziert werden. Dies gilt vor allem für geschlossen Fragen, auf die der Zeuge grundsätzlich nur mit Ja oder Nein antworten kann. Denn es ist ja gerade Sinn und Zweck der Exploration, Material für die inhaltsorientierte Aussageanalyse zu erhalten.195 Selbstverständlich hat die Anwendung suggestiver Techniken in Explorationen völlig zu unterbleiben.196 Volbert hat auf Besonderheiten im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung von Kindern aufmerksam gemacht: so wurde z. B. ein Interviewleitfaden mit dem Ziel entwickelt, „eine unterstützende, aber nicht suggestive Befragung zu gewährleisten und möglichst viele Informationen im Modus der freien Wiedergabe zu erzielen.“197 Bei der Exploration zur Sache ist vom aussagepsychologischen Sachverständigen unbedingt zu beachten, dass durch „inadäquate Explorationsstrategien“ „die positive Feststellung des Realitätsgehaltes von Aussagen erschwert“ wird, was letztendlich „zu einer Schwächung der Position des Opferzeugen führen kann“.198 Inhaltlich sollen bei der Exploration vom aussagepsychologischen Sachverständigen weitere Informationen zu Bereichen herausgefunden werden, die für die merkmalsorientierte Aussageanalyse von Bedeutung sind: Das betrifft z. B. Hintergrundinformationen zum fraglichen Geschehen, auch was Hinweise auf mögliche Motive für eine absichtliche Falschbezichtigung sowie zur Aussageentstehung und -entwicklung anbelangt. 194

Schneider et al. 2010, 321 f. Volbert 2010, 64; Volbert u. Steller 2014, 403, jeweils m. w. N.; zur „Überlegenheit der aussagepsychologischen Exploration gegenüber dem einfachen juristischen Interview“: Deckers 2014b, 140 f., 142. 196 Volbert u. Steller 2014, 403. 197 Volbert 2014, 415 m. w. N. 198 Volbert u. Steller 2014, 403. 195

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Daneben sind persönlichkeitsspezifische Besonderheiten des Zeugen und Angaben zu Tatvorwürfen zu erheben, die einer Konstanzanalyse und gegebenenfalls einer merkmalsorientierten Inhaltsanalyse unterzogen werden sollen. Dasselbe gilt für die Erfassung der für den „Qualitäts-Kompetenzvergleich“199 wichtigen Informationen im Rahmen der Kompetenzanalyse, wie z. B. über bereichsspezifische Kenntnisse oder über „individuumspezifisches Berichtsverhalten“.200 Als dafür vorgesehene Methoden nennt Volbert u. a. eine „biografische Analyse“ und „standardisierte Fragebögen“, vor allem aber „eher (unstandardisierte) Verhaltensproben“. Bei Verhaltensauffälligkeiten oder Persönlichkeitsstörungen des Zeugen können „im Einzelfall“ auch projektive Verfahren eingesetzt werden.201 c) Befragung von Drittpersonen Der Vollständigkeit halber soll hier auch kurz auf die „biografische Rekonstruktion mit Hilfe von Fremdanamnesen“ als „spezifische psychologische Methodik“ eingegangen werden, die bei aussagepsychologischen Begutachtungen vor allem von kindlichen Zeugen „unverzichtbar“ ist. Dabei handelt es sich um Informationen zur biografischen Entwicklung des Zeugen und um keine Vernehmung. Diese Methode kann deshalb notwendig sein, weil der aussagepsychologische Sachverständige von diesen Zeugen selbst diesbezüglich viel zu wenige Auskünfte bekommt.202 4. Darstellung der Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch den aussagepsychologischen Sachverständigen a) Transparenz und Nachvollziehbarkeit Einer der wichtigsten Grundsätze bei der Darstellung der Begutachtung durch den aussagepsychologischen Sachverständigen sind laut der Grundsatzentscheidung des BGH sowohl Transparenz als auch Nachvollziehbarkeit. Diese beiden Anforderungen bleiben von der Tatsache unberührt, dass es in erster Linie dem Sachverständigen überlassen bleibt, „in welcher Art und Weise er sein Gutachten dem Gericht“ vorlegt.203

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Volbert 2010, 47 mwN; Steller 2008, 302 f. Vgl. Volbert 2010, 63 ff. 201 Volbert 2010, 64 f. 202 Volbert 2010, 65; dazu auch Köhnken 2014, 33 f. mwN: die Erhebung einer Anamnese durch den Sachverständigen mittels Befragung der Eltern „dürfte demnach noch zulässig sein, da es sich hierbei um eine psychodiagnostische Befunderhebung handelt.“ Dies gilt nicht für eine solche Befragung zur Aussageentstehung. – Vgl. dazu auch Pfister 2014, 109 f. m. w. N. 203 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; dazu auch Schneider et al. 2010, 326. 200

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In diesem Zusammenhang soll auch auf das österreichische Sachverständigenund Dolmetschergesetz (SDG)204 hingewiesen werden, das im § 2 vom „schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten“ spricht.205 Der aussagepsychologische Sachverständige muss also die diagnostischen Schlussfolgerungen „nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar“ darstellen. Dafür ist er also verpflichtet, die „Anknüpfungs- und Befundtatsachen“ zu benennen und zu beschreiben. Außerdem bedeutet dieser Grundsatz der Transparenz, dass es für die Beteiligten, „zumindest aber durch andere Sachverständige“ überprüfbar sein muss, „auf welchem Weg der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist“.206 Wie bereits oben festgestellt wurde, muss es also dem Gericht (und allen Verfahrensbeteiligten) möglich sein, die diagnostischen Schlussfolgerungen des Sachverständigen nachzuvollziehen, um die Beweise autonom nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung würdigen zu können. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die Ergebnisse des Gutachtens unreflektiert übernommen werden könnten.207 Kurze Zeit nach seiner Grundsatzentscheidung hat der BGH zu diesem Erfordernis der „Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Begutachtung“208 ergänzend klargestellt, dass es sich bei den dort festgelegten „methodischen Grundprinzipien für die aussagepsychologische Begutachtung um Prüfungsschritte handelt, nach denen der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige gedanklich arbeitet.“ Für die Beteiligten müsse überprüfbar sein, auf welchem Weg der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt sei.209 Bei der Darstellung in den aussagepsychologischen Gutachten sollte diesbezüglich also von diesen Sachverständigen konkret folgendes laut Grundsatzentscheidung des BGH beachtet werden:

204 Bundesgesetz über die allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen und Dolmetscher (Sachverständigen- und Dolmetschergesetz – SDG), BGBl 1975/137 idgF. 205 Vgl. generell zur „obersten Maxime“ der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit des gesamten Gutachtens: Proyer u. Ortner 2010, 14; dazu auch Rzeszut 2012, 295; Scaria 2012, 176. 206 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; dazu auch Köhnken 2014, 31. 207 Steller u. Volbert 1997, 12 mwN; Köhnken 2007, 31 mwN; vgl. dazu auch oben unter Allgemeines zum Begriff des Sachverständigen. 208 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104; Pfister 2014, 108; vgl. auch Volbert 2012, 253; Westhoff u. Kluck 2014, 207. 209 BGH, NStZ 2001, 45 mwN; dazu auch Schneider et al. 2010, 323.

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aa) Bezeichnen der zugrunde gelegten Hypothesen Wie bereits oben erwähnt, erfolgt die Überprüfung des Erlebnisgehalts von Zeugenaussagen inhaltsbezogen und in einem wissenschaftlich fundierten hypothesegeleiteten diagnostischen Prozess durch die Falsifikation der Nullhypothese. Die zugrunde gelegten Alternativhypothesen müssen daher im Gutachten einzeln bezeichnet werden.210 Dabei müssen auch die jeweils benützten „Untersuchungsmethoden und Testverfahren“ erwähnt und zu den gebildeten Hypothesen in Bezug gesetzt werden. Diesbezüglich macht der BGH deutlich, dass erkennbar sein muss, „welche Fragestellung mit welchen Verfahren bearbeitet wurde und warum diese Verfahren methodisch indiziert waren.211 Wie Volbert und Steller dazu feststellen, handelt es sich bei der Formulierung der zutreffenden Fragestellungen und der zu prüfenden Hypothesen bereits um einen „wesentlichen Teil des Begutachtungsprozesses“. Die am jeweiligen Einzelfall orientierte Datenerhebung wird durch die aufgestellten und im Laufe der Untersuchung aktualisierten Hypothesen bestimmt. Aus diesem Grund kann für die Durchführung praktischer Fallbearbeitung „keine standardisierte Routine“ festgelegt werden. Methodenauswahl und Analyseschwerpunkte richten sich „nach den Gegebenheiten des Einzelfalles“.212 Ungeachtet dessen lassen sich bekanntlich drei relevante Analysebereiche feststellen, nämlich die – jeweils bereits oben erwähnte – Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung, die Analyse der aussagerelevanten Kompetenzen (Kompetenzanalyse) sowie die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse der Aussage z. B. des Zeugen.213 bb) Darstellung bestimmter psychologischer Diagnoseverfahren Solcherlei anerkannte Verfahren wie „z. B. Befragung, Beobachtung oder Standardtests und -fragebögen“ müssen laut BGH regelmäßig keineswegs im Hinblick auf ihre Konzeption und Methodik erläutert werden. Denn in diesem Fall ist ihre Überprüfbarkeit „bereits durch allgemeine psychologische Quellen wie Testmanuale und Sekundärliteratur gewährleistet“. Dies gilt aber nicht für „andere Verfahren“, die im Unterschied dazu in aussagepsychologischen Gutachten dargestellt werden müssen.214

210

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 m. w. N. BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; dazu auch Schneider et al. 2010, 326 f.; Köhnken 2014, 31. 212 Volbert u. Steller 2014, 401; Hervorhebungen durch die Verfasserin. 213 Volbert u. Steller 2014, 401 ff. 214 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; dazu auch Köhnken 2014, 31 f. 211

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cc) Trennung von Datenbericht und psychologischer Interpretation Wenn eine solche Trennung fehlt, können die entsprechenden Inhalte im Gutachten von den Prozessbeteiligten nicht mehr überprüft werden z. B. die Schlussfolgerungen hinsichtlich verschiedener Aspekte der Persönlichkeit der Zeugin, was dem Gebot der Transparenz und Nachvollziehbarkeit jedoch widerspricht.215 Dazu stellt Volbert fest, dass die Einzelergebnisse vom aussagepsychologischen Sachverständigen in einer abschließenden Beurteilung gewichtet und interpretiert werden. Zu den Mindestanforderungen an aussagepsychologische Gutachten gehört daher auch die Verpflichtung, „diese Gewichtungs- und Interpretationsschritte nachvollziehbar und transparent darzulegen“.216 dd) Anführen der Inhalte und Ergebnisse der durchgeführten diagnostischen Maßnahmen Diesbezüglich geht der BGH davon aus, dass dies grundsätzlich nicht in jedem Fall stattfinden muss. Allerdings weist der BGH in diesem Zusammenhang daraufhin, dass es „im Einzelfall notwendig“ sein kann, „alle vom Untersuchten erzielten Testergebnisse den Prozessbeteiligten mitzuteilen, um ihnen so die Überprüfung der vom Sachverständigen aus diesen Befunden gezogenen Schlussfolgerungen zu ermöglichen“.217 Schlussendlich geht der BGH aber davon aus, dass es „in der Regel jedoch genügen“ wird, „die wesentlichen Ergebnisse zu benennen und zu interpretieren, nämlich diejenigen, die sich bei Durchführung der Begutachtung für die Erfüllung des Gutachtenauftrags als wichtig erwiesen haben.“218 Zusammenfassend stellt der BGH dazu also fest: „Wählt der Sachverständige diese Darstellungsweise, ist dies daher grundsätzlich nicht zu beanstanden. Er muss in diesem Fall – entsprechend dem wissenschaftlichen Transparenzgebot – aber sonstige Testergebnisse angeben und belegen können“, wenn in der Hauptverhandlung diesbezüglich „Aufklärungsbedarf“ besteht.219 ee) Mitschriften, Audio und gegebenenfalls Videoaufnahmen der Exploration zur Sache Letztere sind laut BGH mit Einverständnis der explorierten Person und „im Interesse einer besseren Dokumentation“ grundsätzlich vom aussagepsychologischen 215

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; dazu auch Köhnken 2014, 1, 32. Volbert 2010, 66. 217 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 m. w. N. 218 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 mwN; Hervorhebungen durch die Verfasserin. 219 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104 m. w. N. 216

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Sachverständigen vor allem deshalb zu erstellen, um Erinnerungsverfälschungen bei der Analyse zu vermeiden und um Beurkundungen zu bewerten.220 Ein bisschen später hat der BGH diesbezüglich konkretisiert, dass nur durch eine „genaue Dokumentation“ abgeschätzt werden kann, „welche Aussagequalitäten bei den Schlussfolgerungen zur Glaubhaftigkeitseinschätzung verwertet werden können.“221 Volbert und Steller weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Wortlauts der Exploration zur Sache für die Durchführung der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse hin, weshalb diese auch auf Ton- oder Videoband aufgezeichnet werden sollte.222 Laut BGH gilt dies vor allem für die Aussageanalyse von komplexen Sachverhalten, die „ohne verwendbare Aufzeichnung des Ablaufs der Exploration als nicht möglich erscheint“.223 In diesem Sinne spricht sich auch Volbert für die Tonaufzeichnung aus: Eine Aussageanalyse lediglich anhand von „Mit- oder Nachschriften“ erscheint besonders dann „problematisch, wenn nicht gar unmöglich“.224 Diesbezüglich stellt der BGH allerdings klar, dass das Explorationsgespräch nicht unbedingt in jedem Gutachten vollständig wiedergegeben muss. Wie Volbert feststellt, liegt die Darstellung also im Ermessen des aussagepsychologischen Sachverständigen: Stattdessen ist ein Bericht „ausreichend“ und „wegen der größeren Übersichtlichkeit“ vorzuziehen: Darin soll das Gespräch vom aussagepsychologischen Sachverständigen nur insoweit wörtlich dargestellt werden, „wie es für die Bearbeitung des Gutachtensauftrags von Bedeutung ist“. Auf diese Art sollten im Einzelfall gegebenenfalls Ablauf und Begleitumstände geschildert werden. Laut BGH gilt hier also der gleiche Maßstab wie bei der Darstelllung in den schriftlichen Urteilsgründen.225 Schließlich weist der BGH den aussagepsychologischen Sachverständigen an, Mitschriften, Audio und gegebenenfalls Videoaufnahmen der Exploration zur Sache wenigstens bis zur Rechtskraft des Urteils, bezüglich einer möglichen Wiederaufnahme des Verfahrens „besser darüber hinaus“ aufzubewahren und gegebenenfalls in der Hauptverhandlung „nach den Maßstäben der gerichtlichen Aufklärungspflicht“ vorzulegen.226 220

BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104; Hervorhebungen durch die Verfasserin; vgl. dazu auch Volbert u. Steller 2014, 403; Schneider et al. 2010, 327. 221 BGH, NStZ 2001, 46; vgl. dazu auch Volbert 2010, 66. 222 Volbert u. Steller 2014, 403 mwN; dazu auch Schneider et al. 2010, 327 mwN, die allerdings dazu meinen, dass dies „nur in Einzelfällen notwendig“ zu sein scheint. 223 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104. 224 Volbert 2010, 66. 225 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104; Hervorhebungen durch die Verfasserin; Volbert 2010, 66 vgl. dazu auch Volbert u. Steller 2014, 403; Köhnken 2014, 32 m. w. N. 226 BGH Grundsatzentscheidung, NStZ 2000, 104.

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b) Form der Gutachtenserstattung durch aussagepsychologische Sachverständige Wie bereits in seiner Grundsatzentscheidung hat der BGH ein wenig später den Grundsatz nochmals bekräftigt, dass es „in erster Linie dem Sachverständigen überlassen“ bleibt, „in welcher Art und Weise er sein Gutachten dem Gericht unterbreitet“: Die aussagepsychologischen Gutachten müssen daher weder „einheitlich einer bestimmten Prüfstrategie folgen“ noch „einen einheitlichen Aufbau haben.“ Dasselbe gilt für „die einzelnen Elemente der Aussagebegutachtung“, die „auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden“ müssen.227 Mit dieser Entscheidung sollten laut Boetticher die Tatrichter ermutigt werden, „die Kritik an den gerichtlich bestellten Gutachten genau anzusehen, um mutmaßlichen Opfern eine neue Begutachtung zu ersparen, wenn die Mängel nicht so gravierend seien, dass bei einer neuen Begutachtung ein anderes Ergebnis nicht ausgeschlossen werden könne.“228 Im Folgenden wird noch kurz auf die besondere Situation der Forensischen Aussagepsychologie in Österreich eingegangen: 5. Exkurs zur Situation in Österreich Aus der anwaltlichen Praxis wird allgemein festgestellt, dass die Aussagepsychologie „in Österreich noch in den Anfängen steckt und überdies heftig umstritten ist, weil von Seiten der Richterschaft darin grundsätzlich ein Eingriff in die Ihnen vorbehaltene Beweiswürdigung befürchtet wird.“229 Wie bereits oben erläutert wurde, sind diese Befürchtungen insoweit unbegründet, da die richterliche Beweiswürdigung weder durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden der Aussagepsychologie noch durch ein möglicherweise notwendiges Gutachten durch einen aussagepsychologischen Sachverständigen tangiert bzw. eingeschränkt wird. Vielmehr bleibt die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen bekanntlich ureigenste richterliche Aufgabe, bei deren Bewältigung die Aussagepsychologie sowohl theoretisch als auch praktisch aber äußerst hilfreich ist bzw. sein kann. Verkürzt gesagt geht es um eine effektive Zusammenarbeit von Justiz und u. a. aussagepsychologischen Sachverständigen, die gerade für den eingangs erwähnten wahren Opferschutz – auch im Hinblick auf diesbezügliche negative Erfahrungen aus den deutschen Massenbeschuldigungsverfahren – nicht wegzudenken ist.

227 BGH, NStZ 2001, 45 f.; vgl. auch Pfister 2014, 108 mwN; Volbert 2012, 255; Schneider et al. 2010, 323 m. w. N. 228 Zitiert nach Volbert 2012, 255 mwN; vgl. dazu auch Pfister 2014, 108. 229 Todor-Kostic 2011, 135.

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a) Bekenntnis zur Beachtung der deutschen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Forensischen Aussagepsychologie durch die Rechtsprechung Genau in diesem Sinne ist auch die richtungsweisende Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz vom 26. Jänner 2007 anzusehen. Diese hat u. a. klargestellt, dass die Grundsatzentscheidung des BGH sowohl von der österreichischen Rechtsprechung als auch von der hiesigen aussagepsychologischen Gutachterpraxis beachtet werden muss: Seit diesem Zeitpunkt steht also fest, dass die deutschen wissenschaftlichen Anforderungen an die Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Aussagen auch hierzulande gelten müssen: „Entgegen der vom Erstgericht beschriebenen ,österreichischen forensischen Tradition‘ … kann wohl nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis auch in Österreich zu gelten hat. Betreffend die Methodik und den Inhalt der Glaubhaftigkeitsbeurteilung, insbesonders die Begutachtung von Kindern nach sexueller Misshandlung, haben daher die in der Bundesrepublik Deutschland anlässlich der ,Wormser Prozesse‘ (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 1999, 1 StR 618/98) entwickelten wissenschaftlichen Grundprinzipien auch für den österreichischen Strafprozess Gültigkeit.“230

So hat sich bekanntlich auch der Oberste Gerichtshof (OGH) z. B. in seiner Entscheidung vom 11. 11. 2010231 mit dem „methodischen Grundprinzip eines aussagepsychologischen Gutachtens“ auseinander gesetzt: Laut dieser Entscheidung wäre ein aussagepsychologisches Gutachten „nur dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse aktenmäßig belegte Ansatzpunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen vorliegen. Ein Suchtgift- oder Alkoholmissbrauch ohne sonstige, das Aussageverhalten beeinflussende, für ein aussagepsychologisches Gutachten im dargelegten Sinn relevante Begleiterscheinungen bietet daher keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einholung einer derartigen Expertise.“232

Dies ist zumindest der überaus wichtige Beginn dafür, dass die vom BGH festgelegte wissenschaftliche Methode zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen – vor allem auch im Hinblick auf deren „Qualitätssicherung“233 – schon seit 2007 auch in Österreich anerkannt ist und Anwendung finden muss.234 230

OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 8 f. OGH, 12 Os 121/10a. 232 OGH, 12 Os 121/10a, 6; dazu auch OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 2, 8 zum „unabdingbaren“ Dafürhalten der Einholung eines „Glaubwürdigkeitsgutachtens“ u. a. zur Aussagegenese und zum Aussageinhalt der minderjährigen Zeugin – im Gegensatz zum psychiatrischen Sachverständigengutachten. 233 Volbert 2012, 250; Köhnken 2014, 1, 37; dazu auch Todor-Kostic 2011, 135, der aus österreichischer Sicht dafür eintritt, dass „in Zukunft danach getrachtet werden“ sollte, „dass bestimmte Mindestqualitätsstandards bei der Begutachtung (sowohl durch psychiatrische als auch aussagepsychologische Sachverständige) jedenfalls eingehalten werden.“ 234 Vgl. auch Hübner 2013, 292 m. w. N. 231

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So kann z. B. auch die kurze Zeit nach dieser richtungsweisenden Entscheidung aufgestellte Forderung der Richterschaft verstanden werden, „sich laufend mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über Gewinnung und Würdigung von Beweisen auseinanderzusetzen“.235 Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass ein hochrangiger Vertreter für das Zivilverfahren den „besonderen Wert“ des Sachverständigenbeweises konstatiert, „etwa gegenüber der Aussage von Zeugen und Parteien, die Wahrnehmungsfehlern oder Erinnerungsdefiziten unterliegen, gelegentlich aber auch bestrebt sein können, die Wahrheit zu verschleiern.“236 b) Fehlen von wissenschaftlichen Mindeststandards und einschlägige Forderungen aa) Aus Justizkreisen Ungeachtet dieses eben erwähnten Bekenntnisses der Rechtsprechung zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden der Aussagepsychologie wird aus dem Schrifttum trotzdem beklagt, dass es in Österreich „keine Leitentscheidung der österreichischen Rechtsprechung“ gibt, die mit jener der Grundsatzentscheidung des BGH vergleichbar ist.237 In diesem Zusammenhang wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verurteilungsquote bei Sexualdelikten mit der Glaubhaftigkeit der Aussage des Opferzeugen „steht und fällt“. Daher wird gefordert, „Mindestqualitätsstandards“ für aussagepsychologische Gutachten nach dem deutschen Vorbild auch für Österreich einzuführen.238 Genau in diese Richtung geht auch der Appell aus Anwaltskreisen, „neue Qualitätsstandards für derartige (entscheidende) Beweismittel zu schaffen, wozu auch aussagepsychologische Expertisen – wie in Deutschland – zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Opfers oder Zeugen anhand qualitativer Merkmale grundsätzlich zugelassen werden sollten.“ Begründet wird dies mit „praktischen (gehäuften) Erfahrungen mit Fehlgutachten in Missbrauchsverfahren“ und „insbesondere vor dem Hintergrund der bekannt hohen Falschverdächtigungsquote“.239

235

Pressemitteilung „Prozessrecht. Verteidiger pochen auf Beschuldigtenrechte“, in: Die Presse, Rechtspanorama, 30. 3. 2009, 8: Der Veranstaltungsrahmen war der 7. Strafverteidigertag im März 2009. 236 Scaria 2012, 171. 237 Wille 2012, 74 f.; dazu auch Schwaighofer 2014, 21 m. w. N. 238 Schwaighofer 2014, 21 m. w. N. 239 Todor-Kostic 2011, 136.

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bb) Aus psychologischen Kreisen Auch psychologische Fachvertreter halten „die Etablierung von Leitlinien bei der Durchführung von Glaubhaftigkeitsuntersuchungen in Österreich“ für „zwingend notwendig“, die „auch ab 2014 (OGH, Giacomuzzi et al.) eingeführt werden sollten“.240 Es mangle an einer „eigenen Richtlinie, welche die österreichische Rechtslage ausreichend berücksichtigt, die sich in wesentlichen Punkten von der deutschen Rechtsetzung unterscheiden.“241 Konkret wird diesbezüglich auch schon Folgendes in Aussicht gestellt: „Im Jahre 2010 begann der Oberste Gerichtshof in Österreich (OGH) dazu eine Arbeitsgruppe zu etablieren. Österreich wird daher ab 2014 ebenfalls auf ein eigens erarbeitetes Manual ,in Strafverfahren wegen strafbarer Handlungen gegen die sexuelle und körperliche Integrität und Selbstbestimmung betreffend Zeugenaussagen‘ … durch den Obersten Gerichtshof (OGH, Giacomuzzi et al. 2014) zurückgreifen können“.242

Die einschlägige Literaturrecherche und eine anschließende telefonische Nachfrage in der Zentralbibliothek im Justizpalast zum konkreten Inhalt der eben angeführten Fundstelle sind allerdings erfolglos geblieben. Daher war die Ausforschung dieses Manuals nicht möglich.243 Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass derzeit schon „Richtlinien für die Erstellung von psychologischen Gerichtsgutachten für Kinder, Jugend und Familie“244 existieren. Auch die beiden Richtlinien des Bundesministeriums für Gesundheit sind bei der Erstellung von psychologischen Befunden und Gutachten von Bedeutung.245 Außerdem wird von psychologischer Seite im Hinblick auf die Aussagepsychologie beklagt, dass „in Österreich … in den letzten Jahren in diesem Rahmen leider 240

Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 155 m. w. N. Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 144. 242 Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 144. 243 Herrn Fachoberinspektor Gerhard Pusterhofer von der Amtsbibliothek (Zentralbibliothek im Justizpalast) sei an dieser Stelle sehr herzlich für seine diesbezüglichen telefonischen Auskünfte gedankt: Meine entsprechende Anfrage am 20. 8. 2015 und seine spezielle Nachfrage beim Präsidium des OGH am 21. 8. 2015 haben ergeben, dass das mehrfach angegebene Zitat „OGH, Giacomuzzi et al. 2014“ (Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 144, 155) sowohl Herrn Pusterhofer als auch dem Präsidium des OGH unbekannt sind und „nichts mit dem OGH zu tun hat“. Daher konnte der konkrete Inhalt auch nicht ausgehoben werden. 244 Beghella et al. 2001, 236 f. 245 „Richtlinie für die Erstellung von klinisch-psychologischen und gesundheitspsychologischen Befunden und Gutachten des Bundesministeriums für Gesundheit auf Grundlage eines Gutachtens des Psychologenbeirates vom 23. 02. 2012“; „Ethikrichtlinie für klinische Psychologinnen und klinischen Psychologen sowie für Gesundheitspsychologinnen und Gesundheitspsychologen. Richtlinie des Bundesministeriums für Gesundheit auf Grundlage eines Gutachtens des Psychologenbeirates, veröffentlicht in Psychologie in Österreich Nr. 2/ 1995, S 55 ff und in den Mitteilungen der Sanitätsverwaltung Heft 7/2001, S 12 ff“. 241

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keine nennenswerte Forschung“ stattgefunden hat. Auch fehle hier „bis dato eine ausreichend starke universitäre Verankerung hierzu“.246 Diese Kritik ist sicherlich berechtigt. Ungeachtet dessen soll hier aber auch erwähnt werden, dass es in Österreich – zumindest für eine gar nicht so kurze Zeitspanne – sehr wohl eine universitäre Einrichtung gegeben hat, die sich u. a. auch mit der Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Forensischen Aussagepsychologie beschäftigt hat: Von 1981 bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007 hat die „Interfakultäre Forschungsstelle für Rechtspsychologie“247, zuletzt „Organisationseinheit Rechtspsychologie“ über zweieinhalb Jahrzehnte an der Universität Salzburg existiert, der die Verfasserin von 1994 bis zu ihrer Auflösung auch angehört hat. Zumindest während dieser Zeit hat es also eine universitäre Verankerung in Salzburg gegeben, die auch von studentischer Seite viel besucht und sehr gut angenommen wurde. cc) Zusammenfassung Mit der für die Rechtssicherheit so wichtigen und erfreulichen Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz haben die konkreten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden der Aussagepsychologie auch in Österreich Eingang gefunden248, zumindest „für den österreichischen Strafprozess“.249 Dies gilt selbstverständlich auch für die entsprechenden Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten. Trotzdem wird sowohl von juristischer als auch von psychologischer Seite das Fehlen von eigenen österreichspezifischen Mindestqualitätsstandards für aussagepsychologische Gutachten beklagt. Daher gibt es Bestrebungen, solche Standards einzuführen, in denen vor allem die speziellen österreichischen Rechtsvorschriften berücksichtigt werden sollen. In diesem Zusammenhang wird der Mangel einer eigenen Richtlinie von der österreichischen Gutachterpraxis zu Recht angeprangert, die die österreichische Rechtslage hinlänglich berücksichtigt, die von der deutschen in manchen Punkten abweicht.250 Diese Initiative ist sicherlich zu begrüßen, wobei sich die neu zu schaffenden Standards vollinhaltlich an jenen des deutschen BGH orientieren sollten. Unabhän246

Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 144. Vgl. auch Klopf et al. 2012, 268. Seit 2007 wird die Forensische Aussagepsychologie nach wie vor in 2 Lehrveranstaltungen pro Studienjahr als Wahlfach an der Universität Salzburg durch die Verfasserin als Juristin vertreten. 248 Wille mahnt zu Recht zur „Beachtung der methodischen Regeln für die Aussagepsychologie – insbesondere der nachvollziehbar dargestellten Bildung von Nullhypothesen und Alternativhypothesen – durch den Richter oder aussagepsychologische Begutachtung erforderlichenfalls mit Sachverständigenhilfe“: Wille 2012, 155 f. m. w. N. 249 OLG Linz 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 8 f. 250 Vgl. Kirchler-Bölderl u. Giacomuzzi 2014, 144. 247

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gig davon, wie lange die tatsächliche Umsetzung dieser Bestrebungen noch dauern möge, besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden der Forensischen Aussagepsychologie schon jetzt in Österreich ihre Anwendung finden. Wie bereits in Deutschland sollten diese Anforderungen daher auch in Österreich sowohl für die Richter als eine „Unterstützung der verantwortungsvollen richterlichen Alltagsarbeit“ als auch für die aussagepsychologischen Sachverständigen eine Unterstützung im Hinblick auf die oben angesprochene Qualitätssicherung betrachtet werden.251 Unlängst wurde vom österreichischen Gesetzgeber das Sexualstrafrecht u. a. um einen neuen Tatbestand der „Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung“252 erweitert, um ein „deutliches, aber doch maßvolles Zeichen zur Vorbeugung und Hintanhaltung sexueller Gewalt zu setzen, indem das Spektrum der strafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten auf konsenslose Sexualkontakte erweitert werden soll.“253 Dabei soll vor allem die Verbesserung „der Situation für Opfer von sexueller Gewalt“ im Vordergrund stehen254, die auch Gegenstand der entsprechenden Entschließung ist.255 In diesem Zusammenhang dürfen aber keinesfalls die möglichen Opfer von Falschbeschuldigungen übersehen werden, die eben auch durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Forensischen Aussagepsychologie geschützt werden.

Resümee Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Forensischen Aussagepsychologie sind sowohl für die Strafjustiz als auch für die aussagepsychologischen Sachverständigen im Lichte der Qualitätssicherung der Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen ein sehr wichtiger wie wertvoller Beitrag, um dem doppelten Opferschutz so gut wie möglich gerecht werden zu können: Eine gute Kooperation im Sinne einer „rollengerechten Übernahme von Verantwortung“256 wäre dringend geboten, um tatsächlichen Opfern zum Recht zu verhel-

251

Hübner 2013, 277, 292. § 205a StGB, eingefügt durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2015, BGBl I 2015/112, der mit 1. 1. 2016 in Kraft getreten ist. 253 Regierungsvorlage 689 der Beilagen XXV. GP, 34. 254 Ausschussbericht 728 der Beilagen XXV. GP, 8. 255 Entschließung betreffend die Straftatbestände der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung sowie der Sexuellen Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen, 728 der Beilagen XXV. GP. 256 Steller 2013, 25. 252

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fen und tatsächlich Unschuldige vor Falschbeschuldigungen mit ihren zum Teil verheerenden Folgen bis hinein in die Existenzvernichtung257 zu schützen. Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen ist zwar ureigenste richterliche Aufgabe, kann aber – zumindest in schwierigen Fällen – nur mit Hilfe der wissenschaftlichen Methoden der Forensischen Aussagepsychologie bewältigt werden: Für die Erforschung der materiellen Wahrheit im gerichtlichen Strafverfahren, vor allem in Sexualstrafverfahren, speziell bei der Konstellation Aussage gegen Aussage oder beim „Missbrauch des Missbrauchs“, z. B. beim Kontaktrecht im zivilgerichtlichen Verfahren, können eben auch aussagepsychologische Gutachten einen entscheidenden Beitrag leisten, weshalb der Feststellung Stellers nur allzu große Bedeutung zukommt: „Wenn Gutachten von aussagepsychologischen Sachverständigen zu einer richtigen Weichenstellung im Verlauf der Beweisaufnahme führen und zu einer adäquaten richterlichen Beweiswürdigung beitragen, so erfüllen sie die ihnen zugedachte Funktion.“258

Dabei sollten die beiden Massenbeschuldigungsverfahren in Deutschland Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ein abschreckendes Beispiel sein und die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden der Forensischen Aussagepsychologie verdeutlichen,259 weshalb auch Steller völlig zu Recht konstatiert: „Die forensische Aussagepsychologie hat sich gegen zeitgeistige Strömungen durchgesetzt und in der gerichtlichen Praxis bewährt.“260 Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Deutschland, sondern im gleichen Maße auch für Österreich, das sich nunmehr seit bereits mehr als 8 Jahren im Sinne des Opferschutzes und der Qualitätssicherung ausdrücklich zu der Beachtung der wissenschaftlichen Methoden der Aussagepsychologie bekannt hat.

257 Vgl. Steller 2015, 207 ff.: Steller schildert u. a. einen Fall (von insgesamt vielen), in dem ein Vater auf Grund der haltlosen Anschuldigungen der Vergewaltigung durch seine Tochter fast 7 Jahre ungerechtfertigt im Gefängnis gesessen ist, nachdem er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurde. – Vgl. dazu auch Wille 2012, 6. 258 Steller 2013, 25. 259 Vgl. Steller 2013, 19; Steller 2015, 281. 260 Steller 2013, 26; dazu auch Köhnken 2014, 36.

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Literatur „Aktueller Kriterienkatalog für Zuständigkeiten klinisch-psychologischer bzw. psychiatrischer Sachverständiger“, in: Giacomuzzi Salvatore (Hg.): Forensisch-psychologische Begutachtung in der Praxis, Verlag Krammer, 1. Auflage, Wien 2014, 387 Arntzen, Friedrich (2007): Psychologie der Zeugenaussage. System der Glaubhaftigkeitsmerkmale, 4. Aufl., Verlag C.H. Beck, München Aymans, Monika (2012): Begutachtung der Glaubhaftigkeit, in: Kury, Helmut/Obergfell-Fuchs, Joachim: Rechtspsychologie. Forensische Grundlagen und Begutachtung. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis, 1. Aufl., W. Kohlhammer, Stuttgart 2012, 151 – 173 Balloff, Rainer (2014): Familienrechtliche Begutachtung nach Trennung und Scheidung, in: Bliesener, Thomas/Lösel, Friedrich/Köhnken, Günter, Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern 2014, 288 – 309 Beghella, Brigitta/Erhard, Rotraud/Hauck, Brigitte/Raunigg, Ingrid/Rothmayr, Uta/Willmann, Andreas/Zobl, Gottfried (2001): Richtlinien für die Erstellung von psychologischen Gerichtsgutachten für Kinder, Jugend und Familie, in: Psychologie in Österreich 3/2001, 236 – 237 Bender, Rolf/Nack, Arnim/Treuer, Wolf-Dieter (2007): Tatsachenfeststellung vor Gericht. Glaubwürdigkeits- und Beweislehre. Vernehmungslehre, Verlag C.H. Beck, München BGH, Beweiswürdigung bei Abweichung von Gutachten: BGH, Beschluss vom 19. 6. 2012 – 5 StR 181/12 (LG Saarbrücken). In: NStZ 2013, 55 – 57 – Anforderungen an aussagepsychologisches Gutachten: BGH, Beschluss vom 30. 5. 2000 – 1 StR 582/99 (LG Mannheim). In: NStZ 2001, 45 – 46 – Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens: BGH, Beschluss vom 22. 6. 2000 – 5 StR 209/ 00 (LG Berlin). In: NStZ 2001, 105 – 106 – Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten. Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten): BGH, Urteil vom 30. 7. 1999 – 1 StR 618/98 (LG Ansbach). In: NStZ 2000, 100 – 105 Dahle, Klaus-Peter: Editorial. In: Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1, Bd. 2, Heft 1, Februar 2008 (Schwerpunktthema: Zeugen- und Aussagepsychologie), 1 – 2 Deckers, Rüdiger (2014a): Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage durch das Gericht im Lichte der neueren BGH-Rechtsprechung, in: Deckers, Rüdiger/Köhnken, Günter (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte, 2. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin, 119 – 129 – (2014b): Glaubhaftigkeitsprüfung, in: Deckers, Rüdiger/Köhnken, Günter (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte, 2. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin, 131 – 152 Eichberger, Heidrun (2007): Aussageanalyse bei sexuellen Übergriffen an Kindern und Jugendlichen – ein Vergleich mit Deutschland. In: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.): Begutachtung von Kindern nach sexueller Misshandlung, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Bd. 130, Neuer Wissenschaftlicher Verlag GmbH, Wien/Graz, 75 – 89

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Ethikrichtlinie für klinische Psychologinnen und klinischen Psychologen sowie für Gesundheitspsychologinnen und Gesundheitspsychologen. Richtlinie des Bundesministeriums für Gesundheit auf Grundlage eines Gutachtens des Psychologenbeirates, veröffentlicht in Psychologie in Österreich Nr. 2/1995, S 55 ff. und in den Mitteilungen der Sanitätsverwaltung Heft 7/2001, S. 12 ff. Friedrichsen, Gisela (2008) Im Zweifel gegen die Angeklagten. Der Fall Pascal – Geschichte eines Skandals. Mit einem Nachwort von Günter Köhnken, 1. Aufl., Deutsche Verlagsanstalt, München und Spiegel-Verlag, Hamburg Greuel, Luise/Offe, S./Fabian, A./Wetzels, P./Fabian, T./Offe, H./Stadler, M. (1998): Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Die Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, Psychologie Verlags Union, Weinheim Haller, Reinhard (2008): Das psychiatrische Gutachten. Grundriss der Psychiatrie für Juristen, Sozialarbeiter, Soziologen, Justizbeamte, Psychotherapeuten, gutachterlich tätige Ärzte und Psychologen, 2. Aufl., Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Schriftenreihe Recht der Medizin, Wien Hübner, Eleonora (2013): Was bedeutet „Glaubhaftigkeit“ einer Aussage und wie beurteilt man sie?, in: Stompe Thomas/Laubichler Werner/Schanda Hans (Hrsg.): Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie, MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, 277 – 294 – (2010): Praxistipps zur Vernehmung und zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Aussagen. In: Österreichische Richterzeitung 01/2010, 6 – 14 Jansen, Gabriele (2004): Zeuge und Aussagepsychologie, C.F. Müller Verlag. Heidelberg Kemme, Stefanie/Boetticher, Axel/Kolberg, Jan Hendrik (2013): Das Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Beweiswürdigung und der Tätigkeit des aussagepsychologischen Sachverständigen, in: Praxis der Rechtspsychologie 23 (1) August 2013, Themenschwerpunkt Aussage- und Zeugenpsychologie, 33 – 53 Kirchler-Bölderl, Claudia/Giacomuzzi, Salvatore (2014): Einige Anmerkungen zur Realkennzeichenanalyse bei Glaubhaftigkeitsuntersuchungen aus aktueller Sicht, in: Giacomuzzi Salvatore (Hg.): Forensisch-psychologische Begutachtung in der Praxis, Verlag Krammer, 1. Aufl., Wien 2014, 139 – 156 Klopf, Johannes/Kofler-Westergren, Brigitta/Kitzberger, Martin/Burtscher, Klaus/Erhard, Rotraud/Giacomuzzi, Salvatore (2012): Rechtspsychologie in Österreich, in: Kury, Helmut/ Obergfell-Fuchs, Joachim: Rechtspsychologie. Forensische Grundlagen und Begutachtung. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis, 1. Aufl., Stuttgart 2012, 267 – 287 Köhnken, Günter (2014): Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten, in: Deckers Rüdiger, Köhnken Günter (Hrsg.), Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte, 2. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2014, 1 – 41 – (2008): Nachwort. Lehren aus dem Saarbrücker Prozess. In: Friedrichsen Gisela, Im Zweifel gegen die Angeklagten. Der Fall Pascal – Geschichte eines Skandals. Mit einem Nachwort von Günter Köhnken, 1. Aufl. Deutsche Verlags-Anstalt, München und Spiegel-Verlag, Hamburg, 220 – 238

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– (2007): Qualitätsanforderungen an Gutachten zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen. In: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.) Begutachtung von Kindern nach sexueller Misshandlung, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Band 130. Neuer Wissenschaftlicher Verlag GmbH, Wien/Graz, 23 – 35 Kury, Helmut/Obergfell-Fuchs, Joachim (2012): Rechtspsychologie. Forensische Grundlagen und Begutachtung. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis, 1. Aufl., W. Kohlhammer, Stuttgart 2012 Lau, Steffen/Böhm, Claudia/Volbert, Renate (2008): Psychische Störung und Aussagetüchtigkeit. In: Der Nervenarzt 1/2008, 60 – 66 Michaelis-Arntzen, Else (2007): Zeugenpersönlichkeit und Aussageglaubhaftigkeit. In: Arntzen F, unter Mitwirkung von Michaelis-Arntzen Else, Psychologie der Zeugenaussage. System der Glaubhaftigkeitsmerkmale, 4. Aufl., Verlag C.H. Beck, München, 115 – 122 Nack, Armin (2010): Glaubwürdigkeitsbeurteilung. In: Österreichisches Anwaltsblatt 2010/05, 251 – 258 Niehaus, Susanna (2008): Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse. In: Volbert, Renate/Steller, Max (Hrsg.): Handbuch der Rechtspsychologie, Handbuch der Psychologie Band 9, Hogrefe Verlag, Göttingen/Bern/Wien/Paris/Oxford/Prag/Toronto/Cambridge MA/Amsterdam/Kopenhagen, 311 – 321 Oberlandesgericht Linz (OLG Linz) 2007/01/26, 10 Bs 30/06 t, 1 – 9 Oberster Gerichtshof (OGH) OGH, 12 Os 121/10a vom 11. 11. 2010, 1 – 10 Offe, Heinz (2014): Zum Stellenwert der Aussagemotivation in aussagepsychologischen Gutachten, in: Deckers Rüdiger/Köhnken Günter (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte, 2. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2014, 87 – 98 Pfister, Wolfgang (2014): Die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung, in: Deckers, Rüdiger/Köhnken, Günter (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte, 2. Aufl., Berliner Wissenschafts-Verlag Berlin, 99 – 117 – (2008): Was ist seit BGHSt 45, 164 geschehen? Ein Überblick über die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen. In: Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1, Bd. 2, Heft 1, Februar 2008 (Schwerpunktthema: Zeugen- und Aussagepsychologie), 3 – 11 Proyer, René T./Ortner, Tuulia M. (2010): Praxis der Psychologischen Gutachtenerstellung. Schritte vom Deckblatt bis zum Anhang, 1. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern 2010 Richtlinie für die Erstellung von klinisch-psychologischen und gesundheitspsychologischen Befunden und Gutachten des Bundesministeriums für Gesundheit auf Grundlage eines Gutachtens des Psychologenbeirates vom 23. 02. 2012 Rzeszut, Johann (2012): Psychologische und naturwissenschaftliche Komponenten gerichtlicher Beweisaufnahme, in Rant, Matthias (Hrsg.): Sachverständige in Österreich. Festschrift 100 Jahre Hauptverband der Gerichtssachverständigen, Hauptverband der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen, Wien 2012, 283 – 295

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Salzgeber, Joseph (2014): Familienpsychologische Begutachtung im Familienrecht aus anderen Anlässen, in: Bliesener, Thomas/Lösel, Friedrich/Köhnken, Günter: Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl., Bern 2014, 310 – 330 Schneider, Frank/Frister, Helmut/Olzen, Dirk (2010): Begutachtung psychischer Störungen, 2. Aufl., Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York (Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit 319 – 330) Schweighofer, Klaus (2014): Die Stellung des Sachverständigen im österreichischen Strafverfahren, in: Giacomuzzi, Salvatore (Hg.): Forensisch-psychologische Begutachtung in der Praxis, Verlag Krammer, 1. Aufl., Wien 2014, 11 – 22 Scaria, Manfred (2012): Aspekte der Qualitätssicherung von Gutachten, in: Rant, Matthias, (Hrsg.): Sachverständige in Österreich. Festschrift 100 Jahre Hauptverband der Gerichtssachverständigen, Hauptverband der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen, Wien 2012, 169 – 178 Skatsche, Rudolf/Rominger, Christian (2013): Neuere Entwicklungen in der Familiendiagnostik bei Sorgerechtsentscheidungen, in: Praxis der Rechtspsychologie 23 (2) Dezember 2013, Themenschwerpunkt Diagnostik in familienrechtlichen Verfahren, 327 – 338 Steller, Max (2015): Nichts als die Wahrheit ? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann, Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 – (2015a): Qualitätssicherung bei Gerichtsgutachten: Ein andauernder Prozess, in: Praxis der Rechtspsychologie 25 (1/2) Dezember 2015, Themenschwerpunkt Allgemeine Rahmenbedingungen für Rechtsgutachten, 49 – 52 – (2013): Vier Jahrzehnte forensische Aussagepsychologie. – Eine nicht nur persönliche Geschichte –, in: Praxis der Rechtspsychologie 23 (1) August 2013, Themenschwerpunkt Aussage- und Zeugenpsychologie, 11 – 32 – (2009): Falsche Geständnisse bei Kapitaldelikten: Praxis – Der Fall Pascal. In: Müller, H. E./ Sander, G,M./Válková, H. (Hrsg.): Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, Verlag C.H. Beck, München, 213 – 217 – (2008): Glaubhaftigkeitsbegutachtung. In: Volbert, Renate/Steller, Max (Hrsg.): Handbuch der Rechtspsychologie, Handbuch der Psychologie Band 9, Hogrefe Verlag, Göttingen/ Bern/Wien/Paris/Oxford/Prag/Toronto/Cambridge MA/Amsterdam/Kopenhagen, 300 – 310 – (2005): Psychologische Diagnostik – Menschenkenntnis oder angewandte Wissenschaft? In: Kröber, Hans-Ludwig/Steller, Max: Psychologische Begutachtung im Strafverfahren. Indikationen, Methoden und Qualitätsstandards, 2. Aufl., Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1 – 19 Steller, Max/Böhm, Claudia (2008): Glaubhaftigkeitsbegutachtung bei Persönlichkeitsstörungen. In: ForensPsychiatrPsycholKriminol 1/2008, 37 – 45 – (2006): Fünfzig Jahre Rechtsprechung des BGH zur Aussagepsychologie: Bilanz und Ausblick. In: Fabian, Thomas/Nowara, Sabine (Hrsg.): Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie. Beiträge zur rechtspsychologischen Praxis, Band 3, LIT Verlag Berlin, 37 – 51 Steller, Max/Volbert, Renate (1997): Glaubwürdigkeitsbegutachtung. In: Steller, M./Volbert, R. (Hrsg.) Psychologie im Strafverfahren. Ein Handbuch, 1. Aufl. Verlag Hans Huber, Bern/ Göttingen/Toronto/Seattle, 12 – 39

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Todor-Kostic, Alexander (2011): Sachverständigenbeweis und Sachverständigenauswahl. Problembereiche im Lichte des § 126 StPO neu, in: Österreichisches Anwaltsblatt 2011, 132 – 136 Undeutsch, Udo (1967): Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen. In: Undeutsch U (Hrsg.): Forensische Psychologie, 11. Band, Handbuch der Psychologie, Verlag für Psychologie Dr. C.J. Hogrefe, Göttingen, 26 – 181 Volbert, Renate (2014): Besonderheiten bei der aussagepsychologischen Begutachtung von Kindern, in: Bliesener, Thomas/Lösel, Friedrich/Köhnken, Günter: Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern 2014, 408 – 421 – (2013): Falsche Geständnisse. Über die möglichen Auswirkungen von Voreinstellung, Vernehmung und Verständigung. In: ForensPsychiatrPsycholKriminol 4/2013, 230 – 239 – (2012): Qualitätssicherung in der Glaubhaftigkeitsbeurteilung. Ein Urteil, methodenkritische Stellungnahmen und andere Versuche. In: ForensPsychiatrPsycholKriminol 4/2012, 250 – 257 – (2011): Aussagen über traumatische Erlebnisse. Spezielle Erinnerung? Spezielle Begutachtung? In: ForensPsychiatrPsycholKriminol 1/2011, 18 – 31 – (2010): Aussagepsychologische Begutachtung. In: Volbert, Renate/Dahle, Klaus-Peter: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren, Hogrefe Verlag, Göttingen, 18 – 66 – (2008): Glaubhaftigkeitsbegutachtung – mehr als Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse. In: ForensPsychiatrPsycholKriminol 2/2008, 12 – 19 – (2004): Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung, 1. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle Volbert, Renate/Lau, Steffen (2008): Aussagetüchtigkeit. In: Volbert, Renate/Steller, Max (Hrsg.): Handbuch der Rechtspsychologie, Handbuch der Psychologie Band 9, Hogrefe Verlag, Göttingen/Bern/Wien/Paris/Oxford/Prag/Toronto/Cambridge MA/Amsterdam/Kopenhagen, 289 – 299 Volbert, Renate/Steller, Max (2014): Glaubhaftigkeit, in: Bliesener, Thomas/Lösel, Friedrich/ Köhnken, Günter, Lehrbuch der Rechtspsychologie, 1. Aufl., Verlag Hans Huber, Bern 2014, 391 – 407 Westhoff, Karl/Kluck, Marie-Luise (2014): Psychologische Gutachten schreiben und beurteilen. Entspricht den deutschen und europäischen Richtlinien zur Erstellung psychologischer Gutachten, 6. Auflage, Springer Medizin Verlag, Berlin/Heidelberg 2014 Wille Florian (2012): Aussage gegen Aussage in sexuellen Missbrauchsverfahren. Defizitäre Angeklagtenrechte in Deutschland und Österreich und deren Korrekturmöglichkeiten, Inaugural-Dissertation, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 2012

Konstellationen transnationaler Strafverfolgung von Konzerngesellschaften Otto Lagodny Eine Strafverfolgung über die Grenzen nationaler Staaten hinweg gehört heute zum Alltag. Das ist noch nicht lange so. Wir haben uns deshalb immerhin daran gewöhnt, dass Strafverfahren gegen Individualpersonen z. B. auf Auslandstaten gestützt werden, von einer Auslieferung des Verdächtigen abhängen, in der Hauptverhandlung ausländische Beweise unabdingbar sind oder ausländische Sanktionsentscheidungen im Inland vollstreckt werden. Die damit verbundenen tatsächlichen und rechtlichen Probleme sind theoretisch und praktisch enorm. Sie potenzieren sich gleichsam, wenn es nicht mehr nur um Einzelpersonen geht, sondern um juristische Personen, wie etwa einen international verflochtenen Konzern geht. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die vielen denkbaren Fragen geben (A.), um dann das Beispiel der transnationalen Vollstreckung einer ausländischen Verfallserklärung bei konzernrechtlicher Ausgangslage zu diskutieren (B.). Die Beispiele werden anhand des deutschen1 Strafrechts diskutiert. Der Beitrag ist aber so formuliert, dass man ohne weiteres die entsprechenden Fragen einer anderen Rechtsordnung identifizieren kann. Ich widme diesen Artikel dem sehr geschätzten Kollegen Keiichi Yamanaka, der sich intensiv mit Fragen des nationalen Wirtschaftsstrafrechts befasst und damit auch Voraussetzungen für die nachfolgenden Überlegungen geschaffen hat.

A. Überblick I. Materielles Strafrecht 1. Ausdehnung der Strafgewalt und bestimmter Deliktsbereiche Das deutsche Recht der Strafgewalt ist – im Gegensatz etwa zur österreichischen Rechtslage – sehr weit ausgedehnt.2 Aktuell sind internationale Tendenzen erkenn1 Der Beitrag beruht maßgeblich auf einem Rechtsgutachten, das ich für eine international tätige Kanzlei in Deutschland erstattet habe. 2 Vgl. dazu jetzt immerhin den Anfragebeschluss des 2. Senats des BGH (vom 18. 3. 2015 – 2 StR 96/14) zur Einschränkung der Strafgewalt bei nicht völkerstrafrechtlich bedingter Ausdehnung aufgrund von Strafverpflichtungsübereinkommen wie dem UN-Suchtstoffübk.

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bar, die Strafgewalt für bestimmte Deliktsbereiche noch weiter auszudehnen, als es nach der bisherigen deutschen Rechtslage der Fall ist. Dies betrifft nicht nur herkömmliche Felder wie die Betäubungsmittelkriminalität, sondern z. B. auch die Bestechung. Hier hat das Vereinigte Königreich mit dem Foreign Corrupt Practices Act ein wenig überzeugendes Beispiel produziert.3 Auf der Ebene der Europäischen Union sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Tendenzen auf dem Kapitalmarkt-Sanktionsrecht zu beobachten, wie etwa bei der Marktmanipulation.4 Eine ganz neue Entwicklung zeichnet sich auf dem Gebiet von schweren Menschenrechtsverletzungen ab, die den Gehalt von Völkerrechtsverbrechen erreichen. Es muss nicht so augenscheinlich sein wie die Lieferung von Waffen an zukünftige Täter von Völkerrechtsverbrechen. Es genügt die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen an Empfänger, die an der Begehung von Völkerrechtsverbrechen oder an sonstigen gravierenden Menschenrechtsverletzungen (große Infrastrukturprojekte unter menschenunwürdigen Baubedingungen) beteiligt sind.5 Denkbar ist beispielsweise die Lieferung von Baumaterial nach Katar für die Herstellung von WM-Sportstätten. Die Chefanklägerin beim IStGH, Fatou Bensouda, hat erklärt6, es sei Ziel der Anklagebehörde beim IStGH, gerade die Verbindungen von Wirtschaft und Völkerstrafrechtsverbrechen aufzudecken. Dies sind Konsequenzen, an die man im Jahre 1998 bei der Verabschiedung des Rom-Statuts sicher nicht in erster Linie gedacht hat, die aber immer realer und dringender werden. 2. Sanktionierbarkeit von juristischen Personen als Sonderproblem Speziell im Hinblick auf juristische Personen stellt es in Deutschland ein Dauerthema dar, ob juristische Personen bestraft werden können und sollen. Dabei existiert in Deutschland mit dem Ordnungswidrigkeitenmodell der §§ 30, 130 OWiG bereits eine Lösung, die funktional der vermeintlich „kriminalstrafrechtlichen Lösung“ Österreichs entspricht. Diese hat nur wegen des in Österreich verfassungsrechtlich verankerten Trennungsgrundsatzes den Anschein, eine kriminalstrafrechtliche Lösung zu sein. Bei Lichte betrachtet handelt es sich ebenso um eine ordnungswidrigkeitenrechtliche Lösung wie in Deutschland. Der österreichische Trennungsgrundsatz verbietet nämlich, dass eine von einer Verwaltungsbehörde ausgesprochene Sanktion von einem ordentlichen Gericht überprüft wird. Um die Sanktionierung juristischer Personen deshalb von den ordentlichen Gerichten vornehmen lassen zu 3

FCPA (UK) dazu Kappel/Lagodny, Der UK Bribery Act – Ein Strafgesetz erobert die Welt?, StV 2012, 695. 4 Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie). 5 Kirsch, Völkerstrafrechtliche Risiken unternehmerischer Tätigkeit, NZWiSt 2014, 212, 216 – 218; vgl. auch Saage-Maaß, Ahndung wirtschaftsverstärkter Kriminalität – Geschäftsherrenhaftung als Ansatz zur Strafverfolgung leitender Manager für Menschenrechtsverletzungen im Konzern?, NK 2014, 228. 6 Kirsch, NZWiSt 2014, 212, 218 mit Fn. 30.

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können, bedurfte es eines speziellen Gesetzes, das diese Sache der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuordnete.7 Auf der Ebene des materiellen Rechts8 ist also eine deutliche Ausweitung der Strafbarkeit zu beobachten, die Konzerngesellschaften als juristische Personen in immer größerem Maße betreffen.

II. Strafverfahren Wendet man sich dem Strafverfahren zu, so müssen Fragen des rein nationalen Strafverfahrens (unten 1) von solchen eines transnationalen und damit „international-arbeitsteiligen“ Strafverfahrens (unten 2) unterschieden werden. In beiden sind die spezifischen Probleme von Konzerngesellschaften verschieden. 1. National (rein deutsches Strafverfahren) Aus der Sicht eines Konzerns stehen die Beschuldigten- und Angeklagtenrechte im Vordergrund. Dies vor allem deshalb, weil sich besonders innerhalb von Konzernen oder großen Einzelunternehmen zwei höchstsensible Bereiche entwickelt haben: In präventiver Hinsicht die Vorsorge gegen unternehmensinterne Straftaten. Man erfasst dies unter der Sammelbezeichnung „compliance“.9 In repressiver Hinsicht hervorzuheben sind die „internal investigations“ als Gegenstück zur „compliance“. Mit diesen unternehmensinternen repressiven Ermittlungen will man letztlich sanktionsrechtliche Folgerungen für das Unternehmen abwenden, indem das Unternehmen mit den Ermittlungsbehörden kooperiert. Die höchst interessante Frage einer solchen Auslagerung staatlicher Ermittlungen in einer Form, die man polizeirechtlich als „Zweckveranlasser“ bezeichnen würde, besteht darin, ob Erkenntnisse daraus im staatlichen Strafverfahren verwertbar sind. Es wird spannend zu beobachten sein, ob man die darin liegende faktische Umgehung von Beschuldigtenrechten kompensieren kann bzw. soll. Diese Probleme stellen sich natürlich erst recht auf transnationaler Ebene. Das ändert aber nichts an den zugrundeliegenden Fragen. Deshalb seien diese Probleme hier nur erwähnt. Dies gilt auch für das Verhältnis der Individualstrafbarkeit zur Sanktionierung juristischer Personen unter dem Aspekt „ne bis in idem“: Das österreichische Recht zeigt in § 3 Abs. 4 des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes, dass sich beide Wege nicht gegenseitig ausschließen. Die Vorschrift lautet: 7 Vgl. näher Lagodny, Übernahmefähigkeit und Übernahmewürdigkeit ausländischer strafrechtlicher Regelungen, FS-Eser 2015, S. 405 – 406. 8 Vgl. näher dazu generell z. B.: Engelhart, Verbandsverantwortlichkeit – Dogmatik und Rechtsvergleichung, NZWiSt 2015, 210 – 210. 9 Vgl. dazu nur Passarge/Behringer (Hrsg.), Handbuch Compliance international – Recht und Praxis der Korruptionsprävention, 2014.

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„Die Verantwortlichkeit eines Verbandes für eine Tat und die Strafbarkeit von Entscheidungsträgern oder Mitarbeitern wegen derselben Tat schließen einander nicht aus.“

2. Transnational („international-arbeitsteiliges“) Strafverfahren a) Grundsätzliche Überlegungen Hat man es mit einem Konzern zu tun, der in mehreren Staaten ansässig ist, dann sind Strafverfolgungen per se transnational. Von daher besteht auch in vielerlei Hinsicht die Notwendigkeit, dass die beteiligten Staaten bei der Strafverfolgung miteinander kooperieren. Rechtshilfe ist insoweit ein alltägliches Musterbeispiel. Zur Analyse der damit verbundenen Probleme hat es sich als sehr fruchtbar erwiesen, vom Konzept eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“10 auszugehen. Der Begriff geht auf das deutsche Bundesverfassungsgericht11 zurück. Das Konzept verdeutlicht, dass man es analytisch mit nur „einem“ und zwar einem „internationalen“ Strafverfahren zu tun hat, das von den beteiligten Staaten „arbeitsteilig“ durchgeführt wird. Dieser Ansatz ermöglicht es zum Beispiel, etwaige Rechtshilfehindernisse aus Grundrechten dogmatisch konsistent zu untersuchen. Schon durch diese Fragestellung wird deutlich, dass es bei Konzerngesellschaften nicht um Fragen drohender Folter oder Todesstrafen gehen wird, wie bei Auslieferungen von Individuen. Zentraler Fokus werden vielmehr Eigentumsrechte sein. Dies verdeutlicht bereits ein Blick auf Art. 19 Abs. 3 GG. Danach gelten Grundrechte auch für juristische Personen, soweit sie „ihrem Wesen nach“ auf sie anwendbar sind. b) Materielle Gegenrechte am Beispiel des Eigentumsgrundrechts Letzteres ist sicherlich beim Eigentumsgrundrecht der Fall. Dessen Bedeutung sei am Beispiel des EU-Rahmenbeschlusses zur Sicherstellung12 dargestellt. Der RB-Sicherstellung betrifft die Situation, dass Sachen bereits im Ermittlungsverfahren entweder als Beweismittel oder (praktisch noch wichtiger) als zu konfiszierende Gegenstände in Betracht kommen. Dies erfordert staatliche Sicherungsmöglichkeiten, wie sie im deutschen Recht etwa in §§ 111b ff. StPO zur Verfügung stehen. Der Rahmenbeschluss regelt die Vollstreckung solcher Sicherstellungsentscheidungen im Inland, wenn sie von einem ausländischen Gericht angeordnet worden sind. Vor dem Hintergrund des Eigentumsgrundrechts sind deshalb Konstellationen denkbar, in denen in das Eigentum Dritter eingegriffen wird oder eine insgesamt unverhältnismäßige Be10 Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Strafverfahren, NJW 2012, 348 und schon früher. 11 BVerfG, Beschl. v. 6. 7. 1982 – 2 BvR 856/81 = BVEerfGE 61, 28, 34. 12 Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (nachfolgend: „RB-Sicherstellung“).

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lastung des Eigentums erfolgt. Keiner dieser beiden Aspekte wird im RB-Sicherstellung erfasst. Art. 7 Abs. 1 RB-Sicherstellung regelt nur folgende Versagungsgründe ausdrücklich: Buchstabe a: Fehlende Unterlagen nach Art. 9 RB-Sicherstellung; Buchstabe b: Befreiungen oder Vorrechte; Buchstabe c: Ne bis in idem; Buchstabe d: Fehlende beiderseitige Strafbarkeit trotz deren eingeschränkter Kontrolle.

Das Eigentumsgrundrecht spielt bei diesen Gründen allenfalls peripher eine Rolle. Deshalb soll nachfolgend ein Fall betrachtet werden, bei dem es entscheidend auf das Eigentum ankommt.

B. Beispiel: Transnationale Vollstreckung einer ausländischen Verfallserklärung I. Die konzernrechtliche Konstellation Gehen wir von folgender Konstellation aus (siehe Abbildung):

Die Individualpersonen P1 bis P4 halten zusammen 100 Prozent der P-AG (AStaat). Die P-AG hält 7 100 Prozent der Z 1-AG sowie der Z 2-AG (beide A-Staat),

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7 100 Prozent der Y-GmbH und 100 Prozent der X-GmbH (beide B-Staat) Die X-GmbH hält 25 Prozent, die Y-GmbH 75 Prozent der deutschen M-GmbH, die jeweils 100 Prozent der deutschen N-GmbH und der deutschen O-GmbH halten.

II. Rechtshilferechtlich befürchteter Vorgang Im Fall soll es um eine Beschlagnahmeentscheidung des Staates A zur Sicherstellung von Vermögensgütern gehen, die von deutschen Strafverfolgungsbehörden vollstreckt werden könnte. Zu denken ist etwa an die in Deutschland zu befürchtende Pfändung von Gesellschaftsanteilen oder den zeitweiligen Ausschluss aus gesellschaftsrechtlichen Befugnissen. Ein Strafgericht des Staates A stellt Vermögensgüter im Wert von umgerechnet 41,57 Mio. Euro der im Staat A befindlichen P-AG und der ebenfalls dort befindlichen Z 1-AG und der Z 2-AG durch vorläufige Beschlagnahme (ähnlich wie § 111 b und c StPO) im Wege des Wertersatzes sicher. Hintergrund ist ein gegen P1 bis P4 als Individualpersonen gerichtetes Strafverfahren wegen Wirtschaftsdelikten unter maßgeblicher Mitwirkung der P-AG im Jahre 2009. Die Vermögensgüter sollen ggf. eingezogen oder für verfallen erklärt werden. Weder die Individualpersonen P1 bis P4 noch die Z 1-AG, die Z 2-AG, die YGmbH oder die X-GmbH sind unmittelbar an den drei deutschen GmbHs beteiligt. Zudem waren weder die früheren noch die aktuellen Geschäftsführer der deutschen GmbHs in irgendeiner Weise an den Straftaten beteiligt. Die deutschen GmbHs des Konzerns (die M-, die N- und die O-GmbH) befürchten nunmehr einen rechtshilferechtlichen Zugriff der Justizbehörden des Staates A auf ihr jeweiliges Vermögen. Grund dafür ist, dass sich der Beschluss des Gerichts aus Staat A auch auf Beteiligungen von P1 bis P4 an anderen Unternehmen richten kann. Besonders brisant wäre ein Vorgehen des Staates A auf der Grundlage der RB-Sicherstellung von 2003. Dieser ist in Deutschland durch die §§ 94 ff. IRG umgesetzt worden. Auf dieser Rechtsgrundlage kann die Entscheidung des Staates A in Deutschland recht schnell und zügig vollstreckt werden. Rechtsmittel sind eigentlich nur im Staat A zulässig, nicht aber im ersuchten Staat, in Deutschland, zulässig. Dies ergibt sich aus dem Regelungsgefüge der Art. 10 und 11 RB-Sicherstellung. Wichtig ist Art. 11 Abs. 2 RB-Sicherstellung. Danach gilt: (2) Die Sachgründe für den Erlass der Sicherstellungsentscheidung können nur durch eine Klage vor einem Gericht des Entscheidungsstaats angefochten werden.

Wenn diese Norm hier einschlägig ist, dann sieht es sehr schlecht aus für die deutschen GmbHs. Dann müssen sie nämlich in Staat A gegen die dortige Beschlagnahme-Entscheidung vorgehen.

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III. Entgegenstehende „Rechte Dritter“ Ein Ausweg besteht nur dann, wenn es um bestehende „Rechte Dritter“ geht. 1. Art. 11 Abs. 1 RB-Sicherstellung in seiner deutschen Umsetzung Nach § 91 IRG finden die übrigen Bestimmungen des IRG Anwendung, soweit der Zehnte Teil (§§ 91 – 97 IRG) keine besonderen Bestimmungen enthält. Nach §§ 94 ff. IRG ergeben sich keine ausdrücklichen einfachrechtlichen Rechtshilfehindernisse. Aber in § 66 Abs. 2 Nr. 3 IRG wird gefordert, dass „Rechte Dritter unberührt“ bleiben müssen. „Rechte Dritter“ werden im Rahmenbeschluss selbst nur in der Regelung zum „Rechtsbehelf“ nach Art. 11 RB-Sicherstellung erwähnt. Wichtig ist aber Abs. 1 Satz 1, wonach „alle betroffenen Parteien, einschließlich gutgläubiger Dritter“ auch „vor einem Gericht des Vollstreckungsstaates nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des jeweiligen Staates einen Rechtsbehelf ohne aufschiebende Wirkung einlegen können“. Zur Information hier der volle Wortlaut: Art. 11 Rechtsbehelf (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit alle betroffenen Parteien, einschließlich gutgläubiger Dritter, gegen eine Sicherstellung, die nach Artikel 5 erfolgt, vor einem Gericht des Entscheidungsstaats oder des Vollstreckungsstaats nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des jeweiligen Staates einen Rechtsbehelf ohne aufschiebende Wirkung einlegen können, um ihre berechtigten Interessen zu wahren. (2) Die Sachgründe für den Erlass der Sicherstellungsentscheidung können nur durch eine Klage vor einem Gericht des Entscheidungsstaats angefochten werden. (3) Wird die Klage in dem Vollstreckungsstaat erhoben, so wird die Justizbehörde des Entscheidungsstaats von dieser Klage und ihrer Begründung unterrichtet, damit sie die von ihr für wesentlich erachteten Argumente vorbringen kann. Sie wird vom Ausgang des Gerichtsverfahrens unterrichtet. (4) Der Entscheidungs- und der Vollstreckungsstaat ergreifen die Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Ausübung des Klagerechts gemäß Absatz 1 zu erleichtern; sie sorgen insbesondere dafür, dass die betroffenen Parteien angemessen informiert werden. (5) Der Entscheidungsstaat stellt sicher, dass für die Erhebung der in Absatz 1 genannten Klage Fristen gelten, die den betroffenen Parteien die Möglichkeit zur wirksamen Ausübung ihres Beschwerderechts gewährleisten.

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2. Bedeutung dieser Regelung im transnationalen Kontext Zu klären ist deshalb, was diese Klausel in Art. 11 Abs. 1 RB-Sicherstellung bedeutet. Mit ihr wird offensichtlich auf das in vielen internationalen Instrumenten zur strafrechtlichen Vermögensabschöpfung aufgetretene Problem Bezug genommen, dass das Eigentum Dritter durch die Rechtshilfemaßnahme betroffen sein kann.13 Typischerweise geht es dabei etwa um gutgläubigen Erwerb des Eigentums durch einen Dritten an einem in Frage stehenden Gegenstand. Im vorliegenden Fall geht es freilich nicht um einen körperlichen Gegenstand, sondern um die gesellschaftsrechtliche Zuordnung von Anteilen an einer GmbH einerseits und von Vermögen einer GmbH andererseits, wenn diese GmbHs durch einen Konzern verbunden sind. Funktional ist dies jedoch dasselbe Rechtsproblem: die „Rechte Dritter“. Hinzuweisen ist insbesondere auf [nachfolgende Hervorhebungen vom Verfasser] 7 Art. 8 des EU-RhÜbk: Art. 8 Rückgabe (1) Der ersuchte Mitgliedstaat kann durch eine Straftat erlangte Gegenstände auf Antrag des ersuchenden Mitgliedstaates und unbeschadet der Rechte gutgläubiger Dritter dem ersuchenden Mitgliedstaat im Hinblick auf deren Rückgabe an ihren rechtmäßigen Eigentümer zur Verfügung stellen. […] eben.

7 Art. 5 Abs. 8 UN-SuchtstoffÜbk Deutsche Übersetzung: Art. 5 Einziehung (1) Jede Vertragspartei trifft die gegebenenfalls notwendigen Maßnahmen, um die Einziehung […] zu ermöglichen. (2) Jede Vertragspartei trifft auch die gegebenenfalls notwendigen Maßnahmen, um es ihren zuständigen Behörden zu ermöglichen, die in Absatz 1 genannten Erträge, Vermögensgegenstände, Tatwerkzeuge oder anderen Sachen zu ermitteln, einzufrieren oder zu beschlagnahmen, damit sie gegebenenfalls eingezogen werden können. […] (8) Dieser Artikel darf nicht so ausgelegt werden, als stehe er den Rechten gutgläubiger Dritter entgegen. (9) Dieser Artikel läßt den Grundsatz unberührt, daß die darin bezeichneten Maßnahmen in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht einer Vertragspartei und vorbehaltlich dieses Rechts festgelegt und durchgeführt werden. 13 Vgl. zu diesen Vorschriften jeweils die Erläuterungen IRhSt-Gleß/Schomburg, 5. Aufl. 2012, RN 1 ff. zu Art. 8 EU-RhÜbk; IRhSt-Lagodny, Art. 22 EuGeldwäscheÜbk RN 2 – 7 (S. 998); IRhSt-Schomburg/Hackner, § 49 RN 24a und b; IRhSt-Lagodny, § 66 IRG RN 25 ff.; G/P/K-Johnson, 3. Aufl. 2014, § 66 IRG RN 42 vor allem mit Fn. 13.

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7 Art. 22 EuGeldwäscheübereinkommen Deutsche Übersetzung: Art. 22 Anerkennung ausländischer Entscheidungen (1) Die mit einem Ersuchen um Zusammenarbeit nach den Abschnitten 3 und 4 befaßte ersuchte Vertragspartei erkennt jede von der ersuchenden Vertragspartei erlassene gerichtliche Entscheidung im Hinblick auf die von Dritten beanspruchten Rechte an. (2) Die Anerkennung kann abgelehnt werden, wenn a) die Dritten keine ausreichende Möglichkeit hatten, ihre Rechte geltend zu machen; b) die Entscheidung mit einer von der ersuchten Vertragspartei in der gleichen Sache bereits erlassenen Entscheidung unvereinbar ist; c) sie mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) der ersuchten Vertragspartei unvereinbar ist oder d) die Entscheidung entgegen den im Recht der ersuchten Vertragspartei vorgesehenen Bestimmungen über die ausschließliche Zuständigkeit ergangen ist.

7 Für den vertraglosen Rechtshilfebereich ist hinzuweisen auf § 49 Abs. 4 IRG § 49 IRG lautet insgesamt: (1) Die Vollstreckung ist nur zulässig, wenn […] […] (4) Soweit in der ausländischen Anordnung des Verfalls oder der Einziehung eine Entscheidung hinsichtlich der Rechte Dritter getroffen wurde, so ist diese bindend, es sei denn, a) dem Dritten wurde keine ausreichende Gelegenheit gegeben, seine Rechte geltend zu machen, oder b) die Entscheidung ist unvereinbar mit einer im Geltungsbereich dieses Gesetzes getroffenen zivilrechtlichen Entscheidung in derselben Sache, oder c) die Entscheidung bezieht sich auf Rechte Dritter an einem im Bundesgebiet belegenen Grundstück oder Grundstücksrecht; zu den Rechten Dritter gehören auch Vormerkungen. […]

7 sowie auf den bereits erwähnten § 66 Abs. 2 Nr. 3 IRG § 66 IRG lautet auszugsweise: (1) Auf Ersuchen einer zuständigen Stelle eines ausländischen Staates können Gegenstände herausgegeben werden, 1. […] 2. die der Betroffene oder ein Beteiligter für die dem Ersuchen zu Grunde liegende Tat oder aus ihr erlangt hat, 3. die der Betroffene oder ein Beteiligter durch die Veräußerung eines erlangten Gegenstandes oder als Ersatz für dessen Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung oder aufgrund eines erlangten Rechtes erhalten oder als Nutzungen gezogen hat oder 4. die durch die dem Ersuchen zu Grunde liegende Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind.

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(2) Die Herausgabe ist nur zulässig, wenn […] 3. gewährleistet ist, daß Rechte Dritter unberührt bleiben und unter Vorbehalt herausgegebene Gegenstände auf Verlangen unverzüglich zurückgegeben werden. […]

„Dritter“ im Sinne dieser Regelungen ist jeder, der nicht „Täter“ (auch im Sinne der jeweiligen Regelung) ist.14 Für einen solchen Fall geht offensichtlich auch der RB-Sicherstellung davon aus, dass eine Herausgabe vom ersuchten an den ersuchenden Staat15 entweder unter dem Vorbehalt der Rückgabe oder – wenn eine Rückgabe nicht möglich ist – überhaupt nicht stattfindet. Dieser Gedankengang (bedingte Herausgabe = nur bei möglicher Rückgabe) wird zutreffend als „freies Geleit“ für den Gegenstand bezeichnet.16 Hinter der Formulierung des Art. 11 Abs. 1 RB-Sicherstellung verbirgt sich mithin ein materieller Ablehnungsgrund, wenn an dem betroffenen Recht oder dem betroffenen Gegenstand „Rechte Dritter“ bestehen. 3. Konsequenzen für den vorliegenden Fall Das ist genau das Problem auch des vorliegenden Falles, nur geht es um eine konzernrechtliche Einkleidung. Für die „Rechte Dritter“ ist nicht das Recht der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen oder das jeweilige nationale Strafrecht (z. B. das deutsche oder das italienische StGB) entscheidend, sondern das Zivil-, Handels-, Gesellschafts- oder Konzernrecht, das nach Maßgabe des jeweils einschlägigen Kollisionsrechts auf den konkreten Sachverhalt anwendbar ist. Das Besondere ist, dass für die Frage des Eigentums das einfache Recht maßgeblich ist, nicht erst ein – wie auch immer konstruierter – ordre public-Gedanke. Dies betont letztlich auch der BGH17, wenn er für Vermögensabschöpfung auf Zivilrechtslage abstellt und nicht auf einen wirtschaftlichen Vermögensbegriff, der z. B. bei der Einmanngesellschaft den Durchgriff auf die natürliche Person zuließe.18 Wenn die Gesellschafter dieser „Großmuttergesellschaft“ (P-AG) allerdings identisch mit den vier Beschuldigten P1 bis P4 sind, dann würde ein wirtschaftlicher straf-

14

So etwa der Erläuternde Bericht (offizielle Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte) zu Art. 22 Ziffer 81 = IRhSt-Lagodny, Art. 22 EuGeldwäscheÜbk RN 3. 15 In der Terminologie des RB-Sicherstellung: vom „Vollstreckungs-“ an den „Entscheidungsstaat“. 16 G/P/K-Johnson, § 66 IRG RN 43. 17 BGH NStZ 1997, 30. 18 Vgl. explizit: Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 75 RN 1.

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rechtlicher Vermögensbegriff zum Durchgriff auf die beiden Muttergesellschaften (X-GmbH und Y-GmbH) führen. Allerdings muss das Eigentum des Dritten feststehen, sonst besteht ohnehin ein Rechtshilfehindernis. Dies gilt jedenfalls für den Anwendungsbereich des § 66 IRG und damit nach § 91 IRG auch für Ersuchen auf der Grundlage des RB-Sicherstellung, denn: „Das rechtshilferechtliche Herausgabeverfahren ist nicht dazu geeignet, die zivilrechtliche Eigentumslage abschließend und verbindlich zu klären, zumal bei den in Frage stehenden Sachverhalten schwierige Fragen des internationalen Privatrechts sowie vielleicht des gutgläubigen Erwerbs und der Ersitzung nach unterschiedlichen Rechtsordnungen zu beantworten sein könnten. […] Eine Rechtshilfe durch Herausgabe nach § 66 IRG scheidet in diesen Fällen aus.“19 Hieraus könnte man sogar schlussfolgern: Sobald „Rechte Dritter“ bei einem Rechtshilfefall auch nur geltend gemacht werden und dies nicht a limine abzuweisen ist, entsteht entweder ein Rechtshilfehindernis wegen Rechtsunklarheit oder wegen „Rechte Dritter“, also in der Regel z. B. Eigentum. Ob man so weit gehen kann, möchte ich offen lassen. Im hier vorliegenden Fall sind die maßgeblichen Eigentumsfragen nämlich in sicherer Weise geklärt: Die drei deutschen GmbHs sind „Dritte“ im Sinne der eingangs erwähnten Normen. 4. Kontrollüberlegungen zu diesen Konsequenzen Dieses Prinzip gilt – und das ist hier als „Kontrollüberlegung“ zu erwägen – nicht nur für das Recht der Rechtshilfe in Strafsachen, sondern auch für das jeweils nationale strafrechtliche Abschöpfungsrecht. Handelte es sich vorliegend um einen rein inländischen deutschen Fall oder ginge man davon aus, dass Rechtsprechung bzw. Schrifttum zu §§ 73 ff. StGB auch auf das nach § 66 Abs. 1 Nr. 2 – 4 IRG anwendbare Rechtshilferecht anwendbar ist20 und dass – weitergehend – diese IRG-Vorschrift auch für die Auslegung von Art. 11 RB-Sicherstellung maßgeblich ist, so wäre ein abschöpfungsrechtlicher „Durchgriff“ von den Beschuldigten auf deren „mittelbare“ Beteiligungen an den beiden Muttergesellschaften im rein wirtschaftlichen Sinne weder nach § 73 Abs. 4 StGB (Gewähren des Gegenstandes für die Tat oder in Kenntnis der Tatumstände beim Verfall), § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB (verhinderter gutgläubiger Erwerb beim Verfall), noch nach § 74a Nr. 1 und 2 StGB (leichtfertiger Beitrag bei der Einziehung) möglich. Es käme nicht darauf an, ob es sich beim inländischen Fall um eine Einziehungs- oder ein Verfallerklärung handelte, weil man gerade nicht davon ausgehen kann, dass das italienische Strafrecht genau dieselben dogmatischen und begrifflichen Unterscheidungen enthält wie das deutsche Recht.21 19

G/P/K-Johnson, § 66 IRG RN 41. G/P/K-Johnson, § 66 IRG RN 18 unter wohl vertretbarer Berufung auf die Materialien der Neuregelung (BT-DRs. 16/6563, S. 14). 21 G/P/K-Johnson, § 66 IRG RN 19 f. 20

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Dasselbe würde für die Vorschriften des § 75 StGB (Sondervorschrift für Organe und Vertreter bei der Einziehung) bzw. § 73 Abs. 4 StGB (Vertreterklausel beim Verfall) gelten. Zwar waren die Beschuldigten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Funktionen als Organe bzw. Vertreter der beiden Muttergesellschaften tätig. § 75 StGB oder § 73 Abs. 4 StGB greifen aber schon deshalb nicht, weil sie im hier anstehenden Zusammenhang nur dazu dienen sollen, die Vermögensabschöpfung auch bei juristischen Personen überhaupt erst zu ermöglichen.22 Dazu wird der „Durchgriff“ auf die natürlichen Personen eröffnet, die als Organe oder Vertreter dieser juristischen Personen tätig werden. Es geht in dieser Vorschrift aber nicht darum, gleichsam einen abschöpfungsrechtlich erweiternden „Ausgriff“ auf alle anderen juristischen Personen zu ermöglichen, an denen der Beschuldigte/der „Täter“ zwar ansonsten in irgendeiner Form eine Organ- oder Vertreterstellung innehat, die aber – wie hier vorliegend – nichts mit der Tat zu tun haben. Anders ausgedrückt: Das „Recht“ eines Dritten steht gerade dann der Rechtshilfe in Strafsachen entgegen, wenn es eindeutig ist, welches Recht anwendbar ist und wenn dieses Recht zur Bejahung des Eigentums oder sonstigen Rechts eines Dritten kommt, der nicht der Täter ist. Hieraus kann man schließen: wenn es eindeutig ist, welches Recht anwendbar ist und wenn dieses Recht zur Bejahung des Eigentums eines „Dritten“, der nicht der „Täter“ ist, führt, dann greift das Rechtshilfehindernis. Wäre es anders, müsste man das einfache Recht spätestens über eine verfassungskonforme Auslegung und den Gedanken der unbilligen Härte wegen der „Rechte Dritter“ (hier: der beiden Muttergesellschaften) ergänzen. Auch dies wäre eine Konsequenz des Rückgriffs auf das einfache deutsche Abschöpfungsrecht, wie sie offensichtlich dem Gesetzgeber der Neufassung von § 66 IRG vorgeschwebt war: Eine juristische Person des Privatrechts kann Träger des Grundrechts nach Art. 14 GG sein.23 Allerdings ist dies nach dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG auf „inländische“ juristische Personen beschränkt.24 „Ausländisch“ ist eine Vereinigung dann, wenn sie ihren Sitz und damit den tatsächlichen Mittelpunkt der Tätigkeit nicht im Bundesgebiet hat.25 Die drei GmbHs sind deutsche juristische Personen, aber nicht ihre beiden Träger-Firmen, die X-GmbH und die Y-GmbH. Allerdings wären diese kraft EU-Rechts wie eine inländische zu behandeln.26 In der Grundsatz-Entscheidung zum erweiterten Verfall27 unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen „deliktisch erlangten Vermögenswerten“ und „legal 22 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 73 RN 34 – 38a; 75 RN 1. Joecks, in: MüKo, StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 74 RN 30, § 75 RN 8. 23 Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 14 RN 27 m. w. N. 24 Vgl. näher: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 14 RN 27, Art. 19 RN 21 m. w. N. 25 Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 19 RN 22 m. w. N. 26 Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 19 RN 23 m. w. N. 27 Beschluss des 2. Senats vom 14. Januar 2004 – 2 BvR 564/95 = BVerfGE 110, 1 (RN 105).

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erworbene[n] Vermögenspositionen“ bei der Prüfung von unbilligen Härten im Sinne des Art. 14 GG: „c) Die Entziehung deliktisch erlangter Vermögenswerte im Wege des erweiterten Verfalls ist einem Tatbeteiligten grundsätzlich zumutbar. Unbillige Härten, die sich im Einzelfall aus der Wertersatzpflicht des § 73d Abs. 2 in Verbindung mit § 73a StGB und aus dem Bruttoprinzip ergeben können, sind von den Fachgerichten durch eine Anwendung der in § 73d Abs. 4, § 73c Abs. 1 StGB vorgesehenen Regelung auszuschließen. Eine Beeinträchtigung legal erworbener Vermögenspositionen des Betroffenen ist nach der vom Bundesgerichtshof im Ausgangsverfahren vorgenommenen Auslegung des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB nicht zu besorgen; diese stellt sicher, dass der Richter sich von der deliktischen Herkunft des Objekts des Verfalls überzeugt.“

Hieraus ergibt sich, dass eine Beeinträchtigung von einfachrechtlichen Rechtspositionen Dritter durch strafrechtliche Abschöpfungsmaßnahmen nicht mit Art. 14 GG zu vereinbaren wäre, soweit sie legal erworben sind. Um dies zu verhindern, bedarf es bestimmter Härtefall-Vorschriften. Diese sind verfassungsrechtlich zwingend, weil man sonst zur Verfassungswidrigkeit gelangt.28 Gäbe es also die hier erörterte Lösung über Art. 11 RB-Sicherstellung nicht, dann wäre dies im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen Art. 14 GG. Weil es auf diese hilfsweise Überlegung nicht ankommt, erübrigt es sich auch, auf Art. 1 des 1. ZP-EMRK einzugehen sowie auf die Folgefrage, ob und inwieweit Art. 1 S. 2 RB-Sicherstellung auf EU-Ebene einen Grundrechtsvorbehalt enthält.29 Diese Norm lautet: „Dieser Rahmenbeschluss hat nicht die Wirkung einer Änderung der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrages.“

IV. Fazit für den Fall Für den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus: 7 Die deutschen GmbHs sind eigenständige juristische Personen des Privatrechts. Das Vermögen jeder Gesellschaft ist rechtlich strikt von den Anteilen an ihr zu trennen. Gleiches gilt auch für die drei deutschen GmbHs, die ebenfalls eigenständige juristische Personen des (deutschen) Privatrechts sind. 7 Deshalb kann man insgesamt schlussfolgern, dass die drei deutschen Gesellschaften sowie ihre Muttergesellschaften auch „Dritte“ im Sinne des deutschen strafrechtlichen Abschöpfungsrechts sind. Das bedeutet, dass sich die zwei Firmen,

28

Das ist letztlich nichts anderes als die Umsetzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips; dazu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, Tübingen 1996, § 15 A III-VI. 29 Bejahend z. B.: G/P/K-Böse, III A 3.9, RN 4; IRhSt-Hackner, RN 7 vor § 91 IRG. Verneinend: EuGH, C 396/11 [Große Kammer] – Urteil vom 29. Januar 2013 – Fall Radu.

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welche die Anteile an der M-GmbH GmbH halten, also die X-GmbH und die YGmbH als „Dritte“ gegen die Beschlagnahme ihrer Anteile wehren könnten. 7 Eine Sicherstellung der Beteiligungen an den deutschen GmbHs bzw. deren Vermögen darf nicht erfolgen, weil diese nicht im Eigentum der in einem solchen Rechtshilfeersuchen genannten natürlichen Personen stehen, sondern im Eigentum X-GmbH bzw. der Y-GmbH. 7 Es handelt sich bei den Geschäftsanteilen an der M-GmbH um Vermögen der XGmbH und der Y-GmbH. 7 Entsprechendes gilt hinsichtlich der Inhaberschaft an dem Vermögen der jeweiligen deutschen Gesellschaft. 7 Die Erledigung eines solchen Ersuchens wäre nach Art. 11 Abs. 1 RB-Sicherstellung i. V. m. §§ 91 und 66 Abs. 2 Nr. 3 IRG unzulässig.

C. Ausblick Betrachtet man den rigiden Standpunkt der EU-Instrumente und des EuGH,30 so überrascht das Ergebnis im vorliegenden Fall eigentlich. Er weist die Besonderheit auf, dass sogar das einfache Privatrecht zu einem „Gegenrecht“31 des betroffenen Individuums bzw der betroffenen juristischen Personen führt, nicht erst ein Grund- oder ein Menschenrecht (Art. 14 GG oder Art. 1 1. ZP-EMRK). Der Begriff des „Gegenrechts“ soll in einem primär zweidimensionalen Regelungszusammenhang, der primär dem Ausgleich der Interessender zwei beteiligten Staaten dient, deutlich machen, dass es auch berechtigte Individualinteressen gibt. Diese werden zu leicht vergessen. Darüber hinaus erscheint die Fülle der Fragen geradezu uferlos im Bereich der transnationalen Strafverfolgung von Konzerngesellschaften. Ich befürchte der angesprochene Fall war noch relativ einfach.

30 Ausschluss einer Verhältnismäßigkeitsprüfung (EuGH 29. 1. 2013, C-396/11, Radu RN 32 – 43). 31 Zum Begriff eines „Gegenrechts“ im Bereich der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen vgl. Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, z. B. S. 3.

Criminal Compliance, Internal Investigations und die strafprozessualen Beschuldigtenrechte Imme Roxin

I. Einleitung Die Compliance-Welle rollt – ausgehend von den USA – weltweit. Mit Sicherheit wird auch in Japan über Compliance-Systeme und ihre Einrichtung in Unternehmen diskutiert. Es ist anzunehmen, dass die dabei auftretenden Probleme mit denen in Deutschland vergleichbar sind. Da zudem der Jubilar, mit dem mein Mann und ich seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden sind, sich im deutschen Straf- und Strafprozessrecht hervorragend auskennt, hoffe ich, dass mein Beitrag sein Interesse zu finden vermag. Meine Gratulation zum 70. Geburtstag verbinde ich mit den besten Wünschen für fortdauernde Gesundheit und unverminderte Schaffenskraft.

II. Die Problemstellung Der Entschluss der Unternehmensleitung, die Abläufe im Unternehmen so zu organisieren, dass Straftaten möglichst weitgehend vermieden werden, hat in erster Linie präventive Gründe. Wegen der mit der Einrichtung eines Compliance-Systems verbundenen hohen Kosten dürfte eine allein präventive Zielsetzung allerdings eher selten sein.1 Wahrscheinlicher ist, dass entweder von externen Personen oder intern aus dem Unternehmen heraus der Verdacht auf systematisch begangenes strafbares Verhalten (z. B. Korruption) von Mitarbeitern aufkommt, sodass eine – zumindest auch – repressive Zielsetzung vorliegt. Sowohl bei allein präventiver Zielsetzung wie im Fall eines bereits vorhandenen Verdachts ist es notwendig, die Schwachstellen in der bisherigen Unternehmensorganisation aufzuspüren, die ein strafbares Verhalten von Mitarbeitern erst möglich machen, um sie anschließend beseitigen zu können. Diese Aufarbeitung der Unternehmensorganisation wird in aller Regel von einer externen Rechtsanwalts- oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaft besorgt. Neben anderen Recherchemöglichkeiten werden regelmäßig Befragungen von Unternehmensmitarbeitern durchgeführt, die

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Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.), Compliance-Handbuch 2015, § 33 RN 24.

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– beschönigend – Interviews genannt werden. Bei diesen Befragungen ergeben sich bislang ungelöste Probleme. Geht man davon aus, dass auch strafbaren Verhaltens verdächtigte Mitarbeiter befragt werden und Auskunft erteilen müssen2, kann dies mit dem Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ kollidieren. Denn es besteht die Gefahr, dass die Interview-Protokolle in die Hände der Staatsanwaltschaft geraten, sei es, dass die Unternehmensleitung sie weitergibt, sei es, dass die Protokolle bei der mit den Internal Investigations beauftragten Gesellschaft beschlagnahmt werden. Es ist bislang höchstrichterlich ungeklärt, ob insoweit ein Beschlagnahmeverbot besteht. Auf Landgerichtsebene gibt es zwei divergierende Entscheidungen.3 Selbstverständlich hat der beschuldigte Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft ein Aussageverweigerungsrecht (§ 136 StPO). Die Staatsanwaltschaft ist aber nicht gehindert, die beschlagnahmten Interview-Protokolle zur Beweisführung gegen den Mitarbeiter zu verwerten. Ein Beweisverwertungsverbot wird zwar in der einschlägigen Literatur gefordert. Es ist aber von der Rechtsprechung bislang nicht anerkannt.4 Selbst wenn aber die Rechtsprechung der überzeugenden Literaturmeinung folgen würde, ergäbe ein Beweisverwertungsverbot keinen vollständigen Schutz für den beschuldigten Mitarbeiter. Es beträfe lediglich die Interview-Protokolle, d. h. die unmittelbare Beweisquelle. Ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung im Sinne der „fruit of the poisonous tree-doctrin“ gibt es in Deutschland grundsätzlich nicht.5 Die Personen, die die Mitarbeiter befragt haben, kämen also ggf. als Zeugen in Betracht,6 es sei denn, man würde von einem Beweisverwendungsverbot entsprechend dem Gemeinschuldnerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts ausgehen. Ein solches ist aber nur dann anzunehmen, wenn das Gesetz es ausdrücklich statuiert.7 Nimmt man daher eine Auskunftspflicht auch des verdächtigen Arbeitnehmers im Rahmen der Internal Investigations an, wäre das Ergebnis, dass die Arbeitnehmer sich selbst belasten müssten. Jahn meint mit Recht, die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit sei erloschen, bevor sie mangels Ermittlungsverfahren überhaupt zu 2 Nach Franzen, FS-Köhler 2014, 137 ist dies im Arbeitsrecht die herrschende Meinung; a.A. im Arbeitsrecht: Rudkowski, NZA 2011, 612, 613; Rieble Ritsumeikan Law Review No 26, 2009, 191, 203; Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853; Tscherwinka FS I. Roxin 2012, 521, 522; Mengel/Hagemeister BB 2007, 1386, 1389; differenzierend Maschmann, in: Kuhlen/Kudlich/Ortiz de Urbina (Hrsg.), Compliance und Strafrecht 2013, S. 85, 95 f., der ein Auskunftsverweigerungsrecht der Arbeitnehmer bejaht, wenn die Befragung repressiven Zielen dient. 3 LG Hamburg, NJW 2011, 942, 943 ff. mit ablehnender Anmerkung von Galen; LG Mannheim NStZ 2012, 713; abl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Aufl. 2015, § 97 RN 10b. 4 LG Hamburg, NJW 2011, 942, 944. 5 Meyer-Goßner a.a.O., Einl. RN 57. 6 Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373, 378. 7 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht 28. Aufl. 2014, § 24 RN 64.

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einem Vollrecht erstarken konnte.8 Das ist deshalb ein fragwürdiges Ergebnis, weil der nemo tenetur-Grundsatz verfassungsrechtlich verbürgt ist.9 Ob allerdings dieser Grundsatz neben seiner Abwehrfunktion gegen staatliche Eingriffe10 auch im Arbeitsrecht Anwendung findet und insbesondere im Verhältnis des verdächtigen Arbeitnehmers zum Arbeitgeber ein Aussageverweigerungsrecht begründen kann, ist umstritten und zu untersuchen.

III. Besteht im Zusammenhang mit Internal Investigations eine unbeschränkte Auskunftspflicht auch des verdächtigen Arbeitnehmers ohne Berücksichtigung des nemo tenetur-Grundsatzes? In der Literatur wird teilweise eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Arbeitnehmers, soweit sein eigener Arbeitsbereich, die von ihm geschuldete Arbeitsleistung, betroffen ist, aus §§ 675, 666 BGB11 oder § 106 GewO12 hergeleitet. Eine Selbstbelastungsfreiheit soll es nicht geben.13 Dies wird als wohl noch vorherrschende Meinung in der Literatur bezeichnet.14 Wenn die vom Arbeitgeber geforderten Auskünfte nicht den eigenen Arbeitsbereich betreffen, sondern den weiteren betrieblichen Bereich, soll die Auskunftspflicht aus §§ 242, 241 II BGB folgen. Insoweit sollen Zumutbarkeitserwägungen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Berücksichtigung finden.15 Knauer weist zu Recht darauf hin, dass in diesen Fällen ein Problem mit der Selbstbelastungsfreiheit ohnehin nicht vorliegen wird.16

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Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.), a.a.O. § 33 RN 32. Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.), a.a.O. § 33 RN 25. 10 SK-StPO – Rogall 4. Aufl. 2010, vor § 133 RN 135. 11 Böhm WM 2009, 1923, 1924; Momsen, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O., § 34 B RN 30; Fritz Anmerkung zu LG Hamburg CCZ 2011, 155, 157; Wimmer FS für I. Roxin, 537, 540 f.; Greco NStZ 2015, 7; Kasiske NZWiSt 2014, 262, 265; Arzt, FS-Stöckel, 2010, S. 15, 29; Greeve, StraFo 2013, 89, 94 f.; Anders wistra 2014, 329, 330; Diller DB 2004, 313. 12 Klasen/Schaefer BB 2012, 641, 645; Bissels/Lützeler BB 2012, 189, 190; Lützeler/ Müller-Sartori CCZ 2011, 19, 20; Rudkowski NZA 2011, 612; Mengel/Hagemeister BB 2007, 1386, 1387; Mengel/Ullrich NZA 2006, 240, 243. 13 Reichold Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht 3. Aufl. 2009, § 49 Rn. 7; Lützeler/ Müller-Sartori CCZ 2011, 19, 20; s. auch die Autoren in Anm. 11. 14 Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 33 RN 29. 15 Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. Rn. 27; Knauer ZHW 2012, 82, 85; Klasen/ Schaefer BB 2012, 641, 645 f.; Fritz, Anm. zu LG Hamburg CCZ 2011, 155, 157. 16 Knauer ZHW 2012, 81, 85. 9

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1. Auskunftspflicht des Arbeitnehmers im Rahmen von internen Untersuchungen nach §§ 675, 666 BGB? 1.1 Gemäß § 675 BGB findet auf einen Dienstvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, u. a. § 666 BGB Anwendung. Danach ist der Beauftragte verpflichtet, dem Auftraggeber die erforderlichen Nachrichten zu geben, über den Stand des Geschäfts Auskunft zu erteilen und Rechenschaft abzulegen. Der Arbeitsvertrag ist ein Dienstvertrag, der nicht zwingend eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat.17 Denn Geschäftsbesorgung im Rahmen des § 675 BGB ist nach herrschender Meinung jede selbstständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen.18 Der Arbeitnehmer ist aber gerade nicht selbstständig tätig, sondern weisungsgebunden. Nach der im Zivilrecht als herrschend bezeichneten Meinung fallen daher insbesondere Arbeitsverhältnisse aus dem Anwendungsbereich des § 675 Abs. 1 BGB heraus.19 Eine unmittelbare Anwendung der Normen über den Geschäftsbesorgungsvertrag kommt für den Arbeitnehmer jedenfalls nicht in Betracht,20 sondern allenfalls für leitende Angestellte.21 Im Arbeitsrecht hingegen wird § 675 Abs. 1 BGB in einigen Entscheidungen des BAG sowie teilweise in der Literatur auf abhängige Arbeitsverträge auch dann angewendet, wenn im Arbeitsvertrag keine Geschäftsbesorgung vorgesehen ist, allerdings nur analog.22 Gegen eine analoge Anwendung der §§ 675, 666 BGB auf alle Arbeitsverhältnisse spricht bereits der Wortlaut des § 675 Abs. 1 BGB. Danach ist Voraussetzung für die Anwendung u. a. des § 666 BGB ein Dienstvertrag, „der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat“23. Außerdem wird verwiesen auf die subj. Sicht des Gesetzgebers. Aus den Gesetzgebungsprotokollen ergebe sich,

17 Münchner Kommentar/Heermann, Bürgerliches Gesetzbuch 6. Aufl. 2012, § 675 RN 2; Ermann/Berger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 14. Aufl. 2014, § 675 RN 5; Soergel/Benicke Bürgerliches Gesetzbuch, 13. Aufl., Stand Sommer 2011, § 675 RN 2; Bittmann/Molkenbur wistra 2009, 373, 375; Bittmann, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 34 B RN 142: „Für Geschäftsbesorgungen finden ergänzend §§ 675, 666 BGB Anwendung.“. 18 Palandt/Sprau 74. Aufl. 2015, § 675 RN 2; Ermann/Berger, a.a.O. § 675 RN 7; MüKo/ Heermann, a.a.O. § 675 RN 3, 6; Soergel/Benicke a.a.O. § 675 RN 2. 19 MüKo/Heermann a.a.O. § 675 RN 6; Ermann/Berger a.a.O. § 675 RN 10; Soergel/Benicke a.a.O. § 675 RN 4. 20 So im Arbeitsrecht ausdrücklich Franzen, FS-Köhler 2014, 133, 137; a.A. soweit ersichtlich nur Diller BB 2004, 313; Fritz, Anm. zu LG Hamburg CCZ 2011, 155, 157. 21 Dass leitende Angestellte unbeschränkt auskunftspflichtig sind, ist daher herrschende Meinung: vgl. Böhm, WM 2009, 1923, 1924; Göpfert, Merten, Siegrist NJW 2008, 1703, 1706; Mengel-Ullrich NZA 2006, 240, 243; Bittmann, in: Rotsch (Hrsg.), a.a.O. § 34 B RN 142; Mengel/Hagemeister, BB 2007, 1386, 1389; Jahn/Kirsch a.a.O. § 33 RN 26; Knauer ZWH 2012, 81, 84. 22 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht 15. Aufl. 2015/Preis § 611 RN 22 f. 23 Ermann/Berger a.a.O. § 675 RN 5; MüKo/Heermann a.a.O. § 675 RN 12.

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dass der Gesetzgeber der Auffassung war, nicht in jeder Tätigkeit eines Dienstverpflichteten finde sich ohne weiteres eine Geschäftsbesorgung.24 Auch eine analoge Anwendung bedeutet zudem nicht, dass für jedes Arbeitsverhältnis die Vorschriften über den Geschäftsbesorgungsvertrag, mithin auch die Auskunftspflicht des § 666 BGB, herangezogen werden können. Erforderlich ist vielmehr, auch nach der arbeitsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung, dass die Vorschriften auf die Art der Besorgung passen, sie für arbeitsrechtliche Sachverhalte Bedeutung haben und zu angemessenen Ergebnissen führen.25 Zwei frühe Entscheidungen des BAG ziehen §§ 675/670 BGB und §§ 675/665 BGB heran.26 In der BAG-Entscheidung, die §§ 675, 666 BGB erwähnt, spielte die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen §§ 675, 666 BGB analog auch für den Arbeitnehmer Anwendung finden sollen, keine Rolle. Es ging um die Frage, ob §§ 675/666 BGB analog auch auf den Arbeitgeber angewendet werden können, wie das LAG es angenommen hatte.27 Nach der BAG Entscheidung vom 14. 12. 201128 kann der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer entsprechend § 666 BGB Auskunft darüber verlangen, welche Geschäftsunterlagen er nach Aufhebung des Arbeitsvertrages noch im Besitz hat. Es mag durchaus sein, dass die analoge Anwendung der Geschäftsbesorgungsvorschriften in den angeführten Fällen zu einem angemessenen Ergebnis führte. Dies kann hier aber dahinstehen, denn die Selbstbelastungsfreiheit des Arbeitnehmers bei Auskünften gegenüber dem Arbeitgeber wird in keiner der erwähnten Entscheidungen thematisiert. Zu angemessenen Ergebnissen führt die Anwendung von §§ 675, 666 BGB im Rahmen von Internal Investigations gerade nicht, weil die im Verfassungsrecht verankerte Selbstbelastungsfreiheit unberücksichtigt bleibt. Es ist in der neueren arbeitsrechtlichen Literatur inzwischen anerkannt, dass das Persönlichkeitsrecht generell den Informationsanspruch des Arbeitgebers begrenzt, ein unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung in jedem Fall zu wahren ist und grundsätzlich keine Offenbarungspflicht für nachteilige Umstände besteht.29 Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Nicht-Berücksichtigung des nemo-tenetur-Grundsatzes bei der Annahme einer Auskunftspflicht nach §§ 675, 666 BGB wegen der gravierenden Folgen im Strafverfahren ein schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers 24 Ermann/Berger a.a.O. § 675 RN 5; MüKo/Heermann a.a.O. § 675 RN 12; Soergel/Benicke a.a.O. § 675 RN 2 unter Hinweis auf die Protokolle II, S. 377. 25 Erf. Komm. a.a.O./Preis, § 611 RN 22; Palandt/Sprau a.a.O. § 675 RN 5; MüKo/MüllerGlöge a.a.O. § 611 Rn 32 f.; BAG NJW 1962, 411, 414; Franzen FS-Köhler 2014, 133, 137 will die Wertung des § 666 BGB auf den unmittelbaren Arbeitsbereich des Arbeitnehmers schon wegen des Direktionsrechts des Arbeitgebers übertragen (vgl. dazu aber unten III. 3.). 26 BAG NJW 1962, 411, 414; BAG NJW 1967, 414. 27 BAG NZA 2002, 618, 620. 28 BAG AZR 283/10 Rn. 35. 29 Erf. Kommentar a.a.O. /Schmidt Art. 2 GG RN 95.

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wäre und ein erheblicher Nachteil zu seinen Lasten bedeuten würde. Auch eine analoge Anwendung der §§ 675, 666 BGB kommt daher nicht in Betracht. Als erstes Zwischenergebnis ist festzuhalten: Eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Arbeitnehmers lässt sich weder direkt noch analog für alle Arbeitsverhältnisse aus §§ 675, 666 BGB herleiten. 1.2 Dieses Ergebnis wird durch die einschlägige Rechtsprechung bestätigt. In der Literatur wird zur Begründung für die unbeschränkte Auskunftspflicht nach §§ 675, 666 BGB im Rahmen der Internal Investigations ohne Berücksichtigung der Selbstbelastungsfreiheit auf bestimmte BGH- und BAG-Entscheidungen verwiesen.30 Aus der als Beleg für eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Arbeitnehmers angeführten Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1964 (BGHZ 41, 318) kann man dieses Ergebnis nicht entnehmen. Zwar bejaht der BGH eine Auskunftspflicht des Beauftragten auch, wenn dieser sich selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen muss. Der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt ist aber nicht auf Arbeitnehmer übertragbar. Es handelte sich um einen Architekten-Vertrag, den der BGH als üblichen Werkvertrag bezeichnet. Dieser Werkvertrag hatte, so der BGH, soweit er die Verhandlung mit dritten Personen, den Bauhandwerkern, betraf, eine Geschäftsbesorgung im Sinne des § 675 BGB zum Gegenstand. Der BGH stellt also ausdrücklich auf die Geschäftsbesorgung ab, die in den Arbeitsverhältnissen grundsätzlich nicht vorliegt und stützt darauf die Pflicht zur Auskunft.31 Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt, den der BGH für die Ablehnung der Berücksichtigung des nemo tenetur-Grundsatzes anführt. Das Auskunftsrecht des Arbeitgebers sei gerade dann besonders wichtig, wenn der Beauftragte gegen die ihm obliegenden Pflichten verstoßen habe. In einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Fällen handele es sich um solche, in denen eine vorsätzliche treuwidrige Bereicherung des Beauftragten oder eine vorsätzliche Schädigung des Auftraggebers und damit eine strafbare Handlung nach §§ 263, 266 StGB in Betracht komme. Würde man sie von der Auskunftspflicht ausschließen, so würde der § 666 BGB bei besonders schweren Verstößen die ihm vom Gesetz zugewiesene Aufgabe weitgehend nicht mehr erfüllen. Gerade dieser letzte Gesichtspunkt lässt sich nicht auf die bei den Internal Investigations befragten Arbeitnehmer übertragen. Sie haben im vermeintlichen Interesse des Unternehmens gehandelt. Es handelt sich nicht um Personen, die zum Nachteil des Unternehmens besonders verwerflich gehandelt haben.32 Darauf wird zugunsten

30 BGHZ 41, 318 = NJW 1964, 1469; BGH NJW-RR 1989, 614; BGH NJW 1990, 510; BAG NZA 1996, 637; LAG Hamm CCZ 2010, 237. 31 BGHZ 41, 318 = NJW 1964, 1469. 32 Vgl. Wastl, Litzka, Pusch NStZ 2009, 68, 73 unter Hinweis auf BVerfGE 56, 37, 50.

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des Arbeitnehmers von der Rechtsprechung auch im Falle von Verdachtskündigungen verwiesen.33 Der Hinweis des BGH u. a. auf § 266 StGB bestätigt außerdem, dass die Auskunftspflicht des § 666 BGB nur diejenigen Unternehmensmitarbeiter trifft, die einen selbstständigen Handlungs- und Entscheidungsspielraum haben. Denn auch § 266 StGB liegt nur vor, wenn der Handelnde ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit bei der Ausübung seiner Pflichten hat.34 Auch die weiteren, von der Literatur für eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Arbeitnehmers im Rahmen der Internal Investigations genannten Entscheidungen ändern an dem festgestellten Ergebnis nichts. Die vielfach herangezogene BGH-Entscheidung vom 23. 02. 198935 lässt gerade offen, ob den Mitarbeiter überhaupt eine Auskunftspflicht gemäß §§ 675, 666 BGB traf.36 Dabei lag in diesem Fall ein Geschäftsbesorgungsvertrag nahe. Es ging um einen freien Mitarbeiter, der mit den Aufgaben eines Werksleiters beauftragt war. Das Urteil des BGH vom 30. 11. 1989 bejaht zwar die Auskunfspflicht des Rechtsanwalts eines Gemeinschuldners gegenüber dem Konkursverwalter auch bei einer Preisgabe strafbaren Verhaltens.37 Das Urteil ist aber ebensowenig wie BGHZ 41, 318 auf abhängige Arbeitsverhältnisse übertragbar. Bei dem Vertrag zwischen dem Gemeinschuldner und seinem Anwalt handelte es sich um einen Dienstvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Inhalt hatte, was der BGH auch ausdrücklich festhält. Das ist bei Arbeitsverhältnissen generell aber gerade nicht der Fall. Die Entscheidung des BAG vom 07. 09. 199538 bejaht zwar eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers, stützt diese aber nicht auf §§ 675/666 BGB, wofür diese Entscheidung zitiert wird, sondern auf § 242 BGB. Der nemo tenetur-Grundsatz spielte in der Entscheidung keine Rolle. Die häufig zitierte Entscheidung des LAG Hamm vom 03. 03. 200939 bejaht eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers, die durch die Gefahr der Selbstbezichtigung mit einer Straftat nicht eingeschränkt sein soll. Das LAG verweist zum Schutz des Arbeitnehmers auf ein strafrechtliches Verwertungsverbot.

33 Arbeitsgericht München NZA-RR 2009, 134; Erf. Komm. a.a.O./Müller-Glöge § 626 RN 98 f. 34 Fischer, Strafgesetzbuch 61. Aufl. 2014, § 266 RN 37. 35 BGH NJW-RR 1989, 614. 36 BGH NJW-RR 1989, 614 II 2.a. 37 BGH NJW 1990, 510, 511. 38 BAG NZA 1996, 637. 39 LAG Hamm CCZ 2010, 237.

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2. Auskunftspflicht des Arbeitnehmers aus §§ 241 Abs. 2, 242 BGB Der kursorische Überblick über Literatur und Rechtsprechung hat gezeigt, dass keineswegs Einigkeit über die Rechtsgrundlage einer Auskunftspflicht des Arbeitnehmers im Rahmen von Internal Investigations besteht. Auch scheint es danach zweifelhaft, ob hinsichtlich der Rechtsgrundlage tatsächlich zwischen Fragen, die dem eigenen Arbeitsbereich des Arbeitnehmers zuzuordnen sind (§§ 675, 666 BGB analog) und solchen außerhalb der geschuldeten Arbeitsaufgabe (§§ 242, 241 Abs. 2 BGB) zu unterscheiden ist. Die BAG-Entscheidung, auf die in der Literatur für diese Trennung verwiesen wird, ist die oben schon genannte BAG-Entscheidung vom 07. 09. 1995, die in einer nachfolgenden BAG-Entscheidung als „grundsätzlich“ bezeichnet wird.40 In dieser Entscheidung ging es um Fragen des Arbeitgebers zu einer Tätigkeit des Arbeitnehmers bei dem früheren Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Die Fragen bezogen sich auf die persönliche Eignung und fachliche Qualifikation. Sie betrafen also die vom Arbeitnehmer geschuldete Arbeitsleistung, was das BAG auch ausdrücklich festhält: Voraussetzung für den Auskunftsanspruch des Arbeitgebers ist „ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers an der Beantwortung der Fragen. Dieses Interesse muss gerade im Zusammenhang mit dem bestehenden Arbeitsverhältnis vorliegen. Da sich die Auskunft nur auf das Bestehen oder den Umfang von Rechten aus dem Arbeitsverhältnis beziehen kann, muss ein Zusammenhang mit der Erfüllung der vom Arbeitnehmer geschuldeten vertraglichen Leistung, mit dessen sonstiger Pflichtenbindung oder mit der Pflichtenbindung des Arbeitgebers bestehen.“41

Obwohl sich die Auskunft auf die geschuldete Arbeitsleistung bezog, stützt das BAG die Auskunftspflicht auf § 242 BGB und nicht auf §§ 675, 666 BGB. Das BAG erörtert Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit der Fragen, Kriterien also, die nach einem Teil der Literatur bei Fragen den eigenen Arbeitsbereich betreffend gerade keine Rolle spielen sollen. Es heißt ausdrücklich: „Die Auskunftsverpflichtung darf keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen. Sie muss der Bedeutung des Auskunftsinteresses entsprechen. Kann sich der Arbeitgeber die Information auf zumutbare Weise anderweitig verschaffen, ist der Anspruch ausgeschlossen. Greift die Frage in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ein, so muss dieser Eingriff einer Abwägung der beiderseitigen Interessen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit standhalten. Ein unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung muss in jedem Fall gewahrt bleiben.“

Unter Hinweis auf diese BAG-Entscheidung wird denn auch in der arbeitsrechtlichen Literatur betont, dass eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers generell allen-

40 41

BAG NZA 1997, 41. BAG NZA 1996, 637, 638.

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falls als Nebenpflicht in Betracht komme. Als Rechtsgrundlage werden §§ 241 Abs. 2, 242 BGB genannt.42 Mit der Begrenzung des Auskunftsanspruchs des Arbeitgebers trägt das BAG in der zitierten Entscheidung der Tatsache Rechnung, dass § 242 BGB im Zivilrecht das Einfallstor für eine Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, insbesondere der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ist.43 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist Rechtsgrundlage für den nemo-teneturGrundsatz Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Achtung der Menschenwürde).44 Die Fragen des Arbeitgebers greifen bei einem verdächtigen Mitarbeiter, soweit sie die dem Verdacht zugrunde liegenden Sachverhalte betreffen, in dessen allg. Persönlichkeitsrecht ein. Es sind also die grundrechtlich geschützten Interessen des verdächtigen Arbeitnehmers mit denen des Arbeitgebers abzuwägen. Dies kann je nach Sachverhaltsgestaltung durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, sodass die für eine unbeschränkte Auskunft viel zitierte Entscheidung des LAG Hamm richtig sein mag, aber kein Präjudiz dafür ist, dass Arbeitnehmer trotz Selbstbelastung ggf. immer eine Auskunftspflicht trifft. Im vom LAG Hamm entschiedenen Fall ging es um eine vorsätzliche Schädigung des Unternehmens um der Eigenbereicherung des Arbeitnehmers willen.45 Diese Fälle sind aber gerade nicht vergleichbar mit den Internal InvestigationsSachverhalten unter Compliance-Gesichtspunkten. Gerade deshalb ist es auch so problematisch, alle Fälle gleich zu behandeln. Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass zu unterscheiden ist zwischen dem Verhalten der Arbeitnehmer zur Eigenbereicherung und einem Vorgehen im vermeintlichen Unternehmensinteresse.46 Bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen ist zudem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.47 Es ist also zu fragen, ob die unbeschränkte Auskunfts42

Rieble ZIP 2003, 1273, 1275; Rudkowski NZA 2011, 612, 613; Grobys/Panzer (Hrsg.), Stichwortkommentar, 120 Nebenpflichten RN 20, 21; Küttner/Seidel Personalbuch 2014, 21. Aufl., 77 RN 33 f.; Tscherwinka FS I. Roxin 2012, 521, 523; vgl. auch MüKo/MüllerGlöge § 611 RN 1111 f.; Erf. Komm. a.a.O./Preis, § 611 RN 736; in der strafrechtlichen Literatur für das Arbeitsrecht ebenso Raum, StraFo 2012, 395, 397; Bittmann, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 34 B RN 142; Anders wistra 2014, 329, 330; Klengel/Mückenberger CCZ 2009, 81, 82, Achenbach u. a. (Hrsg.) Handbuch Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. 2015/Salvenmoser-Schreier, 15. Teil RN 174. 43 Vgl. zur Drittwirkungsproblematik ausführlich Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 33 RN 12 ff., insb. RN 19; s. auch BAG, Urteil v. 14. 12. 2011 – 10 AZR 283/10 RN 23. 44 BVerfG NJW 2005, 352. 45 LAG Hamm CCZ 2010, 237. 46 Vgl. Dann/Wessing Anm. zu LAG Hamm, CCZ 2010, 237, 239; s. auch Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853. 47 Reichold, in: Reichold u. a. (Hrsg.), Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht 3. Aufl. 2009, § 49 RN 6; Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853.

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pflicht auch des verdächtigen Unternehmensmitarbeiters zur Erreichung des Zieles der Internal Investigations im Rahmen von Compliance-Bemühungen der Unternehmensleitung erforderlich ist. „Der Zweck interner Ermittlungen liegt aus der Sicht des Unternehmens in der Vermeidung bzw. Minimierung von Haftungsrisiken“, hat also unter anderem präventiven Charakter.48 Zu Recht halten Dann/Wessing fest, dass das Unternehmen in diesem Zusammenhang nur Interesse daran hat herauszufinden, wie die Taten begangen wurden. Allein dies ist notwendig, um unter Compliance-Gesichtspunkten die Strukturen zu ändern. Denn es geht unter strukturellen Präventionsgesichtspunkten in erster Linie um die Minimierung der Tatgelegenheiten.49 Die Feststellung des Täters ist unter Compliance-Gesichtspunkten zur Zielerreichung nicht erforderlich. Das kann der dafür zuständigen Staatsanwaltschaft überlassen werden.50 Schon daraus ergibt sich, dass eine Auskunftspflicht auch nicht verhältnismäßig i. e.S. wäre. Eine Selbstbezichtigungspflicht würde sich in diesem Zusammenhang als übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen und unzumutbar sein. Hinzu kommt, dass zur Sachverhaltsaufklärung die Aussage des verdächtigen Mitarbeiters auch nicht notwendig ist. Es stehen dem Unternehmen diverse andere Möglichkeiten zur Verfügung, um Compliance-Verstöße aufzuklären, u. a. Zeugen, Urkunden (Verträge), technische Ermittlungsmöglichkeiten.51 Unternehmen verfügen über eine Vielzahl von Informationsmöglichkeiten, die sie ohne Eingriff in die Rechtsposition des beschuldigten Mitarbeiters zur Aufklärung von Hinweisen nutzen können.52 Demgegenüber hat der Arbeitnehmer ein elementares Interesse daran, sich nicht selbst belasten zu müssen, um sich ggf. im Strafverfahren wirksam auf sein Schweigerecht berufen zu können. Dieses Ergebnis wird gestützt durch § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG. Danach hat der Arbeitgeber die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen. Eine vorprozessuale Auskunftspflicht des Arbeitnehmers stünde hierzu im Widerspruch.53 Zweites Zwischenergebnis: Den auf der Grundlage eines üblichen Arbeitsvertrages tätigen Unternehmensmitarbeiter trifft grundsätzlich eine Auskunftspflicht gegenüber dem Arbeitgeber gem. § 242 BGB. Im Rahmen von Internal Investigations hat er jedoch ein Auskunftsverweigerungsrecht, wenn er sich selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müsste.54 48

Momsen, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 34 B RN 1. Dann/Wessing, Anmerkung zu LAG Hamm CCZ 2010, 237, 239. 50 ArbG Mü NZA-RR 2009, 134, 136. 51 Rudkowski NZA 2011, 612, 613; Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853. 52 Momsen/Grützner DB 2011, 1792, 1794. 53 Schulz BB 2011, 629, 633. 54 Rieble, Ritsumeikan Law Review Nr. 26, 2009, 191, 203; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 136 RN 7a; vgl. auch Bittmann/Molkenbur wistra 2009, 373, 376; Erf. 49

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3. Auskunftspflicht des Arbeitnehmers aus § 106 GewO? Aus § 106 S. 1 und 2 GewO wird das Weisungsrecht des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer hergeleitet. Es ist beschränkt auf Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung sowie Ordnung und Verhalten im Betrieb.55 Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer also Weisungen über die Ausführung seiner Tätigkeit erteilen. Daraus wird in der arbeitsrechtlichen Literatur gefolgert, dass dies die Auskunft des Arbeitnehmers darüber einschließe.56 Es muss aber bezweifelt werden, ob dies auch dann gelten kann, wenn der Arbeitnehmer sich mit der Auskunft selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müsste.57 Denn das Weisungsrecht muss nach herrschender Meinung und BAG-Rechtsprechung nach billigem Ermessen ausgeübt werden (§ 315 BGB). Über diesen unbestimmten Rechtsbegriff entfalten die Grundrechte ihre mittelbare Drittwirkung im Arbeitsrecht.58 Dies schließt die Achtung grundrechtlich geschützter Interessen des Arbeitnehmers ein.59 Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass die geschützten Rechtspositionen für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.60 Es sind also dieselben Erwägungen anzustellen wie schon bei der Auskunftspflicht nach § 242 BGB (s. 2.). Im Ergebnis stellt sich dann heraus, dass die Interessen des Arbeitgebers weitaus weniger stark ins Gewicht fallen, als diejenigen des verdächtigen Mitarbeiters.61 Drittes Zwischen-Ergebnis: Eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Arbeitnehmers kann für Internal Investigations auch aus § 106 GewO nicht hergeleitet werden. 4. Das Talk-or-Walk-Argument Es wird in der Literatur zu Recht die Frage aufgeworfen, was der Arbeitnehmer eigentlich von einem Auskunftsverweigerungsrecht habe, wenn ihm dann eine Verdachtskündigung drohe.

Komm. a.a.O./Schmidt GG Art. 2 RN 95; Achenbach u. a. (Hrsg.), HWSt/Salvenmoser/ Schreier RN 174; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 287 mit zustimmender Anmerkung Rogall BGH NJW-RR 1989, 614, 615. 55 BAG NZA 2009, 1011. 56 Franzen FS-Köhler 2014, 133 137 unter Hinweis auf LAG Hamm CCZ 2010, 237. 57 So aber Klasen/Schaefer BB 2012, 641, 646; Bissels/Lützeler BB 2012, 189, 190. 58 Erf.Komm. a.a.O./Preis, § 611 RN 278. 59 BAG BB 2003, 1283, 1285; BAG NZA 2009, 1011, RN 17; Tettinger/Wank GewOKommentar 7. Aufl. 2004, § 106 RN 19 f.; Mengel/Hagemeister BB 2007, 1386, 1388. 60 BAG BB 2003, 1283, 1285. 61 Rudkowski NZA 2011, 612, 613; Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 33 RN 33; Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853.

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Ferner wird auf die bei systematischen Straftaten vom Unternehmen häufig angebotenen Amnestieregelungen hingewiesen. Für vollständig und wahrheitsgemäß aussagende Mitarbeiter wird auf arbeitsrechtliche Maßnahmen und auf Schadenersatzforderungen verzichtet. Es besteht wohl Einigkeit darüber, dass die Amnestieregelung für den Unternehmensmitarbeiter keineswegs gegenüber der Selbstbelastungsfreiheit der bessere und vor allem sicherere Weg ist.62 Momsen rückt das Amnestieangebot sogar in die Nähe der Täuschung, weil keine Straffreiheit garantiert werden könne.63 Das Ganze soll daher hier nicht vertieft werden. Aber auch die Verdachtskündigung ist keineswegs so zweifelsfrei zulässig, wie dies in der Literatur behauptet wird.64 Grundsätzlich kann eine strafbare Handlung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grunde rechtfertigen, und zwar auch als Verdachtskündigung. Voraussetzung ist, dass der Verdacht objektiv durch Tatsachen begründet ist, aus denen ein verständiger und gerecht abwägender Arbeitgeber den Schluss ziehen muss, das Vertrauensverhältnis zum Mitarbeiter sei zerstört. Außerdem muss der Verdacht dringend sein, das heißt es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Arbeitnehmer die Straftat begangen hat. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, so bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht.65 Die Kündigung muss ultima ratio sein. Selbstverständlich ist auch die im Unternehmensinteresse begangene Bestechung zur Erlangung von Aufträgen eine Straftat. Meist ist der Verdacht auf Bestechung schon vor der Befragung des verdächtigen Arbeitnehmers dringend. Er ergibt sich bereits aus Verträgen, Rechnungen, Zahlungsanweisungen, fehlenden Leistungsnachweisen, E-Mails, Zeugenaussagen.66 Zweifelhaft ist nur, ob bei dem den Internal Investigations in aller Regel zugrunde liegenden Korruptions-Sachverhalt wirklich die Interessenabwägung und die konkreten Umstände des Einzelfalles die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber unzumutbar machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Zweck der Kündigung nicht die Sanktionierung eines strafbaren Verhaltens ist. Dafür stehen die Möglichkeiten des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zur Verfügung. Zweck ist allein, ein für den Arbeitgeber wegen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses unzumutbar gewordenes Vertragsverhältnis zu beenden.67 62

Vgl. hierzu mit Nachweisen I. Roxin StV 2012, 116, 121. Momsen, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 34 B RN 37; ebenso Knauer/Buhlmann, AnwBl. 2010, 387, 392. 64 Vgl. jüngst Greco/Caracas, NStZ 2015, 7. 65 BAG NJW 2009, 1897, 1898 RN 25. 66 Deshalb wurde bereits oben III 2. die Befragung des verdächtigen Mitarbeiters als nicht erforderlich bezeichnet. Siehe auch Dann/Schmidt NJW 2009, 1851, 1853. 67 Arbeitsgericht München NZA-RR 2009, 134, 136. 63

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Betrachtet man insoweit die immer als Beispiele für Internal Investigations herangezogenen Fälle Siemens, MAN, Ferrostaal, so kann man schwerlich dem Arbeitnehmer die alleinige Verantwortung für die systematisch in diesen Unternehmen begangenen Bestechungen zuweisen. Es wäre daher verfehlt, wenn der Arbeitgeber sich auf die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses durch den Arbeitnehmer berufen würde.68 Es ist kaum anzunehmen, dass ein Arbeitnehmer ohne Billigung seiner Vorgesetzten Bestechungsgelder anbieten bzw. zahlen kann. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wird in der Literatur die Forderung bzw. Annahme von Schmiergeldern als Kündigungsgrund genannt, weil der Arbeitnehmer durch sein meist auf Eigenbereicherung abzielendes Verhalten das Vertrauen in seine Zuverlässigkeit und Redlichkeit zerstört. Hinsichtlich der mit offener oder verdeckter Billigung des Arbeitgebers begangenen Bestechung heißt es, sie sei zwar an sich ein wichtiger Grund im Sinne des Kündigungsrechts. Jedoch werde die Interessenabwägung nicht regelmäßig zu Lasten des Arbeitsnehmers ausfallen.69 Gesamtergebnis • Der einer Straftat verdächtige Arbeitnehmer hat im Rahmen von Internal Investigations ein Auskunftsverweigerungsrecht, wenn er in vermeintlichem Unternehmensinteresse, das heißt uneigennützig, gehandelt hat. • Eine Verdachtskündigung ist in diesen Fällen keineswegs selbstverständlich zulässig. Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls.

IV. Beschlagnahmeverbot für die im Rahmen der Internal Investigations erstellten Unterlagen? Es besteht zwar, wie gezeigt, für verdächtige Arbeitnehmer grundsätzlich ein Auskunftsverweigerungsrecht, nicht aber für verdächtige leitende Mitarbeiter. Es ist deshalb zu erörtern, inwieweit die schriftlichen Aufzeichnungen über deren Aussage (Interview-Protokolle) bzw. Gutachten, die über die Ergebnisse der internen Erhebung erstellt worden sind, einem Beschlagnahmeverbot unterliegen. Das LG Hamburg hat in dem Strafverfahren gegen die Vorstände der HSH Nordbank ein Beschlagnahmeverbot abgelehnt.70 Die internen Erhebungen waren von einer Rechtsanwaltsgesellschaft durchgeführt worden, die die in ihrem Gewahrsam befindlichen Interview-Protokolle und das angefertigte Gutachten der Staatsanwaltschaft nicht freiwillig überlassen wollten. 68 ArbG München NZA-RR 2009, 134, 136 bezeichnet dieses Verhalten des Arbeitgebers zu Recht als treuwidrig. 69 Erf. Komm. a.a.O./Müller-Glöge § 626 RN 98 f. 70 LG Hamburg NJW 2011, 942, 943.

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Das LG Hamburg hat die ablehnende Entscheidung damit begründet, dass das in diesem Fall allein in Betracht kommende Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO nur das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger schütze. Die Rechtsanwälte, die die internen Erhebungen durchgeführt hatten, waren aber nicht Verteidiger der Beschuldigten und konnten es wegen eines möglichen Interessenkonfliktes auch nicht sein.71 Diese Entscheidung hat erheblichen Widerspruch erfahren.72 In Anbetracht des zwischenzeitlich (zum 01. 02. 2011) auf alle Rechtsanwälte erweiterten § 160 a StPO ergeben sich zusätzliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung. § 160 a StPO statuiert ein absolutes Beweiserhebungs- und Verwendungsverbot, wenn Ermittlungsmaßnahmen zu Erkenntnissen führen, die in einer Vernehmungssituation dem Zeugnisverweigerungsrecht eines Berufsgeheimnisträgers unterfallen würden.73 Sinn der Vorschrift ist die Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht. Nähme man nur § 160 a Abs. 1 StPO in den Blick, käme man zu dem Ergebnis, dass Interview-Protokolle und Gutachten im Gewahrsam von Rechtsanwälten beschlagnahmefrei sind, weil diese ein Zeugnisverweigerungsrecht besitzen. Dem könnte freilich § 160 a Abs. 5 StPO entgegenstehen. Danach bleiben die §§ 97 und 100 c Abs. 6 StPO unberührt. Nach herrschender Meinung soll damit gesagt werden, dass § 97 StPO als Spezialregelung § 160 a StPO vorgeht und dieser nur anwendbar ist, soweit § 97 keine Regelung trifft.74 Nach überwiegender Meinung ist § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO so zu interpretieren, wie das Landgericht Hamburg es getan hat. Es besteht trotz § 160 a StPO mithin kein Beschlagnahmeverbot für Interview-Protokolle und Gutachten, die die vom Unternehmen mit Internal Investigations beauftragten Rechtsanwälte erstellt haben, weil zwischen diesen und dem interviewten beschuldigten Mitarbeiter kein Mandats- oder sonstiges Vertrauensverhältnis besteht. Die insbesondere vom LG Mannheim und Jahn/Kirsch vertretene gegenteilige Meinung fußt denn auch nicht allein auf § 160 a StPO. Sie plädieren hingegen für eine verfassungskonforme Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO.75 Sie wenden die Vorschrift auch auf das Verhältnis zwischen dem nicht-beschuldigten Unternehmen und den von diesem mit den internen Erhebungen beauftragten Rechtsanwälten an. Jahn hat diese Auslegung schon frühzeitig überzeugend begründet.76 Ein entscheidender Gewinn für die interviewten verdächtigen Mitarbeiter ist mit diesem Beschlagnahmeverbot jedoch nicht verbunden. Denn das Beschlagnahme71

So bereits LG Hamburg NJW 2011, 942, 944; Bauer StV 2012, 277, 278. Vgl. z. B. Jahn/Kirsch StV 2011, 151 ff. Anm. zu LG Hamburg StV 2011, 148. 73 Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 160 a RN 1. 74 Jahn/Kirsch NStZ 2012, 718, 719. 75 LG Mannheim wistra 2012, 400; Jahn/Kirsch NStZ 2012, 718, 719 f. 76 Jahn ZIS 2011, 453 ff.

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Criminal Compliance, Internal Investigations

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verbot ist abhängig vom Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO. Dieses entfällt für die Unternehmensanwälte, wenn das Unternehmen sie von der Schweigepflicht entbindet.77 Es wurde von mir andernorts bereits ausführlich dargelegt, dass es im Unternehmensinteresse liegt, korruptive Sachverhalte, die eine Compliance-Tätigkeit zutage gefördert hat, der Staatsanwaltschaft freiwillig zur Kenntnis zu bringen.78 In diesem Fall wird das Unternehmen aber die mit den Internal Investigations beauftragten Rechtsanwälte von der Schweigepflicht entbinden. Damit ist das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO auch dann obsolet, wenn man die verfassungskonforme Auslegung bejaht. Ein Schutz des beschuldigten Mitarbeiters ist nicht mehr vorhanden.

V. Beweisverwertungs-/Beweisverwendungsverbot? Bei der Anerkennung eines Auskunftsverweigerungsrechtes des Arbeitnehmers im Rahmen von Internal Investigations bedarf es keines Beweisverwertungs- oder gar Verwendungsverbotes.79 Allerdings gesteht die herrschende Lehre dieses Auskunftsverweigerungsrecht nicht den leitenden Mitarbeitern zu.80 Auch für sie gilt aber der nemo-tenetur-Grundsatz. Es soll deshalb abschließend kurz auf die Thematik eingegangen werden. Kurz deshalb, weil erst unlängst zu der Problematik von verschiedenen Autoren ausführlich und umfassend Stellung genommen worden ist.81 Soweit – entgegen der hier vertretenen Auffassung – eine arbeitsrechtliche Auskunftspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber angenommen wird, wird allgemein ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der von den Unternehmensanwälten im Rahmen der internen Erhebungen angefertigten Unterlagen angenommen, und zwar überwiegend sogar als Beweisverwendungsverbot.82 In der Literatur werden knapp zusammengefasst 4 verschiedene Begründungsansätze verfolgt: • Bezugnahme auf den Gemeinschuldnerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts.83 • Das Recht auf ein faires Verfahren.84 • Zurechnungsmodelle.85 77

Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 53 RN 16. I. Roxin StV 2012,116,117 f.; so auch Wettner/Mann DStR 2014, 655, 661; Knauer/ Buhlmann AnwBl 2010, 387, 388; Theile StV 2011, 381, 384. 79 Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 136 RN 7a. 80 Vgl. oben Fußnote 21. 81 Greco/Caracas, NStZ 2015, 7 ff.; Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 33, Rn 90 ff. 82 Güntge, in: Rotsch (Hrsg.) a.a.O. § 31 B, Rn. 25 f.; Achenbach u. a. (Hrsg.) HWStRotsch, 1. Teil Kap. 4, Rn 52; Böhm WM 2009, 1923, 1929, Theile StV 2011, 381, 385. 83 I. Roxin, in: StV 2012, 119 f.; Güntge, in: Rotsch (Hrsg.) § 31 B, Rn. 25. 84 Knauer/Buhlmann AnwBl 2010, 387, 390 ff.; Momsen ZIS 2011, 508, 516. 85 Greco/Caracas, NStZ 2015, 7, 12 ff. 78

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• Beweisverwertungsverbot analog dem vom Gesetzgeber neu eingeführten § 630c Abs. 2 S. 2 und 3 BGB.86 Ein Beweisverwertungsverbot entsprechend dem Gemeinschuldnerbeschluss wird überwiegend abgelehnt, weil die Aussage des Arbeitnehmers nicht auf staatlich veranlasstem Aussagezwang wie im Fall des Gemeinschuldners beruhe, sondern es sich ggf. um einen privatrechtlichen Aussagezwang handele. In diesem Bereich könne aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der nemo-tenetur-Grundsatz keine Geltung beanspruchen. Nach Auffassung von Knauer/Buhlmann liegt in der Weitergabe der Ergebnisse der internen Untersuchungen ein Verstoß gegen das Recht des Arbeitnehmers auf ein faires Verfahren. Aus der Gesamtschau aller Umstände und vor dem Hintergrund der besonderen Situation des betroffenen Arbeitnehmers ergebe sich eine derart „überbordende faktische Gesamtzwangslage“, dass dadurch in erheblicher Weise in das Recht des Arbeitnehmers auf ein faires Verfahren eingegriffen werde. Das wird ausführlich anhand von BGH-Rechtsprechung dargestellt. Diesem Lösungsansatz wird entgegengehalten, dass das fair trial-Prinzip eher ein Blankett verköpere und nicht nur vage sei, sondern inhaltsarm. Eine Begründung für ein bestimmtes Ergebnis biete es nicht.87 Die Zurechnungsmodelle gehen der Frage nach, ob bzw. wann die grundsätzlich zulässigen privaten Internal Investigations dem Staat zuzurechnen sind. Wenn die Zurechnung privaten Handelns zum Staat möglich wäre, könne man auch von staatlich veranlasstem Aussagezwang der Arbeitnehmer sprechen. Ein Beweisverwertungsverbot entsprechend der Gemeinschuldnerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wäre zu bejahen. Im Hinblick auf die Frage, wann eine Zurechnung der internen Untersuchungen zum Staat erfolgen könne, gibt es verschiedene Ansatzpunkte, die Veranlassung der internen Erhebungen durch die Staatsanwaltschaft, ihre Ausnutzung oder auch die bloße Kenntnisnahme und Billigung.88 Bereits die Vagheit aller nur skizzenhaft ausgeführten Begründungspunkte wird in der Praxis kaum die Bereitschaft fördern, ein Beweisverwertungs- oder gar Verwendungsverbot für Interview-Protokolle oder Unterlagen aus Internal Investigations anzunehmen. Der Konflikt der Internal Investigations mit dem verfassungsrechtlich verbürgten nemo-tenetur-Grundsatz kann nur durch ein Auskunftsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers gelöst werden. Dieses muss nicht erst kreiert werden, sondern besteht bereits, wie dargelegt.

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So im Arbeitsrecht Franzen FS-Köhler 2014, 133, 141 ff. Greco/Caracas, NStZ 2015, 7, 10. 88 Ausführlich Greco/Caracas NStZ 2015, 7, 14 unter Hinweis auf Pfordte, FS Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV 2009, 740 ff. und Kaspar GA 2013, 193, 219. 87

Ist die Teilnahme eines Staatsanwalts im Rahmen eines Strafverfahrens überflüssig? Yener Ünver1

I. Einleitung In dieser Arbeit wird die neue gesetzliche Bestimmung der türkischen Strafprozessordnung über den Verzicht eines Staatsanwalts, am Strafverfahren teilzunehmen, besonders unter Berücksichtigung von zwei unterschiedlichen Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts, erörtert. In diesem Zusammenhang wird einerseits der Gesetzeszweck näher betrachtet, andererseits werden die Beurteilung der Problematik durch das türkische Verfassungsgericht und die Ansichten in der Rechtslehre dargestellt.

II. Gesetzliche Bestimmungen Die Sätze 5 und 6 des Art. 25 des Kinderschutzgesetzes mit der Nr. 5395 vom 3. Juli 2005 lauten wie folgt: „An den Verhandlungen der Jugendgerichte nimmt der Staatsanwalt nicht teil. Die in den Gerichtsbezirken tätigen Staatsanwälte können gegen die Entscheidungen der Jugendgerichte den Rechtsweg beschreiten.“2

Nach dem zunächst nur vorübergehend wirksamen Art. 3 des Gesetzes mit der Nr. 6217 vom 31. 03. 2011 gilt: „An den Verhandlungen der Strafgerichte nehmen bis zum 01. 01. 2014 die Staatsanwälte nicht teil und hinsichtlich der Teilnahme wird die Meinung des Staatsanwalts nicht eingeholt. Jedoch, wenn die Entscheidung zu einer Inhaftierung oder einer Freilassung führen sollte, wird die Akte der Oberstaatsanwaltschaft übermittelt, damit ggf. ein Rechtsmittel eingelegt werden kann.“

Diese Bestimmung wurde jedoch später aufgrund des durch Art. 4 des Gesetzes mit der Nr. 6572 vorübergehend eingefügten Art. 9 des Anwendungsgesetzes der türkischen Strafprozessordnung bis zum Jahre 2020 verlängert. Der Art. 9 lautet wie folgt: 1 2

Rechtwissenschaftliche Fakultät der Özyeg˘ in Universität, Istanbul/Türkei. BGBl 15. 07. 2005 – Nr. 25876.

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„Bis zum 31. 12. 2019 nimmt der Staatsanwalt an den Verhandlungen des Strafgerichts nicht teil; bezüglich der Teilnahme wird die Stellungnahme des Staatsanwalts nicht eingeholt. Jedoch, wenn die Entscheidung zu einer Inhaftierung oder einer Freilassung führen sollte, wird die Akte der Oberstaatsanwaltschaft übermittelt, damit ggf. ein Rechtsmittel eingelegt werden kann.“3

Anzumerken ist, dass die Gerichte in erster Instanz sowohl in der aufgehobenen als auch in der neueren Fassung der türkischen Strafprozessordnung von 2005 die zu beurteilenden Taten hinsichtlich der Schwere und der Art der Tat in drei Kategorien unterteilt haben. Die Straftaten wurden in der aufgehobenen Fassung von 1926 und in der türkischen Strafprozessordnung mit der Nr. 765 in Verbrechen, Vergehen und Ordnungswidrigkeiten gegliedert und parallel hierzu wurden das Schwurgericht, das Landgericht und das Amtsgericht gegründet. Nach einiger Zeit hat die ältere Fassung der türkischen Strafprozessordnung die Strafbarkeitskategorie des Vergehens aufgehoben. Die Gerichte hatten diese Straftaten hinsichtlich der Art und der voraussichtlichen Höhe der Strafe beurteilt. Die einfachen Straftaten wurden vom Amtsgericht für Strafsachen, schwere Taten vom Schwurgericht und die, die nicht unter diesen beiden Kategorien fielen, vor dem als „tatsächliches (primäres)“ Strafgericht gesehenen Landgericht verhandelt. Die neue Fassung der tStPO vom 2005 beinhaltet nur noch eine Art der Straftat: Das Verbrechen. Die Ordnungswidrigkeiten sind durch ein separates Gesetz des Verwaltungsrechts geregelt, jedoch wurde dies nicht wie im deutschen Recht als Ordnungswidrigkeitengesetz erlassen. Im neuen tStPO-System ist das Amtsgericht für Strafsachen für einfache Straftaten, das Schwurgericht für schwere Straftaten und für die übrigen Straftaten das Landgericht für Strafsachen zuständig. Nach der Abschaffung der Amtsgerichte für Strafsachen (und der vorübergehend tätigen Staatssicherheitsgerichte und der sonderberechtigten Schwurgerichte) existieren derzeitig in der Türkei (mit der Ausnahme des Militärgerichtssystems) als erstinstanzliches Gericht einige besondere Gerichte (z. B. Jugendgericht, Gericht für Geistiges Eigentum etc.) und zwei allgemeine Gerichte: Schwurgerichte und für einige wenige Straftaten Besondere Schwurgerichte und für die übrigen Straftaten die Landgerichte für Strafsachen. Sowohl in der aufgehobenen tStPO als auch in der neuen tStPO von 2005 wurde bestimmt, dass der Staatsanwalt an den Verhandlungen der Amtsgerichte für Strafsachen nicht teilnehmen wird. Mit der Änderung der Art. 8, 9, und 104 des Gesetzes über die Gründung, Aufgabe und Zuständigkeit der Gerichte in der 1. Instanz und der bezirklichen Berufungsgerichte vom 26. 09. 2004 mit der Nr. 5235 und des Art. 48 des Gesetzes vom 18. 06. 2014 mit der Nr. 6545 wurden die Amtsgerichte für Strafsachen abgeschafft.5 Demzufolge nehmen die Staatsanwälte in der derzeitig in der 3

Kritisch zu diesem Gesetz siehe: Ünver, Yener/Hakeri, Hakan: Das Strafprozessrecht, 10. Auflage, Ankara 2015, S. 207. 4 BGBl 07. 10. 2004 – Nr. 25606. 5 Mit der Abschaffung dieser Gerichte wurden stattdessen Amtsgerichte für Strafsachen gegründet, wobei diese in beschränkten Bereichen zuständig sind.

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Türkei existierenden Hauptverhandlungsphase der Jugendgerichte und der Landgerichte nicht teil. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Staatsanwälte sowohl an den vor diesen Gerichten als auch vor den anderen Gerichten verhandelten Prozessen im Ermittlungs- sowie Zwischenverfahren teilnehmen.

III. Entscheidungen der Oberen Gerichte Das türkische Verfassungsgericht hat zu diesem Themenbereich zwei ähnliche Entscheidungen getroffen. In der zunächst zu erwähnenden ersten Entscheidung hatten zwei Bezirksgerichte (das 4. Landgericht für Strafsachen Mersin und das 28. Landgericht für Strafsachen Bakırköy) sich mit dem Antrag auf Aufhebung der Bestimmung, dass die Staatsanwälte an den Verhandlungen der Landgerichte für Strafsachen nicht teilnehmen dürfen, an das türkische Verfassungsgericht gewandt. Begründet haben sie dies damit, dass diese Bestimmung gegen die Art. 2 (Rechtsstaat), Art. 10 (Gleichheit vor dem Gesetz), Art. 36 (Rechtssuchefreiheit), Art. 38 (Grundlagen zur Straftat und Strafzumessung), Art. 138 (Unabhängigkeit der Gerichte) und Art. 141 (Öffentlichkeit der Verhandlungen und Urteilsbegründung) der türkischen Verfassung verstoße. Die zweite Entscheidung wurde aufgrund eines Antrags eines anderen Gerichts (1. Landgericht für Strafsachen C¸ankırı) in gleicher Richtung getroffen. Dieses Gericht behauptete, dass diese Regelung gegen die Art. 2 (Rechtsstaat), Art. 10 (Gleichheit vor dem Gesetz), Art. 36 (Rechtssuchefreiheit), Art. 90 (Ratifikation Völkerrechtlicher Verträge), Art. 141 (Öffentlichkeit der Verhandlungen und Urteilsbegründung) und Art. 142 (Gründung der Gerichte) der Verfassung verstoße. Beide Anträge wurden von dem türkischen Verfassungsgericht mit der Begründung, dass das angefochtene Gesetz nicht gegen die Verfassung verstoße, einstimmig zurückgewiesen. 1. Die Begründungen der Bezirksgerichte und des türkischen Verfassungsgerichts, die die Grundlage der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 19. 01. 2012 waren6 Das 4. Landgericht für Strafsachen Mersin wies darauf hin, dass der Staatsanwalt nicht nur Beweise gegen den Beschuldigten, sondern auch für diesen sammele (Art. 160 Abs. 2 tStPO). Mit der neuen Bestimmung würde der Staatsanwalt über die Entwicklungen in der Verhandlung und den Verlauf des Verfahrens keine Kenntnis erlangen. Der Art. 188 Abs.1 tStPO verpflichtet den Staatsanwalt zur Teilnahme an den Verhandlungen und nach Art. 220 tStPO muss das Verhandlungsprotokoll die Identitätsinformationen des Staatsanwalts beinhalten. Die Systematik der tStPO 6 Das Verfassungsgericht, 19. 01. 2012, E. 2011/43, K. 2012/10 (RG.: 05. 04. 2012., Nr. 28225).

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sieht vor, dass für ein Strafverfahren neben der Verteidigung und dem Entscheidungssubjekt auch der Staatsanwalt teilnehmen muss; anderenfalls ist die Annahme eines fairen und verlässlichen Gerichts schwierig. Das Verfassungsgericht hat in einer seiner Entscheidungen7 angemerkt, dass hinsichtlich des Gerechtigkeitsbegriffs und eines fairen Verfahrens These, Antithese und Synthese voneinander untrennbar sind. Dass die Anklage im Ermittlungsverfahren seitens des Staatsanwalts verfasst wird, ist nicht ausreichend; der Staatsanwalt muss auch im Hauptverfahren tätig werden. In der Praxis kann der Staatsanwalt durch seine Anwesenheit in der Verhandlung zu der Beweiswürdigung und der Urteilsfindung beitragen. Hierbei kann nicht nach der Schwere der Tat unterschieden werden. Die vorübergehende Regelung über die Nichtteilnahme eines Staatsanwalts an den Verhandlungen des Landgerichts für Strafsachen führt zudem zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Prozessen. Das 28. Landgericht für Strafsachen Bakırköy hat ebenfalls die Bestimmung beim Verfassungsgericht angefochten, wonach ein Staatsanwalt am Hauptverfahren der Landgerichte für Strafsachen nicht teilnehmen darf. Außerdem wird dem Staatsanwalt das Recht erteilt, gegen die Entscheidungen hinsichtlich der Festnahme und der Freilassung den Rechtsweg zu beschreiten; hierfür wird die Akte der Oberstaatsanwaltschaft zugesendet. Die Nichtteilnahme des Staatsanwalts an der Verhandlung spricht gegen das Wesen des Prozessbegriffs, wonach es durch das Anhören beider Parteien zu einem Urteil kommen sollte. Die Nichtteilnahme eines Staatsanwalts in der Verhandlung wird zu einem wichtigen Verfahrensfehler führen. Es ist darauf hinzuweisen, dass durch die Weiterleitung der Akte bei einer Entscheidung bzgl. der Freilassung oder Festnahme zur Staatsanwaltschaft im Grunde nicht das Recht der Rechtsmitteleinlegung bezweckt wird, sondern dies eher als eine Bestätigungseinholung seitens der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der gerichtlichen Entscheidung zu verstehen ist. Dies wurde in der Praxis ohnehin von den Staatsanwälten formell falsch angewendet; nunmehr wird diese Falschanwendung gesetzlich verankert. Die Teilnahme des Staatsanwalts an der Verhandlung stellt eine Notwendigkeit hinsichtlich eines fairen Verfahrens und der Einhaltung internationaler Verträge dar. Das Recht, sich an die Justizbehörden zu wenden, und die Freiheit zur Rechtssuche, die Behauptung, in seinen Rechten verletzt zu sein, und die Verteidigung sind voneinander untrennbare Rechte. Für ein gerechtes Verfahren muss ein streitiges Verfahren durchgeführt werden. Für ein streitiges Verfahren hingegen ist die Teilnahme eines Staatsanwalts, dessen Beweisanträge, die Diskussion über die Beweise, die eine andere Partei eingeführt hat, und dessen Meinungsäußerung erforderlich. Des Weiteren verstößt die Nichtteilnahme eines Staatsanwalts an der Verhandlung gegen die erforderliche Gleichheit zwischen der Anklagebehörde und der Verteidigung. Der Staatsanwalt schützt die öffentliche Ordnung und die Harmonie; hierfür muss der Staatsanwalt nicht nur am Ermittlungs-, sondern auch am Hauptverfahren teilnehmen. Das neue türkische Strafverfahrenssystem beinhaltet keine Norm über die Beweisermittlung des Richters von Amts wegen; vielmehr bleibt der Richter un7

Das Verfassungsgericht, 20. 03. 2002, E. 2000/48, K. 2002/36.

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parteiisch und passiv. Aus diesem Grund muss der Staatsanwalt am Hauptverfahren aktiv teilnehmen. Wenn der Staatsanwalt nicht in der Verhandlung anwesend ist und aus diesem Grund keine weiteren Beweisanträge stellen kann und das Ermittlungsverfahren nicht gut verlaufen ist, wird das Verfahren lücken- und demnach fehlerhaft durchgeführt. Falls der Staatsanwalt nicht in der Verhandlung ist, sind nur zwei Parteien miteinander konfrontiert, nämlich der Richter und der Angeklagte, und führen das Verfahren. Die Einsparung einer Anzahl an Staatsanwälten rechtfertigt nicht die Zurückziehung der Staatsanwälte von den Verhandlungen. Dass die Amtsgerichte für Strafsachen (in der Vergangenheit) die einfachen Sachen verhandelt haben, oder die Entscheidungen der Amtsgerichte für Strafsachen, die ohne die Teilnahme eines Staatsanwalts getroffen wurden, seitens des Europäischen Gerichtshofs nicht als Verstoß angesehen worden sind, zeigt nicht die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs. Falls dieses Problem dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden sollte, würde die Türkei verurteilt werden und Schadensersatz leisten müssen. Nicht korrekt ist auch die Ansicht, die nachträgliche Versendung der Akte seitens des Gerichts bei Entscheidungen hinsichtlich von Festnahme oder Freilassung könnte auf eine höhere Stellung des Staatsanwaltes gegenüber dem Gericht hindeuten. Bei dieser Vorgehensweise würde der Staatsanwalt sozusagen die Entscheidung des Gerichts bestätigen oder sie nicht bestätigen. Derzeitig wird in der Praxis die Gerichtsentscheidung dem Staatsanwalt vorgelegt und dieser muss eine Erklärung, dass er die Akte gesehen hat, auf der Akte vermerken, obwohl dies gesetzlich nicht vorgesehen ist und die Entscheidung lediglich dem Staatsanwalt zugesendet werden müsste. Diese Anwendung der Regelung vermittelt dem Staatsanwalt einen über dem Gericht stehenden Status, was rechtswidrig ist. Durch die neue Bestimmung, die die Nichtteilnahme der Staatsanwälte an den Verhandlungen vorsieht, auch wenn die Teilnahme nur für einen Einwand gegen die Entscheidungen über Festnahmen oder Freilassungen gedacht sein sollte, würde man die rechtswidrige Anwendung gesetzlich verankern. Ein anderer Grund für diese Bestimmung ist, dass in den Sitzungen der HSYK (Das Hohe Gremium für Richter und Staatsanwälte) mit den Richtern und den Staatsanwälten die Staatsanwälte diese Bestimmung beharrlich gewünscht haben; diese fehlerhafte Ansicht wurde dann gesetzlich verankert. Warum wird dem Staatsanwalt nicht nur die Entscheidung, sondern auch die Akte zugesendet, obwohl nur die Entscheidung des Gerichts an die anderen Gerichtssubjekte gesendet wird? Dies verstößt gegen die Prinzipien der Gleichheit, des kontradiktatorischen und des fairen Verfahrens. Die Gründe der ersten Entscheidung des Verfassungsgerichts können wie folgt wiedergegeben werden: Sowohl in der Verfassung als auch in den internationalen Verträgen ist für den Begriff des Gerichts keine formelle Voraussetzung vorgesehen, eine gesetzlich gegründete, unabhängige, unparteiische Institution und ein sicherer zuständiger Verfahrensort werden als Gericht anerkannt. Unter der Voraussetzung der Beachtung dieser Prinzipien ist es möglich, dass der Gesetzgeber nach seinem

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Ermessen die Bildung, Gründung und Arbeitsweise der Gerichte bestimmen kann. Daher verliert ein Gericht nicht allein deshalb seinen Gerichtsstatus, weil kein Staatsanwalt an den Verhandlungen teilnimmt. Die Anklagebehörde übt heute seine Aufgabe hinsichtlich der gemeinsamen Entscheidungsfindung nicht nur durch die Teilnahme an den Verhandlungen aus. Die Staatsanwälte erfüllen ihre Funktionen auch dadurch, dass sie die durch das Ermittlungsverfahren aufgefundenen Beweise vorlegen, für deren Würdigung sorgen, gegen die Entscheidungen einen Rechtsbehelf einlegen. Die Gerichte sind an die seitens der Staatsanwälte vorgelegten Beweise nicht gebunden und sind verpflichtet, von Amts wegen zu ermitteln; auch wenn der Staatsanwalt nicht anwesend sein sollte, ist das Gericht verpflichtet, die Rechte des Angeklagten zu wahren. Der Gesetzgeber kann unter Beachtung der Verfassung das Ermittlungs- und Gerichtsverfahren frei bestimmen. Durch die angefochtene Norm wurde bezweckt, dass das Verfahren effektiver und schneller wird, jedoch wird angenommen, dass damit das Verteidigungsrecht nicht beschränkt wird. 2. Die Begründungen des Verfassungsgerichts und des Bezirksgerichts, die die Grundlage der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 22. 10. 2015 bilden8 Das 1. Landgericht für Strafsachen in C ¸ ankırı ist der Ansicht, dass die Staatsanwälte notwendigerweise (conditio sine qua non) ihre Tätigkeit wahrnehmen, um für ein faires Verfahren, eine effektive Rechtsdurchsetzung und die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung zu sorgen. Mit der angefochtenen Norm wird die Nichtteilnahme der Staatsanwälte an den Verhandlungen des Landgerichts für Strafsachen nahezu dauerhaft. Die Nichtteilnahme des Staatsanwalts schränkt auch das Verteidigungsrecht des Angeklagten ein. In den Verfahren, in denen der Staatsanwalt nicht anwesend ist, wird der Richter uneffektiv sein oder in irgendeiner Weise sich selbst als Staatsanwalt sehen. An den erstinstanzlichen Verhandlungen der Militärgerichte, des Obersten Gerichtshofs, des Militär-Kassationshofs und des Kassationshofs nimmt die Staatsanwaltschaft teil, die Nichtteilnahme des Staatsanwalts an den Verhandlungen des Landgerichts für Strafsachen hingegen wird hinsichtlich derjenigen Fälle, die vor diesen Gerichten verhandelt werden, zu einer Ungleichbehandlung führen. Von der Voraussetzung der Teilnahme der Staatsanwälte für eine gewisse Zeit vorübergehend abzusehen und hierfür keine anderen Maßnahmen zu ergreifen, verstößt gegen das Prinzip des fairen Verfahrens. Der an der Verhandlung nicht teilnehmende und deshalb die Beweise nicht diskutierende Staatsanwalt kann in diesem Fall erst nach der Verhandlung durch die Einlegung eines Rechtsmittels die Beweise erlangen, und in diesen Fällen ist die Beendigung der Verhandlungen in der an sich möglichen Schnelligkeit daher nicht möglich. Diese neue Regelung wird deshalb zu höheren Verfahrenskosten führen. Auch wenn die Nichtteilnahme der Staatsanwälte an den Verhandlungen gesetzlich geregelt wurde, wird diese Norm doch den 8 Das Verfassungsgericht, 22. 10. 2015, E. 2015/9, K. 2015/94 (RG.: 07.11.201., Nr. 29525).

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Erfordernissen eines Rechtsstaats und eines demokratischen Staats nicht gerecht; folglich verstößt diese Norm gegen die Verfassung. Das Verfassungsgericht hat in der zweiten Entscheidung folgende Gründe vorgetragen: Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeute nicht, dass jeder in jeder Hinsicht den gleichen Regeln unterworfen sei. Die Besonderheit der Situation könne für einige Personen oder Personengruppen unterschiedliche Regelungen oder Anwendungen vorsehen. Durch Abs. 4 des Art. 141 der türkischen Verfassung wird bestimmt, dass es „die Aufgabe der Justiz ist, das Verfahren so schnell und so günstig wie möglich zu beenden“. Demzufolge sollen die Verfahren in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werden. Nach diesem Prinzip müssten die Staaten Regelungen treffen, um eine unnötige Verlängerung der Verhandlungen zu vermeiden. Dies sei zugleich ein Muss im Sinne des Prinzips des fairen Verfahrens. Sowohl in der Verfassung als auch in den internationalen Verträgen werde für den Begriff des Gerichts keine besondere formelle Voraussetzung verlangt, ein gesetzlich gegründeter, unabhängiger, unparteiischer und ein sicherer zuständiger Verfahrensort wird als Gericht anerkannt. Im Sinne der Verfassung sei zur Entscheidung eines Rechtsstreits das Vorhandensein eines unparteiischen zuständigen Richters die unabdingbare Voraussetzung für das Bestehen eines Gerichts. Unter Beachtung dieser Grundprinzipien könne der Gesetzgeber die Arbeitsweise des Gerichts festlegen. Um zur Aufgabenerfüllung und zur Ermittlung der Tatsachen beizutragen, sei die Teilnahme der Staatsanwaltschaft an den Verhandlungen nicht notwendig. Diese Aufgabe könne auch dadurch erfüllt werden, dass zum Zweck der Tatsachenermittlung ein Ermittlungsverfahren durchgeführt wird, die Beweise, die für und gegen den Beschuldigten sprechen, dem Gericht vorgelegt werden und ggf. ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen eingelegt wird. Mit der angefochtenen Norm werde bezweckt, das Verfahren effektiver und schneller durchzuführen und zugleich dem möglicherweise auftretenden Mangel an Staatsanwälten auch hinsichtlich der in Kürze aktiv werdenden Regionalen Gerichte vorzubeugen. Dem Staatsanwalt die Möglichkeit zur Meinungskundgabe in der Verhandlung zu erteilen, liege im Ermessen des Gesetzgebers, und falls der Staatsanwalt nicht teilnehmen sollte, verliere das Gericht nicht seinen Status. Auch wenn der Staatsanwalt nicht in der Verhandlung sei, habe das Gericht von Amts wegen die Aufgabe, die Beweise zu würdigen, und müsse sich nicht mit den Beweisen der Staatsanwälte begnügen. Die Richter müssen während des Hauptverfahrens die Rechte des Angeklagten wahren, auch wenn die Staatsanwälte nicht anwesend sind. Die Arbeitsbelastung in den obersten Gerichten sei mit der in den Landgerichten für Strafsachen nicht zu vergleichen. In den Landgerichten sei die Arbeitsbelastung höher und deswegen widerspreche die Nichtteilnahme des Staatsanwalts an der Verhandlung nicht dem Gleichheitsgebot.

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3. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer früheren Entscheidung9 die Nichtteilnahme eines Staatsanwalts in einer Verhandlung nicht als einen Verstoß ansah, wurde in einer späteren Entscheidung10 die Nichtteilnahme eines Staatsanwalts im Strafverfahren als ein Verstoß gegen das Abkommen gesehen.

IV. Beurteilung und Ergebnis Im Strafverfahren sind im Sinne eines fairen Verfahrens und des Rechtsstaatsprinzips drei Parteien unabdingbar: die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung und das Gerichtsorgan. Dies ist aus unterschiedlichen Gesichtspunkten notwendig. Das Wesen der Begriffe der Staatsanwaltschaft und des Gerichts erfordern, dass das Prinzip, dass ohne ein Verfahren keine Verurteilung stattfinden kann, der Öffentlichkeitscharakter des Strafverfahrens, das kontradiktorische Verfahren, die Erhebung von Beweisen und die kollektive Nachweisbarkeit die Aufdeckung der sachlichen Wahrheit ermöglichen. Aufgrund der bereits aufgeführten und von weiteren Gründen ist die Teilnahme der Staatsanwaltschaft an der Verhandlung in Vertretung der Anklagebehörde mit einem oder mehreren Staatsanwälten als ein Subjekt des Verfahrens unabdingbar.11 Die Aufgabe der Staatsanwälte ist nicht nur die Durchführung des Ermittlungsverfahrens und die Einlegung eines Rechtsbehelfs. Die Hauptaufgabe erfüllt ein Staatsanwalt im Hauptverfahren. Denn die Beweisermittlung und die Beweiswürdigung im Verfahren und die Beschaffung von weiteren Beweisen und danach die Prüfung der Beweise und das Vortragen einer abschließenden Beurteilung sind aus der Sicht der Beteiligten im Verfahren die wichtigsten Aufgaben und der wichtigste Beitrag eines Staatsanwalts zum Verfahren. Die Abwesenheit eines Staatsanwalts in der Verhandlung ist hinsichtlich der Entscheidung ein absoluter Revisionsgrund (Art. 289 Abs. 1 tStPO). Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, eine öffentliche Klage zu erheben. In der Lehre wird der Zweck dieses Prinzips dahingehend verstanden, dass dadurch die Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde ohne jegliche Willkür nach den Normen der Strafprozessordnung durchgeführt und gewährleistet wird.12 Die Aufgabe, die Funktion und die Zuständigkeit des Staatsanwalts im Hauptverfahren sind nicht nur seitens des Staates, sondern hinsichtlich jeder direkt oder indirekt betroffenen Person eine Voraussetzung für Gerechtigkeit, stehen im Einklang mit dem Gesetz 9

Siehe EMRG Beschluss vom 25. 06. 1992 – Thorgeir Thorgeirson und Ireland. Siehe EMRG Beschluss vom 27. 04. 2010 – Ozerov und Russia (Anmeldung Nr. 64962/

10

01).

11 12

Ünver/Hakeri: Das Strafprozessrecht, S. 204. Özbek/Veli Özer u. a.: Das Strafprozessrecht, 7. Auflage, Ankara 2015, S. 227.

Ist die Teilnahme eines Staatsanwalts im Strafverfahren überflüssig?

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und sind zudem für ein wissenschaftlich ordentliches Verfahren zwingend erforderlich. Die geringe Anzahl der Staatsanwälte, deren Kostenaufwand oder die Ausreden, dass die Anklage bereits verfasst sei und die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs bestehe, stellen nicht einmal in geringer Form eine Rechtfertigung für die Herausnahme des Staatsanwalts aus der Verhandlung dar. Die Staatsanwaltschaft ist, abgesehen von Bestimmungen in einigen Ländern hinsichtlich bestimmter Straftaten, in den Gesetzgebungen aller ausländischen Staaten nicht nur für das Ermittlungsverfahren zuständig, die Aufgaben und die Zuständigkeit umfassen insbesondere auch das Hauptverfahren. Zum Beispiel: In Deutschland muss ein Sitzungsvertreter die Staatsanwaltschaft in einer Verhandlung vertreten (§ 226 dStPO).13 Nach § 226 Abs. 1 der deutschen StPO wird die Hauptverhandlung in ununterbrochener Gegenwart des Staatsanwalts durchgeführt.14 D. h.: Die Anwesenheit muss ununterbrochen sein. Die Staatsanwaltschaft diskutiert die Beweise, nimmt an den Vernehmungen teil und teilt ihre (endgültige) Meinung nach Einreichung und Vorbringen der Beweise mit.15 Auch wenn es nicht immer derselbe Staatsanwalt ist, muss die Staatsanwaltschaft in der Verhandlung anwesend sein, und soweit es möglich ist, sollte derselbe Staatsanwalt die Staatsanwaltschaft vertreten.16 Denn der Staatsanwalt beobachtet neben der Vertretung in der Verhandlung die Verhandlung auf deren rechtmäßige Durchführung hin und greift ggf. ein. Die Nichtanwesenheit des Staatsanwaltes stellt einen Revisionsgrund dar. Der Staatsanwalt sollte nicht nur durch einen Mittler von der Verhandlung informiert werden, sondern auch körperlich in der Verhandlung anwesend sein. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die körperliche Anwesenheit des Staatsanwalts genügt, sondern er muss zudem in der Lage sein, als Wächter des Rechts den Verlauf des Verfahrens zu kontrollieren und die Prozesse in der Verhandlung mit den übrigen Beteiligten zu verfolgen, sich gegenüber den Anträgen eine Meinung zu bilden und diesbezüglich Stellung zu nehmen.17 In der Schweiz ist die Anwesenheit des Staatsanwalts in den Verhandlungen der Bundes- und Militärverfahren zwingend. Hingegen existiert in den meisten Kantonen (bzw. in kantonspezifischen Verfahren) die Verpflichtung der Teilnahme nur hinsichtlich wichtiger Prozesse, in den übrigen Verfahren gegen minderschwere Delikte ist die Teilnahme an eine Ermessensentscheidung des Staatsanwalts geknüpft.18 In 13 Siehe Volk, Klaus/Engländer, Armin: Grundkurs StPO, 8. Auflage, München 2013, S. 169. 14 Öztürk/Bahri u. a.: Das Strafprozessrecht – Lehrbuch, 9. Auflage, Ankara 2015, S. 615. 15 Beulke, Werner: Strafprozessrecht, 11. Auflage, Fulda 2010, S. 53 und 241. 16 Kindhäuser, Urs: Strafprozessrecht, Bonn 2006, S. 198. 17 Roxin, Claus/Schünemann, Bernd: Strafverfahrensrecht, 27. Auflage, München 2012, S. 51 und 356. 18 Hauser, Robert/Schweri, Erhard/Hartmann, Karl: Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, S. 410.

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den Verhandlungen, die eine ein- oder mehrjährige freiheitsbeschränkende oder -entziehende Strafe vorsehen, ist die Teilnahme des Staatsanwalts erforderlich. Falls es als notwendig erachtet wird, nimmt der Staatanwalt auch bei den übrigen Straftaten an den Verhandlungen teil. Wenn der Staatsanwalt in den Verhandlungen, an denen er teilnehmen muss, nicht anwesend ist, wird die Verhandlung verschoben.19 In Polen wurden einige wichtige Aufgaben der Staatsanwaltschaft bestimmt, und zwar die Rechtsanwendung zu gewährleisten, die Verfolgung der Straftaten (Staatsanwaltsorganisationgesetz, Art. 2) und die Durchführung des Verfahrens und die Teilnahme an ihm. Zudem werden die Staatsanwälte auch außerhalb des Strafrechtes damit beauftragt, die Güter der Gesellschaft zu schützen und zur richtigen Anwendung der Gesetze an einigen Zivil- und Verwaltungsverfahren teilzunehmen.20 In Frankreich ist der Staatsanwalt verpflichtet, sowohl an Verhandlungen des Straf- als auch an den Verhandlungen des Zivil- und Verwaltungsrechts teilzunehmen. Der Staatsanwalt nimmt im Hauptverfahren an den Verhandlungen teil, er oder sein Vertreter stellen ihre Ansicht hinsichtlich der Hauptsache und der Beweise der Antragsgrundlage dar, die Gerichtsentscheidung wird in Anwesenheit des Staatsanwaltes verkündet.21 In Finnland wird die Staatsanwaltschaft als ein Bestandteil des fairen Verfahrensprinzips betrachtet. Die Aufgaben der Staatsanwaltschaft umfassen die Verfolgung des Verfahrens, ihre Meinung hinsichtlich der Straftaten und deren Beweise im Verfahren kundzugeben und das gesamte Verfahren durch den gleichen Staatsanwalt verfolgen zu lassen.22 In Österreich sind die Staatsanwälte in der ersten Instanz und den höheren Instanzen der Gerichte damit beauftragt, den Staat zu vertreten.23 In Ungarn sind die Staatsanwälte ebenfalls verpflichtet, sowohl an den Verhandlungen im Strafrecht als auch in den gesetzlich genannten Fällen im Verwaltungs-, Zivil-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht teilzunehmen.24

19 Jositsch, Daniel: Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich 2009, S. 36 und 171. 20 Paprzycki, Lech: Die Organisation und die Funktionsweise der Staatsanwaltschaftsbehörde in Polen, Änderungsperspektiven (Übersetzt von: Burak C¸elik), Die Staatsanwaltschaft als ein Organ der Justiz, Ankara 2006, S. 28. 21 Tezcan, Durmus¸ : Die Staatsanwaltschaft in Frankreich und Belgien, Die Staatsanwaltschaft als ein Justizorgan, Ankara 2006, S. 35, 36, 38. 22 Rappe, Jukka: Der Status und die Organisation der Staatanwaltschaft in Finnland (Übersetzt von: Burak C¸elik), Die Staatsanwaltschaft als ein Justizorgan, Ankara 2006, S. 45, 49. 23 Hauptmann, Friedrich: Neue Diskussionen und alte Probleme in Österreich (Übersetzung von: Burak C¸elik), Die Staatsanwaltschaft als ein Justizorgan, Ankara 2006, S. 59. 24 Miscolic, Laszlo: Die Staatsanwaltschaft in Ungarn (Übersetzt von: Güçlü Akyürek), Die Staatsanwaltschaft als ein Justizorgan, Ankara 2006, S. 108.

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Auch wenn der Anschein erweckt wird, dass die Rechtslage des türkischen Rechts der im schweizerischen Recht ähnelt, ist die Lage in den beiden Ländern doch sehr unterschiedlich. In der Schweiz ist die Möglichkeit der Abwesenheit eines Staatsanwalts nur in einigen begrenzten Strafverfahren gegeben, wohingegen in der Türkei in Jugendgerichten, Landgerichten für Strafsachen und (bis zur Abschaffung dieses Gerichts im Jahr 2014) auch in Amtsgerichten für Strafsachen der Staatsanwalt an den Verhandlungen nicht teilnimmt. In der Schweiz nehmen die Staatsanwälte, falls es notwendig sein sollte, ausnahmsweise an den Verhandlungen teil, in der Türkei dagegen nicht. In der Schweiz sind die Fälle, in denen die Teilnahme der Staatsanwaltschaft nicht notwendig ist, auf einige einfache Straftaten begrenzt, wohingegen die Anzahl dieser Straftaten in der Türkei sehr hoch ist, und die Landgerichte für Strafsachen das primäre Strafgericht darstellen, und – abgesehen von den für besondere Sachen zuständigen Gerichten – alle Strafsachen vor diesen Gerichten verhandelt werden. Außerdem kann im Rechtswesen eine falsche oder ungerechte Handhabung nicht als Vorbild betrachtet werden. Die hier genannten Gründe zeigen, dass sogar die begrenzte Anwendung in der Schweiz rechtswidrig sind und die Verhandlungen, die ohne einen Staatsanwalt durchgeführt wurden, den Prinzipien eines modernen Rechtsstaates widersprechen. Des Weiteren sollte die nach der Strafprozessordnung getroffene Entscheidung, wie bei den Beweismitteln, kollektiv sein. Auch wenn es sich um ein Justizorgan handelt, kann, ohne einem Beteiligten die Möglichkeit zu geben, seine Ansicht mit der Ansicht eines anderen oder einer Behörde zu vergleichen, nicht von einem die Wahrheit ermittelnden Strafverfahren gesprochen werden. Zusammengefasst sollte es einen These-Antithese-Synthese-Konflikt, also eine Auseinandersetzung geben; die kollektive Meinungsbildungs-Methode sollte angewendet werden. Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit von Ideen kann nur durch Kontradiktion zur Wahrheitsfindung und zu einer kollektiven Entscheidung führen. Eine kollektive Entscheidung erfordert nicht nur eine Gemeinsamkeit zwischen dem Justizorgan bzw. dem Gericht und der Verteidigung, sondern von zumindest drei unterschiedlichen Organen, wovon eines die Staatsanwaltschaft sein sollte.25 Zu Recht ist Keyman der Ansicht, dass die Anwesenheitspflicht des Staatsanwalts eine Konsequenz der Pflicht zur kollektiven Entscheidungsfindung ist. Anders ausgedrückt: Um eine strafrechtliche Entscheidung treffen zu können, muss der Staatsanwalt durch seine Anwesenheit in der Verhandlung der Entscheidung einen kollektiven Charakter verschaffen. Außerdem ist die Durchführung der Verhandlung „von Angesicht zu Angesicht“ die Konsequenz des Erfordernisses, dass die Prozesse vor allen Verfahrenssubjekten stattfinden sollen.26 25

Siehe Keyman, Selâhattin: Die Staatsanwaltschaft in der Strafprozessordnung (Primäre Strafprozessordnung), Ankara 1970, S. 25, 27 bis 32. 26 Keyman: Die Staatsanwaltschaft in der Strafprozessordnung (Primäre Strafprozessordnung), S. 143.

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Das Erfordernis der Anwesenheitspflicht des Staatsanwalts beruht auf verschiedenen Gründen. Nach einer Ansicht27 wird mit dieser Verpflichtung bezweckt, zur Wahrheitsfindung des Gerichts beizutragen. Der Staatsanwalt führt dies mit der Teilnahme an der Beweiswürdigung, der Einführung eines neuen Beweises, dem Schutz der Angeklagtenrechte, der Beobachtung der Einhaltung der formellen Voraussetzungen, der Untersuchung der nichtaufgeklärten Bereiche und mit der Kundgabe seiner Ansicht am Ende des Verfahrens durch. Nach einer anderen Ansicht28 beruht diese Verpflichtung auf dem Erfordernis eines kontradiktatorischen Verfahrens. Das Gericht oder die Verteidigung können das Fehlen der Anklagebehörde nicht ersetzen. Eine dritte Ansicht29 sieht die Aufgabe der Staatsanwaltschaft darin, dass diese das Verfahren im Namen der Öffentlichkeit beobachtet. Im Gegensatz zu heute wurde diese Lage in den 1960er Jahren in der türkischen Lehre heftig kritisiert. Die Abwesenheit der Anklagebehörde im Strafverfahren wurde in der Lehre als ein Problem angesehen. Der Einsatz eines Staatsanwaltes gegen amtsgerichtliche Entscheidungen, an denen der Staatsanwalt nicht teilnahm, wurde als ungenügend betrachtet. Denn die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidungen, an denen der Staatsanwalt nicht teilnahm, würde dieses Problem nicht lösen. Vielmehr wird zum Ausdruck gebracht, dass hiermit nicht die Überprüfung der Entscheidung bezweckt wird, sondern dass die Entscheidung rechtmäßig getroffen wird.30 Wenn der Staatsanwalt nicht in der Verhandlung anwesend ist, findet keine kontradiktatorische Verhandlung statt und es kann nicht davon gesprochen werden, dass aus dem Konflikt zwischen These und Antithese eine Synthese gefolgert wurde. Falls der Staatsanwalt bis zum Ende der Verhandlung nicht anwesend ist, den Verlauf des Verfahrens nicht verfolgt, die Beweise nicht mitdiskutiert und seine diesbezügliche Meinung nicht äußert, die Recht- und Gesetzmäßigkeit der Verhandlung nicht kontrolliert und vor der Fällung der Entscheidung seine Meinung über die Hauptsache nicht mitteilt, kann aus der Zuständigkeit für die Rechtsbehelfseinlegung nicht auf eine Erfüllung der Aufgaben einer Anklagebehörde geschlossen werden.31 Der aufgrund des Art. 1 des Gesetzes mit der Nr. 7186 vom 12. 01. 1959 und des Art. 5 des damals in Kraft gewesenen Gesetzes mit der Nr. 489 über die Organisation der Gerichte eingefügte Absatz wurde geändert.32 Danach wurden in Verhandlungen bei der Abwesenheit des Vernehmungsrichters oder des Staatsanwalts durch eine Entscheidung des Vorsitzenden Richters oder des Richters deren Aufgaben einem 27

Soyaslan, Dog˘ an: Das Strafprozessrecht, 4. Auflage, Ankara 2010, S. 184. Karakehya, Hakan: Das Strafprozessrecht, 1. Auflage, Ankara 2015, S. 519. 29 Eryilmaz, Mesut Bedri: Die Strafprozessrechts-Kurse, Ankara 2012, S. 389. 30 Keyman: Die Staatsanwaltschaft in der Strafprozessordnung (Primäre Strafprozessordnung), S. 65. 31 Keyman: Die Staatsanwaltschaft in der Strafprozessordnung (Primäre Strafprozessordnung), S. 66 und insbesondere S. 258 – 262; Taner, Tahir: Formelle Strafprozessordnung, Istanbul 1955, S. 44. 32 Siehe RG: 22. 01. 1959, Nr. 10115. 28

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Oberjustizfachangestellten übertragen, sodass er diese Aufgaben gemäß den allgemeinen Bestimmungen durchführte. Abgesehen von der Ungeheuerlichkeit, dass die Zuständigkeit eines Vernehmungsrichters statt dem Staatsanwalt dem Oberjustizfachangestellten übertragen wurde und dieser nach den allgemeinen Grundsätzen dessen Aufgabe erfüllte (auch wenn der Grund dieser Bestimmung der Mangel an Staatsanwälten oder das Ziel der Kostenersparnis war), ist dies keinesfalls akzeptabel gewesen. Sowohl die Regelung nach dem Gesetz mit der Nr. 374833 (Art. 2) vom 20. 12. 1939 als auch die nach der bis zum Jahre 2005 in Kraft gewesenen türkischen Strafprozessordnung und nach den bis vor kurzem geltenden Bestimmungen der tStPO, wonach bei Abwesenheit des Amtsgerichtsrichters der Landgerichtsrichter für diesen tätig wurde, und bei Abwesenheit des Landgerichtsrichters der Amtsgerichtsrichter diesen vertrat, sind gerade noch vertretbar gewesen. Zwar ist bereits diese Regelung mit dem natürlichen Richterprinzip nicht vereinbar, aber, wenn im konkreten Prozess Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht beeinflusst werden, mag diese Bestimmung noch in gewisser Weise tolerierbar sein. Jedoch ist die Vertretung eines Staatsanwalts oder eines Richters seitens eines Oberjustizfachangestellten in einer Verhandlung keinesfalls akzeptabel. Auch wenn dies gesetzlich bestimmt wurde, ist dies, im Hinblick auf den Begriff eines Gerichts, das Prinzip des fairen Verfahrens und des Prinzips eines kontradiktorischen Verfahrens rechtswidrig. Gegen die oben genannte durch den Art. 5 des Gesetzes mit der Nr. 469 in das Gesetz mit der Nr. 981 eingefügten Absatzes erfolgte Änderung wurde mit der Begründung, dass diese gegen die Verfassung verstoße, beim Verfassungsgericht eine Anfechtungsklage eingelegt. Das Verfassungsgericht hat diese mit einer mehrheitlich getroffenen Entscheidung34 zurückgewiesen. Die Begründung des Gerichts war, dass die Eröffnung einer Anfechtungsklage hinsichtlich der betroffenen Norm im konkreten Fall anwendbar sein müsste und der Antrag seitens eines Gerichtes gestellt werden müsste; wohingegen diese Anfechtungsklage (aufgrund eines Verfassungsverstoßes) von einem Richter, der einen Haftbefehl erlassen hatte, gestellt wurde und dieser diese Zuständigkeit nicht besitze. Ein beteiligter Richter, der eine Gegenstimme abgab, argumentierte nicht hinsichtlich der Hauptsache, sondern dazu, ob dieses Verfahren vor dem Verfassungsgericht geführt werden kann oder nicht (also nicht bzgl. des Inhalts, sondern nur formell). Aufgrund derselben Norm wurde noch ein weiterer Antrag beim Verfassungsgericht gestellt und das Verfassungsgericht hat diesmal entschieden35, dass die Bestimmung wonach „in Abwesenheit des Staatsanwaltes oder wenn dessen Stelle frei wird, die Aufgabe des Staatsanwalts den Oberjustizfachangestellten übertragen wird, und diese den Staatsanwalt vertreten“, verfassungswidrig ist. Die Hauptbegründung des 33

RG: 20 Känunuevvel 1939, Nr. 5394. Das türkische Verfassungsgericht: 26. 02. 1965, E. 1965/7, K. 1965/10 (RG: 15. 06. 1965., Nr. 12032). 35 Das türkische Verfassungsgericht: 27. 12. 1966., E. 1966 – 26, K. 1966 – 47 (RG: 10. 07. 1965., Nr. 12643). 34

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Verfassungsgerichts ist, dass die Staatsanwälte Verpflichtungen haben, Strafverfahren einzuleiten, vor der Entscheidung des Gerichts ihre Meinung zu äußern und ggf. einen Rechtsbehelf einzulegen. Dagegen würden die Oberverwaltungsfachangestellten, ohne eine vergleichbare Verpflichtung zu besitzen, dieselben Aufgaben erfüllen. Dies sei mit der Verfassung nicht vereinbar. Demzufolge wurde sogar in den 1960er Jahren die Abwesenheit eines Staatsanwaltes in den Verhandlungen der Amtsgerichte für Strafsachen nicht mit der Entbehrlichkeit dieser Behörde begründet; vielmehr wurde in einer nichtwissenschaftlichen und pragmatischen Art der Personalmangel und die Kostenersparung zutreffend als Grund vorgetragen.36 Der Mangel an Staatsanwälten wird sowohl in den 60er Jahren als auch heute aber nicht als ein hinreichender Grund erachtet. Dies kann daher nur als Mittel zur Lösung der oben genannten Probleme oder als ein entschuldigender Grund angesehen werden.37 Es sei darauf hingewiesen, dass durch die Abwesenheit eines Staatsanwalts bei den Verhandlungen der Jugend- und Landgerichte für Strafsachen nicht nur die Beweiswürdigung oder die Einführung neuer Beweismittel seitens des Staatsanwalts verhindert wird, sondern auch die abschließende Sachverhaltsbeurteilung des Staatsanwalts nach dem letzten Wort des Angeklagten. Wohingegen dem Angeklagten sowohl die letzte Verteidigungsmöglichkeit als auch das letzte Wort eingeräumt wird. Auch während des Verfahrens haben sowohl der Angeklagte als auch der Richter das Recht, neue Beweise zu ermitteln und einzuführen, hingegen kann die Anklagebehörde, aufgrund der Abwesenheit des Staatsanwalts bei der Verhandlung, von diesem Recht keinen Gebrauch machen. Zudem ist die Bestimmung über das Recht einer späteren Rechtsmitteleinlegung durch die Oberstaatsanwaltschaft sinnlos, wenn der Staatsanwalt nicht an dem Verfahren teilnimmt. Des Weiteren sollte ein weiterer Aspekt näher betrachtet werden, der seitens des Verfassungsgerichts in den Jahren 2012 und 2014 nicht beachtet wurde, und zwar der, dass die Nichtteilnahme eines Staatsanwaltes in der Verhandlung die Strafsachen keinesfalls immer beschleunigen wird. Denn im Unterschied zum Ermittlungsverfahren ist die Annahme, dass die Hauptverhandlung durch den Staatsanwalt verzögert wird, nicht richtig. Die Abwesenheit des Staatsanwaltes in der Verhandlung wird das Verfahren nicht immer beschleunigen; auch wenn dies einmal der Fall sein sollte, kann es keinesfalls als eine Begründung für die Nichtteilnahme angesehen werden. Denn die Beschleunigung kann als solche keinen akzeptablen Zweck darstellen. Richtigerweise ist in angemessener Zeit und unter Einhaltung der strafprozessrechtlichen Bestimmungen ein faires Verfahren durchzuführen.38 Wenn man von einer anderen Ansicht ausgehen wollte, müsste jedes das Verfahren verzögernde Ver36

Siehe Taner: Formelle Strafprozessordnung, S. 43 ve 44; Önder, Mümtaz: Die Position und die Aufgaben der Staatsanwaltschaft in der Organisation, Ankara 1968, S. 11. 37 Karakehya: Das Strafprozessrecht, S. 520. 38 Siehe Ünver, Yener: Die Schnelligkeit des Strafverfahrens oder die Gerechtigkeit in einer angemessenen Zeit? Aktuelle Juristische Zeitschrift, 2015, Nr. 12, Band 144, S. 18 – 23.

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fahrenssubjekt von der Verhandlung ausgeschlossen werden; doch wenn man dieser Ansicht folgen würde, könnte die Teilnahme des Angeklagten und seines Verteidigers an der Verhandlung nicht erklärt werden. Außerdem ist nicht nachweisbar, dass die Hauptverhandlung seitens der Staatsanwälte und der Gerichte etwa im Vergleich mit den Sachverständigen und den Verteidigern verzögert würde. Weiterhin ist der Vorwand, dass diese Änderung zur Erreichung eines schnelleren Verfahrens eingeführt wurde, eine fatale Herangehensweise. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch die Beeinträchtigung des Strafverfahrens durch die Verhinderung der Teilnahme der Staatsanwaltschaft an der Verhandlung, ohne die sachliche Wahrheit zu ermitteln, ohne im Hauptverfahren ein neues Beweismittel zu suchen oder ohne über die vorhandenen Beweise die Ansicht des Staatsanwalts einzuholen, ein Verfahren schnell, fair und richtig durchgeführt wird. Die Nichtteilnahme eines Staatsanwaltes an der Verhandlung beseitigt nicht nur die Möglichkeit einer kollektiven Entscheidungsfindung, sondern beschädigt auch die Struktur einer einheitlichen Prozessbehörde (Gericht + Verteidigung + Anklage). Aus diesem Grund ist, wie das Verfassungsgericht in seiner älteren Entscheidung zu Art. 1 des Gesetzes mit der Nr. 7188 entschied, die Rechtslage, wonach in den Verhandlungen, an denen der Staatsanwalt nicht teilnahm, der Vorsitzende Richter oder Richter nach seinem Ermessen einem Oberjustizfachangestellten die Befugnis zur Vertretung des Staatsanwaltes erteilte, als verfassungswidrig und für nichtig erklärt worden39, und daher ist auch die Bestimmung, die die Nichtteilnahme eines Staatsanwaltes an der Verhandlung vorsieht, rechtswidrig. Auch der Mangel an Staatsanwälten liefert keine hinreichende Begründung. Diese für mehrere rechtswidrige Anwendungen verantwortliche Begründung wird, in der Türkei in den letzten 40 Jahren immer erneut wiederholt. Wenn man jedoch die Anzahl der Juristischen Fakultäten und deren Absolventen in Betracht zieht, könnte man, wenn der Wille dazu vorhanden wäre, diesen Mangel innerhalb von 6 Monaten beheben. Falls die Politiker genügend Richter und Staatsanwälte beschäftigen möchten, gibt es derzeit mehr als hundertmal so viele Juristen, als dafür gebraucht würden. In der im Jahr 2005 in Kraft getretenen tStPO wurde die Gründung von Regionalgerichten anerkannt. Obwohl inzwischen fast 10 Jahre vergangen sind, wurden diese Gerichte nicht gegründet, und die im Zuständigkeitsbereich dieser Gerichte liegenden Rechtsmittel der Berufung und dementsprechend die diesbezüglichen Normen der tStPO werden nicht angewendet. In den letzten 10 Jahren wurden sowohl hinsichtlich dieser Gerichte als auch hinsichtlich der Einstellung von neuen Richtern und Staatsanwälten keine ernsthaften Vorbereitungen getroffen. Ich hoffe, dass dies nicht ebenfalls als Vorwand für die Verlängerung der vorübergehenden Bestimmung hinsichtlich der Staatsanwälte verwendet wird, oder dadurch in diesen oder anderen Gerichten ein seltsames Strafverfahrensmodell ohne die Teilnahme eines Richters oder Staatsanwalts erzeugt wird. 39 Siehe Keyman: Die Staatsanwaltschaft in der Strafprozessordnung (Primäre Strafprozessordnung), S. 143.

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Eine weitere Seltsamkeit ist, dass, obwohl die eigentliche Aufgabe der Staatsanwälte im Strafverfahren liegt, diese von den Strafverfahren ausgeschlossen werden, jedoch auf der anderen Seite – gesetzlich bedingt – als Staatsanwälte an den Verhandlungen des Zivilverfahrens teilnehmen. Diese Tatsache zeigt, dass die in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts vorgebrachten Argumente begründet und rechtmäßig sind. Das Gesetz über Richter und Staatsanwälte wurde in den letzten Jahren des Öfteren verändert. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Änderungen einen politischen Zweck verfolgen. Da schädliche Folgen gesehen wurden, wurde das Gesetz immer wieder geändert. Es wurden sogar ältere Regelungen wieder eingeführt. Das Hauptproblem ist dabei die politische Einmischung in die Justiz. Als sekundäres Problem wird die Kostenreduzierung angesehen. Diesbezüglich wird die Notwendigkeit eines fairen und realistischen Strafverfahrens nicht beachtet. Dies zeigt eine zunehmend in diese Richtung anwachsende Erosion des Rechtsverständnisses. Natürlich sollte gefragt werden – worauf weder das Verfassungsgericht noch der Gesetzesgeber eine Antwort gegeben haben –, weshalb die Regelung über die Nichtteilnahme des Staatsanwalts an den Verhandlungen im Strafverfahren nur eine vorübergehende ist. Eine weitere Frage betrifft die widersprüchliche Handhabung dieser Bestimmung, d. h. weshalb sie nur für die Verhandlungen des Landgerichts gilt und für die anderen Gerichte nicht. Wenn die Nichtteilnahme des Staatsanwalts an den Verhandlungen rechtmäßig ist, weshalb wurde diese Bestimmung nur vorübergehend eingeführt und weshalb wird ihre Anwendbarkeit immer wieder verlängert? Weshalb wurde diese vorübergehende Anwendung nicht für die Amtsgerichte für Strafsachen eingeführt oder weshalb wird diese Bestimmung für die Jugendgerichte nicht als vorübergehend abgeändert? Weshalb muss ein Staatsanwalt an den Verhandlungen des Schwurgerichts teilnehmen? Weshalb ist diese Bestimmung nur vorübergehend? Das türkische Verfassungsgericht hat seit Jahren bei ähnlichen Themen in fast allen seinen Entscheidungen darauf hingewiesen, dass „dieses Thema im Ermessen des Gesetzgebers liegt und der Gesetzgeber im Strafrechtsbereich nach seinem Willen eine Regelung treffen kann“. Das Verfassungsgericht sollte dieses Verständnis und dessen Begründung aufgeben. Diese absurde Regelung widerspricht den nationalen und den internationalen Gesetzesbestimmungen, den Grundprinzipien des Strafrechts und den Bestimmungen der Verfassung, die den Gesetzesgeber hinsichtlich des Strafrechts begrenzen. Dass etwas Gesetz ist, bedeutet nicht, dass es auch Recht als solches ist. Denn dass eine Bestimmung gesetzlich verankert wird, bedeutet nicht, dass diese Bestimmung auch rechtmäßig ist. Die Fehler in gesetzlichen Ungerechtigkeiten können für das moderne Strafrechtsverfahren nicht verdeckt werden. Der Begriff einer Gerichtsentscheidung ist keine Institution, die ein oder mehrere Richter allein oder nur ein Angeklagter und ein Strafverteidiger treffen könnten. Das Gericht ist eine der Kräfte, die die Entscheidung treffen. Die Beteiligung des Staatsanwalts an der Entscheidung ist – wie die Beteiligung des Angeklagten und der Strafverteidiger – notwendig, um die Existenz einer Entscheidung akzeptieren zu können.

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Die oben aufgeführten und in jeder Hinsicht zu kritisierenden Entscheidungen (aus den Jahren 2012 und 2014) des Verfassungsgerichts sind positiv betrachtet in gleicher Richtung gefallen. Im Gegensatz zu vielen Ansichten in der Lehre, auch wenn die neue tStPO wie die ältere Fassung einer offenen Norm Raum gibt, wird immer noch den Gerichten in der Hauptverhandlung die Möglichkeit einer Beweisermittlung von Amts wegen einräumt. In der türkischen Literatur wird dies aufgrund des Fehlens einer entsprechenden Norm in der neuen tStPO zwar verneint und die Auffassung vertreten, dass die Beweisermittlung im Ermittlungsverfahren seitens der Staatsanwaltschaft vorgenommen wird. Zudem wird die These aufgestellt, dass im Hauptverfahren keine Beweise ermittelt werden, sondern lediglich das Gericht eine Entscheidung trifft. Diese Auffassung ist jedoch fehlerhaft; für die Fehlerhaftigkeit sind viele Begründungen vorhanden.40 Jedoch ist dieses Problem nicht direkt mit unserem Thema verbunden, sodass es genügt, am Rande darauf hinzuweisen. Der türkische Gesetzgeber sollte gewährleisten, dass der Rechtsstaat für die Individuen eine Rechtsgarantie für ein faires Verfahren schafft und diese achtet. Als Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Prinzips sind die Teilnahme der Staatsanwälte an den Verhandlungen, ihre ausnahmslose Teilnahme in jedem Strafverfahrensstadium und ihre aktive Tätigkeit notwendig. Zum einen bringen uns die fehlerhaften Bestimmungen des Gesetzesgebers hinsichtlich des zukünftigen Strafverfahrens zum Verzweifeln. Zum anderen führen die unterschiedlichen Anwendungen durch die Justizorgane in ähnlichen Fällen dazu, dass die Erwartung, dass „von Fehlern in kürzester Zeit Abstand genommen werden sollte“, hinsichtlich des türkischen Strafverfahrensrechts ein unrealistischer Traum ist. In letzter Zeit wurde jemand, der mit dem Thema dieses Beitrags in indirekter Weise betroffen gewesen ist, von dieser ungerechten Anwendung betroffen. In einem Strafverfahren, in dem ihm eine schwere Straftat vorgeworfen wurde, wurde der Angeklagten zu den Vernehmungen nicht eingeladen. Er wurde bei einem anderen Gericht vorgeladen und dort in einem Raum mit Hilfe einer Bildund Tonübertragung vernommen und die Verhandlung wurde in dieser Weise fortgeführt. Der Angeklagte erfuhr sowohl die Fragen hinsichtlich des Tatvorwurfs als auch die diesbezügliche Beantwortung der Fragen nicht im Verhandlungssaal, sondern vom Bildschirm aus. Hier ist auch nicht die Rede von jemandem, der von einem Zeugenschutzprogramm Gebrauch macht, oder von einem Angeklagten, der von der Vernehmung (tStPO Art. 58, 196/2 und Zeugenschutzgesetz Art. 5 ff.) oder von der Verpflichtung zur Teilnahme an der Verhandlung auf Gerichtsbeschluss frei gestellt wurde (tStPO Art. 196), oder von Vernehmungen von sich in einem ausländischen Staat aufhaltenden Zeugen oder Sachverständigen (tStPO Art. 180), oder von der Aufnahme einer Vernehmung eines schutzwürdigen Minderjährigen durch ein technisches Mittel (tStPO Art. 52), sondern von Angeklagten, denen eine hohe Strafe aufgrund eines schweren Tatvorwurfes droht und die nicht flüchtig sind. Diese werden in 40

Siehe Ünver/Hakeri: Das Strafprozessrecht, S. 63 – 65.

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ein Gericht in einer anderen Stadt verbracht und dort vor den Bildschirm gerufen, und mithilfe dieses technischen Mittels stehen sie dann vor dem Gericht. In den letzten Jahren wenden die Gerichte die Vorschrift des Art. 196 Abs. 4 tStPO an, der nur für beschränkte Fälle und unter Vorliegen bestimmter zusätzlicher Voraussetzungen gilt. Diese Bestimmung (tStPO Art. 194 / 4) sieht die Möglichkeit vor, Angeklagte, die sich außerhalb des zuständigen Gerichtsbezirks aufhalten, mithilfe eines technischen Mittels an der Verhandlung teilnehmen zu lassen. Jedoch wird diese Bestimmung in ungerechter und fehlerhafter Weise auf jeden Angeklagten angewendet. Die Teilnahme des Angeklagten an der Verhandlung ist sowohl für ihn selbst ein Recht als auch hinsichtlich der Gesellschaft, des Staates und der anderen Verfahrenssubjekte sowie der am Strafverfahren Teilnehmenden eine Pflicht des Angeklagten. Sowohl für die Beweis- und Tatsachenermittlung als auch für die Individualisierung der Strafe muss der Angeklagte während der Verhandlung unbedingt anwesend sein. Die letztgenannte rechtswidrige Anwendung und die oben erwähnten beiden Entscheidungen des Verfassungsgerichts sollten im türkischen Strafverfahren zukünftig nicht dazu führen, dass das Verfahren aktenmäßig durchgeführt und nur durch einen allein im Zimmer sitzenden Richter entschieden wird. Zu diesem Alptraum sollte es nicht kommen. Daher sollte von diesem Fehler, ohne Zeit zu verlieren, Abstand genommen werden.

Zu Strafrechtspolitik, Strafvollstreckung und Kriminologie

Evidenzbasierte Kriminalpolitik in punitiven Zeiten? Wolfgang Heinz

I. Vorbemerkung 2007 durfte ich auf Einladung des verehrten Jubilars in der Kansai Universität einen Vortrag halten über „Mehr und härtere Strafen = mehr Innere Sicherheit! Stimmt diese Gleichung?“1 Gestützt auf die Ergebnisse der Rückfall- und Wirkungsforschung in Deutschland begründete ich meine These von der „Austauschbarkeit der Sanktionen“. In der sich anschließenden Diskussion wurde vor allem nachgefragt, wie angesichts einer immer punitiver werdenden Grundhaltung sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik diese empirisch gestützte Einsicht vermittelt und auch kriminalpolitisch um- und durchgesetzt werden könne. An die damalige Diskussion will ich in diesem, dem Jubilar gewidmeten Beitrag anknüpfen und sie durch neuere Befunde ergänzen.

II. Punitivität in Japan und in Deutschland 1. Dimensionen von Punitivität Weltweit beobachten schon seit Jahren Strafrechtswissenschaftler und Kriminologen, ob und inwieweit in ihren Ländern eine steigende Punitivität festzustellen ist.2 „Punitivität“, dies hat die Diskussion gezeigt, ist freilich als Begriff vage und mehrdeutig. Denn mit „mehr, härteren oder längeren Strafen“ kann gemeint sein • die Forderung nach Strafverschärfungen im gesellschaftlichen Diskurs, • die Erwartung härterer und/oder längerer Strafen durch die Bürgerinnen und Bürger, • die Neukriminalisierung oder die Verschärfung bestehender Strafvorschriften durch den Gesetzgeber, 1 Veröffentlicht in NOMOS, Kansai University, No 20, 2007, 67 – 89 . 2 Vgl. nur die Nachweise in den drei Bänden von Kury, H.; Shea, E. (eds.): Punitivity: International Developments, vol. 1: Punitiveness – a Global Phenomenon?; vol. 2: Insecurity and Punitiveness; vol. 3: Punitiveness and Punishment, Bochum 2011.

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• die Verhängung von mehr, härteren oder längeren Strafen durch die Gerichte sowie schließlich • Verschärfungen im gesamten Bereich strafrechtlicher Sozialkontrolle, angefangen bei der Polizei bis hin zu Strafvollstreckung und -vollzug.3 Punitivität weist dementsprechend verschiedene Dimensionen auf, • eine gesellschaftliche (öffentliche bzw. veröffentliche Meinung, politische Rhetorik), • eine individuelle (Strafeinstellungen bzw. Straferwartungen der Bevölkerung), • eine legislative (Gesetzgebung) und • eine justizielle (Sanktionierung, Vollstreckung und Vollzug), die mit verschiedenen Indikatoren (mit jeweils eigener Problematik)4 gemessen werden können und müssen und deren internationaler Vergleich schwierig ist.5 2. Strafeinstellungen der Bevölkerung Ida6, Yamanaka7 und Yoshida8 haben über zunehmende Punitivität in Japan berichtet, und zwar auf allen Ebenen. Während aus Japan von einer „immer punitiver werdenden Grundhaltung der Bevölkerung“9 berichtet wird, ist dies für Deutschland 3

Vgl. Heinz, W.: Zunehmende Punitivität in Deutschland – Realität oder Mythos?, in: Rengier, R.; Yamanaka, K. (Hrsg.): Die gegenwärtigen Aufgaben des Rechts in sich ändernden Sozialsystemen, Konstanz 2011, S. 175 f. m.w.N. . 4 Zuletzt Simonson, J.: Problems in Measuring Punitiveness – Results from a German Study, in: Kury/Shea (Fn. 2, vol 1), S. 73 ff. 5 Vgl. z. B. Harrendorf, St.: How to Measure Punitiveness in Global Perspective: What Can be Learned from International Survey Data, in: Kury/Shea (Fn. 2, Vol 1), S. 125 ff. 6 Ida, M.: Der Ruf nach einem schärferen Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft in Japan, in: Festschrift für H. Stöckel, Berlin 2010, S. 361 ff. 7 Yamanaka, K.: Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik, in: Yamanaka, K.: Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, Berlin 2012, S. 395 ff.; ders.: Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik, in: Heinz, W.; Kim, Y.-W. (Hrsg.): Aktuelle Rechtsprobleme in Japan, Deutschland und Korea, Konstanz 2008, S. 171 ff. . 8 Yoshida, T.: Strafrecht, Sanktionen und Einstellungen zu Sanktionen in Japan, in: Kury, H. (Hrsg.): Strafrecht und Kriminalität, Bochum 2004, S. 189 ff.; ders.: Problems Associated with Harsher Sanctioning, in: Kury, H. (ed.): Fear of Crime – Punitivity, Bochum 2008, S. 393 ff.; Yoshida, T.: Punitivity Today in Japan, in: Kury/Shea (Anm. 2, vol 2), S. 453 ff.; Kury, H.; Brandenstein, M.; Yoshida, T.: Kriminalpräventive Wirksamkeit härterer Sanktionen – Zur neuen Punitivität im Ausland (USA, Finnland und Japan), ZStW 2009, S. 190 ff.; Yoshida, T.: „Punitivität“ im japanischen Jugend(kriminal)recht, in: Festschrift für W. Heinz, Baden-Baden 2012, S. 545 ff. 9 Yoshida (2012), S. 561.

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umstritten.10 Die Befunde deuten aber darauf hin, dass entsprechende Tendenzen zumindest bei jungen Menschen bestehen.11 So stellte Streng bei seinen Befragungen von Jura-Studienanfängern fest, dass zwischen 1989 und 2012 „die Zahl der Verfechter des Sicherungsdenkens und der Vergeltungs- bzw. Sühneidee“ stark angestiegen ist. Ferner sind die Strafmaßerwartungen gestiegen. Der Durchschnittswert für das Strafmaß bei einem aus einem Trennungskonflikt heraus begangenen Affekt-Totschlag eines Erwachsenen ist von rd. 75 Monaten Freiheitsstrafe (1989 – 1995) auf rd. 115 Monate in den Jahren 2010 – 2012 gestiegen.12 Für internationale Vergleiche punitiver Einstellungen in der Bevölkerung bietet der Strafmaßvorschlag für den im International Crime Victimisation Survey (ICVS) gebildeten Fall eines 21-Jährigen, der zum zweiten Mal einen Einbruch begangen und ein Farbfernsehgerät gestohlen hat, einen geeigneten Indikator. Die japanische Bevölkerung ist danach nicht nur punitiver als die deutsche, sondern der Trend zu mehr Punitivität ist auch ausgeprägter. Während 2004/05 55 % der Befragten in Japan eine Gefängnisstrafe vorschlugen, waren es in Deutschland nur 19 %.13 Ein aus der vorgeschlagenen Sanktionsart und -höhe gebildeter Punitivitätsindex zeigt an, dass in Japan zunehmend häufiger schwere Sanktionen befürwortet wurden; in Deutschland ging die Befürwortung leichter Sanktionen nur moderat zurück.14 3. Strafgesetzgebung Wie in Japan, so ist auch in Deutschland bei medienrelevanten Straftaten bei führenden Politikern der Ruf nach schärferen Strafgesetzen die Regel. Denn „mit nichts anderem lassen sich Handlungsfähigkeit und scheinbar wirksame Problemlösung so drastisch demonstrieren und durch die Massenmedien vermitteln wie durch eine Verschärfung des Strafrechts, sei es über die Neukriminalisierung, die Erhöhung von Mindest- oder Höchststrafandrohungen oder die unbestimmte und ggfs. lebenslange Verwahrung.“15 10

Heinz (Fn. 3), S. 180 ff. m.w.N. Streng, F.: Zunehmende Punitivität im Jugendstrafrechts – Hintergründe und Konsequenzen, in: DVJJ (Hrsg.): Jugend ohne Rettungsschirm, Mönchengladbach 2015, S. 682 ff. 12 Streng (Fn. 11), S. 682; Streng, F.: Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität im Wandel, Heidelberg 2014., S. 28 ff., 41 ff. 13 Dijk, J. van; Kesteren, J. van; Smit, P.: Criminal Victimisation in International Perspective. Key Findings from the 2004 – 2005 ICVS and EU ICS, Den Haag 2007, S. 149, Tab. 32 . 14 Kesteren, J. van: Public Attitudes and Sentencing Policies Across the World, European Journal on Criminal Policy and Research 2009, S. 35, Tabelle 3. Da Japan und Deutschland an verschiedenen Befragungswellen teilgenommen haben (Japan: 1999 – 2003 und 2004/05; Deutschland 1989 und 2004/05), ist allerdings ein exakter Vergleich schon wegen dieser unterschiedlich großen zeitlichen Abständen nicht möglich. 15 Albrecht, H.-J.: Die Determinanten der Sexualstrafrechtsreform, ZStW 1999, S. 870. 11

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In der Gesetzgebung hat es eine deutliche Verschiebung kriminalpolitischer Grundorientierungen gegeben. Derzeit wäre ein Vorhaben wie die große Strafrechtsreform von 1969 ebenso wenig parlamentarisch mehrheitsfähig wie die JGG-Reform von 1990. Neben strafprozessualen Verschärfungen16 und Neukriminalisierungen17 kam es vor allem im Rechtsfolgensystem zu Verschärfungen und zu einer Erweiterung des Sanktioneninstrumentariums. 1998 wurden durch das 6. StrRG und durch das SexualdelBekG die Mindest- und Höchststrafandrohungen bei zahlreichen Straftatbeständen angehoben, die Prognosevoraussetzungen für die Entlassung aus dem Straf- und Maßregelvollzug zu Lasten der Verurteilten verändert18 und die Voraussetzungen für eine Unterbringung als „gefährlicher“ Täter in Sicherungsverwahrung erheblich erleichtert.19 Seitdem konzentriert sich die Kriminalpolitik zunehmend auf den als gefährlich eingestuften Rechtsbrecher und gewichtet Sicherheitsinteressen gegenüber Freiheitsinteressen neu und deutlich höher. Resozialisierung und Re-Integration treten gegenüber Sicherheitsbelangen zunehmend zurück. Andererseits hat aber der Zwang zu Kompromissen in den jeweiligen Koalitionsregierungen20 in Deutschland bislang einen Teil der in die parlamentarische Beratung eingebrachten

16 Im Strafverfahrensrecht wird teilweise der Wendepunkt schon 1968 gesehen. „Neben Reformen, die in Fortführung der bisherigen Zielrichtung z. B. die Zeugnisverweigerungsrechte stärken und erweitern, finden sich zunehmend solche, die erstens – wenn auch nur in begrenztem Umfang – Regelungen wieder einführen, die bereits im 3. Reich bestanden, zweitens im Zeichen rechtsstaatlicher Verbesserung unseres Strafprozesses vorgenommene Änderungen aus den Jahren bis 1964 wieder beseitigen oder drittens zusätzliche Beschränkungen der Rechte des Beschuldigten oder Machterweiterungen der Strafverfolgungsorgane begründen“ (Rudolphi, H. J.: Strafprozess im Umbruch, ZRP 1976, S. 169). 17 Im materiellen Strafrecht wird zumeist 1975 als Wende von Entkriminalisierungen hin zu kontinuierlichen Neukriminalisierungen angesehen (vgl. Scheffler, U.: Das Reformzeitalter 1953 – 1975, in: Vormbaum, Th.; Welp, J. (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch, Supplementband I: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, Berlin 2004, S. 255, der aber darauf hinweist, dass es schon seit dem 9. StrÄndG 1969 praktisch kein die Strafbarkeit mehr einschränkendes StrÄndG mehr gibt). 18 Diese Regelungen haben in der Wissenschaft überwiegend Ablehnung erfahren (statt vieler Schöch, H.: Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 1. 1998, NJW 1998, S. 1257 ff.), und zwar wegen der Überschätzung prognostischer Möglichkeiten, der irrealen Maßstäbe in § 454 StPO und der zu erwartenden erheblichen Einschränkungen der bedingten Entlassung, namentlich aus dem Maßregelvollzug. 19 Zur Entwicklung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung vgl. Heinz, W.: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionspraxis in Deutschland 1882 – 2012 , S. 23 ff. 20 Die deutschen Regierungen nach 1949 waren fast immer (Ausnahme die CDU/CSUAlleinregierung 1957 – 1961) Koalitionsregierungen, ausnahmsweise – für wenige Wochen – Minderheitsregierungen. Sie waren also immer auf Konsens angewiesen. Die Strafrechtsreform 1969 wurde von der Koalition von CDU, CSU und SPD (Kabinett Kiesinger), das 1. JGGÄndG 1990 wurde von der Koalition von CDU, CSU und FPD (Kabinett Kohl III) beschlossen.

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Verschärfungsvorschläge verhindert, z. B. im Bereich des Jugendstrafrechts.21 Es gab sogar dem Verschärfungstrend entgegengesetzte Änderungen. • Die Opportunitätsvorschriften der §§ 153, 153a StPO wurden 1993 erheblich erweitert, der Katalog der nach § 153a StPO zulässigen Maßnahmen wurde 1998, 1999 und 2000 ausgebaut.22 • 1986 wurde der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in den Katalog der Strafzumessungstatsachen (§ 46 II StGB) aufgenommen; TOA und Schadenswiedergutmachung wurden 1994 als fakultative Strafmilderungsvorschrift ausgestaltet (§ 46a StGB). 1999 wurde die Förderung des TOA strafprozessual verankert (§ 155a StPO) und der TOA in den Katalog von § 153a StPO eingefügt. • Das 2. JGGÄndG 2007 ergänzte das JGG um eine ausdrückliche Bestimmung des Ziels des Jugendstrafrechts (§ 2 I JGG), wonach nicht Vergeltung, sondern Resozialisierung im Vordergrund stehen sollen. Verändert hat sich ferner die Rhetorik des Gesetzgebers. Von den mehr als 100 Novellengesetzen seit Erlass des EGStGB 1974 tragen inzwischen 20 Gesetze das Wort „Bekämpfung“ im Titel, also „… zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität“, „… des illegalen Rauschgifthandels …“, „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ oder „… Bekämpfung gefährlicher Hunde“. Auch daran wird deutlich, wie sich die Wahrnehmung verschoben hat von der „Behandlung des Rechtsbrechers als Person“ hin zu einer „zu beseitigenden Gefahrenquelle“.23 Kennzeichnend ist weiter, dass die Gesetzesvorhaben weder auf die objektive Sicherheitslage eingehen noch Erforderlichkeit und Geeignetheit der Maßnahmen auch nur einigermaßen empirisch gestützt begründen. Der Gesetzgeber begnügt sich in der Regel mit einem Hinweis auf eine seines Erachtens bestehende Notwendigkeit, die Sicherheitslage zu verbessern oder „Schutzlücken“ zu schließen sowie auf (behauptete) Befürchtungen der Bevölkerung. Strafrecht wird primär in den Dienst der Beruhigung der Bevölkerung gestellt. Im Vergleich zu anderen Ländern spielt aber das Thema „Innere Sicherheit“ in Deutschland in Wahlkämpfen – von Ausnahmen in Hamburg und Hessen abgesehen – keine große Rolle. Der Grund hierfür dürfte im politischen Parteiensystem zu sehen 21 Vgl. die Nachweise bei Gebauer, M.: Jugendkriminalrecht – quo vadis? , in: Festschrift für H. Schöch, Berlin/New York 2010, S. 185. 22 Der Ausbau der Zahl der Opportunitätsgründe und der Reichweite der einzelnen Opportunitätsvorschriften ist wegen des Ausbaus der Entscheidungskompetenz der StA bei gleichzeitiger Zurückdrängung der richterlichen Mitwirkung durchaus kritisch zu sehen (vgl. Heinz, W.: Die Staatsanwaltschaft – eine Sanktionsinstanz mit zunehmend ausgebauter, aber regional extrem ungleich gehandhabter und nicht hinreichend kontrollierter Sanktionsmacht, in: Festschrift für H.-H. Kühne, Heidelberg u. a. 2013, S. 213 ff.; zuletzt Deiters, M.: Plädoyer für die Abschaffung des § 153 a StPO und die Einführung eines neuen abgekürzten Verfahrens, GA 2015, S. 371 ff.). 23 Kunz, K.-L.: Die Sicherung als gefährlich eingestufter Rechtsbrecher, in: Barton, St. (Hrsg.): „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“, Baden-Baden 2006, S. 75.

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sein. Eine „harte“ Kriminalpolitik ist wahrscheinlicher in einem Zwei-Parteien-System, wo der Wettbewerb um Wählerstimmen zu einer Konkurrenz um die mehr Sicherheit versprechende Politik führt. In Mehr-Parteien-Systemen wird eine derartige Gefahr vor allem dann gesehen, „wenn starke rechte Parteien … entstanden sind, die insbesondere mit einer Rhetorik der Ausgrenzung von Fremden und Außenseitern den anderen Parteien Mehrheiten streitig machen.“24 4. Sanktionierungspraxis Eine Verschärfung des Strafgesetzes führt nicht automatisch zu einer Verschärfung der Sanktionierungspraxis. Kaum irgendwo sonst in der Rechtsordnung bestehen durch die Weite der Strafrahmen derart große Spielräume für die Praxis. Bei schwerem Raub (§§ 250 II, III StGB) beispielsweise reicht der Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe, bei Wohnungseinbruchsdiebstahl reicht die Spanne von sechs Monaten bis zu 10 Jahren, bei Totschlag schließlich kann das Urteil auf 1 Jahr oder auf lebenslange Freiheitsstrafe lauten. Dass und wie sehr die Praxis diese Spielräume nutzt, zeigt bereits die Entwicklung der Strafenpraxis in den ersten Jahrzehnten nach Inkrafttreten des StGB. 1882, im Jahr des ersten Jahrgangs der Reichskriminalstatistik, entfielen 76,8 % aller verhängten Strafen auf zu vollstreckende Freiheitsstrafen. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ohne jegliche gesetzliche Reform des Sanktionensystems war ihr Anteil auf 45,5 % (1913) zurückgegangen, entsprechend hatte sich der Anteil der Geldstrafe auf 52 % erhöht. Diese Zurückdrängung der stationären, mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktionen setzte sich – abgesehen von den unmittelbaren Nachkriegszeiten nach 1918 und im 3. Reich nach 1933 – fort und wurde durch die Einführung der bedingten Strafen verstärkt. Derzeit wird nur noch bei 7,2 % aller Verurteilten eine stationäre Sanktion (unbedingte Jugend- oder Freiheitsstrafe, Jugendarrest) verhängt (vgl. Abbildung 1). Werden auch noch die Opportunitätseinstellungen berücksichtigt, die 1882 (jedenfalls in der Theorie) alle zur Verurteilung führten, dann dürften gegenwärtig lediglich noch 3,2 % aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein.25

24

Groenemeyer, A.: Punitivität im Kontext – Globale Konvergenzen der Kriminalpolitik oder Pfadabhängigkeit der Konstruktion abweichenden Verhaltens, in: Groenemeyer, A.: Soziale Probleme und politische Diskurse, Bielefeld 2003, S. 69 f.; Tonry, M.: Determinants of Penal Policies, in: Tonry, M.: Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. Chicago [u. a.], 2007, S. 1 ff. 25 Vgl. Heinz (Fn. 19), S. 61, Schaubild 8.

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Quelle: „Die Entwicklung der Strafen im Deutschen Reich seit 1882“, in: Kriminalstatistik für das Jahr 1928, S. 65, 69, Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 384, Kriminalstatistik für die Jahre 1929 bis 1939 (Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 398, 429, 433, 448, 478, 507, 577). Strafverfolgungsstatistik

Abbildung 1: Entwicklung der Sanktionierungspraxis, aber ohne informelle Sanktionen. Deutsches Reich bzw. früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin (FG), seit 2007 FG und Deutschland. Anteile, bezogen auf nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht Verurteilte

Die von etlichen Kriminologen auch für Deutschland vertretene These, die Sanktionierungspraxis sei deutlich punitiver geworden,26 hält der empirischen Prüfung nicht stand. Entgegen den aus der Punitivitätsthese ableitbaren Annahmen zeigt sich:27 • Der Anteil der Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts an den durch die StA erledigten Ermittlungsverfahren ging nicht zugunsten von mehr Anklagen bzw. Strafbefehlsanträgen zurück. • Der Anteil der Einstellungen aus Opportunitätsgründen ging nicht zugunsten von mehr Anklagen bzw. Strafbefehlsanträgen zurück. 26 Vgl. zuletzt Klimke, D.; Sack, F.; Schlepper, Ch.: Stopping the ,punitive turn‘ at the German Border, in: Kury/Shea (Fn. 2, Vol 1), S. 289 ff. 27 Verwiesen wird auf die Analyse bei Heinz, W.: Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland, VI.5 .

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• Innerhalb der Opportunitätseinstellungen wurde nicht vermehrt unter Auflagen eingestellt. • Untersuchungshaft wurde nicht häufiger angeordnet, dies gilt nicht nur insgesamt, sondern auch bei schweren Delikten, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft die Regel ist. • Heranwachsende wurden nicht häufiger nach allgemeinem Strafrecht verurteilt, und zwar auch nicht bei schweren Straftaten. • Der Anteil der zu unbedingter Jugend- oder Freiheitsstrafe Verurteilten hat zwar einen wellenförmigen Verlauf genommen, hat aber in den letzten 30 Jahren insgesamt nicht zugenommen. • Die Raten der zur Bewährung ausgesetzten Strafen sind nicht zurückgegangen. • Allerdings hat der Anteil der Verurteilten mit unbedingt verhängten Freiheits-/Jugendstrafen von längerer Dauer zugenommen. Dies ist aber kein zweifelsfreier Indikator für zunehmende Punitivität. Denn wegen der zunehmenden Ausfilterungen leichter Kriminalität durch Opportunitätseinstellungen stieg der Anteil der schweren, eher mit stationären Sanktionen geahndeten Formen der Kriminalität unter den Verurteilten an. Wird deshalb der verzerrende Einfluss zunehmender Diversionsentscheidungen berücksichtigt, indem die Anteile nicht auf die Verurteilten, sondern auf die Sanktionierten bezogen werden, dann gibt es entweder keine (so bei Jugendstrafen) oder nur noch sehr geringe Zunahmen (so bei Freiheitsstrafen). • Deutlich zugenommen haben aber die Unterbringungsanordnungen gemäß §§ 63, 64, 66 StGB. Diese Verschärfungen im Bereich Maßregeln betreffen indes in quantitativer Betrachtung weniger als 0,5 % der Verurteilten. Hinweise auf zunehmende Punitivität gibt es nach alledem allenfalls hinsichtlich einer Erhöhung des Strafenniveaus bei den zu stationären Sanktionen Verurteilten sowie bei den Unterbringungsanordnungen gem. §§ 63, 64, 66 StGB. Die Bewertung des gestiegenen Anteils stationärer Sanktionen hängt davon ab, wie der Einfluss zunehmender Diversion eingeordnet und bewertet wird. Eine eindeutige Beurteilung ist, da deliktsspezifische Diversionsraten nicht bekannt sind, nur bei Betrachtung solcher Delikte möglich, bei denen eine Verzerrung durch Diversion vernachlässigbar gering sein dürfte – Mord/Totschlag, gefährliche Körperverletzung, schwerer Raub, Einbruchsdiebstahl. Die Analyse zeigt hierbei keine eindeutige Tendenz zu mehr Punitivität, sondern vielmehr eine deliktsspezifisch unterschiedliche, teilweise sogar gegenläufige Entwicklung: • Bei vorsätzlichen Tötungsdelikten gem. §§ 211, 212, 213 StGB besteht eine deutliche Tendenz, zunehmend längere Strafen zu verhängen. Hauptgrund hierfür dürfte aber ein Rückgang des Anteils der vermindert Schuldfähigen sein.28 28 Vgl. Heinz, W.: Entwicklung und Stand der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, Berichtsstand 2012 / 2013, S. 52, Tab. 3 ; Streng, F.: Punitivität und Dekulpation – Befunde und Überlegungen zur Anwendung von § 21 StGB bei Kapitaldelikten, in: Festschrift für N. Nedopil, Berlin 2012, S. 301 ff. 29 Steffen, W.: Sicherheit als Grundbedürfnis der Menschen und staatliche Aufgabe, 2012, S. 3 . 30 Nachweise bei Dittmann, J.: Öffentliche Sicherheit und Strafverfolgung, in: Statistisches Bundesamt; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hrsg.): Datenreport 2013 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2013, S. 299 ff.; Kury, H.: Punitivität und Verbrechensfurcht – Zur Aussagekraft der Forschungsergebnisse, in: Festschrift für M. Killias, Zürich 2013, S. 247 ff.

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zwar ein nachrangiges Problem,31 aber es ist das Problem, bei dem die Politik primär Handlungskompetenz und scheinbare Problemlösungsfähigkeit demonstrieren kann. Im Unterschied zur Sorge, Opfer einer Straftat zu werden, wird in Deutschland die Kriminalitätsentwicklung derzeit als drittgrößte gesellschaftliche Sorge betrachtet. „Diese Diskrepanz zwischen der Einschätzung des persönlichen und gesellschaftlichen Kriminalitätsrisikos ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass unmittelbare Erfahrungen mit Kriminalität im Alltagsleben vieler Menschen zum Glück nur sehr seltene Ereignisse sind, während Kriminalität als gesellschaftliches Problem eine starke Präsenz in den Medien und öffentlichen Diskursen besitzt und auch Delikte umfasst, von denen vielmehr der Staat und die Gesellschaft als der einzelne Bürger betroffen sind, wie z. B. Wirtschafts- oder Drogenkriminalität.“32 Kriminalitätsfurcht, darauf deuten neuere Untersuchungen hin, ist weniger eine spezifische Reaktion auf Kriminalitätsrisiken, sondern Teilmenge eines allgemeinen Unsicherheitsbefindens, das aus sozialen, ökonomischen und existenziellen Ängsten gespeist wird. Kriminalitätsfurcht wäre danach eine Metapher oder ein „Metasymbol für soziale und ökonomische Problemlagen“.33 Deshalb ist die entscheidende Frage, „welche Faktoren für die Strafeinstellung der Gesellschaft verantwortlich sind und wie das Strafbedürfnis des Einzelnen oder eines Kollektivs ermittelt werden kann. Beruht tatsächlich die politische Entscheidung auf dem Willen der Gesellschaft oder sind die (wirklichen oder auch nur vermuteten) Strafbedürfnisse der Gesellschaft die Folge medialer und/oder politischer (selektiver) Informationen und Wertungen? Schafft sich die Kriminalpolitik sozusagen ihre eigene Wirklichkeit, um gewünschte Vorgangsweisen scheinbar mit dem Willen des Volkes legitimieren zu können?“34 Das in der Bevölkerung vorhandene Wissen über Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität wird ganz überwiegend durch die Massenmedien vermittelt und aus ihnen gewonnen. Im Vordergrund der medialen Berichterstattung stehen zumeist Aufsehen erregende Einzelfälle, namentlich Sexual- oder Tötungsdelikte. Berichtenswert ist nicht, dass „nichts“ passiert ist; berichtenswert ist vielmehr, dass etwas „Schlimmes“, „Außergewöhnliches“, „noch nie Dagewesenes“ usw. passiert ist. Vermittelt wird – verallgemeinert – das Bild einer steigenden und immer brutaler werdenden Kriminalität. Diese „Medienrealität“ weicht erheblich ab sowohl von der direkt erlebten Erfahrungswelt der Bürgerinnen und Bürger als auch von empirisch belegbaren Fakten. Medien beeinflussen aber nicht nur das Wissen über Kriminalität, 31

Zuletzt Hummelsheim, D.: Sorgen über die Altersversorgung beeinträchtigen die Lebenszufriedenheit, Informationsdienst soziale Indikatoren, Ausg. 54, 2015, S. 7 ff. 32 Hummelsheim (Fn. 31), S. 8. 33 Hirtenlehner, H.: Soziale Ängste und Furcht vor Kriminalität – ein Forschungsupdate, in: Loderbauer, B. (Hrsg.): Kriminalität, Gesellschaft und Recht, Linz 2013, S. 61 ff.; Sessar, K.: Kriminalitätseinstellungen und sozialer Wandel, MSchrKrim 2010, S. 361 ff. 34 Grafl, Ch.; Schmoller, K.: Entsprechen die gesetzlichen Strafdrohungen und die von den Gerichten verhängten Strafen den aktuellen gesellschaftlichen Wertungen?, 19. ÖJT, Band III/ 1, Wien 2015, S. 80.

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sondern tragen auch dazu bei, das Sicherheitsgefühl zu verringern oder zu erhöhen. Die Stärke der individuellen Beeinflussung ist freilich u. a. abhängig von der eigenen Position, den individuellen Werten und Normen.35 In Deutschland wurden z. B. von den Befragten einer repräsentativen Stichprobe selbst dort Zunahmen vermutet, wo es – der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge – in den letzten Jahren deutliche Rückgänge gegeben hat, etwa bei Tötungs- oder Diebstahlsdelikten. Insbesondere wird die Häufigkeit der Gewaltkriminalität deutlich überschätzt.36 Diese (Fehl-)Einschätzung von Kriminalität ist folgenreich, weil z. B. die Einschätzung, die Gerichte urteilten zu milde, um so ausgeprägter ist, je höher die vermutete Zunahme der Kriminalität ist, weil ferner Zusammenhänge zwischen der Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung und der Kriminalitätsfurcht bestehen, weil schließlich durch diese (Fehl-)Einschätzung die kriminalpolitische „Großwetterlage“ beeinflusst wird. Die bestehenden Strafeinstellungen und Strafbedürfnisse der Gesellschaft sind deshalb zu hinterfragen, Wissensdefizite sind durch Aufklärung zu beheben. 2. Werden die (Un-)Sicherheitsgefühle durch die objektive Sicherheitslage gestützt? Die objektive Sicherheitslage und die subjektiv empfundene Sicherheit in Bezug auf Kriminalität verlaufen nicht immer parallel und korrelieren nur bedingt miteinander.37 „Die Ausprägung der Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung bestimmter Gebiete oder Regionen (ist) nicht durch die Belastung dieser Gebiete mit registrierter Kriminalität erklärbar. Dies gilt auf kommunaler Ebene selbst dann, wenn Indikatoren für Kriminalitätsbelastung nicht offiziell registrierte Delikte, sondern die in Dunkelfeldstudien mitgeteilten Viktimisierungserfahrungen sind.“38 Aber auch unabhängig davon – die Sicherheitslage, gemessen anhand der Daten in den amtlichen Statistiken, gibt jedenfalls für das letzte Jahrzehnt keinen Grund für ein erhöhtes Maß an Unsicherheit (vgl. Abbildung 2). Die auf 100.000 der Wohnbevölkerung bezogene Zahl der Straftaten ist seit geraumer Zeit insgesamt rückläufig. Die im langfristigen Trend zu beobachtende Zunahme polizeilich registrierter Kriminalität beruht weitgehend auf der Entwicklung bei Eigentums- und Vermögensdelikten, überwiegend im Diebstahlsbereich. Zu 30 % beruht der seit 1963 erfolgte Anstieg auf Diebstahlsdelikten, zu 19 % haben Betrug und zu 14 % Sachbeschädigungsdelikte hierzu beigetragen.

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Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2006 (zitiert: 2. PSB), S. 515 ff. 36 Baier, Dirk et al.: Kriminalitätsfurcht, Strafbedürfnisse und wahrgenommene Kriminalitätsentwicklung, Hannover 2011, S. 39, Tab. 4.4, S. 41, Tab. 4.6. 37 2. PSB (Fn. 35), S. 513 f. 38 2. PSB (Fn. 35), S. 507 f.

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Legende: Häufigkeitszahl ist die Zahl der bekannt gewordenen Fälle insgesamt oder innerhalb einzelner Deliktsarten, errechnet auf je 100.000 Einwohner nach der Formel HZ = (erfasste Fälle x 100.000) / Wohnbevölkerung Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik

Abbildung 2: Entwicklung der Häufigkeitszahlen polizeilich registrierter Fälle. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland

Schwere Kriminalität ist in quantitativer Betrachtung selten. So entfallen derzeit z. B. auf schwere Formen der Gewaltkriminalität (gefährliche und schwere Körperverletzung, vorsätzliche Tötungsdelikte, Raub und räuberische Erpressung) 3,1 % der gesamten polizeilich registrierten Kriminalität (ohne Straßenverkehrsdelikte). Innerhalb der schweren Gewaltkriminalität wiederum haben deren schwerste Formen nicht zugenommen, im Gegenteil: Die Häufigkeitszahl der vorsätzlichen Tötungsdelikte ist geringer als noch vor 25 Jahren. Die Zunahme der registrierten Gewaltkriminalität beruhte in den letzten Jahren ausschließlich auf Veränderungen im Bereich der registrierten Fälle von gefährlicher/schwerer Körperverletzung. Ein großer Teil dieses Anstiegs dürfte indes nicht „real“ sein, sondern auf verändertem Anzeigeverhalten beruhen. Hierfür sprechen jedenfalls sämtliche Dunkelfeldbefragungen seit Anfang dieses Jahrhunderts, die freilich nur bei jungen Menschen im Alter von ca. 15 Jahren durchgeführt worden sind.39

39 Vgl. ausführlich sowohl zu den Ergebnissen der Dunkelfeldforschungen als auch den Daten der amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken vgl. Heinz (Fn. 27).

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IV. Strafrecht im demokratischen Rechtsstaat – oder: Weshalb müssen wir wissen, was wann bei wem wie wirkt? Strafrechtspflege ist eine staatliche Aufgabe. Der säkularisierte Rechts- und Sozialstaat hat den Schutzauftrag, die Existenz und die freie Entfaltung der Menschen zu sichern. Zu den Instrumenten sozialer Kontrolle, mit denen der Staat dieser Schutzpflicht zu genügen sucht, gehört auch das Strafrecht. Neben diese staatspolitische Rechtfertigung des Strafrechts tritt noch eine sozialpsychologische. Würde der Staat sich auf bloße Prävention beschränken, wären Lynchjustiz und Privatstrafe die Folge.40 Die Aufgabe der Strafe kann nur von den Aufgaben des Strafrechts her bestimmt werden.41 Besteht die Rechtfertigung des Strafrechts im innerweltlichen Zweck der Verhinderung sozialschädlicher Verhaltensweisen, also im Rechtsgüterschutz, dann ist der Einsatz der Strafe nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich als ein „wirksames und für den Rechtsschutz unentbehrliches Mittel der Prävention“42 erweist. Sie darf also nur dort eingesetzt werden, wo erstens das Präventionsziel durch Strafe überhaupt erreichbar ist (Eignung) und wo es zweitens nicht auf eine andere, gleich wirksame, den Verurteilten aber weniger belastende Weise erreicht werden kann (Erforderlichkeit). In der Terminologie der Strafrechtstheorien dient Strafrecht der Generalprävention43 und, wo es auf einen konkreten Täter angewendet wird, der Spezialprävention (präventive Vereinigungstheorie).44 Einem Strafrechtssystem, das durch die Bestrafung einen Ausgleich der erfolgten Rechtsverletzung herbeiführen will (Schuldausgleich, Vergeltung, Sühne usw.), konnten und durften die Folgen einer Bestrafung gleichgültig sein. Ein präventives Strafrecht muss sich dagegen der empirischen Prüfung stellen. Denn die Strafe ist in einem folgenorientierten System nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Erreichung 40 Vgl. m.w.N. Jescheck, H.-H.; Weigend, Th.: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1996, S. 1, 64; Roxin, Claus: Strafrecht – Allgemeiner Teil, 4. Aufl., München 2006, § 2 Rdnr. 7. 41 Roxin (Fn. 40), § 3 Rdnr. 1. 42 Gallas, Wilhelm: Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 1968, S. 3. 43 Generell gilt, dass der Zweck der Strafandrohungen im Sinne der positiven Generalprävention zu sehen ist, d. h. der öffentlichen Behauptung und Sicherung fundamentaler Normen. Diese Zielrichtung wirkt noch in die Strafverhängung hinein, denn Generalprävention würde in sich zusammenfallen, wenn hinter ihr keine Realität stünde. Sollten generalpräventive und spezialpräventive Überlegungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, kommt Spezialprävention der Vorrang zu, und zwar schon aus verfassungsrechtlichen Gründen. Die Hilfe für den Straffälligen ist ein grundgesetzliches, aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip folgendes Gebot. 44 Heute werden überwiegend Vereinigungstheorien vertreten; deren Konzeptionen weichen indes im Einzelnen stark voneinander ab (vgl. den Überblick bei Roxin [Fn. 40] § 3 Rdnr. 33 ff.). Vorherrschend dürfte weniger die hier vertretene präventive Vereinigungstheorie (hierzu eingehend Roxin aaO., § 3 Rdnr. 37 ff.) sein als vielmehr additive Vereinigungstheorien (zu deren Kritik Roxin aaO., § 3 Rdnr. 33 ff.). Vgl. neuerdings auch Frisch, W.: Strafe, Straftat und Straftatsystem im Wandel, GA 2015, 65 ff.

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dieser Präventionsziele prinzipiell geeignet und erforderlich ist, was wiederum entsprechendes Wissen hierüber voraussetzt. Solange verlässliche und abgesicherte Erkenntnisse darüber fehlen, welche Sanktion für welches Problem unter welchen Bedingungen die besten Ergebnisse erzielt, ist eine rationale Entscheidung zwischen Alternativen nicht möglich. Es genügt unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht, von einer eingriffsintensiven Sanktion günstigere Effekte bloß zu erwarten – es muss empirisch überprüfbare und hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür geben, dass ein solcher Eingriff geeignet und erforderlich (also einer weniger eingriffsintensiven Alternative in der Wirkung überlegen) ist.

V. Wirken harte Sanktionen besser? Ergebnisse der nationalen und internationalen Sanktionsforschung 1. Härtere Strafen erhöhen die Abschreckungswirkung und verstärken die Normtreue – stimmt die These? Hinsichtlich der generalpräventiven Wirkung von Strafandrohung, Strafverhängung und Strafvollstreckung wird von Teilen der Politik in Deutschland angenommen, durch eine Verschärfung werde eine höhere Präventionswirkung erzielt. Für die Richtigkeit dieser Erwartungen gibt es indes keinerlei empirisch gestützte Anhaltspunkte. Nach dem derzeitigen Forschungsstand45 sind die von Androhung, Verhängung oder Vollstreckung von Strafen auf die Allgemeinheit ausgehenden Abschreckungswirkungen (negative Generalprävention) sehr gering. Für den Bereich der leichteren und der mittelschweren Kriminalität jedenfalls gilt, dass die Strafvariablen (Entdeckungsrisiko sowie Höhe und Schwere der Strafe) neben anderen – außerstrafrechtlichen – Faktoren zur Erklärung von Delinquenz nahezu bedeutungslos sind. Höhe und Schwere der Strafe haben keine messbare Bedeutung. Lediglich dem (subjektiv eingeschätzten) Entdeckungsrisiko kommt eine gewisse Bedeutung zu, allerdings nur bei einigen Bagatelldelikten, und selbst hier nur überaus schwach. Weitaus bedeutsamer sind die moralische Verbindlichkeit der Normen, die Häufigkeit der Deliktsbegehung im Verwandten- und Bekanntenkreis, die vermuteten Reaktionen des sozialen Umfelds sowie das subjektive Strafempfinden.46 Ein funktionierendes Strafrecht hat freilich auch die Aufgabe, strafrechtliche Normen dadurch zu stabilisieren, dass schon durch die Strafdrohung die Bedeutung der geschützten Werte und Normen verdeutlicht und durch Verfolgung und Sanktionierung der Normbruch sozialethisch missbilligt wird. Aus empirischer Sicht fehlt aber 45

Vgl. den Überblick bei Meier, B.: Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl., Berlin u. a. 2015, S. 27 ff.; Streng, F.: Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl., Stuttgart u. a., 2012, Rdnr. 59 ff. 46 Vgl. Schöch, H.: Empirische Grundlagen der Generalprävention, in: Festschrift für H.–H. Jescheck, Berlin 1985, S. 1081 ff.

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„für die Annahme etwa einer ,sittenbildenden Kraft‘ des Strafrechts … jeder empirische Anhaltspunkt. Vom Strafrecht und seinen Sanktionen kann unter dem Gesichtspunkt positiver Generalprävention nicht mehr erwartet werden als die Abstützung von Werten und Normen, welche die Bürger von vornherein zu akzeptieren bereit sind.“47 Aus dem gegenwärtigen Stand der Forschung folgt so viel, dass – abgesehen vielleicht von Tätergruppen, die rational Risiken abwägen, wie dies für einige Gruppen von Umwelt- bzw. Wirtschaftsstraftätern oder für Täter der organisierten Kriminalität vermutet wird – eine Verschärfung des Strafrechts weder unter dem Gesichtspunkt der negativen noch der positiven Generalprävention als erforderlich begründet werden kann, weil es keinen Beleg dafür gibt, dass dadurch die Kriminalitätsraten gesenkt oder das Normbewusstsein und die Normtreue gestärkt werden könnten. 2. Durch eine Verschärfung der Strafen wird die Kriminalitätsbelastung reduziert – stimmt die These? In seiner umfassenden Übersicht empirischer Forschungsergebnisse aus den USA zum Zusammenhang zwischen Strafverschärfung und Kriminalitätsbelastung zeigte Kury sowohl für die Gesamt- als auch für die Gewaltkriminalität, dass von einer Strafverschärfung kein kriminalitätsreduzierender Effekt ausging.48 Noch deutlicher konnte dies für Finnland belegt werden, das in den letzten 5 Jahrzehnten seine Gefangenenrate auf ein Drittel des Ausgangswertes reduziert und damit auf das Niveau der drei anderen nordischen Länder gebracht hatte. Hätte die Sanktionshärte einen Einfluss auf die Kriminalitätsbelastung, dann wäre ein Anstieg der Kriminalitätsbelastung im Vergleich zu den anderen nordischen Ländern zu erwarten gewesen. Wie in allen westlichen Industriestaaten stieg auch in den nordischen Ländern die Kriminalitätsbelastung an, in Finnland jedoch eher unterdurchschnittlich.49 „That Finland has substantially reduced its incarceration rate has not disturbed had no influence on the symmetry of Nordic crime rates. These figures, once again, support the general criminological conclusion that crime and incarceration rates are fairly independent of one another; each rises and falls according to its own laws and dynamics“.50

47

Streng (Fn. 45), Rdnr. 66. Kury, H.: Führen härtere Strafen zu weniger Kriminalität?, in: Boers, Klaus (Hrsg.): Kriminologische Perspektiven, Münster 2012, S. 231 ff. Ebenso bereits Kury, H.: Zur (Nicht-) Wirkung von Sanktionen, Soziale Probleme 2013, S. 11 ff. 49 Kury (Fn. 48), S. 241. 50 Lappi-Seppälä, T.: Changes in Penal Policy in Finland, in: Kury/Shea (Fn. 2, vol 1), S. 266 f. 48

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3. Härtere Strafen senken die Rückfallwahrscheinlichkeit – stimmt die These? a) Ergebnisse der Rückfallstatistik Seit einigen Jahren werden in Deutschland Legalbewährungsstudien durchgeführt, in denen die Rückfallraten in Abhängigkeit von den Sanktionen erhoben werden. Inzwischen liegen drei Legalbewährungsstudien51 für die Bezugsjahre 1994, 2004 und 2007 vor.52 In diese Studien wurden alle im jeweiligen Bezugsjahr strafrechtlich Sanktionierten oder aus der Haft Entlassenen während eines vier- (1994) bzw. dreijährigen (2004, 2007) Risikozeitraums daraufhin überprüft, ob sie wieder wegen einer erneuten Straffälligkeit eine Eintragung im Bundeszentralregister erhalten haben.53 Es wird also nicht Rückfall im Sinne von völliger Straffreiheit gemessen, was empirisch gar nicht möglich ist, sondern lediglich erneute justizielle Auffälligkeit. Übereinstimmend wurde in diesen Studien festgestellt: • Rückfälligkeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nur ein gutes Drittel der Verurteilten (1994: 35,7 %; 2004: 33,7 %; 2007: 34,8 %) wurde innerhalb des jeweiligen Rückfallzeitraums von 4 bzw. 3 Jahren erneut justiziell registriert. • Junge Menschen weisen die höchste Kriminalitätsbelastung auf. Dem entspricht, dass sie auch eine höhere Rückfallwahrscheinlichkeit aufweisen als Ältere. Die Rückfallraten nach formellen Sanktionen des Jugendstrafrechts (also ohne §§ 45, 47 JGG bei Bezugs- und Folgeentscheidung) sind (1994: 59,3 %; 2004: 55,3 %; 2007: 56,9 %) deutlich höher als die Rückfallraten nach Sanktionierung nach dem allgemeinen Strafrecht (1994: 32,6 %; 2004: 29,8 %; 2007: 30,9 %). Mit steigendem Alter wird ein immer kleiner werdender Anteil der Verurteilten wieder rückfällig. • Die Rückfallwahrscheinlichkeit nimmt sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch im Jugendstrafrecht mit der Zahl der Vorverurteilungen zu. • Die Rückfallwahrscheinlichkeit nimmt mit der Schwere der Vorsanktion zu. Die höchsten Rückfallraten weisen die zu einer freiheitsentziehenden Sanktion Verur51 Die offizielle Bezeichnung lautet „Legalbewährungsstudie“. Damit wird zum einen zum Ausdruck gebracht, dass es sich derzeit noch um keine Statistik handelt, sondern um ein Forschungsprojekt. Zum anderen wird nicht „Rückfall“ i.S. von erneuter Straftatbegehung gemessen, sondern nur erneute justizielle Auffälligkeit, soweit sie zu einer Eintragung in das Bundeszentralregister führt. 52 Jehle, J.-M. et al.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine kommentierte Rückfallstatistik, Mönchengladbach 2003; Jehle, J.-M. et al.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2004 bis 2007, Mönchengladbach 2010; Jehle, J.-M. et al.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010, Mönchengladbach 2013. 53 Im BZR sind sämtliche Strafen und Maßregeln einzutragen, von den informellen Sanktionen aber nur die §§ 45, 47 JGG.

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teilten auf. Nach Bewährungsstrafen ist die Rückfallrate geringer als nach vollstreckten Jugend- oder Freiheitsstrafen. Nach Geldstrafe oder nach ambulanten jugendrichterlichen Maßnahmen ist die Rückfallrate vergleichsweise niedrig; im Jugendstrafrecht weisen die nur informell Sanktionierten – §§ 45, 47 JGG – die mit Abstand geringsten Rückfallraten auf.54 Wer z. B. eine Freiheits- oder Jugendstrafe in der Annahme verhängt, den Strafgefangenen dadurch von weiteren Straftaten (genauer: von der Verurteilung wegen weiterer Straftaten) abhalten zu können, weiß nunmehr, dass diese Annahme bei Erwachsenen in fast 6 von 10 Fällen und bei jungen Menschen sogar in nahezu 8 von 10 Fällen falsch ist. Die Erwartung, eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit durch harte Strafen zu senken, ist danach nicht begründet. • Sofern eine Wiederverurteilung erfolgt, führt dies nur ausnahmsweise zu einer vollstreckten Freiheitsstrafe (1994; 13,9 %; 2004: 11,3 %; 2007: 11,8 %). Die Rückfälle sind also vielfach nicht von schwerwiegender Art. Selbst von den aus dem Jugend- bzw. Erwachsenenstrafvollzug Entlassenen wird bei einer Wiederverurteilung nur jeder Zweite (1994: StGB 52,1 %; JGG 57,9 %; 2004: StGB 51,3 %; JGG 52,5 %; 2007: StGB 50,7 %; JGG 51,5 %) erneut zu einer unbedingten Jugend- oder Freiheitsstrafe verurteilt. Mit der Rückfallstatistik für das Bezugsjahr 2004 wurden die Grundlagen für ein Längsschnittdesign geschaffen, das eine personenbezogene, ausfallfreie Zuordnung von späteren Erhebungswellen ermöglicht. Inzwischen liegen die Ergebnisse der zweiten Ziehungswelle vor, durch die der Rückfallzeitraum auf 6 Jahre verlängert werden konnte (Abbildung 3). Erwartungsgemäß sind die Rückfallraten nach einem 6-jährigen Rückfallzeitraum bei allen Sanktionsarten höher als nach einem 3-jährigen Rückfallzeitraum. Statt 34,8 % sind nunmehr 44,5 % erneut im BZR registriert. Die Zunahme des Anteils der Personen mit Folgeentscheidung von ca. 9 Prozentpunkten hält sich aber – angesichts der Verdoppelung des Rückfallzeitraums – in Grenzen. Sanktionsspezifisch sind die Zuwächse nach Geldstrafe und nach Diversionsentscheidungen am niedrigsten. Sowohl in der Bevölkerung als auch in Teilen der Politik wird nicht nur die Rückfallwahrscheinlichkeit, sondern insbesondere die einschlägige Rückfallwahrscheinlichkeit überschätzt. Die Daten der Rückfallstatistik 2004 belegen, dass der einschlägige Rückfall bei Gewaltdelikten die Ausnahme und nicht die Regel ist. Die Mehrheit der wegen Gewaltdelikten Sanktionierten wird selbst innerhalb eines sechsjährigen Rückfallzeitraums entweder überhaupt nicht, oder – so bei Raub/Erpressung – jedenfalls nicht wegen eines erneuten Gewaltdelikts registriert. Wenn eine Registrierung erfolgt, dann erfolgt sie überwiegend wegen eines anderen Delikts und nicht wegen eines Gewaltdelikts (Abbildung 4).

54 Dieser deskriptive Befund darf freilich nicht als Kausalanalyse missverstanden werden, denn die Sanktioniertengruppen weisen eine unterschiedlich hohe Rückfallwahrscheinlichkeit auf.

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Quelle: Jehle et al.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010, Mönchengladbach 2013, S. 163, Tab. C 2.2.2a (eigene Berechnungen)

Abbildung 3: Rückfall nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht – Bezugsjahr 2004 (dargestellt werden die Rückfallraten insgesamt, sowie die auf die Arten der Folgeentscheidungen entfallenden Anteile) – Rückfallzeitraum: 6 Jahre

b) Ergebnisse der empirischen Sanktions- und Wirkungsforschung Dass die Rückfallrate nach einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe niedriger ist als nach nicht ausgesetzter Jugendstrafe, dürfte weniger auf dem erfolgreicheren Handeln der Bewährungshelfer im Vergleich mit dem im Jugendstrafvollzug tätigen Personal beruhen, als vielmehr auf der prognostischen Vorauswahl gem. § 21 JGG. Der einfache Vergleich der Rückfallraten dieser beiden Gruppen besagt deshalb nichts über die Wirkung der jeweiligen Intervention. Eine Sanktionswirkung kann nur dann festgestellt werden, wenn durch Kontrolle sämtlicher Störvariablen sichergestellt ist, dass Untersuchungsgruppe und Kontrollgruppe gleich zusammengesetzt sind und sich nur durch Art bzw. Höhe der verhängten Sanktion unterscheiden. Als Methode kommen hierfür vor allem kontrollierte Zufallsexperimente sowie quasi-experimentelle Untersuchungsansätze in Betracht. Diesen methodischen Anforderungen genügt freilich ein erheblicher Teil der nationalen wie der internationalen Studien nicht. Um die erzielten Ergebnisse dennoch einordnen und bewerten zu können, wurde die

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„Maryland Scale of Scientific Methods“55 erarbeitet, die mittlerweile zum Standardwerk der „evidence-based crime-prevention“-Bewegung geworden ist.

Quelle: Jehle et al.: Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010, Mönchengladbach 2013, S. 246, Abb. C 6.3.2.1.1; S. 249, Abb. C 6.3.2.2.1; S. 253, Abb. C 6.3.2.3.1 (eigene Berechnungen)

Abbildung 4: Einschlägiger Rückfall bei Gewaltdelikten – Bezugsjahr 2004 – Rückfallzeitraum: 6 Jahre

Unter Berücksichtigung derjenigen Studien, die mindestens das Niveau 3 dieser Bewertungsskala56 erreichen, fasste die Bundesregierung in ihrem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht den Befund der spezialpräventiven Wirkungsforschung ebenso bündig wie zutreffend zusammen: • „Hinsichtlich der spezialpräventiven Wirkung von Strafen gibt es keinen empirischen Beleg dafür, dass – bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen – die Rückfallrate nach einer Verurteilung niedriger ist als nach einer Verfahrenseinstellung (Diversion). Wo – in vergleichbaren Gruppen – Unterschiede beobachtet wurden, waren die Rückfallraten nach Diversion niedriger. Negative Effekte der Diversion im Vergleich zur formellen Sanktionierung sind nicht belegt. 55

Sherman, L. W. et al.: Evidence-Based Crime Prevention, London/New York 2002. Das höchste Niveau – Niveau 5 – erreichen Studien mit experimentellem Design, quasiexperimentelle Untersuchungen mit Kontrollgruppe werden auf dem Niveau 4 eingeordnet. Untersuchungen mit zumindest einer Vergleichsgruppe erreichen das Niveau 3. 56

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• Im Bereich der leichten bis mittelschweren Kriminalität haben unterschiedliche Sanktionen keine differenzierende Wirkung auf die Legalbewährung; die Sanktionen sind vielmehr weitestgehend ohne messbare Konsequenzen auf die Rückfallraten austauschbar. • Wenn es eine Tendenz gibt, dann die, dass nach härteren Sanktionen die Rückfallrate bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen höher ist. Insbesondere gibt es bis heute keine Gruppe von Straftätern, für die – in spezialpräventiver Hinsicht – eine Überlegenheit von Jugendarrest oder (unbedingter) Jugendstrafe im Vergleich zu ambulanten Reaktionen empirisch belegt worden wäre.“57 Diese Befunde der deutschsprachigen Sanktionsforschung fügen sich bruchlos ein in den allgemeinen Wissensstand kriminologischer Forschung. Insbesondere die neueren US-amerikanischen Sekundäranalysen58 zeigen, dass von einer „tough on crime“-Kriminalpolitik, die auf Strafschärfungen, insbesondere auf freiheitsentziehende Sanktionen setzt, keine positiven Effekte zu erwarten sind. Programme, die auf spezialpräventive Abschreckung abzielten, sei es durch kurzen Freiheitsentzug (shock probation), durch längere, mit militärischem Drill verbundene Internierung (boot camps) oder in Form von Gefängnisbesuchsprogrammen (scared straight), hatten nicht die erwünschten Effekte, die Rückfallraten der Vergleichsgruppen waren nicht niedriger, in einer Reihe von Untersuchungen sogar höher: • Im Maryland-Report wird als Ertrag der Evaluationsstudien zu shock probation zusammengefasst: „Studies examining the recidivism of shock probation with similar probation groups have found no difference and in some cases the shock probationers have done demonstrably worse.“59 • Boot camps für Jugendliche hatten entweder keinen oder einen negativen Effekt, weshalb die Ergebnisse „little support for the boot camps as crime prevention technique“ geben.60 • Ähnlich negativ sind die Befunde zu scared straight-Programmen: „Studies of these programs have not indicated any differences between those who participated in the programs and comparison groups and in some cases the re-arrest rates were

57

2. PSB (Fn. 35), S. 666, ausführlich S. 686 ff. Sherman, L. W. et al.: Preventing Crime: What Works, What Doesn’t, What’s Promising, A Report to the United States Congress 1998 , in revidierter Fassung veröffentlicht von Sherman (Fn. 55). Reviews der Campbell Collaboration Criminal Justice Group ; „Blueprints“ des Center for Study and Prevention of Violence at the University of Colorado in Boulder ; Meta-Analysen von Lipsey vom Center for Evaluation Research and Methodology at the Vanderbilt Institute for Public Policy Studies in Nashville . 59 MacKenzie, D. L.: Reducing the criminal activities of known offenders and delinquents, in: Sherman (Fn. 55), S. 340. 60 MacKenzie (Fn. 59), S. 348. 58

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higher for those who participated in the program.“61 Petrosino u. a. kamen in ihrem review für die Campbell Collaboration zum selben Ergebnis. Diese Programme, so die Autoren, „are likely to have a harmful effect and increase delinquency relative to doing nothing at all to the same youth“.62 • Jugendstrafe (arrest) erwies sich als eher kontraproduktiv. In der Denver-Langzeitstudie (Denver Youth Study) wurde festgestellt: „In general, arrest has little impact on subsequent delinquent behavior, and when it does have an impact, it is most likely an increase in future delinquent behavior. In addition, those who are arrested and incarcerated as juveniles are substantially more likely to be incarcerated as adults … The findings also suggest that the use of the least restrictive sanctions, within the limits of public safety, and enhanced reentry assistance, monitoring, and support may reduce future delinquency.“63 c) Zusammenfassung des Ertrags der Sanktions- und Wirkungsforschung im Hinblick auf die mit einer Verschärfung des Strafrechts verbundenen Erwartungen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach dem gegenwärtigen Stand gesicherten Wissens die Annahme, eine härtere Sanktionierung habe eine bessere general- oder spezialpräventive Wirksamkeit, empirisch nicht gestützt ist. Vielmehr ist die „Austauschbarkeit“ der Sanktionen im Bereich der leichten Kriminalität gesicherter Forschungsstand: „Milde Sanktionen führen in der Breite aber auch nicht zu höheren Rückfallquoten als harte, namentlich stationäre Sanktionen; sie begründen genauso wenig ein Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit wie umgekehrt Sanktionshärte für sich genommen für die Allgemeinheit Sicherheit schafft. Bei einem generalisierenden Vergleich wirken sich milde und harte Sanktionen auf die Legalbewährung etwa gleich aus. Wenn freilich die These von der Austauschbarkeit der Sanktionen insoweit zutrifft, dann eröffnet sich hieraus für die Justiz ein breiter Rahmen für weitergehende Überlegungen, bei denen namentlich die eingangs genannten weiteren Effekte für die Sanktionsbegründung herangezogen werden können: unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten die Minderung des Strafleids und der Freiheitsgewinn für den Verurteilten, die mit einer milderen Strafe ohne spezialpräventiven Effektivitätsverlust erreicht werden können; die geringeren Kosten, die beim Justizfiskus für die Strafvollstreckung anfallen; und nicht zuletzt auch die gesamtwirtschaftlichen Vorteile (Steuerzahlungspflicht!), die erreicht werden können, wenn der Verurteilte nicht im stationären Strafvollzug 61

MacKenzie (Fn. 59), S. 341. Petrosino, A. et al.: „Scared Straight“ and other juvenile awareness programs for preventing juvenile delinquency , S. 3. Vgl. ferner Petrosino, A. et al.: Scared Straight and other juvenile awareness programs for preventing juvenile delinquency, Annals of the American Academy of Political and Social Science 589, 2003, S. 58: „According to these experiments, doing nothing would have been better than exposing juveniles to the program“. 63 Thornberry, T. et al.: The Causes and Correlates Studies: Findings and Policy Implications, Juvenile Justice Journal, 2004, S. 121 f. . 62

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untergebracht, sondern in Freiheit belassen wird und seiner Arbeit nachgeht. Mit milden Sanktionen lassen sich in einer ganzen Reihe von anderen Feldern positive Effekte erzielen. Oder um es etwas plakativer zu formulieren: Milde zahlt sich – auch ökonomisch – aus.“64

VI. Voraussetzungen für evidenzbasierte Kriminalpolitik in punitiven Zeiten „Die Ergebnisse der empirischen kriminologischen Forschung stehen quer zu den Trends der heute praktizierten Kriminalpolitik. Die aus der Forschung abzuleitenden Empfehlungen für eine ,rationale‘ Politik werden in der Realität kaum aufgegriffen. Im Gegenteil verdichtet sich der Eindruck, als ob die offizielle Kriminalpolitik sich gegenüber ,evidenzbasierten‘ Aussagen über hohe Irrtumsrisiken bei Individualprognosen, der Gefahr einer Überschätzung krimineller Gefährlichkeit, der Zweifelhaftigkeit der Wirkung von Allgemeinabschreckung, der mangelnden spezialpräventiven Vorzugswürdigkeit härterer Sanktionierung und der generell eher desozialisierenden Wirkung des Freiheitsentzuges taub stellt und stattdessen den dramatisierenden und Strafhärte einfordernden Kriminalitätsinszenierungen von Massenmedien und vielen Politikern folgt.“65

Deshalb kann und muss es darum gehen, die Grundlagen für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik wieder herzustellen. Hierzu bedarf es mehrerer Schritte: 1. Punitive Strafeinstellungen in Teilen der Bevölkerung sowie entsprechende Umsetzungsforderungen in Teilen der Massenmedien wie der Politik beruhen zu einem erheblichen Teil auf Unwissen über Ausmaß, Verteilung und Entwicklung der Kriminalität sowie auf Fehlvorstellungen über die Wirkung von strafrechtlichen Sanktionen. Deshalb bedarf es der Gegen-Aufklärung, die freilich nicht ohne Mithilfe der Massenmedien möglich ist. 2. Es ist Aufgabe des Staates, die notwendigen Informationen zur Sicherheitslage, zu denen auch Dunkelfeldforschung gehört, zu erheben und zur Verfügung zu stellen. Nur so kann er einerseits unbegründeten Ängsten entgegenkommen, andererseits aber auch die ergriffenen Maßnahmen evaluieren. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 31. 05. 200666 zum Jugendstrafvollzug u. a. Gesetzgebung und Verwaltung auf die Verwendung von „möglichst realitätsgerechten Annahmen und Prognosen“ sowie auf fortlaufende Beobachtung und Nachbesserung67 festgelegt. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Verpflichtung nicht auch außerhalb des Jugendstrafvollzugs gelten sollte. Mit dem Ersten Periodischen Sicherheitsbericht von 2001 wurde erstmals versucht, „ein möglichst umfassendes Bild der Kriminalitätslage zu erstellen, das Erkenntnisse aus den vorhandenen amtlichen Datensammlungen, insbesondere Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafrechtspfle64 Meier, B.-D.: What works? – Die Ergebnisse der neueren Sanktionsforschung aus kriminologischer Sicht, JZ 2010, S. 115. 65 Kunz, K.-L.: Kriminologie, 6. Aufl., Bern u. a. 2011, § 30 Rdnr. 23. 66 BVerfGE 116, 69. 67 BVerfGE 116, 69, S. 91.

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gestatistiken, … in einem Bericht zusammenfasst und zugleich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen … verknüpft.“68 Dieser richtige und wichtige Ansatz wurde aber nach dem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2006 nicht mehr weiter verfolgt. Deshalb bedarf es hierfür einer gesetzlichen Verpflichtung, wie sie schon seit längerer Zeit besteht für das Gutachten des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ sowie für den „Kinder- und Jugendhilfebericht“. 3. Rationale Kriminalpolitik setzt voraus, dass die Erforderlichkeit und Geeignetheit der vorgeschlagenen strafrechtlichen Instrumente begründet und die Maßnahmen evaluiert werden. In England ist seit dem „Crime Reduction Programme“ von 1999 eine Pflicht zur Evaluation eingeführt; in der Schweiz ist in Art. 170 der am 1. 1. 2000 in Kraft getretenen Neufassung der Bundesverfassung eine Evaluationsverpflichtung verankert.69 Auch für Deutschland wird – derzeit noch vereinzelt – eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Evaluierung dann bejaht, „wenn ein Gesetz auf Prognosen aufbaut, die sich bestätigen können oder auch nicht.“ Denn „die Verfassung verbietet nun einmal jegliche Grundrechtseingriffe, deren Erforderlichkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit offen bleiben.“70 Dem entspricht, dass sich das Ministerkomitee des Europarates wiederholt für wissenschaftlich fundierte, regelmäßig durchzuführende Evaluationen ausgesprochen hat. In R(2003)20 „zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz“ wurde u. a. empfohlen, die Jugendkriminalrechtspflege „sollte sich so weit wie möglich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, was wirkt, bei wem und unter welchen Umständen. … Um allzu negativen Einschätzungen zu begegnen, die Öffentlichkeit zu informieren und deren Vertrauen zu erhöhen, sollten Strategien zur Aufklärung über Jugenddelinquenz und die Arbeit und Effektivität des Systems der Jugendgerichtsbarkeit über ein weites Spektrum von Verbreitungswegen, darunter Fernsehen und Internet, ausgearbeitet werden.“71

Die Empfehlung Rec(2008)11 widmet „Evaluation und Forschung“ sogar ein eigenes Kapitel, in dem es u. a. heißt: 68 1. PSB 2001, XXIX. Grundlage für diesen Bericht war die Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 20. 10. 1998, S. 37. 69 Art. 170, der lautet: „Die Bundesversammlung sorgt dafür, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.“ Hiervon ausgehend sind in zahlreichen Gesetzen Evaluationsklauseln geschaffen worden, die Evaluationen initiiert haben. 70 Michalke, R.: Evaluierung der Polizei- und Sicherheitsgesetze, 2011, S. 11 . Zustimmend Boetticher, A.: Für eine stärkere Beteiligung des KFN an der Evaluierung neuer Sanktionen im Strafrecht, in: Festschrift für Ch. Pfeiffer, Baden-Baden 2014, S. 87. 71 Rec R(2003)20, Nr. 25, abgedruckt in: Bundesministerium der Justiz (Berlin), Bundesministerium für Justiz (Wien), Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (Bern) (Hrsg.): Die Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962 – 2003, Mönchengladbach 2004, S. 217.

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„Die Sanktionen und Maßnahmen für Jugendliche sind anhand von Forschungsstudien und auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Evaluation zu entwickeln. Zu dem Zweck sind vergleichende Daten zusammenzutragen, die die Bewertung des Erfolgs oder Misserfolgs von Sanktionen und Maßnahmen, die in Einrichtungen oder außerhalb des Vollzugs durchgeführt werden, zulassen. Bei einer solchen Evaluation sind die Rückfallquoten und deren Gründe zu berücksichtigen. … Die Behörden sind für das Sammeln der Daten und das Erstellen der Statistiken zuständig, um insbesondere die Durchführung regionaler und anderer Vergleiche zu ermöglichen.“72

Freilich sind entsprechende Evaluationen noch keine Garantie dafür, dass die Evaluationsergebnisse auch umgesetzt werden. Denn valide empirische Befunde sind lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für rationale Kriminalpolitik. Ohne derartige Befunde ist rationale Kriminalpolitik aber von vornherein nicht möglich. 4. Bestimmen Eignung und Erforderlichkeit den Einsatz des Strafrechts und der Strafe, dann sind Strafe und Strafverfahren „ultima ratio“, und zwar schon aus verfassungsrechtlichen Gründen. „Die Strafnorm stellt gewissermaßen die ,’ultima ratio‘ im Instrumentarium des Gesetzgebers dar. Nach dem das ganze öffentliche Recht einschließlich des Verfassungsrechts beherrschenden rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit darf er von diesem Mittel nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen.“73 Derzeit ist indes Strafrecht nicht ultima, sondern prima ratio.74 Die unter dem Gesichtspunkt des Übermaßverbotes erforderliche Abwägung, ob nicht andere sozialpolitische Maßnahmen ein bestimmtes Rechtsgut ebenso gut oder gar wirkungsvoller schützen können, wird weder transparent noch nachvollziehbar dargestellt.. 5. Die Möglichkeiten des Rechtsgüterschutzes durch Strafrecht werden in Teilen der Politik wie der Bevölkerung systematisch überschätzt. Wer „Sicherheit durch Strafrecht“ verspricht, täuscht und wird letztlich zum Totengräber eines rechtsstaatlichen Strafrechts. „Sicherheit durch Strafrecht“ zu versprechen, ist nicht nur nicht einlösbar, sondern führt „in einen Kreislauf steigender Repressivität“75, in einen 72 Abgedruckt in: Bundesministerium der Justiz (Berlin), Bundesministerium für Justiz (Wien), Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (Bern) (Hrsg.): Freiheitsentzug – Die Empfehlungen des Europarates zur Untersuchungshaft und zu Maßnahmen und Sanktionen gegen jugendliche Straftäter und Straftäterinnen, Mönchengladbach 2009, S. 46. 73 BVerfGE 39, 1, 45; ebenso BVerfGE 88, 203, 258. 74 „Soweit Recht überhaupt als geeignetes Mittel in Betracht kommt oder gezogen wird, fällt rechts- und kriminalpolitisch der rasche Zugriff auf Strafrecht als Instrument der Problembewältigung auf. Die einst als Ideale formulierten und bis heute in der Theorie hochgehaltenen Grundsätze von der subsidiären und fragmentarischen Natur des Strafrechts finden rechtspraktisch vielfach keinen entsprechenden Anwert. Vielmehr haben wir es eher mit einer Expansion des Strafrechts als Mittel der ,Konfliktlösung‘ zu tun“ (Müller-Dietz, H.: Prävention durch Strafrecht: Generalpräventive Wirkungen, in: Jehle, H.-J. (Hrsg.): Kriminalprävention und Strafjustiz, Wiesbaden 1996, S. 233). 75 Albrecht, H.-J.: Antworten auf Gefährlichkeit – Sicherungsverwahrung und unbestimmter Freiheitsentzug, in: Festschrift für H.-D. Schwind, Heidelberg, 2006, S. 210.

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Überbietungswettbewerb der politischen Akteure – „gegen Sicherheit“ kann, darf und wird schließlich niemand sein – und damit letztlich zur Auflösung des Strafrechts. „Wegschließen – und zwar für immer“76 verspricht zwar Sicherheit für immer vor dem Weggeschlossenen. Diese Forderung entspricht auch allen Kriterien einer kriminalpolitisch griffigen Sprache – knallhart, glasklar, einfach; diese Forderung ist aber inhaltlich falsch und rechtsstaatlich verfehlt. Denn Wegsperren eines als gefährlich eingeschätzten Täters ist in einem Rechtsstaat nur solange zulässig, wie die Gefahr besteht. „Für immer“ ist unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr die prinzipiell falsche Aussage. 6. Lückenlose „Sicherheit durch Strafrecht“ kann und wird es nicht geben. Seine generalpräventive Wirkung ist begrenzt, dies gilt selbst für die Androhung schwerster Strafen. Es wird keinem Strafrecht gelingen, schwerste Straftaten von Ersttätern zu verhindern. „Selbst das Strafrecht hart durchgreifender Diktaturen vermochte das nicht, wie die gerade aus Diktaturen bekannten Fälle von lange Zeit nicht zu fassenden Serienmördern belegen“.77 In einem rechtsstaatlichen, also begrenzten Strafrecht sind Rückfalltaten ebenso unvermeidbar wie die Verletzung des Freiheitsanspruchs des Verurteilten, der, weil fälschlich als gefährlich eingestuft, zu lange inhaftiert/verwahrt bleibt. Empirisch steht fest, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit, insbesondere von Straftätern schwerster Straftaten, stark überschätzt und deshalb der Anteil der falschen Positiven sehr hoch ist.78 Jede Prognose kann fehlerhaft sein; sie kann entweder einen Täter zu Unrecht als gefährlich (falscher Positiver) oder als ungefährlich (falscher Negativer) einstufen. Die Wahrscheinlichkeit, den Fehler zu erkennen, ist indes ungleich verteilt. Der falsche Negative wird, weil in Freiheit, aufgrund seiner Straftat erkannt; der falsche Positive hat, weil in Unfreiheit, keine Chance, seine Ungefährlichkeit in Freiheit unter Beweis zu stellen. Selbst wenn er nach Entlassung nicht rückfällig wird, ist dies kein zwingender Beleg für eine Fehlprognose, sondern kann auch Beleg für die Wirksamkeit der Behandlung sein oder gedeutet werden. Dies bedeutet ferner, dass Verbesserungen der Prognosemethoden durch „Lernen aus den Fehlern“ sich vorwiegend am Fehler „falscher Negativer“ orientieren. Die Annahme, Gutachter neigten zur Überschätzung des Risikos, ist deshalb nicht unbegründet. Zur Furcht vor dem Fehler „falscher Negativer“ kommen noch hinzu der allgemeine kriminalpolitische und mediale Druck, das latente strafrechtliche Risiko, der lange Vorhersagezeitraum und die niedrige Basisrate.79 Eine Diskussion darüber, 76

„Was die Behandlung von Sexualstraftätern betrifft, komme ich mehr und mehr zu der Auffassung, dass erwachsene Männer, die sich an kleinen Mädchen vergehen, nicht therapierbar sind. Deswegen kann es nur eine Lösung geben: wegschließen – und zwar für immer“ (Alt-Bundeskanzler G. Schröder, Interview, Bild am Sonntag vom 8. 7. 2001; vgl. auch „Die Zeit“, 12.7. und 19. 7. 2001). 77 Frisch, W.: Sicherheit durch Strafrecht? – Erwartungen, Möglichkeiten und Grenzen, in: Gedächtnisschrift für E. Schlüchter, Köln u. a. 2002, S. 686. 78 Vgl. Heinz, W.: Sicherungsverwahrung in Deutschland, Bewährungshilfe 2013, S. 342 ff. m.w.N. 79 Unter Basisrate ist die Rückfallrate in der Population zu verstehen, auf die die Prognosemethode angewendet wird (hierzu Volckart, B.: Zur Bedeutung der Basisrate in der Krimi-

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wie hoch der „Preis“ – Anteil der falschen Positiven – sein darf, um z. B. die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Sexualdelikten zu senken, ist deshalb notwendig. 7. Der moderne Gesetzgeber in Japan wie in Deutschland reagiert vor allem auf dramatische Einzelfälle. „Strafgesetze, aus Empörung oder Furcht vor wenigen geboren, taugen nur schlecht für die vielen.“80 Es ist durchaus legitim, dass Strafrechtspolitik Opferschutz als Ziel präventiven Strafens berücksichtigt und Opferinteressen zu wahren sucht. Letzteres geschieht vor allem im Strafprozess sowie bei der Sanktionswahl (Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich). Strafverschärfungen werden neuerdings aber auch damit begründet, eine milde Strafe sei eine Verhöhnung der Opfer.81 Aber: Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz, nicht der Befriedigung von etwaigen Vergeltungsbedürfnissen des Opfers. 8. Aufgabe des Strafrechts ist Rechtsgüterschutz, nicht Furchtbekämpfung. Der Ängste wegen dürfen Grundrechte – und hierum geht es beim Strafrecht – nicht eingeschränkt werden; ganz abgesehen davon, dass Strafrecht hierfür völlig ungeeignet ist. Denn nach allen Befunden sind Ausmaß und Entwicklung der Kriminalitätsfurcht unabhängig von der objektiven Sicherheitslage. 9. Kriminalität ist durch eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen, individuellen und situativen Faktoren bedingt, die regelmäßig außerhalb des Einflusses des strafrechtlichen Systems liegen. So belegen z. B. Untersuchungen zur Kriminalität sowohl jugendlicher Mehrfach- und Intensivtäter wie jugendlicher Gewalttäter ein hohes Maß sozialer und individueller Defizite und Mängellagen bei diesen Tätergruppen, angefangen von Gewalt in der Familie, materiellen Notlagen, Integrationsproblemen vor allem bei jungen Migranten (mit oder ohne deutschen Pass), bis hin zu Schwierigkeiten in Schule und Ausbildung und dadurch bedingter Chancen- und Perspektivlosigkeit. Lebenslagen und Schicksale sind positiv beeinflussbar – aber am Wenigsten mit den Mitteln des Strafrechts. Mit Strafrecht lassen sich soziale Probleme nicht lösen. 10. Strafrecht kann weder Ersatz noch darf es Lückenbüßer sein für ungenügende Kinder- und Jugendhilfe oder für Mängel und Versäumnisse der Sozial- und Integranalprognose. In: Recht und Psychiatrie 2002, S. 105 ff.). Da die Basisrate für schwere Straftaten zwar bei der für Gefährlichkeitsprognosen in Betracht kommenden Population deutlich höher als in der Normalbevölkerung, aber immer noch relativ gering ist, führt dies zu einer systematischen Überschätzung falscher Positiver. Denn je niedriger die Basisrate ist, umso höher ist die Rate falscher Positiver. 80 Eser, A.: Einführung, Rdnr. 19, in: Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch. Kommentar. 29. Aufl., München 2014. 81 „In unseren Gerichten werden junge Straftäter auch für schwere Taten nicht selten mit vergleichsweise niedrigen Strafen belangt. Denn die Richter schöpfen selten den geltenden Strafrahmen von derzeit maximal 10 Jahren bis ganz nach oben aus. Und wenn dies einmal doch der Fall ist, aber wir sogar den schlimmsten Mörder nach spätestens zehn Jahren wieder aus der Haft entlassen müssen, fühlen sich die Opfer oft zu recht verhöhnt“ (Justizminister Dr. Goll, Baden-Württemberg, in einer Pressemitteilung des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 10. 8. 2005 .

Evidenzbasierte Kriminalpolitik in punitiven Zeiten?

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tionspolitik. Von den Einsichten eines Aufklärers des 18. Jahrhunderts – Cesare Beccaria: „Besser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen“82 – oder eines Strafrechtslehrers zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Franz von Liszt: „Sozialpolitik (stellt) zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik dar“83 – ist die gegenwärtige, in Teilen populistisch orientierte kriminalpolitische Diskussion in Deutschland weit entfernt. Weiterhin gilt die Klage von Gustav Radbruch: Es ist „des Strafrechts fragwürdige Aufgabe …, gegen den Verbrecher nachzuholen, was die Sozialpolitik für ihn zu tun versäumt hat. Bitterer Gedanke, wie oft die Kosten des Verfahrens und Vollzuges, vor der Tat aufgewendet, genügt hätten, das Verbrechen zu verhindern!“84

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Beccaria, C.: Über Verbrechen und Strafe (nach der Ausgabe von 1766 übersetzt von Alff), Frankfurt a.M. 1966, S. 148. 83 von Liszt, F.: Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, in: von Liszt, Franz: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 Berlin, 1905, S. 246. 84 Radbruch, G.: Einführung in die Rechtswissenschaft. 7./8. Aufl., Leipzig 1929, S. 105 f.

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich Ansatz und Ertrag des European Sourcebook of Criminal Justice Jörg-Martin Jehle

I. Sinnhaftigkeit und Problematik internationaler Vergleiche 1. Warum überhaupt internationale Vergleiche? Wenn man den Umfang, die Erscheinungsformen und die Entwicklung der Kriminalität eines Landes beurteilen will, muss man sie in einen internationalen Zusammenhang stellen; sonst besitzt man keinen Maßstab.1 Dementsprechend findet sich in der Kriminologie ein großes Bemühen, theoretische und empirische Erkenntnisse aus vielen Ländern vergleichend zusammenzustellen.2 Sieht man jedoch genauer zu, wird deutlich, dass es zumeist Ergebnisse nationaler Studien sind, die in einer mühevollen Weise im Ausland zusammengetragen werden müssen, damit man sie einer vergleichenden Analyse unterziehen kann. So verdienstvoll dieses Vorhaben ist, so schwierig ist es jedoch, eindeutige Schlüsse aus den unterschiedlichen Studien der verschiedenen Länder herzuleiten, da Ansatz, Methoden und Zeiträume der Untersuchungen nicht identisch sind. In einem eigentlichen Sinne internationale Studien, die denselben Gegenstand mit gleichartigen Methoden und identischen Zeiträumen in verschiedenen Ländern durch ein internationales Forscherteam untersuchen, sind jedoch äußerst selten.3 Dieses Defizit an echten internationalen Studien ist umso erstaunlicher, als die nationale Kriminal- und Strafrechtspolitik seit jeher darum bemüht ist, einen vergleichenden Blick auf die Verhältnisse in Nachbarstaaten zu werfen. Denn will sie über den Status quo hinausgehen und neue Wege einschlagen, kann sie sich gewöhnlich nicht auf die praktischen Erfahrungen im Inland berufen. So richtig der Blick über die nationalen Grenzen hinweg erscheint, so problematisch ist es indessen, isoliert bestimmte strafrechtliche Einrichtungen, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu verglei1 So schon Jehle, J.-M., Kriminalität, Strafverfolgung und Strafjustiz im europäischen Vergleich, in Schwind, H.D. (Hrsg.) u. a., Festschrift für Hans Joachim Schneider, Berlin: De Gruyter, 1998, S. 509 ff. 2 Ein hervorragendes Beispiel ist Killias, M., Grundriss der Kriminologie: Eine europäische Perspektive, Bern: Stämpfli 2002. 3 Ein prominentes Beispiel ist der internationale Crime Survey von van Dijk et al, Criminal victimization in international Perspective, Den Haag: Boom 2007.

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chen, wenn deren Stellenwert im Gesamtsystem des jeweiligen Strafrechts nicht hinreichend berücksichtigt werden kann. Was hier also fehlt, sind nach den gleichen Standards erhobene Daten über die jeweiligen nationalen Kriminaljustizsysteme, die in einer vergleichenden Zusammenschau international bewertet werden können.4 Das Bewusstsein dieses Mangels und der Wunsch ihm abzuhelfen, sind fast so alt wie die Kriminologie selbst. Bereits früh im 19. Jahrhundert, als die ersten Datensammlungen im Bereich der Strafrechtspflege im westlichen Europa begonnen wurden, gab es Studien, die internationale oder interregionale statistische Vergleiche anstellten und die insbesondere mit den Namen von Quetelet und seinen Kollegen verbunden sind.5 Aber bereits in diesen ersten Anfängen wurden die Schwierigkeiten und Mängel vergleichender Forschung sichtbar, die bis zum heutigen Tag nicht völlig überwunden sind. Möglicherweise haben diese Schwierigkeiten letztlich dazu geführt, dass trotz der erkannten Bedeutung internationaler Studien erst in jüngerer Zeit die internationale Forschung einen neuen Aufschwung nimmt. Angesichts einer immer enger miteinander verbundenen Welt und eines zusammenwachsenden Europas werden nicht nur ökonomische und soziale Vergleiche benötigt, sondern es gibt auch die wachsende Notwendigkeit, Kriminalitätsentwicklung ebenso wie Strafrechtspolitik und Kriminaljustiz der verschiedenen Länder miteinander zu vergleichen. 2. Grundsätzliche Schwierigkeiten internationaler Vergleiche von kriminalstatistischen Daten Versuche, Daten nationaler Kriminalstatistiken miteinander zu vergleichen, sind höchst komplizierte Unternehmungen. Deshalb existieren auch nur wenige internationale Studien und Datensammlungen, die hauptsächlich von internationalen Organisationen durchgeführt werden.6 In den letzten Jahren hat sich vermehrt das europäische statistische Amt (EuroStat) darum bemüht, zur Kriminalität insgesamt und zu einigen Straftatbeständen in allen zur EU gehörigen Ländern Daten zu sammeln, 4 Immerhin gibt es seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland die sehr verdienstvolle Reihe von Eser, A./Huber, B. (Hrsg): Strafrechtsentwicklung in Europa 1, 2, 3, 4, 5, Landesberichte 1982/84, 1984/86, 1986/88, 1989/92, 1993/96, Freiburg: Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht 1985, 1987, 1990, 1994, 1997, zuletzt 1999, die nach einem einheitlichen Muster erstellte Landesberichte über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Reformvorhaben enthält, freilich ohne Angaben von empirischen Daten; fortgesetzt durch die Reihe von Sieber, U./Cornils, K. (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, 5 Teilbände, Berlin: Duncker & Humblot, 2009 – 2010 und National Criminal Law in a Comparative Legal Context. Vol.1.1 – 4.1., Berlin: Duncker & Humblot 2013 – 2015. 5 Vergleiche auch Killias, M./Rau, W., The European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics: A new tool in assessing crime and policy issues in comparative and empirical perspective, in: European Journal on Criminal Policy and Research, 8 (1), Dordrecht [u. a.]: Springer 2000, S. 3 – 12. 6 Vergleiche die Zusammenstellung von Lewis, C., Crime and Justice Statistics Collected by International Agencies, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, Dordrecht [u. a.]: Springer 2012, S. 5 – 21.

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zunächst beschränkt auf die polizeiliche Ebene und seit kurzem auch bezogen auf gerichtliche Aburteilungen.7 Dabei greift es auf den Ansatz des European Sourcebook (siehe unten II.) zurück, Standarddefinitionen für die zu erfassenden Delikte vorzugeben, und benutzt hierfür das jüngst entwickelte Instrument der internationalen Straftatenklassifikation der Vereinten Nationen.8 Freilich fehlt es noch weitgehend an Metadaten, die die nationalen Abweichungen von den Deliktsdefinitionen und die dadurch hervorgerufenen – auch statistischen – Unterschiede erklären. Zunächst versteht sich von selbst, dass der Zustand der nationalen Statistiken durchschlägt auf den internationalen Vergleich, denn in jedem Fall muss die Datenerhebung auf die nationalen Quellen rekurrieren. Abgesehen von der Zuverlässigkeit und Vollständigkeit der Datenerhebung liegt ein zentrales Problem, das auch die internationale Vergleichbarkeit beeinflusst, in der fehlenden Kompatibilität der Daten auf den verschiedenen Stufen des Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsprozesses. Denn insoweit werden von verschiedenen Einrichtungen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Strafvollzug) Daten für verschiedene Statistiken zu verschiedenen Zeiten und auf den unterschiedlichen Ebenen des Strafverfahrens gesammelt.9 Für den eigentlichen internationalen Ansatz stellen sich Probleme der Vergleichbarkeit auf allen Ebenen: Es gibt Unterschiede in den Definitionen der Straftaten, im Ablauf des Strafverfahrens, bei den beteiligten Institutionen, den verhängten Sanktionen und nicht zuletzt in der Art und Weise, wie die Informationen darüber statistisch erfasst werden. Selbst wenn die Deliktdefinitionen in den verschiedenen Ländern vergleichbar erscheinen, können sich abweichende Regeln der statistischen Erfassung negativ auswirken: So zum Beispiel können der Erfassungszeitpunkt oder aber die Behandlung von Serienstraftaten deutlich voneinander abweichen. Für den internationalen Vergleich von entscheidender Bedeutung ist, nicht nur Kriminalität als Ganzes zu betrachten, weil die Grenze zwischen strafrechtlich verfolgten Verstößen und anderen Rechtsbrüchen – etwa im Sinne der Ordnungswidrigkeiten nach deutschem Recht – von Land zu Land recht unterschiedlich verläuft. Insoweit ist es aussagekräftiger, sich auf ausgewählte Delikte zu beziehen, die zum Kernbestand des Strafrechts gehören; aber auch dort tauchen erhebliche Schwierigkeiten auf: So existiert zum Beispiel bezüglich der Körperverletzung nach deutschem Recht und dem assault nach angelsächsischem Recht keine übereinstimmendes rechtliches Konzept. Während assault in Ländern des Common Law als physischer Angriff verstanden wird, ist der eingetretene Erfolg in Form einer Beeinträchtigung der physischen Integrität nach deutschem Recht entscheidend. Dieser Unter7 http://ec.europa.eu/eurostat/de/home- Statistics explained/ Crime and criminal justice statistics. 8 https://www.unodc.org/–International Classification of Crime for Statistical Purposes (ICCS). 9 Vergleiche näher Optimierung des bestehenden kriminalstatistischen Systems in Deutschland, hrsg. vom Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, erarbeitet von einer Expertengruppe unter Einschluss des Autors, Baden-Baden: Nomos 2009.

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schied wirkt sich im Übrigen auch bei Opferbefragungen aus; so wird auch in Deutschland unter Verwendung der internationalen Standardfragen regelmäßig nach „körperlichem Angriff“ und nicht nach einer „Körperverletzung“ gefragt, die für die kriminalstatistische Erfassung maßgeblich ist. Ebenso treten Unterschiede bei der weiteren strafrechtlichen Behandlung des Delikts auf den Ebenen der Strafverfolgung, Aburteilung und Vollstreckung zu Tage. Zum Teil wird Körperverletzung bzw. assault nur nach einem entsprechenden Strafantrag des Opfers verfolgt, oder die Staatsanwaltschaft kann aus Gründen der Opportunität das Verfahren einstellen oder den Täter selbst sanktionieren. Solche Selektionsprozesse wirken sich naturgemäß auch auf die Ebene der Aburteilung und Strafvollstreckung aus. Zusammengenommen könnten diese Schwierigkeiten den Eindruck vermitteln, sie seien so erheblich, dass man nicht sicher wissen könne, ob die auffindbaren Unterschiede ebenso wie die möglichen Ähnlichkeiten in dem statistischen Zahlenmaterial als solche interpretiert werden dürfen oder ob man „Äpfel mit Birnen“ vergleicht. Indessen sollte man angesichts der Schwierigkeiten, die aus diesen schwer kontrollierbaren Unterschieden resultieren, nicht resignieren; vielmehr müssen die Unterschiede auf allen Ebenen sorgfältig herausgearbeitet und beschrieben werden – letztlich mit dem Ziel, langfristig auf eine stärkere Harmonisierung und Standardisierung der Datensammlungen hinzuarbeiten.10 Leichter lassen sich die genannten Interpretationsschwierigkeiten überwinden, wenn man sich nicht mit einem Querschnittsvergleich in einem gegebenen Jahr begnügt, sondern im Längsschnitt Entwicklungen zueinander in Bezug setzt. Sofern sich in den verschiedenen Ländern im gegebenen Zeitraum an den nationalen rechtlichen Bedingungen und den statistischen Erfassungsmodalitäten nichts geändert hat, so sind auseinander laufende Entwicklungen in den verschiedenen Ländern ohne weiteres als reale Unterschiede zu interpretieren. Allerdings ist diese ideale Situation nicht immer gegeben. In jedem Falle erscheinen Längsschnittvergleiche fruchtbarer als Querschnittvergleiche, so dass es das Ziel internationaler Datensammlungen sein muss, über einen längeren Zeitabschnitt hinweg gleichmäßig Daten zu erheben.

II. Das Projekt „European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics“ Der Europarat hat seit 1993 eine wichtige Rolle hinsichtlich der Zusammenstellung internationaler Statistiken auf dem Gebiet der Strafrechtspflege übernommen. Zunächst konzentrierten sich diese Bemühungen auf den Strafvollzug.11 Der Erfolg 10

Dies ist letztlich auch das Anliegen der von den Vereinten Nationen erarbeiteten Standards zur Deliktserfassung (s. Fn.8). 11 Council of Europe annual penal statistics, zunächst erarbeitet von Pierre Tournier, seither von Aebi, M.F. et al. 2003, 2010, 2012, 2013.

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auf dem Gebiet des Strafvollzugs hat den Europarat ermutigt, eine Pilotstudie auf den Weg zu bringen, welche die Machbarkeit eines europäischen Quellenbuchs über das gesamte Kriminaljustizsystem untersuchen sollte. Es wurde eine Expertengruppe von Wissenschaftlern aus sieben verschiedenen europäischen Ländern eingesetzt, die durchweg in kriminologischen oder kriminalstatistischen Einrichtungen tätig waren.12 Vorbild für das Unterfangen war das Sourcebook of Criminal Justice Statistics, das vom US-amerikanischen Department of Justice seit 1973 herausgegeben wird.13 Allerdings wurde sehr schnell sichtbar, dass das europäische Projekt neue Wege gehen musste, wenn es substanzielle Verbesserungen erzielen möchte.14 Zunächst ging es darum, sich darauf zu verständigen, welche Art von Delikten und persönlichen Merkmalen, welche speziellen Maßnahmen und sonstigen Polizei- und Justizdaten auf welchen Ebenen des Verfahrens erfasst werden sollten. Dabei zeigte sich rasch, dass es nicht genügte, mit kommentierenden Fußnoten auf Unterschiede in den verschiedenen Ländern hinzuweisen, sondern dass mithilfe präziser Fragen und Standardvorgaben für Delikte und Maßnahmen die nationalen Unterschiede sorgfältig herausgearbeitet und in tabellarischen Übersichten dokumentiert werden müssen, soll das Zahlenwerk überhaupt einer Interpretation zugänglich sein. Zugleich müssen die jeweiligen technischen Prozeduren und statistischen Erfassungsmodalitäten dargelegt werden. Nach der Vorlage des Modells hat der Europarat 1996 beschlossen, dass eine erweiterte Expertengruppe für alle dem Europarat angehörigen Staaten ein European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics (im Folgenden: Sourcebook) erstellen sollte. Die Mitglieder dieser erweiterten Expertengruppe fungieren zugleich als Koordinatoren für die Korrespondenten aus den übrigen nicht vertretenen europäischen Ländern. Durch die Auswahl von kompetenten und engagierten Personen als nationale Korrespondenten und deren Kommunikation mit den regionalen Koordinatoren kann die Qualität und Zuverlässigkeit der übermittelten Daten und Informationen sichergestellt werden; zudem werden die Zahlen Plausibilitätschecks unterzogen, sodass „Ausreißer“ korrigiert werden können. Die 1. Auflage eines solchen Sourcebook erfasste die Jahre 1990 – 1996 und die folgenden Auflagen, die überwiegend mit EU-finanzierten Forschungsprojekten einhergingen15 und in regelmäßigen 3 – 4-jährigen Abständen erschienen, können lückenlos die statistischen Daten für die 12

Für Deutschland war und ist der Autor beteiligt. In Zusammenarbeit mit der University at Albany: www.albany.edu/sourcebook/ . 14 Zur Entstehungsgeschichte siehe näher Killias, M./Rau, W. 2000 (s. Fn.5) sowie Jehle, J.-M., Crime and Criminal Justice in Europe – The Approach of the European Sourcebook, in: Kuhn, A. et al. (Hrsg.), Kriminologie, Kriminalpolitik und Strafrecht aus internationaler Perspektive, Bern: Stämpfli 2013a, S. 191 – 204. 15 Jehle, J.-M./Harrendorf, S., Defining and Registering Criminal Offences and Measures: Standards for a European Comparison, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2010; Heiskanen, M./van der Brugge, W./Jehle, J.-M. (eds.), Recording Community Sanctions and Measures and Assessing Attrition, Helsinki: Heuni 2014. 13

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ursprünglich ausgewählten Delikte zwischen 1990 und 2011 darstellen. Seit der vierten Auflage16 ist der Kreis der berichteten Delikte erheblich erweitert worden und seit der fünften Auflage (2007 – 201117) können die Sanktionen stärker differenziert, insbesondere die sog. Community sanctions genauer dargestellt werden. Im Anschluss daran ist eine Folgeerfassung für die Jahre 2011 – 2016 in Planung. Über alle fünf Auflagen hinweg wurde indessen die grundlegende Struktur von fünf Abschnitten beibehalten: 1. Taten und Täter auf polizeilicher Ebene, 2. Strafverfolgung und staatsanwaltschaftliche Entscheidungen, 3. Verurteilungen und Strafen bzw. Maßnahmen, 4. Freiheitsentziehung bzw. Strafvollzug und 5. Daten aus Viktimisierungsstudien. Allerdings sind nur für die polizeiliche und gerichtliche Ebene detaillierte deliktbezogene Daten verfügbar; infolgedessen kann man auch den Selektionsprozess in Form eines deliktbezogenen Verlusts der Fälle nur beobachten, indem man die Quantitäten von Taten und Tätern auf polizeilicher Ebene mit den Verurteilungen bzw. verurteilten Personen auf gerichtlicher Ebene vergleicht (s. V.).

III. Vergleiche auf den verschiedenen Ebenen 1. Input in das kriminalstatistische System, Dunkelfeldstudien Kriminalstatistiken beschreiben nicht die Kriminalitätswirklichkeit als Ganzes, sondern reflektieren nur, was der Polizei berichtet oder von ihr entdeckt und als Straftaten registriert wird. Der Input in das statistische System hängt stark vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung, besonders der Opfer, ab. Die Anzeigequoten werden beeinflusst von der Anzeigemotivation der Opfer und deren Vertrauen in das korrekte und wirksame Handeln von Polizei und Staatsanwaltschaft. Ist dieses gering, wird auch wenig angezeigt und statistisch registriert; so verwundert es nicht, dass manche Staaten, wie z. B. Albanien, eine extrem niedrige Diebstahlsrate haben.18 Bedauerlicherweise gibt es derzeit keine europaweiten Opferstudien, die mit denselben Methoden, denselben Fragen und dem gleichen Erhebungszeitraum die Opfersituation und das Anzeigeverhalten erfassen.19 Das von der Europäischen Kommission – auf der 16 Aebi, M./Aubusson de Cavarlay, B./Barclay, G./Gruszczyn´ska, B./Harrendorf, S./Heiskanen, M./Hysi, V./Jaquier, V./Jehle, J.-M./Killias, M./Shostko, O./Smit, P./Porisdottir, R., European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – 2010, 4th edition, Den Haag: Boom 2010. Analysis of the results of this edition is presented in a special issue of the European Journal of Criminal Policy and Research, Vol. 18, No. 1, Heidelberg: Springer 2012. 17 Aebi, M. F./Akdeniz, G./Barclay, G./Campistol, C./Caneppele, S./Gruszczyn´ska, B./ Harrendorf, S./Heiskanen, M./Hysi, V./Jehle, J.-M./Jokinen, A./Kensey, A./Killias, M./Lewis, C. G./Savona, E./Smit, P./Thorisdottir, R., European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – 2014, 5th edition, Helsinki: Hakapaino 2014 (zitiert: Sourcebook 2014). 18 European Sourcebook (Fn. 17), S. 46. 19 van Dijk, J./de Castelbajac, M., The hedgehog and the fox; the history of victimisation surveys from a Trans-Atlantic perspective, S.10 – 28; sowie Mischkowitz, R., Betrachtungen zur Geschichte der Dunkelfeldforschung in Deutschland, S.29 – 61, 48 – 50, in: Guzy, N./Bir-

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Grundlage eines Papiers der Expertenkommission für „policy needs“20 – vorgeschlagene Projekt einer EU Dunkelfeld Studie (EU SASU) ist leider vom Europäischen Parlament zunächst abgelehnt worden. Deshalb ist man darauf angewiesen, auf die wenigen internationalen Studien auf diesem Feld zurückzugreifen. Die letzte derartige Studie21 enthält vergleichbare Daten für 6 Straftatentypen (Körperverletzung und Drohungen, Raub, sexueller Angriff und verschiedene Diebstahlsdelikte) aus 16 europäischen Ländern; sie zeigen deliktsbezogen stark variierende Anzeigequoten: vergleichsweise hohe, was den Autodiebstahl angeht, und sehr niedrige in Bezug auf sexuellen Angriff.22 Was Letzteren betrifft, ist allerdings zu bedenken, dass die den Befragten vorgelegte Tatumschreibung viel weiter reicht als die meisten nationalen Strafbestimmungen. Daher verbietet sich auch ein unmittelbarer Vergleich mit den polizeilichen Statistikdaten. 2. Unterschiedliche Konzepte der Straftaten, polizeiliche Erfassung Eines der größten Probleme im Bereich der vergleichenden Kriminologie liegt darin, dass die Deliktdefinitionen, die auch für die statistische Erfassung benutzt werden, nicht kompatibel sind. Am problematischsten ist es, wenn man versucht, Kriminalität als Ganzes darzustellen. Denn welches Verhalten als kriminell definiert ist und wie dies von der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden behandelt und wie es schließlich in den betreffenden Statistiken erfasst wird, ist von Land zu Land unterschiedlich. Deshalb kann man nicht einfach das Kriminalitätsniveau zwischen europäischen Ländern vergleichen, und deshalb hat das Sourcebook anfänglich auch auf die Erfassung des Gesamts der Kriminalität verzichtet. Da im Hinblick auf die Arbeitsbelastung von Polizei und Kriminaljustiz freilich auch das Gesamtbild sinnvoll ist, wird ein Standardkonzept vorgegeben; danach soll insbesondere dokumentiert werden, wie das jeweilige Kriminaljustizsystem die Verkehrsdelikte und andere Kleinkriminalität behandelt. Dabei zeigt sich, dass es einige Länder gibt, die bestimmte Bagatelldelikte ganz aus dem Strafrecht ausschließen (zum Beispiel in Polen die sog. wykroczenia) oder sie einem speziellen Verfahren außerhalb des Kriminaljustizsystems zuführen (so zum Beispiel die contraventions in Frankreich23). Ähnliches gilt für nicht erhebliche Straftaten von Jugendlichen, die insbesondere in postsozialistischen Ländern außerhalb des Kriminaljustizsystems behandelt werden. Letztlich können diese Unterschiede gut dokumentiert werden, jedoch bedeutet kel, C./Mischkowitz, R. (Hrsg.), Viktimisierungsbefragungen in Deutschland, Band 1, Wiesbaden 2015, S. 10 – 28. 20 s. van Dijk/de Castelbajac (Fn. 19), S.21 ff. 21 van Dijk, J. et al. 2007 (s. Fn. 3). 22 Gruszczyn´ska, B./Heiskanen, M., Trends in Police Recorded Offences, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, No.1, Heidelberg: Springer 2012, S. 98 ff. 23 Jehle, J.-M., The Public Prosecutor as Key Player: Prosecutorial case-ending decisions, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 14, Nos.2 – 3, Heidelberg: Springer 2008, S. 161 – 179.

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das, dass die einzelnen Länder in unterschiedlichem Maß über Bagatelldelikte berichten. Die Vergleichbarkeit von statistischen Zahlen kann verbessert werden, wenn man sich auf eine Auswahl bestimmter Delikte bezieht. Das Sourcebook begann mit einer kleinen Gruppe klassischer Delikte, hat dann aber die Reichweite auf 27 Deliktsgruppen und -untergruppen ausgeweitet.24 Die Methoden zur Verbesserung der Vergleichbarkeit sind im Laufe der Zeit verfeinert worden: Wir haben Standarddefinitionen entwickelt und die Deliktstypen nach bestimmten Merkmalen differenziert, die in oder aus der Kategorie ein- oder ausgeschlossen sein sollten (Tab. 1: Beispiel Raub). Tabelle 1 Raub – Standarddefinition und statistische Erfassung Robbery Standard definition: stealing from a person with force or threat of force Indicate if included in or excluded from: police statistics

conviction statistics

incl.

incl.

excl.

excl.

Include the following: muggings (bag-snatchings) theft immediately followed by force or threat of force used to keep hold of the stolen goods attempts Exclude the following: pick-pocketing extortion blackmailing

Auf diese Weise kann für jedes Delikt und für jedes Land dokumentiert werden, in welchem Ausmaß die nationalen Daten der Standarddefinition entsprechen. Die Definitionen, die für die meisten Länder statistisch darstellbar waren, sind Raub, Dieb-

24

Jehle, J.-M./Harrendorf, S. 2010 (s. Fn. 15).

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stahl und Drogendelikte. Indessen gibt es größere Probleme der Vergleichbarkeit für den sexuellen Angriff, für Einbruchsdiebstahl und für Betrug.25 Ein Weg, diese Schwächen internationaler Vergleiche zu überwinden, müsste also jenseits der gesetzlichen Definition ansetzen. Bereits heute registriert die Polizei vielfach nicht nur den Bruch einer gesetzlichen Bestimmung, sondern ergänzt kriminologische Daten, zum Beispiel bezogen auf das Objekt oder das Opfer des Delikts. Um ein Beispiel zu geben, lautet die Standarddefinition im Sourcebook für „burglary: gaining access to private premises by use of force with the intent to steal goods“. Da in vielen europäischen Ländern der Einbruchsdiebstahl eine besondere Form eines breiteren Konzepts des schweren Diebstahls ist, kann er nur isoliert erfasst werden, sofern es zugleich ergänzende Informationen über das Diebstahlsobjekt und den Modus Operandi gibt; dies leisten die polizeilichen Kriminalstatistiken in vielen Ländern; jedoch in der Regel nicht die gerichtsbezogenen Statistiken. Aber auch dort, wo die Deliktsdefinition zwischen Ländern nicht stark differiert, muss man in Rechnung stellen, dass die Erfassungsmodalitäten stark unterschiedlich sind. Dies lässt sich am Beispiel des Diebstahls in einigen nord- und westeuropäischen Ländern zeigen: Schweden Delikte Schweden Tatverd.

Finnland Delikte Finnland Tatverd.

Deutschland Delikte Deutschland Tatverd.

Engl. & Wales Delikte Engl.Tatverd. & Walesverfügbar Tatverd. E. & W. keine

8000

Rate pro 100.000 der Wohnbevölkerung

7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 2003

2004

2005

2006

2007 I

2007 II

2008

2009

2010

2011

Bezugsjahr

Zahlen aus dem European Sourcebook 2010, S. 50 und 76 und dem European Sourcebook 2014, S. 46 und 68

Abbildung 1: Diebstahl – Delikt- und Tatverdächtigenraten

25 Harrendorf, S., Offence definitions in the European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics and their influence on data quality and comparability, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, No.1, Dordrecht [u. a.]: Springer 2012, S. 23 – 53.

662

Jörg-Martin Jehle

Während die Länder England und Wales, Finnland und Deutschland nahe zusammenliegen, sowohl was die registrierten Taten als auch die Tatverdächtigen pro 100.000 der Wohnbevölkerung betrifft, ragt Schweden deutlich heraus: Zum einen liegen die Raten für die registrierten Taten weit über denen in anderen Ländern; umgekehrt liegen die Raten der Tatverdächtigen am unteren Ende: Die Erklärung liegt wohl darin, dass dort die Registrierung von Taten und Tatverdächtigen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgt: die Taten zu Anfang des Verfahrens, wenn sie der Polizei angezeigt werden oder ihr sonst zur Kenntnis gelangen; die Tatverdächtigen, wenn die Polizei die Akte bei hinreichendem Tatverdacht an die Staatsanwaltschaft weitergibt. Schaut man indessen den Verlauf zwischen 2007 und 2011 an, zeigen sich ähnliche – nämlich leicht rückläufige Trends. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass im internationalen Vergleich Trendanalysen der Vorzug zu geben ist. 3. Staatsanwaltschaftliche Erledigungen als Teil des strafrechtlichen Selektionsprozesses Das Phänomen des Fallschwundes von der polizeilichen zur gerichtlichen Ebene ist heute ein allgemein anerkannter Befund.26 Er kann in jedem Kriminaljustizsystem und für jedes Delikt beobachtet werden. Allerdings findet man von Land zu Land unterschiedliche Formen, wie Entkriminalisierung bzw. Entpönalisierung stattfindet und welche Möglichkeiten der Polizei und der Staatsanwaltschaft eingeräumt sind, Verfahren selbständig zu erledigen. Die Ebene der Staatsanwaltschaft als Zwischenstadium zwischen Polizei und Gericht spielt eine entscheidende Rolle für die strafrechtliche Selektion in den meisten europäischen Ländern,27 aber in jedem Falle hängt die Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft vom Input seitens der Polizei ab. Wenn ein großer Anteil von Fällen entkriminalisiert wird, indem die Polizei Verfahren endgültig beendet, wird sich die Staatsanwaltschaft auf schwerere Delikte konzentrieren und auch deshalb weniger Einstellungsmöglichkeiten brauchen; wenn die Polizei auf der anderen Seite gezwungen ist, alle Fälle der Staatsanwaltschaft zu übergeben, so wird das Kriminaljustizsystem der Staatsanwaltschaft erhebliche Einstellungskompetenzen einräumen. Entsprechend diesen unterschiedlichen staatsanwaltschaftlichen Kompetenzen variiert auch der Input auf der gerichtlichen Ebene sehr stark; deshalb kann man nicht einfach Verurteiltenraten oder entsprechende Niveaus in Europa miteinander vergleichen, ohne diese verschiedenen Erledigungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft zu berücksichtigen. Insofern hat das Sourcebook unterschiedliche Kategorien von staatsanwaltschaftlichen Erledigungen entwickelt: Fälle, die vom Gericht entschieden werden, Sanktionen, die von der Staatsanwaltschaft auferlegt werden (oder vom Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft ohne eine förmliche Hauptverhandlung) und zu einem formalen Schuldspruch 26

Jehle, J.-M., Selektion in europäischen Kriminaljustizsystemen am Beispiel der Sexualdelikte, in: Boers, K. et al., Kriminologie – Kriminalpolitik – Strafrecht, Tübingen: J.C.B. Mohr 2013b, S. 711 – 726. 27 Jehle, J.-M. 2008 (Fn.23).

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich

663

führen; bedingte Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft verbunden mit einer Auflage und solche ohne Auflagen aus Opportunitätsgründen; schließlich solche wegen mangelnden Tatverdachts oder rechtlicher Prozesshindernisse. Diese Kategorisierung baut auf einer vertiefenden Studie über die Funktion der Staatsanwaltschaft in Europa auf.28 Statistische Informationen über diese staatsanwaltschaftlichen Erledigungen können das Ausmaß der Selektion von strafrechtlichen Fällen aufzeigen. Aber infolge der fehlenden Daten in den meisten nationalen Statistiken kann das European Sourcebook keine detaillierten deliktbezogenen Daten auf staatsanwaltschaftlicher Ebene präsentieren, deshalb ist hier der wichtige Selektionsprozess nicht zu beobachten. Weil deliktbezogene Informationen nur auf polizeilicher und gerichtlicher Ebene vorhanden sind, lassen sich also nur die bekannt gewordenen Straftaten und die Tatverdächtigen auf Polizeiebene mit den verurteilten und bestraften Personen auf gerichtliche Ebene vergleichen. Auf diese Weise kann das quantitative Ausmaß der Reduktion von der Polizei zur gerichtlichen Ebene gezeigt werden, jedoch offenbaren sich nicht die Gründe in Bezug auf die entscheidenden Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft. 4. Gerichtliche Strafen und Maßnahmen, Bewährungsaufsicht und Strafvollzug Anders als auf staatsanwaltschaftlicher Ebene lässt sich auf der gerichtlichen Ebene ein differenziertes Bild der dort behandelten Kriminalität zeichnen, insbesondere lässt sich nach den verschiedenen Delikten differenzieren. Was die gerichtlich ausgesprochenen Sanktionen angeht, so hat das Sourcebook in den ersten Auflagen vier Kategorien vorgesehen: Geldstrafen, nicht freiheitsentziehende Sanktionen, zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen und unbedingte Freiheitsstrafen. Neben dem bekannten Unterschied zwischen Probation Order entsprechend dem englischen Recht und der Strafaussetzung zur Bewährung nach dem kontinentalen Recht hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings eine Vielfalt von Formen nicht freiheitsentziehender Sanktionen entwickelt, die in der Regel mit Community Sanctions29 umschrieben werden. Sie haben inzwischen in allen europäischen Ländern beträchtliche Bedeutung erlangt.30 Deshalb hat das Sourcebook neue Kategorien entwickelt, 28 Jehle, J.-M./Wade, M., Coping with Overloaded Criminal Justice Systems, Berlin [u. a.]: Springer 2006; Jehle, J.-M., Deliktsbezogene Strafverfolgung und Diversion in Europa, in: Bloy, Böse, Hillenkamp, Momsen, Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag, Schriften zum Strafrecht, Heft 210, Berlin: Duncker & Humblot 2010, S. 379 – 395. 29 s. Europarat. Empfehlung CM/Rec (2010)1 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Grundsätze der Bewährungshilfe des Europarats: www.coe.int/t/dghl/standardsetting/ prisons/Rec(2010)1 German version.pdf. 30 Palmowski, N./Campistol, C./Jehle, J.-M./van Kalmthout, A., Community Sanctions and Measures and Probation Agencies, in: Heiskanen, M./Aebi, M. F./van der Brugge, W./Jehle, J.-M. (eds.), Recording Community Sanctions and Measures and Assessing Attrition, Helsinki: Hakapaino Oy 2014, S. 22 – 125; s. auch Jehle, J.-M./Palmowski, N., Soziale Dienste in

664

Jörg-Martin Jehle

welche die wichtigsten dieser Formen beschreiben. Um ein Beispiel zu nennen, kann der so genannte Community Service mit einer Art Bewährungsaufsicht verbunden werden, er kann aber auch Bedingung einer Strafaussetzung sein oder eine Bedingung der Einstellung durch die Staatsanwaltschaft; im Bereich des Jugendstrafrechts kann der Community Service darüber hinaus als eigenständige Maßnahme, die nicht kombiniert ist mit einer klassischen Sanktion, auferlegt werden. Institutionell ist die Durchführung dieser community sanctions einem Sozialdienst in der Strafjustiz oder in deren Auftrag zugeordnet, einem probation service, der nach deutschem Verständnis über den eigentlichen Aufgabenbereich der Bewährungshilfe hinausgeht und auch Aufgaben der Gerichtshilfe mitumfasst. Zu den von einem solchen Sozialdienst Betreuten gibt es inzwischen in den meisten Ländern statistische Daten, die im Sourcebook wiedergegeben werden. Was schließlich die Durchführung von vollstreckbaren Freiheitsstrafen angeht, so existiert europaweit eine lange Tradition von Strafvollzugsstatistiken, welche die Belegung der Vollzugsanstalten und die Insassen dokumentieren; insoweit kann das Sourcebook auf bewährte Erfassungskonzepte des Europarats zurückgreifen.31 Da vollstreckte Freiheitsstrafen die härteste strafrechtliche Reaktion auf Straftaten darstellen, können ihre Häufigkeit bzw. die Zahl der Strafvollzugsinsassen zugleich als Maß für Punitivität eines nationalen Kriminaljustizsystems herangezogen werden (s. näher u. IV. 3.).

IV. Kriminalitätsentwicklungen im Vergleich Im Hinblick auf die Probleme und Schwächen internationaler Vergleiche (siehe oben I) kann man nicht einfach das Kriminalitätsniveau bzw. Kriminalitätsraten zwischen verschiedenen europäischen Ländern im Querschnitt vergleichen. Allein eine bis jetzt fehlende europaweite Opferbefragung mit einheitlichen Fragen und Methoden könnte etwas über das tatsächliche Kriminalitätsniveau in den einzelnen Ländern aussagen (siehe oben III. 1.). Aber natürlich sind Querschnittsvergleiche nicht völlig sinnlos; sie können zeigen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß Kriminaljustizsysteme auf Kriminalität in unterschiedlicher Weise reagieren. Indessen sind Längsschnittstudien sehr viel besser; wenn sich die gesetzlichen Bestimmungen der Delikte und deren statistische Erfassung nicht grundsätzlich geändert haben, kann man die Entwicklung der Zahlen als reale Trends interpretieren, die auch zwischen den Ländern verglichen werden können.

der Justiz im europäischen Vergleich, in: Bewährungshilfe, Zeitschrift für Soziales, Strafrecht und Kriminalpolitik, Mönchengladbach: Forum-Verlag Godesberg 2015, S. 101 – 115. 31 Council of Europe annual penal statistics (s. Fn. 11).

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich

665

1. Entwicklungen bis 2007 Die Informationen, die im Sourcebook gesammelt werden, bieten eine gute Gelegenheit, sich im Detail die Veränderungen auf den verschiedenen Stufen des Kriminaljustizsystems in mehr als 40 europäischen Ländern anzuschauen. Man kann die im Längsschnitt stattgefundenen Veränderungen der registrierten Delikte, der Tatverdächtigen, der verurteilten Personen und der Gefangenen analysieren und man kann verschiedene Relationen bilden: zum Beispiel registrierte Delikte zu Tatverdächtigen, Tatverdächtige zu Verurteilten usw. Eine Reihe von vertiefenden Studien haben erfolgreich Trendanalysen auf der Basis der Sourcebook-Daten betrieben. Martin Killias und Marcelo Aebi32 bezogen ihre Analyse von Kriminalitätstrends in Europa auf die Zeit zwischen 1990 und 1996 (im Vergleich zur amerikanischen Entwicklung). Für die gleiche Periode haben Aebi und Kuhn33 die Zahlen der Zugänge im Gefängnis, die Länge der Gefängnisstrafen und die Kriminalitätsraten verglichen. Die Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität wurde von 1990 bis 2000 bezogen auf Westeuropa34 und auf Zentral- und Osteuropa35 analysiert. Bezogen auf neuere Daten aus der 4. Auflage des Sourcebook haben Gruszczynska und Heiskanen36 sich auf einige besondere Delikte konzentriert: Tötungsdelikte, Körperverletzung, Vergewaltigung, Raub, Pkw-Diebstahl, Wohnungseinbruchsdiebstahl und Drogendelikte. Der Zehnjahrestrend (1998 bis 2007) wird für Westeuropa auf der einen Seite und Zentral- und Osteuropa auf der anderen Seite dargestellt: Aufs Ganze gesehen sind Eigentumsdelikte, Tötungsdelikte und Raubtaten in diesem Zeitraum zurückgegangen, während Drogendelikte und Körperverletzungen angestiegen sind, was aber nicht vollständig durch eine zunehmende Anzeigebereitschaft seitens der Opfer erklärt werden kann. Neben diesen gemeinsamen Trends unterscheiden sich die Niveaus der Kriminalität zwischen West und Osteuropa beträchtlich; dies gilt besonders für Tötungs- und Körperverletzungsdelikte. Während Trendanalysen gewöhnlich auf Daten der polizeilichen Statistiken gestützt werden, bezieht sich

32 Killias, M./Aebi, M., Crime Trends in Europe from 1990 to 1996, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 8, Dordrecht [u. a.]: Springer 2000, S. 43 – 63. 33 Aebi, M./Kuhn, A., Influences on the Prisoners Rate: Number of Entries into Prison, Length of Sentences and Crime Rate, in European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 8, Dordrecht [u. a.]: Springer 2000, S. 65 – 75. 34 Aebi, M., Crime Trends in Western Europe from 1990 to 2000, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 10, No.2, Dordrecht [u. a.]: Springer 2004, S. 163 – 186. 35 Gruszczyn´ska, B., Crime in Central and Eastern European Countries, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 10, Dordrecht [u. a.]: Springer 2004, S. 123 – 136. 36 Gruszczyn´ska, B./Heiskanen, M., Trends in Police Recorded Offences, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, Dordrecht [u. a.]: Springer 2012, S. 83 – 103.

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Jörg-Martin Jehle

Aebis und Lindes Analyse37 auf die Ebene gerichtlicher Verurteilungen. Diese Studie analysiert sorgfältig die Reliabilität und Validität von Verurteiltenstatistiken und zieht daraus den Schluss, dass Verurteiltenstatistiken zwar weniger valide, dafür aber mehr reliabel sind als Polizeistatistiken, um Kriminalität zu messen. Deshalb werden Verurteilten-Daten nicht als Maß für das Niveau von Kriminalität, sondern für Kriminalitätstrends verwendet. Das Hauptergebnis für den betreffenden Zeitraum ist eine Abnahme von Diebstahl und eine Zunahme von Raub und Körperverletzung. Eine umfassende und komplexe Evaluation von Sourcebook-Daten ist von Smit, van Eijk und Decae38 präsentiert worden. Sie berücksichtigen Zahlen auf allen Ebenen des Kriminaljustizsystems, die einerseits die Gesamtkriminalität und andererseits einige spezielle Deliktsgruppen für alle Länder betreffen. Um einen längeren Zeitraum beobachten zu können, werden Daten ab 1990 bis 2006 herangezogen; aber natürlich sind dabei Probleme von fehlenden Daten oder Ausreißern aufgetreten. Um die Komplexität zu vermindern, haben die Autoren die europäischen Länder in Gruppen von Nordwest-, Süd-, Zentral- und Osteuropa eingeteilt. Die Studie misst nicht nur Kriminalitätsraten, sondern bezieht sich auf Tatverdächtige, verurteilte Personen und Gefangene und benutzt dafür besonders entwickelte Indikatoren: die Relationen zwischen Verdächtigen und Verurteilten und zwischen Verurteilten und Gefangenen (Letzteres als Punitivität bezeichnet). Unter einer Vielzahl von Ergebnissen kann als genereller Trend eine Abnahme von Punitivität in Osteuropa (bei einem hohen Ausgangsniveau) und einer Zunahme in Nordwesteuropa (bei relativ niedrigem Ausgangsniveau) beobachtet werden. 2. Entwicklungen seit 2007 An dieser Stelle wird eine eigene Auswertung von Daten aus der jüngsten Auflage des Sourcebook präsentiert.39 Zunächst könnte sich ein Vergleich der Gesamtkriminalität anbieten. Davon wird aber abgesehen; denn die Grenze dessen, was eine Straftat oder eine bloße Ordnungswidrigkeit ist, verläuft recht unterschiedlich von Land zu Land; dies gilt vor allem für die massenhaften Verkehrsdelikte und bagatellhafte Formen von Eigentums- und Vermögensdelikten (s. o. III. 2.). Besser eignen sich bestimmte Straftaten für einen Vergleich, selbst wenn es auch dort nationale Unterschiede in der genauen Deliktsdefinition geben mag. Insgesamt sind im aktuellen Sourcebook die Zahlen zu 38 und damit nahezu allen europäischen Ländern erfasst, die hier aber nicht einzeln zu Vergleichszwecken auf37 Aebi, M./Linde, A., Conviction Statistics as an Indicator of Crime Trends in Europe from 1996 to 2006, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, Dordrecht [u. a.]: Springer 2012, S. 104 – 144. 38 Smit, P./van Eijk, A., Decae, R., Trends in the Reaction on Crime in Criminal Justice Systems in Europe in 1990 – 2007, in: European Journal on Criminal Policy and Research, Vol. 18, Dordrecht [u. a.]: Springer 2012, S. 55 – 82. 39 Aebi et al. 2014 (Fn.17).

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich

667

geführt werden. Vielmehr wird für die Gesamtheit der einbezogenen Länder eine Durchschnittszahl gegeben; darüber hinaus werden die Länder West- und Nordeuropas zusammengefasst, die in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht am ehesten mit Deutschland vergleichbar sind: Dazu zählen neben Deutschland die Nachbarländer Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien und die Niederlande sowie das Vereinigte Königreich (mit getrennten Statistiken für England und Wales, Schottland, Nordirland), Irland und die skandinavischen Staaten Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island. Zu den einzelnen Deliktsgruppen kann nicht jedes Land stets Zahlen liefern, so dass in den einzelnen Kategorien die Grundgesamtheit variiert. Tabelle 2 Kriminalitätsbelastung bei Tötungen, Vergewaltigung und Diebstahl* 2007 und 2011 Vollendete Tötungen Jahr

Vergewaltigung

Diebstahl gesamt

BRD

WestEuropa¹

Europa gesamt

BRD

WestEuropa¹

Europa gesamt

BRD

WestEuropa¹

2007

1,0

1,4

2,3

8,5

21,4

10,7

3112

3424

Europa gesamt 1947

2011

0,8

1,3

1,8

8,6

23,3

11,6

2940

3252

1890

* Grundzahlen pro 100.000 Wohnbevölkerung aus Sourcebook 2014, Tabellen S. 36, 42, 46. 1 West- und Nordeuropa; Länderdurchschnitt aufgrund eigener Berechnungen

Die schwersten Straftaten, die vorsätzlichen Tötungsdelikte, sind zugleich die am seltensten begangenen Delikte. Während das Niveau bei den Tötungsdelikten insgesamt einschließlich der Versuche von Land zu Land stark variiert, nähern sich die Vergleichszahlen in Deutschland, West- und Nordeuropa sowie Gesamteuropa bei den vollendeten Tötungen (intentional homicide – completed) einander an. So weist im Jahr 2011 Deutschland pro 100.000 der Bevölkerung weniger (0,8), West- und Nordeuropa etwas mehr (1,3) als ein vollendetes Tötungsdelikt aus; Europa insgesamt liegt mit 1,8 noch etwas höher, was insbesondere auf deutlich höhere Tötungsraten in osteuropäischen Ländern zurückzuführen ist. Was den 5-jährigen Trend zwischen 2007 und 2011 angeht, so gehen die Zahlen durchweg zurück (s. Tab. 2). Als schweres Sexualdelikt erfasst das Sourcebook „rape“, definiert als „sexual intercourse with a person against his/her will (per vaginam or other)“40, also schwere Formen der sexuellen Nötigung, insbesondere Vergewaltigung. Davon sollen sexuelle Handlungen mit einem Kind ohne Gewalt oder leichtere Formen sexueller Nötigung nicht umfasst sein, sondern eigenständig erfasst werden. Diese Handlungen können nicht in allen Ländern ausgeklammert werden, sei es, dass der Straftatbestand weit gefasst ist, sei es, dass die Kriminalstatistik nicht differenziert. Das gilt insbesondere für die skandinavischen Länder. So kommt es, dass die Durchschnittszahlen für West- und Nordeuropa mit mehr als 20 Taten pro 100.000 verglichen mit Deutschland (9) und Gesamteuropa (11) vergleichsweise hoch liegen; und während in Deutschland die Kriminalitätsbelastung in etwa gleich bleibt, steigt sie in Westund Nordeuropa etwas an (Tab. 2). 40

s. näher Jehle 2013b (Fn.26).

668

Jörg-Martin Jehle

Diebstahlsdelikte sind die quantitativ bedeutsamste Gruppe unter den polizeilich bekanntgewordenen Straftaten. Deren Entwicklung prägt somit auch das Gesamtbild der registrierten Kriminalität. In Deutschland liegen die Zahlen mit etwa 3.000 Diebstählen pro 100.000 der Bevölkerung knapp unter dem Durchschnitt von West- und Nordeuropa (s. Tab. 2). Auf erheblich niedrigerem Niveau bewegen sich die Werte in Gesamteuropa, was an teilweise extrem niedrigen Diebstahlsraten in osteuropäischen Ländern liegt und vermutlich auch auf eine geringe Anzeigebereitschaft sowie darauf zurückzuführen sein dürfte, dass leichte Diebstähle dort nicht als Straftaten verfolgt und somit kriminalstatistisch nicht erfasst werden (s. o. III. 1. und 2.). Im Fünfjahrestrend gehen die Zahlen überall leicht zurück. Abbildung 2 führt weitere Deliktsgruppen auf: Beim Raub liegen die deutschen Zahlen mit rund 60 Delikten pro 100.000 deutlich unter den Durchschnittswerten in West- und Nordeuropa bzw. in Gesamteuropa. Während die Zahlen im Fünfjahreszeitraum 2007 – 2011 in West- und Nordeuropa in etwa gleich bleiben (+1 %), nehmen sie in Gesamteuropa (–5 %) und noch erheblicher in Deutschland (–8 %) ab. Deutlich verbreiteter ist der Wohnungseinbruch. Nach der Standarddefinition betrifft „domestic burglary“ „access to closed private premises“, wobei Geschäftsräume, Garagen etc. ausgeschlossen sein sollten. Auch hier hängen die Zahlen davon ab, wie weit der Straftatbestand bzw. die statistische Erhebungseinheit gefasst sind. In Deutschland ist das Delikt mit dem Wohnungseinbruch gem. § 244 Abs. 1 Ziff. 3 StGB recht eng gefasst. Von daher mag es auch zu erklären sein, dass die deutschen Zahlen mit 219 bzw. 264 Wohnungseinbrüchen pro 100.000 erheblich unter den Durchschnittswerten in West- und Nordeuropa liegen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Wohnungseinbruchsdiebstähle – entgegen dem sonstigen Trend – durchweg in Europa steigen (in Deutschland um 20 %, in West- und Nordeuropa um 9 %, in Gesamteuropa um 11 %).

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich 2007

669

2011

500 447456

450 400

376 342

350

302 289

300

264

250

260

246 221

214

233

200 150 100

64 59

81 73

77 82

50 0 BRD

West- Europa Europa¹ gesamt Raub

BRD

West- Europa Europa¹ gesamt

Wohnungseinbruch

BRD

West- Europa Europa¹ gesamt

Drogendelikte

* Grundzahlen pro 100.000 Wohnbevölkerung aus Sourcebook 2014, Tabellen S. 44, 49, 53. 1

West- und Nordeuropa; Durchschnitt aufgrund eigener Berechnungen

Abbildung 2: Kriminalitätsbelastung bei Raub, Wohnungseinbruch und Drogendelikten 2007 und 2011*

Schließlich werden die Drogendelikte betrachtet; deren Registrierung hängt in hohem Maße von der polizeilichen Kontrolle in diesem Bereich ab. Hier liegen die im Fünfjahreszeitraum leicht rückgängigen (–4 %) deutschen Zahlen mit rund 300 Drogendelikten pro 100.000 der Bevölkerung wiederum erheblich unter den west- und nordeuropäischen Durchschnittszahlen, die von einem hohen Niveau (rund 430) aus noch ansteigen (+13 %). Die Zahlen für Gesamteuropa liegen auch hier deutlich darunter; allerdings weisen sie insbesondere in Osteuropa von einem niedrigen Niveau ausgehend eine klar ansteigende Tendenz (+12 %) auf.

V. Selektion der Fälle im Strafverfahren, Punitivität Wie in Abschnitt III.3. dargestellt, ergeben sich im Verlauf der Strafverfolgung erhebliche Rückgänge der Fallzahlen zwischen Polizei und Strafgerichten. Dies ist keine deutsche Besonderheit, sondern lässt sich in allen Kriminaljustizsystemen beobachten, was mit den im Sourcebook vorhandenen Zahlen für die polizeilich bekanntgewordenen Taten, die Tatverdächtigen und die Verurteilten dargestellt werden kann. Exemplarisch werden die Deliktsgruppen des Raubs, der schweren sexuellen Nötigung sowie der Drogendelikte herausgegriffen (s. Abbildung 3).

670

Jörg-Martin Jehle Taten

Tatverdäch!ge

Verurteilte

500 456

450

415

400 350 300 250

289 260

240

200 134

150 100

153

68

67

50

59 39 12

82 38 15

73 35 15

0 BRD

West- Europa Europa¹ gesamt

Drogendelikte

BRD

West- Europa Europa¹ gesamt Raub

8 7

22 1.1

BRD

9

1.4

11 4

1.3

West- Europa Europa¹ gesamt

Vergewal!gung

* Grundzahlen pro 100.000 Wohnbevölkerung aus Sourcebook 2014, Tabellen S. 42, 44, 53; für Tatverdächtige S. 64, 66, 75; für Verurteilte 163, 165, 173. 1

West- und Nordeuropa; Durchschnitt aufgrund eigener Berechnungen

Abbildung 3: Taten – Tatverdächtige – Verurteilte bei Vergewaltigung, Raub und Drogendelikten* 2011

Was den Raub betrifft, nivellieren sich die tatbezogenen unterschiedlichen Werte in Deutschland, West- und Nordeuropa sowie Gesamteuropa, sobald die Ebene der Tatverdächtigen betroffen ist; ähnliche Werte finden sich auch bei den Verurteilten. Der Verurteilungsquotient, d. h. die Zahl der Verurteilten bezogen auf die der Tatverdächtigen, liegt in Deutschland mit 31 % etwa so hoch wie in West- und Nordeuropa (30 %), aber niedriger als in Gesamteuropa (39 %). Auch bei schweren Formen der sexuellen Nötigung, insbesondere Vergewaltigung, findet von recht unterschiedlichem Ausgangsniveau auf der tatbezogenen Ebene ausgehend bei Tatverdächtigen und Verurteilten eine gewisse Angleichung statt, so dass sich die Werte am Ende mit 0,9 bis 1,6 Verurteilten pro 100.000 einander angenähert haben. Der Quotient von Verurteilten zu Tatverdächtigen fällt in Deutschland und West- und Nordeuropa mit 13 % bzw. 16 % recht ähnlich aus. Etwas uneinheitlicher ist der Strafverfolgungsvorgang indessen bei den Drogendelikten. Das deutlich unterschiedliche Ausgangsniveau in Form von hohen Kriminalitäts- und Tatverdächtigenraten in West- und Nordeuropa wirkt sich auch auf den nächsten Ebenen aus. Hinzu kommt eine stark unterschiedliche Selektion: In Deutschland ist der Quotient von Verurteilten zu Tatverdächtigen mit 28 % recht niedrig im Verhältnis zu West- und Nordeuropa mit 41 % und Gesamteuropa mit 44 %.

Kriminaljustizsysteme im europäischen Vergleich 2007

671

2011

180 160

147

157

140 120 100

95

87

90

93

80 60 40 20 0 BRD

WestEuropa¹

Europa gesamt

* Bestand der Gefangenen und Untersuchungsgefangenen am Stichtag: 1. September pro 100 000 der Bevölkerung; Sourcebook 2014 1

West- und Nordeuropa; Durchschnitt aufgrund eigener Berechnungen

Abbildung 4: Gefangenenraten* in Europa 2007 und 2011

Um den Vorgang der Selektion weiter zu beschreiben, könnte man die Verurteilten zu unbedingten Freiheitsstrafen zusätzlich darstellen.41 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Strafzumessungspraxis in den europäischen Ländern erheblich differiert. Während in skandinavischen Ländern vorzugsweise kurze Freiheitsstrafen verhängt werden, dominieren in osteuropäischen Staaten mittellange bis lange Freiheitsstrafen. Will man also ein Maß für Strafhärte finden, sollte man eher auf die Gefangenenraten abstellen, die international gemeinhin als Indikator für die Strafhärte, die sog. Punitivität42, in einem Land genommen werden. Denn in dieser Zahl drückt sich sowohl die Zahl der Verurteilten zu unbedingten Freiheitsstrafen beziehungsweise widerrufenen Strafaussetzungen als auch der Länge der verhängten Freiheitsstrafe aus. Deshalb werden die Gefangenenraten verglichen. Hier bewegen sich die Zahlen in Deutschland und West- und Nordeuropa auf ähnlichem Niveau, allerdings im gemessenen Fünfjahreszeitraum von 2007 – 2011 mit gegenläufigem Trend: einer leichten Zunahme von 3 % in West- und Nordeuropa und einer Abnahme um 8 % in Deutschland. Grob gesagt, kommt dort auf 1.000 Personen der Wohnbevölkerung knapp 1 Gefangener. Demgegenüber sind die Zahlen in 41

Jehle, J.-M. 2013 (Fn. 26). Vgl. nur Harrendorf, S., Methodische Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Punitivitätsmessung, in: Dölling, D./Jehle, J.-M. (Hrsg.), Täter- Taten- Opfer Grundlagenfragen und aktuelle Probleme der Kriminalität und ihrer Kontrolle, Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg 2013, S. 785 – 806. 42

672

Jörg-Martin Jehle

Gesamteuropa wesentlich höher mit steigender Tendenz (+6 %). Dies liegt an durchweg erheblich höheren Gefangenenzahlen in osteuropäischen Ländern (s. Abbildung 4).

VI. Ausblick Zusammenfassend lässt der europäische Vergleich keine markanten Abweichungen für Deutschland erkennen: Gemessen an den ausgewählten Deliktsgruppen liegt die deutsche Kriminalitätsbelastung durchweg etwas unter dem Durchschnittswert der west- und nordeuropäischen Länder und folgt im Fünfjahreszeitraum zwischen 2007 und 2011 dem allgemeinen Trend, der – mit Ausnahme der Wohnungseinbrüche – leicht rückläufig ist. Auch der Rückgang der Fallzahlen zwischen den verschiedenen Ebenen der Polizei und der Strafgerichte gestaltet sich ähnlich. Schließlich bewegen sich die Gefangenenraten in Deutschland und in West- und Nordeuropa auf fast demselben Niveau. Der ideale Weg, Probleme der internationalen Vergleiche zu überwinden, ist der ereignisbezogene Ansatz, der von der UNODC43 entwickelt worden ist mit Blick auf ein umfassendes Konzept einer internationalen Klassifikation von Straftaten. Der Ansatz bedeutet, dass nicht mehr gesetzlich definierte Straftatbestände als statistische Einheit genommen werden, sondern ersetzt werden durch kriminologische sinnvolle Ereignisse, die im einzelnen durch ihre Elemente und Attribute beschrieben sind. Ausgangspunkt ist eine Handlung bzw. ereignisbezogene Klassifikation. Jede Handlung bzw. jedes Ereignis ist differenziert in ihre einzelnen Elemente: die Handlung bezogen auf ein bestimmtes Objekt, der Schaden, der Modus Operandi, Versuch oder Vollendung, der Tatverdächtige bezogen auf Alter, Geschlecht, Motiv und Mitverantwortlichkeit; das Opfer bezogen auf Alter und Geschlecht. Eine derartige Differenzierung nach Elementen ist viel versprechend, wie die Beispiele verschiedener Delikte deutlich zeigen. Aber natürlich ist es schwierig, ein solches Klassifikationssystem auf nationaler Ebene, auf die sich regelmäßig Kriminalstatistiken beziehen, zu implementieren. Nur wenn die einzelnen nationalen Systeme ein solches Klassifikationssystem übernommen haben, können die Probleme internationaler Vergleiche völlig überwunden werden.44 Solange wir aber mit den existierenden nationalen Daten, die sich auf die jeweiligen nationalen Kriminaljustizsysteme beziehen, arbeiten müssen, haben wir mit verschiedenen Definitionen von Straftaten und mit unterschiedlichen Erfassungsmodalitäten zu rechnen. Das bedeutet zugleich, dass die Zahlenangaben nicht leicht benutzt werden können, um die Politik und die Öffentlichkeit zu informieren; vielmehr bedürfen sie sorgfältiger Interpretation: d. h. die Expertise der Kriminologen wird auch weiterhin vonnöten sein. 43

s. o. Fn. 8. Jehle, J.-M., How to Improve the International Comparability of Crime Statistics, in Joutsen, M. (ed.), New Types of Crime, Helsinki: HEUNI 2012b, S. 134 – 140. 44

Der Rechtsstaat auf dem Prüfstand Über die Probleme der Isolation der Verurteilten nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe in Polen Maciej Małolepszy

I. Einführung Nach dem politischen und wirtschaftlichen Umbruch im Jahre 1989 hat sich Polen entschieden, sein Staatswesen auf rechtsstaatliche Fundamente zu bauen. Dementsprechend lautet Art. 2 der polnischen Verfassung von 1997: „Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht.“ Es liegt auf der Hand, dass es wesentlich einfacher ist, das Bekenntnis zum Rechtsstaat in der Verfassung zu deklarieren, als alle Forderungen des Rechtsstaates in der Praxis umzusetzen. Diese Schwierigkeiten folgen auch daraus, dass nicht immer klar ist, aus welchen Bestandteilen sich der Begriff eines Rechtsstaats zusammensetzt. Dieser Begriff befindet sich in ständiger Entwicklung und hat bisher keine klaren Konturen angenommen. Auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts ist jedoch anerkannt, dass der Rechtsstaat mit rückwirkenden Strafvorschriften und der Doppelbestrafung von Straftätern nicht zu vereinbaren ist. Ein Täter, der eine Straftat begangen und dafür eine Strafe verbüßt hat, darf nicht mit einer Korrektur der gerichtlichen Entscheidung auf der Basis einer geänderten Rechtslage überrascht werden. Ob diese Grundsätze in Polen in der letzten Zeit verletzt wurden, soll nachfolgend anhand des Gesetzes vom 22. November 2013 über das Verfahren gegenüber Personen, die aufgrund einer psychischen Störung das Leben, die Gesundheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen gefährden,1 untersucht werden.2 Dieses Gesetz ermöglicht eine lebenslange Isolierung von Straftätern nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe, falls sie, was bereits im Titel des Gesetzes steht, eine psychische Störung aufweisen, aufgrund derer sie das Leben, die Gesundheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen gefährden. Das Gesetz ermöglicht diese Freiheitsentziehung somit nur auf der Grundlage einer Prognose, dass der Täter eine 1

Im Folgenden: „Gesetz von 2013“. Ustawa z dnia 22 listopada 2013 r. o poste˛ powaniu wobec osób z zaburzeniami psychicznymi stwarzaja˛cych zagroz˙ enie z˙ ycia, zdrowia lub wolnos´ci seksualnej innych osób, Dz. U. 2013, Poz. 24. 2

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schwerwiegende im Gesetz genannte Straftat begehen könnte. Dass ein solcher Eingriff in die Grundrechte der betreffenden Person rechtsstaatliche Bedenken auslösen kann, ist offensichtlich und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen bedürfen einer grundsätzlichen Analyse. Ich hoffe, dass diese Analyse auf das Interesse des verehrten Jubilars stößt.

II. Hintergründe der Entstehung des Gesetzes von 2013 Das Gesetz von 2013 entstand nicht deswegen, weil der Gesetzgeber plötzlich entdeckt hätte, dass die polnischen Gefängnisse jene Verurteilten entlassen, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Es entstand aufgrund der bevorstehenden Entlassung einer relativ kleinen Gruppe von Straftätern, die noch zur Zeit des Bestehens der Volksrepublik Polen wegen der Begehung von Mord zur Todesstrafe verurteilt wurden, deren Todesstrafen jedoch auf der Grundlage eines Amnestiegesetzes vom 7. 12. 19893 (Art. 5 Abs. 1 Pkt. 2) in 25-jährige Freiheitsstrafen umgewandelt wurden. Der Gesetzgeber hat die Todesstrafen damals in 25-jährige Freiheitsstrafen umgewandelt, weil das seinerzeit geltende StGB von 19694 keine lebenslange Freiheitsstrafe vorsah. Warum der Gesetzgeber das StGB von 1969 nicht schon zu jenem Zeitpunkt geändert und die lebenslange Freiheitsstrafe in das StGB von 1969 eingeführt hat, ist nicht ersichtlich. Da es sich um Straftäter handelte, die die schwersten Verbrechen begangen hatten, wäre es wesentlich sinnvoller und rechtsstaatlich unbedenklich gewesen, den Katalog der Strafen des StGB von 1969 zunächst um die lebenslange Freiheitsstrafe zu erweitern und erst danach die Todesstrafen auf der Grundlage eines Amnestiegesetzes in lebenslange Freiheitsstrafen umzuwandeln. Der Gesetzgeber hat somit vor 25 Jahren einen offensichtlichen kriminalpolitischen Fehler gemacht, indem er die Todesstrafen in befristete Freiheitsstrafen umgewandelt hat, obwohl klar war, dass die betreffenden Täter nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe eine ernsthafte Gefahr für die Gesellschaft darstellen könnten. Als sich der Termin ihrer Entlassung näherte, berichteten die Medien in der für sie typischen alarmierenden Art und Weise über diese Situation und erweckten binnen weniger Monate den Eindruck, dass diese Verurteilten nach ihrer Entlassung nichts anderes würden machen wollen, als Kinder sexuell zu missbrauchen oder sie zu töten. Der mediale Druck musste sich auf die Politik auswirken, und in dieser Atmosphäre fühlte sie sich verpflichtet zu handeln. Das Justizministerium bereitete den Entwurf eines Gesetzes vor, das am 22. Oktober 2013 beschlossen wurde. Das Gesetz von 2013 trat jedoch nicht rechtzeitig in Kraft, da es zu spät veröffentlicht wurde, was zur Folge hatte, dass die ersten Straftäter, deren Todesstrafen in 25-jährige Freiheitsstrafen umgewandelt worden waren, die Gefängnisse bereits verlassen hatten. Die Verfasser des Gesetzes von 2013 berücksichtigten jedoch diese Möglichkeit und 3 4

Dz. U. 1989 r., Nr 64, poz. 390. Heute gilt in Polen das StGB von 1997, das die lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht.

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sahen die Isolation des Verurteilten im Gesetz von 2013 auch zeitlich nach seiner Entlassung vor. Das Schicksal des Gesetzes von 2013 ist jedoch noch ungewiss, da das polnische Verfassungsgericht erst noch über seine Verfassungsmäßigkeit entscheiden wird.

III. Inhalt des Gesetzes von 2013 Da es sich um eine relativ kleine Zielgruppe von Straftätern handelte, die den Anstoß zum Erlass des Gesetzes von 2013 gegeben hat, muss es verwundern, dass das Gesetz von 2013 einen so umfangreichen Anwendungsbereich vorsieht. Gemäß Art. 1 regelt das Gesetz von 2013 das Verfahren gegenüber Personen, welche alle folgenden Voraussetzungen erfüllen, und zwar: 1. „eine rechtskräftig verhängte 25-jährige Freiheitsstrafe oder eine andere Freiheitsstrafe verbüßen, die in einem therapeutischen System vollzogen wird, 2. im Laufe des Vollstreckungsverfahrens eine psychische Störung in Form einer geistigen Behinderung, einer Persönlichkeitsstörung oder einer Störung ihres Sexualverhaltens gezeigt haben, 3. deren festgestellte psychische Störung einen solchen Charakter bzw. ein solches Ausmaß aufweist, dass zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie unter Anwendung oder Androhung von Gewalt eine Straftat gegen das Leben, die Gesundheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen begehen werden, die mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter 10 Jahren bedroht ist.“5 Aus diesen Vorschriften geht hervor, dass sie nicht nur jene Verurteilte erfassen, die aufgrund des Amnestiegesetzes eine 25-jährige Freiheitsstrafe verbüßt haben, sondern alle Täter, die eine Freiheitsstrafe in einem therapeutischen System verbüßt haben und auch sonst sämtliche Prämissen des Art. 1 erfüllen. Dies hat zur Folge, dass das Gesetz auch einen Straftäter erfassen kann, der z. B. eine Trunkenheitsfahrt oder eine fahrlässige Straftat begangen und deswegen eine Freiheitsstrafe verbüßt hat. Falls er alkoholsüchtig oder drogensüchtig ist, was bei Gefangenen nicht selten der Fall ist, ist die Verbüßung seiner Freiheitsstrafe im therapeutischen System obligatorisch. Damit ist schon Pkt. 1 des Art. 1 des Gesetzes von 2013 erfüllt. Im Ergebnis muss dieser Straftäter im Laufe der Vollstreckung der Freiheitsstrafe sehr genau darauf achten, dass die Verwaltung der Vollzugsanstalt die Voraussetzungen von Pkt. 2 und 3 des Art. 1 nicht annimmt, da der Direktor der Vollzugsanstalt anderenfalls ein psychiatrisches oder ein psychologisches Gutachten bestellen kann, und diese Gutachten diese Voraussetzungen bestätigen könnten. Falls die Gutachten für den betreffenden Verurteilten ungünstig ausfallen, stellt der Direktor einen Antrag beim zuständigen Landgericht (Zivilkammer) auf Feststellung der entsprechenden Person als gefährdende Person. Diesem Antrag werden die Gutachten sowie Infor5 In der Übersetzung von Beata Ste˛ pien´, in: M. Małolepszy (Hrsg.), Die Reform des Sanktionenrechts in Österreich, Deutschland und Polen, Warzszawa 2015, S. 387.

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mationen über bereits angewendete Therapieprogramme und Fortschritte in der Resozialisierung beigefügt. Um festzustellen, ob die Person, die der Antrag betrifft, eine Störung in einer in Art. 1 Pkt. 3 genannten Form aufweist, beruft das Gericht innerhalb von 7 Tagen ab dem Tag des Erhalts des Antrags zwei sachverständige Ärzte für Psychiatrie, im Falle einer Person mit einer Persönlichkeitsstörung außerdem einen sachverständigen Psychologen, und im Falle einer Person mit einer Störung des Sexualverhaltens zudem einen sachverständigen Sexualmediziner oder zertifizierten Sexualpsychologen. Auf der Grundlage der gesammelten Informationen entscheidet das Gericht darüber, ob die gefährdende Person eine präventive Aufsicht oder eine Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten benötigt. Im Falle der Anordnung der präventiven Aufsicht bleibt die betreffende Person in Freiheit. Sie ist jedoch dazu verpflichtet, den Polizeikommandanten jederzeit über eine Änderung ihres ständigen Aufenthaltsortes, ihres Arbeitsplatzes oder ihres Vor- und Nachnamens zu informieren. Sie hat darüber hinaus auch Informationen über ihren aktuellen und beabsichtigten Aufenthaltsort sowie über beabsichtigte Reisezeitpunkte und Reiseziele zu erteilen, sofern der Polizeikommandant dies verlangt. Außerdem kann die Polizei operativ-aufklärende Tätigkeiten durchführen. Die Anordnung der Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten dagegen entzieht der betreffenden Person ihre Freiheit. Die in der Anstalt untergebrachte, gefährdende Person wird einem Therapieverfahren unterzogen, das bezweckt, ihren gesundheitlichen Zustand und ihr Verhalten so zu verbessern, dass sie wieder in der Lage ist, in der Gesellschaft zu funktionieren, ohne dabei eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen darzustellen. Das Gericht entscheidet über die Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten, wenn der Charakter und das Ausmaß der bei der gefährdenden Person festgestellten psychischen Störung vermuten lassen, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie unter Anwendung oder Androhung von Gewalt eine Straftat gegen das Leben, die Gesundheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen begeht, die mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter 10 Jahren bedroht ist. Für die Anordnung der präventiven Aufsicht reicht bei Erfüllung derselben Voraussetzung jedoch eine lediglich hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung der bereits erwähnten Straftaten aus. Ob die Prämissen der „hohen“ und der „sehr hohen“ Wahrscheinlichkeit dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen, bleibt zweifelhaft. Man könnte jedoch erwarten, dass der Gesetzgeber angesichts des weitergehenden Eingriffs, der mit der Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten verbunden ist, die Prämissen der Anordnung dieser Maßnahme präziser formuliert. Schließlich ist zu betonen, dass sowohl die präventive Aufsicht als auch die Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten zunächst unbefristet angeordnet wird. Ihre Anwendung kann nur infolge einer Entscheidung des Gerichts aufgehoben werden.

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IV. Bewertung des Gesetzes von 2013 Wenn man den Inhalt des Gesetzes vor dem Hintergrund seiner wahren Motive bewertet, so muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass der Gesetzgeber alles getan hat, um seine wahren Motive zu verdecken. Weder im Wortlaut des Gesetzes noch in der Gesetzesbegründung wird auch nur ein Wort verwendet, das auf die Straftäter hinweisen würde, deren Todesstrafen in 25-jährige Freiheitsstrafen umgewandelt wurden. Hätte jemand die wahren Hintergründe nicht gekannt, so wäre er nie auf die Idee gekommen, dass es sich hier um die Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung des Gesetzgebers aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts handelt. Das ist die erste Unwahrhaftigkeit, die diesem Gesetz zugrunde liegt. Die zweite Unwahrhaftigkeit ist noch gefährlicher, da sie das Tor zur Umgehung aller strafrechtlichen Grundsätze öffnet, die für einen Rechtsstaat maßgeblich sind. Dieser zweiten Unwahrhaftigkeit liegt nämlich die Strategie des Gesetzgebers zugrunde, die behandelte Problematik nicht auf dem Gebiet des Strafrechts, sondern auf dem Gebiet des Zivil- und des Verwaltungsrechts zu regeln.6 Dadurch soll der Eindruck erweckt werden, dass die bereits angesprochenen Regelungen mit dem Strafrecht absolut nichts zu tun haben und dadurch kein strafrechtliches Prinzip verletzt wird. Deshalb wurden die entsprechenden Regelungen in einem gesonderten Gesetz und nicht im Strafgesetzbuch geregelt. Ferner entscheidet das Zivilgericht, nicht das Strafgericht, über die Anordnung der präventiven Aufsicht oder über die Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten. Das Verfahren verläuft nicht zufällig nach den Regelungen der StPO, sondern nach denen der ZPO. Der Verurteilte wird nicht durch einen Verteidiger, sondern durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten. Weiterhin wird die betreffende Person nach der Anordnung der Unterbringung in der Landesanstalt zur Prävention von asozialem Verhalten nicht in einem Gefängnis isoliert, was billiger und zweckmäßiger wäre, sondern in einer gesonderten Anstalt, die für eben diese Täter ins Leben gerufen wurde.7 Diese Anstalt unterliegt nicht dem Justizminister, sondern dem Minister für das Gesundheitswesen. Wie bereits festgestellt wurde, sollen alle diese Maßnahmen den Eindruck erwecken, dass das Gesetz von 2013 nichts mit dem Strafrecht zu tun hat. Der einzige Anknüpfungspunkt ist die Prämisse der vorherigen Verbüßung der Freiheitsstrafe. Hier stellt sich jedoch die Frage, warum der Gesetzgeber diese Prämisse überhaupt eingeführt hat. Sie erlaubt es jedenfalls zu argumentieren, dass das Gesetz doch eine Beziehung zum Strafrecht aufweist. Außerdem begründet ihre Einführung die Frage, ob diese Prämisse nicht den Gleichheitsgrundsatz verletzt, da sie die Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen, gegenüber anderen Personen benachteiligt. Wenn 6 Man kann vermuten, dass diese Strategie gewählt wurde, um eine Verletzung der EMRK zu vermeiden. 7 Für die Gründung einer gesonderten Anstalt im Rahmen eines Gefängnisses hat sich auch ein Arzt für Psychiatrie im Gesetzgebungsverfahren ausgesprochen. Siehe dazu: Gutachten vom 24. 9. 2013 von Marek Doman´ski, Opinia dotycza˛ca projektu Ustawy o poste˛ powaniu wobec osób z zaburzeniami psychicznymi stwarzaja˛cych zagroz˙ enie z˙ ycia, zdrowia lub wolnos´ci seksualnej innych osób.

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es um die öffentliche Sicherheit geht, so muss davon ausgegangen werden, dass Personen, die schwerste Verbrechen begehen können, nicht nur in den Gefängnissen, sondern auch in Freiheit leben. Warum sollen sich diese Personen nicht vorsorglich einer Diagnose unterziehen, die durch Ärzte für Psychiatrie oder Psychologen vollzogen wird? Sie könnten doch in jedem Moment eine schwerwiegende Straftat begehen. Immerhin informieren uns die Medien täglich auf spektakuläre Weise darüber. Vielleicht sind diese potentiellen Straftäter ja noch gefährlicher als jene Straftäter, die vor 25 Jahren ein Geschenk von einem leichtfertigen Gesetzgeber bekommen haben? Dass diese potentiellen Straftäter bisher keine Freiheitsstrafe verbüßt haben, könnte allein daran liegen, dass ihre Straftaten bisher unentdeckt geblieben sind, die Ärzte für Psychiatrie und die Psychologen aber in der Lage wären, ihr gefährliches Potenzial zu erkennen. Konsequenterweise sollten auch sie isoliert werden, genauso wie die Straftäter, die eine Freiheitsstrafe verbüßt haben.8 Das alles sind Fragen, die entstehen, wenn man versucht, die Grundsätze des Strafrechts zu umgehen, um eine fehlerhafte Entscheidung des Gesetzgebers aus der Vergangenheit zu korrigieren. Das bleibt, zudem der Wesensgehalt des Problems, das sich auch nicht durch eine unterschiedliche Etikettierung verschleiern lässt. Der Gesetzgeber wollte mit diesem Gesetz einen Fehler beseitigen, was er jedoch nicht laut sagen konnte. Ein Rechtsstaat darf aber nicht so verfahren. In einem Rechtsstaat müssen die wahren Motive des Gesetzgebers mit den Inhalten des Gesetzes übereinstimmen. Der Gesetzgeber muss mit seinen Bürgern fair umgehen und bei der Nennung seiner Beweggründe ehrlich sein. Das Recht ist auch eine Form der menschlichen Kommunikation und dieser Kommunikation muss Wahrhaftigkeit zugrunde liegen, will das Recht Anerkennung und Geltung beanspruchen. Wesentlich angemessener hat der deutsche Gesetzgeber gehandelt, als er im Jahre 2010 das Therapieunterbringungsgesetz erlassen hat9, das dem polnischen Gesetzgeber als Vorbild diente. Der deutsche Gesetzgeber hat nämlich im § 1 des ThUG klar zum Ausdruck gebracht, dass das Gesetz nur auf eine Person Anwendung findet, die „nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist (…).“ Dadurch macht das Gesetz deutlich, dass es eine Reaktion auf die Entscheidungen des EGMR ist, in denen der EGMR die rückwirkende weitere Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention beurteilt hat. Ziel des ThUG war es, unter Beachtung der Vorgaben der EMRK eine weitere Inhaftierung dieser menschenrechtswidrig untergebrachten Per-

8 Man kann auch die Frage stellen, warum dem Gesetz von 2013 nur jene Straftäter unterliegen sollen, die ihre Freiheitsstrafe in einem therapeutischen System verbüßen. Straftäter, die ihre Freiheitsstrafe in anderen Systemen verbüßen, können auch eine ernsthafte Gefahr für die Gesellschaft darstellen. 9 Im Folgenden: „ThUG“.

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sonen, die eigentlich hätten entlassen werden müssen, zu ermöglichen.10 Der deutsche Gesetzgeber hat somit nicht den Anschein erweckt, dass es ihm nicht um Straftäter geht, die infolge der Entscheidungen des EGMR hätten entlassen werden müssen. Warum der polnische Gesetzgeber eine andere Strategie gewählt hat, ist unklar.

V. Schlussfolgerungen Wenn man die rechtsstaatlichen Grundsätze ernst nimmt, so können die merkwürdigen Konstruktionen, die dem ThUG und dem Gesetz von 2013 zugrunde liegen, keinen Bestand haben. Wenn man es zulässt, dass die fundamentalen strafrechtlichen Grundsätze wie das Rückwirkungsverbot oder das Verbot der Doppelbestrafung auf dem Umweg über Zivil- und Verwaltungsvorschriften umgegangen werden, dann sind diese Grundsätze in der Rechtsordnung letztlich eine Fiktion. Denn auf diese Weise kann jede Freiheitsentziehung beliebig verlängert werden. So kann jedes Urteil geändert und den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Erwartungen angepasst werden. Immer lässt sich eine psychologische oder eine psychiatrische Kategorie finden, mit der sich eine Freiheitsentziehung begründen lässt. Für die betreffende Person macht es jedoch keinen großen Unterschied, ob sie sich im Gefängnis oder in einer Anstalt befindet, denn letztlich verliert sie ihre Freiheit. Außerdem eröffnen solche Konstruktionen weitgehende Möglichkeiten der Inhaftierung von Bürgern, da sie sich nicht auf die Tat, sondern auf eine Prognose beziehen, die je nach Methodik zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Inzwischen haben die Direktoren von polnischen Vollzugsanstalten schon 44 Anträge an die Gerichte gestellt.11 Angesichts der relativ kurzen Geltung des Gesetzes von 2013 kann diese Zahl nicht als gering beurteilt werden. Aus der Perspektive des Direktors einer Vollzugsanstalt ist es jedoch gefährlicher, auf einen Antrag zu verzichten als einen Antrag zu stellen. Im Falle der Ablehnung des Antrags trägt das Gericht die „Verantwortung“ für die Straftaten, die der betreffende Verurteilte nach der Entlassung begeht. Wenn der Direktor auf einen Antrag verzichtet, muss er sich nicht nur mit einem strafrechtlichen oder disziplinarrechtlichen Verfahren rechnen, sondern auch mit medialen Angriffen, die ihm die „Schuld“ für die Straftat geben werden, weil er auf einen Antrag verzichtet hat, obwohl man von Anfang an vermuten konnte, dass die betreffende Personen schwere Straftaten begehen wird. Man muss daher davon ausgehen, dass die Direktoren von Vollzugsanstalten weitere Anträge stellen werden, weil diese Vorgehensweise im Gesetz von 2013 so vorprogrammiert ist. Bisher wenden die Gerichte das Gesetz von 2013 allerdings noch sehr zurückhaltend an, weil sich bisher erst drei Verurteilte in der Landesanstalt zur Prä10 J. Kinzig, Aufstieg und Fall des Therapieunterbringungsgesetzes: ein Überblick, in: M. Małolepszy (Hrsg.), Die Reform des Sanktionenrechts in Österreich, Deutschland und Polen, Warszawa 2015, S. 265. 11 A. Łukaszewicz, Sa˛dy nie wysyłaja˛ groz´nych przeste˛ pców do Gostynina, Rzeczpospolita vom 16. 1. 2015.

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vention von asozialem Verhalten befinden.12 Die Vorsicht der Gerichte geht sicherlich davon aus, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Gesetz von 2013 bisher nicht ausgeräumt wurden. Außerdem ist mit einer Klage beim EGMR zu rechnen, was die polnischen Gerichte eher vermeiden wollen. Sehr gefährlich in der Diskussion ist jedoch die Argumentation, dass der Staat sich nicht passiv verhalten kann, wenn den Bürgern seriöse Gefahr für Leben und Gesundheit droht. Dieses Argument gewinnt sehr an der Überzeugungskraft, wenn man zudem betont, dass es um eine Gefahr für das Leben von Kindern geht. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die isolierten Personen auch Bürger sind, die ihre Grundrechte durch die Verurteilung nicht verloren haben und deren lebenslange Isolation ihr Leben weitgehend zerstören kann. Eine langjährige Isolation schwächt die menschlichen und familiären Beziehungen; sie erschwert auch den Berufseinstieg. Nicht zu unterschätzen sind zudem die psychischen Schäden durch eine langjährige Isolation, die sogar zu dem Verlust des Lebenssinnes führen können. Alle diese negativen realen Konsequenzen folgen aus der Isolation, die sich im Falle des Gesetzes von 2013 nur auf eine Prognose stützt. Die potenzielle Gefahr für die Gesellschaft wird in dieser Situation durch die Zufügung von realen Schäden den konkreten Menschen gegenüber bekämpft. Hier muss jedoch sehr genau untersucht werden, ob den genannten Risiken für die Gesellschaft nicht schon durch polizeiliche Maßnahmen ausreichend begegnet werden kann. Schon das geltende Polizeigesetz vom 6. April 199013 sieht im Art. 19 sehr weitgehende Möglichkeiten der Kontrolle zum Zwecke der Verhütung einer Begehung von schwerwiegenden Straftaten vor. Sollten diese Maßnahmen nicht ausreichen, könnten sie gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend erweitert werden. Man kann sogar spezielle Instrumente entwickeln, die eine noch bessere Kontrolle ermöglichen würden. Außerdem kann man erwägen, den Anwendungsbereich ausgewählter Straftatbestände durch eine Kriminalisierung der Vorbereitung zur Begehung dieser Straftaten zu erweitern. Außerdem sollten den entlassenen Personen Therapieprogramme im Rahmen der Sozialhilfe angeboten werden, die es ihnen erleichtern würden, ihre psychischen und sexuellen Probleme unter Kontrolle zu bekommen. Rechtstaatlich unbedenklich wäre es auch, wenn sich der Sozialhelfer nach der Entlassung des Verurteilten mit ihm in Verbindung setzten würde, um ihn zu einem Einstieg in eine Therapie zu motivieren, und das ganze Programm begleiten würde. Insgesamt wäre es sehr sinnvoll, ein komplexes System zu etablieren, das die Kräfte der Polizei, der Sozialhilfe und des Gesundheitswesens verbinden würde, um den entlassenen Personen Hilfe anzubieten, sie aber zugleich auch der Kontrolle zu unterziehen. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise liegt darin, dass die entlassenen Personen in Freiheit lernen, mit ihren Problemen angemessen umzugehen. Bisher existiert ein solches System in Polen nicht. Wie es konkret ausgestaltet werden sollte, muss von den Experten des jeweiligen Faches näher bestimmt werden. Eine Kooperation zwischen den unterschiedlichen staatlichen Organen ist jedoch bei der Lösung dieses komplexen Problems notwendig. 12 13

Ebenda. Ustawa z dnia 6 kwietnia 1990 r o Policji, Dz. U. 1990, Nr. 30, Poz. 179.

Die EU und ihre Tätigkeit im Bereich Bürgersicherheit Emil W. Pływaczewski Die ehrenvolle Einladung zur Verfassung eines Beitrags für die Professor Keiichi Yamanaka gewidmete Festschrift schätze ich besonders. Denn es ist allgemein bekannt, dass Professor Yamanaka zu den berühmtesten japanischen Juristen der Gegenwart zählt. Unsere erste Gelegenheit zu einem Treffen ergab sich während des „Deutsch-Japanischen Strafrechtskolloquiums“ an der Universität Köln vom 14. bis 17. September 19881. Seither sind schon 27 Jahre vergangen. In all dieser Zeit blieben wir stets in engem freundschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakt, der sich auch auf die jüngere Generation von Wissenschaftlern an der Kansai Universität und der Universität in Białystok übertrug. Die Überlegungen, welchen Beitrag ich zu diesem besonderen Jubiläum verfassen könnte, haben mich zum Entschluss geführt, an einige vom Jubilar während seines Gastvortrags2 an der Juristischen Fakultät der Universität Białystok im Rahmen der Verleihung der Ehrendoktorwürde angestellte Überlegungen anzuknüpfen. Der weitere Grund für diese Themenwahl ist, dass Probleme der Sicherheit der Bürger in Europa stets im weiteren Interessenkreis des Jubilars standen, unter anderem auch deshalb, weil er selbst in seinem wissenschaftlichen Leben viele Jahre in Europa verbracht hat.

I. Allgemeines Im Dezember 2009 hat der Rat unter spanischer Präsidentschaft den Entwurf einer Strategie der inneren Sicherheit der Europäischen Union (ISS)3 dargestellt, dessen Ziel es war, auf systematisierte Art und Weise die Herausforderungen, Leitlinien und Grundsätze der EU im Umgang mit Gefahren für die Sicherheit ihrer Bürger darzulegen und unter Wahrung der gemeinsamen europäischen Werte Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Bedrohungen vorzusehen. Die Ausarbeitung dieser Strategie resultierte aus der Annahme des Stockholmer Programms – jenes Arbeitsplans, der für den Zeitraum von 2010 – 2014 die Prioritäten der EU im Rahmen der Entwicklung eines Raumes der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit definiert und der auf dem Konzept 1 Siehe Pływaczewski, Sprawozdanie z niemiecko-japon´skiego kolokwium prawa karnego (Kolonia, 14 – 17 wrzes´nia 1988), Nowe Prawo 1989, Nr 5 – 6, S. 146 ff. 2 Thema des Gastvortrags: „Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalstatistik. Ist der Sicherheitsmythos in Japan zusammengebrochen?“ 3 Council Document, 5842/2/2010, Internal Security Strategy for the European Union: Towards a European Security Model.

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einer stärker integrierten (multidisziplinären) Vorgehensweise zur Vorbeugung und Bekämpfung organisierter Kriminalität beruht.4 Die ISS wurde vom Rat der EU für Justiz und Inneres (JHA – The EU Council Justice and Home Affairs) am 25./26. Februar 2010 angenommen und sieht verschiedene Maßnahmen vor, die im Zeitraum von 2011 – 2014 umzusetzen sind. Dieses Dokument ist an die Öffentlichkeit gerichtet und zielt darauf ab, das Verständnis und Bewusstsein für die Aktivitäten der EU zu vergrößern. In ihrem die ISS5 betreffenden Bericht hat die Europäische Kommission fünf wichtige strategische Ziele zur Verbesserung der europäischen Sicherheit genannt: 1. Vorbeugung und Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität 2. Vorbeugung und Bekämpfung des Terrorismus 3. Vorbeugung und Bekämpfung der Cyberkriminalität 4. Stärkung des Schutzes der Außengrenzen der EU 5. Verbesserung der europäischen Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Katastrophen Zugleich definierte die Europäische Kommission jeweils mehrere zentrale Maßnahmen, die zur Erreichung der oben genannten Ziele führen sollten. An der Spitze steht die Bekämpfung internationaler krimineller Netzwerke, die eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen.6 In diesem Bereich wird vorgeschlagen: 1. Aufdeckung und Zerschlagung krimineller Netzwerke, insbesondere durch einen neuen Rechtsakt betreffend die Erfassung und Verwendung von Fluggastdaten (PNR – Passenger Name Records), durch den verstärkten Einsatz effektiver gemeinsamer Ermittlungsteams sowie die verbesserte Anwendung des Europäischen Haftbefehls erreicht werden soll; 2. Schutz der Wirtschaft vor krimineller Infiltration durch Kampf gegen die Korruption sowie die Einrichtung nationaler Kontaktstellen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität; 3. Einziehung von Erträgen aus Straftaten, insbesondere durch die Schaffung nationaler Vermögensabschöpfungsstellen.

4 The Stockholm Programme: An Open and Secure Europe Serving and Protecting the Citizens (Council Document 17024/09). Siehe Krzysztofiuk, Perspektywy współpracy sa˛dowej w sprawach karnych w Unii Europejskiej, Prokuratura i Prawo 2015, Nr 7 – 8, S. 196 ff. 5 European Commission, Communication from the Commission to the European Parliament and the Council. The EU Internal Security Strategy in Action: Five steps towards a more secure Europe, COM (2010) 673 final, Brussels, 22. 11. 2010. 6 Siehe Albanese/Reichel, Transnational Organized Crime. An Overview from Six Continents, Sage Publications, Inc., Los Angeles – London – New Delhi – Singapore – Washington DC 2014.

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Die nächste Zielrichtung betrifft die Bekämpfung des Terrorismus sowie der Radikalisierung und Rekrutierung von Terroristen. Im Rahmen der ISS legt die Europäische Kommission wiederum verschiedene Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels fest. Wichtig sind dabei vor allem die Aufklärung und Einbindung der Bevölkerung sowie die nähere Zusammenarbeit mit lokalen Behörden.7 Die Europäische Union soll die Geld- und Materialbeschaffung durch Terroristen verhindern und verdächtige Finanztransaktionen überwachen. Höchste Priorität kommt auch dem Schutz der Transportinfrastruktur im Bereich des Land-, See- und Luftverkehrs zu. Hauptrealisatoren dieses Ziels sollten die Mitgliedstaaten und der EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung sein. Dritte Zielrichtung ist der bessere Schutz der Bürger und Unternehmen im Cyberspace. Diesbezüglich schlägt die Kommission eine weitreichende Kooperation der Mitgliedsstaaten auf EU-Ebene vor. Eine Stärkung des Bewusstseins der Bürger, eine engere Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft und ein verbesserter Umgang mit Cyberangriffen sollen der Bedrohung durch diese Kriminalitätsform entgegenwirken. Die nächste Zielrichtung, für die die EU-Kommission praktische Vorschläge erarbeitet hat, bilde die Erhöhung der Sicherheit durch ein integriertes Grenzschutzmanagement. Vorgesehen ist insbesondere eine intensivere und effektivere Kooperation und Koordination von Frontex, Europol, Zolldiensten und Antidrogenplattformen. Der letzte Punkt im Zielekatalog der Kommission ist die Verbesserung der Widerstandskraft Europas gegenüber Krisen sowie natürlichen und vom Menschen verursachten Katastrophen. In diesem Bereich geht es insbesondere um die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie zur Krisenprävention und zum Krisenmanagement.

II. Bewertung der ISS aus polnischer Perspektive Viele der oben genannten Forderungen der ISS und der vorgesehenen Maßnahmen der EU zur Erreichung von strategischen Sicherheitszielen wurden in Polen schon früher, d. h. noch vor Erarbeitung der ISS, im Rahmen verschiedener Untersuchungsprojekte analysiert. Diese Projekte wurden in Arbeitsgemeinschaften unter führender Teilnahme der Juristischen Fakultät der Universität Białystok und der Polnischen Plattform für Innere Sicherheit8 geführt. Aus der im Rahmen der PPBW rea7 Näher Hołyst, Terroryzm, Tom 1, Warszawa 2011; Holyst/Goc, Terroryzm w pogla˛dach społeczen´stwa polskiego, Wyd. Wyz˙ szej Szkoły Menadz˙ erskiej w Warszawie, Warszawa 2011; Furgała/Tulej/Szlachter/Chomentowski, Spójna antyterrorystyczna strategia informacyjna, tom I, II i III, Szczytno 2011. 8 Die Polnische Plattform für Innere Sicherheit (PPBW) ist ein seit 10 Jahren bestehendes wissenschaftliches Universitätennetzwerk, dessen Tätigkeit ein Paradebeispiel gelungener Zusammenarbeit von Personen aus der Wissenschaft mit ausgewählten Verfolgungsorganen, Spezialdiensten und der Justiz im Bereich der – auch das organisierte Verbrechen betreffenden

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lisierten nationalen Projekte ist das internationale Projekt „INDECT”9 hervorgegangen, das sich durch die Teilnahme führender Wissenschaftszentren und wirtschaftlicher Einheiten aus 12 Ländern auszeichnet und im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU realisiert wurde. Sein Ziel war die Schaffung eines intelligenten Informationssystems, das der Bevölkerung in urbanen Gebieten ein hohes Sicherheitsniveau garantiert. Dieses europäische Projekt stellt nicht nur eine Weiterentwicklung der der PPBW realisierten polnischen Projekte dar, sondern dient auch dem Erfahrungsaustausch und der Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der EU. Hauptziel der im Rahmen der PPBW realisierten Projekte war und bleibt die Unterstützung der Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Sicherheitsdiensten mit modernen Technologien. Unabhängig davon dienen einige der erarbeiteten Vorschläge der Steigerung der Effektivität der mit dem Schutz der Bürger und der Kriminalitätsprävention verbundenen Maßnahmen, die mit Hilfe moderner Technologien und des Internets realisiert werden. Dadurch gelingt es, die Arbeit der für Sicherheitsbelange verantwortlichen staatlichen Organe und Einrichtungen möglichst effizient und nachhaltig zu gestalten.10 Im Jahr 2010 wandte sich das Departement der Europäischen Union und Internationalen Zusammenarbeit des Innenministeriums (MSWiA) mit der Bitte an die PPBW, Stellung zur ISS zu nehmen. Als Ergebnis der daraufhin durchgeführten Diskussion erarbeitete die PPBW folgende Anmerkungen:11 1.

Mit der ISS werden die Bedrohungen für die innere Sicherheit der Europäischen Union richtig erkannt. Es ist jedoch schwer einzuschätzen, ob sich die Ergebnisse aus einer Analyse empirischen Materials, aus politischem Bedarf oder aus der persönlichen Überzeugung der Autoren ableiten. Für die Erhöhung der Sicher-

– Kriminalitätsvorbeugung. Hauptziel dieser weltweit seltenen, von der Europäischen Kommission, dem Europäischem Parlament und den UN-Strukturen hoch geschätzten Initiative ist die Bildung von integrierten Informationswerkzeugen, die auf verschiedene Weise zur Förderung der öffentlichen Sicherheit beitragen und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschafts-, Forschungs-, Entwicklungs- und Bildungssektoren im Bereich öffentlicher Sicherheit verstärken. Das Wort „Plattform“ steht in diesem Zusammenhang für eine Initiative, welche die gemeinsame Realisierung mehrerer Projekte anstrebt und sich dabei Erfahrung, Praxiswissen und moderne Konzepte zu Nutze macht. Siehe Pływaczewski/Rau, The Polish Platform for Homeland Security – a Pioneer Initiative for Up-to-date Security in the European Union, in: Pływaczewski (Hrsg.), Current Problems of the Penal Law and Criminology. Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Białystok 2009, S. 445 ff. 9 Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment. Leiter dieses Projekts war die Akademia GórniczoHutnicza in Krakau. 10 Näher Pływaczewski/Filipkowski/Rau, Przeste˛ pczos´c´ w XXI wieku. Zapobieganie i zwalczanie. Problemy technologiczno-informatyczne (red. nauk.), Wolters Kluwer, Warszawa 2015. 11 Diese wurden in der Mitteilung vom 8. Februar 2011 im Namen von PPBW an den Direktor des Departements der EU und Internationalen Zusammenarbeit des Innenministeriums (MSWiA) geschickt.

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heit in den einzelnen Bereichen ist eine Identifizierung konkreter gegenwärtiger Bedrohungen nötig. Diese ermöglicht dann deren Kontrolle, die der Beseitigung solcher gesellschaftlich unerwünschten Zustände dient.12 2.

Bei der Suche nach organisatorischen, juristischen und technologischen Instrumenten, die dem weiten Bereich der inneren Sicherheit dienen, sollten Untersuchungen der Bedrohungen und der Wirksamkeit dieser Instrumente berücksichtigt werden.13

3.

Richtig erkannt wurden auch Probleme der Zusammenarbeit zwischen nationalen Sicherheitsbehörden. Während sich die Zusammenarbeit zwischen Verfolgungsorganen oder Spezialdiensten in der EU seit den siebziger Jahren kontinuierlich entwickelt hat, lässt die Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte noch zu wünschen übrig. Auf diesen Aspekt sollen sich daher die im Rahmen der Europäischen Union getroffenen Maßnahmen konzentrieren.

4.

Die in den Mitgliedstaaten entwickelten Strategien entstehen gewöhnlich in staatlichen Einrichtungen. Deshalb sind sie durch subjektive, institutionelle Einstellungen geprägt. In den Prozess der Strategie-Entwicklung sollen daher Personen aus anderen (z. B. wissenschaftlichen oder nichtstaatlichen) Bereichen miteinbezogen werden, um einen distanzierten, vom öffentlichen Sektor unabhängigen Blick zu ermöglichen.

5.

Vielversprechend erscheint z. B. das Verfahren der peer-to-peer evaluation. Es soll zu einer Objektivierung der Lösungsbewertung und der nationalen Strategien beitragen sowie eine Verbreitung effektiver Regelungen, Herangehensweisen und Erfahrungen ermöglichen.

6.

Ebenso zutreffend festgestellt wird die Notwendigkeit der Konzentration auf einen differenzierten, von den Unionsorganen unterstützten Informationsaustausch zwischen den Staaten. Aufgrund der heutigen Gesellschaftsentwicklung stellt der Umgang mit Informationen ein wichtiges Werkzeug zur Erhaltung der inneren Sicherheit dar. Zu fordern wäre daher die Einrichtung von Stellen, bei denen die Informationen aus unterschiedlichen Quellen und Ländern zusammenlaufen (fusion center). Um die Effektivität zu erhöhen, sollte ein Informationsaustausch zwischen verschiedenen Bereichen (Strafverfolgung, Geheim-

12

Ein ausgezeichnetes Beispiel stellen in diesem Zusammenhang polnische in den Jahren 2008 – 2011 durchgeführte und bearbeitete Untersuchungen dar, deren Ziel die Bestimmung des Sicherheitsgefühls und die Erhebung der Einschätzung gegenwärtiger Bedrohungen innerhalb der polnischen Gesellschaft sowie auch ausgewählter Funktionäre der Verfolgungsorgane und der Justiz war. Siehe Guzik-Makaruk (red. nauk.), Poczucie bezpieczen´stwa obywateli w Polsce. Identyfikacja i przeciwdziałanie współczesnym zagroz˙ eniom, Warszawa 2011. 13 Siehe Filipkowski, Ocena wybranych instytucji słuz˙ a˛cych zwalczaniu przeste˛ pczos´ci zorganizowanej, RPEiS 2010, zeszyt 2, S. 157 ff.

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dienst, Sicherheitspolizei, Finanzen usw) stattfinden.14 Dies aber weckt wiederum Bedenken bei Bürger- und Menschenrechtsorganisationen. 7.

Deswegen ist auch die Entwicklung analytischer Werkzeuge – wie sie insbesondere aus geheimdienstlicher Tätigkeit bekannt sind – angezeigt. Man darf sich aber nicht nur darauf beschränken. Immer größere Bedeutung kommt heute der Analyse von Informationen aus offenen Quellen zu.15 Diesbezüglich wird der Anschein erweckt, die Europäische Union habe etwas völlig Neues entdeckt, obwohl es in Polen bereits solche „Operationstätigkeiten“ gab.

8.

Es genügt nicht, dass die ISS die Notwendigkeit der Einbindung der Gesellschaft in den Bearbeitungs- und Einführungsprozess entsprechender Instrumente zum Schutz der inneren Sicherheit betont. Vielmehr müssen Mechanismen geschaffen werden, welche die Beteiligung der gesellschaftlichen Organisationen an diesen Prozessen verwirklichen. Auf diese Weise könnte auch das Verständnis der Bürger für die Durchführung mancher in Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten eingreifender Maßnahmen verbessert werden.

9.

Es entsteht der Eindruck, dass das Dokument nur deklaratorisch die Notwendigkeit der Erhaltung und des Schutzes der Freiheit, Sicherheit und des Privatlebens betont, dass es aber schwer ist, konkrete Lösungen zu finden. Ausdrücklich hervorgehoben wird die Entwicklung technischer, die Sicherheit gewährleistender Instrumente.

10. Es fehlt an Konzepten, die eine gesellschaftliche Diskussion über die Suche nach dem Gleichgewicht, nach dem „goldenen Mittel“ zwischen der Gewährleistung der inneren Sicherheit einerseits und andererseits dem Schutz der Bürgerrechte und Freiheiten sowie der rechtsstaatlichen Garantien anstoßen.16 11. Die ISS enthält keine Ausführungen zu Untersuchungen in anderen Wissenschaftsbereichen als der Technik. Daran wird deutlich, dass man zu große Hoffnungen in Innovationstechnologien setzt, ohne die Ursachen und Konsequenzen der Bedrohungen aus dem Blickwinkel humanistischer Wissenschaften, wie insbesondere der Soziologie, Kriminologie und dem Recht, zu betrachten.17 In diese Richtung deutet die – völlig zu Recht erhobene – Forderung, dass die ein14 Näher Gottschalk, Policing Organized Crime. Intelligence Strategy Implementation, Boca Raton/London/New York 2010. 15 Zum Umfang mit „open-sources“ näher Filipkowski/Ma˛drzejowski (red. nauk.), Biały wywiad. Otwarte z´ródła informacji – wokół teorii i praktyki, Wydawnictwo C.H. Beck, Warszawa 2012, S. 85 f., 164 f., 179 f. 16 Siehe Pływaczewski/Guzik-Makaruk/Filipkowski, „Nowoczesne technologie“ w zwalczaniu przeste˛ pczos´ci a prawa człowieka, Przegla˛d Policyjny 2013, Nr 1, S. 5 ff.; Pływaczewski/Filipkowski, Combating Transnational Crime Under the Rule of Law. Contemporary Opportunities and Dilemmas, in: Reichel/Albanese (eds.), Handbook of Transnational Crime and Justice, Second Edition, SAGE Publications, Los Angeles/London/New Delhi/Singapore/Washington D.C. 2014, S. 375 ff. 17 Näher Pływaczewski/Filipkowski/Rau (red. nauk.), Przeste˛ pczos´c´ w XXI wieku. Zapobieganie i zwalczanie. Problemy prawno-kryminologiczne, Wolters Kluwer, Warszawa 2015.

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zelnen Maßnahmen auf eine Bekämpfung der Ursachen der Kriminalität abzielen müssen. Es ist jedoch schwer, Instrumente zu finden, die eine klare Diagnose dieser Ursachen ermöglichen.

III. Realisierungszyklus der EU-Politik betreffend organisierte und schwere internationale Kriminalität In den im November 2010 vom Rat für Justiz und Inneres verabschiedeten Schlussfolgerungen wurde darauf hingewiesen, dass das Bedürfnis bestehe, einen mehrjährigen Politikzyklus zur Bekämpfung der organisierten und schweren internationalen Kriminalität zu schaffen und umzusetzen. Ziel soll die kohäsive und methodologische Vorbeugung gegen die mit dieser Erscheinungsform der Kriminalität verbundenen Bedrohungen durch maximale Zusammenarbeit zwischen einschlägigen Einrichtungen der Mitgliedstaaten, den Institutionen und Agenturen der Europäischen Union sowie geeigneten Drittländern und sonstigen Organisationen sein. Der EU-Politikzyklus zur Bekämpfung organisierter Kriminalität und schwerer internationaler Kriminalität18 besteht aus vier Teilen: Erste Etappe ist die Bewertung der Bedrohungssituation im Bereich organisierter und schwerer internationaler Kriminalität (SOCTA). Dabei soll SOCTA ein vollständiges und genaues Bild der Bedrohung mit Kriminalität innerhalb des Territoriums der EU liefern. Der nächste Abschnitt des Politzyklus umfasst die Festlegung einer eingeschränkten Zahl von regionalen und allgemeineuropäischen Prioritäten durch den Rat. Für jeden dieser Prioritätsräume soll ein mehrjähriger strategischer Plan (MASP) erarbeitet werden, um einen multidisziplinären (integrierten) Zugang zu einer effektiven Vorbeugung gegen Prioritätsbedrohungen zu garantieren. Dieser Plan soll sowohl präventive als auch repressive Maßnahmen enthalten. Die dritte Etappe des Zyklus besteht in der Durchführung und Überwachung einjähriger Pläne der Operationstätigkeit (OAP), die mit den in den mehrjährigen strategischen Plänen (MASP) enthaltenen strategischen Zielen korrelieren müssen und auf COSPOL19, einer multilateralen Plattform für Zusammenarbeit im Bereich der Vorbeugung gegen Prioritätsbedrohungen, aufbauen sollen. Der Realisierungszyklus der EU-Sicherheitspolitik soll mit einer genauen Evaluierung enden, deren Ergebnisse als Beitrag in den nächsten Zyklus miteinfließen. 18 Council of the European Union, Council conclusions on the creation and implementation of the EU policy cycle for organizing and serious international crime, 3043rd Justice and Home Affairs Council meeting, Brussels, 8th and 9th November 2010. 19 Comprehensive Operational Strategic Planning for the Police – Dabei handelt es sich um eine von der EPCTF (European Police Chiefs Task Force) entwickelte Initiative mit dem Ziel, die Wirksamkeit gemeinsamer Polizeitätigkeiten zu erhöhen. Im Rahmen von COSPOL arbeiten verschiedene Gruppen, die aktuelle und wesentlichste Kriminalitätsbedrohungen in Europa bekämpfen.

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Aufgrund der Bewertung des Bedrohungszustandes im Bereich organisierter Kriminalität (SOCTA 2011) wurde ein einleitender, auf zwei Jahre (2011 – 2013) beschränkter Politikzyklus festgelegt und umgesetzt. Innerhalb dieses Zeitraums sollten jene Instrumente entwickelt und Vorbereitungen getroffen werden, die zur Umsetzung eines vollen, vierjährigen Zyklus der Politikrealisierung notwendig sind. Der erste vierjährige Politikzyklus für die Jahre 2013 – 2017 sollte aufgrund der Bewertung der Bedrohungslage im Bereich schwerer und organisierter internationaler Kriminalität (SOCTA 2013) unter Berücksichtigung der Evaluierungsergebnisse des vorhergehenden Zyklus konzipiert werden. Zeitgleich mit der Annahme der Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Umsetzung des Politikzyklus zur Kriminalitätsbekämpfung im November 2010 verpflichtete der Rat für Justiz und Inneres das Ständige Komitee der EU für Operative Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit (im Folgenden COSI genannt) zur Koordinierung und Überwachung der Umsetzung der mehrjährigen Strategiepläne und einjährigen operativen Tätigkeitspläne im Hinblick auf alle vom Rat für Justiz und Inneres angenommenen Prioritäten. Die im Rahmen von SOCTA empfohlenen und von COSI geprüften Prioritäten bei der Bekämpfung der schweren und organisierten internationalen Kriminalität wurden vom Rat der EU für Justiz und Inneres für den nächsten 4-Jahres-Zyklus verabschiedet. Der Katalog der angenommenen Prioritäten setzt sich wie folgt zusammen: 1. Bekämpfung des Schmuggels von illegalen Waren wie Kokain, Heroin, indischem Hanf, gefälschten Waren und Zigaretten (besonders in Containern) in die EU. 2. Verminderung der Rolle des Westbalkans als Schlüsselraum für den Transit und die Lagerung von illegalen, für den EU-Raum bestimmten Waren und als logistisches Zentrum für organisierte, auch albanisch-sprachige kriminelle Gruppen. 3. Schwächung der Fähigkeiten krimineller Gruppen zur Einschleusung illegaler Immigranten in die EU, insbesondere über die Hauptrouten in Süd-, Südostund Osteuropa sowie an der griechisch-türkische Grenze und in den Krisengebieten des nordafrikanischen Mittelmeerraums. 4. Verringerung der Herstellung und Verteilung von synthetischen Drogen, darunter auch psychoaktiven Mitteln. 5. Eindämmung des Schmuggels von Heroin und Kokain in den EU-Raum sowie innerhalb dieses Raums durch Zerschlagung der in Westafrika tätigen organisierten kriminellen Gruppen. 6. Bekämpfung aller Arten des Menschenhandels und Menschenschmuggels durch ein gezieltes Vorgehen gegen organisierte kriminelle Gruppierungen, die an der-

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artigen Aktivitäten insbesondere in südlichen, süd-westlichen und süd-östlichen kriminellen Zentren der EU beteiligt sind.20 7. Einschränkung der allgemeinen Mobilitätsfähigkeit organisierter krimineller Gruppen zur Eindämmung ihrer kriminellen Aktivitäten. Von dem Unwesen mobiler krimineller Gruppen sind vor allem Holland und Belgien mit Diebstählen und Einbruchsdiebstählen betroffen.21 8. Intensivierung des Kampfes gegen Cyberkriminalität und den Missbrauch des Internets durch organisierte kriminelle Gruppen; In Bezug auf die letztgenannte Priorität herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass Cyberkriminalität ein Problem ist, das sofortige und koordinierte internationale Aktionen verlangt. Gleichzeitig ist die Möglichkeit der Schaffung einer einheitlichen internationalen gesetzlichen Regelung zu erwägen. Mit dieser Frage beschäftigte man sich auch im Rahmen eines UN-Forums, insbesondere in der „Salvador-Deklaration“ – dem Enddokument des XII. UN-Kongresses über Kriminalitätsprävention und Strafgerechtigkeit.22 Darin wird vor allem das Problem des Missbrauchs von Informationstechnologien und anderer technologischer Errungenschaften angesprochen, darunter die zunehmende Bedeutung des Internet für die Begehung bestimmter Kategorien von Straftaten, wie insbesondere Kinderpornographie und verschiedene Betrugsarten. Das Internet ermöglicht eine globale Nutzung elektronischer Medien. Es wird empfohlen, Staaten durch technische Hilfe und Schulungen beim Aufbau und der Verbesserung ihrer nationalen Einrichtungen zur Bekämpfung der Cyberkriminalität zu unterstützen. Die so neu geschaffenen Strukturen sollen einer effektiven Verfolgung und Sanktionierung von Cyberkriminalität dienen, insbesondere im Hinblick auf die Bedrohung öffentlicher Infrastruktur unter anderem durch (terroristische) Angriffe. Nach Angaben von Polizei und anderen einschlägigen Einrichtungen ist es notwendig, moderne Werkzeuge zu schaffen, um wirksam kriminelle Aktivitäten aufdecken, Straftatbeweise entsprechend sichern und schließlich möglichst schnell ein Gerichtsverfahren einleiten zu können. Insbesondere geht es dabei um jene Informations- und Teleinformationswerkzeuge, die die Effektivität der Bekämp20

Siehe Lee, Trafficking and Global Crime Control, SAGE Publications, Los Angeles/ London/New Delhi/Singapore/Washington D.C. 2011, S. 375 ff. 21 Siehe Van Daele, Extending offender mobility. Investigating mobile offenders through the case study of ,itinerant crime groups‘, IRCP – series, Volume 43, Maklu – Publishers, Antwerpen/Apeldoorn/Portland 2012; Siegel, Mobile Banditry. East and Central European Itinerant Criminal Groups in the Netherlands, Eleven International Publishing, The Hague 2014. 22 Twelfth United Nations Congress on Crime Prevention and Criminal Justice, Salwador, Brazil, 12 – 19 April 2010. Siehe Pływaczewski, Zapobieganie przeste˛ pczos´ci i sprawiedliwos´c´ karna. XII Kongres Organizacji Narodów Zjednoczonych (Salwador, Brazylia 12. 19. 2010), Pan´stwo i Prawo 2010, Nr 10; ders.: Współczesne tendencje przeste˛ pczos´ci i kierunki jej przeciwdziałania z perspektywy XII. Kongresu ONZ, in: Michalska-Warias/Nowikowski/ Piórkowska-Flieger (red. nauk.), Teoretyczne i praktyczne problemy współczesnego prawa karnego. Ksie˛ ga Jubileuszowa dedykowana Profesorowi Tadeuszowi Bojarskiemu, Lublin 2011, S. 781 ff.

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fungsmaßnahmen erhöhen. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Personen aus dem Bereich der Wissenschaft bei der Bestimmung von Risikobereichen und der Erarbeitung neuer Methoden und technischer Lösungen, die eine wirksame Vorbeugung und Bekämpfung einer solchen Kriminalität ermöglichen. Mit der Annahme der von COSI geprüften (und aufgrund der Vorschläge von Europol im Rahmen von SOCTA erarbeiteten) Prioritäten durch den Ministerrat für Justiz und Inneres wurde die nächste Phase des Politikzyklus eingeleitet, nämlich die Ausarbeitung und Billigung der zweijährigen strategischen Ziele für die einzelnen Prioritäten (MASP), die wiederum über einjährige, operativen Tätigkeitspläne (OAP) umgesetzt werden. Seit Mai 2011 wurden jene Einrichtungen der EU und der Mitgliedstaaten identifiziert, für die die größte Bedrohung von den in den einzelnen Prioritätsbereichen bestimmten kriminellen Tätigkeiten ausgeht. An der Identifizierung dieser Einrichtungen nahmen Europol, die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten aktiv teil. Das Grundprinzip bestand darin, dass nicht diese Einrichtungen, sondern jene Mitgliedstaaten, die das größte Interesse daran hatten, die Arbeiten einzelner Projektgruppen leiten sollten, die strategische Ziele im Hinblick auf die gegebenen Prioritäten ausarbeiten.23 Auf dem Forum von COSI war Polen das führende Land im Rahmen der Arbeiten jener Projektgruppe, die mit der Bearbeitung strategischer Ziele zur Verhinderung der Herstellung und Verteilung von synthetischen Drogen und psychoaktiven Substanzen betraut war.

IV. Zusammenarbeit der Organe für innere Sicherheit mit anderen Sektoren Die Entwicklung eines integrierten Ansatzes zur Prävention und Bekämpfung organisierter Kriminalität, der sowohl operative als auch außeroperative und alternative Maßnahmen beinhaltet, stellt eine der Prioritäten der Europäischen Union dar. In dem bereits oben unter „Allgemeines“ erwähnten Stockholmer Programm wurde bei der Aufzählung der wirksamsten Methoden der Kriminalitätsvorbeugung unter anderem von einem „multidisziplinären Konzept“ gesprochen, das auch die Heranziehung administrativer Mittel und eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen administrativen Organen umfasst.24 23

Die Arbeiten an strategischen Zielen wurden in Brüssel geführt. Die Europäische Kommission organisierte mit der Unterstützung von PRES PL und Europol zweitägige Schulungen bezüglich jeder der Prioritäten. Im Rahmen dieser Schulungen wurde ein Dokument erarbeitet, das im Hinblick auf die genannten Prioritäten die jeweiligen Problembereiche und potentiellen Bedrohungen aufzeigt und schließlich strategische Ziele definiert. 24 Näher Pływaczewski, Wokół zintegrowanego podejs´cia do przeciwdziałania i zwalczania przeste˛ pczos´ci zorganizowanej, in: Kardas/Sroka/Wróbel (red.), Pan´stwo prawa i prawo karne. Ksie˛ ga Jubileuszowa Profesora Andrzeja Zolla, Tom II, Wolters Kluwer, Warszawa 2012, S. 1483 ff.

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Diese administrative Herangehensweise, die einen Aspekt des integrierten Konzepts zur Bekämpfung organisierter Kriminalität darstellt, bildet eine Alternative zu operativen Methoden. Sie besteht in der Vorbeugung der Kriminalität durch Schaffung von entsprechenden rechtlichen Lösungen in diesem Bereich, durch Novellierung bestehender Vorschriften oder dem Schließen von Rechtslücken, um jene Bedingungen zu beseitigen, die das Entstehen von Kriminalität begünstigenden. In der ISS, welche die schwere und organisierte Kriminalität als eine der wesentlichsten Bedrohungen für die innere Sicherheit der EU erwähnt, wird bezüglich der Prävention gegenüber dieser Bedrohungen auf das Bedürfnis hingewiesen, sich sogenannte horizontale Mittel zu Nutze zu machen. Diese bestehen unter anderem in der Zusammenarbeit der Organe für innere Sicherheit mit anderen Sektoren, wie dem wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen und privaten. In der Strategie wurde auch klargestellt, dass den für die Erziehung und Ausbildung zuständigen Institutionen wie Schulen und Hochschulen eine wichtige Rolle im Rahmen der Vorbeugung zukommt, weil sie wesentlich dazu beitragen können, ein Abrutschen der Jugend in die Kriminalität zu verhindern. Außerdem weist das Dokument auf das Potential des privaten Sektors bei der Zusammenarbeit im Bereich der Finanzbetrugs- und Geldwäscheprävention hin. In Bezug auf Geldwäsche besteht ein besonderes Präventionsinteresse, vor allem dann, wenn Personen in hohen politischen Stellen involviert sind. In diesem Bereich anzusetzen, ist eine der besten Methoden zur Bekämpfung von Korruption und der Veruntreuung staatlicher Finanzen im großen Maßstab. Entsprechende Regulierungen in diesem Bereich gibt es erst seit etwa zehn Jahren. Heutzutage werden aufgrund von Analysen der Experten der Weltbank und anderen Einrichtungen zur Finanzanalyse in EU-Mitgliedstaaten erste Bewertungen präsentiert.25 Im Juni 2011 wurde – im Rahmen der Realisierung einer der unter der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft angenommenen Prioritäten – ein Handbuch guter Praxis der Mitgliedstaaten der Europäischen Union herausgegeben.26 Dieses Dokument war das Resultat der siebenmonatigen Arbeit einer Expertengruppe mit Mitgliedern aus Ungarn, Polen, Finnland, Italien, Holland, Schweden, Großbritannien sowie auch der Europäischen Kommission, Europol und des Sekretariats des Rates, die unter den Auspizien des COSI tätig waren. Das Handbuch stellt eine Sammlung innovativer Praxis und von Instrumenten dar, die von den einzelnen Staaten zur Vorbeugung und Bekämpfung organisierter Kriminalität entwickelt wurden und traditionelle Vorgangsweisen zur Verfolgung von Straftaten aufgrund der in diesem Bereich bestehenden Strafvorschriften und Operationsmethoden erläutern. 25

Näher Jasin´ski, Osoby na eksponowanych stanowiskach politycznych. Przeciwdziałanie korupcji i praniu pienie˛ dzy, Warszawa 2012. 26 U.d.T.: „Uzupełniaja˛ce podejs´cie i działania w zakresie przeciwdziałania i zwalczania przeste˛ pczos´ci zorganizowanej. Zbiór przykładów dobrych praktyk Pan´stw Członkowskich Unii Europejskiej“ (Complementary approaches and actions to prevent and combat organized crime. A collection of good practice examples from EU Member States).

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Schon während der Vorbereitungen zur Übernahme der Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union erklärte Polen sein Interesse an der Aktualisierung dieses Handbuchs und der Entwicklung alternativer Konzepte zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, wie unter anderem der Schaffung eines internationalen Kontaktstellennetzes und des Austauschs nationaler Erfahrungen in diesem Bereich. Wenn es um die Zusammenarbeit der öffentlichen Institutionen mit dem privaten Sektor geht, kann diese im Bereich der Vorbeugung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität insofern bejaht werden, als Verfolgungsorgane wesentliche Informationen von anderen Stellen erhalten. Dabei geht es vor allem um Informationen über die mit der Wirtschaftstätigkeit verbundenen, von kriminellen Gruppen ausgehenden Grundbedrohungen für den privaten Sektor. Prävention bedeutet in diesem Zusammenhang das Informieren über verschiedene – z. B. technische – Möglichkeiten zur Verhinderung von Kriminalität sowie auch über verschiedene Bedrohungen, die von organisierten kriminellen Gruppen für die betroffene Wirtschaftstätigkeit ausgehen. Der private Sektor kann auch als Partner für Verfolgungsorgane in Betracht kommen beim Transfer von Fachwissen bei der Führung gemeinsamer Schulungsprogramme, bei der Erarbeitung wirksamer Mechanismen zur Vorbeugung, der Erstellung von Expertisen sowie auch der Feststellung der von Straftätern typischerweise eingesetzten Methoden oder Trends. Wichtig ist die Schaffung verschiedener Plattformen der Zusammenarbeit. Weil eine direkte Zusammenarbeit der Verfolgungsorgane mit einzelnen Unternehmen nur schwer möglich ist, soll sie mit den Kammern, Vereinen oder Verbänden, welche diese repräsentieren, geführt werden. Eine sehr wichtige Form der Zusammenarbeit, die zur Bekämpfung organisierter Kriminalität eingesetzt wird, liegt in der Informationsbeschaffung durch Verfolgungsorgane über natürliche oder juristische Personen, die im besonderen Interesse der Verfolgungsorgane stehen und zu denen der Zugang über Kammer, Vereine oder Verbände gefunden werden kann. Eine Zusammenarbeit kann auch in Form einer Schaffung von entsprechenden Personendatenregistern und der Bereitstellung eines Zugangs zu diesen bestehen. Internationale Erfahrungen zeigen eindeutig, dass die Wahrung der Sicherheit durch die Zusammenarbeit der Staatsorgane mit dem privaten Sektor und den in der Wissenschaft tätigen Personen im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften erfolgen soll.27 Besonders die Zusammenarbeit mit Rechtsexperten begünstigt wirksame rechtliche Konzepte, die sowohl eine effektivere Tätigkeit der Organe und Institutionen als auch die Erarbeitung gemeinsamer Lösungsvorschläge in diesem Be-

27

Siehe z. B. Bhanu/Stone, Public-Private Partnerships for Police Reform, Crime & Justice International, May/June 2004, Volume 20, Nr 80, S. 15 ff.; Pływaczewski/Zatyka, The private security industry as an element of the public security system, in: Pływaczewski (ed.), Organized Crime and Terrorism. Reasons-Manifestations-Counteractions, University of Warmia and Mazury, Olsztyn 2011.

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reich ermöglichen.28 Es besteht also dringender Bedarf, ein öffentlich-privates Untersuchungsforum einzurichten, insbesondere weil die europäischen Untersuchungen im Bereich der Sicherheit noch nicht abgeschlossen wurden und Fragen nach der Gestalt des Sicherheitsmodells nach wie vor offen bleiben.29

V. Zusammenfassung Der Ablauf des Umsetzungszeitraumes der ISS veranlasst zur Bewertung der Einleitung und Umsetzung der genannten Maßnahmen. Im polnischen Schrifttum30 wird unter anderem betont, die in der ISS enthaltenen Forderungen müssten weiterhin bei der Konzeption von Rechts-, System- und Institutionslösungen berücksichtigt werden, um die Wirksamkeit und Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union sowie einzelner Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine dynamische Bedrohungsentwicklung zu vergrößern. Man soll sich insbesondere auf die sich aus der globalen gegenseitigen Abhängigkeit ergebenden Anforderungen vorbereiten, weil die Europäische Union auf dem Prinzip einer solchen Abhängigkeit, die eine größere Gesellschaftsmobilität verursacht, beruht. Diese Mobilität dient einerseits der Gesellschaftsentwicklung und stärkt die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Prozesse, andererseits aber erhöht sie auch das Auftreten unerwünschter Erscheinungen, wie insbesondere der (vor allem internationalen und organisierten) Kriminalität und des Terrorismus.31 Ferner ist zu betonen, dass die oben genannte Polnische Plattform für Innere Sicherheit einen homogenen Blick auf alle Untersuchungs- und Entwicklungsarbeiten, die der allgemeinen Sicherheit dienen, ermöglicht. Moderne Technologien sollen die Tätigkeit der Polizeieinheiten und anderer Sicherheitsdienste unterstützten sowie verschiedenen Bedrohungen und Gesetzverstößen vorbeugen. Unternehmungen, welche die fortgeschrittene, technologische Unterstützung des Sicherheitsmanagements und die Bekämpfung des Terrorismus sowie der organisierten Kriminalität be28 Siehe Pływaczewski/Laskowska/Szczygieł/Guzik-Makaruk/Filipkowski/Zatyka, Polskie kierunki badan´ kryminologicznych nad bezpieczen´stwem obywateli, Prok. i Pr. 2010, Nr 1 – 2, S.176 ff.; Filipkowski, System przeciwdziałania i zwalczania przeste˛ pczos´ci zorganizowanej, in: Pływaczewski (red. nauk.), Przeste˛ pczos´c´ zorganizowana, Warszawa 2011, S. 198 – 199. 29 Siehe Pływaczewski/Filipkowski, Europejski Instytut Bezpieczen´stwa – ewolucja i wdroz˙ enie koncepcji klastra na rzecz bezpieczen´stwa, in: Pływaczewski/Filipkowski/Rau (red. nauk.), Przeste˛ pczos´c´ w XXI wieku. Zapobieganie i zwalczanie. Problemy technologiczno-informatyczne, S. 51 ff. 30 Siehe Tulej, Strategia bezpieczen´stwa wewne˛ trznego Unii Europejskiej. Analiza i ocena, Przegla˛d Policyjny 2014, Nr 4 (116), S. 197. 31 Siehe Albanese, Transnational Crime and the 21st Century. Criminal Enterprise, Corruption and Opportunity, Oxford University Press, New York – Oxford 2011; Perkowska, Common EU external border – common threats (case of Poland, Slovakia, and Hungary), in: Ten Years of the Visegrad Group Members States in the European Union, Oficyna Wydawnicza Aspra, Warszawa 2015, S. 93 ff.

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günstigen, entsprechen den Voraussetzungen der Europäischen Kommission und realisieren dadurch ihren Rahmenplan. In den nächsten Jahren sollte ein besonderes Augenmerk auf dem mit dem Stabilitätsmangel in der Ukraine – in direkter Nachbarschaft zur EU – verbundenen Risiko liegen. Daraus resultiert die von der EU genannte Notwendigkeit, die Synergie zwischen inneren und äußeren Sicherheitsmaßnahmen in jenen Bereichen, die eine Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten verlangen, zu stärken. Man kann annehmen, dass die im Bericht der Europäischen Kommission über die Realisierung der ISS erhobenen Forderungen eine Achse für horizontale Zusammenarbeit bilden.32 Polens Hauptaufgabe ist die Stärkung der eigenen Bereitschaft und Fähigkeit zur Wahrung der Sicherheit. Zugleich sollen Maßnahmen zur Förderung der Konsolidierung der NATO bezüglich der Verteidigungsfunktion und der Entwicklung einer gemeinsamen Politik der Sicherheit und der Verteidigung der EU und der Erneuerung sowie Entwicklung strategischer Partnerschaften mit den Vereinigten Staaten von Amerika unternommen werden.33

32

Tulej, a.a.O., S. 198. Mehr dazu Szuszczyn´ski, Poszukiwanie bezpieczen´stwa narodowego Rzeczypospolitej, in: Guzik-Makaruk/Pływaczewski (red. nauk.), Współczesne oblicza bezpieczen´stwa, Wydawnictwo Temida 2, Białystok 2015, S. 187 ff. 33

Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Wandel Heinz Schöch

I. In ihrer 2008 erschienenen Münchner Dissertation1 hat Yuri Yamanaka als Nachteil des deutschen Maßregelrechts die überlange Unterbringungsdauer im Rahmen des § 63 StGB bezeichnet, die in vielen Fällen kaum mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren sei.2 Sie stellte zutreffend fest, dass die durchschnittliche Unterbringungsdauer in Deutschland in den letzten 10 Jahren etwa 4 bis 6 Jahre betrug und dass es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bundesländern gab.3 Demgegenüber sei in dem einspurigen japanischen System nach dem „Medizinischen Behandlungsgesetz“ die Unterbringungsdauer in der Regel auf 18 Monate begrenzt, und jeweils nach 6 Monaten sei zu prüfen, ob die Unterbringung weiterhin erforderlich ist.4 Die frühe Entlassung werde auch dadurch begünstigt, dass eine ambulante Nachsorge in einer psychiatrischen Einrichtung in der Nähe des Wohnorts des Betroffenen stattfinde. Die kurze Behandlungsdauer dürfte aber auch damit zusammenhängen, dass die besonders schwer zu behandelnden Straftäter mit Persönlichkeitsstörungen und Triebstörungen in Japan in der Regel nicht wie in Deutschland in psychiatrischen Kliniken behandelt werden, sondern im normalen Strafvollzug, da sie als schuldfähig angesehen werden.5 Als weiteren Vorteil des japanischen Systems schildert Yuri Yamanaka die detaillierten Reglungen zur „Behandlung ohne Einwilligung“. Eine solche dürfe nur nach intensiver Aufklärungs- und Motivationsarbeit sowie sorgfältiger Abwägung der Effekte und der Nachteile in einer „Ethischen Sitzung“ des Behandlungsteams be1 Yuri Yamanaka, Maßnahmen bei psychisch kranken Straftätern – ein Vergleich zwischen Deutschland und Japan, München 2008. 2 Yuri Yamanaka (Fn. 1), S. 118 ff., 286 f. 3 Yuri Yamanaka (Fn. 1), S. 124. 4 Yuri Yamanaka (Fn. 1), S. 275 f.; es handelt sich zwar nicht um eine gesetzliche Obergrenze, jedoch werden in der Praxis ca. 80 % der Patienten innerhalb dieses Zeitraums entlassen (schriftliche Mitteilung von Yuri Yamanaka vom 22. 01. 2016). 5 Yuri Yamanaka (Fn. 1), S. 278; diese Täter werden jedoch im Strafvollzug i. d. R. sozialtherapeutisch behandelt (schriftliche Mitteilung von Yuri Yamanaka vom 22. 01. 2016).

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schlossen werden.6 Für den deutschen Maßregelvollzug fand sie damals keine entsprechende Regelung, da in den meisten Maßregelvollzugsgesetzen der Länder die Frage der Zwangsbehandlung nicht oder nur unzureichend geregelt war. Es war zwar ganz herrschende Meinung, dass eine Behandlung ohne Einwilligung des Untergebrachten nur bezüglich der Anlasserkrankung in Betracht kam, also derjenigen Erkrankung oder Persönlichkeitsstörung, derentwegen der Patient untergebracht worden war. Allerdings beschränkten sich die landesgesetzlichen Regelungen überwiegend auf die Fälle der Lebensgefahr oder der erheblichen Gefahr für die Gesundheit des Patienten oder anderer Personen, während eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels der Heilung und der Herstellung der Entlassungsfähigkeit meist nicht geregelt war.7 Deren Zulässigkeit war umstritten. Die überwiegende Meinung ging davon aus, dass es keiner landesrechtlichen Grundlage bedürfe, weil sich die Befugnis zur Behandlung einer Anlasserkrankung aus einer systematischen und teleologischen Auslegung der § 63 StGB und § 136 StVollzG, evtl. i. V. mit § 323c StGB und § 34 StGB ableiten lasse.8 Yuri Yamanaka hat damit zwei Problembereiche des psychiatrischen Maßregelvollzugs in Deutschland angesprochen, die erst nach dem Erscheinen ihrer Dissertation in ihrer vollen Tragweite erkannt wurden und die in jüngster Zeit zu wesentlichen Veränderungen des psychiatrischen Maßregelvollzugs geführt haben.

II. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist das zentrale Steuerungsprinzip für die rechtsstaatliche Gestaltung der strafrechtlichen Maßregeln der Besserung und Sicherung. § 62 StGB verdeutlicht dies im Hinblick auf die an der Spezialprävention orientierte Zweckbestimmung der Maßregeln und nennt als Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung die vom Täter begangenen Taten, die Bedeutung der von ihm zu erwartenden Taten und den Grad der von ihm ausgehenden Gefahr. Nach der wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08. 10. 1985 beherrscht der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB. „Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dauert, umso strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sein.“9 6

Yuri Yamanaka (Fn. 1), S. 56 ff. Vgl. z. B. § 6 Abs. 1 Satz 1 RhPfMVollzG a.F. 8 OLG Hamm NStZ 1987, 144; Baumann, NJW 1980, 1873, 1878; Volckart, Maßregelvollzug, 4. Aufl. 1997, S. 125 f.; Baur, StV 1982, 33 ff.; 125 f.; 1983, 158 f.; einschränkend Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl. 2003, S. 167 nur nach § 34 StGB zur Gefahrenabwehr, nicht zur Behandlungsmotivation; a.A. KG R&P 1998, 109 ff. nur bei ausdrücklicher landesrechtlicher Zulassung. 9 BVerfGE 70, 297 = NStZ 1986, 185 (2 BvR 1150/80, 1504/82). 7

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Trotz dieses – in der Rechtsprechung und Literatur unstreitigen – Grundsatzes ist die Zahl der nach § 63 StGB untergebrachten Straftäter in den letzten 25 Jahren nahezu kontinuierlich angestiegen, obwohl sich die Zahl der erheblichen Straftaten, die für eine Unterbringung in Betracht kommen, seit vielen Jahren nicht erhöht hat. Sie war zuletzt im Jahr 2014 etwa 2,6-mal so hoch wie im Jahr 1990 (s. Tabelle 1) und hatte ihren bisherigen Höchststand mit 6.750 Untergebrachten im Jahr 2012 erreicht. Tabelle 1 Zahl der Untergebrachten im psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB 1990 2.593 1995 2.902 2000 4.051 2005 5.640 2010 6.569 2014 6.540

Der Anstieg der Unterbringungszahlen beruht vor allem auf dem Sexualdeliktsbekämpfungsgesetz vom 26. 01. 1998, das die prognostischen Voraussetzungen des § 67d Abs. 2 StGB für die bedingte Entlassung verschärfte. Die frühere Formulierung „wenn verantwortet werden kann zu erproben“ wurde ersetzt durch die Formulierung „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“. Außerdem wurde beim Prognosegutachten des Sachverständigen für die Strafvollstreckungskammer verlangt, dass dieser sich zu der Frage äußert, ob bei dem Untergebrachten „keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 463 Abs. 4 Satz 4 i.V.mit. § 454 Abs. 2 Satz 2 StPO). Bis heute tut sich die Praxis schwer damit, dieser Formulierung gerecht zu werden, die bei richtiger teleologischer Interpretation im Sinne der materiellen Prognoseklausel des § 67d Abs. 2 StGB ein vertretbares Restrisiko nicht ausschließt.10 Teilweise beruht der Anstieg der Untergebrachten aber auch auf der gestiegenen Zahl der Unterbringungsanordnungen gemäß § 63 StGB, die von 1990 bis 2013 um das 1,9-fache gestiegen sind. Tabelle 2 Zahl der strafgerichtlichen Unterbringungsanordnungen gemäß § 63 1990 432 1995 559 2000 758 2005 861 2010 854 2013 815 10 BVerfG NJW 1998, 2202; Schöch, Kriminalprognose, in: Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, 359 ff., 387.

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Dieser Anstieg dürfte zum Teil auf der häufigeren Hinzuziehung psychiatrischer und psychologischer Sachverständiger in den Gerichtsverfahren beruhen, die anhand der modernen Klassifikationssysteme eher psychische Störungen annehmen als früher, teilweise wohl auch auf der vermehrten Annahme verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB sowie auf der Absenkung der Verhältnismäßigkeitsschwelle durch die Gerichte im Hinblick auf das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit.

III. Obwohl in der Wissenschaft schon seit langem die strengere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Anordnung und Fortdauer des Maßregelvollzugs gefordert wurde, bedurfte es des spektakulären Einzelfalles einer unverhältnismäßig langen Unterbringung,11 um gesetzliche Reformbemühungen einzuleiten. Zur Vorbereitung der Reform setzte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz auf Bitten der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder im Februar 2014 eine interdisziplinär besetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein, deren Ergebnisse im Januar 2015 veröffentlicht wurden.12 Darauf beruht nun der seit 13. 01. 2016 vorliegende „Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB und zur Änderung anderer Vorschriften“, der voraussichtlich noch 2016 verabschiedet wird. 1. Nach dem Entwurf des § 63 StGB soll die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus künftig nur noch bei drohenden Taten angeordnet werden können, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird“. Mit dieser Neuregelung sollen die Voraussetzungen konkretisiert werden, unter denen von „erheblichen rechtswidrigen Taten“ im Sinne des § 63 StGB auszugehen ist, die vom Täter aufgrund seines Zustands zu erwarten sind. Schon bisher haben Rechtsprechung und Literatur für die Erheblichkeit der zu erwartenden Taten Bagatelldelikte ausgeschlossen und mindestens Straftaten der mittleren Kriminalität verlangt, die den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.13 11 Dazu Kaspar, Der Fall Mollath und die Folgen – zur Reform der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63; in: Dudeck/Kapsar/Lindemann (Hrsg.), Verantwortung und Zurechnung im Spiegel von Strafrecht und Psychiatrie, Baden-Baden 2014, 103 ff.; Strate, Der Fall Mollath – Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie, Zürich 2014. 12 http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/BL-AG%20Novellierung%2063 % 20StGB%20-%20Diskussionsentwurf.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 13 BVerfG Beschluss vom 24. 07. 2013 – 2 BvR 298/12 = R&P 2014, 31; BGH NJW 2013, 3383; LK-Schöch, § 63 Rn. 90 f.

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Soweit Straftaten drohen, durch die höchstpersönliche Rechtsgüter verletzt würden, wie z. B. die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die Ehre hat die Rechtsprechung schon in letzter Zeit die Erheblichkeit verneint, wenn sie im Höchstmaß mit unter fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind.14 Diese an der Verhältnismäßigkeit orientierte Auslegung soll nun gesetzlich dadurch verdeutlicht werden, dass künftig Taten zu erwarten sein müssen, durch die die Opfer körperlich oder seelisch „erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden“. Damit soll künftig auch eine einfache Körperverletzung wie eine Ohrfeige, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden ist, nicht mehr ausreichen. 15 Für den Bereich der Vermögensdelikte, bei denen die Rechtsprechung bisher teilweise schon bei Schäden von 100 – 300 E als „erhebliche Taten“ im Sinne der bisherigen Fassung des § 63 StGB angenommen hatte, sollen künftig nur noch Taten mit „schwerem wirtschaftlichem Schaden“ ausreichen. Das ist derselbe Maßstab wie bei der Sicherungsverwahrung gem. § 66 StGB, bei der als grobe Richtschnur ein Schaden von mindestens 5.000 E, also etwa das derzeitige 3-fache monatliche NettoDurchschnittseinkommen der Bevölkerung, zu Grunde gelegt wird.16 Zutreffend wird in der Begründung aber auch darauf hingewiesen, dass die Schwelle niedriger sein kann, wenn sich die Tat gegen wirtschaftlich besonders schwache Opfer richtet, oder höher, wenn sie sich gegen finanzstarke Kapitalgesellschaften oder den Staat richtet.17 Für die Anlasstat verlangt das Gesetz weiterhin keine besondere Schwere, jedoch ist allgemein anerkannt, dass sich die Gefährlichkeitsprognose bezüglich der zu erwartenden Straftaten ebenso wie die Verhältnismäßigkeitsprüfung primär an den Anlasstaten zu orientieren hat.18 Allerdings ist es denkbar und mit der Konzeption des Maßregelrechts zu vereinbaren, dass auch leichtere Straftaten ausnahmsweise die Prognose tragen, dass vom Täter infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.19 Für solche Fallkonstellationen stellt nunmehr der neue § 63 Abs. 1 Satz 2 StGB klar, dass bei einer nicht erheblichen Anlasstat des Gericht eine Unterbringung nach § 63 StGB nur anordnen darf, „wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“ Mit dieser Verschärfung der Darlegungsanforderungen trägt der Gesetzgeber dem potentiellen Legitimationsdefizit der Unterbringungsanordnung aufgrund einer 14 BVerfG R&P 2014, 31; BGH NJW 2013, 3383 (betr. Beleidigung, Nötigung oder Nachstellung gem. § 238 Abs. 1 StGB); BGH StraFo 2009, 164 (betr. Hausfriedensbruch). 15 BT-Drs. 18/7244, S. 18. 16 LK-Rissing-van Saan/Peglau, § 66 Rn. 177. 17 BT-Drs. 18/7244, S. 21. 18 LK-Schöch, § 62 Rn. 18, 20; § 63 Rn. 58, 126; S/S-Stree/Kinzig, § 63 Rn. 5. 19 BGH Urteil vom 15. 08. 2013 – 4 StR 179/13, BeckRS 2013, 15730 (betrifft sexuell motivierte Beleidigungen durch einen persönlichkeitsgestörten und sexuell devianten vermindert schuldfähigen Täter).

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nicht erheblichen Anlasstat unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit Rechnung.20 Sie macht deutlich, dass in solchen Fällen eine Unterbringung nur ausnahmsweise in Betracht kommt und dass die „besonderen Umstände“ besonders sorgfältig und ausführlich begründet werden müssen. 2. Für die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 2 StGB wird zunächst die Verschärfung der Entlassungsprognose, die seit 1998 zu einem erheblichen Anstieg der Unterbringungen geführt hat (s. o. II.), gelockert, denn das Erfordernis „erheblicher“ Straftaten verdeutlicht, dass eine Bewährungsaussetzung nicht mehr nur dann erfolgen darf, wenn keinerlei Straftaten zu erwarten sind, sondern schon dann, wenn deren Gewicht nicht die Schwelle erreicht, bei der das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit den Freiheitsanspruch überwiegt.21 Darüber hinaus regelt der neue § 67d Abs. 6 Satz 2 und 3 StGB in zwei Abstufungen, dass eine Fortdauer über 6 Jahre in der Regel nicht mehr verhältnismäßig ist, wenn Taten drohen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch „schwer“ geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren seelischen oder körperlichen Schädigung gebracht werden. Sind 10 Jahre der Unterbringung vollzogen, so gelten dieselben Voraussetzungen wie nach 10-jähriger Sicherungsverwahrung, d. h. das Gericht muss die Maßregel für erledigt erklären, „wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.“ Systematisch begründet § 67d Abs. 6 Satz 3 i.V. mit § 67d Abs. 3 StGB ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, indem nach 10 Jahren regelmäßig die Erledigung anzuordnen ist und nur ausnahmsweise für den Fall einer positiven Gefährlichkeitsprognose bezüglich schwerster Rechtsgutsverletzungen eine Fortsetzung der Vollstreckung gestattet ist.22 Anders als bei der 6-Jahres-Schranke genügt hier nicht mehr die Gefahr bezüglich der „Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung“, vielmehr muss die unmittelbare Gefahr direkt festgestellt werden.23 Damit hat sich der Gesetzgeber gegen die in der Literatur teilweise geforderte starre Obergrenze der Unterbringung entschieden, die den präventiven Zwecken der Besserung gefährlicher Täter und des Schutzes der Allgemeinheit nicht gerecht würde, da hierfür individuelle Gefährlichkeitsprognosen und Verhältnismäßigkeitsabwägungen erforderlich sind. Die Gefahr schwerer wirtschaftlicher Schäden soll also für eine Unterbringungsdauer über 6 Jahre „in der Regel“ nicht mehr ausreichen und eine Verlängerung über 20

BT-Drs. 18/7244, S. 22. BT-Drs. 18/7244, S. 31; BVerfGE 70, 297, 313; S/S-Stree/Kinzig, § 67d Rn. 4. 22 S/S-Stree/Kinzig, § 67d Rn. 17. 23 BT-Drs. 18/7244, S. 39 f. 21

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10 Jahre völlig ausschließen. Für Ausnahmen zwischen 6 und 10 Jahren verweist der Regierungsentwurf auf den vom OLG Hamburg entschiedenen Fall des Münchner Dürer-Attentäters, der im Zustand verminderter Schuldfähigkeit in der Pinakothek in München drei Hauptwerke von Albrecht Dürer, die zu unwiederbringlichem Kulturgut von unschätzbarem materiellem Wert gehören, mit hochprozentiger Schwefelsäure gezielt beschädigt hatte.24 Die Wertminderung an den Gemälden, an denen trotz der für rund 1,2 Millionen DM durchgeführten Restaurierungsarbeiten nichts mehr zu ändern war, betrug insgesamt mindestens 67 Millionen DM. Der Verurteilte war bereits damals wegen zahlreicher Anschläge auf Kunstwerke vorbestraft. Der Täter wurde erst nach 15-jähriger Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung entlassen und danach erneut in Amsterdam einschlägig straffällig. 3. Schließlich sieht der Regierungsentwurf einen Ausbau der prozessualen Sicherungen zur Vermeidung unverhältnismäßig langer Unterbringung in § 463 Abs. 4 und 6 StPO vor.25 Es soll klargestellt werden, dass es bei jeder jährlichen Überprüfung einer gutachterlichen Stellungnahme der Klinik und nicht nur eines formlosen „Arztbriefes“ bedarf. Besonderes Gewicht hat die Erhöhung der Frequenz für externe Gutachten von 5 auf 3 Jahre und für Unterbringungen ab 6 Jahren auf 2 Jahre (§ 463 Abs. 4 Satz 2 StPO). Mit diesen Regelungen macht der Gesetzgeber deutlich, dass Entscheidungen über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf einer bestmöglichen richterlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben müssen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.26 Mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs steigen dabei die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung und die Begründungstiefe einer Überprüfungsentscheidung. Befindet sich der untergebrachte seit langer Zeit im psychiatrischen Krankenhaus, ist es daher in der Regel geboten, von Zeit zu Zeit einen klinikfremden Sachverständigen heranzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Maßregelvollzugseinrichtung oder die Beziehung zwischen einem Untergebrachten und den Therapeuten das Gutachten beeinflussen.27

24 BT-Drs. 18/7244, S. 38 f.; OLG Hamburg NStZ-RR 2004, 40; dazu Kaspar, FPPK 2007, 217 ff.; ders. (o. Fn. 11), S. 108 f. 25 BT-Drs. 18/7244, S. 13, 40 ff. 26 BT-Drs. 18/7244, S. 41. 27 BT-Drs. 18/7244, S. 41; BVerfGE 70 297, 307 ff.; BVerfG NStZ 2013, 166.

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4. Insgesamt sind die Neuregelungen zu begrüßen. Sie zeigen, dass der Gesetzgeber bemüht ist, aus den teilweise negativen Erfahrungen der Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen. In Anlehnung an das Eckpunktepapier des Bundesministeriums der Justiz vom 13. 08. 2013 hätte man sich sogar eine weitere Verkürzung der oben genannten Prüfungsstufen von 6 auf 4 und von 10 auf 8 Jahre vorstellen können. Immerhin lag die durchschnittliche Behandlungsdauer bis 1998 bei ca. 4 Jahren. Dafür spricht auch die erheblich kürzere Behandlungsdauer bei psychisch kranken Straftätern in Japan, die allerdings hauptsächlich durch den Ausschluss von Straftätern mit Persönlichkeitsstörungen und Störungen der Sexualpräferenz begünstigt wird (s. o. I.). Leider fehlte dem Gesetzgeber auch der Mut, zu der bis 1998 bewährten Prognoseformulierung zurückzukehren, nach der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen war, „sobald verantwortet werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird.“ Sie hätte deutlicher gemacht, dass es sich um eine Abwägung zwischen den resozialisierungsfördernden Effekten der bedingten Entlassung in der großen Mehrzahl der Fälle und den sich nur in seltenen Fällen realisierenden Risiken vorzeitiger Rückfälligkeit handelt, bei der auch das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtgutes zu berücksichtigen ist.28 So bleibt nur zu hoffen, dass die abgestuften Gefährlichkeitsprognosen in § 67d Abs. 6 StGB in Verbindung mit dem „Erheblichkeits“-Erfordernis bei den zu erwartenden neuen Straftaten in § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB von den Strafvollstreckungskammern auch wirklich beachtet werden, denn ohne eine Änderung der gerichtlichen Praxis würden auch die obligatorischen externen Begutachtungen in kürzeren Zeitabständen (§ 463 Abs. 4 Satz 2 StPO) wirkungslos bleiben.

IV. Die eingangs erwähnte unklare Rechtslage bezüglich der medizinischen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug hat zu mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geführt, nach denen die Zwangsbehandlung der Anlasskrankheit mit Antipsychotika mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für unzulässig erklärt wurde. Die gegen den Willen eines Untergebrachten durchgeführte Behandlung mit Neuroleptika sei ein besonders schwerer Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht, der nur aufgrund einer klaren und bestimmten gesetzlichen Regelung zulässig sei.29 28

Schöch, Individualprognose und präventive Konsequenzen, in: Rössner/Jehle (Hrsg.), Kriminalität, Prävention, Kontrolle, Heidelberg 1999, 223 ff., 233. 29 BVerfG, Beschluss vom 23. 03. 2011 – 2 BvR 882/09, BVerfGE 128, 282 – 322 = NJW 2011, 2113.

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Die erste Entscheidung vom 23. 03. 2011 betraf einen Untergebrachten im rheinland-pfälzischen Maßregelvollzug, der aufgrund einer wahnhaften Störung im Zustand der Schuldunfähigkeit seine Ehefrau und seine Tochter zu töten versucht hatte und der seit 7 Jahren – mit Ausnahme einer 3-monatigen Behandlung zu Beginn der Unterbringung – jede medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika ablehnte, obwohl auch ein externer Sachverständiger dies für die einzige Möglichkeit zur erfolgversprechenden Behandlung der paranoiden Psychose mit dem Ziel einer baldigen Entlassung hielt. Gegen die von der Klinik angekündigte „Behandlung mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, beschwerte sich der Patient erfolglos beim zuständigen Landgericht und Oberlandesgericht. Erst das Bundesverfassungsgericht erklärte die Zwangsbehandlung für unzulässig, da die entsprechende Regelung in § 6 Abs. 1 RhPfMVollzG eine Behandlung ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten zur Erreichung des Vollzugsziels ohne weitere Einschränkungen zulasse. Ungeachtet der Schwere des Eingriffs, der in der Zwangsbehandlung eines Untergebrachten liege, sei es dem Gesetzgeber nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe zuzulassen und zwar auch eine Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels diene, die also darauf gerichtet sei, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen.30 Als rechtfertigender Belang komme insoweit allerdings nicht der gebotene Schutz Dritter vor den Straftaten in Betracht, die der Untergebrachte im Fall seiner Entlassung begehen könnte. Dieser Schutz könne auch dadurch gewährleistet werden, dass der Untergebrachte unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibe. Seine Weigerung, sich behandeln zu lassen, sei nicht der Sicherheit der Allgemeinheit vor schweren Straftaten, sondern seiner Entlassungsperspektive abträglich. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließe auch die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt seien.31 Zur Rechtfertigung des Eingriffs könne aber das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage sei. Eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels sei daher nur zulässig, wenn der Untergebrachte krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig sei.32 Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürften allerdings als letztes Mittel nur dann eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertige, erfolgversprechend und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden seien, die außer Verhältnis zu dem erwart-

30

BVerfG (Fn. 29), Rn. 45 ff. Vgl. dazu BVerfGE 58, 208, 226 = BVerfG NJW 1982, 691. 32 BVerfG (Fn. 29), Rn. 49 ff. 31

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baren Nutzen stünden. Zum Schutz der Grundrechte des Untergebrachten seien besondere verfahrensmäßige Sicherungen geboten.33 Die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. 10. 2011 betraf einen seit vier 4 Jahren im baden-württembergischen Maßregelvollzug Untergebrachten, der an einer multiplen Störung der Sexualpräferenz und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung litt.34 Im Juni 2009 kündigte die Maßregelvollzugsklinik dem Patienten an, dass er mit dem Neuroleptikum Abilify behandelt werden und diese Behandlung erforderlichenfalls auch gegen seinen Willen – durch Injektion unter Fesselung – durchgeführt werden solle. Auch in diesem Fall hielt das Bundesverfassungsgericht die von den zuständigen Gerichten bestätigte Anordnung für verfassungswidrig, weil die auf die §§ 8 Abs. 2 Satz 2, 12 BWUBG gestützte Zwangsbehandlung nicht auf die Fälle seiner krankheitsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit begrenzt sei, sondern zur Duldung derjenigen Untersuchungs-und Heilmaßnahmen verpflichte, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich seien, um die Krankheit zu untersuchen und zu behandeln. Dies sei mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) i.V. mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. Mit dem Hinweis auf die Verletzung des effektiven Rechtsschutzes greift das Bundesverfassungsgericht die bereits in der ersten Entscheidung angesprochenen verfahrensrechtlichen Anforderungen auf, die auch zur Sicherung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geboten seien.35 Zunächst müsse der Zwangsbehandlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig sei, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Wenn diese aufklärende Zustimmungswerbung fehlschlage, sei eine Ankündigung der Zwangsbehandlung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffne, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen. Die Ankündigung müsse in einer Weise konkretisiert sein, die die Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs sichere und eine hierauf gerichtete gerichtliche Überprüfung ermögliche. Die Konkretisierung müsse sich auch auf die geplante Dauer der Maßnahme beziehen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit sei auch die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch einen Arzt unabdingbar. Schließlich seien die ergriffenen Behandlungsmaßnahmen einschließlich ihres Zwangscharakters, die Durchsetzungsweise, die maßgeblichen Gründe und die Wirkungsüberwachung zu dokumentieren. Die dritte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. 02. 2013 betraf einen an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie erkrankten Patienten, der seit zehn Jahren im sächsischen Maßregelvollzug untergebracht war. Bei ihm hatte eine gerichtlich bestellte Betreuerin die Einwilligung zur Behandlung mit einem antipsychotischen Medikament erteilt, obwohl der Untergebrachte selbst 33

BVerfG (Fn. 29), Rn. 61 ff. BVerfG Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 BvR 633/11; BVerfGE 129, 269 – 284. 35 BVerfG (Fn. 29), Rn. 62 ff.; BVerfG (Fn. 34), Rn. 43 ff. 34

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die Behandlung ablehnte und sie nur hinnahm, um eine Durchsetzung der verordneten Medikation mit unmittelbarem Zwang zu vermeiden. Das Bundesverfassungsgericht stellte hier – wie in den vorangegangenen Entscheidungen – klar, dass eine Zwangsbehandlung auch dann vorliege, wenn der Betroffene sich, etwa weil er die Aussichtslosigkeit eines körperlichen Widerstandes erkenne, ungeachtet fortbestehender Ablehnung in die Maßnahme füge und damit die Anwendung körperlicher Gewalt entbehrlich mache.36 Da die Vorschriften des Betreuungsrechts die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung nicht ausdrücklich vorsähen, reiche die gesetzliche Vertretungsmacht, die es dem Betreuer ermögliche, in eine medizinische Behandlung des Betreuten mit rechtfertigender Wirkung einzuwilligen, nicht zugleich für die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung durch die Ärzte des psychiatrischen Maßregelvollzugs.37 Die medikamentöse Zwangsbehandlung verletze das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2. Satz 1 i.V. mit Art. 19 Abs. 4 GG), weil die §§ 21, 22 SächsPsychKG keine ausreichende Konkretisierung der materiellen und verfahrensmäßigen Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung ergeben, enthielten. In einem obiter dictum deutet das Bundesverfassungsgericht aber an, dass Zwangsbehandlungen auch zu anderen Zwecken als zur Erreichung des Vollzugsziels zulässig sein könnten und dass zu prüfen sei, ob die für Zwangsbehandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäben auch bei einer anders gerichteten Maßnahme – etwa einer Behandlungsmaßnahme zur Rettung des Untergebrachten aus akuter Lebens- oder schwerer Gesundheitsgefahr (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SächsPsychKG) – uneingeschränkt Geltung beanspruchen könnten.38 Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug gab der Bundesgerichtshof seine zivilrechtliche Rechtsprechung auf, nach der gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB a.F. eine Zwangsbehandlung aufgrund einer Einwilligung des Betreuers mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig sei.39 Deshalb wurden durch das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. 02. 2013 die materiell-rechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in § 1906 BGB eingefügt und die prozessualen Vorgaben ergänzend in den §§ 312, 321, 323, 329, 331 und 333 FamFG geregelt. Im Bereich des psychiatrischen Maßregelvollzugs gab es in der Folgezeit mehrere Entscheidungen der Oberlandesgerichte, in denen die medizinische Zwangsbehandlung nach den landesrechtlichen Regelungen für unzulässig erklärt wurde. Zum einen fehlten die Rechtsgrundlagen für eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels, zum anderen war in der Praxis des Maßregelvollzugs unklar, ob 36

BVerfG Beschluss vom 20. 02. 2013 – 2 BvR 228/12; NJW 2013, 2337, Rn. 50. BVerfG (Fn. 36), Rn. 63. 38 BVerfG (Fn. 36), Rn. 57. 39 BGH Beschluss vom 20. 06. 2012 – XII ZB 99/12; NJW 2012, 2967. 37

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und unter welchen Voraussetzungen eine Zwangsbehandlung zur Abwendung einer Lebensgefahr oder einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit der untergebrachten Person oder dritter Personen zulässig war.

V. In der Übergangszeit bis zum Erlass neuer Gesetze kam es in vielen psychiatrischen Krankenhäusern zu einem erheblichen Anstieg langfristiger Absonderungen und Dauerfixierungen bei medikamentös nicht behandelten psychotischen Patienten sowie zu Gefahren für Mitarbeiter; teilweise herrschten menschenunwürdige Zustände.40 In Hessen wurde in den 4 Jahren bis zum Erlass eines neuen Gesetzes mit begrenztem Erfolg versucht, die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Standards im Sinne einer verfassungskonformen Praxis umzusetzen, insbesondere durch Ankündigung der Zwangsbehandlung, lückenlose Dokumentation (auch der Überzeugungsversuche), Einholung eines externen Gutachtens und Information des Patienten mit Gewährung einer Widerspruchsfrist von 2 Wochen.41 Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) kritisierte die Rigorosität des Verbots der Behandlung ohne und auch gegen den Willen des Betroffenen, welche die Helfenden zwinge, ihren Patienten erfolgversprechende Hilfe vorzuenthalten und psychisch Kranke einem eigengesetzlich verlaufenden Schicksal zu überlassen.42 Wenn diese der gebotenen medikamentösen Behandlung zur Wiederherstellung ihrer sozialen Kompetenz nicht zustimmten, würden sie langfristig aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Behandlungen ohne den Willen des Patienten seien auch dann bedeutsam und hilfreich, wenn Menschen aufgrund ihrer psychischen Störung für sich oder andere gefährlich würden. Therapeuten und Pfleger seien dann gezwungen, sich mit behandelbaren und aufgrund der psychischen Störung gewalttätigen Menschen körperlich auseinanderzusetzen. Mechanische Zwangsmaßnahmen wie Isolierung und Fixierung würden „in zynischer Weise als zu bevorzugende humane Behandlung dargestellt“.

VI. Teilweise beruhten diese Schwierigkeiten darauf, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nur die spezielle Konstellation der Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels betrafen, wenn der Untergebrachte krankheitsbe40 Krimmer, Zwangsbehandlung im hessischen Maßregelvollzug, unveröffentlichter Vortrag bei der 30. Münchner Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der forensischen Psychiatrie vom 09.10. bis 11. 10. 2015 (zitiert mit Genehmigung des Referenten). 41 Krimmer (Fn. 41). 42 Vorstand der DGPPN, Der Nervenarzt 83 (2012), 259 – 262.

Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

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dingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht nicht fähig war. Das Bundesverfassungsgericht hatte selbst angedeutet, dass die von ihm postulierten materiellen Voraussetzungen und verfahrensrechtlichen Sicherungen für Zwangsbehandlungen nur „außerhalb akuter Notfälle“ – nämlich zur Erreichung des Vollzugsziels – gelten sollten.43 Allerdings dürfte auch im gefahrenrechtlichen Bereich eine medikamentöse Zwangsbehandlung nur dann zulässig sein, wenn und solange der Untergebrachte krankheitsbedingt einsichtsunfähig ist. Die grundrechtlich geschützte Freiheit des entscheidungsfähigen Patienten schließt auch die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, die auf Heilung zielenden Maßnahmen abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind.44 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Gabe von Neuroleptika im Hinblick auf die nicht auszuschließende Möglichkeit schwerer, irreversibler und u. U. sogar lebensbedrohlicher Nebenwirkungen sowie die durch sie bewirkte Veränderung seelischer Abläufe in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit betreffen.45 Daher dürfte eine medikamentöse Zwangsbehandlung nur bei psychotischen Störungen in Betracht kommen, welche eine eigenverantwortliche Entscheidung ausschließen, und sie dürften nur so lange andauern, bis die Einsichtsfähigkeit wiederhergestellt ist. Inzwischen regeln alle neuen Landesgesetze die Zulässigkeit einer Behandlung des nicht einwilligungsfähigen Untergebrachten ohne dessen Einwilligung bzw. gegen dessen natürlichen Willen nicht nur zur Herstellung der Selbstbestimmungsfähigkeit, sondern auch zur Abwendung einer Lebensgefahr oder einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für die Gesundheit des Untergebrachten. Eine Zwangsbehandlung zur Abwehr von gegenwärtigen Lebens- und erheblichen Gesundheitsgefahren für Dritte lassen einige Landesgesetze nur bei fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit des Untergebrachten zu, während andere diese auch bei einwilligungsfähigen Patienten vorsehen.46 Beispielhaft sei auf § 20 Abs. 3 BWPsychKG hingewiesen, der für die Zwangsbehandlung zur Abwendung einer Lebensgefahr oder einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für die Gesundheit der untergebrachten Person oder zur Wiederherstellung der Selbstbestimmungsfähigkeit im Hinblick auf die Erreichung des Vollzugsziels krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit in die Behandlungsbedürftigkeit der Krankheit voraussetzt, zur Abwendung einer Lebensgefahr oder einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr für die Gesundheit dritter Personen aber auf diese Voraussetzung verzichtet.

43

BVerfG (Fn. 29), Rn. 45, 49; BVerfG (Fn. 36), Rn. 57. BVerfG (Fn. 29), Rn. 48; BVerfGE 58, 208, 226. 45 BVerfG (Fn. 29), Rn. 44. 46 Beschränkt auf Einwilligungsunfähige § 10 Abs. 3 u. 4 HmbMVollzG, § 22 Abs. 3 u. 4 BremPsychKG; § 29 Abs. 2 ThürMVollzG; auch für Einwilligungsfähige § 20 Abs. 3 BWPsychKG; Art. 6 Abs. 4 Satz. 6 BayMVollzG § 6 Abs. 4 Nr. 2 RhPfMVollzG, MVollzGRhPf; vgl. dazu auch Koller, FPPK 8 (2014), 279, 283. 44

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Bisher liegen zu diesen neuen Gesetzen noch keine verfassungsgerichtlichen Entscheidungen oder Entscheidungen der Oberlandesgerichte vor. Meines Erachtens ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von pharmakologischen Zwangsbehandlungen bei einsichtsfähigen Patienten zweifelhaft. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich das verfassungsrechtliche Gebot, die Entscheidung eines einwilligungsfähigen Menschen zu respektieren, welche Leiden er auf sich nimmt und welche er behandeln lassen will. Wenn er nach Aufklärung über die Alternativen die Entscheidung trifft, auf die neuroleptische Behandlung zu verzichten und stattdessen seine Entlassungsperspektive zu verschlechtern oder – bei Gefährdung anderer Personen innerhalb der Klinik – Isolierung oder gar Fixierung hinzunehmen, so muss das respektiert werden. In aller Regel ist zu erwarten, dass ein entscheidungsfähiger Patient bei menschlich zugewandter Aufklärung und fachkundiger Motivationsarbeit letztlich vernünftige Entscheidungen trifft.

Außerhalb des Strafrechts vorgesehene Repressivmittel Andrzej J. Szwarc

I. Mit diesem Beitrag möchte ich dem Jubilar meinen Dank für unsere langjährige Freundschaft und ertragreiche Zusammenarbeit ausdrücken. Diese nahm mannigfaltige Gestalt an, vor allem gegenseitige Besuche mit Vorlesungen, die Abfassung von Veröffentlichungen auf den Gebieten des japanischen bzw. polnischen Strafrechts im jeweiligen Land des Partners und insbesondere die Veranstaltung einer inzwischen siebenteiligen japanisch-deutsch-polnischen und zuletzt auch türkischen strafrechtsvergleichenden Tagungsreihe in den Jahren 1997 – 2015 in Polen, Japan, Deutschland und der Türkei. Nicht zuletzt ging aus den Konferenzen eine in den teilnehmenden Ländern verbreitete Reihe von Bucherscheinungen hervor, an denen sich der Jubilar als Mitherausgeber wesentlich beteiligte. Für diese Zusammenarbeit möchte ich mich herzlich bei dem Jubilar bedanken und ihm auch weiterhin eine sehr fruchtvolle Tätigkeit und zahlreiche weitere Erfolge wünschen. Obwohl die Problematik des vorliegenden Beitrags speziell im Kontext des polnischen Rechts behandelt wird, nimmt man sie wohl durchaus auch in Rechtsordnungen anderer Staaten wahr. In diesem Sinne wäre es spannend festzustellen, ob und, wenn ja, inwiefern die im polnischen Recht in Erscheinung tretenden Probleme und Zweifel auch in Rechtsordnungen anderer Länder, u. a. in Japan, registriert worden sind.

II. Unter dem Begriff „Repressivmittel“ (Mittel mit repressiver Wirkung) werden solche Mittel verstanden, die von Personen, gegen die sie gerichtet sind, als ein empfindliches Übel wahrgenommen werden. In erster Reihe trifft dies natürlich auf die im Strafrecht vorgesehenen Mittel zum Vollzug der Verantwortlichmachung für Straftaten zu. Jedoch handelt es sich überdies auch im Strafrecht im weiteren Sinn um Mittel, die im Übertretungs-, Wirtschaftsstraf- und Steuerrecht bzw. in Vorschriften über das Verfahren mit minderjährigen Tätern wegen strafbarer verbotener Handlungen vorgesehen sind. Als repressiv angesehen werden demzufolge nach allgemeiner, einhelliger Ansicht die im Strafrecht typischerweise vorgesehenen Strafen, allen voran die Frei-

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heits- und die Geldstrafe, sowie die sog. Strafmittel (einst in der polnischen wie auch in Strafrechtsordnungen anderer Länder als „Nebenstrafen“ bezeichnet), wie etwa – zumindest im polnischen Strafrecht – der Verlust von einigen öffentlichen Rechten, die Verhängung des Verbots einer konkreten beruflichen bzw. wirtschaftlichen Betätigung, der Entzug der Fahrerlaubnis. Schließlich findet die repressive Funktion des Strafrechts – wenn auch nur in gewissem Maße und zusätzlich zur primären Wahrnehmung anderer Aufgaben – auch in sonstigen, nicht als Strafe oder Strafmittel bezeichneten Mitteln ihren Ausdruck, wie z. B. in der Auferlegung von gewissen Verpflichtungen oder Verboten, die regelmäßig – zumindest im polnischen Strafrecht – im Zuge einer bedingten Einstellung des Verfahrens, einer Aussetzung der Vollstreckung einer Strafe zur Bewährung oder bei der Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auferlegt werden. Die polnische Rechtsordnung nennt an dieser Stelle z. B. die Pflicht, bestimmten Milieus oder Orten fernzubleiben, die Ausweisung aus dem Wohnlokal oder das Verbot der Kontaktaufnahme mit bestimmten Personen. Natürlich ist nicht zu verkennen, dass jedes einzelne der genannten Mittel strafrechtlicher Reaktion eine unterschiedlich strenge Repressivwirkung entfaltet. Einige von ihnen erfüllen überdies auch andere, im Vergleich zur Repression bedeutsamere oder weniger bedeutende Aufgaben. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob lediglich strafrechtliche Sanktionsmittel einen repressiven Charakter haben, oder ob dieser vielleicht auch Sanktionsmitteln zukommt, die in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sind. Offensichtlich fällt die Antwort auf die letztgenannte Frage bejahend aus. Im polnischen Recht, und es liegt nahe, dies auch für Rechtsordnungen anderer Staaten anzunehmen, werden Mittel mit repressiver Natur – seien diese auch eingeschränkt oder treten sie lediglich zusammen mit anderen Wirkungen in Erscheinung – auch in sonstigen Rechtsgebieten verzeichnet, u. a. im Zivil-, Arbeits-, Disziplinar und Berufsrecht und insbesondere im Verwaltungsrecht mit seinen Teilgebieten wie dem Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dem Umwelt-, Bau-, Gewerbe-, Wertpapier-, Steuer-, Energie- und Telekommunikationsrecht, bei der Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und im Verbraucherschutz, im Straßen- und Verkehrsrecht etc.1 1

Vgl. dazu u. a.: J. Filipek, Sankcja prawna w prawie administracyjnym, „Pan´stwo i Prawo“, 1963, Nr. 12, S. 879; J. Jendros´ka, Kary administracyjne, [in:] R. Mastalski (Hrsg.), Ksie˛ ga Jubileuszowa Profesora Marka Mazurkiewicza, Wrocław 2001, S. 44; M. Kasin´ski, Ekspansja represyjnej funkcji administracji publicznej jako zagroz˙ enie demokratycznego pan´stwa prawnego, „Roczniki Nauk Prawnych“, 2011, Band XXI, Nr. 1, S. 277 ff.; A. Kaz´mierka-Patrzyczna, A. Rabiega-Przyłe˛ cka, Sankcje administracyjne na przykładzie administracyjnych kar pienie˛ z˙ nych za usuwanie bez zezwolenia lub niszczenie drzew i krzewów, S. 436; L. Klat-Wertelecka, Sankcja egzekucyjna w administracji a kara administracyjna, [in:] M. Stahl, R. Lewicka, M. Lewicki, Sankcje administracyjne. Blaski i cienie, Warszawa 2011, S. 65 ff.; I. Niz˙nik-Dobosz, Aksjologia sankcji w prawie administracyjnym, [in:] M. Stahl, R.

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Mittel mit repressivem Charakter, die in einigen anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten rechtlicher Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sind, sind vor allem verschiedene Sanktionen finanzieller, vermögensrechtlicher Natur. Auch wenn sie formell nicht als Geldstrafe bezeichnet werden, ähneln diese Strafmittel grundsätzlich der im Strafrecht vorgesehenen Geldstrafe und stellen eine ähnliche Zumutung eines Übels dar. Art. 24 § 1 des polnischen Zivilgesetzbuchs2 bestimmt beispielsweise, dass „die Person, der eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte droht (…), Schmerzensgeld oder die Zahlung einer entsprechenden Geldsumme für einen von ihr bestimmten sozialen Zweck verlangen kann“. In Art. 448 des Zivilgesetzbuches wird hingegen vorgesehen, dass das Gericht „im Falle der Verletzung eines Persönlichkeitsrechts die geschädigte Person zur Zahlung einer entsprechenden Entschädigung in Geld oder, auf ihren Antrag hin, die Zahlung einer entsprechenden Geldsumme für einen von ihr bestimmten sozialen Zweck verurteilen kann.“ Einen repressiven Charakter weisen im Zivilrecht vor allem sog. Vertragsstrafen auf. Art. 484 des Zivilgesetzbuches legt fest: „Im Falle des Nichterbringens oder des nicht wie geschuldeten Erbringens der Leistung gebührt dem Gläubiger ein Anspruch aus Vertragsstrafe in einer für diesen Fall bestimmten Höhe ohne Rücksicht auf die Höhe des verursachten Schadens. (…)“. Das polnische Arbeitsgesetzbuch sieht in Art. 108 § 2 die Geldstrafe als eines der Mittel der Ordnungshaftung des Arbeitnehmers vor. Als Beispiele aus dem polnischen Verwaltungsrecht lassen sich an dieser Stelle hingegen Bußgelder für das Abholzen von Bäumen und Büschen ohne Genehmigung nennen, wie sie im Umweltschutzgesetz vom 16. April 2004 geregelt sind.3 In anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen lassen sich durchaus weitere Sanktionen ausmachen, die auch den sonstigen Sanktionsmitteln des Strafrechts – neben der Geldstrafe – nachempfunden sind oder diesen zumindest in ihrem Wesen ähneln. Im polnischen Verwaltungsrecht etwa handelt es sich vor allem um Mittel in Form von Eingriffen in gewisse Berechtigungen bzw. die Entziehung oder das Erlöschen von Genehmigungen. Eine anschauliche Parallele bietet das in der ärzterechtlichen Verantwortung geregelte befristete (Suspension) bzw. unbefristete Berufsausübungsverbot4, welches nahezu identisch mit dem Berufsverbot als Strafmittel nach Art. 41 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches ist. Ein weiteres Beispiel liefert die Disqualifizierung eines Profisportlers im Rahmen der wettkampfrechtlichen Disziplinarverantwortung, welche sich ohne weiteres – wenn auch lediglich im Hinblick auf den Profisport Lewicka, M. Lewicki, Sankcje…, a. a. O., s. 135 ff.; M. Stahl, Sankcje administracyjne – problemy we˛ złowe, [in:] M. Stahl, R. Lewicka, M. Lewicki, Sankcje…, a. a. O., S. 17 ff. 2 Zivilgesetzbuch vom 23. April 1964, Poln. GBl. Nr. 16, Pos. 93 mit Änderungen. 3 Poln. GBl. z 2006 Nr. 129, Pos. 902 mit Änderungen. 4 Art. 42 Abs. 1 Pkt. 3 i 4 des Ärztekammergesetzes vom 17. Mai 1989 (Poln. GBl. Nr. 30, Pos. 158 mit Änderungen).

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– als ein Berufsverbot werten lässt. Hingegen entfaltet ein durch einen Veranstalter eines Fußballspiels auf der Grundlage von Art. 14 des polnischen Gesetzes über Sicherheit bei Massenveranstaltungen vom 20. März 20095 erteiltes Stadionverbot im Endeffekt dieselbe Wirkung wie ein Hausverbot bei einer Großveranstaltung als Strafmittel nach Art. 39 Pkt. 2c des polnischen Strafgesetzbuchs6, mit dem in der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Begehung von manchen Straftaten geahndet wird. Es ist dabei anzumerken, dass Sanktionsmittel, die in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sind, nicht bloß eine identische, analoge oder zumindest ähnliche Gestalt wie die strafrechtlichen Mittel annehmen, sondern regelmäßig ein genauso empfindliches oder gar empfindlicheres Übel darstellen. Beispielsweise kann das genannte Berufsverbot als Strafmittel in der ordentlichen Gerichtsbarkeit lediglich für einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren (abgesehen von Sonderfällen aus den Art. 41 § 1a und 1 b des polnischen Strafgesetzbuchs) verhängt werden. Art. 43 Abs. 1 Pkt. 4 des oben erwähnten polnischen Gesetzes über Ärztekammern verleiht dem Kollegialgericht hingegen die Möglichkeit, über ein längeres oder gar unbefristetes Berufsverbot zu entscheiden, wenn ein die Berufsethik oder die Vorschriften über die Berufsausübung verletzendes Verhalten vorliegt. Im Resultat scheidet die sanktionierte Person nach Art. 71 Abs. 1 dieses Gesetzes aus dem Mitgliedsverzeichnis des zuständigen Kreisverbandes der Ärztekammer aus, ohne ein Recht, die Wiederaufnahme beantragen zu dürfen. Ein anderes Beispiel für ein tatsächliches Berufsverbot stellt die in der sportrechtlichen Disziplinarverantwortung vorgesehene lebenslängliche Disqualifizierung als Disziplinarmaßnahme dar.

III. In Bezug auf die oben dargestellten mannigfaltigen, zumindest teilrepressiven oder mitunter repressiven Mittel der Reaktion auf verschiedenartiges menschliches Verhalten, die in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sind, stellt sich nun die folgende Frage: Sollten solche Mittel überhaupt in diesen anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei diesen anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sein oder sollten sie vielmehr dem Strafrecht vorbehalten bleiben? Grundsätzlich wird die Zulässigkeit von Mitteln mit repressiver Wirkung, insbesondere finanzieller, gegen das Vermögen gerichteter Mittel, auch außerhalb des Strafrechts, vor allem im Verwaltungsrecht, anerkannt.7 Diese Ansicht teilte auch der Polnische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 1. Juli 2014 in der 5

Poln. GBl. Nr. 62, Pos. 504 mit Änderungen. Strafgesetzbuch vom 6. Juni 1997, Poln. GBl. Nr. 88, Pos. 553 mit Änderungen. 7 Vgl. z. B. I. Niz˙nik-Dobosz, Aksjologia…, a. a. O., S. 129. 6

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Rechtssache SK 6/128, in dessen Begründung angeführt wurde, es sei „verfassungsrechtlich zulässig, dass der Gesetzgeber auch gänzlich außerhalb des Strafrechts finanzielle (Geld-)Strafen für gegen Vorschriften des öffentlichen Rechts verstoßendes Verhalten vorsieht“. Unterstrichen wird häufig – insbesondere in Bezug auf solche Strafen im Verwaltungsrecht – die enorme Bedeutsamkeit dieser Vorschriften als Maßnahme zur unentbehrlichen und notwendigen Sicherung der Durchführung von öffentlichen Aufgaben, mit denen die Verwaltung betraut worden ist.9 Oftmals wird jedoch gleichzeitig hervorgehoben, dass bei der Durchführung solcher Aufgaben in jedem Falle Vorschriften mit Vollzugswirkung der Vorzug gewährt werden sollte, wohingegen erst bei deren Scheitern auch Mittel mit repressiver Wirkung zum Einsatz kommen dürften.10 Es wird überdies vertreten, dass – zumindest im Verwaltungsrecht und der dort geregelten Verantwortung – die Rechtfertigung für die Existenz und den Einsatz solcher Mittel vor allem bei dem auf diesem Wege verfolgten Zweck, und zwar der Prävention und Restitution, liegen sollte, wohingegen die Repressivwirkung dahinter zurückzutreten habe. Unabhängig davon wecken das Bestehen und der Einsatz von Repressivmitteln außerhalb des Strafrechts gewisse Zweifel. Diese sind vor allem dem Umstand geschuldet, dass diese in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehenen Mittel, trotz ihrer repressiven Natur, nicht zwangsläufig von der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern von anderen Organen, und dazu auch nach anderen Grundlagen und in Verfahren mit – im Vergleich zum Strafprozess – spärlichen Garantien angewandt werden. Aus diesem Anlass wird regelmäßig hinterfragt, ob dieser Umstand keine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat darstelle.11

IV. Wenn demnach nicht ausgeschlossen ist, dass Repressivmittel auch in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen werden können und es auch sind, stellt sich vor diesem Hintergrund eine weitere bedeutsame Frage: Sollten auf solche in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehene Mittel nicht – zumindest teilweise – dieselben Grundsätze Anwendung finden, die gerade im Hinblick auf ihre repressive Natur für das Strafrecht und die strafrechtliche Verantwortung gelten? 8

Der Tenor dieses Urteils wurde am 14. Juli 2014 im Poln. GBl., Pos. 926 verkündet. Vgl. dazu z. B. Urteil des Verfassungsgerichtshofs RP vom 1. Juli 2014 in der Rechtssache SK 6/12 sowie u. a.: J. Filipek, Sankcja…, a. a. O., S. 879; J. Jendros´ka, Kary…, a. a. O., S. 44; A. Kaz´mierka-Patrzyczna, A. Rabiega-Przyłe˛ cka, Sankcje…, a. a. O., S. 436; I. Niz˙nikDobosz, Aksjologia…, a. a. O., S. 135 ff. 10 Vgl. dazu z. B. Michał Kasin´ski, Ekspansja…, a. a. O., S. 287 i 297. 11 Vgl. dazu z. B. Michał Kasin´ski, Ekspansja…, a. a. O., S. 287. 9

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Gefordert wird dies zumeist in Bezug auf disziplinarische Mittel und einen dortigen Rückgriff auf manche Prinzipien des Vollzugs der Strafverantwortlichkeit. Das Hauptargument dafür besteht in der Ähnlichkeit zwischen der strafrechtlichen und den sonstigen relevanten, insbesondere der disziplinären, Arten der Verantwortung. Diese Ansicht wird jedoch gelegentlich auch in Bezug auf andere Arten von Verantwortung mit repressiver Natur vertreten, darunter insbesondere in Bezug auf die Verantwortung im Verwaltungsrecht. Vor diesem Hintergrund führte der polnische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 1. Juli 2014 in der Rechtssache SK 6/12 Empfehlungen des Europarates und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an, insbesondere die Empfehlung des Ministerkomitees Nr. R (91) 1 vom 13. Februar 1991 über die Gewährleistung von Schutzgarantien für Strafmaßnahmen im Verwaltungsverfahren, insbesondere bestimmter materiellrechtlicher Garantien, darunter auch der im weiteren Verlauf dieses Referats besprochenen.12 Die vorliegende Meinung wird sowohl im polnischen rechtswissenschaftlichen Schrifttum als auch in der Rechtsprechung polnischer Gerichte vertreten, speziell in höchstrichterlichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs13 und des Verfassungsgerichtshofs14. Es empfiehlt sich daher im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung, zumindest in Grundzügen, jene Grundsätze der Strafverantwortung aufzuzeigen, bei denen überlegt wird, ob sie auch dann berücksichtigt werden sollten, wenn Repressivmittel in Vorschriften anderer Rechtsgebiete als des Strafrechts und anderer Arten von Verantwortung als der strafrechtlichen vorgesehen sind. Sofern nämlich dem verstärkten Rückgriff auf das Strafrecht und seine Repressivwirkung zu Recht kritisch begegnet wird, so erscheint es andererseits im Hinblick auf die Repressivwirkung mancher Mittel geboten oder gar notwendig, ihre Anwendung außerhalb des Strafrechts unter den Vorbehalt der Einhaltung von gewissen Verfahrensgarantien zu stellen.

12 Diese Empfehlungen wurden veröffentlicht in: T. Jasudowicz, Administracja wobec praw człowieka, Torun´ 1996, S. 129 – 132. 13 Vgl. dazu z. B.: W. Kozielewicz, Odpowiedzialnos´c´ dyscyplinarna notariuszy – problematyka matreialnoprawna i procesowa, „Rejent“, 2006, Nr. 9, S. 29 – 31; A. Herzog, Odpowiedzialnos´c´ dyscyplinarna prokuratorów – co trzeba zmienic´ ?, „Prokuratura i Prawo“, 2013, Nr. 12, S. 7; A. Herzog, Przepisy o odpowiedzialnos´ci dyscyplinarnej prokuratorów – uwagi de lege ferenda, „Prokuraura i Prawo“, 2008, Nr. 12, S. 105. 14 Vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 8. Dezember 1998 in der Rechtssache K 41/97, „Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego. Zbiór Urze˛ dowy“, 1998, Nr. 7, Pos. 117; Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 16. November 1999, SK 11/99, „Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego. Zbiór Urze˛ dowy“, 1999, Nr. 7, Pos. 158; Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 11. September 2001, SK 17/00, „Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego. Zbiór Urze˛ dowy“, 2001, Nr. 6, Pos. 165.

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V. Einen solchen Grundsatz stellt zunächst das Rückwirkungsverbot in Bezug auf die Anwendung von, in diesem Fall, strafbegründenden bzw. strafschärfenden Vorschriften dar, die im Strafrecht unter der Maxime lex retro non agit bekannt ist. Einen weiteren Grundsatz stellt das Bestimmtheitsgebot in Bezug auf die tatbestandsmäßige Handlung dar, für die eine Repressalie angedroht wird. In der strafrechtlichen Terminologie spiegelt sich dieses Grundprinzip, vor allem in Bezug auf Straftatbestände, im Satz nullum crimen sine lege stricta wieder. Dem Grundsatz zufolge sollten Taten, deren Begehung die Möglichkeit der Anwendung konkreter repressiver Mittel eröffnen, möglichst präzise in Tatbestandsmerkmalen erfasst werden. Gerade bei nichtstrafrechtlicher Verantwortung verzeichnet man jedoch regelmäßig Mängel in dieser Hinsicht, z. B. den Einsatz von vage verfassten Generalklauseln über die Möglichkeit der Anwendung eines oder mehrerer Mittel zur Sanktionierung nicht hinreichend präzisierter Verhaltensweisen, etwa von Verstößen gegen Berufsregeln oder Vorschriften über die Durchführung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, demnach für lediglich ganz generell gefasste Verhaltensweisen. Eines der zahlreichen Beispiele dafür aus dem polnischen Kommunalrecht stellt das Gesetz vom 12. Oktober 1994 über Kommunale Berufungskollegien15 dar, welches u. a. die disziplinarische Verantwortung von Mitgliedern dieser Organe regelt. Die in Art. 16a bestimmten tatbestandsmäßigen Handlungen werden mit einer solchen Generalklausel abgetan, die lautet: „Mitglieder des Kollegiums haften disziplinarisch für ihr pflichtwidriges oder gegen die Berufswürde verstoßendes Verhalten.“ Der für das Strafrecht und die Strafverantwortung geltende Grundsatz der Bestimmtheit eines Straftatbestandes, auf dessen Grundlage bestimmte Sanktionsmittel Anwendung finden, wird umso weniger verwirklicht, wenn bestimmte Vorschriften aus anderen Rechtsgebieten und über andere Arten rechtlicher Verantwortung dann einen Rückgriff auf Mittel der Reaktion, insbesondere Repression, erlauben, wenn der Täter den Tatbestand dieser sanktionierenden Vorschrift nicht durch sein eigenes Verhalten erfüllt hat. Ein kommunalrechtliches Beispiel dafür bildet das Bußgeld aus Art. 88 Abs. 1 Pkt. 2 des Umweltschutzgesetzes vom 16. April 2004. Die Verantwortung für das Entfernen eines Baumes oder Strauches ohne Genehmigung bzw. deren Vernichtung entsteht nämlich auf Seiten des Grundstücksbesitzers, ohne Rücksicht darauf, wer der eigentlich handelnde Täter gewesen ist, demnach auch dann, wenn es sich dabei nicht um den Grundbesitzer handelt. Seine Verantwortung geht in dem Fall auf die Erteilung eines Auftrags zum Entfernen oder Vernichten eines Baumes oder Strauches oder das Befürworten dieser Tätigkeiten, also auf sein Wissen und Wollen bezüglich der Tatbestandsverwirklichung, zurück.16

15

Poln. GBl. Nr. 122, Pos. 593 mit Änderungen. Vgl. dazu das bereits erwähnte Urteil des Verfassungsgerichtshofs RP vom 1. Juli 2014 in der Rechtssache SK 6/12. 16

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VI. Im Strafrecht gilt des Weiteren das Schuldprinzip, welches seinen Niederschlag in der Formulierung nullum crimen, nulla poena sine culpa („Keine Straftat, keine Strafe ohne Schuld“) findet. Vor diesem Hintergrund entsteht die Frage, ob die Schuld nicht auch in anderen Rechtsgebieten und bei anderen Arten der rechtlichen Verantwortung, in denen auf Repressivmittel zurückgegriffen wird, zu den Grundvoraussetzungen für den Vollzug der Verantwortung gehören sollte, genauso wie dies im Strafrecht der Fall ist. Sollte etwa diese Art der Verantwortung, welche die Nutzung von Repressivmitteln zulässt, nicht insbesondere eine vorsätzliche bzw. fahrlässige Begehung (stets oder in manchen Fällen) voraussetzen? Demgemäß wäre, wie dies im Strafrecht der Fall ist, die sog. objektive Verantwortung ausgeschlossen, welche gelegentlich auf andere Rechtsgebiete und andere Arten von Verantwortung als die strafrechtliche Anwendung findet und eine Sanktionierung auch in Abwesenheit der Schuld zulässt, insbesondere beim Fehlen von Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit. In anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten der Verantwortung als der strafrechtlichen, demnach auch im Verwaltungsrecht, wird in der Rechtsprechung zur Nutzung von bestimmten Mitteln der Reaktion, darunter auch der Repression, oftmals ein Verzicht auf das Verschulden als Strafbarkeitsmerkmal verzeichnet, es gilt stattdessen die sog. objektive Verantwortung. Ein Beispiel dafür bildet das genannte verwaltungsrechtliche Bußgeld aus Art. 88 Abs. 1 Pkt. 2 des Umweltschutzgesetzes vom 16. April 2004 mit seiner Verantwortung für das Vernichten eines Baumes oder Strauches bzw. deren Entfernen ohne Genehmigung. Ein weiteres Beispiel dafür liefert die sportrechtliche disziplinarische Verantwortung für den Gebrauch von Dopingmitteln, die allein aufgrund der bloßen Präsenz verbotener Stoffe im Körper eines Sportlers verhängt wird, ohne dass ihm entsprechendes Verschulden in Gestalt eines Vorsatzes oder zumindest einer Fahrlässigkeit nachgewiesen werden muss. Rechtssachen der Art werden regelmäßig in Polen wie im Ausland auf diese Weise gehandhabt, im ersteren Fall auf der Grundlage von Art. 43 Abs. 6 des Sportgesetzes vom 25. Juni 2010.17 Auch auferlegt diese Vorschrift im Sportbereich tätigen Trägern die Pflicht zur Geltendmachung einer entsprechenden disziplinarischen Verantwortung für die Verwendung von Dopingmitteln. Art. 43 Abs. 1 Pkt. 1 dieses Gesetzes bestimmt hingegen, dass unter dem Begriff Doping die „Anwesenheit eine verbotenen Substanz oder ihrer Metaboliten oder Marker in der Probe einer am Wettkampf teilnehmenden oder sich für diesen vorbereitenden Person“ verstanden werden soll. Gelegentlich wird eine auf diese Weise verstandene und außerhalb des Strafrechts angesiedelte objektive Verantwortung nicht hinterfragt. Andererseits wird vertreten, dass der Rückgriff auf Repressalien auch in der nichtstrafrechtlichen Verantwortung von einem subjektiven Verschuldenselement gekennzeichnet sein sollte und, was 17

Poln. GBl. Nr. 127, Pos. 857 mit Änderungen.

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damit einhergeht, diese Konsequenz dann ausgeschlossen werden sollte, wenn der Täter für seine Pflichtwidrigkeit nicht einzustehen braucht. Es besteht sogar die Auffassung, dass die das Schuldprinzip vernachlässigende objektive Verantwortung gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 der polnischen Verfassung verstoße. Auf diese Problematik ging der Verfassungsgerichtshof vertieft im genannten Urteil vom 1. Juli 2014 in der Rechtssache SK 6/12 ein. Ein ähnliches Problem stellt die Frage dar, ob die Möglichkeit der Anwendung von Repressalien auch in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten der rechtlichen Verantwortung als der strafrechtlichen nicht dann ausgeschlossen werden sollte, wenn (zumindest manche der) Umstände vorliegen, die regelmäßig auch eine strafrechtliche Verantwortung ausschließen (z. B. Notstand, Tatbestands- oder Verbotsirrtum).

VII. Ein weiterer strafrechtlicher Grundsatz, über dessen Anwendung auch in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten der rechtlichen Verantwortung als der strafrechtlichen nachgedacht wird, ist die Bestimmtheit der Strafe bzw. des als Konsequenz angedrohten Mittels. In der Strafrechtsterminologie spricht man auch, insbesondere im Hinblick auf Straftaten, vom Grundsatz nulla poena sine lege, also „Keine Strafe ohne Gesetz“. Dieser Grundsatz sieht vor, dass die als Strafe für eine bestimmte Tat angedrohten Mittel der rechtlichen Reaktion hinreichend genau bestimmt sein müssen. In der nichtstrafrechtlichen Verantwortung wird jedoch regelmäßig ein Defizit in Bezug auf diesen Grundsatz bemängelt, weil für alle unter dieser Art der Verantwortung erfassten Verhaltensweisen, also jede einzelne von ihnen an sich, die Möglichkeit der Anwendung jeder der für die gegebene Art der Verantwortung vorgesehenen rechtlichen Konsequenzen besteht. Einerseits scheint diese Lösung zweckdienlich im Hinblick auf die Anpassung der Schwere der rechtlichen Konsequenz an den Grad der Verfehlung, andererseits birgt eine derart unbeschränkte Auswahl die Gefahr, dass über die Auferlegung eines unverhältnismäßigen Mittels entschieden wird. Einen weiteren Grundsatz stellt nämlich das Verhältnismäßigkeitsgebot zwischen dem ausgewählten Sanktionsmittel und den Umständen dar, die bei der Bestimmung der gebotenen Schärfe der Sanktion zu berücksichtigen sind. Dieser Grundsatz wird jedenfalls dann missachtet, wenn für ein bestimmtes Fehlverhalten lediglich ein einziges Strafmittel vorgesehen ist, ohne dass alternative Mittel zulässig wären oder dem Verhängenden ein Entscheidungsermessen zukäme. Einmal mehr bietet hierfür der Art. 88 Abs. 1 Pkt. 2 des Umweltschutzgesetzes vom 16. April 2004 mit seinem Bußgeld gegen den Grundstücksbesitzer, der einzig auf diese Weise für das Vernichten eines Baumes oder Strauches bzw. deren Entfernen ohne Genehmigung einzustehen hat. Ähnlich rigide Bußgeldregelungen lassen sich auch in anderen Gesetzen finden, so z. B. im Gesetz vom 21. März 1991 über die Seegebiete der Republik Polen

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und die maritime Verwaltung18, im Gesetz vom 16. März 1995 über die Vorbeugung der Seeverschmutzung durch Schiffe19 oder im Abfallgesetz vom 14. Dezember 201220. In Bezug auf die Art von Strafe, die in Art. 88 Abs. 1 Pkt. 2 des Umweltschutzgesetzes vom 16. April 2004 für das Vernichten eines Baumes oder Strauches bzw. deren Entfernen ohne Genehmigung vorgesehen ist, befand der Verfassungsgerichtshof im bereits erwähnten Urteil vom 1. Juli 2014 in der Rechtssache SK 6/12, dass die dafür vorgesehene Geldbuße in fester Höhe ohne die Möglichkeit der Anpassung an die Umstände der Tat gegen Art. 64 Abs. 1 und 3 i.V.m. Art. 31 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen verstößt. In Bezug auf verwaltungsrechtliche Geldbußen jeglicher Art im Allgemeinen stellte dagegen der Verfassungsgerichtshof in der Urteilsbegründung fest, dass „verwaltungsrechtliche Geldbußen einen staatlichen Eingriff in Vermögensrechte eines Einzelnen darstellen, weswegen ihre Höhe stets in Abwägung mit dem Grundrecht auf Schutz von Eigentum und sonstigen Vermögensrechten gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 31 Abs. 3 der Verfassung eingeschätzt werden sollte“.

VIII. Anwendung für jedes Rechtsgebiet und jede der verschiedenen Arten der rechtlichen Verantwortung findet überdies der im Wortlaut des Art. 42 § 1 der polnischen Verfassung explizit genannte Grundsatz, dass Einschränkungen der verfassungsrechtlich verbürgten Rechte und Freiheiten allein unter Vorbehalt der Gesetzesform zulässig sind und nur dann, wenn dies für die Gewährleistung von Sicherheit oder öffentlicher Ordnung im demokratischen Rechtsstaat oder zum Schutz der natürlichen Umwelt, Gesundheit, öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig ist. Aus diesem Grundsatz folgt unstrittig, dass der Vorbehalt des Gesetzes auch für Reaktionsmittel in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht und bei anderen Arten der rechtlichen Verantwortung als der strafrechtlichen gilt, da diese per se Eingriffe in grundrechtsgeschützte Positionen bilden. Trotzdem werden gelegentlich auch in außergesetzlichen Sanktionskatalogen solche Mittel zum Einsatz vorgesehen, die zweifelsfrei Einschränkungen von verfassungsrechtlichen Rechten und Freiheiten darstellen. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Sanktionsmittel wie das Bußgeld in untergesetzlichen oder ohne gesetzliche Grundlage erlassenen Vorschriften vorgesehen worden sind, z. B. wenn eine Geldstrafe als Mittel der vereinsinternen Verantwortung in der Satzung eines Vereins festgelegt wurden. Das polnische Vereinsgesetz21 nimmt überhaupt keinen Bezug auf die Thematik der vereins18

Poln. GBl. z 2013 Pos. 934 mit Änderungen. Poln. GBl. z 2012 Pos. 1244. 20 Poln. GBl. z 2013 Pos. 21 mit Änderungen. 21 Vereinsgesetz vom 7. April 1989 (dh. Poln. GBl. 2001, Nr. 79, Pos. 855 mit Änderungen). 19

Außerhalb des Strafrechts vorgesehene Repressivmittel

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internen Verantwortung, was zwar die Möglichkeit ihrer Regelung in einer Vereinssatzung nicht ausschließt, jedoch genauso wenig eine Grundlage für die Bestimmung von Tatbeständen mit Geldstrafen liefert. Ein eigenständiges Problemfeld stellt die Frage dar, ob im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung von Repressalien die Geltung gewisser strafprozessualer Garantien nicht auch in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrechts und bei anderen Arten der rechtlichen Verantwortung als der strafrechtlichen als notwendig oder wünschenswert zu erachten ist. Repressive Sanktionen werden außerhalb von Strafrecht und Strafverantwortung offensichtlich von anderen Organen als Gerichten verhängt. Gleichzeitig wird jedoch die Forderung erhoben, dass für einige Arten von Verantwortung die Gewährleistung zumindest einem Teils der bekannten Verfahrensgarantien notwendig erscheint, gerade wegen der repressiven Natur der vorgesehenen bzw. verhängten Mittel. Unstrittig ist an dieser Stelle insbesondere die These über die Unumgänglichkeit der absoluten Rechtsbehelfsgarantie gegen den verhängenden Rechtsakt sowie das Bestehen eines Anspruchs auf Überprüfung einer solchen Entscheidung durch ein staatliches Gericht nach den Grundsätzen und auf der Grundlage des Rechts auf einen unabhängigen Richter aus Art. 45 Abs. 1 und Art. 77 Abs. 2 der polnischen Verfassung, vor allem zum Zwecke der Zulässigkeitskontrolle für Eingriffe in Bürgerrechte und -freiheiten. Eine solche Möglichkeit wird freilich in manchen Vorschriften zur Regelung nichtstrafrechtlicher Verantwortung explizit vorgesehen. Beispielsweise ist das Recht auf außerordentliche Revision vor dem Obersten Gerichtshof gegen eine rechtskräftige Entscheidung in Sachen berufsrechtlicher Verantwortung von Ärzten im Ärztekammergesetz vom 17. Mai 1989 geregelt. Hingegen sieht Art. 16d Abs. 7 des Gesetzes vom 12. Oktober 1994 über Kommunale Berufungskollegien über die disziplinarische Verantwortung von Kollegmitgliedern vor, dass „den Parteien gegen die Entscheidungen der Disziplinarkommission bei der Landesvertretung der Kommunalen Berufungskollegien eine Berufung an das örtlich zuständige Arbeits- und Sozialgericht am Appellationsgericht am Wohnort des Beschuldigten“ zusteht.

IX. Überdies lässt sich im vorliegenden Referat auch nicht über die Frage des Zusammentreffens verschiedener Arten von Verantwortung für dieselbe Tat hinwegsehen, insbesondere dann, wenn es sich dabei um eine strafrechtliche Verantwortung handelt und wenn die für dieselbe Tat einschlägigen Reaktionsmittel allesamt eine repressive Wirkung haben. Zwar gilt die mehrfache artgleiche Sanktionierung für dieselbe Tat (z. B. eine Doppelbestrafung für dieselbe Straftat) im Rahmen einer und derselben Rechtsordnung, also auch der polnischen, unstrittig als gänzlich unzulässig wegen eines Ver-

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stoßes gegen die Prinzipien der Doppelbestrafung (ne bis in idem) und der Rechtskraft (res iudicata), jedoch gilt dies nicht zwangsläufig für ein Zusammentreffen verschiedener Arten von Sanktionen im Rahmen der Verantwortung für ein und dieselbe Tat, auch wenn mehrere von ihnen repressiver Natur sein sollten. Eine solche Möglichkeit wird sogar explizit im Wortlaut einiger Vorschriften über die verschiedenen Arten von nichtstrafrechtlicher Verantwortung vorgesehen. U. a. bestimmt Art. 48 des polnischen Ärztekammergesetzes vom 17. Mai 1989, dass „ein Verfahren über die berufsrechtliche Verantwortung für eine Tat unabhängig von etwaigen Strafund Disziplinarverfahren für ebendiese geführt (…)“ wird. Im Recht der disziplinarischen Verantwortung von Mitgliedern Kommunaler Berufungskollegien sieht der erwähnte Art. 16d Abs. 7 des Gesetzes vom 12. Oktober 1994 über Kommunale Berufungskollegien vor, dass „die Verurteilung zu einer Geldstrafe in einem strafrechtlichen Verfahren bzw. einem Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten kein Hindernis zur Einleitung eines Verfahrens vor der Disziplinarischen Kommission darstellt“. Ein Zusammentreffen von Mitteln der Verantwortung verschiedener Arten für dieselbe Tat kann jedoch unter Umständen zu einer übermäßigen Repression oder unbilligen Härte führen, welche in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Sanktionsbedarf stehen. Ein solches Risiko entsteht vor allem dann, wenn für dieselbe Handlung zulässigerweise im Rahmen verschiedener Arten von Verantwortung dieselben oder zumindest ähnliche Mittel mit derselben Funktion, insbesondere als Repressalie, angewandt werden. Eine vertiefte kritische Auseinandersetzung mit dem Problem übermäßiger Repression bietet sich vor allem dann an, wenn mit solchen Sanktionsmitteln in Bürgerrechte und -freiheiten eingegriffen wird. Möglicherweise besteht nämlich Anlass zu der Annahme, dass in solchen Fällen mit dem Zusammenfallen von verschiedenen Arten von Verantwortung und damit einhergehender Repressalien ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Verbot der übermäßigen Bestrafung vorliegt und dass dieser Mangel an gebotener Verhältnismäßigkeit unvereinbar mit dem demokratischen Rechtsstaatsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne ist (Art. 31 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 der polnischen Verfassung).

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan Eine Fallanalyse Yuri Yamanaka

I. Einführung Im vorliegenden Beitrag geht es hauptsächlich um eine Fallanalyse anhand zweier Urteile (LG Kyoto und OLG Osaka) zur Schuldfähigkeit von intelligenzschwachen Personen. Das Thema „Intelligenzminderung und Schuldfähigkeit“ wurde in Japan wissenschaftlich kaum aufgearbeitet.1 Denn es gab bisher nur wenige Fälle, in denen eine Schuldfähigkeit trotz (schwerer) Intelligenzminderung bejaht wurde. Ein Grund liegt darin, dass Strafverfahren in solchen Fällen regelmäßig eingestellt werden. Es ist jedoch notwendig, sich mit diesem Thema auseinandersetzen, da nicht wenige Inhaftierte in Japan an einer diagnostizierten Intelligenzminderung leiden. Die Situation ist daher widersprüchlich: Einerseits führen schwere und schwerste Intelligenzminderungen zum Schuldausschluss, andererseits werden Täter mit aufgrund Intelligenzminderung verminderter Schuldfähigkeit häufig bestraft. Der Fall, den ich darstellen möchte, betrifft einen Gewohnheitsdiebstahl durch einen hochgradig intelligenzschwachen Täter, in dem interessanterweise zwar Anklage erhoben wurde, das LG Kyoto jedoch mangels Schuldfähigkeit freigesprochen hat. Da das Urteil auf den ersten Blick folgerichtig erschien, war ich sehr überrascht, als das OLG Osaka den Angeklagten letztlich doch bestraft und der OGH dieses Urteil bestätigt hat. Meiner Ansicht nach überzeugt die Bejahung der Schuldfähigkeit nicht. Zum besseren Verständnis möchte ich den Beitrag in zwei Teile gliedern. In der ersten Hälfte werden, als Allgemeiner Teil, folgende Themen überblicksmäßig behandelt: Die Interpretation der Schuldfähigkeit in Japan, der Begriff der Intelligenzminderung, Maßnahmen gegenüber psychisch kranken Tätern in Japan, die Statistik über Diebstahl und geistig behinderte Insassen sowie die Verschärfung der Strafe bei Gewohnheitsdiebstahl. In der zweiten Hälfte möchte ich mich, als Besonderer Teil, mit dem angesprochenen konkreten Fall auseinandersetzen, wobei ich auf die von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Kriterien zur Beurteilung der Schuldunfähigkeit bei intelligenzschwachen Personen in Japan eingehen werde. Danach wer1 Vgl. Yasuda, „Die Rechtsprechung über die Schuldfähigkeit der intelligenzgeminderten Täter“, Kanazawa-Hougaku, Band 42 Nr. 2 (2000).

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den das erst- und zweitinstanzliche Urteil näher analysiert sowie mit Anmerkungen versehen. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, inwieweit aus kriminalpolitischer Sicht eine Inhaftierung hochgradig intelligenzschwacher Personen zu befürworten ist. Da auch die Demenz eine Form von Intelligenzminderung darstellt, unter der nicht wenige ältere Menschen in Japan leiden, führt diese Thematik kein Schattendasein, sondern ist heute besonders relevant.

II. Allgemeiner Teil 1. Schuldfähigkeit in Japan § 39 jpStGB lautet, „Die von Shinshin-Soushitsu-Sha2 begangene Tat wird nicht bestraft (Abs. 1). Die Strafe für die von Shinshin-Koujaku-Sha3 begangene Tat wird gemildert (Abs. 2).“ Das japanische Strafgesetzbuch regelt nicht positiv, unter welchen Voraussetzungen die Schuldfähigkeit bejaht wird, sondern nur negativ, wann diese fehlt oder gemindert ist. Die beiden obengenannten Begriffe sind weder der Alltagsprache noch der psychologischen bzw. psychiatrischen Terminologie entnommen. Sie sind vielmehr reine Rechtsbegriffe. Da die beiden juristischen Ausdrücke keinen konkreten Inhalt aufweisen, sollte man versuchen, diesen (teleologisch) aus dem Zweck der Schuldfähigkeit abzuleiten. Die Rechtsprechung4 erklärt, dass beide Begriffe das Vorliegen einer psychischen Störung beschreiben, wobei der Unterschied im Ausmaß dieser Störung liegt. Shinshin-Soushitsu (Abs. 1) bezeichnet eine Situation, in der der Täter aufgrund einer psychischen Störung nicht die Fähigkeit besitzt, Recht und Unrecht einzusehen5 und gemäß dieser Einsicht zu handeln6. Shinshin-Koujaku (Abs. 2) bezeichnet hingegen Situationen, in denen beide Fähigkeiten noch aufrechterhalten, jedoch auffallend gemindert sind. Da es aber kaum 2 Rein wörtlich übersetzt bedeutet „Shinshin“ die Seele, „Soushitsu“ der Verlust und „Sha“ die Person. Die Bedeutung dieses Wortes bedarf zu ihrem genaueren Verständnis jedoch einer dogmatischen Interpretation. 3 „Koujaku“ ist das für diesen Paragraph erfundene Wort für „Verminderung“ oder „Verringerung“, das ebenfalls ohne dogmatische Interpretation kaum verständlich ist. 4 Urteil des alten Obersten Gerichtshofs vom 3. 12. 1931, Keishuu 10 – 682; Urteil des alten Obersten Gerichtshofs vom 21. 11. 1932, Keishuu 11 – 1644. 5 Einige Wissenschaftler kritisieren, es genüge nicht, dass der Täter die Fähigkeit habe, „Recht und Unrecht der Tat“ einzusehen, sondern fordern darüber hinaus das Verständnis der „Rechtswidrigkeit“ seines Verhaltens. Es gibt eine Entscheidung des OGH (Urteil des obersten Gerichtshofs vom 30. 7. 1954, Keishuu 8 – 7 – 1231), bei der konkret auf das Wort „Rechtswidrigkeit“ abgestellt wurde; Shimada/Baba, Großer Kommentar, 3. Aufl., Band 3 (2015) § 39 Rn. 3; Naito, Strafrecht AT, Band 2 Nr. 1 (1991) S. 791; Hayashi, „Willensfreiheit und die Vorbeugung der Norm“, in: ders. (Hrsg.), Die Grundtheorie des Strafrechts (1995) S. 28. 6 Ono et al. erklären, dass dies nicht bedeute, dass der Täter ohne Bewusstsein ist. Vielmehr sei es moralisch oder vernunftgemäß nicht angemessen, einen strafrechtlichen Vorwurf zu erheben. Ono et al., Pocket-Anmerkungssammelwerk, Strafrecht, 3. Aufl. (1980) S. 160.

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Fälle gibt, in denen dem Täter diese Fähigkeiten zur Gänze fehlen, erscheint es überzeugender, bei Abs. 1 von einer auffallenden Minderung und bei Abs. 2 von einer weniger weitgehenden Minderung zu sprechen.7 Diese Definitionen stoßen auch im Schrifttum auf Zustimmung, weil sie im Einklang mit dem Schuldprinzip stehen. Shinshin-Soushitsu (Abs. 1) beschreibe einen psychischen Zustand, der ganz und gar von jenem eines normalen Menschen abweiche und für einen solchen nicht verständlich sei;8 der Täter begehe einstweilig oder dauerhaft abnormale Handlungen, die mit seiner ursprünglichen bzw. echten Persönlichkeit nicht in Zusammenhang stehen. Shinshin-Koujaku (Abs. 2) bedeute hingegen, dass der Täter eine Handlung begeht, die immer noch mit seiner ursprünglichen Persönlichkeit in Zusammenhang steht, aber doch die Grenze der Normalität überschreitet.9 Im Zustand von Shinshin-Koujaku (Abs. 2) sei zwar das Ausmaß der Abnormität geringer als bei Shinshin-Soushitsu (Abs. 1), dennoch erscheine die Verhängung der üblichen Strafe auch nach Abs. 2 unangemessen.10 Die Beurteilung, ob die psychische Situation des Angeklagten Shinshin-Soushitsu (Abs. 1) oder Shinshin-Koujaku (Abs. 2) entspricht, liegt hauptsächlich im Ermessen des Gerichts.11 Die Schuldunfähigkeit sowie die verminderte Schuldfähigkeit bestehen aus zwei Elementen, nämlich 1. dem biologischen Element (psychische Störung) und 2. dem psychologischen Element (fehlende Fähigkeit, Recht und Unrecht einzusehen und gemäß dieser Einsicht zu handeln). Die Schuldfähigkeit wird „zweistufig“ anhand dieser beiden Komponenten festgestellt. Über das erste Element, also das Vorliegen bzw. Ausmaß einer psychischen Störung, wird anhand des Gutachtens eines Psychiaters entschieden.12 Anders als in Deutschland wird der Inhalt der psychischen Störung in Japan nicht konkretisiert, sondern bloß die psychische Abnormität festgestellt. Ob diese wie bei psychischer Krankheit oder geistiger Behinderung dauerhaft oder wie bei Trunkenheit oder Hypnose nur vorübergehend ist, wird nicht unterschieden.13 Aus dem Urteil ergibt sich deshalb auch nicht, ob die Abnormität auf eine krankhafte Ursache zurückgeht14, ihr Inhalt wird eben nicht festgestellt. Das Vorliegen der Schuldfähigkeit wird daran orientiert, ob ein strafrechtlicher Vorwurf gegen den Täter ausgeschlossen oder noch möglich ist.15 Denn letztlich ist es eine normative Wertung, ob es nach dem Zweck des Strafgesetzes möglich ist, dem Täter einen Vorwurf zu machen.16 Die Grenzen von Schuldfähigkeit, vermin7

Ono et al. (Fn. 6) S. 159. Ono et al. (Fn. 6) a.a.O. 9 Shimada/Baba (Fn. 5) § 39 Rn. 10. 10 Ono et al. (Fn. 6) a.a.O. 11 Urteil des obersten Gerichtshofs vom 3. 7. 1984, Keishuu 38 – 8 – 2783. 12 Urteil des obersten Gerichtshofs vom 13. 9. 1983, Hanreijihou 1100 – 156. 13 Maeda et al., Kommentar Strafrecht, 3. Aufl. (2013) S. 152. 14 Maeda et al. (Fn. 13) a.a.O. 15 Maeda et al. (Fn. 13) a.a.O. 16 Maeda et al. (Fn. 13) S. 152 f. 8

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derter Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit lassen sich kaum allgemein und abstrakt ziehen; sie sollten deshalb anhand einzelner Fälle aus der Rechtsprechung induktiv ermittelt werden.17 2. Intelligenzminderung Die Intelligenzminderung ist eine Intelligenzaufbaustörung, die sich im Kindesalter als geistige Entwicklungsstörung und dann im Schulalter als Lernbehinderung zeigt, darüber hinaus im Erwachsenenalter aber dadurch bestimmt wird, dass die für ein eigenständiges Leben erforderliche geistige Reife auf Dauer unerreicht bleibt und die vorhandenen Defizite im Lauf der Entwicklung trotz Zuwendung und Förderung nur unzureichend kompensiert werden können.18 Laut ICD-10 (= International Statistical Classification of Deseases and Health Related Problems) ist Intelligenzminderung (laut DSM-IV19 „mental retardation“) eine psychische Entwicklungsstörung, die im Entwicklungsstadium die Herausbildung der kognitiven, verbalen, motorischen und sozialen Fähigkeiten beeinträchtigt. Die Intelligenzminderung bezeichnet damit eine angeborene oder auf das frühere Kindesalter zurückgehende abnorme Verzögerung der Entwicklung der Intelligenz.20 Sie kann durch genetische Ursachen oder körperliche Krankheiten ausgelöst werden.21 Das Ausmaß der Intelligenzminderung wird anhand des Intelligenzquotienten (sog. IQ) vierstufig kategorisiert. Bei einem IQ von 50 bis 69 liegt eine leichtere (ICD-10) oder leichte (DSM-IV), bei einem IQ von 35 bis 49 eine mittelgradige (ICD-10) oder mittelschwere (DSM-IV), bei einem IQ von 20 bis 34 eine schwere (ICD-10, DSM-IV) und bei einem IQ von unter 20 bis 25 eine schwerste (ICD-10, DSM-IV) Intelligenzstörung vor. Die Beeinträchtigung wird allerdings nicht allein nach dem IQ, sondern auch anhand der adaptiven Fähigkeiten beurteilt.22 Wenn jemand trotz seines niedrigen IQ einen Führerschein besitzt und selbstständig Auto fährt, ist er nicht als geistig behindert einzustufen.23 17

Shimada/Baba (Fn. 5) § 39 Rn. 10; Maeda et al. (Fn. 13) S. 153 f. So Lammel, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2 (2010) S. 377. 19 DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Deseases. Die Neufassung (DSMV) trägt dem Entwicklungsaspekt stärker Rechnung. Die Intelligenzminderung wird im Kapitel „Neurodevelopmental Disorders“ aufgeführt und nunmehr als „intellectual disability“ bzw. „intellectual development disorder“ bezeichnet; Seifert, in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/ Habermeyer (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 6. Aufl. (2015) S. 273. Im Folgenden wird auf die übliche Einteilung nach DSM-IV Bezug genommen. 20 Naito (Fn. 5) S. 820. 21 Ohshima, in: Kawabata et al. (Hrsg.), Kommentar zur Judikatur, Strafrecht, Band 1 (2006) S. 377. 22 Naito (Fn. 5) a.a.O. 23 Fukushima, Psychiatrisches Gutachten (1985) S. 235. 18

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Laut Hasegawa24 besteht in Japan ein gewisser Zusammenhang zwischen deliktischem Verhalten und Intelligenzminderung: Es sei belegt, dass betroffene Personen tendenziell besonders häufig leichte Brandstiftungen, Sexualdelikte oder leichte Vermögensdelikte wie Diebstahl und Betrug (vor allem Zechprellerei) begehen.25 Sie neigen bei fehlender sozialer Unterstützung und Schwierigkeiten in der Lebensführung zu erneuter Delinquenz und werden bei wiederholter Verurteilung als „Gewohnheitsdiebstahlstäter“ eingestuft. Nach Hasegawa gibt es viele Intelligenzschwache, die fast ihr ganzes Leben im Gefängnis verbringen und dort während ihrer Inhaftierung (soweit ein Psychiater verfügbar ist) psychiatrisch behandelt werden. 3. Maßnahmen gegenüber psychisch kranken Tätern in Japan Die Intelligenzminderung ist selbstverständlich in Japan als psychische Krankheit26 anerkannt. Wenn eine Straftat von solchen Personen begangen wird, stellt sich die Frage nach der Beurteilung ihrer Schuldfähigkeit. Wie schon erwähnt, setzt eine Bestrafung in Japan wie in Deutschland die Schuld des Täters voraus. Während bei Tätern, die wegen ihrer psychischen Krankheit schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind, sodass gegen sie keine Strafe verhängt werden kann, in Deutschland eine Maßregel angeordnet wird, existiert in Japan dieses zweispurige Rechtssystem bzw. das Maßregelsystem nicht. Dort wird ein eigener Weg ohne Einbeziehung der Justiz gegangen. Das „Gesetz über die Beobachtung, medizinische Versorgung und Behandlung von Individuen mit krankhafter seelischer Störung bzw. von Individuen mit quasi-krankhafter seelischer Störung, die eine erhebliche Straftat begangen haben“ (abgekürzt: Medizinisches Behandlungsgesetz) trat am 15. 7. 2005 in Kraft. Ziel des Gesetzes ist es, dass schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Personen, die eine erhebliche Straftat gegen andere begangen haben, durch kontinuierliche angemessene forensisch-psychiatrische Behandlung sowie durch die Betreuung seitens eines Bewährungshelfers ihren Krankheitszustand verbessern können (§ 1 Medizinisches Behandlungsgesetz). Daneben sollen ähnliche krankhaft bedingte Taten verhütet und es soll die Resozialisierung gefördert werden (§ 1 Medizinisches Behandlungsgesetz). Der Gesetzgeber wollte ausschließlich für sog. gefährliche psychisch Kranke, die Delikte nach § 2 Abs. 2 Medizini24 Hasegawa, in: Matsushita (Hrsg.), Forensische Psychiatrie, Band 2, Strafrechtsfall und psychiatrisches Gutachten (2006) S. 191 f. 25 In Deutschland sind die häufigsten Straftaten von geistig Behinderten Sexualdelikte, wobei pädophile Handlungen, Exhibitionismus und sexuelle Nötigung besonders oft vorkommen. Zu weiteren Delikten wie Brandstiftung oder Aggressionstaten siehe näher Nedopil/ Müller, Forensische Psychiatrie, Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht, 4. Aufl. (2012) S. 259. Auch in Deutschland überwiegen eher kleinkriminelle Handlungen wie Diebstahl, Einbruch, Sachbeschädigung oder leichte Körperverletzungen; Seifert (Fn. 19) S. 278. 26 Genauer gesagt ist sie keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung; Seifert (Fn. 19) S. 276.

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sches Behandlungsgesetz begangen haben, einen neuen Weg öffnen, damit der Allgemeinheit noch mehr Sicherheit garantiert wird. Für sonstige psychisch Kranke, die z. B. leichte Vergehen wie Ladendiebstahl usw. begehen, bleibt die Regelung nach dem alten System der Wohlfahrtspflege27 unverändert. Gewohnheitsdiebstahlstäter werden von dem neuen Gesetz eindeutig nicht erfasst. Nach der Einstellung des Strafverfahrens, einem Freispruch usw. (§ 2 Abs. 2 Medizinisches Behandlungsgesetz) wird im Landesgericht ein Kollegium aus einem Richter und einem Psychiater gebildet (§ 11 Medizinisches Behandlungsgesetz). Diese beurteilen zusammen die Notwendigkeit stationärer bzw. ambulanter Maßnahmen (§ 42 Medizinisches Behandlungsgesetz). Demjenigen, der in einer medizinischen Einrichtung (forensischen Psychiatrie) untergebracht ist, wird eine spezielle Behandlung angeboten. Zudem bereitet ein Bewährungshelfer die künftige Alltagsumgebung nach der Entlassung des Patienten vor. Wird der Täter nur ambulant behandelt oder entlassen, bleibt er in der Regel für drei Jahre in der medizinischen Einrichtung in Behandlung. Ihm wird gleichzeitig ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt. Menschen mit Intelligenzminderung, die wiederholt wegen Diebstahls straffällig werden, sind leider vor allem aus zwei Gründen von dieser speziellen Behandlung ausgeschlossen: 1. Das neue Gesetz erfasst nur Personen, die in schuldunfähigem oder vermindert schuldfähigem Zustand eine erhebliche rechtswidrige Tat gegen andere begangen haben. Wie bereits erwähnt, fällt Diebstahl nicht darunter. 2. Menschen, die eine der dort geregelten gravierenden Straftaten begehen, werden vom Medizinischen Behandlungsgesetz zwar erfasst; dies gilt allerdings nur, wenn die jeweilige psychische Krankheit heil- bzw. behandelbar ist. Bei einer Intelligenzminderung ist dies indes nicht der Fall. Im Ergebnis wird das Gesetz nur auf diejenigen angewandt, für denen Resozialisierung nur vorübergehende Hindernisse bestehen (keine Wohnung vorhanden, noch kein Verständnis der Familie usw.). Mit anderen Worten werden in Japan die meisten Straftäter mit Intelligenzminderung als Schuldfähige bzw. vermindert Schuldfähige in Strafvollzugsanstalten aufgenommen.28 Statt einer entsprechenden psychischen Behandlung werden hauptsächlich Strafen verhängt.29 27

Zur Rechtslage vor dem Medizinischen Behandlungsgesetz siehe Yamanaka Y., Maßnahmen gegenüber psychisch kranken Straftätern – Ein Vergleich zwischen Deutschland und Japan (2008) S. 4 ff; dies., Das Gesetz zur Medizinischen Beobachtung – eine neue Maßnahme gegenüber psychisch kranken Tätern in Japan, in: Jehle/Lipp/Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht (2008) S. 238 ff. 28 In Deutschland werden straffällige Personen mit Intelligenzminderung als „schwachsinnige“ Täter im Falle einer Verurteilung meist in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht; Nedopil/Müller (Fn. 25) S. 259. Intelligenzminderung begründe aber selten für sich allein über das Merkmal des Schwachsinns eine Einweisungsdiagnose und der Begriff der Intelligenzminderung werde nicht konsensuell valide und reliabel gebraucht; Seifert (Fn. 19) S. 435. In Deutschland stellt sich jedoch z. B. wegen der überproportional langen Verweildauer die Frage, ob die forensische Psychiatrie den passenden Ort für die Behandlung darstellt. Ferner berichtete Steinböck, dass der Anteil geistig behinderter Forensikpatienten im Maßregelvollzug des Krankenhauses München-Haar schon immer recht niedrig gewesen und

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4. Statistik über Diebstahl und geistig behinderte Insassen Laut der Statistik des Justizministeriums ist der Diebstahl die am häufigsten begangene Straftat in Japan. Im Jahr 2013 betrug die Anzahl der angezeigten Diebstähle 981.233, 2014 betrug sie 897.25930. Davon konnten 2013 254.822 Fälle und 2014 235.519 Fälle geklärt werden.31 In der japanischen Kriminalstatistik (White Paper on Crime) 2014 wurde das Ergebnis einer Sonderuntersuchung im Hinblick auf Diebstahlstäter und deren Rückfallquote dargestellt. Aus dieser das Jahr 2013 betreffenden Untersuchung ging hervor, dass 35.279 Personen wegen Diebstahls angeklagt wurden.32 Insgesamt wurden 49,9 % der wegen einer Straftat angeklagten Männer wegen Diebstahls angeklagt, bei den Frauen waren es 36,9 %.33 Ein großer Anteil der Insassen in japanischen Gefängnissen hat daher Diebstahl begangen (32,3 % der Männer und 41,9 % der Frauen).34 74,3 % der männlichen sowie 87,7 % der weiblichen Insassen, die wegen Diebstahls verurteilt wurden, waren auch schon früher wegen Diebstahls inhaftiert.35 Es fällt auf, dass die Anzahl der wegen Diebstahls inhaftierten weiblichen Personen im Alter von über 65 Jahren in den letzten Jahrzehnten regelmäßig zugenommen und sich von 1994 bis 2013 nahezu vervierfacht hat.36 Noch drastischer erhöht hat sich die Anzahl der weiblichen Angeklagten über 65 Jahre; 2013 waren es 44 Mal so viel wie 1994.37 Insgesamt ist der Anteil der weiblichen Personen über 65 sowohl bei den Inhaftierten als auch bei den Angeklagten am höchsten. Über die Hälfte der

auch in den letzten Jahren niedrig geblieben sei; Seifert (Fn. 19) S. 435 f. Zu den Behandlungsmaßnahmen im Maßregelvollzug und den diesbezüglichen Probleme vgl. Seifert (Fn. 19) S. 283 ff. 29 Dieser Punkt wird von vielen Wissenschaftlern kritisiert, weil das neue Gesetz ursprünglich vorsah, straffällig gewordene psychisch kranke Menschen intensiv von spezialisierten Fachleuten betreuen zu lassen. Nun werden aber fast ausschließlich schizophrene Straftäter betreut, deren Chancen auf Heilung und Resozialisierung relativ groß sind. Der Grund liegt darin, dass sich viele Mitarbeiter der Psychiatrie weigerten, schwer behandelbare Patienten wie Persönlichkeitsgestörte, Drogensüchtige, Intelligenzschwache usw. zu betreuen, und sich lieber den „unkomplizierten“ Patienten widmen wollten. 30 Vgl. für das Jahr 2013 White Paper on Crime 2014, S. 209; für 2014 vgl. White Paper on Crime 2015, Tabelle 1 – 1 – 1 – 2. 31 White Paper on Crime 2014 und 2015 a.a.O. 32 White Paper on Crime 2014, Tabelle 6 – 2 – 3 – 2. 33 White Paper on Crime 2014, a.a.O. 34 Die zweit häufigste von Insassen begangene Straftat sind Verstöße gegen das Metamphetamin-Kontrolle Gesetz. 25,1 % der männlichen und 38,3 % der weiblichen Insassen wurden deshalb inhaftiert. Vgl. White Paper on Crime 2014, Tabelle 2 – 4 – 1 – 6. 35 White Paper on Crime 2014, Tabelle 6 – 2 – 5 – 8. 36 White Paper on Crime 2014, S. 252. 37 White Paper on Crime 2014, a.a.O.

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wegen Diebstahls verurteilten weiblichen Insassen38 ist über 50 Jahre alt (genauer: 54,3 % der Ersttäter und 65,8 % der Gewohnheitstäter). Auch bei psychisch kranken Tätern ist Diebstahl die am häufigsten begangene Straftat.39 Ca. 40 % der verhafteten psychisch kranken Täter (d. h. 1.476 von 3.701 im Jahr 2013 und 1.504 von 3.834 im Jahr 2014) wurde Diebstahl angelastet.40 Die Forschungsabteilung des Justizministeriums führte von 2012 bis 2013 eine Untersuchung über geistig behinderte Insassen41 durch,42 indem Fragebögen an verschiedene Anstalten gesendet und von den dortigen Mitarbeitern ausgefüllt wurden. Zunächst wurden in 77 Gefängnissen Umfragen bezüglich der gegenüber solchen Insassen getroffenen Maßnahmen durchgeführt. Am 31. 12. 2012 gab es insgesamt 1.274 geistig behinderte Insassen (wobei die geistige Behinderung in 774 Fällen festgestellt, in 500 lediglich vermutet wurde). Dies entspricht rund 2,4 % aller Inhaftierten. Danach wurden 548 Insassen untersucht, die zwischen 1.1. und 30. 9. 2012 in Gefängnissen untergebracht waren und bei denen eine geistige Behinderung festgestellt (296 Personen, 54,0 %) oder vermutet (252 Personen, 46,0 %) wurde. Die Untersuchung ergab, dass diese Personen durchschnittlich bereits 3,8 Mal inhaftiert worden waren. Der Durchschnitt aller Insassen belief sich hingegen auf 3,0 Mal. Die Rückfalldauer betrug im Mittel ca. zwei Jahre und drei Monate. 52,2 % der Betroffenen wurden bereits binnen eines Jahres rückfällig. Bei diesen Kurzzeit-Rückfälligen konnten folgende Tatsachen festgestellt werden: 1. Es handelte sich dabei entweder um jugendliche oder ältere Personen. 2. Die begangene Straftat war entweder Diebstahl oder Körperverletzung. 3. Die Rückfallstäter hatten ihre letzte Strafe zur Gänze verbüßt. Geistig behinderte Täter können in Japan nur inhaftiert werden, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt und zumindest eine verminderte Schuldfähigkeit besteht. Ob sie im Gefängnis behandelt werden, ist zweifelhaft, denn die ärztliche Betreuung in japanischen Gefängnissen ist seit über 10 Jahren unzureichend. Während die Anzahl der Ärzte nach offiziellen Angaben 327 beträgt, war die tatsächliche Belegung in den vergangenen sechs Jahren deutlich geringer (301 im Jahr 2010; 296 im Jahr 2011; 276 im Jahr 2012; 260 im Jahr 2013; 252 im Jahr 2014 und 257 im Jahr

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White Paper on Crime 2014, Tabelle 6 – 2 – 5 – 3. 2014 waren 1,4 % aller Gefängnisinsassen psychisch krank, 2015 1,5 %. Insbesondere bei Tötungsdelikten (19,5 % im Jahr 2013; 12,8 % im Jahr 2014) und Brandstiftung (15,1 % im Jahr 2013; 17,4 % im Jahr 2014) ist der Prozentsatz relativ hoch. Vgl. White Paper on Crime 2014, S. 188 und Tabelle 4 – 6 – 1 – 1; White Paper on Crime 2015, S. 191 und Tabelle 4 – 6 – 1 – 1. 40 White Paper on Crime 2014, Tabelle 4 – 6 – 1 – 1; White Paper on Crime 2015, Tabelle 4 – 6 – 1 – 1. 41 Erfasst werden sowohl Personen mit festgestellter als auch mit vermuteter geistiger Behinderung. 42 Okada, Der Sachverhalt und die Maßnahme der geistig behinderten Gefangenen, Keisei 126 – 9, S. 12 ff. 39

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan 729

2015).43 Ferner gibt es in Japan nur vier Medizinzentren für Gefangene mit insgesamt 1.38644 verfügbaren Plätzen. Die Medizinanstalten in Hachioji und Osaka sind sowohl für physisch als auch psychisch kranke Insassen eingerichtet, jene in Okazaki und Kitakyushu nur für psychisch Kranke. In Okazaki (269 Plätze) befinden sich hauptsächlich Inhaftierte, die an einer Intelligenzminderung leiden und wegen ihrer psychischen Beeinträchtigungen nicht in einer normalen Justizanstalt untergebracht werden können. Es bleibt jedoch zu bezweifeln, dass diesen Personen während ihrer Inhaftierung eine angemessene, mit Standards in normalen Krankenhäusern vergleichbare, medizinische Behandlung zu Teil wird. 5. Strafverschärfung gegenüber Gewohnheitsdiebstahltätern Im Jahr 1930 wurde das „Gesetz für Vorbeugung und Maßnahmen gegenüber Diebstahlstätern“ (abgekürzt Diebstahlsvorbeugungsgesetz)45 eingeführt. Dieses regelt, dass derjenige, der 1. als Gewohnheitstäter einen vollendeten oder versuchten Diebstahl begangen hat und 2. innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als dreimal zu einer Zuchthausstrafe (über 6 Monaten) verurteilt wurde, auch wenn diese zur Bewährung ausgesetzt wurde (§ 3 Diebstahlvorbeugungsgesetz), strenger zu bestrafen ist.46 Dieses Gesetz wurde als kriminalpolitische Maßnahme zur Eindämmung der vermehrt auftretenden Diebstähle geschaffen. Problematisch erscheint, dass diese Regelung unter Umständen auch für geistig Behinderte oder ältere Menschen, die unter Demenz leiden, gilt, solange diese voll bzw. vermindert schuldfähig sind.

III. Besonderer Teil 1. Einleitung Die folgende Falldarstellung betrifft einen Gewohnheitsdiebstahl, der von einem Schwerintelligenzbeeinträchtigten gemäß ICD-10 begangen wurde. Diesbezüglich gibt es bisher in Japan nur wenige Fälle, weil unter diesen Voraussetzungen norma43 Resümee „Die Aufgabe und Aussicht der Justizanstalt“, verteilt am 25. 5. 2015 bei der Besichtigung des Kakogawa Gefängnisses; Resümee „Die Aufgabe und Aussicht der Justizanstalt“, verteilt am 18. 12. 2015 bei der Besichtigung des Harima Resozialisierungszentrums (PFI Gefängnis). 44 Diese Zahl beinhaltet sowohl die kranken Gefangenen als auch die Gefangenen, die als Pfleger den kranken Gefangenen helfen. Die tatsächlichen Plätze allein für die kranken Gefangenen sind deswegen noch weniger. Z. B. gab es in der Kitakyushu Medizinanstalt am 1. 12. 2015 116 psychisch kranke Gefangene (84 Männer, 32 Frauen), wobei dort die Anzahl der gesamten Inhaftierten durchschnittlich bei 220 lag; diese Information wurde bei der Besichtigung am 11. 12. 2015 mitgeteilt. 45 Gesetz Nummer 9 (1930). 46 Gemäß § 2 ist der oben genannte Gewohnheitsdiebstahltäter mit drei Jahren Freiheitsstrafe zu bestrafen.

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lerweise eine Einstellung des Strafverfahrens mangels Schuldfähigkeit erfolgt. Im Folgenden werden auch die Beurteilungskriterien und Tendenzen der bisherigen Judikatur näher analysiert. Dabei wird insbesondere auf die Komponenten der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingegangen. Diese spielen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit als zweites psychologisches Element eine große Rolle. Schließlich werden damit zusammenhängende Probleme in der japanischen Justizpraxis dargestellt und um Anmerkungen ergänzt. 2. Falldarstellung 1. Instanz: Laut Urteil des LG Kyoto47 beging der Angeklagte am 27. 9. 2012 zwischen 15:00 und 15:45 bei einer Autoausstellung einen Autodiebstahl. Tatobjekt war das im Vermögen des Geschäftsführers B stehende Auto mit einem Verkaufspreis von 298.000 Yen. Fraglich war in diesem Fall die Schuldfähigkeit des Angeklagten, genauer, ob dieser unter einer schweren Intelligenzminderung litt, und, wenn ja, welchen Einfluss diese auf die Tat hatte. Das LG Kyoto sprach den Angeklagten frei, weil es ihm wegen seiner Krankheit nicht möglich gewesen sei, dem Verlangen zu widerstehen. Bei der Tatbegehung habe er zwar gewusst, dass der Autodiebstahl eine Missetat sei. Diese Erkenntnis sei jedoch sehr oberflächlich und formell gewesen. Er habe dabei nicht verstanden, warum seine Tat unanständig bzw. nicht erlaubt sei. Da sein Verlangen nach dem Auto so stark war, sei es ihm unmöglich gewesen, sich zu rechtmäßigem Verhalten zu motivieren. Dies könne auf seine schwere Beeinträchtigung zurückgeführt werden. Selbst wenn er verstanden habe, warum dieser Autodiebstahl unanständig war, blieb dieses Verständnis sehr oberflächlich und formell. Er habe kaum nachvollziehen können, dass der Autodiebstahl sozial unerlaubt, noch weniger, dass er rechtswidrig war. Deshalb war es ihm kaum möglich, angesichts der Regelung eine Gegenmotivation aufzubauen. Ihm habe daher die notwendige Einsichtsfähigkeit gefehlt, deshalb sei er schuldunfähig gewesen. Berufungsinstanz und Revision: Die Berufung des Staatsanwaltschaft48 hatte Erfolg. Der Angeklagte wurde mit folgender Begründung zu zwei Jahren Zuchthausstrafe verurteilt: Bei der Tatbegehung war die Fähigkeit des Angeklagten, das Recht bzw. das Unrecht einzusehen und nach dieser Einsicht seine Handlung zu steuern, wegen der geistigen Behinderung49 stark vermindert. Sie war jedoch nicht ganz ausgeschlossen. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass der Angeklagte nicht schuldunfähig, sondern vermindert schuldfähig gewesen sei. Die Revision50 des Angeklagten blieb erfolglos.

47

Urteil des LG Kyoto vom 30. 8. 2013, Hanrei Jihou Nr. 2204, S. 142. Urteil des OLG Osaka vom 12. 8. 2014, LEX/DB Nr. 25505532. 49 Gemäß DSM-IV: „mental retardation“. Man kann auch das Fachwort „Psychische Entwicklungsverzögerung“ benutzen. 50 Entscheidung vom 3. 3. 2015, LEX/DB Nr. 25506282. 48

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3. Bisherige Rechtsprechung Das folgende Urteil51 ist eines der wenigen, in denen bei einem Diebstahl die Schuldunfähigkeit eines geistig Beeinträchtigten bejaht wurde.52 Der Angeklagte stahl einen Geldbeutel, in dem sich ca. 2.100 Yen befanden, sowie ein Rohr aus Bambus, in dem das Opfer 600 Yen aufbewahrte. Wegen einer organischen Großhirnbeeinträchtigung infolge einer Kindheitsverletzung litt der Angeklagte an einer geistigen Behinderung. Sowohl sein Intelligenzquotient als auch seine moralische Entscheidungsfähigkeit entsprachen in etwa der eines sechsjährigen Kindes. Er habe zwar gewusst, dass Diebstahl unanständig sei, jedoch habe dieses Wissen sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht nicht dem eines geistig gesunden Erwachsenen entsprochen. Er habe seine Fassung verloren und den Diebstahl gewohnheitsgemäß ohne zu zögern begangen. Auch ein Empfinden von Reue sei ihm nicht möglich gewesen. Da von ihm rechtmäßiges Verhalten nicht erwartet werden konnte, wurde er als schuldunfähig eingestuft. Im Schrifttum fand dieses Urteil einerseits Zuspruch, da der Angeklagte die soziale Bedeutung des Diebstahls nicht verstehen konnte.53 Andererseits wurde kritisiert, dass der Intelligenzquotient eines Menschen nicht mit dessen kriminellen Fähigkeiten gleichgesetzt werden könne. Da es bei der Begutachtung um die Frage ging, welchem Kindesalter die moralische Urteilsfähigkeit des Angeklagten entspreche, könnten unterschiedliche Gutachter diesbezüglich zu abweichenden Ergebnissen gelangen. Es überzeuge nicht, einen Angeklagten, der bereits dreimal vorbestraft ist, seine vierte Straftat nicht zum Vorwurf zu machen.54 4. Schuldfähigkeit intelligenzschwacher Menschen Laut Nedopil/Müller gibt es nach Sprecht folgende Orientierungsrahmen:55 1. Bei schweren und schwersten geistigen Behinderungen fehlt dem Täter die Einsicht in das Unrecht strafbarer Handlungen (§ 20 dStGB). 2. Bei mittelgradiger geistiger Behinderung liegen meist die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 20 dStGB vor, wobei es je nach den Umständen der Tat an der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters mangelt. 3. Leichtere geistige Behinderungen führen bei komplexen Tatumständen meist zu einer fehlenden Einsichtsfähigkeit; bei einfacheren Tatver51

Urteil des Amtsgerichts Yoshii vom 22. 1. 1959, KaKeishuu 1 – 1 – 100. Es gibt ferner kaum Rechtsprechung im Hinblick auf Vermögensdelikte, wo die Schuldfähigkeit bzw. die verminderten Schuldfähigkeit von Intelligenzschwachen bejaht wurde. Bei einem Raub räumte das LG Sapporo die Schuldfähigkeit ein; Urteil vom 4. 9. 1966, KaKeishuu 8 – 9 – 1221. Bei einem Gewohnheitsdiebstahl stellte das OLG Osaka eine verminderte Schuldfähigkeit fest; Urteil vom 28. 3. 1978, Hanrei Times Nr. 364, S. 298. 53 Sumitani, in: Nishihara et al. (Hrsg.), Forschung über strafrechtliche Rechtsprechungen, Band 3, Schuld (1980) S. 28. 54 Shirai, Hanrei Times Nr. 151, S. 31 f. 55 Ausführlicher Nedopil/Müller (Fn. 25) S. 260 f. 52

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hältnissen kann die Steuerungsfähigkeit je nach Tatsituation und Begleitstörungen aufgehoben oder erheblich vermindert sein. Grühle unterscheidet hinsichtlich der Schuldfähigkeit von intelligenzschwachen Menschen zwischen schwierigen (z. B. Urkundenfälschung) und weniger schwierigen Delikten (z. B. Diebstahl), wobei bei den ersten teilweise Schuldunfähigkeit, bei den zweiten hingegen Schuldfähigkeit anzunehmen sei.56 Ähnlich behaupten Nedopil/Müller, dass geistig Behinderte Verführungssituationen stärker ausgeliefert seien, sodass beispielweise ein Minderbegabter mit einem IQ von 70 vermindert steuerungsfähig sei, wenn er von einem anderen dazu überredet wird, einen gefälschten Scheck einzureichen, während er bei einem Handtaschenraub, den er allein durchführt, als voll schuldfähig erachtet werden könne.57 Der japanische Psychiater Fukushima58 kritisiert die zu grobe Einteilung von Grühle. Seiner Ansicht nach sei auch bei der Feststellung der Schuldfähigkeit von Intelligenzschwachen eine ausführliche Überprüfung aller Umstände sowie der Entscheidungs- oder Steuerungsfähigkeit und deren Ausmaßes notwendig.59 Hara60 beurteilt diejenigen als vermindert schuldfähig, die an einer leichten Intelligenzminderung leiden und in Angstsituationen „als verstärkte Gegenreaktion“ ein „ganz anderes Verhalten als das Übliche“ zeigen, „vor Wut explodieren“ oder „ihren sexuellen und instinktiven Trieben, Affekten oder Erregungen nicht widerstehen“ können. In Deutschland wird dagegen von den Gerichten meist schon bei mittelgradigen Intelligenzminderungen von einer fehlenden Einsichtsfähigkeit ausgegangen.61 Dem ist entgegenzuhalten, dass bei Intelligenzschwachen aus forensisch-psychiatrischer und klinischer Sicht durchaus eine strafrechtlich relevante Minderung der Einsichtsfähigkeit anzunehmen ist, wenn lediglich ein unsicheres oder ungefähres Wissen um den Sachverhalt besteht.62 5. Individuell-konkrete Beurteilung In der japanischen Rechtsprechung wird die Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung nicht nur anhand des Intelligenzquotienten beurteilt, sondern es werden auch andere Umstände im Rahmen einer Gesamtbetrachtung in die Beurteilung miteinbe56

Fukushima (Fn. 23) S. 241. Nedopil/Müller (Fn. 25) S. 260. 58 Fukushima, a.a.O. 59 Nedopil/Müller erwähnen ebenso, dass für die Zuordnung zum Merkmal „Schwachsinn“ nicht allein die Höhe des Intelligenzquotienten ausschlaggebend sei, sondern auch das Spektrum der vorhandenen Fähigkeiten und die Art des Delikts berücksichtigt werden müssen; Nedopil/Müller (Fn. 25) S. 260. 60 Hara, in: Matsushita (Hrsg.), Lehrstuhl Klinische Psychiatrie, Band 19, Forensische Psychiatrie, Psychiatrisches Gutachten, S. 203. 61 Seifert (Fn. 19) S. 280. 62 Seifert (Fn. 19) S. 281. 57

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zogen.63 Die Schuldfähigkeit soll individuell-konkret betrachtet werden. Bei leichten bis mittelschweren Intelligenzminderungen sollen nicht nur der IQ, sondern auch die psychische Situation, wie z. B. das Ausmaß der Persönlichkeitsentwicklung oder eine etwaige Berauschung im Zeitpunkt der Tatbegehung, die Art und Weise der Tatbegehung, die Motivation usw. berücksichtigt werden.64

6. Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit Genauso wie in Deutschland besteht in Japan die Aufgabe des Sachverständigen darin, die Auswirkungen der Intelligenzminderung auf die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt aus psychiatrisch-psychologischer Sicht einzuschätzen.65 Speziell zur Intelligenzminderung finden sich in Deutschland folgende Feststellungen: Als Grundregel gilt nach Seifert: Je ausgeprägter die Intelligenzminderung ist, umso eher entfällt die Einsichtsfähigkeit.66 Je ausgeprägter ferner die kognitiven sowie soziomoralischen Einbußen sind, umso schwieriger werde es für den Betroffenen, die Unrechtseinsicht durch die üblichen, störungsbedingt eingeschränkten sozialen Interaktionen zu entwickeln. Bezüglich der Steuerungsfähigkeit wird aus juristischer Sicht bei intelligenzschwachen Personen recht unkompliziert eine erheblich verminderte oder auch ausgeschlossene Steuerungsfähigkeit attestiert, wenn „die Tat in einem untypischen starken Erregungszustand begangen wird“ (vgl. NStZRR 06, 265).67 Während in Deutschland zunächst die Einsichtsfähigkeit und danach die Steuerungsfähigkeit überprüft wird,68 werden sie in Japan als sehr schwer trennbar betrachtet und meistens zusammen überprüft.69 Auch die zwei folgenden Punkte wurden durch das japanische Gericht betont: Die Einsichtsfähigkeit70 intelligenzschwacher 63

Maeda et al. (Fn. 13) S. 157. Takahashi, in: Takahashi/Kashiro (Hrsg.), Strafrechtliche Tatsachenfeststellung – Zusammenfassende Forschung über Rechtsprechungen, Band 1 (1993) S. 465. 65 Seifert (Fn. 19) S. 280. 66 Seifert (Fn. 19) a.a.O. 67 Seifert (Fn. 19) S. 281. 68 Im Falle einer fehlenden Einsichtsfähigkeit erübrigt sich die Frage nach der Steuerungsfähigkeit des Täters, weil ohnehin nach § 20 dStGB von einer Schuldunfähigkeit auszugehen ist; Seifert (Fn. 19) a.a.O. 69 In der japanischen Rechtsprechung werden zwar Ausführungen bezüglich der Schuldfähigkeit des Täters getroffen, es wird jedoch meist nicht explizit erläutert, ob es dem Täter im konkreten Fall an der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit fehlt. Vgl. diesbezüglich auch folgenden Leitfaden für Richter und Laienrichter: Housoukai, Justizforschung im Jahr 2007: Schwere Rechtsbegriffe und Laienrichtersystem (2009) S. 34. 70 In Deutschland bedeutet „Einsicht“ im juristischen Sprachgebrauch und insbesondere in den §§ 17, 20 und 21 dStGB eher eine primär kognitive Funktion im Sinne eines bewussten bzw. zu vergegenwärtigenden Vorstellungs- und Wissenselementes, also etwas, das Erkennen und Kenntnis zum Hintergrund hat; Lammel (Fn. 18) S. 415. Zu Einsicht, Einsichtsfähigkeit und Schwachsinn im Spiegel der Rechtsprechung des BGH siehe Lammel (Fn. 18) S. 419 ff. 64

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Personen sollte nicht deshalb vorschnell bejaht werden, weil diese auf den ersten Blick das Unrecht der Tat einsehen können. Entscheidend sei vielmehr, ob der Betroffene die soziale Bedeutung der Tat genügend verstehe und sein Verhalten diesem Verständnis entsprechend steuern könne.71 Bei intelligenzschwachen Menschen komme es eher zum Entfallen der Steuerungsfähigkeit, da ihre persönliche Entwicklung infolge der verzögerten intellektuellen Entwicklung noch unreif sei.72 7. Analyse der Rechtsprechung im Schrifttum Allgemein werden in der japanischen Wissenschaft folgende Tendenzen festgestellt: 1. In der bisherigen Rechtsprechung gab es nur vereinzelt Fälle, in denen die Schuldfähigkeit aufgrund geistiger Behinderungen verneint wurde. In vielen Fällen, in denen zumindest eine verminderte Schuldfähigkeit angezeigt war, wurde volle Schuldfähigkeit angenommen.73 2. Straftaten, die von Personen mit schwerer Intelligenzminderung begangen wurden, werden im Normalfall nicht angeklagt. Deshalb gibt es bisher kaum Fälle, in denen Schuldunfähigkeit angenommen wurde. Meist wurde lediglich eine verminderte Schuldfähigkeit festgestellt.74 3. Laut staatlichen Publikationen gibt es keinen Fall, in dem bei schwerster geistiger Behinderung Anklage erhoben wurde. Auch bei schwerer geistiger Behinderung existiert – außer dem genannten Urteil des LG Kyoto – kaum Rechtsprechung im Hinblick auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit. Bei mittelschweren geistigen Behinderungen wird tendenziell eine verminderte Schuldfähigkeit angenommen, bei leichten Behinderungen die volle Schuldfähigkeit bejaht.75

8. Analyse aktueller Judikatur Eine Gruppe von Richtern führte eine Analyse der vier jüngst gegen geistig behinderte Straftäter im Bereich Osaka ergangenen Urteile durch.76 Anhand ihrer Ergebnisse konnte man einige Tendenzen feststellen, welche Kriterien bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit geistig behinderter Angeklagter berücksichtigt werden. 1. Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei nur leichten Beeinträchtigungen ist entscheidend, ob die psychische Konfliktsituation mit normalen menschlich-see71

Naito (Fn. 5) S. 821. Naito (Fn. 5) a.a.O. 73 Naito (Fn. 5) a.a.O. 74 Shimada/Baba (Fn. 5) § 39 Rn. 45. 75 Niwa, Hanrei Jihou Nr. 2247, S. 151. 76 Higuchi/Onodera/Takebayashi, Hanrei Times Nr. 1376, S. 70. 72

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan 735

lischen Aktivitäten erklärt werden kann oder als ungewöhnlich betrachtet werden muss. 2. Alle vier Judikate berücksichtigen die bisherige Alltagssituation sowie die alltägliche Verhaltenstendenz des Angeklagten. Da geistige Behinderungen nicht nur vorübergehend, sondern ständig bestehen, ist für die Feststellung der Schulfähigkeit die Prüfung der genannten beiden Kriterien notwendig. 3. Dass der Angeklagte sich bisher selbst unter Kontrolle gehabt und ein selbstständiges soziales Leben geführt hat, spricht für eine Annahme der vollen Schuldfähigkeit. Andererseits wurde in Fall 3 eine verminderte Schuldfähigkeit bejaht, da der Angeklagte in einem Behindertenwohnheim lebte und nur wenig soziale Selbstständigkeit besaß. Ferner hatte dieser bereits früher in einer außergewöhnlichen Erregungssituation ein Gewaltdelikt begangen.

9. Beurteilungskriterien Niwa analysierte mehrere Urteile betreffend Menschen mit geistiger Behinderung und stellte einige konkrete Merkmale fest, welche bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit geprüft werden. Zunächst werden „allgemeine Informationen“ erhoben: Darunter fallen der Intelligenzquotient, das Ausmaß der Entwicklungsstörung wegen der geistigen Behinderung, der Affekt sowie die Persönlichkeit und Biographie. Zusätzlich werden folgende elf Punkte berücksichtigt: 1. die Art der Straftat, 2. die Motivation des Täters sowie deren Verständlichkeit, 3. das Mittel und die Modalität der Tatbegehung (Plan, Antrieb usw.), 4. das Verhalten vor und nach der Straftat (auch darin könnte die Abnormität liegen), 5. die Verwerflichkeit seines Verhaltens sowie die Einsicht der Rechtswidrigeit, 6. Das Ausmaß der Erinnerung an die Zeit vor und nach der Straftat, 7. die nachträgliche Einstellung zur Tat bzw. das Empfinden von Reue, 8. das Alltagsleben bis zur Straftat (ob ein soziales Leben geführt wurde), 9. die Ungleichartigkeit bzw. Gleichartigkeit zwischen der Persönlichkeitstendenz und der Straftat, 10. die Konsequenz und Zweckmäßigkeit des Verhaltens, 11. die Begehung aus Gründen der Selbstverteidigung oder Gefahrenabwehr (z. B. Rettung einer Person oder Löschung eines Brandherds). Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit wird anhand einer Gesamtabwägung das Ausmaß der geistigen Behinderung und deren Einfluss auf die Straftat ermittelt. Keines der Kriterien ermöglicht für sich einen direkten Rückschluss auf die Schuldfähigkeit. Um die Einsichtsfähigkeit im Einzelfall festzustellen, werden die obengenannte Kriterien 5, 7 und 11 herangezogen. Schwierigkeiten bereitet jedoch insbesondere die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit geistig Behinderter. Die soziale Anpassungsfähigkeit beeinflusst zwar offenbar die Steuerungsfähigkeit, jedoch kann dieser Einfluss nicht verallgemeinert werden, da die Symptome einer Anpassungsstörung je nach Täter bzw. Tat unterschiedlich in Erscheinung treten. In der Justizpraxis wird

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das Ausmaß der sozialen Anpassungsfähigkeit unter Berücksichtigung des bisherigen Alltagslebens ermittelt, ob der Täter einigermaßen ein soziales Leben geführt hat (Kriterium 8). Allein dass der Täter ein bislang unauffälliges Alltagsleben geführt hat, reicht jedoch zur Bejahung der sozialen Anpassungsfähigkeit nicht aus. Viele geistig Behinderte können nämlich vor allem in Extremsituationen oder Trunkenheitszuständen ihr Straftatverhalten nicht steuern. 10. Analyse des erstinstanzlichen Urteils des LG Kyoto Das LG Kyoto hat den Angeklagten mangels Schuldfähigkeit freigesprochen. Wenn man den Fall anhand der von Niwa77 definierten Kriterien analysiert, kann man Folgendes feststellen: Als „allgemeine Information“ wird der Intelligenzquotient des Täters angegeben. Laut der Tanaka-Binet – Intelligenzprüfung beträgt sein IQ 25 und sein psychisches Alter 4 Jahre und 7 Monate. Bei einem solchen Ergebnis wird das Strafverfahren normalerweise eingestellt. Es gibt, wie oben erwähnt, bisher nur einen Diebstahlsfall, in dem die Schuldunfähigkeit bejaht wurde. Als zusätzliche Kriterien wurden überprüft: 1. Motivation (Kriterium 2): Der Angeklagte liebte Autos und war bereits wiederholt wegen Autodiebstahls straffällig geworden. Er hatte Lust auf Autofahren. Diese Motivation sei einerseits verständlich, jedoch bewertete das LG als wesentlich, dass der Angeklagte trotz seiner fünfmaligen Inhaftierung wieder aus ähnlichen Motiven gehandelt habe. Dies sei als Zeichen dafür zu sehen, wie stark sein Bedürfnis und innerer Antrieb zur Diebstahlsbegehung gewesen seien. Ihm fehle die Steuerungsfähigkeit, sodass er sein einfaches und kindliches Bedürfnis, das normale Menschen ganz leicht steuern können, nicht kontrollieren konnte. Die sehr schwere geistige Behinderung habe einen großen Einfluss auf die Tatumstände sowie die Motivation des Täters gehabt. Bezüglich des Tatmittels und der Modalität der Tatbegehung (Kriterium 3) wurden die vier folgenden Tatsachen als bezeichnend bewertet: 1. Der Angeklagte ging mit einem auffallenden Fahrrad zum Tatort und parkte es bei der Opferfirma. 2. Erst nach der Tatbegehung fiel ihm ein, das Fahrrad zurückzuholen. 3. Er ging direkt nach der Tat zur Firma, um sein Fahrrad zu holen. 4. Er parkte das Tatobjekt auf einem Parkplatz in der Nähe seines Wohnorts, den bereits ein anderer gemietet hatte. Als entgegenstehendes Zeichen wurde bewertet, dass der Angeklagte mit dem Diebstahl bis zum Weggehen des Angestellten gewartet habe. Letztlich kam das LG zu dem Ergebnis, dass die Umstände zwar auf eine gewisse Planung und Zweckgerichtetheit hingedeutet haben, diese jedoch außerordentlich kindlich gewesen seien. Bemerkenswert ist, dass das Alltagsleben bis zur Straftat (Kriterium 8) ebenso berücksichtigt wurde. Der Angeklagte konnte im Alltag nur einige einfache japanische Schriften lesen, Zahlen konnte er fast gar nicht lesen. Er konnte zwar etwas kaufen, nicht aber das Restgeld zählen. Ferner konnte er jene Waren nicht bestellen, die momentan im Geschäft fehlten. Seine Arbeitstätigkeit war eine einfache Tätigkeit, wie 77

Niwa (Fn. 75) S. 151 f.

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan 737

etwa das Zerdrücken von PET-Flaschen in einem Pflegeheim. Er konnte zwar selbständig essen und auf die Toilette gehen, brauchte jedoch abgesehen davon ständig Unterstützung. Seine Modalität der Wunschverwirklichung war besonders ungeschickt. Der Gutachter erwog daher, dass es dem Angeklagten an dem für ein selbstständiges Leben notwendigen Wissen, ferner an der Kommunikations- sowie Entscheidungsfähigkeit gefehlt habe. Das LG räumte ebenfalls ein, dass das Alltagsleben des Angeklagten wegen der schweren geistigen Behinderung ziemlich beeinträchtigt war. Letztlich kam das LG unter Abwägung der Kriterien 5, 7 und 11 zu dem Ergebnis, dass dem Täter die nötige Einsichtsfähigkeit fehlte. Für das Vorliegen einer ausreichenden Einsichtsfähigkeit sprächen folgende Aspekte: 1. Der Angeklagte war bereits zuvor wegen Autodiebstahls verurteilt worden. 2. Er hatte mit dem Diebstahl bis zum Weggehen des Angestellten zugewartet. 3. Bei der Befragung durch die Polizei, ob er das Auto gestohlen habe, antwortete er, dass er nichts davon wisse. 4. Direkt vor der Verhaftung antwortete er auf die Frage der Polizei, wie er an das Auto gekommen sei, mit der Falschaussage „Das Auto habe ich gekauft. Das gehört mir.“ 5. In der Hauptverhandlung entschuldigte sich der Angeklagte für seine Straftat. Für ein Fehlen der Einsichtsfähigkeit sprächen hingegen folgende Umstände: 1. Der Täter erzählte von seinem unerfüllbaren Wunsch, den Führerschein zu machen und ein Auto zu kaufen. 2. Im Ermittlungsverfahren äußerte er ohne Scham, dass sein Hobby das Autofahren ohne Führerschein sei und dass er immer ein gestohlenes Auto fahre. Das LG stützte die Annahme fehlender Einsichtsfähigkeit auch darauf, dass seine Entschuldigung und Reue nur oberflächlich gewesen seien und nicht ernst zu nehmen wären, weil er bereits im Verlauf vorheriger Strafverfahren gelernt habe, dass sich ein solches Verhalten günstig für ihn auswirkt. Der Angeklagte habe in Wahrheit nicht verstanden, warum er nicht stehlen dürfe. Deswegen habe er die rechtswidrige Tat nicht steuern können. Niwa78 betrachtet das Urteil als richtig, weil das LG nicht nur die einfache Einsichtsfähigkeit, dass der Diebstahl eine Missetat sei, sondern die Fähigkeit zur Einsicht in den konkreten Inhalt der „Missetat“ festgestellt habe. Angemessen seien die Prüfungen des LG im Hinblick auf die Frage gewesen, ob der Angeklagte das Unrecht oder die soziale Bedeutung der Tat richtig verstanden habe. 11. Analyse der zweitinstanzlichen Entscheidung (OLG Osaka) Im Rechtsmittelverfahren behauptete die Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte entgegen der Annahme des Erstgerichts sehr wohl über die notwendige Einsichtsund Steuerungsfähigkeit verfügt habe.

78

Niwa (Fn. 75) S. 150, 152.

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Das OLG bezweifelte jedoch das Fehlen der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten, weil er sich offensichtlich bemüht habe, dass die Tat von der Polizei oder dritten Personen nicht entdeckt werde (Kriterium 7). Nach diesem Verhalten könne man nicht sagen, er habe das Unrecht der Tat nicht einsehen können. Wenn ein Täter verstehe, dass er bei Entdeckung seiner Straftat verhaftet und bestraft wird, sei er auch in der Lage, eine entsprechende Gegenmotivation zu bilden und die Straftat zu unterlassen. Der Angeklagte habe zwar bei der Tatbegehung aufgrund der geistigen Krankheit nicht ausreichend begriffen, dass der Autodiebstahl das Opfer oder die Allgemeinheit schädige. Jedoch habe er zumindest eingesehen, dass er eine Straftat begangen habe, die, wenn sie entdeckt wird, zu einer Inhaftierung führen könne (Kriterium 5). Im Ergebnis sei die Einsichtsfähigkeit des Täters zwar sehr vermindert, aber noch nicht ganz ausgeschlossen gewesen. Anders als das LG machte das OLG auch Ausführungen im Hinblick auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten. Dass er zwei Stunden lang darauf gewartet hatte, bis der Angestellte wegging, oder dass er versuchte, seine Tat zu verdecken, wurde berücksichtigt (Kriterien 4, 7, 10). Anhand solcher Umstände könne man feststellen, dass der Angeklagte die Fähigkeit besessen habe, sich der Situation entsprechend zu verhalten. Ferner sei sein Verhalten nach der Tat zweckgerichtet gewesen (Kriterium 11) und er habe sich anscheinend unter Kontrolle bringen und einigermaßen vorsichtig benehmen können. So habe er es z. B. einige Zeit lang vermieden, Auto zu fahren, damit die Straftat nicht entdeckt werde (Kriterium 11). Unter diesen Umständen kam das OLG zu dem Ergebnis, dass der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung über eine – wenn auch verminderte – Steuerungsfähigkeit verfügte. Bemerkenswert ist, dass das OLG zur Beurteilung der Schuldfähigkeit auf die Verständlichkeit der Tat (Kriterium 2, s. u. 12.) sowie darauf abstellte, ob sich andere ebenso wie der Angeklagte verhalten hätten: Auch Menschen ohne psychische Störung würden möglicherweise aus gleicher Motivation wie der Angeklagte einen Diebstahl begehen, wenn sich ihnen die Gelegenheit dafür biete. Ferner würden auch geistig gesunde Täter häufig Spuren am Tatort hinterlassen. Die gesamte Handlung des Angeklagten sei rational und konsequent und damit, anders als vom LG dargestellt (kindlich und ohne weitreichende Überlegungen), keinesfalls unverständlich. Es komme nicht selten vor, dass der Täter falsche Angaben mache, um einer Bestrafung zu entgehen, obwohl die Lüge sofort entdeckt wird. Das OLG attestierte dem Täter eine verminderte Schuldfähigkeit, wobei das Ausmaß der Intelligenzminderung offen gelassen wurde. Es berücksichtigte zwar nicht nur den Intelligenzquotienten, sondern die unterschiedlichen Kriterien in ihrer Gesamtheit, ließ dabei aber den Alltag des Angeklagten (Kriterium 8) außer Acht. Das Urteil des OLG deckte sich insofern mit der bisherigen Rechtsprechung, als auch in anderen Fällen kaum je eine Schuldunfähigkeit aufgrund geistiger Behinderung bejaht wurde.

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan 739

12. Willkürliches Kriterium: Verständlichkeit In letzter Zeit misst die Rechtsprechung dem Kriterium der „Verständlichkeit“ im Rahmen der Gesamtabwägung zur Beurteilung der Schuldfähigkeit eine zunehmende Bedeutung bei.79 „Verständlich“ bedeutet, dass Tat und Motivation des Straftäters, seine Gedanken usw. für die Allgemeinheit bzw. den Richter rational und nachvollziehbar erscheinen. Auch in der zweiten Instanz des genannten Falls spielte dieses Kriterium eine große Rolle dafür, dass die Schuldfähigkeit nicht als ausgeschlossen, sondern bloß als vermindert angesehen wurde. Folgendes fällt jedoch auf: Bei den von Schizophrenen begangenen Straftaten spielen Wahnvorstellungen oder Halluzinationen eine große Rolle. Deswegen sind deren Motivation und Verhalten meist nicht allgemein verständlich, wenn solche krankhaften Symptome einen Einfluss auf die Straftat haben. Dagegen sind Motivation etc. bei intelligenzschwachen Straftätern normalerweise durchaus verständlich. Auch im Hinblick auf den oben erörterten Fall wurde die Motivation zwar als einfach (primitiv) sowie kindlich, für die Allgemeinheit aber vollkommen verständlich betrachtet. Auch Menschen ohne psychische Störung begehen möglicherweise aus denselben Motiven wie der Angeklagte einen solchen triebhaften Diebstahl, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Ferner kommt es, wie erwähnt, im Allgemeinen, d. h. unabhängig von einer etwaigen psychischen Krankheit, nicht selten vor, dass Täter deutliche Spuren am Tatort hinterlassen. Die „Verständlichkeit“ für die Allgemeinheit ist ein aussagekräftiges Kriterium zur Feststellung der Schuldfähigkeit. Die Motivation oder Gedankengänge von Intelligenzschwachen sind in aller Regel als verständlich einzustufen. Nach meiner Ansicht besteht allerdings die Gefahr, dass die „Verständlichkeit“ je nach Richter unterschiedlich beurteilt wird, weil sie ein subjektives Kriterium darstellt. Ob eine Tatsache verständlich ist, kann man schwer objektiv beurteilen, dies hängt von der Einschätzung des jeweiligen Richters ab. Es kann also oft vorkommen, dass das Kriterium zur Bejahung der Schuldfähigkeit führt. Es ist daher zu beachten, dass es nicht willkürlich zur Begründung der Schuld intelligenzschwacher Personen herangezogen wird. Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit sollte es nicht allein bzw. zu sehr auf dieses Kriterium ankommen. Vielmehr ist eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller genannten Kriterien erforderlich.

IV. Schlusswort Noch einige abschließende Bemerkungen: Bei intelligenzschwachen Menschen sollte die Schuldfähigkeit, wie auch bei anderen psychischen Krankheiten, stets individuell-konkret beurteilt werden. Es ist jedoch bei schwerster bzw. schwerer Intelligenzminderung nicht einfach zu beurteilen, 79

Siehe auch Shimada/Baba (Fn. 5) § 39 Rn. 10; Ono et al. (Rn. 6) S. 159.

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nach welchen Maßstäben die Gerichte in diesen Fällen entscheiden, weil normalerweise das Strafverfahren eingestellt wird und es kaum veröffentlichte Rechtsprechung gibt. Bei dem in diesem Aufsatz analysierten Fall (LG Kyoto) geht es um den Gewohnheitsdiebstahl einer Person, die an einer schweren Intelligenzminderung litt. Diebstahl ist seit langem die in Japan am häufigsten begangene Straftat. Bereits seit 1930 sieht der Gesetzgeber daher strengere Strafen für Täter vor, die bereits mehrmals wegen Diebstahls verurteilt wurden. Ob eine Verschärfung der Strafe gegenüber Intelligenzschwachen kriminalpolitisch sinnvoll ist, bleibt andererseits fraglich. Da intelligenzschwache Menschen statistisch gesehen besonders häufig rückfallgefährdet sind, müssen andere präventive Maßnahmen ergriffen werden. Es wird vermutet, dass Gewohnheitsdiebstähle künftig noch häufiger als jetzt von älteren, unter Demenz leidenden Personen begangen werden. Daher ist es unerlässlich, bereits im Vorhinein soziale Maßnahmen der Wohlfahrtspflege zu treffen. Das Urteil des LG Kyoto enthält wesentliche Hinweise zur Beurteilung intelligenzschwacher Straftäter. Kriminalpolitisch erscheint das Ergebnis eines Freispruchs mangels Schuldfähigkeit vollkommen richtig. Aus strafrechtsdogmatischer Sicht bleiben jedoch einige Zweifel, ob in diesen Fällen tatsächlich keine bzw. verminderte Einsichtsfähigkeit vorliegt. Denn die Beurteilung dieses Merkmals ist nicht einfach. In einer Arbeitsgruppe80, an der mehrere Richter des LG Kobe teilnahmen, äußerte die Mehrheit, dass sie nach der Gesamtwürdigung den „Eindruck“ bzw. die „Überzeugung“ gehabt habe, dass der Angeklagte nicht als schuldunfähig zu betrachten sei. Die Mehrheit der japanischen Richter folgt anscheinend dieser Ansicht. So verneinten sowohl das OLG Osaka als auch der OGH die Schuldunfähigkeit des Angeklagten. Anhand der Analyse der bisherigen Rechtsprechung wurde festgestellt, dass auch das Ausmaß der Schuldfähigkeit bei Intelligenzschwachen und Menschen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen im Weg einer Gesamtabwägung verschiedener Kriterien zu ermitteln ist. Dabei spielen zwei psychologische Elemente, nämlich die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, eine große Rolle. Bei schwerster bzw. schwerer Intelligenzminderung ist fraglich, worin der Inhalt dieser Fähigkeiten besteht. Im dargestellten Fall ging es hauptsächlich darum, ob der Angeklagte das Unrecht seiner Tat einsehen konnte. Während diese Frage in erster Instanz verneint wurde, bejahten die Rechtsmittelinstanzen die Schuldfähigkeit des Täters. Das OLG Osaka gelangte zu diesem Ergebnis unter anderem aufgrund des Kriteriums der „Verständlichkeit“, dem in der Praxis große Bedeutung beigemessen wird. Dabei handelt es sich jedoch um ein vages Kriterium, das die Gefahr willkürlicher und subjektiver richterlicher Einschätzungen birgt. 80 Die Arbeitsgruppe trifft sich alle drei Monate an der Universität Kobe und setzt sich im Rahmen dieser Treffen mit aktuellen strafrechtlichen Judikaten auseinander. Teilnehmer dieser Arbeitsgruppe sind die Wissenschaftler (Professoren) aus dem Kansai-Gebiet (Osaka, Kobe, Kyoto usw.) sowie Richter des LG Kobe.

Begutachtung der Schuldfähigkeit von Tätern mit Intelligenzminderung in Japan 741

Die Beurteilung der Schuldfähigkeit von Menschen, die an einer Intelligenzminderung leiden, bereitet also nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten. Unsere Aufgabe als Strafrechtswissenschaftler ist es, eine nicht zu dogmatische und technische Lösung dieser Probleme zu finden. Kriminalpolitische Aspekte sollten mitberücksichtigt werden, wenn es um das am häufigsten begangene Delikt geht und eine Intelligenzminderung auch durch Demenz entstehen kann.81

81 Nach einer Untersuchung des Justizministeriums im Jahr 2014, wurde bei ca. 14 % der über 60-jährigen Gefangenen die Tendenz zur Demenz festgestellt. Das betrifft ca. 1.300 Gefangene in Japan. Für nähere Informationen vgl.: http://www.moj.go.jp/kyousei1/kyousei08_00062.html.

Zur Strafrechtsgeschichte

Die Ermordung von Kriegsgefangenen während des 2. Weltkriegs Ein Kriegsverbrechen oder eine Überschreitung von Berechtigungen? Witold Kulesza

I. „Das Katyner Verbrechen“, die symbolische Bezeichnung, welche die Ermordung von nahezu 22.000 polnischen Kriegsgefangenen und Gefangenen durch das Volkskommissariat des Innern auf Befehl Stalins im Frühjahr 1940 umfasst, bleibt bis heute ein historisches und rechtliches Trauma der polnischen Gesellschaft. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Große Kammer vom 21. 10. 2013 – in der Sache Janowiec und andere gegen Russland 1 wiederholt das rechtliche Paradoxon, das im Zusammenhang mit dieser Sache im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg (20. 11. 1945 – 1.10.1946) deutlich geworden ist. Beide Gerichte haben auf eine sachliche Bearbeitung der Frage nach der Verantwortung für das Katyner Verbrechen und die Bestimmung von Konsequenzen, die Russland als der Staat tragen sollte, dessen Behörden über das Begehen des Verbrechens entschieden haben, verzichtet. Mangelnde Kompetenzen in diesem Bereich wurden durch den Nürnberger Gerichtshof stillschweigend angenommen, und der Europäische Gerichtshof hat dies expressis verbis zum Ausdruck gebracht. Das Ziel der nachfolgenden Bemerkungen ist die Darstellung von Problemen aus historischer Perspektive, die bei der Lektüre des Urteils des Europäischen Gerichtshofes auftauchen und die, wie man vermuten kann, immer noch Gegenstand von Stellungnahmen nicht nur polnischer Historiker und Juristen werden, die sich auf die Begriffe der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschheit, die zur Zeit des 2. Weltkriegs begangen wurden, beziehen.

II. Die Sicht auf das Katyner Verbrechen bedarf mindestens einer kurzen Schilderung der historischen Perspektive, die die Tragik einer ganzen Reihe von Ereignissen 1

Klagen Nr. 55508 und 29520/09.

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zeigt, die am 01. 09. 1939 durch den Angriff des 3. Reichs und 17 Tage später der Sowjetunion auf Polen begannen. Die Sowjetisierung Polens, die seit dem Sommer 1944 begann, war nämlich eine Konsequenz dieser Ereignisse. Beide Nachbarstaaten, Nazi-Deutschland und das kommunistische Russland, haben auf diese Weise den im Rahmen des am 23. 08. 1939 in Moskau geschlossenen Ribbentrop-MołotowPakts abgestimmten Plan realisiert, indem sie das Gebiet Polens untereinander aufgeteilt haben. Die Nazis haben den schon vor dem Krieg vorbereiteten Plan der Ausrottung der polnischen Führungsschichten, die sog. „Intelligenzaktion“, der die Ermordung derjenigen voraussah, die einen Widerstand gegen den Angreifer organisieren konnten, auf dem von ihnen besetzten Teil Polens realisiert.2 Die Aktion forderte schon in den ersten Monaten der Okkupation das Leben von über 80.000 Opfern. In Berichten wurde über Erschießungen von Personen, die zur polnischen Intelligenz gehörten und „als Deutschenhasser und Hetzer gegen das Deutschtum hervorgetretene Personen“ waren, geschrieben.3 Heydrich befahl, dass eine schnelle Vernichtung von „Intelligenz, Judentum und Geistlichkeit“ erfolgen soll, und behauptete, „es gehe alles zu langsam!“ Er gab Anweisungen, dass die „Leute sofort ohne Verfahren erschossen oder gehängt werden müssten“.4 Weil die ausländische Presse über Morde im besiegten Polen schrieb,5 wusste wohl auch Stalin darüber, als er die Entscheidung vom 05. 03. 1940 unterzeichnete, die vom Chef des Volkskommissariats des Innern Beria vorbereitet wurde. In Vollstreckung der Entscheidung wurden nahezu 22.000 polnische Kriegsgefangene erschossen, die in Gefangenenlagern in Kozielsk, Starobielsk und Ostaszków festgehalten wurden, sowie polnische Bürger, die in Gefängnissen in den östlichen Gebieten Polens inhaftiert wurden, die den sowjetischen Republiken Weißrussland und Ukraine angeschlossen wurden. Als Begründung für die Exekution der Bürger, die nach dem 17. 09. 1939 inhaftiert und gefangen genommen wurden, wurde angegeben, dass „sie alle erbitterte und mit Hass gegen die sowjetische Staatsform erfüllte Feinde der sowjetischen Macht sind“. Es wurde betont, dass „jeder von ihnen die Befreiung erwartet, um eine Möglichkeit, sich dem Kampf gegen die sowjetische Gewalt anzuschließen, zu gewinnen“. Deswegen wurde angeordnet, dass „ihre Sachen in Sonderverfahren unter Anwendung des vollen Strafmaßes – Erschießung – […] entschieden werden sollten, ohne die Verhafteten zu laden und ohne ihnen die Vor2 D. Schenk schreibt: „Den unmenschlichen Plan der Massenvernichtung hatten Hitler, Himmler und Heydrich ersonnen – in diesem Gremium wurde das Programm in Aktion umgesetzt, von Dr. Best organisiert und von den Einsatzgruppen im wahrsten Sinne des Wortes exekutiert.“ Hitlers Mann in Danzig. Gauleiter Forster und die NS-Verbrechen in DanzigWestpreußen, Bonn 2000, S. 162. Eine eingehende Dokumentation enthält die Abhandlung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg: Einsatzgruppen in Polen. Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, Selbstschutz und andere Formationen in der Zeit vom 1. September 1939 bis Frühjar 1940. H. 1, 10. 06. 1962.; H. 2, 20. 05. 1963. 3 Lagebericht des Leiters eines Teilkommandos des EK 16 in Bromberg, cit. nach D. Schenk, Hitlers Mann…, S. 168. 4 D. Schenk, Hitlers Mann…, S. 164. 5 A. Rückerl, Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 – 1978, Karlsruhe 1979, S. 18.

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würfe, die Entscheidung über die Beendigung des Ermittlungsverfahrens und die Anklageschrift vorzulegen“. Es ist festzustellen, dass es unter den auf diese Weise Ermordeten, „Bürger des ehemaligen polnischen Staates“, vorwiegend Polen gab, aber auch Juden, Ukrainer und Weißrussen. Die Begründung für diese russische Entscheidung war in der Tat dieselbe wie die für die deutsche Intelligenzaktion – die Liquidation der polnischen Führungsschichten, die zur Organisierung eines Widerstands gegen die Okkupationsgewalt fähig waren.6 Das Verbrechen wurde durch das Volkskommissariat des Innern im Geheimen verübt, was Stalin behaupten ließ, nachdem die Sowjetunion nach dem 22. 06. 1941 zu einem Mitglied der Anti-Hitler-Koalition wurde, dass ihm das Schicksal der polnischen Offiziere – der Kriegsgefangenen – unbekannt sei. Als die Deutschen am 13. 04. 1943 über die Entdeckung von Massengräbern von 10.000 im Frühling 1940 durch Russen ermordeter polnischer Offiziere offiziell informierten, haben die Russen darauf zynisch lügend geantwortet, dass das Verbrechen im Herbst 1941 nach dem Angriff auf die UdSRR durch die Deutschen selbst verübt worden sei. Im Archiv des Außenministeriums in Berlin gibt es ein im Original erhaltenes Dokument der Diplomatie des 3. Reichs mit dem Datum „24. April 1943“, in dem festgestellt wird, dass die Regierungen Englands und der Vereinigten Staaten auf die Entdeckung der Gräber der Opfer dieses sowjetischen Verbrechens im Katyner Wald in keinster Weise reagiert haben, obwohl sie den Wahrheitsgehalt der deutschen Meldung nicht in Frage stellten. Im Weiteren hieß es, dass die Passivität der englischen und amerikanischen Regierungen gegenüber der verlogenen sowjetischen Propaganda ihre Zustimmung zu der Nachkriegs-„Bolschewisierung Polens, und im weiteren Verlauf auch Europas“, wie auch zur „Übernahme einer direkten Führung Ost- und Südeuropas durch die Sowjetunion“ bedeutete. Deshalb wurde im Dokument die Lage so eingeschätzt, dass die Hoffnungen der polnischen Regierung und anderer Londoner Exilregierungen auf eine wirksame zukünftige Unterstützung durch England und die Vereinigten Staaten gegenüber den sowjetischen Ansprüchen „völlig illusorisch“ sind.7 Ein schreckliches Paradoxon der Geschichte ist es, dass die deutsche Voraussicht in Bezug auf die Zukunft Mittel- und Osteuropas nach der Kriegsniederlage des 3. Reichs, die noch ein halbes Jahr vor der Konferenz der Alliierten in Teheran (28.11. – 1. 12. 1943) in diesem deutschen Dokument formuliert wurde, zutreffend war. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nach Westen und der Besetzung der polnischen Gebiete ab Sommer 1944, durch welche die deutsche Okkupation zurückgedrängt wurde, wurde eine stalinistische politische und rechtliche Ordnung einge6

W. Kulesza, Zbrodnia Katyn´ska jako akt ludobójstwa (Das Katyner Verbrechen als Akt des Völkermords), (in:) Zbrodnia Katyn´ska w kre˛ gu prawdy i kłamstwa (Das Katyner Verbrechen im Kreis von Wahrheit und Lüge), Warszawa 2010, S. 62. 7 W. Kulesza, Ein Dokument in der Mappe der Korrespondenz des Außenministeriums des 3. Reichs III in Bern, Politisches Archiv des Außenministeriums in der BRD, Berlin. Der Inhalt der Mappe ist besprochen in: W. Kulesza: Nieznane dokumenty katyn´skie z archiwów niemieckich, (Unbekannte Katyner Dokumente aus deutschen Archiven), [in:] Zbrodnia Katyn´ska. Przesłanie dla przyszłos´ci (Das Katyner Verbrechen. Botschaft für die Zukunft), Zeszyty Katyn´skie Nr. 21, Warszawa 2006, S. 154 f.

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führt, die bis 1956 bestand. Für eine schwere Straftat „der feindlichen Propaganda“ wurden von den Gerichten sogar Äußerungen gehalten, die in privaten Gesprächen oder in Briefen erfolgten, wenn sie zum Ausdruck brachten, dass „die Russen polnische Offiziere in Katyn´ getötet haben“.8

III. Die Absicht der sowjetischen Behörden war es, den Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zur Bestätigung der Unwahrheit auszunutzen, dass die Deutschen für die Ermordung polnischer Kriegsgefangener im Katyner Wald verantwortlich sind. Es ist hervorzuheben, dass sowjetische Delegierte – der Staatsanwalt Rudenko und der Richter Nikitczenko – alliierte Mitglieder des Gerichtshofes am Vortag des Nürnberger Prozesses auf die Sache des Verbrechens an polnischen Offizieren, über die russische Autoren der Anklageschrift geschrieben haben, dass es im September 1941 durch Deutsche im Katyner Wald bei Smolen´sk begangen worden sei, wo die Leichen von 925 Polen gefunden wurden, selbst aufmerksam gemacht haben. Nachdem die Anklageschrift mit dieser Behauptung unterschrieben worden war, erklärte Rudenko, womit er alliierte Delegierte erstaunte, dass gemäß einer Information, die er danach erhalten habe, die Anzahl der Ermordeten 11 Tausend betragen habe; gleichzeitig verlangte er, die Sitzung des Gerichtshofes, die den Prozess eröffnete, um drei Tage zu verschieben. Die Richter des Gerichtshofes dachten, dass es sich um eine Korrektur handelt, die im Text der Anklageschrift „sofort“ leicht eingeführt werden kann, und wollten deshalb die Forderung, mit dem Beginn des Prozesses noch etwas zu warten, zunächst ablehnen, doch haben sie sich vom Richter Nikitczenko überreden lassen, dessen kategorischer Auftritt bei der Beratung der Richter als eine Drohung empfunden wurde, Russen aus dem Prozess auszuschließen, falls sein Beginn nicht verschoben werden sollte.9 Es scheint, dass die Russen die Aufmerksamkeit der alliierten Staatsanwälte und Richter absichtlich auf 8

P. Gasztold – Sen´, Siła przeciw prawdzie. Represje aparatu bezpieczen´stwa PRL wobec osób kwestionuja˛cych oficjalna˛ wersje˛ Zbrodni Katyn´skiej (Gewalt gegen die Wahrheit. Repressionen des Sicherheitsapparats der Volksrepublik Polen gegenüber denjenigen, die die offizielle Version des Katyner Verbrechens in Frage stellten) (in:) Zbrodnia Katyn´ska w kre˛ gu prawdy i kłamstwa (Das Katyner Verbrechen im Kreis von Wahrheit und Lüge), Warszawa 2010, S. 136. 9 T. Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trials. A Personal Memoir, New York 1992, S. 124 – 125. Früher, doch ohne Bericht über den Verlauf der Beratung, hat B.F. Smith auf die Episode „als das krasseste Beispiel für die Schlamperei (…), die zur Propagandakatastrophe führt“, als Kommentar zum Verhalten der sowjetischen Seite hingewiesen; die Formulierung scheint eine zu weitgehende Vereinfachung zu sein. Reaching Judgment at Nuremberg, New York 1977, S. 71. Nach R.E. Conot ist das Ereignis ein Beweis für die Naivität von Russen, die davon überzeugt waren, dass „es ausreichte, Bestimmungen der russischen Sonderstaatskommission in den Prozess einzuführen, damit ihre Schlussfolgerungen durch den Gerichtshof akzeptiert werden und zu einem Teil der Geschichte werden“. Justice at Nuremberg, New York – Sydney 1983, S. 67.

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die Sache des Katyner Verbrechens lenkten, um vor dem Prozess einen Test durchzuführen, wie viel Unwahrheit der Gerichtshof in dieser Sache im Laufe des Beweismittelverfahrens, in dem die russische Anklage das Verbrechen den deutschen Angeklagten zuschreiben wird, dulden kann. Die russische Konzeption, den Beweis für die deutsche Täterschaft bei der Ermordung polnischer Offiziere zu erbringen, stützte sich auf eine erstaunliche Interpretation des Art. 21 der Satzung des Gerichtshofes, der das Beweisverfahren angeblich nur auf durch Ankläger vorgelegte Dokumente einschränken sollte, wodurch die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen, ausgeschlossen werden sollte. Der Sinn dieser Vorschrift bestand jedoch darin, dass die Möglichkeit, die Aussagen der Zeugen zu hören, nicht ausgeschlossen wird, sondern es wurde festgehalten, dass angesichts des Übermaßes an Verbrechen gegen den Frieden, die Menschheit und Kriegsrechte, die durch den Gerichtshof beurteilt werden sollten und wozu der Gerichtshof berufen worden war, im Laufe des Prozesses keine Belege für die Bestätigung von allgemein bekannten Tatsachen gefordert werden. Doch es wurden amtliche Unterlagen über diejenigen Tatsachen zugelassen, für die gemäß der Vorschrift die Dokumente der Kommissionen, die zur Durchführung der Ermittlungsverfahren in Sachen von Kriegsverbrechen in alliierten Ländern berufen wurden, gehalten werden. Dabei wurde die Möglichkeit vorgesehen, dass die Anklage die Fragmente dieser Dokumente zur Bestätigung der Thesen der Anklageschrift zum Protokoll zitiert – das hat der stellvertretende Generalstaatsanwalt Russlands Pokrowski, wie es im Stenogramm der Verhandlung heißt, am 14. 02. 1946 in Anspruch genommen: „Wir haben in der Anklage festgestellt, dass eines der wichtigsten Verbrechen, für die die Hauptkriegsverbrecher verantwortlich sind, die Massenexekution der polnischen Kriegsgefangenen war, die im Wald von Katyn´ in der Nähe von Smolen´sk, durch die faschistischen Eindringlinge begangen wurde“.10 In einem anderen Fragment seines Auftritts hat Pokrowski gesagt: „Ich habe dem Gerichtshof offizielle Unterlagen der Sonderkommission als Beweis für das Verbrechen vorgelegt, um die die Exekutionen begleitenden Umstände zu bestimmen und sie im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zu untersuchen. (…) Das präzise und eingehende Dokument zum Protokoll vorzulesen, würde zu lange dauern (…). Nach der Einschätzung der Experten der Gerichtsmedizin soll die Anzahl der Körper über 11 Tausend betragen“.11 Bei der Rekonstruktion der Prozesstaktik, die durch die sowjetische Seite benutzt wurde, indem sie danach strebte, dass das Katyner Verbrechen im Urteil den deutschen Hauptkriegsverbrechern zugeschrieben wurde, sollte man darauf achten, dass der Befehl zum Begehen des Verbrechens den 22 Angeklagten weder persönlich vorgeworfen wurde, noch ihnen wenigstens das Wissen um einen solchen Befehl und seine Ausführung zugeschrieben wurde. Aus diesem Grunde konnte man durch eine entsprechende Steuerung den Verlauf der Verhandlung dazu führen, dass weder die Angeklagten noch ihre Verteidiger sich zur These der Anklage über die deutsche Tä10 Trial of The Major War Criminals before International Military Tribunal. Official Text, Nuremberg 1947, Vol. II, S. 425. 11 Trial…, Vol. II, S. 428.

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terschaft bei Massenexekutionen im Katyner Wald äußerten, und im Urteil würde man den Deutschen die Verantwortung für die Begehung des Verbrechens „pauschal“ zuschreiben. Man könnte vermuten, dass die sowjetische Taktik die Unterwürfigkeit der Staatsanwälte und der amerikanischen, britischen und französischen Richter voraussah, die schon – worauf oben bereits hingewiesen wurde – vor dem Beginn des Prozesses getestet wurden.12 Der sowjetische Vorsatz der Prozesstaktik ließ sich jedoch nicht realisieren, weil der Gerichtshof nach Diskussion in geschlossener Sitzung über den Widerspruch seines Mitglieds Nikitczenko zur Tagesordnung übergangen ist und auf Antrag des Verteidigers des Angeklagten Nr. 1 – Göring – die Vernehmung von 3 Zeugen zugelassen hat. Die Aussagen dieser Zeugen haben eindeutig darauf hingewiesen, dass das Verbrechen durch Deutsche im Jahre 1941 nicht hätte begangen werden können und dass es früher hat begangen worden sein müssen, also bevor die Deutschen das Gebiet erobert haben, auf dem sich die Massengräber polnischer Kriegsgefangener befanden. Das Bild der Ereignisse haben auch die Berichte von drei Zeugen, die durch die von Moskau gesteuerten russischen Staatsanwälte präsentiert wurden, nicht geändert, was dazu beitrug, dass die Falschheit der Anklage gegen die Deutschen wegen dieses Verbrechens offenkundig wurde.13 Das Verhalten sowjetischer Ankläger hat alliierte Richter dabei in große Verlegenheit und Irritation versetzt, was an der Reaktion des Vorsitzenden des Gerichtshofes Lawrence auf ihre hochmütige Deklaration, weitere Beweise, Zeugen und Gutachter in der Katyner Sache vorzustellen, sichtbar wird: „Der Gerichtshof will keine weiteren Beweise mehr hören“.14 Die Irritation ist auch an der Hinderung des Verteidigers der Wehrmacht, dem Zeugen in der Sache des Katyner Verbrechens Fragen zu stellen, abzulesen: „Der Gerichtshof ist sich des Werts des Vorwurfs bezüglich Katyn´ bewusst und hat nicht vor, eine Ausnahme in dieser Sache zu machen, deswegen will er Sie nicht hören, Sie sollen sich bitte

12 Russische Staatsanwälte und Richter wurden nach Anweisungen der in Moskau berufenen „Regierungskommission für den Nürnberger Prozess“ gesteuert, deren Mitglieder u. a. zwei Stellvertreter von Ł. Beria – B. Kobułow und W. Mierkułow – waren. Man muss das für eine besondere Perfidie halten, weil eben sie die Vollstreckung der Entscheidung vom 05. 03. 1941 über die Erschießung polnischer Kriegsgefangener und Gefangener organisiert haben. Die Handlungen dieser Kommission hat N. Lebiediewa aufgedeckt: Katyn: priestuplienie protiw czełowieczestwa, Moskwa 1994, S. 299 f. 13 Eine eingehende Besprechung der Aussagen dieser Zeugen findet man in: A. Basak, Historia pewnej mistyfikacji. Zbrodnia Katyn´ska przed Trybunałem Norymberskim (Geschichte einer Mystifizierung. Das Katyner Verbrechen vor dem Nürnberger Gerichtshof), Wrocław 1993, S. 43 f. Siehe auch W. Kulesza, Zbrodnia katyn´ska w procesie norymberskim – refleksje nad stenogramem rozprawy (Das Katyner Verbrechen im Nürnberger Prozess – Reflexionen über das Stenogramm des Prozesses) (in:) Przeste˛ pstwo – kara – polityka kryminalna. Problemy tworzenia i funkcjonowania prawa. Ksie˛ ga jubileuszowa z okazji 70. rocznicy urodzin Profesora Tomasza Karczmarka (Straftat – Strafe – kriminelle Politik. Probleme des Schaffens und Funktionierens von Recht. Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags von Professor Tomasz Kaczmarek), Zakamycze 2006, S. 422 f. 14 Trial … Vol. XVII, S. 371.

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setzen.“15 Die Position des Gerichtshofes in dieser Sache fand seinen Ausdruck in der eindeutigen Antwort auf die Frage des Verteidigers: „Herr Vorsitzender, darf ich eine Frage an die Anklage richten, wer die Verantwortung für das Verbrechen von Katyn´ trägt?“ Darauf erwiderte der Vorsitzende Lawrence: „Ich habe nicht die Absicht, Fragen dieser Art zu beantworten“.16 Eben dieser Satz hat den Inhalt des am 01. 10. 1946 verkündeten Urteils bestimmt, in dem das Katyner Verbrechen völlig verschwiegen wurde, was diesen Spruch im Verhältnis zu einer der Hauptthesen der Anklageschrift asymmetrisch gemacht hat. Der Gerichtshof hat also stillschweigend angenommen, dass das Katyner Verbrechen außerhalb seiner Zuständigkeit bleibt. Der amerikanische Staatsanwalt hat diesen Tatbestand als „eine politische Warze“ im ganzen Verfahren vor dem Gerichtshof bezeichnet.17 Der russische Staatsanwalt Rudenko versuchte nicht zuzulassen, dass der Zeuge Ernst von Weizsäcker den Inhalt des geheimen Protokolls zum Ribbentrop-MołotowPakt vom 23. 08. 1939 bekannt gab, in dem die Aufteilung Polens unter das 3. Reich und die Sowjetunion in Folge des herannahenden Angriffs vorgesehen wurde. Der Ankläger hat seinen Widerspruch folgendermaßen begründet: „Erstens, wir untersuchen die Sache der deutschen Hauptkriegsverbrechen. Wir führen kein Ermittlungsverfahren in der Sache der Außenpolitik der anderen Staaten. Zweitens, das Dokument ist falsch“.18 Der Gerichtshof hat jedoch eingewilligt, dass der Zeuge Weizsäcker seine Aussagen macht. Der Zeuge hat über den Inhalt des geheimen Protokolls eingehend berichtet und festgestellt, dass die durch das Gebiet Polens geführte Demarkationslinie das Schicksal Polens kategorisch bestimmte.19

IV. Davon, dass das Katyner Verbrechen durch das Volkskommissariat des Innern verübt worden war, zeugen die 1990 vom Präsidenten der UdSRR Gorbaczow an Polen überreichten Dokumente; und der Präsident Russlands Jelcyn hat im Jahre 1992 bekannt gegeben, dass polnische Offiziere von Stalin und dem Politbüro der Kommunistischen Partei der UdSRR zum Tode verurteilt worden sind. Auf Jelcyns Initiative wurde Polen auch ein diese Behauptung bestätigendes Dokument vom 05. 03. 1940 überreicht, das die Entscheidung über die Erschießung polnischer Kriegsgefangener und Gefangener enthielt. Die Generalmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau hat ab dem 27. 09. 1990 ein Ermittlungsverfahren in der Sache der Exekution der Polen mit der „Nr. 159“ geführt. Im Jahre 1991 haben polnische und russische Fachleute eine teilweise Exhumierung der Leichen aus Massengräbern in Katyn´ sowie in der 15

Trial … Vol. XVII, S. 274 f. Trial …, Vol. XVII, S. 286. 17 Mehr in: W. Kulesza, Das Katyner Verbrechen…, S. 52 f. 18 Trial…, Vol. XIV, S. 284. 19 Trial…, Vol. XIV, S. 285. 16

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Ukraine – in Charków und Miednoje – durchgeführt; sie haben auch zirka 40 Zeugen vernommen. Eine Frage von schwerwiegender Bedeutung wurde die strafrechtliche Qualifikation des Verbrechens, das in Vollstreckung der Entscheidung vom 05. 03. 1940 begangen wurde, die den Gegenstand des russischen Ermittlungsverfahrens darstellte. Zu diesem Zweck hat die Generalmilitärstaatsanwaltschaft eine Kommission von Gutachtern berufen, deren Aufgaben die Zusammenfassung der faktischen Feststellungen, die durch Militärstaatsanwälte vorgenommen wurden, sowie das Formulieren und Begründen der rechtlichen Einschätzungen waren. Die Kommission hat in ihrem Bescheid unter dem Datum „Moskau, 2. August 1993“ geschrieben, dass „es alle Grundlagen gibt“, um die Einschätzung des Katyner Verbrechens auf Grund der Vorschriften der Satzung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg vorzunehmen, und zwar mit Bezug auf den Art. 6 Pkt. b über Kriegsverbrechen sowie Pkt. c, in dem Verbrechen gegen die Menschheit geregelt worden sind. In ihren Schlussfolgerungen wurde geschrieben, dass die Massenerschießung von rund 22.000 polnischen Kriegsgefangenen und Gefangenen, der die Massendeportationen ihrer Familien in die UdSRR folgte, eines der schwersten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit war, für die Stalin, Mołotow und andere Mitglieder des Politbüros der Kommunistischen Partei die Verantwortung tragen sollten, „die die Entscheidung über das massenhafte Umkommen unschuldiger Menschen“ gefällt hatten, sowie Beria und andere, auch Funktionäre des Volkskommissariats des Innern, die auf unterschiedlichen Ebenen an der Vorbereitung und Realisierung dieser verbrecherischen Entscheidung beteiligt waren, wie auch direkte Vollstrecker, Gefangenenaufseher und Fahrer, die verbrecherische Anordnungen ausgeführt haben, sowie andere Personen, die an der Erschießung polnischer Kriegsgefangener und Gefangener teilgenommen haben. Die Kommission hat dann festgestellt, dass die von ihr genannten Täter die gerichtliche Verantwortung gemäß dem StGB von 1929 für rechtswidrigen Gewaltmissbrauch, „der zur vorsätzlichen Tötung (…) einer besonders großen Zahl geführt hat, was wie ein Völkermord behandelt werden soll“, tragen sollten. Die Kommission hat unterstrichen, dass Bestimmungen des Abkommens über die Nichtverjährbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Völkermord-Verbrechen in Bezug auf das Verbrechen und ihre Täter Anwendung finden.20 Ein Jahr später wurde der oben zitierte Spruch der Gutachter-Kommission durch die Generalmilitärstaatsanwaltschaft für ungültig erklärt, was die Frage nach der strafrechtlichen Qualifikation des Katyner Verbrechens und der Verantwortlichkeit ihrer Täter erneut aufgeworfen hat. Im Jahre 1995 wurde während des Arbeitstreffens der Staatsanwälte aus Weißrussland, Polen, Russland und der Ukraine in Warschau festgehalten, dass das russische Ermittlungsverfahren Nr. 159 als Hauptermittlungsverfahren fortgesetzt wird und weißrussische und ukrainische Staatsanwälte Rechtshilfe leisten werden, um 20 Der ins Polnische übersetzte Text des Entscheids wurde von „Karta“ veröffentlicht: Rosja a Katyn´ (Russland versus Katyn´), Warszawa 1994, S. 9 ff.

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die vollständige Liste der Namen und Umstände der Exekutionen von 7.305 polnischen Bürgern im Jahre 1940 festzustellen. Von der Zahl ist bis heute die „weißrussische Liste“ mit 3.870 Namen der polnischen Bürger, die auf dem Gebiet Weißrusslands erschossen worden sind, unbekannt. Der Sicherheitsdienst der Ukraine hat dagegen ein Dokument, mit den Namen von 3.435 polnischen Bürgern, die in der Ukraine erschossen wurden, überreicht. Nach 1995 hat die Generalmilitärstaatsanwaltschaft Russlands keine Kopien der im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 gesammelten Akten – trotz der in den Jahren 2001 – 2004 mehrmals wiederholten Ersuchen des Instituts des Nationalen Gedenkens – mehr der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation übergeben.

V. Das gegenwärtige Russland negiert nicht so sehr die Tatsachen der in der Zeit des 2. Weltkriegs durch sowjetische Funktionäre und Soldaten begangenen Verbrechen als es vielmehr behauptet, dass sie keinen Charakter von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder des Völkermordes hatten und daher der Verjährung anheimfallen. Ein Beispiel für eine solche Einstellung ist die Weigerung der Moskauer Generalmilitärstaatsanwaltschaft, einen polnischen Antrag auf Rechtshilfe im Ermittlungsverfahren in der Sache der Erschießung von zwei polnischen Offizieren (General J. Olszyna-Wilczyn´ski und Hauptmann M. Strzemecki) Ende September 1939 direkt nach ihrer Festnahme durch Soldaten der Roten Armee, der in einem Schreiben vom 17. 03. 2004 gestellt wurde, zu berücksichtigen. Nach Ansicht der russischen Militärstaatsanwaltschaft war es kein Kriegsverbrechen, sondern eine allgemeine Straftat der Tötung, die der Verjährung anheim gefallen ist. Russische Staatsanwälte haben festgestellt, dass Kriegsverbrechen nur durch Deutsche begangen worden sind, weswegen „am 8. August 1945 eine Vereinbarung zwischen den Regierungen geschlossen und der Internationale Militärgerichtshof gegründet wurde, um deutsche Offiziere, Soldaten und Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, die für die in der Zeit des 2. Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen verantwortlich sind, zur Verantwortung zu ziehen.“ Der Begriff der Kriegsverbrechen wurde also nur auf Taten der Funktionäre und Soldaten des 3. Reiches eingeschränkt, wovon das Plädoyer der russischen Staatsanwaltschaft eindeutig zeugt. In der Zusammenfassung ihrer Stellungnahme hat die Staatsanwaltschaft geschrieben: „Damit konnten die Truppen der Roten Armee zur Zeit der im [polnischen] Antrag genannten Ereignisse, aber auch später, den Streitkräften Nazi-Deutschlands oder ihren Verbündeten beim Begehen von Kriegsverbrechen in beliebiger Form, oder auch bei der Teilnahme an Tötungen an der Zivilbevölkerung der Republik [Polen], an Soldaten und Kriegsgefangen der Polnischen Armee, keine Hilfe leisten.“ Die Erschießung von zwei polnischen Offizieren – Kriegsgefangenen – wurde folgendermaßen eingeschätzt: „Angesichts der im [polnischen] Antrag dargestellten Umstände, konnten die Soldaten der Roten Armee nur

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ein gewöhnliches Verbrechen begehen.“21 Die im oben zitierten Fragment verwendete Formulierung: „sowohl während der im Antrag genannten Ereignisse [September 1939], als auch später“ mag die ganze Zeitdauer des Kriegs bedeuten, in der Tötungen, die an der Zivilbevölkerung, Soldaten und Kriegsgefangenen begangen wurden – nach Auffassung der russischen Staatsanwaltschaft – keine Kriegsverbrechen darstellten, wenn sie durch Soldaten der Roten Armee begangen wurden; sie sind wie „gewöhnliche Straftaten“ der Verjährung anheim gefallen. Im Beschluss der Generalmilitärstaatsanwaltschaft vom 11. 02. 2004 wurde die polnische Staatsanwaltschaft informiert, dass die Verjährung „in Bezug auf Offiziere, Soldaten und Mitglieder der nationalsozialistischen Partei Deutschlands und ihre Verbündeten, die Verbrechen gegen den Frieden, die Menschheit und Kriegsverbrechen waren, keine Anwendung findet, weil die Sowjetunion sich von 1943 an zur Führung von Ermittlungen gegen diesen Personen verpflichtet hatte“.22 Grundsätzliche Unterschiede in Stellungnahmen und strafrechtlichen Einschätzungen unter den polnischen und russischen Staatsanwälten in Bezug auf das Katyner Verbrechen wurden während der direkten Gespräche am 04. 08. 2014 im Sitz der Generalmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau bekannt gegeben.23 Die Staatsanwälte des Instituts des Nationalen Gedenkens – der Kommission zur Verfolgung von Ver21 Besprechung dieses Dokuments in: W. Kulesza, Zbrodnia Katyn´ska (Das Katyner Verbrechen)…, S. 65. 22 Die Feststellung begründete die Weigerung, im Ermittlungsverfahren in der Sache der Tötung eines Polen, die durch Funktionäre der UdSRR verübt wurde, Rechtshilfe zu leisten. W. Kulesza, Moz˙ liwos´c´ opracowania aktu oskarz˙ enia sprawców Zbrodni Katyn´skiej. Przesłanki i rzeczywistos´c´ (Die Möglichkeit des Verfassens eines Anklageaktes für Täter des Katyner Verbrechens), [in:] Zbrodnia Katyn´ska. Wina i oskarz˙ enie (Das Katyner Verbrechen. Schuld und Anklage), Zeszyty Katyn´skie Nr. 19, Warszawa 2004, S. 71 f. 23 Die Stellungnahme der Staatsanwälte des Instituts des Nationalen Gedenkens – Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation – stützte sich auf die Annahme, dass die im polnischen Strafrecht und der Rechtsprechung angenommenen Grundsätze zur Aburteilung der Nazi-Täter auch auf Täter des Katyner Verbrechens bezogen werden sollten. Dies bedeutet, dass die Verantwortung für das Verbrechen sowohl diejenigen tragen, die Befehle und Anordnungen erteilt haben, als auch Täter, die die Befehle an andere Mittäter übergeben haben, wie auch diejenigen, die Listen mit Namen der Personen, die erschossen werden sollten, erstellt haben, Begleiter, die Opfer an ihre Richtstätte transportierten, diejenigen, die Opfer an der Richtstätte beaufsichtigten sowie direkte Täter der Tötungen. Um die Täter des Katyner Verbrechens, das nach der Anordnung vom 05. 03. 1940 begangen wurde, zu identifizieren, hat der Justizminister der Republik Polen sich am 27. 08. 2001 an den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation „um die Vorlage der polnischen Seite des Schemas der Überreichung der Entscheidung vom 05. 03. 1940, mit der Angabe der Organisationseinheiten des Volkskommissariats des Innern und anderen, wie auch der personellen Zusammensetzungen, die an der Ausführung der Entscheidung teilgenommen haben“, darunter Funktionäre, die am Transport von Gefangenen an die Richtstätte, an Exekutionen und ihrer Beerdigung teilgenommen haben, gewandt. Die Bitte umfasste auch die nach einer Information, ob lebende Täter des Verbrechens identifiziert worden sind und ob Aussagen von ihnen abgenommen wurden und mit welchem Charakter. Die polnische Bitte wurde durch die russische Seite nicht erfüllt. W. Kulesza, Moz˙ liwos´c´ opracowania aktu oskarz˙ enia… (Möglichkeit, den Anklageakt zu bearbeiten), S. 69.

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brechen gegen die Polnische Nation – haben eine Begründung für die Beurteilung der Ermordung von fast 22.000 polnischen Kriegsgefangenen und Gefangenen in Kategorien des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschheit und des Völkermordes dargestellt. Russische Staatsanwälte haben als Argument zur Sprache gebracht, dass die Anzahl der Ermordeten nicht ausreichend sei, damit man von einem Völkermord sprechen kann, weil in dieser Zeit 240.000 Polen in der Sowjetunion gefangen waren. Die russische Seite hat auf die im Ermittlungsverfahren Nr. 159 gestellten Fragen nach der angenommenen strafrechtlichen Qualifikation des Katyner Verbrechens nicht geantwortet, sie hat auch zur Frage nach dem Einfluss des Militärbefehls und der Anordnung der Staatsgewalt auf die Strafverantwortung der Organisatoren und direkten Täter keine Stellung bezogen. Es wurde dagegen festgestellt, „es sei nicht rational“, zu warten, bis lebende Straftäter vor Gericht gestellt werden. Man hat vorausgesagt, dass das Ermittlungsverfahren gleich zu Ende gehen wird, und es wurde die Übergabe der Kopien von sämtlichen Zighunderten Bänden der Akten deklariert. Über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens (21. 10. 2004) wurde jedoch die polnische Seite nicht informiert, weil, wie dann erklärt wurde, der Inhalt dieses Schlussdokuments, einschließlich seines Titels und des Datums, mit der Klausel „streng geheim“ versehen worden sei. Die mangelnde Perspektive für eine Zusammenarbeit mit der russischen Staatsanwaltschaft war für die polnische Seite eine Hauptursache für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens am 30. 11. 2004 in der Sache des Katyner Verbrechens durch die Staatsanwälte der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation, d. h. in der Sache von Tötungen begangenen an mindestens 21.768 polnischen Bürgern, die dazu begangen worden sind, um einen Teil der nationalen Gruppe zu vernichten. Als Grundlage für die strafrechtliche Qualifikation wurde die Feststellung angenommen, dass das Katyner Verbrechen eine Missachtung der damals geltenden Kriegsrechte und -bräuche und insbesondere der Regelungen der 4. Haager Friedenskonferenz vom 18. 10. 1907 bezüglich der Rechte und Bräuche im Landkrieg sowie der Genfer Konvention vom 27. 07. 1929 bezüglich der Behandlung von Kriegsgefangenen dargestellt hat. Es wurde angenommen, dass das Katyner Verbrechen auch der Einschätzung in Kategorien des Völkermords unterliegt, weil der Plan der sowjetischen Behörden die Erschießung von Gefangenen und die gleichzeitige Deportierung ihrer Familien in die Steppen in Kasachstan vorsah, was in Bezug auf die dort herrschenden Bedingungen, die lebensbedrohend waren, die Extermination der ganzen Gruppe, die von der sowjetische Behörde für „Bürger des ehemaligen polnischen Staates“ gehalten wurden, bedeutete. Die Entscheidung über die Verbannung von 22 – 25 Tausend Familien wurde durch das Politbüro am 02. 03. 1940 getroffen, also drei Tage vor der Unterzeichnung der Anordnung über die Erschießung ihrer Verwandten. In Ausführung dieser Entscheidung wurden 60.000 Personen in die UdSRR deportiert. Als Ziel des polnischen Ermittlungsverfahrens wurde die allseitige Erklärung der Umstände des Katyner Verbrechens, die Bestimmung von Namen sämtlicher polnischer Bürger – Opfer des Verbrechens –, die Bestimmung von Orten ihrer Hinrich-

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tung und Beerdigung, die Erstellung der vollständigen Liste der Personen, denen als Rechtsnachfolgern die Rechte der Geschädigten zustehen, angenommen. Das Ziel des Ermittlungsverfahrens war auch, sämtliche Täter des Verbrechens festzustellen – sowohl diejenigen, die beim Treffen der verbrecherischen Entscheidung und ihrer Vollstreckung, darunter die direkten Vollstrecker, mitgewirkt haben, als auch die Feststellung der Verantwortlichkeit jeder der Entscheidungen in Kategorien des internationalen und polnischen Rechts. Im Laufe des durch die Staatsanwälte der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation geführten Ermittlungsverfahrens wurde eine umfangreiche Dokumentation, darunter eine russische und eine deutsche Dokumentation, zusammengestellt; es wurden auch zirka 3.000 Zeugen vernommen, von denen die meisten Familienangehörige der Ermordeten waren. Die Verwandten der Opfer haben Briefe der in sowjetischen Lagern und Gefängnissen Gefangenen als Beweise vorgelegt – alle haben ausgesagt, dass die letzten Briefe im Frühling 1940 versandt worden waren. Mehrmals hat man sich wegen der Aushändigung von Kopien sämtlicher Akten des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 sowie der Verfügung über seine Einstellung an die Generalmilitärstaatsanwaltschaft Russlands gewandt; man erhielt lediglich die Einwilligung, dass polnische Staatsanwälte sich im Oktober 2005 mit 67 Bänden der Akten ohne Geheimklausel in Moskau vertraut machen konnten, ohne dass es möglich war, Kopien davon herzustellen. 36 Bände wurden mit der Klausel „streng geheim“ versehen und 8 Bände wurden als „nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert. An die Generalmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau und die dortigen Gerichte haben sich Familienangehörige der Opfer des Katyner Verbrechens mit Anträgen auf den Zugang zu Akten des Ermittlungsverfahrens sowie der Verfügung über seine Einstellung, wie auch die Rehabilitation der ermordeten Angehörigen direkt gewandt. Nachdem der staatliche Weg ausgeschöpft worden war, auf dem sie unverändert eine abschlägige Antwort bekamen, haben sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Klage gegen Russland gewandt.

VI. Im Urteil vom 21. 10. 2013 Janowiec und andere gegen Russland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, als Große Kammer beratend, in der Sache der vereinten Klagen (Nr. 55506/07 und 29520/09) von fünfzehn polnischen Bürgern, Familienangehörigen der in Ausführung der Entscheidung vom 05. 03. 1940 ermordeten Opfer, gegen die Russische Föderation, denen die Generalmilitärstaatsanwaltschaft den Zugang zu den Akten des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 und der Schlussbestimmung über seine Einstellung sowie die Übergabe von Unterlagen bezüglich der erschossenen Personen und ihre Rehabilitierung verweigert, entschieden. Die Verweigerung der Aushändigung der Abschrift der Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wurde damit begründet, dass diese streng geheim sei. Ob-

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wohl das russische Militärgericht zugegeben hat, dass Namen der Angehörigen der anklagenden Personen sich in den durch das Volkskommissariat des Innern erstellten Verzeichnissen der Gefangenen in den Lagern in Kozielsk, Starobielsk und Ostaszów befinden, hat es festgestellt, dass „das Katyner Ermittlungsverfahren […] das Schicksal der Personen nicht ermittelt habe“. Die Verweigerung der Rehabilitierung wurde damit begründet, dass im Laufe des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt wurde, welcher Artikel des Strafgesetzbuches von 1926 die Grundlage für die Repressionen dargestellt habe, weswegen es unmöglich war, festzustellen, ob die Personen Opfer einer politischen Repressionen waren; und das Gesetz von 1991 über die Rehabilitierung werde nur in Bezug auf solche Personen angewendet.24 Bezugnehmend darauf haben die Kläger den russischen Behörden vorgeworfen, dass: • sie ihren Pflichten, die sich aus dem Verfahrensaspekt des Art. 2 der Konvention ergeben,25 in dem die Durchführung eines richtigen und wirksamen Ermittlungsverfahrens in der Sache des Todes ihrer Verwandten gefordert wird, nicht nachgegangen sind; • sie historische Tatsachen lange verneint sowie ihnen Informationen über das Schicksal ihrer Verwandten verschwiegen haben, wie auch verächtliche und widersprüchliche Antworten auf Anträge auf Information gegeben haben, was mit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichzusetzen sei und damit gem. Art. 3 der Konvention gesetzwidrig ist.26 Der Europäische Gerichtshof hat sich bei der Analyse der Argumente, die von den Klägern zur Sprache gebracht wurden, mit dem Inhalt der Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 nicht vertraut gemacht, weil die russische Regierung trotz seiner mehrmaligen Forderung es abgelehnt hat, Kopien von diesem Dokument vorzulegen, weil dieses nach dem Landesrecht einen streng geheimen Charakter haben sollte. Es wurde angesprochen, dass „sechsunddreißig Bände der Akten sowie die Verfügung vom 21. September 2004 für ,streng geheime‘ Dokumente zu halten, rechtmäßig gewesen sei, weil sie Informationen über den Geheimdienst, die Gegenspionage und operative Aufklärungstätigkeit umfassten. Es wurde betont, dass die Klassifizierung dieser Unterlagen als geheim durch den Föderativen Sicherheitsdienst und durch das Stadtgericht in Moskau sowie das Höchste Gericht „geprüft und bestätigt“ worden sei. Obwohl der Gerichtshof zu dieser Frage am Ende seines 24 Im Gesetz über die Rehabilitierung vom 18. Oktober 1991 werden politische Repressionen als sämtliche Zwangsmittel, die durch Staatsorgane aus politischen Gründen, darunter Lebens- und Freiheitsstrafe, angewendet werden, im Art. 1 definiert. Das Gesetz bezieht sich auch auf Ausländer, die politischen Repressionen nach dem 7. November 1917 auf dem Gebiet der Russischen Föderation unterzogen worden waren. 25 Art. 2. Recht auf Leben. „1 Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist…“ 26 Art. 3 Verbot der Folter. „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

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Urteils Stellung bezogen hat, wird sie weiter unten am Anfang der Darlegung des Inhalts seiner Entscheidung besprochen.

VII. Der Gerichtshof hat angesichts der Argumentation des Beklagten verzeichnet, dass die russische Nichtregierungsorganisation zum Schutz der Menschenrechte „Memoriał“ einen Antrag, die Schlussbestimmung über das Ermittlungsverfahren von der Geheimhaltung zu befreien, an das Stadtgericht in Moskau gestellt hat. Der Antrag wurde jedoch im Urteil vom 02. 11. 2010 (und dann durch das Höchste Gericht am 26. 01. 2011 in Kraft gehalten) mit folgender Begründung abgewiesen: „Im Ermittlungsverfahren wurden Handlungen zahlreicher hoher Beamter der UdSRR, deren Namen genannt wurden, bekannt gegeben, die einen Machtmissbrauch unter besonders belastenden Umständen, die im Art. 193 – 17 (b) des Strafgesetzbuches der RFSRR erfasst sind, darstellen. Die Strafsache in Bezug auf diese Beamten wurde gemäß Art. 24 § 1 (4) der russischen Strafprozessordnung eingestellt (wegen des Todes der Schuldigen). Was die übrigen Personen angeht, wurde das Verfahren gemäß Art. 24 § 1 (2), (es wurde keine Straftat begangen), eingestellt“ (Abs. 64). Im Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass der Föderative Sicherheitsdienst eine Meinung formuliert habe, auf Grund derer die Generalmilitärstaatsanwaltschaft das Dokument mit der Klausel „streng geheim“ versehen habe, was gemäß den Vorschriften des Gesetzes vom 1993 über das Staatsgeheimnis erfolgte. Der Gerichtshof hat konstatiert, dass die „Landesgerichte keine sachliche Analyse der Behauptungen der Exekutive durchgeführt haben, dass Informationen in der Verfügung über siebzig Jahre lang nach den untersuchten Ereignissen angeblich geheim gehalten werden sollten.“ Gleichzeitig wurde bemerkt: „Es ist nicht einmal sicher, ob das Stadtgericht sich mit der Kopie des durch den Föderativen Sicherheitsdienst verfassten Berichts der Gutachter vertraut gemacht hat“ (Abs. 150). Es wurde betont, dass die russischen Gerichte sich zum Monitum in der Argumentation des Vereins „Memorial“ nicht geäußert haben, in dem angesprochen wurde, dass die Verfügung das Ermittlungsverfahren in der Sache des Massenmordes an unbewaffneten Gefangenen, einer der schwersten Verletzungen der Menschenrechte, die auf Befehl der höchsten sowjetischen Funktionäre begangen wurde, beendet und als solche keiner Geheimhaltung unterlegen habe, wie sich aus Art. 7 des Gesetzes über das Staatsgeheimnis von 199327 ergibt. Der Gerichtshof hat im Weiteren festgestellt, dass das geforderte Dokument „sich auf historische Ereignisse bezogen hat, deren Teilnehmer in den meisten Fällen nicht mehr leben, und das auf irgendwelche polizeilichen Überwachungshandlungen oder andere Maßnahmen auf keinerlei Weise einen Einfluss 27 Der Art. 7 besagt, dass insbesondere Informationen bezüglich der Fälle der Verletzung von Menschenrechten sowie der Verletzung der Rechte durch staatliche Behörden oder staatliche Beamten nicht als Staatsgeheimnis klassifiziert oder geheim gehalten werden können.

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haben konnte“ (Abs. 127). Deswegen hat der Gerichtshof das Argument, dass die Vorlage der erwünschten Kopie der Verfügung vom 21. 09. 2004 einen Einfluss auf die Staatssicherheit Russlands haben könnte, nicht angenommen und hat festgestellt, dass die Regierung Russlands seinen Pflichten, die ihr gemäß Art. 38 der Konvention auferlegt sind, nicht nachgegangen sei (Abs. 150 – 152). Die These, die die kurz zusammengefasste Ausführung abschließt, dass der beklagte Staat die aus Art. 38 der Konvention28 hervorgehenden Pflichten nicht erfüllt habe, wurde von 17 Richtern der Großen Kammer des Gerichtshofes einstimmig angenommen.

VIII. Die Darstellung der Verstehensweise des Gerichtshofes bezüglich des Vorwurfs an die Behörden Russlands, dass sie ihren Pflichten, die aus dem Verfahrensaspekt des Art. 2 der Konvention folgen, nicht nachgegangen seien, weil sie kein richtiges und wirksames Ermittlungsverfahren in der Sache des Todes der Kläger durchgeführt haben, bedarf notwendigerweise einer Kürzung, und es wird nur auf die wichtigsten Aspekte aufmerksam gemacht. Die Kläger haben darauf hingewiesen, dass keine genauen und vollständigen Ausgrabungsuntersuchungen am Ort der Massengräber durchgeführt worden waren, ihnen nicht der Status von Geschädigten im Ermittlungsverfahren zuerkannt wurde und das Ziel des Verfahrens nicht die Feststellung von Tätern der Grausamkeiten sowie ihre Aburteilung war, obwohl zwei hohe sowjetische Funktionäre in den 90er Jahren noch lebten. Die Kläger haben den russischen Behörden auch vorgeworfen, dass sie in Bezug auf 1.803 Personen immer noch von „Vermissten“ statt von Ermordeten sprechen. 29 28

Art. 38. Prüfung der Rechtssache. „Der Gerichtshof prüft die Rechtssache mit den Vertretern der Parteien und nimmt, falls erforderlich, Ermittlungen vor; die betreffenden Hohen Vertragsparteien haben alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren.“ 29 Nach der durch Vertreter der Generalmilitärstaatsanwaltschaft in der Verhandlung am 18. 03. 2009 vor dem Stadtgericht in Moskau abgelegten Erklärung seien die Materialien der 1943 durch die von der auf deutsche Initiative berufenen Gutachter-Kommission in Katyn´ durchgeführten Exhumierung den Akten des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 nicht angeschlossen worden. Die Dokumentation der Arbeiten der Kommission, die 4.243 Leichen polnischer Offiziere exhumiert hat, wurde in dem Buch „Amtliches Material zum Massenmord von Katyn“ veröffentlicht. In der Anlage wurden Namen der Opfer angegeben, die identifiziert worden sind. Die Publikation wurde nicht in die Belege im Nürnberger Prozess aufgenommen und nicht für ein Beleg in Gerichtsverfahren, die gemäß den Vorschriften des Gesetzes von 1991 „Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen“ durchgeführt wurden, gehalten. In der Konsequenz war die Ablehnung der Anträge auf Rehabilitierung der ermordeten polnischen Offiziere mit der Begründung möglich, dass es „keine personellen Entscheidungen über die Anwendung von Repressionen an jedem von den Kriegsgefangenen in der russischen Dokumentation gibt“. A. Gurjanow, Sprawa Katyn´ska w sa˛dach rosyjskich 2007 – 2009 (Die Katyner Sache vor russischen Gerichten 2007 – 2009) [in:]

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Die Frage nach dem Vorwurf über die Unterlassung der Durchführung eines wirksamen Ermittlungsverfahrens vor dem Gerichtshof stützte sich auf die Annahme, dass der Gerichtshof über Kompetenz zur Untersuchung des Inhalts verfügen sollte, obwohl der Akt des im Jahre 1940 begangenen Katyner Verbrechens außerhalb des zeitlichen Rahmens der Konvention von 1950 liegt. Jedoch hat der Akt in Bezug auf seine Größe und sein Gewicht fundamentale Werte, von denen in der Präambel der Konvention die Rede ist, verletzt, und das sollte dem Gerichtshof die Kompetenz ratione temporis zur Einschätzung der Pflicht Russlands, ein wirksames Ermittlungsverfahren durchzuführen, verleihen (Abs. 114, 115). Der Ausgangspunkt für die Formulierung der Stellungnahme durch die Regierung Russlands war die Feststellung, dass der Verstoß gegen Art. 2 de jure nicht bestand, weil die „Katyner Ereignisse“ (so wird das Katyner Verbrechen von der russischen Seite bezeichnet) zehn Jahre vor der Annahme der Konvention am 4. November 1950 und achtundfünfzig Jahre vor ihrer Ratifizierung durch Russland am 5. Mai 1998 stattgefunden hätten. Weil während der „Ereignisse“ die Konvention nicht galt, hat kein „,rechtlich bestehender‘ Verstoß gegen den Art. 2 in seiner materiellen Dimension“ stattgefunden, und nur ein solcher Verstoß könnte die Pflicht Russlands, ein Ermittlungsverfahren durchzuführen, entstehen lassen. Dem Gerichtshof die Zuständigkeit ratione materiae zu verweigern, bedeutete, dass er „das Katyner Massaker nicht als ein ,Kriegsverbrechen‘ unter dem Gesichtspunkt des internationalen humanitären Rechts bezeichnen darf“. Es wurde betont, dass „mindestens“ bis 1945 keine verbindliche Vorschrift des internationalen Rechts bestand, die eine Definition der Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit umfasste oder die die Verantwortung für sein Begehen und seine Verfolgung bestimmte. Es wurde ein fester Standpunkt Russlands betont, dass „die Reichweite des Londoner Statuts“, das Definitionen solcher Verbrechen enthielt, auf Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die Hauptkriegsverbrecher, die zu den europäischen Staaten der Achse [Berlin-Rom-Tokyo] gehörten, begrenzt war. Die Offenheit der Regierung Russlands, die ihre Rechtsansicht über das Katyner Verbrechen unter konsequenter Verwendung des Euphemismus „Katyner Ereignisse“ formuliert hat, und die kategorische Weigerung, eine Qualifizierung dieses Verbrechens auf Grund des internationalen Rechts mit dem Vorbehalt durchzuführen, dass es nur dann möglich wäre, wenn es gelingen würde, Deutsche für das Begehen des Verbrechens zu belasten, sind erstaunlich. Der Gerichtshof hat die russische Position folgendermaßen zusammengefasst: „Die Regierung schlussfolgerte, dass das international Recht, das im Jahre 1940 galt, keine ausreichende Grundlage geliefert habe, um die ,Katyner Ereignisse‘ als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder Völkermord zu bestimmen, es sei denn, es wäre möglich, sie den Hauptkriegsverbrechern der europäischen Achse zuzuschreiben; denn dann fände die Rechtsprechung des Nürnberger Gerichtshofes Anwendung“ (Abs. 110). Dies Zbrodnia Katyn´ska. Naród, Pan´stwo, Rodzina. (Das Katyner Verbrechen. Nation, Staat, Familie) Zeszyty Katyn´skie Nr 24, S. 107.

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bedeutet, dass dann, wenn der russische Plan, das Katyner Verbrechen den Deutschen im Nürnberger Prozess zuzuschreiben, scheiterte, würde die Qualifikation des Katyner Verbrechens als Kriegsverbrechen und gleichzeitig als Verbrechen gegen die Menschheit, das an Bürgern des 1939 besiegten Polens begangen wurde, keine Rechtsvorbehalte erwecken. An dieser Stelle drängt sich die Reflexion auf, dass das zeitgenössische Russland das Londoner Viermächte-Abkommen vom 08. 08. 1945 über die Berufung des Internationalen Militärgerichts sowie das Londoner Statut des Gerichts für eine Quelle der ihm zustehenden historischen und rechtlichen Immunität hält, die die Einschätzung der sowjetischen Massenmorde an polnischen Kriegsgefangenen und die Abtransporte ihrer Familien zur Ausrottung in Kategorien des internationalen Rechts ausschließt. Nach russischer Ansicht sollten die Begriffe der Verbrechen gegen den Frieden, der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit im Statut des Nürnberger Gerichtshofes auch für die Zukunft nur für Verbrechen, die durch das 3. Reich begangen worden sind, reserviert werden. Es ist zu anzumerken, dass die Regierung Russlands von der Tatsache absieht, dass das Katyner Verbrechen die Missachtung der damals geltenden Kriegsrechte und -bräuche und insbesondere der Regelungen der IV. Haager Konvention vom 18. 10. 1907 über Landkriegsrechte und -bräuche sowie der Genfer Konvention vom 27. 07. 1929 bezüglich der Behandlung der Kriegsgefangenen darstellte. Es muss deshalb daran erinnert werden, dass die (deutsche) Verteidigung im Nürnberger Prozess vorgetragen hat, dass man Deutsche wegen der an russischen Kriegsgefangenen begangenen Kriegsverbrechen nicht anklagen dürfe, weil die Sowjetunion vor Ausbruch des Krieges der Genfer Konvention von 1929 über die Behandlung der Kriegsgefangenen nicht beigetreten sei und diese deswegen in den deutsch-russischen Beziehungen keine Anwendung finden könne. Doch der Nürnberger Gerichtshof hat dieses Vorbringen der Verteidigung mit der kategorischen Feststellung abgelehnt, dass es von einem rechtlichen Gesichtspunkt aus völlig unnötig sei, sich an der Analyse eines solchen Arguments zu beteiligen, weil es sich um allgemein geltende Grundsätze des internationalen Gewohnheitsrechts handelte, die neben den Vertragsnormen bestanden; und die letzteren waren in der Tat lediglich niedergeschriebene Gewohnheitsgrundsätze.30 Eine solche Position vertraten auch die russischen Ankläger, wovon die Ausführungen des Staatsanwalts Pokrowski zeugen, der die deutschen Verbrechen an russischen Soldaten vor dem Nürnberger Gerichtshof dargelegt hat und dabei feststellte: „Auf diese Weise wurde der bolschewistische Soldat um sein Recht auf Behandlung wie ein richtiger Soldat gemäß den Grundsätzen der Genfer Konferenz gebracht“.31 30 T. Cyprian, J. Sawicki, Prawo Norymberskie. Bilans i perspektywy (Nürnberger Recht. Bilanz und Perspektiven). Warszawa – Kraków 1948, S. 279. A. Streim, Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Dokumente 1941 – 1945, Heidelberg 1982, S. 179 f. 31 Trial…, Vol. VII, S. 424.

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Der Eindruck, dass Russland sich das Recht auf eine besondere Immunität anmaßt, die die Einschätzung des Katyner Verbrechens in Kategorien des internationalen Rechts ausschließt, wird bei der Lektüre der weiteren Fragmente des Urteils des Europäischen Gerichtshofes immer stärker. Die russische Regierung hat bekannt gegeben, dass „das Ermittlungsverfahren im Hinblick auf eine Straftat gemäß Art. 193 – 17 (b) des Strafgesetzbuches der RSRR von 1926 auf Landesebene in Gang gesetzt war“, d. h. in der Sache einer Machtüberschreitung, die ernste Konsequenzen nach sich zog, die zudem unter die strafverschärfenden Umständen begangen wurde, die aber nach Ablauf von zehn Jahren verjährte. Sowohl die Verjährung als auch die Tatsache, dass „Offiziere des Volkskommissariats des Innern vor der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gestorben sind“, stellten nach dem Landesrecht getrennte Rechtsgrundlagen dar, die die Einleitung oder Führung eines Strafverfahrens gegen sie unmöglich macht. Die Regierung Russlands hat betont, dass das Ermittlungsverfahren in der Strafsache Nr. 159 „unter Verletzung der Anforderungen eines Strafverfahrens, aus politischen Gründen, als eine Geste des guten Willens den polnischen Behörden gegenüber“ geführt worden sei (Abs. 109). Auch auf Antrag der polnischen Behörden haben russische Ermittlungsbeamte die Analyse – wie es hieß – der „Version über den Völkermord“ vorgenommen und „stellten fest, dass es zum Begehen eines solchen Verbrechens nicht gekommen ist, weil die Verdächtigten eher lediglich aus kriminellen Motiven handelten und nicht die Absicht hatten, eine nationale, ethnische, Rassen- oder religiöse Gruppe vollständig oder teilweise auszurotten (nach des Definition des Art. 2 oder 3 der Konvention über die Vorbeugung und Bestrafung der Völkermordes vom 9. Dezember 1948“ (Abs. 110). Es wurden jedoch keine Namen der Verdächtigten angegeben; obwohl sie, wie man vermuten kann, in der Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens genannt worden sind, sollten sie „streng geheim“ bleiben, wie das ganze Dokument, dessen Kopie der Gerichtshof vielmals und erfolglos anforderte.32 Es ist daher unmöglich, den Gedankengang der russischen Ermittlungsbeamten zu untersuchen, der sie zu dem Schluss brachte, dass der Erlass und die Vollstreckung der Anordnung vom 05. 03. 1940 nur eine Landesstraftat des Machtmissbrauchs und kein Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts dargestellt haben. In Bezug auf den Vorwurf über die Nichterfüllung der Verfahrenspflicht bezüglich der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, die aus Art. 2 der Konvention hervorgeht, hat die Regierung Russlands wiederholt, dass das Ermittlungsverfahren in der Strafsache Nr. 159 aus Rechtsgründen nicht durchgeführt worden war, weil die Verjährung des Verbrechens (nach zehn Jahren), das in einer Machtüberschrei32 Überzeugend begründet der Vertreter des „Memorials“ A. Gurjanow, dass es wahrscheinlich ist, dass die Generalmilitärstaatsanwaltschaft Stalin als Verdächtigten in der Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht aufgenommen hat, sondern den Kreis der wegen „Machtmissbrauchs“ verdächtigten Personen auf Beria und „drei“ Ausführende der Anordnung vom 05. 03. 1940 – Mierkułow, Kobułow und Basztakow – eingeschränkt und dann festgestellt hat, dass die von ihnen begangene Straftat nach 10 Jahren verjährt ist. A. Gurjanow, Sprawa Katyn´ska…, S. 107.

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tung bestand, sowie der Tod der Verdächtigen wesentliche Rechtshindernisse für die Einleitung und Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens dargestellt hätten. Es wurde wiederholt, dass das Ermittlungsverfahren „aus politischen Gründen als Geste des guten Willens geführt wurde“ und es deswegen aus der Perspektive der Verfahrensanforderungen des Art. 2 der Konvention nicht beurteilt werden könne. Es wurde auch unterstrichen, dass nur die Ereignisse, die nach der Annahme der Konvention vom 5. Mai 1998 durch Russland stattgefunden haben, irgendwelche Verfahrenspflichten hervorrufen konnten, und gleichzeitig wurde festgestellt, dass man von den russischen Behörden die Durchführung eines effizienten Ermittlungsverfahrens achtundfünfzig Jahre nach den Ereignissen rational nicht erwarten konnte, wenn die Zeugen schon gestorben und die wichtigsten Dokumente schon vernichtet worden sind33 (Abs. 111). Es ist zu anzumerken, dass in dieser Ausführung verschwiegen wurde, dass das erste russische Ermittlungsverfahren im Januar 1944 begann und in demselben Monat Exhumierungsarbeiten von 925 Leichen in Katyn´ hätten durchgeführt werden sollen und die Ergebnisse dieses Ermittlungsverfahrens, in dem die Verantwortung für das Verbrechen fälschlich den Deutschen zugeschrieben wurde, von Staatsanwalt Pokrowski am 14. 02. 1946 dem Nürnberger Gerichtshof folgendermaßen dargestellt wurden: Sie sollten „Ergebnisse der Feststellungen und der Untersuchung des Verbrechens im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gemäß der Richtlinie der Sonderstaatskommission der Sowjetunion, die sich aus folgenden Mitgliedern: Akademiker Burdenko, Aleksy Tołstoj und Metropolit Mikołaj zusammensetzte“, darstellen.34 In der Frage der Entstehung einer Verfahrenspflicht, d. h. der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens hat die russische Regierung den Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sie keine zeitliche Zuständigkeit besitze, eine solche Frage zu analysieren und die Todesumstände zu untersuchen, die eine solche Pflicht in Gang setzen könnten, weil die Tatsache des Todes vor dem Datum der Annahme der Konvention durch Russland – 05. 05. 1998 – stattgefunden habe. Die Verfahrenspflicht müsse eingeschränkt werden, um „eine schwer voraussehbare Erweiterung der Zuständigkeit des Gerichtshofes und des Umfangs der Konvention“ (durch Rückgriff in die Vergangenheit) zu vermeiden. Deswegen müsse die Zeit ab dem Tod „relativ kurz sein, und dies war sie nicht in der vorliegenden Sache“. Der Einschätzung nach könne auch ein Ermittlungsverfahren der Regelung unterfallen, in dem die meisten Tätigkeiten nach dem Datum der Ratifizierung unternommen worden seien; und im Ermittlungsverfahren in der Sache der „Katyner Ereignisse“ seien die wichtigsten Prozessschritte in den Jahren 1990 bis 1995 unternommen worden, aber es sei kein relevantes, neues Material nach der Ratifizierung zum Vorschein gekommen. In einer Schlussfolge33

Über die Vernichtung von Dokumenten bezüglich der Exekution von 21.857 Kriegsgefangenen und anderen Personen „aus dem ehemaligen bürgerlichen Polen“ hat das KGB (Das Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR) im Schreiben vom 5. März 1959 an Chruszczow informiert. Das Schreiben wurde am 28. 04. 2010 unter Vermittlung der Internetseite der Staatsarchive der Russischen Föderation offiziell bekannt gegeben. 34 Trial…, Vol. VII, S. 428.

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rung wurde festgestellt, dass der Gerichtshof weder über eine ratione temporis noch ratione materiae Zuständigkeit zur Einschätzung der „Katyner Ereignisse“ aus der Perspektive des internationalen humanitären Rechts verfügte (Abs. 112, 113).

IX. Der Gerichtshof hat seine Überlegungen mit der Untersuchung begonnen, ob seine temporale Zuständigkeit für eine Analyse des Kernpunkts der Klage gegen die russische Regierung wegen der Nichterfüllung der Verfahrenspflicht gemäß Art. 2 der Konvention, ein wirksames Ermittlungsverfahren durchzuführen, gegeben ist. Der Gerichtshof ging davon aus, dass die Bestimmungen der Konvention für die Parteien zum Zeitpunkt des Aktes vor dem „Grenzdatum“, also vor der Konvention, nicht bindend seien. Die temporale Zuständigkeit des Gerichtshofes umfasst Tätigkeiten und Unterlassungen der Verfahrensart, die nach dem Inkrafttreten der Konvention gegenüber der angeklagten Regierung zu Stande gekommen sind oder gekommen sein sollten. Dabei wurde angedeutet, dass der Gerichtshof in vielen Sachen entschieden habe, in denen „die Tatsachen selbst, die sich auf den materiellen Aspekt des Art. 2 oder 3 beziehen, außerhalb seiner temporalen Zuständigkeit blieben, während die Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensaspekt, d. h. dem späteren Verfahren, mindestens teilweise dem Bereich seiner Zuständigkeit unterfielen.“35 (Abs. 131). Von besonderer Bedeutung ist die durch den Gerichtshof formulierte Definition der „Tätigkeiten der Verfahrensnatur“, die dem Staat obliegen – wobei „unter dem Begriff einer ,Tätigkeit der Verfahrensnatur‘ Tätigkeiten [gemeint sind], die mit der aus Art. 2 oder (je nach der Art der Sache) Art. 3 der Konvention hervorgehenden Verfahrenspflicht untrennbar verbunden sind, das heißt solche, die im Rah35 An dieser Stelle seiner Ausführungen hat der Gerichtshof auf sein Urteil in der Sache Sˇ ilih gegen Slowenien Nr. 71463/01 vom 9. April 2009 hingewiesen, in dem es eine Beschreibung der Rechtsprechung, die sich auf die Frage der temporalen Zuständigkeit bezieht, gibt. Im Urteil wurde angenommen, dass im Falle des Todes die temporale Zuständigkeit des Gerichtshofes vor dem Datum der Ratifizierung, d. h. dem „Grenzdatum“, nur die Verfahrenstätigkeiten und Unterlassungen des Staates umfassen könne, die nach dem Datum zustande gekommen seien. Es müsse dabei einen „tatsächlichen Zusammenhang“ zwischen dem Tod und der Annahme der Konvention durch den Staat geben. Es wurde bestimmt, dass „der tatsächliche Zusammenhang“ dann gegeben ist, wenn die Zeit vom Tod bis zum Grenzdatum relativ kurz ist, d. h. nicht mehr als 10 Jahre vergangen sind. Die temporale Zuständigkeit des Gerichtshofes umfasst nur den grundlegenden Teil des Ermittlungsverfahrens, der nach der Annahme der Konvention durch den Staat durchgeführt wurde oder durchgeführt werden sollte. Dies bedeutet, dass der Gerichtshof das Ermittlungsverfahren in der Sache einer Tötung nicht beurteilt, wenn sowohl der Akt, als auch der Hauptteil des Ermittlungsverfahrens vor der Ratifizierung der Konvention durch den Staat stattgefunden haben. In einem Sonderfall, wenn es keinen „tatsächlichen Zusammenhang“ gibt, kann der Gerichtshof seine Zuständigkeit, die sich auf die Notwendigkeit der Sicherung stützt, dass die Garantien und Werte, die der Konvention zu Grunde liegen, tatsächlich und wirksam angewendet und beachtet werden, ausnahmsweise annehmen (sog. „humanitäre Klausel“) (Abs.133).

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men eines Straf-, Zivil-, Verwaltungs- oder Disziplinarverfahrens unternommen worden sind, das zur Aufdeckung und Bestrafung von Tätern oder zur Gewährung der Entschädigung an die geschädigte Partei führen sollte“. Im Weiteren wurde Folgendes ausgeführt: „Die Definition hat zum Ziel, andere Tätigkeiten, die zu anderen Zwecken unternommen werden könnten, zum Beispiel, um die historische Wahrheit festzustellen, auszuschließen“ (Abs. 143). Der Satz scheint für das Urteil des Gerichtshofes von entscheidender Bedeutung zu sein, weil er die Unterlassung von Forschungen danach, was eine historische Wahrheit in der Sache der Katyner Verbrechen ist, außerhalb des Begriffs der „Tätigkeiten der Verfahrensnatur“ stellt, die im Bereich der temporalen Zuständigkeit des Gerichtshofes bleiben. Der Gerichtshof hat weiterhin festgestellt, dass „die Russische Föderation die Konvention am 5. Mai 1998 ratifiziert hat, also 58 Jahre nach der Erschießung der Verwandten der Kläger“, was dazu führt, dass die Zeit, die vom Tod bis zum Grenzdatum vergangen ist, „für die Bestimmung eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen dem Tod der Verwandten der Kläger und dem Inkrafttreten der Konvention gegenüber Russland zu lang ist“ (Abs. 157). Im Folgenden wurde daran erinnert, dass das Ermittlungsverfahren in der Sache der Massengräber im Jahre 1990 eingeleitet worden sei und „auch wenn die russische Regierung sich auf einen Verfahrensfehler im Zusammenhang mit der Einleitung des Verfahrens bezieht, hätte doch das Ermittlungsverfahren mindestens theoretisch zur Aufdeckung und Bestrafung von Tätern führen sollen“ (Abs. 158). Als solches „gehörte es gemäß Art. 2 der Konvention zum Bereich der ,Verfahrenshandlungen und -unterlassungen‘.“ Sämtliche wichtigen Verfahrensschritte wie die Exhumierung von Leichen aus Massengräbern in Charków, Miednoje und Katyn´, die durch Gutachter durchgeführten Untersuchungen, die Vernehmungen „potentieller“ Zeugen der Exekutionen, Arbeitstreffen unter Teilnahme von russischen, polnischen, ukrainischen und weißrussischen Behörden haben vor dem Grenzdatum, d. h. vor der Ratifizierung der Konvention durch Russland stattgefunden. Nach der Ratifizierung am 05. 05. 1998 hingegen „wurden keine wirklichen Verfahrensschritte unternommen“, die notwendig wären, um festzustellen, dass es einen „wirklichen Zusammenhang“ zwischen ihnen und dem Tod von Personen, deren Verwandte sich an den Gerichtshof mit einer Klage gegen Russland gewendet haben, gibt. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eine neue Einschätzung der Belege, andere Schlussfolgerungen als die vorherigen oder die Entscheidung über die Geheimhaltung eines Teils der Akten des Ermittlungsverfahrens Nr. 159 „sich nicht als wichtige Teile der Verfahrensschritte qualifizieren“ (Abs. 159). Außerdem – worauf hingewiesen wurde – ist weder ein wesentlicher Beleg zum Vorschein gekommen noch wurde eine für die Sache wesentliche Information bekannt gemacht. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof festgestellt, dass man keinen „tatsächlichen Zusammenhang“ dessen, was im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nach der Ratifizierung

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der Konvention stattgefunden hat, mit dem primären Ereignis als eine Bedingung für seine temporale Zuständigkeit feststellen kann36 (Abs. 160). In einem anderen Teil der Ausführungen hat der Gerichtshof erwogen, ob ein Absehen vom Erfordernis „des tatsächlichen Zusammenhangs“ durch die Anwendung des Wertestandards der Konvention berechtigt wäre. Dies ist möglich, wenn das Ereignis, das eine Pflicht verursacht, ein effizientes Ermittlungsverfahren zu führen, einen viel breiteren Umfang als eine einfache Tat, für deren Begehung eine Strafe droht, hatte, wie auch, wenn es mit den Grundlagen der Konvention im Widerspruch war. Es wurde im Weiteren präzisiert, dass „für solche Ereignisse ernste Verbrechen gegen das internationale Recht, wie Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit anzunehmen sind“. (Abs. 150). Die Verbrechen können nach dem internationalen Recht keinen Vorschriften des Landesrechts über die Verjährung ihrer Strafbarkeit unterzogen werden. Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass das „Wertekriterium der Konvention“ für Ereignisse, die vor der Annahme der Konvention am 4. November 1950 stattgefunden haben, keine Anwendung finden könne, weil erst ab diesem Moment ihre Existenz als ein internationaler Vertrag über Men36 Die Kritik dieser Feststellung wurde in dem gemeinsamen votum separatum von 4 Richtern formuliert, die besagte, dass das Ermittlungsverfahren Nr. 159 bis zum Erlass einer Einstellungsverfügung im Jahre 2004 gedauert habe und durch diese Zeit wesentliche Mängel aufgewiesen, Widersprüchlichkeiten enthalten habe und ganz im Geheimen zu Ende gegangen sei. Die willkürliche Behauptung der russischen Behörden, dass das Ermittlungsverfahren „aus politischen Gründen als eine Geste des guten Willens gegenüber den polnischen Behörden“ ohne Rechtsgrundlage geführt worden sei, wurde als „nicht zu verteidigen“ bezeichnet. Genauso willkürlich war die Verweigerung der Rehabilitierung der Opfer des Verbrechens. Das Vorgehen der russischen Behörden habe die Anforderungen des Art. 2 der Konvention nicht erfüllt. Es wurde unterstrichen, dass das Argument der russischen Regierung, dass in der Zeit, in der das Kriegsverbrechen begangen worden sei, keine bindenden Vorschriften des internationalen humanitären Recht bestanden hätten, die eine Definition der Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit enthielten, nicht angenommen werden könne. In der damaligen Zeit galt das internationale Gewohnheitsrecht, das in der IV. Hager Konvention von 1907 sowie der Genfer Konvention von 1929 kodifiziert wurde. Die Vernichtung der polnischen Kriegsgefangenen im Jahre 1940 stellte einen Verstoß gegen das Verbot der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit dar. Der russische Staat war verpflichtet, das Verbrechen und seine Täter zu verfolgen. Die Pflicht hat keine zeitliche Begrenzung, weil Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit der Verjährung nicht anheim fallen. Dabei wurde betont, dass Staatsorgane irgendeinem Bestehen eines Zusammenhangs oder der Verantwortung für das Katyner Verbrechen über 40 Jahre lang widersprochen haben. Es wurde betont, dass „das Recht auf Wahrheit eine lebendige Garantie gegen die Wiederverletzung ist und die gemeinsame Erinnerung der Betroffenen schützt, was einen Teil ihres Erbes darstellt“. In der Zusammenfassung wurde festgestellt, dass der Gerichtshof in der analysierten Sache seine Gerichtsbarkeit ratione temporis in Bezug darauf anzuerkennen habe, dass es „einen tatsächlichen Zusammenhang“ gab, über den im Urteil von Sˇ ilih die Rede ist. Dabei wurde festgestellt, dass die Sache von Sˇ ilih den Tod, der ein Ergebnis eines medizinischen Fehlers gewesen sei, betroffen habe, während die analysierte Sache den Mord von über 21.000 polnischen Kriegsgefangenen betreffe. Der Bemerkung wurde noch hinzugefügt, dass die die Rechtsprechung des Gerichtshofes regelnden Grundsätze für sämtliche Sachen dieselben sein sollten. Vgl. getrennte Stellungnahme der Richter Ziemele, De Gaetano, Laffranque und Keller, Abs. 4 bis 29.

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schenrechte begonnen habe (Abs. 151). Eine Behauptung von besonderer Bedeutung für das Urteil des Gerichtshofes wurde im folgenden Satz aufgestellt: „Die vertragsschließende Partei kann auf Grund der Konvention für die Nichtdurchführung eines Ermittlungsverfahrens in der Sache sogar der ernsten Verbrechen des internationalen Rechts, wenn sie vor der Annahme der Konvention stattgefunden haben, nicht verantwortlich sein.“ (Abs. 151). Nach dieser Feststellung wurde darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof das gegen Russland angesprochene Argument, dass „manche Staaten auch jetzt die Täter der während des 2. Weltkrieges begangenen Kriegsverbrechen verurteilt haben“, verstehe. Er hat jedoch einen „fundamentalen Unterschied“ zwischen der Möglichkeit, jemanden für ein schweres Verbrechen gegen das internationale Rechte, soweit es die Umstände zulassen, unter Anklage zu stellen, und einer solchen Verpflichtung gemäß der Konvention betont (Abs. 151). Auf diese Weise hat der Gerichtshof festgestellt, dass auf Russland, das erst am 5. Mai 1998 die Konvention angenommen hat, keine konventionelle Pflicht laste, mit vor diesem Datum begangenen Verbrechen in Form von Ermittlungsverfahren abzurechnen. Im Schlussantrag zu den Ausführungen wurde festgestellt, dass es in dieser Sache kein Element gegeben habe, das als eine Brücke, die die weite Vergangenheit mit der letzten Periode, die ab dem Inkrafttreten der Konvention datiert wird, verbindet, gegenüber Russland als dem beklagten Staat dienen könnte. Im Stimmenverhältnis dreizehn zu vier hat der Gerichtshof festgestellt, dass er nicht berechtigt sei, der gemäß dem Art. 2 der Konvention angestrengten Klage stattzugeben.37

X. Der zweite Vorwurf der Kläger gegen den beklagten Staat bestand darin, dass die langandauernde Verneinung der historischen Tatsachen sowie die Unterschlagung von Informationen über das Schicksal ihrer Verwandten, wie auch verächtliche und widersprüchliche Antworten der russischen Behörden auf ihre Anträge auf In37 In dem votum separatum wurde darauf hingewiesen, dass die analysierte Sache sich vorzüglich geeignet habe, die im Urteil von Sˇ ilih genannte „humanitäre Klausel“ anzuwenden. Die Klausel ließ dem Gerichtshof die Möglichkeit, seine Zuständigkeit in Sachen bezüglich einer schweren Verletzung von Menschenrechten anzuerkennen, also in Bezug auf solche Ereignisse, die Tatbestände der Kriegsverbrechen, des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschheit erfüllen. Die Behauptung des Gerichtshofes, die Klausel solle in Bezug auf Ereignisse, die vor der Annahme der Konvention am 4. November 1950 stattgefunden haben, nicht angewendet werden, erregte Widerspruch. Eine solche Interpretation der „humanitären Klausel“ verschließe den Weg des Verfahrens vor dem Gerichtshof für alle Opfer aller schweren Verletzungen von Menschenrechten, die vor der Bearbeitung der Konvention stattgefunden haben. Es wurde betont, dass es heutzutage „deutlich akzeptiert wird, dass interessierte Staaten eine Verfahrenspflicht haben, Tatsachen festzustellen, Täter aufzufinden und sie zu bestrafen“. Da der Gerichtshof keine „humanitäre Klausel“ in der analysierten Sache angewendet hat, wurde sie um ihre „humanitäre Wirkung“ gebracht und ihre Bedeutung für die Zukunft gleichzeitig geschwächt. Vgl. dazu die getrennte Stellungnahme der Richter Ziemele, De Gaetano, Laffranque und Keller, Abs. 30 – 35.

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formationen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellten, die mit Art. 3 der Konvention nicht übereinstimmten.38 In der Begründung der Klage wurde erwähnt, dass russische Behörden historische Tatsachen bestritten hätten, indem sie Ermordete für „Vermisste“ gehalten hätten, was bei den Klägern empfindliches Leid, Schmerz und Stress hervorgerufen habe. Die Behauptung der russischen Staatsanwälte, dass man nicht ermitteln könne, „was für eine Vorschrift des Strafgesetzbuches die Rechtsgrundlage dargestellt hat, [polnische] Gefangene zur Verantwortung zu ziehen“, war im Grunde genommen eine benachteiligende Mutmaßung, dass die Opfer Täter waren, die rechtmäßig zur Todesstrafe verurteilt worden wären. Es wurde eine Aussage eines Staatsanwalts im Rehabilitierungsverfahren vor dem Moskauer Gericht erwähnt, dass es Gründe für eine solche Behandlung gegeben habe, weil manche polnische Offiziere „Spione, Terroristen und Saboteure“ waren39 (Abs. 174). Die Kläger betonten, dass ihr moralisches Leid nicht als ein Leid zu qualifizieren sei, das Tötungen als solche begleitet, sondern es habe sich aus der Behandlung durch die russischen Behörden ergeben. In ihrer Antwort auf die Vorwürfe hat die Regierung Russlands festgestellt, dass das Schicksal der polnischen Kriegsgefangenen und Gefangenen mit der Sicherheit, die in einem Strafverfahren oder einem „Rehabilitierungsverfahren“ gefordert werde, nicht ermittelt werden könne, weil es keine ausreichenden Belege gegeben habe, um einen Kausalzusammenhang zwischen den „Katyner Ereignissen“ und dem Tod der Verwandten der Kläger festzustellen. Trotzdem seien sich die Familienangehörigen der polnischen Kriegsgefangenen dessen nicht unsicher gewesen, ob ihre Nächsten immer noch am Leben sind, weil es „unvernünftig wäre, zu erwarten“, dass sie bis zum 5. Mai 1998, d. h. bis zur Ratifizierung der Konvention, noch lebten, wenn man ihre Geburtsdaten und die mangelnden Informationen über sie seit dem 2. Weltkrieg berücksichtigt. Das Leid der Kläger wurde als „unabdingbar von den Verwandten der Personen gespürt, die zu den Opfern der ernsten Verletzungen gegen Menschenrechte geworden wären“, festgestellt und es sei durch „zusätzliche Faktoren“ nicht vergrößert worden. Die Regierung hat festgestellt, dass russische Gerichte historische Realitäten nicht verneinten, sondern „lediglich auf mangelnde ausreichende Belege hingewiesen [haben], die die Feststellung der Umstände des Todes 38

Art. 3 der Konvention lautet: „Keiner darf Folter unterzogen oder unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden.“ 39 Die Verweigerung der Rehabilitierung der Personen, deren Leichen in Folge der deutschen Exhumierung 1943 in Katyn´, sowie derjenigen, deren Leichen während der Exhumierung 1991 in Miednoje identifiziert worden waren, die unter Beteiligung der russischen und polnischen Staatsanwälte durchgeführt wurde, wurde während der Gerichtsverhandlung vor dem Stadtgericht am 22. 01. 2009 in Moskau damit begründet, dass die Bestimmung der Personaldaten in Folge der Exhumierung von Massengräbern der Personen nicht davon zeuge, dass „den identifizierten Personen politische Repressionen zugefügt worden waren“. Der Richter hat im Weiteren festgestellt, dass „das Loch im Schädel durch eine Kugel vom Bedienen der Schusswaffe, aber nicht unbedingt von der Erschießung eines Menschen als politische Repression zeugt“. Das Argument, dass sich in jedem der dort entdeckten Gräber mindestens einige Hundert Leichen befanden und alle durchschossene Schädel hatten, wurde vom Richter unbeantwortet gelassen. A. Gurjanow, Sprawa Katyn´ska…, S. 105 – 106.

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der Familienangehörigen der Kläger ermöglichen.“ Die russische Regierung hat abschließend festgestellt, dass sie weder gewollt habe, historische Tatsachen zu entstellen, noch Kläger in irgendeiner Form einer erniedrigenden Behandlung zu unterziehen (Abs. 169 – 171). Der Gerichtshof hat wiederholt, dass seine temporale Zuständigkeit sich in der analysierten Sache lediglich auf den Zeitraum vom 5. Mai 1998, d. h. vom Inkrafttreten der Konvention gegenüber Russland, erstrecke. Dann hat er festgehalten, dass man nicht feststellen könne, dass nach dem Datum eine dauerhafte Unsicherheit in Bezug auf das Schicksal polnischer Kriegsgefangener geherrscht habe. Obwohl nicht alle Leichen exhumiert wurden, wurde doch ihr Tod durch sowjetische und russische Behörden öffentlich anerkannt und dadurch wurde er zu einer festgehaltenen historischen Tatsache. Die Kläger waren sich des Todes ihrer Verwandten sicher, deswegen befanden sie sich nicht in einem langen Zeitraum der Unsicherheit bezüglich des Schicksals der vermissten Personen. Das Wesen des Verstoßes gegen den Art. 3 der Konvention hingegen sei ein geringschätziges Verhalten und eine entsprechende Einstellung der Landesbehörden den Verwandten gegenüber, eine dauerhaft und gefühllos mangelnde Beachtung der Pflicht, das Schicksal der vermissten Personen festzustellen und Informationen zu erteilen. In der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofes wurde angenommen, dass das Leid der Angehörigen der Familien einer „vermissten Person“, das aus den für einen langen Zeitraum miteinander verflochtenen Hoffnungen und Verzweiflungen entsteht, die Feststellung über den Verstoß des Art. 3 der Konvention durch Landesrecht begründen könne, wenn die Behörden sich auf Anträge auf Erteilung von Informationen gefühllos zeigen. Der Gerichtshof hat betont, er stelle die tiefe Trauer und den Schmerz, die die Kläger in Folge der außergerichtlichen Exekutionen der Mitglieder ihrer Familien erfahren haben, nicht in Frage. In der analysierten Sache könne der Gerichtshof jedoch nicht feststellen, dass das Leid der Kläger einen anderen Charakter erreicht habe als der emotionale Schmerz, der als ein für Verwandte der Opfer einer schweren Verletzung von Menschenrechten unabdingbar gespürter Schmerz gehalten werden könne (Abs. 185 – 188). Der Gerichtshof hat mit einem Stimmenverhältnis zwölf zu fünf Stimmen festgestellt, dass es nicht zu einem Verstoß gegen den Art. 3 der Konvention gekommen sei.

XI. Die im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte präsentierte Stellungnahme Russlands deutet darauf hin, dass der Staat keine rechtliche Abrechnung mit der totalitären Vergangenheit vorgenommen hatte. Wegen der Feststellung, dass das Katyner Verbrechen auf Befehl der höchsten sowjetischen Behörde begangen worden ist, hat man aktuell auf seine Qualifizierung in Kategorien des internationalen Rechts verzichtet und keine Verantwortung der Leiter und Vollstrecker festgestellt. Die sowjetischen Staatsanwälte haben im Nürnberger Prozess den Deut-

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schen die Begehung des Katyner Verbrechens fälschlich vorgeworfen und versucht davon zu überzeugen, dass das Verbrechen eines der schwersten Formen von Kriegsverbrechen dargestellt habe. In dem in den Jahren 1991 – 2004 durchgeführten russischen Ermittlungsverfahren wurde angenommen, dass die Ermordung von fast 22.000 polnischen Bürgern – Kriegsgefangenen und Gefangenen, die nach der Besetzung des östlichen Teils Polens im Jahre 1939 verhaftet wurden – eine Straftat war, die in einer Machtüberschreitung bestand, die dann aber verjährte. Auf diese Art und Weise wurde eine rechtliche Relativierung und Verminderung des Unrechtsgehaltes des Katyner Verbrechens vorgenommen. Ein Teil des Ermittlungsverfahrens sowie die Verfügung über seine Einstellung wurde mit der Klausel „streng geheim“ versehen. Die Verweigerung der Rehabilitierung der Opfer wurde damit begründet, dass es keine ausreichenden Informationen davon gebe, dass die Ermordung einer konkreten Person einen Akt der politischen Repressionen dargestellt habe. Im Urteil vom 21. 10. 2013 hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass das zeitgenössische Russland im Lichte der Bestimmungen der Konvention weder die Pflicht hatte, ein effizientes Ermittlungsverfahren in der Sache der Katyner Verbrechen durchzuführen, noch dass es gegen das Verbot der erniedrigenden Behandlung der Verwandten der Opfer dieses Verbrechens verstoßen hat, indem es ihnen den Zugang zu den Akten des Ermittlungsverfahrens und die Rehabilitierung der Erschossenen verweigert hatte. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass das Ziel des Strafverfahrens als Verfahrenspflicht des Staates keine Bestimmung der historischen Wahrheit sei. Der Gerichtshof hat als generellen Grundsatz angenommen, dass er keine Kompetenzen habe, die Pflichten der Staaten zu untersuchen, Ermittlungsverfahren in Sachen der vor der Annahme der Konvention am 4. November 1950 begangenen Verbrechen durchzuführen. Auf diese Weise hat der Gerichtshof seine Rolle als das „Gewissen Europas“ eingeschränkt und „in der Sache der abscheulichsten Verletzungen von Menschenrechten die langandauernde Suche nach der Gerechtigkeit durch die Kläger mit seinem Urteil in eine Dauerverweigerung der Gerechtigkeit geändert“, wie im abweichendem Votum zu seinem Urteil festgestellt wurde.40 Zum Schluss ist zu betonen, dass der Gerichtshof die Frage nach der kollektiven Erinnerung an Verbrechen des 2. Weltkrieges, die heutzutage ein durch das Strafrecht geschütztes Gut in europäischen Ländern ist, ganz außer Acht gelassen hat.41

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Separate Meinung der Richter Ziemele, De Gaetano, Laffranque und Keller, Abs. 34, 36. Über die Strafbarkeit der „Katyner Lüge“ im polnischen Strafrecht W. Kulesza, Auschwitz-Lüge [in:] J. C. Joerden, U. Scheffler, A. Sinn, G. Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft. Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag. Berlin 2009, S. 340 f. Über die kollektive Erinnerung als strafrechtliches Schutzgut, vgl. S. M. Matouschek, Erinnerungsstrafrecht. Eine Neubegründung des Verbots der Holocaustleugnung auf rechtsvergleichender und sozialphilosophischer Grundlage, Berlin 2012, S. 130 ff. 41

The First Humboldtian Research Trip into the Polis J. L. Tellkampf in the United States 1838 – 1847 James R. Maxeiner1 Notwithstanding its support for social science, the Alexander von Humboldt Foundation is better known for its support for natural science. So too is its namesake, Alexander von Humboldt. Older brother Wilhelm is the Humboldt known for the science of government. Younger brother, Alexander, although an important player in the Polis of Prussia in the middle 19th century, is remembered for his Kosmos. He should be better known for the Polis as well. Professor Keiichi Yamanaka is a scientist of the Polis. So, too, am I. Thanks to the generosity of the Alexander von Humboldt Foundation in supporting work in law, I have had the honor and pleasure of knowing Professor Yamanaka for more than thirty-five years. In 1980 the Humboldt Foundation brought both of us to Munich to study German law. Professor Yamanaka researched Strafrecht (criminal law) and I studied Wirtschaftsrecht (in particular, antitrust law). We shared then and do now, an overriding interest in legal methods and the Rechtsstaat, particularly as they are informed by historical experiences.2 Ironically, in Munich, we met each other not in a research institute, or in a seminar in legal science, such as those our dear departed colleagues Professors Arthur Kaufmann (1923 – 2001) and Wolfgang Fikentscher (1928 – 2015) bestowed upon us, but in a tutorial in the German language specially established by the Humboldt Foundation for us and two other jurists. Our two colleagues in that class were from then Communist Poland: Andrzej Wa˛sek (1943 – 2003) and Sławomira Wronkowska-Jas´kiew-

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I thank Philip K. Howard and The Common Good Institute for their support for this essay. It is hard to know Professor Yamanaka long without learning about the Rechtsstaat in Japan. See Keiichi Yamanaka: Staatsraison versus Rechtsstaat. Zur verfassungshistorischen Bedeutung der Otsu-Affaire, in: Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ-Law and Politics in Africa, Asia and Latin America), vol. 29, 1996, p. 215, 234 (1996); Keiichi Yamanaka, Ronko Otsu-Jiken (in Japanese), 1996 (ISBN 9784792313500); Keiichi Yamanaka, Das Gesetzlichkeitsprinzip im Japanischen Strafrecht, in: Kansai University Review of Law and Politics, No. 11, March 1990. For the Otsu Affair in English, see Barbara Teters: The Otsu Affair: The Formation of Japan’s Judicial Conscience, in: Meiji Japan’s Centennial-aspects political thought and action, David Wurfel, ed., 1971, p. 36.). 2

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icz. They, better than the two of us, demonstrate that the Humboldt Foundation cares for the Polis.3 In 1838 Johann Ludwig (sometimes Louis) Tellkampf of Hannover (1808 – 1876) set off on what may have been the first Humboldtian research trip into a foreign Polis. He went off to the United States for almost nine years. Of course, then there was no Humboldt Foundation, not even one of the two Humboldt foundations that predated the present one.4 But there was Alexander von Humboldt himself. He was „the protector of many unfortunate scholars.”5 Tellkampf was one scholar whom Humboldt protected and promoted. In Tellkampf’s case Humboldt facilitated a research trip to the United States, helped Tellkampf share the results of his trip with Frederick William IV King of Prussia, and supported Tellkampf’s appointment as Professor of Staatsrecht (Government) at the University of Breslau (present-day Wrocław). The trip abroad, thanks to aid from Humboldt, in my mind qualifies Tellkampf as one of the first Humboldtians. Thanks to Tellkampf’s U.S. publications I-a legal scientist and not an historian-learned of Tellkampf. One Tellkampf publication in particular caught my attention. In its October 1841 and January 1842 issues The American Jurist and Law Magazine published a remarkable article “On Codifying or the Systematizing of the Law” by “J. Louis Tellkampf, Jur. Utr. Dr. of Goettingen Univ., Professor in Union College, New York.”6 It is one of the first analyses of systematizing law to appear in the United States. It remains one of the best. It was among the first proposals anywhere for establishing a standing body to be responsible for quality control of legislation. Flaws in systematizing and controlling the quality of laws account for much of the dysfunctionality of contemporary American law.7 For me it is evidence that the United States was not then, and should not now, be considered committed to common law methods.8 3 Both are examples of Humboldtians contributing to modernizing states in a post-Communist world. See Christian Jansen, Excellenz Weltweit: Die Alexander von Humboldt Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik, 2004, p. 8. Sadly Professor Wasek died prematurely just short of his fiftieth birthday. Professor WronkowskaJas´kiewicz is now Justice of the Constitutional Tribunal of Poland. The three of us continue to communicate in German. 4 The Alexander von Humboldt Foundation for Nature Research and Travel (Alexander von Humboldt Stiftung für Naturforschung und Reisen) (1860 – 1914) and the Alexander von Humboldt Foundation (1925 – 1943/1945). Jansen, pp. 20 – 25. 5 William Maude, Life of Humboldt, in Alexander von Humboldt, The Fluctuations of Gold, William Maude, Translator, New York, 1900, p. 18. 6 J. Louis Tellkampf, On Codification, or Systematizing of the Law, American Jurist and Law Magazine, vol. 26, Oct. 1841, pp. 113 – 144, Jan. 1842, pp. 283 – 329. The second installment spells Tellkampf’s surname correctly. 7 See Philip K. Howard, The Rule of Nobody: Saving America from Dead Laws and Broken Government, New York: Norton, 2014. 8 See James R. Maxeiner, A Government of Laws Not of Precedents 1776 – 1876: The Google Challenge to Common Law Myth, in: British Journal of American Legal Studies, vol. 4, 2015, p. 137.

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Tellkampf’s article was based on his 1835 habilitation at the University of Göttingen.9 The article’s publication in the United States in 1841 coincided with one of the first substantive publications of David Dudley Field, Jr. in his fifty-year long campaign for codification of American laws. The article was republished in London and Edinburgh in 1859,10 just as the British Empire was embarking on new wave of codification.11 It was republished yet again in 1875, this time in Berlin,12 just as the newly founded German Empire was codifying its laws. My interest in writing on Tellkampf for this Festschrift was heightened when I discovered that Tellkampf’s two other principal fields of study were prison discipline and political economy (to use terms of his day). They parallel Professor Yamanka’s field of criminal law and my field of international commercial law. Finally, it did not hurt that Tellkampf came from the University of Göttingen, Professor Yamanaka’s principal partner university in Germany. Tellkampf, despite a remarkable career-he was, inter alia, member of the Constitution Drafting Committee of the Frankfurt Parliament of 1848 – 1849 and for nearly thirty years a member of one or another parliament-has been denied a biography. Here I cannot correct the deficit. Concurrent with writing this essay, however, I have written a sketch of his life through to and including his research trip in America. For details from that time not covered here, I refer readers to that article.13 There are many reasons why Tellkampf deserves a closer look. First, is his research work itself. Most of it is of historical importance; some of it is of contemporary importance (such as the work on codifying). Second, is his role in legal culture interchanges. He was among the first scholars of German law in America; in Germany, he was among the first scholars of American law-possibly the first-with knowledge gained in the United States.14 Third, in American legal history, his career commands comparison to those of two contemporary foreigners in America, Alexis de Tocqueville and Franz (Francis) Lieber. In this article I confine myself to introducing Tellkampf the Humboldtian and his research trip.

9 J. L. Tellkampf, Ueber Verbesserung des Rechtszustandes in den deutschen Staaten, Berlin: bei August Rücker, 1835). 10 J. L. Tellkampf, On Codification or the Systematizing of Law, in: Essays on Law Reform, Commercial Policy, Banks, Penitentiaries, etc. in Great Britain and the United States of America, London and Edinburgh: Williams & Norgate, 1859, pp. 3 – 93. 11 See Maxeiner, A Government of Laws, pp. 137, 236 – 237. 12 J. L. Tellkampf, On Codification or the Systematizing of Law, in: Essays on Law Reform, Commercial Policy, Banks, Penitentiaries, etc. in Great Britain and the United States of America, 2nd ed. (Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht, 1875) pp. 3 – 93. 13 James R. Maxeiner, J. L. Tellkampf: German Legal Scientist in the U.S. (1838 – 1847) in an Age of Reform, forthcoming in: Yearbook for German-American Studies, vol. 50 (2016). 14 German law is generally assumed to have had little influence in America until after 1870. See Oliver Lepsius, Der Einfluss deutscher Rechtsideen in den USA, in: Die deutsche Präsenz in den USA, Josef Raab & Jan Wirrer, eds., Berlin: Lit Verlag, 2008, p. 581.

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Tellkampf in 1848 as delegate to the Frankfurt National Assembly15

I. Tellkampf’s Plans for His Research Trip Tellkampf was born in 1808 in Bückeburg, then capital of the principality of Schaumburg-Lippe, in present-day Hannover. His father had been secretary to Schaumburg-Lippe’s regent until 1807 when the regency ended. He graduated gymnasium and in 1828 matriculated in the University of Göttingen. There he promoted in three years and habilitated in seven.

15 Valentin Schertle, J. L. Tellkampf, Frankfurt/M: Verlag der S. Schmerber’schen Buchhandlung, 1848.

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After Tellkampf completed his doctorate, he took a research trip within Europe. Perhaps completion of his habilitation made a U.S. trip conceivable. At Göttingen there was encouragement: a good number of American students and a first-rate library that could inform him of American developments. While Tellkampf was Privatdozent, he also worked in the university’s library. The catalyst for the research trip is clearer. Tellkampf was a junior colleague of the famed Göttingen Seven Professors. In 1837 the new English king of Hannover, Ernest Augustus I, son of America’s own colonial tyrant, King George III, overturned the Hannover Constitution of 1834, and dismissed the Göttingen Seven Professors for refusing to sign loyalty oaths. They were all professors; Tellkampf was not, so he was not one of the Seven. He too, however, refused to sign the oath and resigned his positions as Privatdozent and as librarian. Tellkampf did not have to flee Germany. Upon his dismissal from Hannover’s university, the Prussian administration, possibly at the behest of Humboldt, approved his teaching in Prussian universities.16 After his death German-American sources reported that Tellkampf in 1838 was offered a professorship.17 More likely he was given a chance to follow the long Privatdozent route to professorship. All reports agree that Tellkampf had a research trip in mind and did not plan permanent immigration. It may be, however, that Tellkampf himself was uncertain. Two brothers, Theodor and Hermann, who followed him did make the United States their permanent homes.18 But what would he research? Did he know? Legal system, political economy (currency and commerce) and prison discipline all were subjects of his work in the United 16 The possibly self-written portrait in the annual Unsere Zeit in 1864 reported “Der preußische Cultusminister von Altenstein gestattete ihm in einem Schreiben vom 6. Mär 1838, sich auf einer der preußischen Universitäten als Privatdozent für die Staatwissenschaften zu habilitieren. Tellkampf behielt sich jedoch die Benutzung dieser Erlaubniß für spätere Zeit vor, indem er sich zu einer wissenschaftlichen Reise nach Nordamerika entschlossen hatte.” Johann Louis Tellkampf: Professor der Staatswissenschaften und Mitglied des preußischen Herrenhauses, in: Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-Lexikon, vol. 8, 1864, pp. 713. For an attribution of this action to Humboldt, see Hermann von Petersdorff, Tellkampf, Johann Louis, Allgemeine Deutsche Biographie (1908) [Onlinefassung]; URL: http://www.deutschebiographie.de/pnd115501142.html. 17 See Gustav Körner, Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1818 – 1848, 1880, p. 118 (“Obgleich die preußische Regierung ihn eingeladen hatte, sich auf einer Ihrer Universitäten als Lehrer niederzulassen, zog Tellkampf es vor, wissenschaftliche Reisen zu machen.”); Rattermann, Die Brüder Tellkampf, Der Deutsche Pionier: Erinnerungen aus dem Pionier-Leben der Deutschen in Amerika, Jahrgang 16, Heft 1, Cincinnati, April 1, 1884, pp. 3, 4. (“Eine ihm sofort von der Preußischen Regierung angebotene Professur an einer der Landesuniversitäten, lehnte er mit dem Bemerken ab, daß er sich entschlossen habe, vorerst eine wissenschaftliche Reise nach England, Frankreich und Nordamerika zu machen, um die dortiger Rechtspflege nach eigener Anschauung zu studieren.”). 18 Theodore, too, is said to have been a friend of Humboldt. He participated in his brother’s work. See Otto Juettner, Daniel Drake and His Followers, Historical and Biographical Sketches, 1785 – 1909, Cincinnati: Harvey Publishing Company, 1909, pp. 98 – 99.

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States. American law-including constitutional law and parliamentary procedure-became a talking point for him upon return. Before he left, he was in contact not only with Humboldt, but also with C.F.A. Mittermaier. Did either of them suggest a subject? All of the subjects just mentioned were “hot” in the United States and of interest in Germany. Prison discipline was likely first on Tellkampf’s research agenda when he left. It is the topic to which he devoted the largest part of his efforts in the United States, in research, in writing and in civic life. It is the subject that brought him home to consult with Humboldt and the Prussian king. In Germany it offered him the best prospects for a position outside the university. When Tellkampf left Germany in 1838, he took letters of introduction from the Prussian state. Prison discipline seems the most likely topic for a state mission. In Germany there was intense interest in prison reform. Mittermaier was particularly interested in penal reform. Prussia had only a few years before commissioned Nickolaus Heinrich Julius to conduct a survey of American prisons in 1834 – 1836. Prisons were one area were American practices were seen as world-leading. Tocqueville had himself only a few years before published a book on American prison reform which Julius translated into German in 1833. What financial support, if any, Tellkampf had for his trip, I have not uncovered. By one account, Humboldt himself made the trip possible. The Allgemeine Deutsche Biographie of 1908 attributes the trip to Humboldt: “Er fand in Alexander v. Humboldt einen Beschu¨ tzer, der es veranlaßte, daß er zu wissenschaftlichem Studium nach den Vereinigten Staaten von Amerika ging.”19 Did that mean money? Did a ministry provide money? Tellkampf did not have the independent means that his French aristocrat counterpart Tocqueville did. Reminiscent of 20th century debates on funding the Humboldt Foundation is the uncertainty as to which Prussia Ministry commissioned him.20 Tellkampf’s own undated but necessarily post-1847 brief biography at the University of Breslau stated that “The Royal Prussian Minister for Foreign Affairs supplied him with letters of introduction for this purpose.”21 In 1843 a German language newspaper in New York, reported that it was “das preußische Ministerium für die öffentlichen Unterricht mit Empfehlungen an den preußischen Gesandten in den Vereinigten Staaten, Hrn. V. Rönne.”22 19 Petersdorff, Herman von, Tellkampf, Johann Louis, Allgemeine Deutsche Biographie (1908) [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd115501142.html. 20 Janzen, pp. 151 – 207. 21 Tellkampf provided the University of Breslau with a short biographical sketch. Before the Second World War the text was obtained and printed in translation in George H. Danton, ‘A Smart Flippant Little Fellow …’ Johann Ludwig Tellkampf; in: New York History vol. 44, 1946, pp. 458 – 460. 22 Gemeinnützige Blätter zur Belehrung und Unterhaltung: als gleichzeitige Begleiter der vereinigten Ofner und Pester Zeitung von Christoph Rösler, vol. 33, 1843, p. 286 (based on a report from a New York City German newspaper).

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II. Finding a Host Tellkampf’s research trip in 1838 was not so very different in the requirements that it posed than those of Professor Yamanaka and myself 142 years later: find a host, deal with personal language deficiencies, locate and consult books and colleagues, travel locally to observe institutions, travel home in mid-work, publish interim results, and return home permanently to disseminate one’s work. Of all of these, the most important difference-and the one that, in the end, terminated his trip-was finding a host. The one that most complicated his work, as compared to today, was that travel and communications were much more time consuming. The host issue Tellkampf brought on himself when he moved from Union College in Schenectady to Columbia College in New York City in 1843. When Professor Yamanaka and I went to Germany, we had already lined up our hosts. People and institutions had committed to guide us; the Humboldt Foundation had agreed to fund us. When Tellkampf went to the United States, he had to find a host, or get along without one. He had no invitation from Americans or from U.S. institutions. He had only letters of introduction from Germany. That upon arrival in the United States Tellkampf obtained employment suggests that whatever funds had been promised him, if any, were insufficient. The obvious hosts to which Humboldtians in law go in Germany today are universities and legal research institutes; none of these existed in the United States in 1838. There was no Göttingen. Colleges that called themselves universities were, at best, decent German gymnasia. At a few of them there were aspirations to be universities and some few faculty conducted research beyond what they taught in the classroom, but as Tellkampf to his disappointment found out, those colleges were exceptional. Still further in America’s future were functioning law faculties. Experiments with chairs of law in colleges had mostly failed. Non-college proprietary law schools had largely passed. Proposals for college based law schools existed in numbers, but only one law school, or at best two, was in operation with a handful of students. Thanks to Supreme Court Justice Joseph Story’s appointment only a few years earlier, Harvard Law School survived, although it hardly thrived. In fall 1839 it had two professors (including Story) teaching a two-year program to 72 students.23 Göttingen had more than five times as many law professors and more than ten times as many law students as did Harvard. Most lawyers learned law as apprentices.24 Under the circumstances, Tellkampf did well. Landing in New York on July 4, 1838, he went to see Justice Story in Cambridge by early August. Nothing was to

23

A Catalogue of the Students of Law in Harvard University, From the Commencement of the Law School, to the End of the Second Term in the Year 1839, Cambridge: 1836, pp. [4], 6, 37. 24 See Maxeiner, Government of Laws, pp. 231 – 235.

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be had there.25 But by summer’s end he was in Schenectady in upstate New York lecturing on Roman law and political economy at Union College.26 Tellkampf seems to have met the flamboyant President of Union College, Eliphalet Nott, probably in Cambridge, and been hired on the spot.27 The following July, only a year after landing in America, the Board of Trustees of Union College appointed Tellkampf to the position of Professor.28 He could not have done better. In July 1839 Union College was one of the “big three” of American colleges: in total enrollment it was second only to Yale and ahead of Harvard. President Nott’s biographer writes of the day the trustees met to appoint Tellkampf professor: “Union College … was in a unique position. It was potentially the wealthiest college in America. … [President Nott] could turn his mind again to university planning, for it was a Union College transforming itself into a University which more and more took hold of his imagination. Much had been done.”29 Tellkampf was part of the much. At Union College Tellkampf had support. President Nott, who hired him, was his first backer, but not the only one. Important members of the college’s board of trustees stood behind him: William H. Seward, then Governor of New York, a devoted “pupil of Nott,” later recommended Tellkampf to Columbia College. Secretary of State John C. Spencer, one of the three revisers of New York statutes in 1829, engaged Tellkampf in work for secondary education; his father praised Tellkampf’s work on systematization.30 Alonzo Potter, Union College Vice President, senior faculty member, son-in-law of Nott, and a leader in political economy at a time when scholars were rare,31 made Tellkampf a part of his work and credited the young German for it. In the foreword to one book Potter thanked his “learned and valued friend”

25 He wasn’t the first. He was preceded by his countryman, Francis Lieber, who for years courted Harvard and Story without success. December 30, 1855 Lieber wrote his friend, Columbia College trustee, Samuel B. Ruggles, “With all my friends and all the people at Cambridge saying they want me, I have never had an offer.” Quoted from Louis Martin Sears, The Human Side of Francis Lieber, The South Atlantic Quarterly, vol. 27, no. 1, Jan. 1928, p. 42, 52. 26 Entry for September 24, 1838, The Diary of Jonathan Pearson, Edited with an Introduction and Notes by Harold C. Martin, vol. 1, 2004, p. 608. 27 See Danton, p. 461. 28 See Danton, p. 461. 29 Codman Hislop, Eliphalet Nott, Middletown CT: Wesleyan University Press, 1971, p. 398 – 399. Union’s enrollment was 315 students, Yale’s was 411, and Harvard’s 216. 30 As Secretary of State of New York Spencer was also Superintendent of Schools and, in that capacity, collaborated with Tellkampf. Tellkampf printed a letter of praise from Spencer’s father for Tellkampf’s work on codifying. Tellkampf, Essays 2nd ed., p. xix. 31 See Stewart Davenport, Friends of the Unrighteous Mammon: Northern Christians and Market Capitalism, 1815 – 1860, Chicago: University of Chicago Press, 2008, p. 36 (speaking of a clerical school of political economy as including John McVickar, Henry Vethke, Alonzo Potter, Francis Wayland, and Francis Bowen.).

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Professor Tellkampf.32 Jonathan Pearson, a junior colleague who kept an extensive diary, “clearly liked” Tellkampf.33 On first meeting Pearson described Tellkampf as “A very smart, flippant little fellow and of considerable talents and acquirements.”34 When Tellkampf was considering a move to Columbia College in New York, Pearson described him as “a right clever fellow in the Yankee sense, gentlemanly, kind-hearted, a ripe scholar and persevering …”35 When Tellkampf did apply for the post, Union College supported the application: Seward, for himself and for President Nott, praised Tellkampf as a “profound” scholar.36 Tellkampf began at Union College lecturing on political economy and Roman law. With Tellkampf there Union College divided its course offerings into eight “departments,” including “Moral and Political Economy under the care of Professors Alonzo Potter, Reed and Tellkampf.” In his five years at Union College Tellkampf taught a variety of courses in law, history and political economy, German and German literature.37 His junior colleague Pearson reported in his diary a mentor relationship that Tellkampf had with one student who translated a book on mathematics by Tellkampf’s brother Adolph.38 Tellkampf later told a German American publisher of his fond memories of Union College, its students and faculty. The publisher reported: “Hier wirkte er bis zum Jahre 1843 und mit großem Erfolge. Viele Professoren sowie Schüler ließen sich von ihm in der deutschen Sprache und Literatur unterrichten, und

32 Alonzo Potter, Political Economy: Its Objects, Uses, and Principles: Considered with Reference to the Condition of the American People. With a Summary, for the Use of Students (New York, Harper & Brothers: 1840): p. vii. The book went through six additional printings. Tellkampf collaborated with Potter on other projects. 33 Wayne Somers, Johann Ludwig Tellkampf, in: Encyclopedia of Union College History Compiled and Edited by Wayne Somers, Schenectady: Union College Press, 2003, p. 718. 34 Entry for Monday, September 24, 1838. Diary vol. 1, p. 608. 35 Entry for Friday, March 4, 1842, Diary vol. 1, p. 680. This entry contains the only negative comment of Pearson. 36 William H. Seward letter to Samuel B. Ruggles (Columbia Trustee), April 9, 1843 (“For his own sake and for Dr. Nott’s, I should rejoice if he should be found worthy of the appointment.”) Seward Papers, Library of Congress, quoted from Joseph Dorfman and Rexford Guy Tugwell, Francis Lieber: German Scholar in America, Part II, in Columbia University Quarterly, vol. 30,1938, p. 267, 268, n. 7, and Joseph Dorfman and R.G. Tugwell, Francis Lieber: German Scholar in America, in: Early American Policy: Six Columbia Contributors, New York: Columbia University Press, 1960, p. 249, 288 n. 47. On this point, the two articles are identical, but in other places, they differ. 37 Wayne Somers (ed.), Encyclopedia of Union College History (Schenectady: Union College Press, 2003), based on the following entries: Economics Department by Bradley G. Lewis, p. 244, 244 – 245; German [by Wayne Somers] 336; History Department, by Manfred Jones, p. 384, 385; Modern Languages and Literature Department, by Anton Warde, 489. 490; Political Science Department, James E. Underwood & Charles M. Tidmarch, pp. 561, 562. 38 Entry for Monday, May 16, 1842. Diary, vol. 1, 687.

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er selbst sprach sich mit lebhafter Zufriedenheit über den Eifer aus, mit dem diese die Sprache und Literatur des deutschen Volkes studirten.”39 When Union College celebrated its semi-centennial in 1845, so good was the relationship, that it invited Tellkampf back to Schenectady for the festivities as an honored guest. Tellkampf came and wrote a laudation poem for the occasion; he was the only one of the guests to toast the school in Latin.40 He maintained contacts with the College through to his death.41 Tellkampf brought with him to the United States a good command of English. He does not seem to have needed the language support that brought Professor Yamanaka and me together. Still, colleagues could not resist poking fun at his English. Henry Wadsworth Longfellow, one of the best known poets of the antebellum era in America, and who himself taught languages, wrote his father of one amusing misstatement of Tellkampf in relating the story of his banishment from Göttingen: the “King of Hanover wanted him to swallow his ‘oats’ (oaths) and he would not.”42 A friend of Tellkampf at Columbia recollected in her memoirs how “when we first knew him he spoke English with much difficulty, and it was a standing joke in our household that once when he desired to say that a certain person had been born he expressed the fact as ‘getting alive.’”43 A matter of amusement elsewhere, only at Columbia, does it seem, was English ever noted as an issue, and then a minor one typical of foreigners.44

III. Tellkampf’s Research Trip in the United States Tellkampf’s research trip in America was remarkable for several reasons. First, was its length: nearly nine years. Second, was its breadth of topics: legal methods, political economy and penology. Most remarkable of all, however, is the extent to which Tellkampf participated in American public life. Within ten weeks of landing in New York, Tellkampf had already counseled with two of the most distinguished Americans of the century, Justice Story and the poet 39 Johann George Wesselhösts letters, manuscript page 159, cited after Gustav Körner, Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1818 – 1848, Cincinnati: Verlag von A.E. Wilde & Co., 1880, p. 118. 40 The First Semi-Centennial Anniversary of Union College, Celebrated July 22, 1845, Albany: W.C. Little & Co., 1845, pp. 122 – 123. 41 Danton, p. 472. 42 Henry Wadsworth Longfellow, Letter to Stephen Longfellow, December 5, 1839, The Letters of Henry Wadsworth Longfellow, vol. 2, 1837 – 1843, Andrew Hilen Longfellow, ed., 1967, p. 188 (Letter 504). 43 Marian Campbell Gouverneur, As I Remember: Recollections of American Society during the Nineteenth Century p. 17 (1911). 44 Danton p. 467. Pearson, the junior faculty member at Union, who recorded many encounters, has no notes of English issues. See Harold C. Martin, The Diary of Jonathan Pearson. Edited with an Introduction and Notes, 2 vols., Schenectady: Union College Press, 2004.

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Longfellow, and had been hired by Nott, then the nation’s most outstanding college president. Within a few years he was working with Alonzo Potter, a leading “clerical economist” and with leading New York politicians, John C. Spencer and William Seward, to improve state education and economic policy. In those years, when passenger travel was new and rare and steamship travel, if available preferred to coaches, Tellkampf visited and reported on principal prisons throughout the Northeast as far west as Ohio. Later, in the sixth year of his stay, in New York City, he had a high profile role in the founding of the Prison Association of New York, which lives on today as the Correctional Association of New York. He got to know the leaders of the so-called Young Democrats and their poet, Edgar Allen Poe. He worked on improving commerce between the U.S. and Germany. He knew both the older and the newer generations of law codifiers. And through it all, he sought more than to observe, but to participate in the conversation. How extensive was Tellkampf’s influence is something of a mystery. If Tellkampf kept a diary of his trip, it has not come down to us. If he wrote letters, such as survive, are nowhere noted. He focused his work on the scientific and not on its literary elaboration.45 1. Legal Methods and Legislation Tellkampf landed in America teeming to teach his German habilitation’s application to the United States. Lehren before lernen is an unusual start to a research trip. To that end he sought out Longfellow for help. August 16, 1838 Longfellow wrote his friend Hillard as editor of the American Jurist and Law Magazine that Tellkampf was „desirous of inflicting an Article upon that journal; “pensively adumbrative of much.”46 Three years later the journal published, in two parts totaling nearly 80 pages, Tellkampf’s article, “On Codification, or the Systematizing of the Law” published in 1841/1842. The article lives up to Longfellow’s billing. It is a thoughtful explication of codification. It foreshadowed the arguments for and against codification in the half century that followed. In the first part, Tellkampf offered the positive case for codification. In the second part he refuted the objections to codification that had been raised against four codes, the Roman, the Prussian, the Austrian and the French. He offered the novel idea from his Göttingen work: “a permanent assembly for the purpose of continually amending and remodeling the laws, according to the spirit of the times.”47

45

See Danton pp. 473 – 474, 475. Danton criticized him for this. Henry Wadsworth Longfellow to George Stillman Hillard, August 16, 1838, The Letters of Henry Wadsworth Longfellow, vol. 2, 1837 – 1843 (Andrew Hilen Longfellow, ed., 1967) 96 – 97 (Letter 438). 47 On Codification, p. 304. Since I write of Tellkampf’s role in America, I cite to the original publication in the American Jurist and Law Magazine. The reprints from 1859 and 1875 make few changes in the text. 46

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Tellkampf did not dwell on difficulties with the laws in America. It was not his purpose to “censure.” For criticism, he could, and did, rely on Anglo-American observers. He diagnosed a disorder: when “we consider the present state of law in this country, we see a confused mass of materials, certainly of very great value, but whose practical utility is much diminished by the incongruous manner in which they are heaped together.”48 It was an “evil … of late frequently exposed, and its effects … often felt in the common intercourse of law. It is now, therefore, a question of urgent importance to find the proper remedy for a disorder, which time is rapidly increasing.”49 The remedy was “Codification, or Systematizing the Law.” Tellkampf’s diagnosis was prescient: “the amount of legal decisions is innumerable, and is made up of a great variety of materials, which are not sufficiently digested.”50 “[T]he most important questions may … be decided by laws containing many obscurities, contradictions and inaccuracies.”51 The condition long ago became chronic: the innumerable decisions of 1841 have multiplied many times over. Today, American lawyers expect to take days of “legal research” just to find the law.52 As Tellkampf said then, and Germany proves now, it does not have to be that way. In Germany, minutes suffice. Tellkampf nevertheless found value in these innumerable decisions: they could prove “of great importance to the advancement of law, if care is taken to regulate and render them easy of access; to separate the useful from the obsolete, and to throw the crude into more suitable shape.”53 Common law, whether in the United States, or England, or the Continent, he wrote, had the advantage of a “stronger hold upon the people, and is more equitable than statutes, which may be temporary and partial.” With words chosen to address the American condition, Tellkampf wrote that common law could not work: “But with all the advantages above mentioned, common law is attended with considerable difficulties. In a nation just rising in the scale of civilization, inhabiting a small portion of a country, and still simple in its institutions and interests, there may exist a great deal of simplicity and unity in its common law, so that it may be preserved in the memory of the people. But when those institutions and interests shall have become, as in the present day, greatly complicated, and be coupled with diffusion, over a vast country, of a scanty population, it

48

On Codification, p. 114. On Codification, p. 115. 50 On Codification, p. 141. 51 On Codification, p. 141. 52 See, e. g., Michael D. Murray & Christy H. DeSanctis, Legal Research Methods, 2nd ed., St. Paul: Foundation Press, 2015, pp. 200 – 204 (offering research plans from ‘More than a Week’ research plan to no real time at all … A few Hours to One Day’ Plan. [Sic.!]). 53 On Codification, p. 141. Using a metaphor reflective of his and Humboldt’s other writings, Tellkampf likened American law, to the precious metals, which must be sought after in the bowels of the earth, and be freed from their admixture with baser ore, before they can be applied to satisfy the wants of mankind. 49

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will be impossible to expect the same opinions and ideas to prevail in regard to particular customs.”

Tellkampf prescribed for the United States “a systematic arrangement of the laws, in unison with the demands of modern times; or, in other words, the necessity of a code.”54 Recalling Justice Story’s 1837 Code Report, Tellkampf explained: “A code should contain a system of leading principles, arranged in such order that the right mode for determining any particular case should be visible on the face of it, and be within the grasp of any person of scientific attainments.”55 Tellkampf thought that “Americans should be favorably disposed towards the amendments of law touching in such a variety of ways, and so closely, the roots of industry. They would realize in this spirit the spirit of the Roman twelve tables: … ‘The public welfare is the end of the law.’”56 Tellkampf’s optimism for America was palpable: “In this manner a system of perfect law may be built up, approving itself as the beautiful and free expression of the internal life of a people proceeding out of its being, and enduring with its principles. And jurisprudence will have acquired from the code, by being reduced to the simplest and best-ordered form, its attributes of certainty, perspicuity, and method.”57 He detailed how Americans-and others-might achieve these goals. Tellkampf offered, “should circumstances justify it,” to carry his work further.58 Alas, circumstances apparently never did justify it. He returned to Germany and wrote principally for a German audience. In his later works, Tellkampf touched on, but did not focus on, legal methods.59 Today, to readers from countries that codified their laws in the 19th century, Tellkampf’s proposals may seem passé and rather rosy. But in the United States today, they are revolutionary and border on academic treason; at least, they are considered “troublesome.” American academics and judges prescribe instead of codes, a common law for an age of statutes.60 They assume legal indeterminacy is a benevolent condition, or at least, incurable.61 One wonders what led Tellkampf to be so anxious to publish such an article on his arrival in America. In his article, he paid tribute to the leaders of codification in the 1820s and 1830s, to Livingston in Louisiana, to Hoffman’s plans in Maryland, to 54

On Codification, p. 288. On Codification, p. 288 – 289. 56 On Codification, p. 141. 57 On Codification, p. 291. 58 On Codification, p. 115. 59 The work closest to legal methods was J. L. Tellkampf, Selbstverwaltung und Reform der Gemeinde- und Kreis-Ordnungen in Preussen und Selfgovernment in England und Nordamerika, Berlin: Julius Springer, 1872. 60 See Guido Calabresi, A Common Law for the Age of Statues, Cambridge MA: Harvard University Press, 1980. 61 See James R. Maxeiner, Legal Indeterminacy Made in America: American Legal Methods and the Rule of Law, Valparaiso Law Review, vol. 41, 2006, p. 517, 55

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Sampson’s discourse in New York, to the three revisers of New York statutes in 1829, to Spencer, Sedgwick and Duer, to their counterparts in Massachusetts in 1835, and to Justice Story in his codification report of 1837. He placed the Americans in the tradition of the codes of Rome, Prussia, Austria and France. Did he hope to further their work and join in it? Was he returning—more modestly—in the spirit of Jeremy Bentham to offer the new land some ideas from the old world?62 If Tellkampf was looking to join the American conversation even before he left Germany, where did he get his inspiration? From readings in the Göttingen library? From communications with Humboldt or Mittermaier? Probably not from the Göttingen Seven, or at least from Jakob Grimm, who later wrote that Tellkampf changed his mind on America. Although possible, it seems unlikely that Tellkampf would have thought that such a publication would promote a career for him either in the United States or in Germany. It is hard to say how much effect Tellkampf and his writings had on codification in the United States, since the United States did not follow that path. Tellkampf’s work provided material encouragement for codifiers of the day. It is tantalizing to note that David Dudley Field, Jr., who led codification in America for fifty years, was just beginning his work then.63 While Tellkampf was still in New York the state began work on a new constitution that mandated codification of procedural and of substantive law. Tellkampf himself noted that Field regularly sent him the drafts of his codes as he wrote them.64 Tellkampf’s contacts with other codifiers and reformers went beyond publication exchanges. Tellkampf in his work on political economy and penology, worked elbow-to-elbow with reformers who also advocated codification. In political economy, Freeman Hunt’s Merchants’ Magazine and Commercial Review took the unusual step of noting the codification article in its book review section. Hunt reported that the article contained “many important suggestions on the subject of systematizing of the law” and called particular attention to Tellkampf’s proposal for “a standing committee, for the purpose of systematizing the present laws, and for arranging and harmonizing with them the laws which shall, from time to time, be enacted.”65 The article drew praise from New York’s chief justice and father of 1829 codifier John C. Spencer.66 62 Letter from Jeremy Bentham to President James Madison, October 30, 1811, reprinted in The Correspondence of Jeremy Bentham, vol. 8, Oxford: Oxford University Press, 1988 p. 182 and available on line at http://founders.archives.gov/documents/Madison/ 03 – 03 – 02 – 0595. 63 See David Dudley Field, A Third of a Century Given to Law Reform. A Private Letter Printed Only for the Family of the Writer February 22, 1873 (available in Gale Research, Making of the Modern Law, database). 64 Tellkampf, Essays 2nd ed., xx. 65 Merchants’ Magazine and Commercial Review, vol. 6, 1842, p. 391. 66 A. Spencer to Prof. Tellkampf, January 31, 1843, printed in J. L. Tellkampf, Essays on Law Reform, Commercial Policy, Banks, Penitentiaries, etc. in Great Britain and the United

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In penology Tellkampf worked with another of the 1829 revisers, Theodore Sedgwick. That connection was later tied together in bonds of marriage: Sedgwick’s nephew studied law in Germany, apparently with Tellkampf, and then married Tellkampf’s niece.67 Still others active in penology reform, with whom Tellkampf dealt, were or became supporters of codification or common law reform, including John O’Sullivan, John W. Edmonds, and Charles P. Daly. 2. Political Economy Tellkampf upon his return to Germany directed his work to political economy, especially to issues of banking and international commerce, fields in which he did not publish in Göttingen. He may have gotten his start in political economy from Union College senior colleague and clerical economist Professor Potter. Tellkampf supported Potter in tasks from the mundane to the ambitious. When Potter wrote texts, Tellkampf helped. For a second volume of Potter’s 1841 textbook Political Economy, Tellkampf wrote chapters on currency and banking. Potter in the foreword to volume 1, the only volume to appear, thanked Tellkampf.68 Of Potter’s 1842 Manual for Schools Tellkampf is reported to have helped Potter.69 In Potter’s 1843 Handbook for Readers, Potter thanks for legal work a “professional friend” who likely was Tellkampf.70 So Tellkampf (apparently) brought to the attention of their junior colleague

States of America, Berlin: Puttkammer & Mühlenbrecht, 1875 p. xix (“it appears to be a masterly production, evincing great ingenuity and powerful reasoning. In fact I think it conclusively proves the great benefits of a codification of other laws of every enlightened nation or state.”) 67 William Dwight Sedgwick, in: Harvard Memorial Biographies, vol. 1, 1867, 167, 169. 68 Alonzo Potter, Political Economy: Its Objects, Uses, and Principles: Considered with Reference to the Condition of the American People. With a Summary, for the Use of Students, New York: Harper & Brothers, 1840, p. vii (“The editor takes this opportunity of acknowledging his obligations, while preparing this volume, to a learned and valued friend, Professor Tellkampf, late of the University of Gottingen, but now of Union College. Besides many valuable suggestions, this gentleman has contributed an essay of Currency and Banking which will be inserted in a future volume.”) Additional printings appeared in 1841, 1842, 1844, 1852, 1855 and 1859. 69 The School and the Schoolmaster: A Manual for the Use of Teachers, Employers, Trustees, Inspectors, &c., &c., of Common Schools, In Two Parts. Part I. by Alonzo Porter. Part II. By George B. Emerson, New York: Harper & Brothers, 1842. Other editions appeared in 1843, 1846, 1858, 1873). Although the book makes no mention of a contribution by Tellkampf, Heinrich Armin Rattermann described Tellkampf as a co-author. H.A. Rattermann, Die Brüder Tellkampf, Der Deutsche Pionier: Erinnerungen aus dem Pionier-Leben der Deutschen in Amerika, Jahrgang 16, Heft 1, Cincinnati, April 1, 1884, pp. 3, 4. 70 Alonzo Potter, Handbook for readers and students intended as a help to individuals, associations, school districts and seminaries of learning, in the selection of works for reading, investigation, or professional study, New York: Harper & Bros. 1843. Other editions appeared in 1845, 1847, 1855, 1858, 1863, 1870. At page 59 of the first edition is this note: “Note.— Finding it impossible to transfer the whole of Professor Greenleaf’s valuable course to these

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and later college librarian, Pearson, the German practice of libraries exchanging duplicate books to help strengthen the library Potter had charge of.71 In 1842 Tellkampf published two articles in Freeman Hunt’s Merchants’ Magazine and Commercial Review.72 Tellkampf’s articles were surely based on, or may have been, the chapters that he prepared for Potter’s Political Economy. Once Tellkampf moved to New York City, where Hunt published his Merchants’ Magazine, Tellkampf became a frequent contributor. Already in 1844 he probably ghost wrote a piece for Hunt as much on German unification as on political economy.73 In early 1846 he wrote a series of three short articles on commercial treaties74 and later in the year a longer article on the monopoly in Atlantic mail.75 Nearly twenty years after Tellkampf’s return to Germany, a successor editor published an article by Tellkampf on “Money and Banks” and preceded it with a laudatory footnote of “an economist in high standing, both in Europe and America.”76 In presenting his conclusions in America Tellkampf sought to avoid politics. He appended to his 1842 article this note: “The writer of this article, Professor Tellkampf, is entirely disinterested in his views, and has no wish to come with the sphere of political contention; he is simply desirous of contributing towards the full discussion of a few of the most important questions regarding the currency, now agitated in this country.”77 Tellkampf tried to distance himself from politics and to adopt the mantel of scientific neutrality.78 Yet much of his work was relevant to a the American political group known as Young America.79 pages, the compiler has availed himself of the aid of a professional friend in digesting from it an abridgment ….” 71 Entry for May 20, 1840, The Diary of Jonathan Pearson, Edited with an Introduction and Notes by Harold C. Martin, vol. 1 (2004) 612. 72 J. L. Tellkampf, The Currency. Method for Correcting the Currency Without the Aid of a United States Bank, in: The Merchants’ Magazine and Commercial Review Conducted by Freeman Hunt, vol. 6 (Jan. 1842) 65 – 71; J. L. Tellkampf, The Currency. On a Government Paper, and on the connection existing between the Paper Money System and the Tariff, Merchants’ Magazine, vol. 6, Feb. 1842, pp. 164 – 169. 73 Germany and the Commercial Treaty of Berlin, in: Merchants’ Magazine, vol. 11, Dec. 1844) p. 491. In a later issue Hunt wrote that unsigned articles were either by him or endorsed by him. This one speaks so touchingly of German disunity that it must have been by a German, which would mean, by Tellkampf. 74 J. L. Tellkampf, Commercial Treaties Based on Reciprocity, in: Merchants’ Magazine, vol. 14 (Jan. 1846) p. 51; J. L. Tellkampf, The German Zollverein and the Hanse Towns, in: Merchants’ Magazine vol. 14 (Feb. 1846) p. 159; J. L. Tellkampf, Means of Increasing Our Commerce with Germany, in: Merchants’ Magazine vol. 14 (Mar. 1846) p.227. 75 J. L. Tellkampf, American Atlantic Mail Steamers: With reference to the Increase of Commercial Intercourse between the American and the German States, in: Merchants’ Magazine, vol. 15 (July, 1846) p. 51. 76 J. L. Tellkampf, Money and Banks, in: Merchants’ Magazine vol. 55 (1866) p. 95. 77 Id at 71. 78 Even Danton, Tellkampf’s severest critic in the United States, grants him that. Quoting from the comments in Hunt’s Merchants’ Magazine, Danton adds: “This seems to show

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Back in Germany, after the heady days of 1848 and 1849 were past, Tellkampf turned to writing principally about political economy, mostly banking and international trade. In 1851 he published a two volume collection of essays that he dedicated to Humboldt.80 At decade’s end, Humboldt again supported him in consideration for a post of head of government statistics. To economic historians he is known as a leading proponent of the full-backing school, a „hard-line currency man,“81 and as translator into German of John Ramsey McCulloch’s 1858 Treatise on Metallic and Paper Money and Banks.82 In 1867 he published a book on money and banking.83 He was working on a book on stock exchanges when he died in 1875.84 3. Prison Discipline Although prison discipline was the focus of Tellkampf’s research in the United States, of the three areas of study, it is the one that seems to me-a non-penologistto have the least contemporary interest. Perhaps Tellkampf thought similarly, for after his return to Germany in 1847, prison discipline no longer played a major role. But it was otherwise during his research trip. Notwithstanding slow, unreliable and expensive mail service, he managed to participate in discussions on both sides of the Atlantic. The topic then called „prison discipline“ was a leading one for comparison. It was the ground for not only Tocqueville’s nine-month visit to the United States in 1831 to 1832, but also that of the Prussian Nikolaus Heinrich Julius. It was a topic of keen interest to Mittermaier. Prison discipline was one area where Europe looked to

another significant point in his attitudes: as a foreigner and as a scrupulous observer of the proper forms, an observance based on his training in Germany, Tellkampf refrained from any interference in American political controversies. … One gets the feeling that Tellkampf was a person of distinct tact, with a nice sense of the proper balance to be maintained.” Danton 467. 79 See generally Yonatan Eyal, The Young America Movement and the Transformation of the Democratic Party 1828 – 1861, New York: Cambridge University Press, 2007; Robert D. Sampson, John L. O’Sullivan and His Times, Kent OH: Kent State University Press, 2003; Edward L. Widmer, Young America; The Flowering of Democracy in New York City, New York: Oxford University Press, 1999. 80 J. L. Tellkampf, Beiträge zur Nationalökonomie und Handelspolitik, 2 vols., Leipzig: Verlagsbuchhandlung Weber, 1851. 81 Murray N. Rothbard, Economic Thought Before Adam Smith: An Austrian Perspective on the History of Economic Thought, vol. 1, 2006, p. 269. 82 J.R. McCulloch, Geld und Banken. Aus dem Englischen übersetz von E.J. Bergius und J. L. Tellkampf, Leipzig: J.J. Weber, 1859. 83 J. L. Tellkampf, Die Prinzipien des Geld- und Bankwesens,Berlin: Julius Springer, 1867. This book Tellkampf dedicated to his brothers, Adolph, Hermann, Theodor and August. 84 Danton, p. 471.

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America for new ideas to replace capital punishment, transportation to prison colonies and inhumane prisons.85 The United States presented two competing models, both intended to prevent prisoners from contaminating each other. The one was the “silent model,” so-called because it allowed prisoners to work together, but required that they maintain silence. Associated with the New York prison at Auburn in upstate New York, prisons maintained silence with physical punishment (the lash). The other model was known as the „separate model“ to those who approved of it, or “solitary confinement,” to those who did not. The idea was that prisoners would be completely separated from each other, but would receive close attention and instruction from caretakers. Proponents of one or the other system, or modifications thereof, fought tenaciously for their positions. From Union College Tellkampf carried out research on American prisons. During the three vacation periods of each year, he visited prisons in the northeast that could be reached mostly by rail or boat.86 Fortunately, the principal prisons for his visit could be so reached. Auburn Prison New York is about 150 miles west then reachable not far from the Erie Canal, Sing Sing Prison is on the Hudson River about 135 miles south reachable by Hudson River Steamer, and the Pennsylvania State Prison was in Philadelphia. In 1843 Tellkampf’s work began to bear published fruit in both the United States and Germany. In America, Tellkampf showed courage when he took on Charles Dickens’ critique of American prison discipline.87 In Germany, in the second volume of a new penology journal, he reported on communications among prisoners in the separate system in Pennsylvania.88 The German journal’s co-editor, Nikolaus Heinrich Julius, who in the decade before had visited American prisons, thanked Tellkampf for permitting publication of this „gründlichen als verdienstvollen ungedruckten Arbeit“ and noted both Tellkampf’s extensive visits to American prisons and his 85 Arthur Buddens, “Besserungsanstalten,” in: Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, Karl Biedermann, ed., vol. 6, 1844 vol. 2, Oct. 1844, 366 (“Fast die einzige völlig neue Theorie in einer Wissenschaft, welche das alte Europa die jungen, neuen Welt der Freiheit, Nordamerika, verdankt, ist die Aufstellung wirksamer Buß- und Besserungssysteme in Gefängnißwesen.”) 86 Schenectady was the western terminus of the second passenger railroad line in the United States with scheduled service that ran to the state capital, Albany, then the 9th largest city in the United States. In 1841 a rail line from Albany to Boston opened. Albany was the center of coach traffic in the state and had river steamer service to New York City. The Erie Canal, was the principal northerly route to the American West. 87 J.J. [sic] Tellkampf, Remarks on Prison Discipline in the United States. [Suggested by the Chapter of Philadelphia and Its Solitary Prison in the ‘American Notes’ of Charles Dickens], in: The New World: A Weekly Family Journal of Popular Literature, Science, Art and News, vol. 6, Park Benjamin, ed., 1843, issue January 21, 1843, pp. 67 – 70. Nominally only three pages, it packs about 5000 words of small type in double columns into those three pages. 88 Tellkampf, Über die Mittheilungswege der Gefangenen unter einander und über deren Gesundheitszustand in den pennsylvanischen Gefangenhäusern Amerika’s, in: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten, vol. 2, 1843, p. 1.

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“scharfsinnige” observations. Later that year Mittermaier reported on Tellkampf’s observations and on his efforts independently to verify them through his U.S. contacts.89 When in Spring 1843 Tellkampf was appointed to the Gebhard Chair at Columbia College in New York City, he saw an opportunity to cement his relations to Germany and to add English prisons to his comparative work. He deferred taking on the position until 1844, so that he could travel to Germany. On his way he stopped off in England to visit two prisons with a letter of introduction from the German Ambassador Bunsen. Back in Germany he presumably worked on the book that he would publish the next year with his brother detailing in 267 pages his five-year study of American prison conditions.90 He rekindled his contacts in Germany in a blaze of glory. He discussed prison reform with the King of Prussia himself, Friedrich Wilhelm IV. His sponsor Alexander von Humboldt, who met daily with the King and probably sat in on this meeting, wrote Tellkampf on 14 November 1843: “To the most favorable impression which you have made through talent, knowledge and modesty upon the King and all his Secretaries and the Counsellor of the Cabinet Mr. Müller, I have nothing to add. They find you valuable for the University and almost indispensable for the projects of the penitentiaries.”91

Tellkampf, was exploring an appointment in Prussia, but as Humboldt predicted in the letter, the matter was not resolved before Tellkampf’s departure from Germany November 23. Humboldt, after writing “Knowing as I do the affairs from close observation I must advise and counsel caution,” nonetheless wrote “I consider it certain that we shall gain you for the Fatherland in an honorable manner rewarded,-now or after a year.”92 Tellkampf left Germany and was back in New York City in time to commence teaching at Columbia College Winter 1844. By 1844 Young America was in full flower in New York City. Although the extent of Tellkampf’s participation with young America in matters of codification and commercial policy may be uncertain, cooperation in penal policy is well documented. Principally it took the form of being an important figure in the founding of the Prison Association of New York. I have detailed that position in my parallel Tellkampf 89

C.F.A. Mittermaier, Ueber den gegenwärtigen Zustand des Gefängnißwesens in Europa und Nordamerika, über das Ergebniß der Erfahrungen und über die Forderungen, welche an den Gesetzgeber in Bezug auf die Strafanstalten gestellt werden können, in: Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, Jahrgang 1843 (Drittes Stück) pp. 289, 290 – 292. 90 J. Louis Tellkampf, Über die Besserungsgefängnisse in Nordamerika und England. Nach eingenen Beobachtungen in den Jahren 1838 bis 1843, Nebst Bemerkungen über den Gesundheitszustand der Sträflinge in den obigen Anstalten von Dr. Theodor Tellkampf, Berlin: Verlag von Rücker & Püchler, 1844. 91 Tellkampf, Essays, 2nd ed. at xxvii-xxviii (Telekampf’s translation with the German original). 92 Id.

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piece.93 His was one of three principal papers provided in the first convention. In that paper he was respectful of Americans: “I may be permitted to contribute a small share of information upon the subject in question, and expect to be indulged in a candid criticism on the creditable experiments in this country in prison reform; for impartial criticism is the best service that can be rendered where the end aimed at is still greater reform.”94 In fall 1846 Tellkampf again returned to Germany to report on prisons and to explore an academic appointment. After his permanent return to Germany he continued as a corresponding foreign authority with the Prison Association. A modern historian of American prison reform sees in Tellkampf’s participation that “New Yorkers, once proud in the belief that their state possessed the ultimate wisdom in penal matters, were finally returning to [the] conviction that America had much to learn in this area from the Old World.”95 Once Tellkampf returned to Germany for good, penal policy lost prominence on his project list. It dropped off his list of publications. In a legislative capacity it remained. For example, in 1874 as a Member of the Reichstag, he called for principles to guide application of imprisonment until common rules could be established.96

IV. Terrible Times at Columbia In 1843 to 1844 Tellkampf moved from Union College to Columbia College. Columbia College disappointed Tellkampf. Where Union College was a college with aspirations of being a university, Columbia College was “little else than an appendage to the Grammar School.”97 In 1848, the year after Tellkampf resigned, Columbia College had 223 „pupils“ in the grammar school; they far outnumbered the 130 “students” in the college.98 Even the college was a finishing school for sons of the privi93

See Maxeiner, Tellkampf, note 13. J. L. Tellkampf, [Paper], First Report of the Prison Association of New York. December, 1844, New York: 1845 p. 39. 95 W. David Lewis, From Newgate to Dannemora; The Rise of the Penitentiary in New York, 1796 – 1848, Ithaca NY: Cornell University Press, 1965, p. 222. 96 See Christina Schenk, Bestrebungen zur einheitlichen Regelung des Strafvollzugs in Deutschland von 1870 bis 1823. Mit einem Ausblick auf die Strafvollzugsgesetzentwürfe von 1927, Frankfurt am Main: Lang, 2001. 97 Richard S. McCulloh, Professor of Columbia College, Testimony, in: Columbia College, Statements, Opinions and Testimony Taken by the Committee of Inquiry Appointed by the Trustees of Columbia College, New York, 1857, separately paginated testimony of McCulloh, p. 32. Although the testimony related specifically to 1856, the conditions described had long been endemic at Columbia College, including when Tellkampf arrived. The total number of pages of statements is about 700. 98 Catalogue of the Officers and Students of Columbia College Founded A.D. 1794 Published for the Senior Class, New York, 1848, p. 14. It had twenty-two trustees. P. 3. 94

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leged.99 The entering age of freshman was fourteen or fifteen.100 Students lived at home. Most were two years younger than those at “country colleges.” Three fourths were said to suffer from immaturity.101 Each student’s schedule was the same: four assigned classes one immediately after the other. College students were divided into four classes from freshmen to seniors of thirty-five to thirty-one students each. All students in a given year took the same subjects at the same time with the same teachers. At school they recited. Only in the junior and senior classes might they be expected to take notes of their teachers’ lectures.102 Four-fifths of the students were said to suffer from indolence.103 According to one professor at Columbia, “Most students were more intent on winning the approbation of their classmates, which came quickest through defying their teachers.”104 Columbia College had no place for a legal scientist such as Tellkampf: the view that “faculty should be encouraged, even expected, as part of their job to pursue scientific or literary studies beyond the levels that they could expect to teach their undergraduates,” would not come to Columbia for another decade.105 Tellkampf’s standing in Columbia College was the polar opposite of that at Union College. At Columbia he had a new president who would not last long (Nathaniel Fish Moore), a disappointed, defensive and aging senior faculty member in political economy (John McVickar) and, perhaps worst of all, the leading trustee (Samuel B. Ruggles), was a friend and supporter of the disappointed applicant for the position, Francis Lieber.106 Columbia College’s allure for Tellkampf must have been its location in New York City and a modestly higher wage than at Union. But at what cost? He must have assumed that other factors would be comparable to Union College. They were not. At Union College Tellkampf had taught a variety of courses in political economy, law, history, German literature and German language. When he came to Columbia College he expected a similar package. Although the chair was formally in “German Language and Literature,” it was commonly counted the “German Chair.” The trustees sentenced Tellkampf to teach exclusively language courses (not even literature courses, it seems), in the rigid curriculum. Coincident with his appointment, the Board made German language instruction a mandatory subject for all students for 99 See Robert A. McCaughey, Stand Columbia. A History of Columbia University in the City of New York, 1754 – 2004, New York: Columbia University Press, 2003, pp. 103 – 107 (The Rise of the Student Estate). 100 McCulloh, p. 17. 101 McCulloh, p. 17. 102 McCaughey, p. 107. 103 McCulloh, p. 17. 104 McCaughey, p. 103. 105 McCaughey, p. 121. 106 Ruggles corresponded with Lieber for nearly thirty years (1842 to 1871). See Louis Martin Sears, The Human Side of Francis Lieber, The South Atlantic Quarterly, vol. 27, no. 1, January 1928, p. 42.

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all four years.107 At Columbia, not just when taught by Tellkampf, German was “not liked by the students”.108 Columbia College must have misled Tellkampf on what he was to teach. After returning to the United States from Germany and learning of his teaching assignment, in February 1844 he objected that he had been encouraged to think to give “courses in ‘Greek or Roman Antiquities or in Civil Policy’ for some compensation.”109 He offered to teach courses he had given at Göttingen and Union: “On the Philosophy and History of Law; on Roman Law and Antiquities and on the History and Philosophy of Government and Legislation.”110 But the Board would not have it: teach boys German was its charge, even if the fifteen year olds had little interest in learning the language. At first, the Board was not troubled by the “boyish mischief” that resulted. The situation went critical, however, when the freshman class of 1845 – 1846 matriculated. What had changed? In Tellkampf’s class sat (or rather fidgeted, probably), William B. Astor, Jr., grandson of the richest man in America, John Jacob Astor. In Astor’s second semester, without mentioning the boy, Tellkampf proposed that his course be made elective to keep from it those pupils who had no interest.111 The Board took no action until a year later when, with Astor then a second semester sophomore, the boy’s father asked the Board to excuse his son from “further attendance on the German professor”.112 The Board moved quickly and inverted Tellkampf’s proposal: it made German elective for juniors and seniors, the classes that otherwise soon would be those of the boy Astor. Tellkampf had had enough. By April 18, 1847 Tellkampf had gone off to Prussia leaving his brother Theodore in charge of teaching the classes.113 A month later 107

The 250th anniversary history of Columbia states German was not part of the regular curriculum, but still has Tellkampf teaching only language courses, adding teaching Latin to freshman and sophomore. McCaughey, p. 102. Columbia made do without tutors. McCaughey, p. 96. 108 President’s Statements, Statements, Opinions and Testimony, p. 2. 109 Danton. Trustee Ruggles wrote much the same to applicant Franz Lieber: “there is no doubt [the trustees] will consent that the German Professor shall devote a considerable portion of the time to classes other than those in the College …” Letter Ruggles to Lieber, January 31, 1843, quoted in Danton, p. 466, n. 9. 110 Memorial of February 12, 1844, as summarized and partly quoted in Danton, at 470 – 471. 111 How familiar sound Tellkampf’s trials: “The greater number of students feel a lively interest in this study; but there are always several, particularly among the beginners in the Freshman Class, who erroneously regarding it as useless to them in their future pursuit in life, are unwilling to expend the time and labor required. Such students being idle and finding that they cannot distinguish themselves by their attainments, try constantly to distinguish themselves by mischief and to disturb the class by noise.” Tellkampf to Board of Trustees, January 1846, quoted in Danton at 470. 112 Quoted in Danton p. 468. 113 Ruggles could not deny his friend Lieber some Schadenfreude reporting that “Under his Dunciad of dullness the professorship has fallen in utter contempt. … The Board,” he reported, “had threatened to break up the professorship.” Danton p. 468.

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Tellkampf, having met with the King of Prussia and been assured of an appointment at the University of Breslau, wrote to Columbia College tendering his resignation.

V. Epilogue and Concluding Observations Tellkampf’s return to Germany was not the triumph that he may have hoped for. It was bittersweet even at the outset, for he ended up at the University of Breslau and not at the University of Berlin that he had long sought. Still, it had all the outward signs of success: for nearly three decades he served as a respected professor in Breslau. For most of that time, the legal scientist was also delegate to parliament, first, in 1848/ 1849 in Frankfurt to the National Assembly, and then from the 1850s through the 1870s in Berlin to one or the other of the Prussian houses of parliament, and then in the 1870s to the newly founded Reichstag. If space and time were without limit, appropriately this article would follow up on the outcome of the first Humboldtian trip into the Polis. But just sketching Tellkampf’s subsequent work in Germany would be an article in itself; detailing it, would be a book. Tellkampf in his later work brought to bear on the German legal system of the day his scientific research work as well as much else that he had observed in the United States but had not made the subject of scientific investigation. At the time, however, he was as likely to be teased for his introduction of American ideas and even ridiculed for his idealism based in his scientific work. That he had a role in the transfer of American ideas to Germany has long been recognized. Of late, there is new appreciation of that transfer and of Tellkampf’s role in it.114 From this modest review of Tellkampf’s first Humboldtian trip into the Polis, I venture a few suggestions about research trips, about Tellkampf’s own trip, about the role of that trip history of American law, and about the difficulties of law reform in general. A mundane but practical observation is that Professor Yamanaka and I can be thankful for the support that the Humboldt Foundation, German universities and German institutions gave us. Tellkampf’s work on codification and systematizing of law is more relevant today than ever for American law. I venture to say, it may also be relevant for codifying and systematizing law in the European Union. Tellkampf’s other work, in political economy and penology, is surely of historical interest for historians. How valuable it may be for legal scientists, economists and penologists is not for me to say.

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See Bernd J. Hartmann, How American Ideas Traveled: Comparative Constitutional Law at Germany’s National Assembly in 1848 – 1849, in: Tulane European and Civil Law Forum, vol. 17, 2002, p. 23; Charlotte A. Lerg, Amerika als Argument: Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49, Bielefeld: Transkript Verlag, 2011.

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James R. Maxeiner

In the history of American law, Tellkampf’s work could serve as a correction to the observations of Alexis de Tocqueville. Contemporary American law is dominated by a near worship of lawyer-focused unguided decision-making. As justification for this, advocates point-not necessarily correctly-to Tocqueville’s book Democracy in America. Tellkampf and Tocqueville were looking at the same America with similar interests, but with different perspectives. Tocqueville came from centralized, absolutist France. Tellkampf came from a defused, legalistic Germany. Toqueville was a nine-month visitor to United States who never tried to become an American; Tellkampf spent nearly nine years in America and came close to becoming an American.115 Finally, Tellkampf’s work in America and his subsequent reception in Germany are reminders of how difficult reform of law is. The reformer is apt to be ignored or worse, attacked. Bentham wrote that he had never suspected that the people in power were against reform. He had supposed that they only wanted to know what was good in order to embrace it.116 David Dudley Field looked back, when he thought his work finished: “I am surprised at the difficulties I had to overcome, and the little encouragement and assistance I have received.”117 Yet there are those who do give assistance: Humboldt, the Humboldt Foundation, and Humboldtians such as Professor Yamanaka, They give us hope for a better law.

115 One Tocqueville scholar explains the “largely positive reaction” in the 19th century to the Frenchman’s work and impliedly the indifference to the German’s: „Americans found it refreshing to encounter a mostly favorable presentation of their laws, political institutions, and culture rather than the highly critical or condescending descriptions written by many other contemporary European travelers.“ James T. Schliefer, The Chicago Companion to Tocqueville’s Democracy in America 161, Chicago: University of Chicago Press, 2012. That explanation resonates still today. 116 Jeremy Bentham, Memoirs of Jeremy Bentham; Including Autobiographical Conversations and Correspondence, in: by John Bowring, ed., The Works of Jeremy Bentham, vol. 10, 1843, p. 66 (included in Bowring’s account with a letter from January 1827). 117 Field, p. 12. Field wrote this in a letter to his brother in 1873 and detailed the obstacles he faced. Yet, undaunted, he returned to the fight for another twenty-one years. In those twenty-one years his life remained, as he wrote of his life up until then, “a continual warfare.”

Strafrechtliche Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien: Der Fall Garzón Francisco Muñoz-Conde

I. Die Transition der spanischen Diktatur zu einer Demokratie, eine unvollendete Transition Wie manches andere Land Europas hat bekanntlich auch Spanien vor der Frage gestanden, wie es mit den Verbrechen einer überwundenen Diktatur umgehen soll. Eine wichtige Tatsache, die die Eigentümlichkeit der spanischen Transition besser erklären lässt, ist es, dass die rechtliche Transformation erst nach dem Tod des bis dahin herrschenden Diktators Francisco Franco Bahamonde am 20. November 1975 angefangen hat, und nicht wie in Italien oder Deutschland im Jahre 1945 nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges mit einer Niederlage des Regimes und einem gewalttätigen Tod durch Mord wie bei Benito Mussolini oder Selbstmord wie bei Adolf Hitler. Um diese Transition besser zu verstehen, muss man also die verschiedenen Faktoren berücksichtigen, die sie begleitet und bedingt haben. Zunächst und vor allem die Tatsache, dass der spanische Diktator bis zum Ende seines Lebens die Macht innehatte und dass die politische Opposition bis zum Ende der Diktatur illegal war und keine Chance hatte, weder durch eine faktische Revolution noch durch demokratische Wahlen, an die Macht zu kommen oder sich selbst als politische Alternative vorzustellen. Nach dem Bürgerkrieg (1936/1939) und fast 40 Jahren (1939/1975) der Diktatur, die am Anfang vom Faschismus und Nationalsozialismus geprägt, dann immerhin von dem politischen Konservatismus der Rechtsradikalen und dem religiösen Fundamentalismus der katholischen Kirche beherrscht worden war, kann die beginnende, von den ehemaligen Mitgliedern des diktatorischen Apparats geleitete rechtliche (und politische) Transformation der spanischen Diktatur zu einem demokratischen Rechtsstaat mehr als eine opportunistische, allmähliche Anpassung des diktatorischen Regimes und seiner Machthaber (der Sieger des Bürgerkrieges) an das demokratische System der damaligen westeuropäischen Länder als eine Abrechnung mit der Vergangenheit gesehen werden. Eine strafrechtliche Aufarbeitung mit den seinerzeit zur Stützung der Diktatur begangenen Morden, Folterungen, Freiheitsberaubungen usw. hat es auf alle Fälle bis

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heute nicht gegeben. Es gab auch keinen einzigen Prozess gegen die Verantwortlichen dieser Gräueltaten, die manchmal unter der Decke eines justizförmigen Strafprozesses von Militär- bzw. Sondergerichten begangen worden sind. Ob dieser manchmal als modellhaft gepriesene Übergang zur Demokratie auf dieser Basis ein eher fehlgeschlagener als geglückter oder auf alle Fälle unbeendeter Übergang gewesen ist, kann man 40 Jahre danach diskutieren. Dabei kann man den Eindruck bekommen, dass eine rechtliche Transformation einer Diktatur zu einem demokratischen Rechtsstaat, die ohne strafrechtliche Aufarbeitung der zur Stützung der Diktatur begangenen Verbrechen stattgefunden hat, im Grund genommen keine wirkliche Veränderung des Systems war, denn eine Veränderung eines diktatorischen Systems, die die Straffreiheit der Verantwortlichen dieses Systems gewährleistet, ist in Wirklichkeit keine Veränderung, sondern vielmehr eine kosmetische Operation. Die Enttäuschung und das Gefühl der Ungerechtigkeit, das eine solche Straffreiheit der Täter bei den Opfern des Systems herbeiführte, war während der Zeit der Transition und ist immer noch in vielen Teilen der spanischen Bevölkerung zu spüren. Man hat dieses Unbehagen mit einem Gesetz zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses, der sog. „Memoria Histórica“, wiedergutmachen wollen. Dieses Gesetz, das mit knapper Mehrheit am 26. Dezember 2007 beschlossen wurde und sofort in Kraft trat, gewährleistet jedoch die Anonymität (und damit die Straffreiheit) der damaligen Täter, Anhänger und Schergen der Diktatur, die während 40 Jahren sogar als Helden und Retter der Nation gefeiert worden sind. Mit diesem Gesetz man will ausdrücklich kein kollektives Gedächtnis erzwingen, sondern nur „Anerkennung und Ausweitung der Rechte und Entschädigung der Opfer der Gewalt des Bürgerkrieges und der Diktatur“. Man will also nur eine kollektive Wahrheitssuche einsetzen, die sich nicht aus Rachsucht speist und auch nicht späte Vergeltung beabsichtigt, sondern nur die Wahrheit, aber eben auch nichts als die Wahrheit feststellen soll. Das Schweigen hinsichtlich der Namen der Täter, das nach dem Krieg und während der Diktatur eine Folge der Angst der Verlierer war, ist jetzt zu einer von einem demokratischen Gesetz gebotenen Amnesie und Amnestie geworden. Die Wahrheit, die dadurch sichergestellt werden muss, wird noch weiter ein Weile verdrängt. Gewiss, das Gesetz behandelt „Illegitimität“ von Urteilen und Entscheidungen, Anerkennung und Entschädigung von Opfern, Abschaffung von Namen, Symbolen und Denkmälern, die immer noch gefeiert werden. Art. 20 richtet sogar ein Zentralarchiv der „Memoria Histórica“ ein, etc. Aber von einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Täter der Diktatur, die noch am Leben sein können, ist keine Rede. Man hat nur darauf gewartet, dass die Zeit nicht nur die Wunden heilt, sondern auch die Täter sterben lässt.1 1

Darüber s. Muñoz Conde, Abrechnen, aber wie? – Die rechtliche Transformation europäischer Diktaturen nach 1945: der Fall Spanien, in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 125. Band, 2008, S. 365. Auch in Muñoz Conde/Vormbaum, Die juristische Transformation der Diktaturen zu Demokratien, Akten des an der Universität Pablo de Olavide von Sevilla in Februar 2008 organisierten Humboldt-Kollegs, Berlin 2010, mit verschiedenen

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Einstweilen wurden erst in den letzten Jahren bei Ausgrabungen die sterblichen Überreste von Anhängern der Republik aufgespürt, die auch noch nach dem Ende des Bürgerkriegs hingerichtet und in Massengräbern verscharrt worden waren und nun endlich unter einem Grabstein mit Namenszug auf dem Dorffriedhof ruhen können.2 Diese Straffreiheit der Sieger des Bürgerkriegs, die damals und heute immer noch von vielen, vor allem von Opfern und Angehörigen der Opfer der Diktatur, als ein Symbol der Kontinuität und der immer noch realen Macht der Diktatur empfunden worden ist, wurde in gewissem Maße mit einer politischen Mitsprache für die Verlierer und einer nur partiellen Amnestie der Regimegegner und Widerstandskämpfer gegen die Diktatur kompensiert. Die meisten von ihnen waren in den letzten Jahren der Diktatur von Militär- und Sondergerichten wegen Straftaten verurteilt worden, die oft nur Ausübung der in einer Demokratie selbstverständlichen Meinungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit3 waren. Dadurch begann die staatliche Machtausübung nach dem Tod des Diktators allmählich demokratischer zu werden und die Diktatur selbst sich nach einer politisch und rechtlich klugen und raffinierten Transformation zu einem demokratischen Rechtsstaat umzuwandeln. Zwar kann man schwerlich leugnen, dass die jetzige juristische, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation Spaniens mit derjenigen der Dikatur nichts mehr zu tun hat und dass diese Umwandlung mehr als ein politischer Transformismus gewesen ist. Der Weg, der zur aktuellen Situation führte, war jedoch kein Rosenweg, sondern vielmehr ein von Dornen und bedrohlichen Schranken und Hindernissen gepflasterter Weg, der vor allem in den ersten Jahren des Übergangs (man erinnere sich nur an den versuchten Putsch vom 23. Februar 1981) immer drohte, den Zug zur Demokratie zum Entgleisen zu bringen oder zu stoppen. Aus Raumgründen werde ich mich nur mit der ersten Etappe dieses Übergangs befassen, die mit dem Tod des Diktators (20. November 1975) begann und vorläufig mit der Verabschiedung einer von Vertretern aller parlamentarischen Parteien verfassten und durch ein Referendum von der Mehrheit der spanischen Bevölkerung bestätigten Verfassung im Dezember 1978 endete. Was am Anfang von manchen als eine Kontinuität der Diktatur betrachtet worden war, könnte am Ende dieses ÜberBeiträgen über die verschiedenen Modelle der Transition in Deutschland, Italien, Spanien, Argentinien und Chile. 2 s. José Maldavsky, Massengräber am Straßenrand, Le Monde Diplomatique- die Tageszeitung/ WoZ, Januar 2003. 14/15. Bis zum August 2006 waren nur 905 Leichen der ca. 90.000 während des Bürgerkriegs und nach dem Krieg von den Putschisten erschossenen ausgegraben (s. Zeitung: EL PAIS vom 13. August 2006, S. 24/25). In den letzten Jahren sind weitere Massengräber geöffnet worden. 3 Diese Amnestie war am Anfang nur für rein politische Straftaten ohne Anwendung von Gewalt bestimmt, später wurde eine großzügigere auch hinsichtlich Gewaltstraftaten gegen die Diktatur angewendet (vgl. Dekret vom 14. März 1977 und 15. Oktober 1977). Dazu unten. Zum geltenden politischen Strafrecht in den letzten Jahren der Diktatur, s. Francisco MuñozConde, Funktion der Strafnorm und Strafrechtsreform, in Madlener/Schöne/Papenfuss, Strafrecht und Strafrechtsreform, Köln 1975.

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gangs als der Anfang einer nicht nur rechtlichen Transformation, sondern auch eines politischen Bruches gesehen werden. Wie diese Transformation, die heute für jeden ersichtlich ist, in ihren ersten schwierigen Etappen stattgefunden hat, werde ich hier nun kurz berichten (s. unten II.). Und anschließend werde ich über den Versuch, die Verbrechen der Diktatur strafrechtlich aufzuarbeiten, informieren (s. unten III., IV. und V.).

II. Die erste Etappe der spanischen Transition Eine Eigentümlichkeit dieser Etappe des Übergangs ist, dass sie anfangs von denen geleitet wurde, die vorher Anhänger der Diktatur und Mitglieder ihrer Regierung und Institutionen gewesen waren. So war z. B. Ministerpräsident der ersten Regierung der Monarchie Carlos Arias Navarro, der auch Ministerpräsident der letzten Regierung der Diktatur war und der in diesem Amt von König Juan Carlos I, dem Nachfolger Francos, bestätigt worden war. Nach einigen Monaten wurde jedoch klar, dass von einem solchen, den konservativsten Sektoren der Diktatur entstammenden Mann keine wirkliche Demokratisierung des Regimes zu erwarten war. So ernannte der König im Sommer 1976 einen anderen Ministerpräsidenten, Adolfo Suárez González, der auch Sekretär der Einheitspartei der Diktatur (Movimiento Nacional: Nationale Bewegung) und Minister der letzten Regierung der Diktatur gewesen war, der aber zu einer jüngeren Generation gehörte und, zur Überraschung von vielen, bald mit dem Abbau der juristischen Struktur des diktatorischen Regimes anfing und die Bahn zu einer demokratischen, rechtsstaatlichen Fundierung der Monarchie brach. Diese erste Phase, die mit der Ernennung von Adolfo Suárez González anfing, wurde, wie es auch bei den Übergängen zur Demokratie in anderen Ländern der Fall gewesen war, durch ein doppeltes Vorzeichen gekennzeichnet: von einem Bruch, was die Inhalte, und von einer Kontinuität, was die Personen angeht.4 Um den politischen Bruch mit der Diktatur vorzubereiten, wurde von den Cortes, dem sogenannten legislativen Organ der Diktatur, ein später mit einem Referendum am 15. Dezember 1976 beschlossenes Gesetz für die politische Reform verabschiedet, das die Tür zu allgemeinen demokratischen Wahlen öffnen sollte.5 Es stellte einerseits fest, dass die bisherigen Vertreter bzw. Abgeordneten der Diktatur damit einverstanden seien, als solche zurückzutreten, und wenn sie eine weitere politische Karriere anstreben wollten, an den allgemeinen Wahlen nach einem demokratischen System teilnehmen und mit anderen Kandidaten und Vertretern der bis dahin verbotenen politischen Parteien unter gleichen Bedingungen konkurrieren müssten. Ande4 Siehe Bernhard Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 130 ff., der allerdings dieses Vorzeichen auf die Rechtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland bezieht. 5 Zu diesem Gesetz und seinen strafrechtlichen Folgen s. Tomás Vives Antón, in Cuadernos de Política criminal, 1977, 73 ff.

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rerseits setzte es voraus, dass alle bis zu diesem Moment verbotenen politischen Parteien legalisiert werden mussten, damit sie an den Wahlen teilnehmen durften. Der Grundstein war die Legalisierung der spanischen Kommunistischen Partei (PCE: Partido Comunista Español), deren Generalsekretär Santiago Carrillo nach seiner illegalen Einreise nach Spanien 1976 und einer kurzen vorläufigen Festnahme bald als normaler Bürger auf freien Fuß gesetzt wurde.6 Dieser Legalisierung standen zwei Schranken gegenüber, die damals als unüberwindbar betrachtet wurden. Die eine war der internationale Kontext des immer noch andauernden Kalten Krieges, der in manchen westeuropäischen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland zu einer Illegalisierung der Kommunistischen Parteien und sogar zu Berufsverboten ihrer Mitglieder führte. Die andere war das starke Gefühl des Antikommunismus, das der Diktator Franco immer als wichtigstes Zeichen seines System nach außen und nach innen vorgezeigt hatte, wobei er als Kommunisten nicht nur die wirklichen Kommunisten, sondern auch Sozialisten, Sozialdemokraten, Republikaner, Freimaurer, Nationalisten und sogar echte Antikommunisten wie Liberale, Christdemokraten usw. betrachtete, die Regimegegner, einfache Demokraten oder Anhänger der Republik waren. Gerade eine der ersten Reformen des damals geltenden Strafgesetzbuches, das bis dahin alle politischen Parteien zu illegalen Vereiningungen erklärt hatte, sollte nun als solche illegale Vereinigungen gerade diejenigen betrachten, die als Ziel „die Einführung eines totalitären Systems“ anstrebten.7 Aber die spanische Kommunistische Partei hatte schon seit langem ihre Verbindungen zur sowjetischen Kommunistischen Partei abgebrochen, und ihr Generalsekretär Santiago Carrillo hatte zusammen mit seinen Kollegen, dem Franzosen George Marchais und dem Italiener Enrico Berlinguer den sog. „Eurocomunismo“ gegründet, der auf die Grundthese des Marxismus-Leninismus, die Diktatur des Proletariats, verzichtete, das pluralistische demokratische System der westeuropäischen Länder annahm und eine Politik der nationalen Versöhnung vertrat.8 Trotz dieser schwierigen äußeren und inneren Umstände hat sich Ministerpräsident Adolfo Suárez González mit einer Mischung aus Mut und politischer Klugheit im April 1977 persönlich für die Legalisierung der spanischen Kommunistischen Partei (PCE) erklärt,9 die daraufhin mit den anderen schon legalisierten politischen Parteien an den bevorstehenden Wah6 Über diese zum Teil dramatischen, zum Teil lächerlichen Umstände seiner Festnahme und Freilassung informiert Santiago Carrillo selbst in seiner Autobiographie, Memorias, Barcelona 1993, 613, 640 ff. S. auch das Vorwort von Santiago Carrillo zum Buch von Teodulfo Lagunero Muñoz, Una vida entre poetas, Madrid 2006, ein reicher Unternehmer, der ihm damals dabei sehr geholfen hat. 7 s. Gesetz zur Reform des Strafgesetzbuches vom 19. Juli 1976 (Art. 172, Abs. 2). Dazu s. Muñoz-Conde, Derecho penal, Parte Especial, 2. Aufl., Sevilla 1976, 546. 8 s. Santiago Carrillo, Eurocomunismo y Estado, Madrid 1977. 9 Zur Legalisierung der Kommunistischen Partei, die den demokratischen Willen und auch den Mut von Adolfo Suarez zeigte und gleichzeitig die Empörung und sogar fast einen Putsch des Militärs mit dem Rücktritt des Ministers der Marine, Admiral Pita da Veiga, auslöste, s. die Autobiographie von Santiago Carrillo, a.a.O., der über die damaligen Umstände authentisch informiert.

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len teilnehmen durfte. Damit war die Tür zu den ersten demokratischen Wahlen nach 41 Jahren geöffnet, die am 11. Juni 1977 stattfanden. Fahnen und Symbole, Hymnen und politische Slogans, die bis zu diesem Moment verboten gewesen waren und deren Tragen oder Verbreiten als Straftaten der „Propaganda Ilegal“ vom Sondergericht „Tribunal de Orden Público“ schwer bestraft worden waren, waren plötzlich überall auf Plakaten und in Versammlungen zu sehen und wurden vom öffentlichen Fernsehen und anderen Medien übertragen. Aber vor allem Personen, die bis dahin im Exil oder in Gefängnissen gewesen waren, durften ihre Ideen öffentlich vortragen und sich als Kandidaten der politischen Parteien vorstellen. Damit das möglich war, musste man juristisch nicht nur praktisch alle politischen Parteien legalisieren, sondern auch eine Amnestie derjenigen verabschieden, die wegen ihrer Opposition zum diktatorischen Regime im Exil lebten oder immer noch lange Freiheitsstrafen absitzen mussten. Manche Reformen des damaligen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Entkriminalisierung der politischen Parteien und des Streik- und Gewerkschaftsrechts,10 hatten infolge der neuen günstigeren Gesetze auch zur Freilassung führender Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft „Comisiones Obreras“ geführt. Um die Wahlen juristisch zu regeln, wurde am 18. März 1977 ein königliches Dekret (Real-Decreto 20/1977) verabschiedet, das auch einen strafrechtlichen Teil mit den Wahldelikten enthielt,11 der bis heute geltendes Wahlrecht ist. Auch ein RealDecreto-Ley 24/1977, vom 1. April 1977, zur Meinungsfreiheit wollte in diesem für den Wahlkampf der politischen Parteien wichtigen Gesetz gewisse Grenzen der Meinungsfreiheit, die von früheren Gesetzen und vom Strafgesetzbuch gezogen worden waren, beseitigen, gleichzeitig gab es jedoch bestimmten Institutionen und Symbolen wie Monarchie, Militär, Einheit der Nation usw. einen besonderen Schutz und fungierte in gewissem Sinne als Grenze einer Kritik am vergangenen Regime.12 Das Ergebnis der Wahlen vom 11. 06. 1977 ergab ein neues Bild der politischen Lage Spaniens. Gewiss hatte die von Adolfo Suárez und anderen aus der Diktatur enstammenden jungen Politikern, aber auch von Liberalen und Christdemokraten ge10 s. Real-Decreto-Ley 17/1977, vom 4. März, über Arbeitsverhältnisse, der Art. 222 des Código penal änderte, um den Streik, der nur aus beruflichen bzw. arbeitsrechtlichen Gründen stattfand, zu legalisieren. Das Gesetz über die Gewerkschaften vom 1. April 1977 hat auch die freie Gründung der Gewerkschaften legalisiert, die bis dahin als illegale Vereinigung strafbar war. Man erinnere sich nur an den berühmten „Prozess 1001“ vor dem Tribunal de Orden Público, der am 20. Dezember 1973 stattfand, dem Tag, an dem Vizepräsident Admiral Carrero Blanco von der ETA bei einem Attentat ermordet wurde. In diesem Prozess wurden Syndikalisten, Führer der damals illegalen Gewerkschaft „Comisiones Obreras“ wegen illegaler Vereinigung angeklagt und zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Heute ist „Comisiones Obreras“ eine der wichtigsten Gewerkschaften. 11 s. Muñoz-Conde, Delitos electorales, in Cuadernos de Política criminal, 1977, 165 ff. 12 s. Marino Barbero Santos, Política y Derecho penal en España, Madrid 1977, 139; Tomas Vives Antón, Libertad de prensa y responsabilidad criminal, Madrid 1977, 214 ff.

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gründete Partei der Unión de Centro Democrático (UCD) die relative Mehrheit (166 Sitze) gewonnen. Das war allerdings fast erwartet worden, denn diese handelten auf der Basis der früheren Institutionen der politischen und wirtschaftlichen Macht und hatten die Kontrolle des staatlichen Machtapparats in ihren Händen. Aber ein Grund für ihren Erfolg war wohl auch ein Angst- und Unsicherheitsgefühl der Beamten, der Bourgeoisie und der inzwischen größer gewordenen Mittelklasse vor einer raschen Entwicklung und Veränderung zur Demokratie, wie sie die sozialistische und kommunistische Partei wollte. Die UCD versprach eine allmähliche Reform des diktatorischen Systems, ohne die staatliche Machtausübung und den in den letzten Jahren der Diktatur erworbenen Wohlstand zu gefährden. Daher bestand schon eine Tendenz zum politischen Zentrum bei einem großen Teil der spanischen Gesellschaft, der 5 Jahre später bei den Wahlen vom 28. Oktober 1982 für den Erfolg der sozialistischen Partei sehr wichtig und seither bei späteren Wahlen immer entscheidend war. Gleichzeitig konnten diejenigen, die ihre beruflichen, akademischen, wirtschaftlichen und sogar politischen Karrieren in der Zeit der Diktatur begonnen und fortgesetzt hatten, mit dem Erfolg der UCD ihres status quo auch nach der Auflösung des Apparats der Diktatur sicher sein. Ein plötzlicher Bruch in diesem Apparat wäre, so dachten damals viele, zu gefährlich gewesen und hätte auch „das tradierte, geschätzte, gepflegte Selbstbild“13 von vielen Leuten zerstört. Das Beharren auf alten autoritären Modellen mit kaum demokratischen Profilen, wie es die Partei „Alianza Popular“ (AP) vorschlug, hatte jedoch keine Chance, die Wahlen zu gewinnen, denn es bedeutete die Kontinuität der Diktatur mit einem anderen Namen und ihren wichtigsten und härtesten Vertretern (Manuel Fraga Iribarne, Laureano López Rodó u. a.), die eine Mischung von ehemaligen Falangisten und Technokraten des Opus Dei waren und in den letzten Regierungen von Diktator Franco stets vertreten gewesen waren. Sie wurde nur viertstärkste Partei und bekam nur 16 Sitze. Zweistärkeste Partei wurde der „Partido Socialista Obrero Español“ (PSOE) (118 Sitze), der während der Diktatur praktisch verschwunden war und dessen führende Persönlichkeiten im Exil lebten oder verstorben waren, die aber von einigen jungen Anwälten, Akademikern, Arbeitern, Berufstätigen im Innern am Anfang der 70er Jahre mit Unterstüzung der deutschen SPD (Willy Brandt) und der französischen sozialistischen Partei (François Mitterand) unter der Leitung ihres Generalsekretärs, des jungen sevillanischen Anwalts Felipe González Márquez reorganisiert worden war. Nach den damaligen westeuropäischen politischen Verhältnissen war es von Anfang an klar, dass diese Partei die besten Chancen hatte, an die Macht zu kommen. Dass dies erst 5 Jahre später der Fall war, ist auf die damals noch in vielen Schichten der spanischen Bevölkerung bestehende Angst vor einem zu starken Bruch und auf die Jugend ihrer Führung zurückzuführen. 13 Mit diesem Satz beschreibt Schlink, a.a.O., 132, wie die deutschen Juristen vom Nationalsozialismus zur Demokratie übergingen, ohne ihr Selbtbild zerstören zu müssen. Zum Juristenprozess und der Rolle der Juristen während des Nationalsozialismus s. Muñoz Conde/ Muñoz Aunión, Das Urteil von Nürnberg, Berlin 2006.

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Eine Überraschung war die niedrige Zahl der Stimmen, die die Kommunistische Partei bekam, die mit 19 Abgeordneten die drittstärkste Partei wurde. In diesem Fall hat neben dem noch starken Antikommunismus eines Teiles der Bevöllkerung und vor allem des Militärs und der noch in vielen Schichten der spanischen Bevölkerung bestehenden Angst vor einem zu starken Bruch, der mit den Kommunisten noch mehr zu fürchten war, das Alter vieler ihrer Führer eine Rolle gespielt, die manchmal Symbole und sogar Ikonen, wie z. B. Dolores Ibarrurri „La Pasionaria“, des Widerstandskampfes gegen die Diktatur waren. Eine wichtige Bedeutung hatte die Präsenz der nationalistischen Parteien im Parlament, der Baskischen Nationalpartei (PNV) (9 Sitze) und des katalanistischen Parteienbündnisses Convergencia i Unió (CiU) (14 Sitze), die von Anfang an das Problem der baskischen und katalanischen Nationalitäten auf den Tisch legten, die von der Diktatur immer unterdrückt worden waren. Dies war ein besonders kompliziertes Problem während der Erarbeitung der Verfassung und ist heute immer noch ein heikles Problem, das bisher keine befriedigende Lösung gefunden hat. Mit dieser Konstellation wurde sofort klar, dass die juristische und politische Transformation, die den Übergang der Diktatur zu einem fest etablierten demokratischen System ermöglichte, einen Konsens zwischen den oben genannten parlamentarischen Parteien verlangte. Dies hat Adolfo Suárez sofort verstanden und er begann bald Verhandlungen mit den Vertretern aller Parteien. Die ersten Reformen waren nur punktuell. Hiermit wollte man entweder nur die besonders kritischen Beispiele der früheren Rechtsordnung abschaffen oder neue Gesetze schaffen, die mit einer modernen Gesellschaft in Einklang standen. Zu den letzteren gehört z. B. die von Finanzminister Francisco Fernández Ordoñez eingeführte steuerrechtliche Reform, die neben einer gänzlich neuen Regelung der Einkommensteuer auch einen neuen Tatbestand der Steuerhinterziehung in das Strafgesetzbuch einführte.14 Die Verhandlungen zwischen den Vetretern aller parlamentarischen Parteien hatten als Folge die sogennanten „Pactos de la Moncloa“ (der Palast der Moncloa ist der Sitz des spanischen Ministerpräsidenten), die neben anderen Reformen mit dem Gesetz 20/1978, vom 8. Mai, zu einer Reform des Strafgesetzbuches führten, das bis dahin vor allem im Bereich der Sexualdelikte Tatbestände enthielt, die mit dem moralischen Pluralismus und der Gleichberechtigung der Frau in einem modernen demokratischen Rechtsstaat unvereinbar waren. Dieses Gesetz hat z. B. Straftaten wie Ankündigung und Vertrieb von Empfängnisverhütungsmitteln, „durch Täuschung“ begangene Verführung einer Frau zwischen 16 und 23 Jahren, „Entführung“ einer 14 Gesetz 50/1977, vom 14. November, das auch Art. 319 des Strafgesetzbuches änderte. Zu diesem und anderen strafrechtlichen Reformen de Jahres 1977, s. Muñoz-Conde, Reformas penales 1977, in Cuadernos de Política criminal, 1978, 118 ff. Eine allgemeine Darstellung aller dieser Reformen vom Anfang des Übergangs zur Demokratie bis heute kann man in den verschiedenen Auflagen meines Lehrbuchs, Derecho penal, Parte Especial, 2. Aufl., Sevilla 1976, bis zur 19. Aufl., Valencia 2013, finden.

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Frau in diesem Alter, auch wenn dies mit ihrem Einverständnis, aber gegen den Willen ihrer Eltern geschah, und die Strafbarkeit des Ehebruches (damals gab es noch keine Scheidung15) abgeschafft. Auch neue Straftatbestände, die vor allem den Terrorismus der ETA betrafen, und der Tatbestand der Folter, der Misshandlungen der Festgenommen durch die Polizei ausdrücklich unter Strafe stellte, wurden eingeführt. Erst später, ab 1979/1980, hat man die Aufgabe in Angriff genommen, ein völlig neues Strafgesetzbuch zu verfassen. Vom damaligen bis zum jetzt geltenden Strafgesetzbuch von 1995 hat es viele Teil-Reformen (1983, 1989) gegeben, die mit dem Terrorismus und dem strafrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, aber auch mit den neuen Sektoren Drogenhandel, Umweltdelikte, Korruption usw. zu tun hatten. Als Folgen dieser „Pactos de la Moncloa“ hat man auch Reformen des Sozial- und Arbeitsrechts und verschiedene wirtschaftliche und soziale Maßnahmen vorgenommen. Aber das wichtigste politische und juristische Ziel aller parlamentarischen Parteien war zu dieser Zeit die Schaffung einer Verfassung, die den zukünftigen Rahmen für die juristische Transformation des ganzen Systems bilden und dadurch den Übergang von der Diktatur zur Demokratie endgültig vollziehen sollte. Aus Zeitgründen kann ich jetzt nur die wichtigsten Züge dieser Legislaturperiode schematisch darstellen und zum Ende meines Beitrags eine allgemeine Einschätzung dieser ersten Etappe des Übergangs geben. Es ist klar, dass eine juristische Tranformation den politischen Willen aller Beteiligten voraussetzt, diese Transformation durchzuführen. Immer wenn von einer juristischen Transformation oder Reform die Rede ist, stehen die politischen Probleme im Vordergrund. Die neue Verfassung musste also die Stütze sein, um den politischen Entscheidungen das juristische Rückgrat zu geben. Aber mit einer so pluralistischen Zusammensetzung des neuen Parlaments war es recht kompliziert, einen politischen Kompromiss zu erreichen. Jede Partei, jede politische Gruppe hatte ihre eigene Auffassung darüber, wie die zukünftige Rechtsordnung Spaniens nach ihrer politischen und ideologischen Weltanschauung aussehen müsste. Die konservativen Rechtsparteien (UCD und AP) wollten so wenig wie möglich an den alten Machtverhältnissen ändern, die Linksparteien (PSOE und PCE), die kaum einige Monate vorher in der illegalen Opposition gewesen waren, wollten natürlich möglichst viele der politischen und juristischen Strukturen der Diktatur abschaffen. Und die nationalistischen Parteien (PNV und CiU) wollten so viel Autonomie wie möglich und sogar das Recht auf Selbstbestimmung für ihre Länder (Baskenland und Katalonien) erreichen. Um einen Konsens zu erlangen, war es also nötig, dass jede Partei auf einen Teil ihrer Bestrebungen verzichtete oder manche Bestrebung anderer Parteien annahm. So hat z. B. die Kommunistische Partei das Recht auf Privateigentum und die Marktwirtschaft angenommen, gleichzeitig aber wurde von den anderen Parteien die Intervention des Staates in die Wirtschaft „nach den Notwendigkeiten der allgemeinen 15 Die Scheidung wurde 1978 von der Verfassung anerkannt, aber erst im Jahre 1981 gesetzlich geregelt.

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Wirtschaft und der Planung“ (Art. 38) anerkannt. Die konservativen, stark von der Katholischen Kirche beeinflussten Rechtsparteien akzeptierten die Scheidung und die Nichtkonfessionalität (religiöse Neutralität) des Staates. Und zum Schluss erkannten alle Parteien die parlamentarische Monarchie und den vom Diktator Franco ernannten König Juan Carlos I de Borbón als König von Spanien (Art. 56, 57) an. Die Dreiteilung der Macht zwischen Parlament, Regierung und Richtermacht (Justiz) (Titel III, IV und V) wurde klar etabliert, und dem Verfassungsgericht wurde die Zuständigkeit übertragen, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen (Titel IX). Titel I enthält einen Katalog der Grundrechte, deren Verletzung vom Verfassungsgericht auf dem Weg der Verfassungsbeschwerde (Recurso de amparo) kontrolliert wird. In Art. 1 wird Spanien als „ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ definiert, „dessen höchste Werte die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und der politische Pluralismus“ sind. Die Katholische Kirche wird ausdrücklich neben den anderen Konfessionen zitiert, aber nur in bezug auf die Glaubensfreiheit. Der spanische Staat erklärt sich also als ein nichtkonfessioneller Staat (Art. 16). Das Militär hat nur die Aufgabe, die Souveränität, die Unabhängigkeit, die Landesintegrität und die verfassungsmäßige Ordnung zu schützen (Art. 8). Andere Fragen blieben jedoch offen oder erhielten Lösungen, die bewusst zweideutig oder sogar widersprüchlich waren. So erklärt z. B. Art. 15, dass „alle das Recht auf Leben und körperliche und moralische Unversehrtheit (Integrität) haben“ und verbietet „Folter und unmenschliche und demütigende Strafen und Misshandlungen“, demgemäß wird die Todesstrafe zwar abgeschafft, aber für den Fall eines Krieges nach den Militärgesetzen beibehalten. Das Wort „alle“ wollten viele in dem Sinne verstehen, dass das Recht auf Leben auch das werdende Leben umfasst, so dass eine Freigabe der Abtreibung gegen Art. 15 verstoße und also verfassungswidrig sei. Erst 7 Jahre später hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die von der sozialistischen Regierung vorgeschlagene enge (therapeutische, ethische und eugenische) Indikationslösung verfassungsmäßig ist (Entscheidung vom 11. April 1985). Dies war bis 2010 das geltende Recht. Im Juli 2010 ist eine Regelung in Kraft getreten, die die sog. Fristenlösung einführte. Aber das am meisten diskutierte Problem war die territoriale (Um-) Organisierung des Landes (Titel VIII). Die „Einheit der spanischen Nation“ galt während der Diktatur wie ein Dogma, das das traditionelle zentralistische System sogar verschärfte. So wurde z. B. die Verwendung von Baskisch und Katalanisch offiziell verboten und sozial missbilligt. Alle wichtigen Entscheidungen, die eine einzelne Provinz oder Region betraf, durften nur von der Zentralregierung in Madrid getroffen werden. Und jedes Verlangen nach mehr Autonomie oder Anerkennung der nationalen Identität wurde unterdrückt oder sogar als „Separatismus“ und „Gefährdung der nationalen Einheit“ strafrechtlich verfolgt. Gerade hier hatte der Terrorismus der ETA im Baskenland einen seiner Gründe, der als Reaktion gegen diese Unterdrückung Anfang der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Gewalt und Terroraktionen wie der Entführung des deutschen Konsuls in San Sebastian (1970) und dem Attentat gegen den Vizepräsidenten Admiral Carrero Blanco (Dezember 1973) begann. Die damalige Re-

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aktion der Diktatur war, die mutmaßlichen Mitglieder dieser terroristischen Organisation vom Sondergericht „Tribunal de Orden Público“ verurteilen zu lassen, das seit 1963 das zuständige Gericht war, um die politischen Straftaten zu verfolgen, und im Falle von Gewalt mit Todesfolge sogar von einem Militärgericht, das im September 1975 (zwei Monate vor dem Tod des Diktators) fünf Mitglieder der ETA zum Tode verurteilte und erschießen ließ. Mit dieser Vorgeschichte war klar, dass die Baskische Nationalpartei (PNV) etwas mehr als eine bescheidene Autonomie für das Baskenland anstreben wollte. Auch die Katalanen wollten mehr Autonomie und sogar, genauso wie die Basken, die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung. Andere Teile des Landes verlangten ebenfalls Autonomie. Eine gute Lösung wäre es vielleicht gewesen, das neue Spanien als einen Bundesstaat zu gestalten, wie es z. B. in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg geschah und wie die Linksparteien PSOE und PCE vorschlugen, aber diese Lösung wurde von Anfang an von den Rechtsparteien abgelehnt und vom Militär misstraurisch betrachtet, das die „Einheit der spanischen Nation“ immer noch als ein unantastbares Dogma ansah. Die Lösung war am Ende das im Kapitel 3 des Titels VIII vorgesehene System der „Comunidades Autonómas“ (Autonome Regionen oder Gemeinschaften), das am meisten diskutiert wurde und für die Baskische Nationalpartei keine befriedigende Lösung war, weshalb sie bei der späteren Volksabstimmung eine negative Stimme gegen die Verfassung abgab.16 Im Herbst 1978 wurde die Verfassung im Parlament mit einer großen Mehrheit verabschiedet und am 6. Dezember 1978 vom Volk bei einer Volksabstimmung mit einer Teilnahme von 87 Prozent und einer Zustimmung von 59 Prozent ratifiziert. Damit hatte man den ersten Schritt einer politischen und rechtlichen Transformation getan, die Spanien von einer Diktatur zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat umwandeln sollte. Aber das war nur der Anfang und aller Anfang ist schwer. Die Fortsetzung aber war noch schwieriger. Mit ihrer offiziellen Veröffentlichung in spanischer, katalanischer, baskischer und galizischer Sprache (BOE 29. Dezember 1978) trat die Verfassung sofort in Kraft: Der Vorhang des ersten Akts der Transformation war gefallen und viele Fragen blieben offen. Die Zukunft war immer noch unsicher. Die terroristischen Aktionen der die Unabhängikeit des Baskenlandes anstrebenden baskischen Gruppe ETA geschahen öfter und waren jedesmal brutaler, was eine Amnestie, wie sie die Baskische Nationalpartei und die Linksparteien verlangten, fast unmöglich machte. Die Extremisten der rechtsradikalen Gruppen begingen Terroraktionen wie die Ermordung von 5 Anwälten der Gewerkschaft „Comisiones Obreras“ in Januar 1977. Ein Teil des Militärs drohte jeden Tag mit einem Putsch, der am 23. Februar 1981 fast im Begriff war, Er16 Zur parlamentarischen Diskussion dieses Problems s. Bonifacio de la Cuadra/Soledad Gallego Díaz, Del consenso al desencanto, Madrid 1981, 145 ff. Auch Edward Malefakis, Spain and its Francoist Heritage, in: From Dictatorship to Democracy, Coping with the Legacies of Authoritarism und Totalitarism, edited by John Herz, 1982, 223, ff.

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folg zu haben und Spanien wieder zu einer militärischen Diktatur zurückzuführen. Die Wirtschaft war in eine Krise geraten und die Arbeitslosenquote stieg ständig. Außerdem trat Präsident Adolfo Suárez, dessen Partei UCD nach der Verabschiedung der Verfassung die anberaumten Neuwahlen im März 1979 gewonnen hatte, aus unbekannten Gründen zurück. Am 28. Oktober 1982 gewann die sozialistische Partei (PSOE) die Wahlen mit absoluter Mehrheit. Die UCD und die Kommunistische Partei verschwanden praktisch. Allmählich entstand eine neue Rechtspartei Partido Popular (PP) aus UCD und AP und wurde die andere große Partei, zunächst in der Opposition, später an der Macht. Ein Zweiparteiensystem begann die politische Szene zu beherrschen und beherrscht sie bis 2015. Bis März 1996 regierten die sozialistische Partei und die sozialistische Regierung mit Felipe González als Ministerpräsident, zunächst bis 1992 allein mit einer absoluten und dann bis 1996 mit relativer Mehrheit, aber mit Unterstützung der katalanischen Partei CiU. Sie hat Spanien gewiss modernisiert, den Bruch mit der Diktatur weiter vertieft, die wirtschaftliche Lage verbessert und mit dem Eintrit in den Europäischen Markt und die NATO in den 80er Jahren einen internationalen Rang erreicht. Aber die rasche wirtschaftliche Entwicklung brachte auch Korruption, und bestimmte Fälle der illegalen Finanzierung der sozialistischen Partei wie der Fall „FILESA“17 diskreditierten die sozialistische Regierung und Partei. Auch der Kampf mit illegalen Mitteln und paramilitarischen Gruppen wie der GAL gegen die terroristische Gruppe ETA beschädigte das Ansehen der sozialistischen Regierung.18 Im März 1996 gewann die konservative Rechtspartei Partido Popular (PP) die Wahlen mit relativer Mehrheit. Wieder spielte die katalanische Partei CiU die Rolle einer Angelpartei (eines Züngleins an der Waage) und milderte gewisse konservative Tendenzen der PP ab. In den Wahlen von 2000 erreichte die PP jedoch die absolute Mehrheit und unternahm mit einer agressiveren konservativen Politik eine Welle juristischer Reformen vor allem des Strafgesetzbuches, die eindeutig den heutigen international ziemlich ausgeweiteten kriminalpolitischen Tendenzen zu „Zero Toleranz“ und zum sog. „Feindstrafrecht“ entsprachen.19 Im Jahre 2003 billigte Ministerpräsident José María Aznar auf den Azoren im Einverständnis mit dem amerikanischen Präsidenten Bush und dem englischen Premierminister Blair, aber unter starkem Widerstand aller parlamentarischen Oppositionsparteien und großer Teile der spanischen Bevölkerung den Einmarsch der amerikanischen 17 s. Entscheidung des Tribunal Supremo vom 28. November 1998, die führende Mitglieder der sozialistischen Partei wegen Urkundenfälschung und Bestechung verurteilte. 18 s. Entscheidung des Tribunal Supremo vom 29. Juli 1998, die den Innenminister und den Staatssekretär und andere Beamten des Inneministeriums wegen illegaler Festnahme eines vermeintlichen Mitglieds von ETA verurteilte. 19 s. Muñoz-Conde, Las reformas de la Parte Especial del Derecho penal español en el 2003: De la „tolerancia cero“ al „Derecho penal del enemigo“, in Studi in onore di Giorgio Marinucci, Milano 2006; derselbe, De nuevo sobre el Derecho penal del enemigo, in Revista Penal, 16, 2005 (auch als Buch bei Editorial Hammurabi, Buenos Aires 2005, erschienen. Es gibt eine deutsche Übersetzung von Moritz Vormbaum, erschienen beim LIT Verlag, Berlin 2007, mit dem Titel „Über das ,Feindstrafrecht‘“).

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Truppen in den Irak. Am 11. März 2004, einige Tage vor den allgemeinen Wahlen, fand ein von einer islamischen terroristischen Gruppe begangenes Attentat im Madrider Atocha Hauptbahnhof mit ca. 200 Toten und mehr als 1.000 Schwerverletzten statt. Drei Tage später gewann die sozialistische Partei die Wahlen, die unter ihrem neuen Generalsekrätar José Luis Rodríguez Zapatero auch nach den Wahlen 2008 bis zum Ende 2011 in Spanien regierte. Die Wahlen, die im November 2011 stattfanden, hat die Konservative Rechtspartei (PP) gewonnen. Wenn man heute Gesetze und Institutionen auf fortwirkende juristische Inhalte der Diktatur durchsieht, wird man darin kaum etwas entdecken. Auch die Personen, die enge Verbindungen zur Dikatur hatten und während der ersten Etappe des Übergangs zur Demokratie immer noch an der Macht waren, leben entweder nicht mehr, haben keine politische Bedeutung mehr, oder liefen rechtzeitig zur Demokratie über. Und trotzdem ist immer noch ein gewisses Unbehagen mit der Bewältigung der Vergangenheit zu spüren. Ein wirkliches Abrechnen mit der Vergangenheit hat es nie gegeben und eine rechtzeitige Wiedergutmachung für die Opfer auch nicht. Die Zeit hat nicht nur die Wunden geheilt, sondern auch die Täter und die Opfer sterben lassen. Auch die letzteren leben nicht mehr oder sind zu alt, und ihre Verwandten, Kinder und Enkel wollen eher eine moralische Wiedergutmachung als Vergeltung und Rache, sie rufen nach Gerechtigkeit nur insoweit, als sie die Wahrheit wissen wollen und nichts als die Wahrheit. Eine Versöhnungskomission ist also nicht nötig, weil die Zeit die Kinder von beiden Seiten, Sieger und Verlierer, schon seit langem versöhnt hat. Aber es gibt immer noch viele Probleme, die auf diese Vergangenheit zurückzuführen sind; und die Schatten der Vergangenheit verhindern immer noch, eine gute Lösung für sie zu finden. Ich beziehe mich nicht nur auf die Verbrechen der Diktatur, sondern auch auf die Freilassung der Terroristen der baskischen Gruppe ETA, die im Jahre 2008 den Waffenstillstand erklärt hat. Die Verhandlungen zwischen dieser Gruppe und der Regierung hatten erst jetzt im Juni 2006 angefangen. Leider hat die ETA im Dezember 2006 wieder ein Attentat am Madrider Flughafen begangen und 2 Tote verursacht. Seitdem waren die Verhandlungen unterbrochen worden. Aber nach dem Waffenstillstand, den die ETA im November 2008 erklärte, haben wieder Verhandlungen stattgefunden, die sich vor allem auf die Freilassung der Terroristen oder einfach auf eine Lockerung ihrer Lage im Strafvollzug beziehen. Aber welchen Preis muss man dafür bezahlen? Die meisten Mitglieder der ETA. die im Gefängnis sitzen, haben Morde begangen oder an Morden und Attentaten mit Todesfolge teilgenommen und haben noch lange Freiheitsstrafen zu verbüßen, umso mehr, als eine neue fragwürdige Rechtsprechung neue scharfe rückwirkende Kriterien für ihre bedingte Entlassung anwendet.20 Diese Rechtsprechung hat im Oktober 2013 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot erklärt, was die sofortige Freilassung vieler Terroristen zur Folge gehabt hat. Nun fürchten Gruppen der Opfer des Terrorismus mit Recht, 20 s. Entscheidung des Obergerichts (Tribunal Supremo) vom 20. Februar 2006 (sog. „Doctrina Parot“).

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dass die Verhandlungen zwischen der Regierung und der ETA eine baldige Freilassung dieser Täter zur Folge haben könnte. Hier hat die Zeit die Wunden noch nicht geheilt, und die einzigen, die gestorben sind, sind die Opfer oder viele von ihnen. Auch beim Kampf gegen den Terrorismus sind viele Exzesse, Straftaten und Gräueltaten wie Folter und illegale Festnahmen der Terroristen oder ihrer Anhänger von den staatlichen polizeilichen Apparaten begangen worden, die sogar zur Verurteilung des Innenministers und des Staatssekretärs und anderer Beamter des Innenministeriums wegen illegaler Festnahme eines vermeintlichen Mitglieds der ETA führten. Aber wenn man diese vermeintliche Straflosigkeit mit der der Täter der Diktatur vergleicht, kann man manche Folgerungen ziehen. Eine strafrechtliche Abrechnung mit den Verantwortlichen der Diktatur war am Anfang der demokratischen Transition praktisch unmöglich und wäre sogar für die Demokratie tödlich gewesen, da sie noch sehr schwach war und viele von den Verantwortlichen der Diktatur immer noch in den entscheidenden Institutionen (Militär, Gerichtsbarkeit, Verwaltung, Universität, Wirtschaft) saßen und die Macht hatten, um eine strafrechtliche Abrechnung zu vermeiden. Man hat einfach darauf gewartet, dass sie starben, oder versucht, sie mit demokratischen Mitteln von der Macht, den Institutionen, auszuschließen. Das Problem mit der Freilassung der Terroristen der ETA ist freilich ein anderes. Hier ist es nötig, mit einer Versöhnung zu beginnen. Die Terroristen müssen nicht nur auf Gewalt verzichten, sie müssen auch die Opfer um Verzeihung bitten. Damit fängt es an. Dann kann man verhandeln. Darüber hinaus ist mit diesem Problem ein anderes verbunden: das Recht auf Selbstbestimmung des Baskenlandes, dessen Anerkennung nicht nur die sogenannten „Abertzalen“ verlangen, das heißt die Parteien, die politisch in der Nähe der ETA stehen und sogar die totale Unabhängigkeit des Landes wollen (wie z. B. die als illegal erklärte Partei Herri Batasuna, aber auch die nun legalisierte Bildu), sondern auch die Baskische Nationalpartei. Das ist eine Aufgabe für die Zukunft, die auch mit Blick auf die Vergangenheit mit politischer Klugheit von den politische Parteien, aber auch vom spanischen Staat und der spanischen Gesellschaft im Ganzen gelöst werden muss. Die erste Bedingung, der endgültige Verzicht auf Gewalt von Seiten der Terroristen und die Akzeptanz des demokratischen Systems, hat sich allmählich erfüllt. Alles andere kann und muss verhandelt werden. Aber heute, im Jahre 2014, haben die von mal zu mal stärkeren Forderungen nach Autonomie und Selbständigkeit mancher „Comunidades Autónomas“, die mehr als die Einheit der Nation die Solidarität der „Comunidades Autónomas“ untereinander und die konstitutionelle Machtverteilung zwischen der Zentralmacht des Staates und der der „Comunidades“ gefährden, dazu geführt, dass die katalanische Regierung mit einem Referendum bestimmen will, ob Katalunien zu einem souveränen, unabhängigen Staat innerhalb der Europäischen Union werden kann. Spanien hat auch andere Probleme, die zum Teil gemeinsame Probleme aller europäischen Länder sind und die nicht mit der Vergangenheit zu tun haben, sondern die Zukunft betreffen, wie die Wirtschaftskrise, die illegale Immigration, die Arbeitslo-

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sigkeit vor allem der Jugend, die Ölkrise, der internationale islamistische Terrorismus etc. Diese Probleme sind Herausforderungen der Gegenwart, die in die Zukunft wirken und auch jetzt gelöst werden müssen. Ein Problem ist auch in Spanien in den letzten Jahren die skandalöse massive Korruption von vielen wichtigen Politikern und die illegale Finanzierung der politischen Parteien gewesen, die zu einer Diskreditierung vor allem der Parteien, Partido Popular und Partido Socialista Obrero Español, die in den letzten 30 Jahren alternativ die politische Szene beherrscht haben, geführt hat. Das hat auch zur Diskreditierung des ganzen demokratischen Systems, aber auch zum Entstehen neuer Parteien geführt, die das Zweiparteiensystem bedrohen und die nach den allgemeinen Wahlen vom 20. Dezember 2015 das Bild der politischen Lage Spaniens verändern können. Nun finden viele lang andauernde Strafprozesse statt, was auch zu einer Politisierung der Strafjustiz führen kann. Aber das Verlangen nach einer Aufarbeitung der während der vergangenen Diktatur begangenen Staatsverbrechen ist deswegen nicht vergessen worden, sondern sogar, wie wir jetzt sehen werden, in den letzten Jahren verstärkt gestiegen.

III. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Franco-Diktatur und die Untersuchung von Untersuchungsrichter Baltasar Garzón21 Im Jahre 2008 wollte ein spanischer Untersuchungsrichter an der Audiencia Nacional, Baltasar Garzón Real, einen Prozess gegen die Hauptverantwortlichen des Putsches von 1936 und dann der Diktatur, die bis zum Tode des Diktators General Franco gedauert hat, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eröffnen. Als im Jahre 2006 dieser Richter eine Sammelklage der Opfer der Diktatur in die Hände bekam, wandte er die gleiche Auffassung an wie bereits 1998, als er einen internationalen Haftbefehl gegen den mittlerweile verstorbenen chilenischen Diktator Augusto Pinochet einleitete. Aus seiner Sicht ist das Verschwinden von Hunderttausenden in Spanien auch ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Er erklärte sich für zuständig, dieses Verbrechen aufzuklären. Dabei ging es insbesondere um das Schicksal dieser „Verschwundenen“. Nach seiner Meinung seien sie im Rahmen eines Plans der systematischen Ausrottung des politischen Gegners Opfer von illegalen Entführungen durch Staatsorgane geworden, die insofern bis heute andauerten, als die Opfer weder tot noch lebendig gefunden worden sind. Die Taten seien damit auch nicht verjährt, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nach dem RomStatut unverjährbar. Er hat sich auch als zuständiger Richter erklärt, um diese Ver21

Dazu Muñoz-Conde, Die strafrechtliche Aufarbeitung der spanischen Diktatur: der Fall Garzón, in Vormbaum Festgabe, 2014; Antonio Cuerda Riezu, Estaría de acuerdo con lo que dice el Tribunal Supremo… si no lo dijera el Tribunal Supremo. La condena contra el Juez Garzón por delito de prevaricación, in Revista Española de Derecho constitucional, num. 99, septiembre-diciembre (2013), S. 287 – 328.

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brechen zu untersuchen, weil Würdenträger des spanischen Staates in die Gräueltaten verwickelt waren – angefangen mit dem Diktator Francisco Franco. Um sich zu vergewissern, dass die juristische Verantwortlichkeit Francos sowie von 34 seiner Schergen mittlerweile erloschen ist, forderte er in seinem Beschluss die Sterbeurkunden der Beschuldigten an. Zu den Anordnungen von Garzón zählte unter anderem die Aushebung von mindestens 19 Massengräbern, darunter auch das Grab des Dichters Federico García Lorca, der von Falangisten in Granada im August 1936 ermordet worden war. Zudem verlangte Garzón vom Innenministerium eine Aufstellung der Personen, die vom Beginn des Bürgerkrieges bis 1951 die wichtigsten Posten hatten, um zu prüfen, ob noch jemand belangt werden könnte. Bald kündigte die Staatsanwaltschaft Einspruch mit der Begründung an, mögliche Verbrechen seien durch die Amnestie von 1977 abgegolten. Meiner Meinung nach muss über diese Amnestie noch etwas gesagt werden. Sie war am Anfang der demokratischen Transition notwendig, um die Regimegegner und Widerstandskämpfer gegen die Diktatur freizulassen, wenn sie noch im Gefängnis waren, oder um die Strafprozesse gegen sie einzustellen. Das hat seit dem Ende der Diktatur und vom Anfang der Transition an die damals noch illegale Opposition immer verlangt. Und allmählich hat sie sie mit Mühe erreicht: Am Anfang der Transition nur für rein politische Straftaten ohne Anwendung von Gewalt; später auch hinsichtlich Gewalttaten gegen die Diktatur. Der Grund dafür war offensichtlich: Die meisten von den Amnestierten waren in den letzten Jahren der Diktatur von Militär- und Sondergerichten wegen Straftaten verurteilt worden, die oft nur die Ausübung der in einer Demokratie selbstverständlichen Rechte der Meinungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit waren. Sicher hat man während des Bürgerkrieges auch auf der Seite der Verlierer Gräuel begangen. Aber diese Verbrechen wurden von den Siegern des Bürgerkrieges in einem „Generalprozess“ untersucht und viele von ihnen waren bereits nach dem Krieg und sogar noch 30 Jahre später in den 60ern (Fall Grimau u. a.) mit der von Militärgerichten verhängten Todesstrafe geahndet worden. Im Grund genommen war die Amnestie nur für Personen, die gegen die Diktatur demokratisch oder mit Gewalt gekämpft hatten. Die Verbrechen der Franquisten hingegen wurden nie von einem Gericht behandelt, nicht einmal, wenn sie als Folge der Repressalien, individueller Exzesse oder der polizeilichen Staatsgewalt im Allgemeinen ohne justizförmige Prozesse begangen worden waren. Die Franquisten haben nie von einer Amnestie Gebrauch machen müssen, weil sie weder während der Diktatur noch der demokratischen Transition jemals zur Verantwortung gezogen worden sind. Sie sind bis heute ungestraft geblieben. Gegen diese Straflosigkeit oder Impunität der Sieger des Bürgerkrieges und Täter der während der Diktatur begangenen Verbrechen wollte Garzón mit dem Argument kämpfen, dass die oben genannte Amnestie von 1977 die Hauptverantwortlichen des Putsches von 1936 und der Diktatur nicht erfasse, da es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele, bei denen das Völkerstrafrecht „keine Normen des Pardon

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oder des Vergessens“ erlaubt. Darüber hinaus seien sie auch nach den Grundsätzen des Völkerstrafrechts (Rom Statut) unverjährbar. Meiner Meinung nach kann man bestreiten, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die zuerst eine juristische Konstruktion der Nürnberger Prozesse waren und nun im Rom Statut enthalten sind, rückwirkend auf früher begangene Straftaten angewendet werden dürfen. Problematisch ist es auch, die vom Völkerstrafrecht erklärte Unverjährbarkeit dieser Verbrechen rückwirkend anzuwenden.22 Aber juristisch noch mehr zweifelhaft ist es, einen Strafprozess gegen längst verstorbene Täter zu eröffnen, beginnend mit der Anforderung der Sterbeurkunden der Beschuldigten. War der von Richter Garzón eröffnete Strafprozess nur ein Akt mit Symbolgehalt, der von Anfang an keine Aussichten hatte, bis zum Ende zu kommen? Ist es wirklich ein notwendiges und legitimes Anliegen der Strafjustiz, einen Strafprozess gegen längst verstorbene Täter zu eröffnen, die sicher Gräueltaten begangen haben und trotzdem straflos blieben, wenn sie schon verstorben sind? Garzón glaubte es. Das Obergericht (Audiencia Nacional) hat das Gegenteil geglaubt und seine Untersuchung gestoppt. Damit endeten die Ermittlungen von Richter Garzón in diesem Fall in einer Sackgasse. Aber das war nicht das Ende dieser Geschichte.

IV. Das Urteil des Tribunal Supremo vom 27. Februar 2012 (101/2012) 2009 ließ der spanische Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) eine Volksklage von drei Organisationen von Rechtsradikalen gegen Garzón wegen Rechtsbeugung zu. Im Januar 2012 fand die mündliche Verhandlung statt, und am 27. Februar 2012 hat der Tribunal Supremo in seinem Urteil 101/2012 den Richter Baltasar Garzón im Verfahren um Ermittlungen zu den Verbrechen der Franco-Ära freigesprochen. Eine resümierte Fassung des Textes dieses Urteils23 sei nachfolgend wiedergegeben: STS 101/2012, vom 27. Februar Oberster Gerichtshof. Urteil in der Sache ,Manos Limpias y Asociación Libertad e Identidad gegen Baltasar Garzón‘ wegen Rechtsbeugung in den sogenannten ,juicios de la verdad‘ oder Wahrheitsprozessen Rechtsbeugung. Sog. „juicios de la verdad“. Falsche Interpretation, Rechtsauslegung und Unrecht. Einzelurteile dafür und dagegen. Die zweite Kammer des Obersten Gerichtshofes hat das freisprechende Urteil 101/2012 in der Sache 20048/2009, eingeleitet durch die Anzeige der Vertretung der Beamtengewerk22 Zu dieser Problematik im Allgemeinen verweise ich auf die umfassende noch unveröffentlichte Arbeit von Martin Asholt, Verjährung im Strafrecht. 23 s. www.poder judicial.es.

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schaft „Manos Limpias“ zusammen mit der Sache 3/20153/2009 eingeleitet über denselben Sachverhalt durch die Anzeige des Vereins Civil Libertad e Identidad als Privatanzeige gegen den Richter Baltasar Garzón, erlassen. Das Urteil wird beigefügt. Die Kammer hält fest, dass auch wenn durch die richterliche Handlung vom angeklagten Richter die Normen im Übermaß angewendet und interpretiert wurden, sind diese im gerichtlichen Wege korrigiert worden und sie erreichen nicht das vom Straftatbestand der Rechtsbeugung verlangte Unrecht. Seine Handlung kann auch nicht als willkürlich im Sinne der Rechtsbeugung, die hier geprüft wurde, bewertet werden. Urteil Nr. 101/2012, vom 27. Februar. Aus den Gründen: „Das Urteil behandelt eine mögliche Rechtsbeugung durch den Angeklagten. Er hat als Instruktionsrichter (Staatsanwalt) ein Verfahren zur Ermittlung des Verbleibes verschiedener Personen, die zwischen den Jahren 1936 bis 1952 während des Spanischen Bürgerkrieges und der darauf folgenden Unterdrückung vermisst wurden, eingeleitet. Der Oberste Gerichtshof hält zunächst fest, dass das spanische Strafverfahren nicht für die sogenannten Wahrheitsprozesse verwendet werden kann. In diesen „Prozessen“ finden richterliche Ermittlungen über bestimmte Sachverhalte statt, die strafbegründend sein könnten, bei denen man aber weiß, dass die Prozesse nicht mit der Verurteilung einer Person abgeschlossen werden können, weil die strafrechtliche Verfolgung wegen Verjährung, Amnestie oder Ableben der Beschuldigten nicht mehr möglich ist. Im spanischen System kann man nur gerichtliche Verfahren gegen lebende Beschuldigte eröffnen. Die Suche nach der historischen Wahrheit gehört somit weder zu den Aufgaben des Strafverfahrens noch des Richters. Der Oberste Gerichtshof hält zum Sachverhalt fest, dass die Interpretation des Angeklagten über die Verjährung der Straftaten und über das Amnestiegesetz nicht richtig war. Weiterhin bestätigt der Oberste Gerichtshof die Wirksamkeit des Amnestiegesetzes vom Jahr 1977. Dieses Gesetz wurde während des Übergangs von einem autoritären Staat in die jetzige Demokratie erlassen. Dieser Übergang wird als beispielhaft bewertet und als Ergebnis der Zusammenarbeit der „zwei Spanien“ des Bürgerkrieges gesehen. Es handelt sich nicht um eine Norm, die von den Siegern des Konfliktes zur Erlangung der Straffreiheit auferlegt wurde. Hierbei handelte es sich in keinem Fall um ein Gesetz, welches von den siegenden Machtinhabern erlassen wurde, um die eigenen Verbrechen zu decken, sondern vielmehr um ein Gesetz, mit einem eindeutigen Versöhnungscharakter, das von allen politischen Mächten erlassen wurde. Aus diesen Gründen, das heißt, weil der Übergang oder die „Transición“ dem Willen des spanischen Volkes entsprach und in diesem Gesetz wiedergegeben wurde, kann kein Richter oder Gericht in keiner Weise die Legitimität dieses Prozesses in Frage stellen. Es handelt sich um ein wirksames Gesetz, dessen Abschaffung nur vom Parlament angeordnet werden kann. Es war auch bekannt, dass die Verantwortlichen des ermittelten Sachverhaltes bereits verstorben waren (es handelt sich hierbei um historische Persönlichkeiten wie General Franco); oder es war logisch zu denken, dass sie aufgrund des Zeitablaufes zwischen dem Sachverhalt und dem Beginn des Prozesses verstorben sein mussten. Auf der Basis dieser Argumente, bewertet der Oberste Gerichtshof die oben genannte strafrechtliche Ermittlung als eine falsche Rechtsauslegung. Hierbei muss jedoch beachtet wer-

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den, dass eine falsche Interpretation von der Rechtsbeugung zu unterscheiden ist. Die Rechtsbeugung bestraft nicht die falsche Interpretation, sondern eine Interpretation, die objektiv gegen die Rechtsordnung verstößt und nicht vertretbar ist. Hierunter versteht man eine Interpretation, die sich aus keiner der Interpretationsmethoden der Richter ergibt. Weiterhin trägt der Gerichtshof vor, dass es verschiedene Entscheidungen und Gutachten von Juristen gibt, die eine ähnliche Argumentation, wie die des Angeklagten verwenden. Sowohl auf nationaler Ebene – siehe in diesem Sinne Gutachten der Staatsanwaltschaft vor dem Verfassungsgericht und vor der nationalen Audienz in zwei Verfahren – als auch auf internationaler Ebene, siehe hierzu Urteil des EGMRK in der Sache Kolk und Kislyiy gegen Estonia, vom 17. Januar 2006, sowie Beschlüsse des Komitees für Menschenrechte. Der Gerichtshof erwähnt auch, dass der Angeklagte mit seiner Tat die Lage der Opfer oder deren Angehöriger verbessert hat und deren Recht zur Sachverhaltsklärung und ihre verstorbenen Verwandten zu finden in neuen Gesetzen des spanischen Parlaments anerkannt werden; siehe hierzu das Gesetz des historischen Andenkens (Ley de Memoria Histórica). Der Gerichtshof erklärt folglich, dass der Angeklagte die Norm falsch interpretiert hat, wobei diese Fehler im Wege der Revision und Kontrolle durch die gerichtlichen Instanzen behoben worden sind. Somit existiert eine fehlerhafte Interpretation, aber keine willkürliche richterliche Entscheidung. Und gerade die Willkür ist der Kern des Straftatbestandes der Rechtsbeugung. Folglich und auch wenn die Handlung des angeklagten Richters eine fehlerhafte Anwendung und Interpretation der Normen darstellt, die im gerichtlichen Wege korrigiert wurden, erfüllt diese Handlung nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung und kann nicht als willkürlich bewertet werden. Der Gerichtshof spricht den Angeklagten frei“. Dieses Urteil wird von 5 der 7 Richter der Kammer erlassen. Ein weiterer Richter ist mit dem Freispruch einverstanden, aber aus anderen Gründen, und ein anderer Richter ist demgegenüber der Ansicht, dass die Handlung des Angeklagten doch den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt. Exkurs: Kurzer Kommentar zu diesem Urteil: Mit diesem Urteil sind manche von den früher angesprochenen Fragen beantwortet worden: Dass das (spanische) Strafverfahren nicht für die sogenannten Wahrheitsprozesse verwendet werden kann; dass man nur gerichtliche Verfahren gegen lebenden Beschuldigte eröffnen kann; dass das Amnestiegesetz vom Jahr 1977 auch auf die Verbrechen der Diktatur anwendbar ist; dass kein Richter oder Gericht in keiner Weise die Legitimität dieses Prozesses in Frage stellen kann, denn es handelt sich dabei um ein wirksames Gesetz, dessen Abschaffung nur vom Parlament angeordnet werden kann. Das Problem der rückwirkenden Anwendung der Unverjährbarkeit und des Tatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird jedoch vom Gericht kaum behandelt, obwohl es ausdrücklich weiterhin vorträgt, dass es verschiedene Entscheidungen und Gutachten von Juristen gibt, die eine ähnliche Argumentation, wie die des Angeklagten, verwenden. Sowohl auf nationaler Ebene, als auch auf internationaler Ebene. Trotzdem erklärt es, „dass der Angeklagte die Norm falsch interpretiert hat, wobei diese Fehler im Wege der Revision und Kontrolle durch die gerichtlichen Instanzen behoben worden sind. Somit existiert eine fehlerhafte Interpretation, aber keine willkürliche richterliche Entscheidung. Und gerade die Willkür ist der Kern des Straftatbestandes der Rechtsbeugung“.

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Auf der Basis dieser Argumente bewertet der Oberste Gerichtshof die strafrechtliche Ermittlung von Garzón in diesem Fall als eine falsche Rechtsauslegung, die von der Rechtsbeugung zu unterscheiden ist. Die Rechtsbeugung bestraft nicht die falsche Interpretation, sondern eine Interpretation, die objektiv gegen die Rechtsordnung verstößt und nicht vertretbar ist. Hierunter versteht man eine Interpretation, die sich aus keiner der Interpretationsmethoden der Richter ergibt.24 Natürlich kann man bestreiten, dass es sich nur um eine falsche Rechtsauslegung handelte, die nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung erfülle.25 So ist, zum Beispiel, einer der Richter dieser Unterscheidung nicht gefolgt und wollte Garzón wegen Rechtsbeugung bestrafen. Ein anderer Richter war derselben Meinung, das heißt, dass die Untersuchung von Garzón den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfülle, aber er wollte Garzón wegen mangelnden Vorsatzes freisprechen. Der Gerichtshof erwähnt auch nebenbei, dass der Angeklagte mit seiner Tat die Lage der Opfer oder deren Angehörigen verbessern wollte, aber sagt, dass deren Recht zur Sachverhaltsklärung einschließlich des Verbleibs ihrer verstorbenen Verwandten, in neuen Gesetzen des spanischen Parlaments anerkannt werde; und zitiert dazu das Gesetz des historischen Andenkens (Ley de Memoria Histórica). Dabei verneint der Gerichtshof gleichzeitig, dass das Interesse der Opfer dieser Verbrechen, die in seiner Meinung nach schon verjährt und auf jeden Fall amnestierbar seien, und die sogenannten Wahrheitsprozesse durch ein Strafverfahren erreicht werden können.

V. Das Ende des Falles Garzón und der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen der franquistischen Diktatur: Das Urteil vom Tribunal Supremo vom 9. Februar 2012 (79/2012) Mit dem Urteil vom 27. Februar 2012 ist der Fall Garzón nicht zu Ende gegangen. Gegen ihn war auch noch ein zweiter Prozess beim Tribunal Supremo (TS) wegen Rechtsbeugung anhängig, weil er das Abhören der Gespräche zwischen den in UHaft sitzenden Beschuldigten des Korruptionsskandals „Gürtel“ und ihren Strafverteidigern angeordnet hatte. Mit der Begründung, dass ein solches Abhören im spanischen Strafverfahren nur bei Terrorismusverdacht zulässig ist und dass ein solcher hier eindeutig nicht vorlag, hat der TS Garzon einstimmig, mit allen sieben Richtern seiner zweiten Kammer, wegen Rechtsbeugung zu elf Jahren Berufsverbot verurteilt.

24 Dazu die Abhandlung von Mercedes García Arán, La prevaricación judicial, Valencia 1990. 25 Zum gegenwärtigen Stand der spanischen Rechtsprechung und Literatur in Bezug auf den Tatbestand der Rechtsbeugung s. Muñoz Conde, Derecho penal, Parte especial, 20. Aufl. Valencia 2015, S. 857 ff.

Strafrechtliche Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien: Der Fall Garzón

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Aus Zeitgründen werde ich hier dieses Urteil nicht kommentieren26, denn es hat nur eine indirekte Beziehung zu der strafrechtlichen Aufarbeitung der Diktatur. Anscheinend handelt es sich bei diesem Urteil um eine echte juristische Frage, nämlich um die Frage, ob das vom Richter angeordnete Abhören der Gespräche den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt oder nicht. Zum Unterschied zu dem anderen Urteil hat der Tribunal Supremo hier das Verhalten von Richter Garzón als Rechtsbeugung betrachtet, während beim zweiten Urteil nur eine „falsche Rechtsauslegung“ angenommen wurde, die den Tatbestand der Rechtbeugung nicht erfüllt. Es würde sich lohnen, diesen feinen Unterschied zwischen „falscher Rechtsauslegung“ und „Rechtsbeugung“ dogmatisch gründlicher zu studieren; aber diese Problematik geht über das Thema meines hiesigen Beitrags hinaus. Nur dieser Unterschied beim Fall Garzón und die zeitliche Beziehung des ersten Urteils über das Abhören mit dem Urteil über die Untersuchung der Verbrechen der Diktatur, lässt den Verdacht aufkommen, dass der Tribunal Supremo mit dem Urteil über das Abhören auch die brennende politische Frage der von Garzón initiierten Untersuchung der Verbrechen der Diktatur im voraus im dem Sinne erledigen wollte, dass er beim letzten Urteil Garzón freisprach, weil er seine berufliche Vernichtung mit dem ersten Urteil schon erreicht hatte. Dadurch konnte er zwei Ziele erreichen: Vor den Medien und der Öffentlichkeit die berufliche Vernichtung von Garzón als Richter als eine rein juristisch professionelle Angelegenheit darzustellen und den Verdacht einer politischen Justiz zu vermeiden.

VI. Die Folgen Nach wie vor diesem Urteil vom 9. Februar 2012 haben die Strafverfahren gegen Garzón in Spanien zu politischen Verwerfungen geführt und damals auch ein internationales Echo gefunden. Die wichtigsten spanischen Zeitungen, „El Mundo“, die früher auf der Seite von Garzón war, als er Anfang der 90er gegen die Spitze der sozialistischen Regierung wegen der Machenschaften der Todesschwadron GAL ermittelte, und „El Pais“, die ihn während dieser Ermittlung stark kritisierte, haben wieder polemisiert, aber diesmal die eine („El Mundo“) nun gegen Garzón und die andere („El Pais“) für Garzón. Die erste warf ihm Eitelkeit, Egozentrik und Geltungssucht vor; die andere betrachtete ihn einfach als einen Held, der den Mut hatte, wie David gegen Goliath gegen das von Franco etablierten System der Straflosigkeit zu kämpfen. Auf jeden Fall verschafften ihm sein Ehrgeiz, sein Erfolg und sein Ruhm nach dem Fall Pinochet viele Neider unter den Kollegen. Manche glauben, dass das Urteil vom 9. Februar und das elfjährige Berufsverbot nur eine richterliche Rache waren. Dazu kommt der Verdacht: Der Freispruch im Strafprozess wegen der Untersuchung der Verbrechen der Diktatur lief der Mehrheit der Richter vor allem deshalb so locker 26 Zu diesem Urteil s. Muñoz-Conde, Die strafrechtliche Aufarbeitung der spanischen Diktatur: der Fall Garzón, in Vormbaum Festgabe a.a.O.

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Francisco Muñoz-Conde

aus der Feder, weil sie Garzón vor weniger als einem Monat in einem anderen Verfahren regelrecht vernichtet hatten. Garzón musste ohnehin vernichtet werden, und er ist als Richter vernichtet worden. „Quod erat demonstrandum“. Der Freispruch beim ersten Strafprozess war kein Akt der Gerechtigkeit, sondern der Selbstgerechtigkeit. Dadurch haben die Richter des Tribunal Supremo auch ihr schlechtes Gewissen den Opfern der Diktatur gegenüber beruhigt, indem sie Garzón wegen der Untersuchung der Verbrechen der Diktatur nicht verurteilten, sondern sein Verhalten einfach als eine falsche Rechtsauslegung betrachteten, die keine strafrechtliche Verantwortung nach sich zieht, aber gleichzeitig anderen Institutionen die Aufgabe der Entschädigung und Anerkennung der Rechte der Opfer zugewiesen haben. Sie seien nicht zuständig dafür, aber sie hätten nichts dagegen, dass andere Institutionen diese Aufgabe auf sich nehmen könnten. Die beiden großen Parteien (die konservative PP, Partido Popular, und die sozialdemokratische PSOE, Partido Socialista Obrero Español) haben auch Garzón gegenüber viele Reserven. Die Partido Popular, PP, wegen des Abhörens mancher prominenter Untersuchungshäftlinge, die offensichtlich diese Partei illegal finanziert haben, mit ihren zum Teil involvierten Strafverteidigern (der Prozess gegen die Hauptverantwortlichen, der sog. „Gürtel Prozess“ läuft weiterhin). Die sozialistische Partei, PSOE, wegen der Untersuchung gegen die Spitze des Innenministeriums der damaligen sozialistischen Regierung in der Zeit des „schmutzigen Krieges“ gegen die baskische terroristische Bewegung ETA, die mit einer Verurteilung zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe für den damaligen Innenminister und den Staatssekretär endete. Nur die linke Partei „Vereinigte Linke“ (Izquierda Unida) hat von einer „monströsen Ungerechtigkeit“ und Verschwörung gegen Garzón gesprochen. Dadurch führte die von Garzón initiierte strafrechtliche Aufarbeitung der franquistischen Diktatur zu einer politischen Konfrontation, die die Unzulänglichkeiten der spanischen Transition von der Diktatur zu einer Demokratie gezeigt hat. Die alten Wunden wurden wieder geöffnet; aber wie es Bertold Brecht am Ende seines Theaterstücks „Der gute Mensch von Sezuan“ sagt: „Vorschwebte uns: die goldene Legende. Unter der Hand nahm sie [wenigstens für Garzón] ein bitteres Ende“. Mit dem Fall Garzón wurde die unvollendete spanische Transition zu einer unendlichen Geschichte, die mehr Konfrontation als Versöhnung, mehr Leiden als Freude herbeiführte. Und was ist danach mit Baltasar Garzón Real passiert? Nach seiner Entlassung als Richter arbeitet Garzón nun als Rechtsanwalt und Strafverteidiger, zum Beispiel von Julien Assange, Gründer von Wikileaks, der in der Botschaft von Ecuador in London Asyl gefunden hat. Auch hatte er nach seiner Suspendierung einen Beraterjob beim Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno-Ocampo, und arbeitet als Berater der ecuadorianischen Regierung bei der Reform der Justiz, der Organisation Amerikanischer Staaten zur Unterstützung des kolumbianischen Friedensprozesses, und anderer latinoamerikanischer Länder in Sachen der Transitional Justice, Wahrheitskommissionen, strafrechtlichen Aufarbeitung der vergangenen

Strafrechtliche Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien: Der Fall Garzón

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Diktatur, etc. Er hatte schon zahlreiche Ehrungen wegen des Gesuchs auf Auslieferung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet und der Untersuchung der Verbrechen der franquistischen Diktatur erhalten. So wurde er z. B. in Deutschland bei der Verleihung des Hermann-Kesten-Preises des PEN-Zentrums im August 2009 „als Anwalt eines durch staatlich sanktionierte Folter tief bestürzten und verletzten Weltgewissens“ und als „engagierter Verfechter der Menschenrechte“ gewürdigt. Im akademischen Bereich erhielt Garzón von 21 Universitäten die Ehrendoktorwürde. Nachdem er schon 1999 die Goler-T-Butcher Medaille der Amerikanischen Gesellschaft für Internationales Recht erhalten hatte, wurde ihm 2011 der Kant-Weltbürgerpreis (gemeinsam mit Anna Gräfin von Bernstorff) verliehen.27 Diese Ehrungen blieben jedoch nicht ohne Kritik. Gegen die Verleihung des Herrmann-Kesten Preises wandten sich unter anderen einige PEN-Gruppen, die Garzóns Beteiligung an der Verhaftung baskischer Journalisten kritisierten. Diese Journalisten waren von PEN auf die „Liste verfolgter Journalistinnen und Journalisten“ gesetzt worden. Daneben zielte ihre Kritik auf das auch von Garzón verwandte Instrument der Kontaktsperre.28 Im Mai 2013 wurde er zur „persona non grata“ bei einer in Barcelona stattgefundenen Tagung über Folter erklärt. Nach alledem ist eines jedoch klar geblieben: Die spanische Transition der Diktatur zu einer Demokratie ohne eine strafrechtliche Aufarbeitung der vergangenen Verbrechen der Diktatur ist, mit Garzón und ohne Garzón, eine unvollendete Transition gewesen und erfüllt manche Teile der spanischen Bevölkerung mit Unbehagen. Sie taucht noch immer als ein Gespenst der Vergangenheit auf und führt, wie der Fall Garzón gezeigt hat, eine Spaltung zwischen „zwei Spanien“ herbei und verhindert eine endgültige Versöhnung beider.

27 28

s. www.de.wikipedia.org/wiki/Baltasar_Garzon. s. www.de.wikipedia.org/wiki/Baltasar_Garzon.

Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Deutschland Thomas Vormbaum

I. Das Vorspiel Am 30 Januar 1933 überträgt in Deutschland Reichspräsident Paul von Hindenburg die Regierungsgewalt an eine Koalition bestehend aus der Nationalsozialistischen Partei und der Deutschnationalen Volkspartei; der Führer der NS-Partei Adolf Hitler wird zum Reichskanzler ernannt. Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bedeutet zugleich das Ende des demokratisch-parlamentarischen Systems, wenngleich das System der sogenannten Weimarer Republik bereits in den vorangegangenen zwei Jahren kaum noch als demokratisch-parlamentarisch bezeichnet werden konnte, da die Regierungen ausschließlich vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhingen. Die Konsolidierung der NS-Herrschaft erfolgt auf rechtlicher Ebene mit der Vereinigung der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt durch das im März 1933 erlassene sog. Ermächtigungsgesetz,1 gegen das im Reichstag nur die Sozialdemokraten stimmen – die kommunistischen Reichstagsmitglieder sind bereits verhaftet, untergetaucht oder emigriert. Dieses Gesetz ermächtigt die Regierung zum Erlass von Gesetzen ohne die Beteiligung des Parlamentes und – anders als frühere Ermächtigungsgesetze – zu weitgehender Einschränkung der Grundrechte. Kurze Zeit darauf sind alle Parteien mit Ausnahme der Nationalsozialistischen Partei aufgelöst, und die Neugründung von Parteien ist verboten. Doch noch vor Erlass des Ermächtigungsgesetzes geschah folgendes: Am 27. Februar 1933 wurde das Gebäude des Reichstages in Brand gesteckt. Bis heute ist umstritten, wer für den Brand verantwortlich war. Im brennenden Gebäude wurde der niederländische Linksanarchist Marinus van der Lubbe angetroffen und verhaftet. Er erklärte, den Brand allein gelegt zu haben, um ein Signal gegen die aufkommende faschistische Herrschaft zu setzen. Die Nationalsozialisten aber erklärten, der Brand sei von den organisierten Kommunisten gelegt worden, um einen Aufstand vorzubereiten. Nach 1945 wurde lange Zeit die These vertreten, dass die Nationalsozialisten

1 Zum Ermächtigungsgesetz s. die in der Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte. Kleine Reihe“ erschienene Dokumentation Das Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) vom 24. März 1933. Reichstagsdebatte, Abstimmung, Gesetzestext. Mit einer Einführung von Adolf Laufs. Berlin 2003.

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den Brand organisiert hätten, um einen Vorwand für Unterdrückungsmaßnahmen zu haben. Doch auch diese These ist umstritten. Jedenfalls nutzte die nazistische Führung den Reichstagsbrand, um zur Unterdrückung politischer Gegner, vor allem der Kommunisten, zu schreiten. Formalrechtliche Grundlage hierfür war die sog. Reichstagsbrandverordnung (Verordnung zum Schutze von Volk und Staat) vom 28. Februar 1933.2 Sie wird auch als das „Grundgesetz“ des nationalsozialistischen Herrschaftssystems bezeichnet; manche Historiker meinen, sie sei noch wichtiger als das Ermächtigungsgesetz vom März 1933. Durch diese Verordnung wurden wichtige Grundrechte suspendiert, für eine Reihe von Straftaten die Todesstrafe eingeführt und das Terrorsystem der SA legitimiert.3 Die strafrechtliche Aufarbeitung des Reichstagsbrandes fand vor dem Reichsgericht, dem obersten Gericht des Deutschen Reiches statt. Angeklagt waren neben van der Lubbe vier führende Mitglieder der Kommunistischen Partei (Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff). Das Reichsgericht verurteilte van der Lubbe zum Tode, sprach aber die anderen Angeklagten wegen Mangels an Beweisen frei. Dies erregte den Zorn der nationalsozialistischen Führung, die nun Pläne in die Tat umsetzte, welche sie bereits vorher gehegt hatte. Durch die Verordnung über den Volksgerichtshof vom 12. Juni 19344 wurde der Volksgerichtshof zunächst als Sondergericht gegründet; später wurde er durch Gesetz vom 18. April 19365 zum „ordentlichen Gericht im Sinne des Gerichtsverfassungsgesetzes“ befördert. Dies bedeutete, dass die Richter des Volksgerichtshofs nicht mehr von anderen Gerichten abgestellt wurden, sondern eigene Planstellen besaßen. Auch wurde eine eigene Anklagebehörde, die Staatsanwaltschaft beim Volksgerichtshof, errichtet. Die Senate des Volksgerichtshofs urteilten in der Hauptverhandlung mit fünf Richtern, von denen nur zwei die Befähigung zum Richteramt besitzen mussten. Die Ernennung der ehrenamtlichen Richter und der planmäßigen Berufsrichter erfolgte durch Hitler auf Vorschlag des Reichsjustizministeriums.6 Die ehrenamtlichen 2

Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1933 I, 83. Ulrich Eisenhardt: Deutsche Rechtsgeschichte. 6. Auflage. München 2008, S. 384; Karl Kroeschell: Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Göttingen 1992, S. 70 f.; Gerhard Werle: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin/New York 1989, S. 65 ff.; Thomas Raithel/Irene Strenge: Die Reichstagsbrandverordnung. Grundlegung der Diktatur mit den Instrumenten des Weimarer Ausnahmezustands, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 2000, 413 ff. 4 RGBl. 1934 I, 401. 5 RGBl. 1936 I, 369. 6 Näher zum Volksgerichtshof Heinz Hillermeier (Hrsg.): „Im Namen des Deutschen Volkes“. Todesurteile des Volksgerichtshofes. Darmstadt/Neuwied 1980; Klaus Marxen: Das Volk und sein Gerichtshof. Eine Studie zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof. Frankfurt a.M. 1994; Holger Schlüter: Die Urteilspraxis des Volksgerichtshofes. Berlin 1995; Klaus Marxen/Holger Schlüter (Hrsg.): Terror und „Normalität“. Urteile des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs 1934 – 1945. Eine Dokumentation (Juristische Zeitgeschichte NRW. 13). 3

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Richter sollten Persönlichkeiten sein, die „über besondere Erfahrungen tatsächlicher Art auf dem Gebiete der Abwehr staatsfeindlicher Angriffe verfügen“.

II. Zuständigkeit des Volksgerichtshofes Der Volksgerichtshof urteilte über Staatsschutzverbrechen in erster und letzter Instanz. Damit wurde dem Reichsgericht die Zuständigkeit für Hochverrat und Landesverrat entzogen. Die ausschließliche Zuständigkeit für derartige Delikte in erster und letzter Instanz war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern konnte auf Vorläufer in den vorhergehenden politischen Systemen zurückblicken. Schon nach dem Gerichtverfassungsgesetz von 1877 war das Reichsgericht für politische Kapitaldelikte in erster und letzter Instanz zuständig, und es entschied – wie auch sonst – ohne die Beteiligung von Laienrichtern.7 Deshalb fand auch der Reichstagsbrand-Prozess sogleich vor dem Reichsgericht statt. Nach dem Ende des Kaiserreiches infolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1918 wurde die sog. Weimarer Republik gegründet, welche fast von Anfang an dadurch gefährdet war, dass sie von einem großen Teil der Bevölkerung nicht als legitim angesehen wurde; vor allem die Politiker der Rechten machten ihr zum Vorwurf, dass sie den Friedensvertrag von Versailles akzeptiert hatte; man stellte auch die Behauptung auf, durch die Revolution, welche im November 1918 den Kaiser und die Partikularfürsten vertrieben hatte, sei dem kämpfenden Heer ein Dolchstoß in den Rücken versetzt worden – eine falsche Behauptung, denn der Krieg war, wie die Führung des Heeres selbst vorher eingestanden hatte, nicht mehr zu gewinnen gewesen.8 Wegen mehrerer Mordanschläge auf demokratische Politiker erging im Jahre 1922 das Gesetz zum Schutze der Republik,9 das einige nicht unproblematische Straftatbestände enthielt,10 zu deren Aburteilung ein Staatsgerichtshof zum Schutze der Recklinghausen 2004; Vorstellung und Besprechung weiterer Werke über den VolksGH b. Thomas Vormbaum: Strafjustiz im Nationalsozialismus. Ein kritischer Literaturbericht, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1998, 1 ff. 7 Näher Thomas Vormbaum: Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924. Vorgeschichte, Inhalt und Auswirkungen. Berlin 1988, mit Schaubildern über Zuständigkeiten und Verfahrensgänge nach dem GVG 1879 auf S. 98, 168. 8 Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte. 9. Auflage, hrsg. von Herbert Grundmann. Band 4, Die Zeit der Weltkriege. 1. Teilband, Der Erste Weltkrieg. Die Weimarer Republik, bearbietet von Karl Dietrich Erdmann. Stuttgart 1973, S. 219 f.; Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917 – 1933 (Die Deutschen und ihre Nation. Bd. 4). Berlin 1982, S. 206 ff. 9 Vom 21. Juli 1922, RGBl. 1922 I, 585 ff. 10 Einige Hinweise b. Thomas Vormbaum: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte. 3. Auflage. Berlin, Heidelberg 2016, S. 159; eingehend Christoph Gusy: Weimar – die wehrlose Republik? Tübingen 1991.

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Republik mit Sitz beim Reichsgericht eingerichtet wurde, der in erster und letzter Instanz entschied. Der Staatsgerichtshof entschied in einer Besetzung von neun Mitgliedern. Drei von ihnen mussten Mitglieder des Reichsgerichts sein, die übrigen sechs Mitglieder brauchten keine Berufsrichter zu sein. Jedenfalls auf formaler Ebene kann dieser Staatsgerichtshof als Vorläufer des Volksgerichtshofes angesehen werden, wie ja auch die häufigen Ermächtigungsgesetze und Notverordnungen seit der Zeit des Ersten Weltkrieges ein gesetzgeberisches Muster für die spätere Machtexpansion der Nazi-Partei bildeten. Es ist die Aufgabe des Historikers, solche Feststellungen unabhängig von persönlichen Sympathien und Antipathien (die hier selbstverständlich eindeutig verteilt sind) zu treffen. Die Nationalsozialisten konnten also formal auf Muster in den vorangegangenen Systemen zurückgreifen. Als Hitler 1924 in seinem Buch „Mein Kampf“ von der Notwendigkeit der Bildung eines Nationalgerichtshofes schrieb, der „etliche 10.000 Verbrecher des Novemberverrats abzuurteilen und hinzurichten“ habe11, hatte er dafür Vorbilder vor Augen. Die Tradition der erst- und letztinstanzlichen Zuständigkeit des Höchsten Strafgerichts für schwere Staatsschutzdelikte wurde auch nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt, als der Bundesgerichtshof diese Funktion des Reichsgerichts übernahm. Erst im Zuge einer Reform des politischen Strafrechts im Jahre 1968 wurden die Oberlandesgerichte zur ersten Instanz und der Bundesgerichtshof zur Revisionsinstanz. Sachlich zuständig war der Volksgerichtshof zunächst – wie schon angedeutet – für die Delikte, die bis dahin zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des Reichsgerichts gehört hatten, also Hochverrat und Landesverrat. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs stufenweise immer mehr erweitert, vor allem auf die Tatbestände der Kriegsgesetzgebung. Die Zahl der Senate wurde im Laufe der Zeit von 3 auf 5 erhöht.

III. Die Rechtsprechung Im historischen Bewusstsein Nachkriegsdeutschlands und in der Geschichtswissenschaft ist das Bild des Volksgerichtshofes geprägt durch die Rechtsprechung des Ersten Senats, dessen Vorsitzender seit August 1942 der Präsident des VolksGH Roland Freisler war. Hitler bezeichnete Freisler als „unseren Wishinsky” (d. h. der Ankläger – nicht Richter – in den Schauprozessen der Sowjetunion in den 30er Jahren). In die Zeit seiner Präsidentschaft fallen jene Verfahren und Urteile, welche auch politisch von besonders spektakulärer Bedeutung waren: vor allem die Verfahren und Todesurteile gegen die Münchner Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ im Jahre 11 Zitiert nach Bernhard Jahntz/Volker Kähne: Der Volksgerichtshof. Darstellung der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof. Berlin 1986. S. 1.

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1943 und gegen die Beteiligten der militärischen Verschwörung, welche zum Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 geführt hatte. Im Falle der „Weißen Rose“, deren Mitglieder – vor allem die Studenten Sophie und Ernst Scholl – wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Feindbegünstigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt wurden, weil sie antinazistische Flugblätter verteilt hatten, erfolgte die Verhaftung des Beschuldigten am 18. Februar; am 22. Februar fand das Verfahren vor dem Volksgerichtshof statt. Freisler und seine Richter waren eigens von Berlin nach München geflogen; die Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und noch am selben Tage hingerichtet. Besonders berüchtigt wurde das Verfahren gegen die Beteiligten am Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Freisler hatte veranlasst, dass die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof gefilmt wurde, so dass wir heute in der Lage sind, die Verhandlung in ihren Einzelheiten zu verfolgen. Jedoch wurde – wahrscheinlich auf persönlichen Befehl Hitlers – der Film nicht veröffentlicht, weil zum einen die mutige Haltung mancher Angeklagter nicht die propagandistische Behauptung bestätigte, sie seien „Volksschädlinge“, und zum anderen die Verhandlungsleitung Freislers geeignet war, Mitleid mit den Angeklagten zu erregen: Die Angeklagten wurden von Freisler gedemütigt, angebrüllt und beschimpft. Man hatte ihnen ihre Hosenträger weggenommen, so dass sie während der Verhandlung ständig ihre Hose mit beiden Händen festhalten mussten. Zwar bedeutete diese Verhandlungsführung Freislers, die ihm auch den Namen „Blutrichter“ eintrug, eine extreme Zuspitzung, doch besteht kein Zweifel, dass auch insgesamt die Praxis des Volksgerichtshofes durch große Härte gekennzeichnet war. Der Anteil der Todesurteile an seinen Verdikten war – vor allem nach Beginn des Krieges – hoch. In seinen Verfahren gegen insgesamt 16.700 Personen verhängte das Gericht ca. 5.200 Todesurteile; das entspricht einem Durchschnitt von 31 %. Lag der Prozentsatz der Todesurteile vor Kriegsbeginn noch bei höchstens 10 Prozent, so erreichte er in den Jahren 1942 bis 1944 ca. 50 Prozent12 – und dies, obwohl in dieser Zeit nicht mehr nur, wie vor dem Krieg, Hochverrat und Landesverrat – also traditionell als besonders schwer beurteilte Delikte – verhandelt wurden, sondern häufig Bagatellen wie das Verteilen von Flugblättern (so im Falle der „Weißen Rose“) oder das Spenden von minimalen Geldbeträgen für die verbotene Kommunistische Partei oder defätistische Reden wie Kritik an der Führung der Partei und des Reiches im Wirtshaus. Solche defätistischen Reden fielen unter den Tatbestand des § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung aus dem Jahre 1939, die sog. Wehrkraftzersetzung. Strafbedroht war – neben anderen Fällen –, „wer öffentlich den Willen des deutschen oder eines verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht“. Hier war bereits die gesetzliche Regelung sehr unbestimmt;

12

Marxen: Das Volk und sein Gerichtshof, S. 86 f.

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durch weitere Ergänzungsverordnungen wurde der Ermessensspielraum des Gerichts bei der Strafzumessung so sehr erweitert, dass Gespräche • als ungefährliches Gerede straflos bleiben, • als grober Unfug milde bestraft werden oder • als Wehrkraftzersetzung mit dem Tode bestraft werden konnten. Häufig hing die Entscheidung davon ab, ob der Angeklagte dem nationalsozialistischen Regime ablehnend gegenüberstand oder zumindest dessen verdächtig war.13 Das am meisten diskutierte Problem der Auslegung des Tatbestandes der Wehrkraftzersetzung war das Merkmal der „Öffentlichkeit“. Traditionell verstand man unter diesem Merkmal die Anwesenheit einer unbestimmten Vielzahl von Personen, die die Äußerung vernommen haben oder hätten vernehmen können. In Übereinstimmung mit der damaligen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Reichskriegsgerichts erfuhr das Merkmal beim Volksgerichthof eine weite Auslegung: Es sollte auch dann erfüllt sein, wenn der Täter sich mit mehreren Handlungen nacheinander an eine unbestimmte Zahl von Personen wandte. Und auch dann, wenn eine Äußerung lediglich in einem abgeschlossenen oder begrenzten Personenkreis getan wurde, der Täter jedoch damit rechnete oder damit hätte rechnen müssen, dass die Äußerung über diesen Kreis hinaus weitergetragen würde, war dies nach Ansicht der Rechtsprechung eine „öffentliche“ Äußerung. Das Tatbestandsmerkmal der „Öffentlichkeit“ wurde somit ersetzt durch die bloße, kaum widerlegbare, Vermutung, die „zersetzende Äußerung“ könnte an die Öffentlichkeit gelangen. „Zu Hause geäußerte Zweifel am siegreichen Kriegsausgang, Unmutsäußerungen unter Eheleuten, […] ein politischer Witz im privaten Kreis, tröstende Worte im religiösen Gespräch, eine unvorsichtige Zeile in einem Freundesbrief – all das kostete nunmehr das Leben“.14

IV. Urteilsstil Die Urteile des Volksgerichtshofes, vor allem diejenigen des Freisler-Senats, waren in einer Sprache abgefasst, welche in langen Passagen wie politische Propagandatexte klingen und häufig über weite Strecken keinen Zusammenhang mit den abgeurteilten Taten aufweisen. Als ein Beispiel mag das Urteil vom Februar 1944 dienen, in dem ein Buchhändler aus Potsdam wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt wurde, weil er im Zivilkasino, also in einer Art Club, defätistische Bemerkungen gemacht hatte, z. B. es sei besser, die politische Führung durch eine Militärdiktatur zu ersetzen und Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufzuneh-

13 Günther Gribbohm: Der Volksgerichtshof, in: Juristische Schulung (JuS) 1969, 55 ff., 109 ff., 110. 14 Gribbohm, a.a.O.

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men, ferner: Mussolini sei in Wirklichkeit absichtlich zurückgetreten, um den Weg für Friedensverhandlungen freizumachen, genauso sollte es Hitler machen. Das Urteil beginnt aber nicht mit der Darstellung dieser Handlungen, sondern mit langen Ausführungen über die Geschichte der Stadt Potsdam, der Residenzstadt König Friedrichs des Großen von Preußen. Der Geist Potsdams sei der „Geist der Kühnheit, der Standhaftigkeit, der Treue, der eisernen Entschlossenheit, der Geist der selbstlosen Aufopferung für Volk und Vaterland“. Dazu stehe der Geist des Angeklagten und seiner Mitangeklagten im Kontrast; er sei der Geist „kleiner meckernder Spießbürger“. Und so geht es weiter: Als der Krieg aufgrund einer seit 100 Jahren nicht mehr erlebten Kälte in Russland und aufgrund „des schnöden Verrats des Hauses Savoyen und des Badoglio-Klüngels“ unvermeidliche Rückschläge gezeitigt habe, da hätten diese alten Herren beim Frühschoppen und Abendschoppen zusammengehockt und seien „immer wankelmütiger und sorgenvoller geworden“. Über solche dummen Redereien könne man im Frieden vielleicht hinwegsehen, im Kriege jedoch könnten schon die albernsten Schwätzereien defätistische Wirkungen haben. Jetzt erst geht das Urteil zur Schilderung der Taten, d. h. zu den einzelnen Äußerungen des Angeklagten, über. Das Urteil stieß sogar beim Reichsjustizminister Thierak (vorher Präsident des Volksgerichtshofes) auf Ablehnung, Daraufhin wurde ein Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt. Der Volksgerichtshof blieb jedoch bei seinem Urteil. Das Urteil ist nicht nur wegen seines propagandistischen Stils von Interesse, sondern auch deshalb, weil es zwei wichtige Probleme der Strafrechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar macht: Die Reihenfolge in der Struktur des Urteils zeigt, dass zuerst die Persönlichkeit des Angeklagten, danach erst die begangenen Taten interessierten. Diese Tendenz zur Subjektivierung des Strafrechts ist charakteristisch für die Entwicklung des materiellen Strafrechts im 20. Jahrhunderts – zumindest in Deutschland – und findet im Urteil ihren prozesstechnischen Niederschlag; natürlich ist die Form des Urteilsaufbaus im Potsdamer Fall abermals ein extremer Ausschlag; aber auch hier gilt wie in manchen anderen Fällen, dass das nationalsozialistische Straf- und Strafprozessrecht von heuristischem Wert sein kann, weil es letzte Konsequenzen eines bestimmten Denkens besonders deutlich sichtbar machen kann. Dasselbe gilt für einen zweiten Aspekt: Ungeachtet des propagandistischen Tons kann nicht geleugnet werden, dass das Urteil sich um einen volkstümlichen Stil bemüht. Um ein Beispiel zu bringen: Das Urteil eines normalen Strafgerichts hätte gelautet „Ihm werden die bürgerlichen Ehrenrechte auf Dauer entzogen“. Im Urteil des Volksgerichtshofes heißt es: „Er ist für immer ehrlos“. Vom Ansatz her erfüllt der Volksgerichtshof damit eine Forderung, welche in den 20er Jahren des 20. Jahrhundert, also in der Zeit von Republik und Demokratie, breit diskutiert wurde und vor allem von der politischen Linken erhoben worden war: die Beseitigung der Volksfremdheit der Justiz. In diesem Zusammenhang stand vor

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allem die juristische Fachsprache im Kreuzfeuer der Kritik.15 Auch hier ist die Praxis des Volksgerichtshofes die extreme Erscheinungsform einer nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkten Forderung. Überhaupt hat die neuere Forschung16 gezeigt, dass das Bild, das die grauenvollen Filmaufnahmen von der Verhandlung des Volksgerichtshofs gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 vermitteln, nicht repräsentativ für den Justizalltag des Volksgerichtshofes17 ist. Die Ergebnisse verblüffen denjenigen, der im Volksgerichtshof nichts anderes als ein Terrorinstrument zur Unterdrückung des deutschen Volkes18 erblicken will. Ungeachtet des zweifellos terroristischen Charakters des Gerichts vor allem in seiner Spätphase haben die Autoren dieser Untersuchungen „zahlreiche Züge justizieller Normalität“ entdeckt.19 So erfolgte die Rekrutierung der Berufsrichter in erster Linie nach juristischer Befähigung, regionaler Herkunft und Dienstalter;20 die Beschuldigten waren durchweg durch Verteidiger vertreten; der Prozentsatz der Freisprüche entsprach insgesamt dem auch sonst Üblichen. „Selbst in der Spätphase weist die Volksgerichtshofpraxis […] noch Reste judikativen Handelns auf“ – so Klaus Marxen.21 Der zu erwartende Einwand, bei solcher Untersuchungs- und Betrachtungsweise werde die Tätigkeit der NS-Strafgerichtsbarkeit verharmlost, trifft nicht das Problem; er widerspricht sogar der zu vermutenden Intention der Kritik, denn „die noch ungelöste Aufgabe (besteht) darin …, eine komplizierte Verbindung von Terror und Normalität aufzudecken und zu erklären“22, „gerade die Tatsache, daß der Terror 15 Näher Theo Rasehorn: Justizkritik in der Weimarer Republik. Das Beispiel der Zeitschrift „Die Justiz“. Frankfurt/Main 1985. 16 Marxen, Gerichtshof, Schlüter, Volksgerichtshof, jeweils a.a.O. 17 Urteile des Volksgerichtshofes sind gesammelt b. Hillermeier und Marxen/Schlüter. 18 Schon die Hervorhebung des „deutschen Volkes“ würde ein defizitäres Bild ergeben, denn wie die Erschließung der Akten des Volksgerichtshofes durch Klaus Marxen ergeben hat, trifft die Auffassung, der Volksgerichtshof habe sich ausschließlich oder deutlich überwiegend mit deutschen Angeklagten befasst, nicht zu: Reichsdeutsche stellen 38,5 % der Gesamtzahl; selbst bei Hinzuziehung der „Volksdeutschen“ ergeben sich nur 52,9 %. Fast jeder Dritte gehörte der tschechischen Nation an. Vor allem in der Hauptkriegsphase (September 1939 – Februar 1944) ist die Tätigkeit des Volksgerichtshofes „mehr nach außen als nach innen gerichtet“ (Marxen, a.a.O., S. 35). Marxen hat jüngst historische Erkenntnisse über Handelnde und Opfer des Volksgerichtshofes auch in einen Roman eingebracht, um damit über die wissenschaftlich ermittelten Fakten hinaus die Lebensumstände der Beteiligten beider Seiten zu verlebendigen. Die Protagonisten zweier Lebensgeschichten, die im Volksgerichtshof zusammenlaufen, sind ein Staatsanwalt am Volksgerichtshof und eine vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilte Tschechin, deren Widerstandshandlung in keinem Verhältnis zu dem ergangenen Urteil steht, dessen Vollstreckung durch ihre Schwangerschaft nur aufgeschoben wird: Klaus Marxen, Weiheraum. Roman. Hamburg 2015. 19 Schlüter, a.a.O., S. 231. 20 Marxen, Gerichtshof, S. 58. 21 Marxen, a.a.O., S. 90. 22 Ebd.

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mit tausenden von Todesurteilen von einer Institution verbreitet wurde, die viele Züge einer normalen Gerichtstätigkeit aufweist, gibt Anlaß zur Besorgnis“.23 Hier zeigt sich, dass rechtshistorische Forschung nicht nur antiquarisches Interesse befriedigt, sondern die Möglichkeit eröffnet, Fragen an die Gegenwart zu stellen.

V. Auseinandersetzung mit dem Volksgerichtshof nach 1945 1. Auflösung Nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 übernahm in Deutschland der Alliierte Kontrollrat die Regierungsgewalt. Durch seine Proklamation Nr. 324 wurde der Volksgerichtshof aufgelöst. 2. Strafverfolgung der Richter Nach 1945 stellte sich ferner das Problem einer strafrechtlichen Verfolgung der Richter, welche für die Tausende von Todesurteilen verantwortlich waren, die der Volksgerichtshof verkündet hatte. Diese Verfahren gegen die Richter des Volksgerichtshofes (sowie gegen die Richter der Sondergerichte) führten zu einem bemerkenswerten Ergebnis der Auseinandersetzung der bundesdeutschen Strafjustiz mit ihrer nationalsozialistischen Vorgängerin: Nach 195025 sind zwar einige Mitglieder von fliegenden Standgerichten verurteilt worden; doch kein einziger Berufsrichter – weder einer der Sondergerichte, noch einer des Volksgerichtshofes noch einer der Militärjustiz26 – ist für eines der damals ergangenen Todesurteile strafrechtlich verurteilt worden.27 Angesichts der Hürden, welche durch die bundesdeutsche Rechtsprechung errichtet worden sind, kann dies Resultat im Rückblick nicht erstaunen. Die wichtigsten Hürden waren – kurz gesagt – folgende: Zum einen wurde argumentiert, es gebe ein sog. Richterprivileg; dieses bestehe darin, dass ein Richter wegen des Inhalts seines Urteils – also zum Beispiel wegen Tötung oder Freiheitsberaubung – nur dann 23 Schlüter, Volksgerichtshof, S. 232. – Zur Verbindung von tradierter Rechtsförmigkeit und maßnahmegerechter Justizpraxis in der politischen Justiz s. auch Hans-Eckhard Niermann, Die Durchsetzung politischer und politisierter Strafjustiz im Dritten Reich. Ihre Entwicklung aufgezeigt am Beispiel des OLG-Bezirks Hamm. Recklinghausen 1995, S. 375 ff. 24 Proklamation Nr. 3 vom 20. Oktober 1945, Amtsblatt des Kontrollrates Nr. 1, S. 22. 25 Zu deutschen Urteilen vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland s. Hubert Rottleuthner: Das Nürnberger Juristenurteil und seine Rezeption in Deutschland – Ost und West, in: Neue Justiz (NJ) 1997, 617. 26 Zum Reichskriegsgericht und zur (verfehlten) Aufarbeitung seiner Justizverbrechen nach 1945 s. z. B. Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Berlin 1993, insb. S. 251. 27 Zu den wenigen Fällen von Verurteilungen bis 1950 s. Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945. Berlin 2010, S. 97.

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strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne, wenn er zugleich den Tatbestand der Rechtsbeugung erfülle. Zugunsten dieses Richterprivilegs wurde angeführt, es schütze die richterliche Entscheidungsfreude und damit zugleich die richterliche Unabhängigkeit. Es fällt schwer, die Vermutung zu unterdrücken, dass die frühe Justiz der Bundesrepublik mit Hilfe dieses – erst nach 1945 formulierten28 – Richterprivilegs die eigene Profession (und mitunter möglicherweise auch die eigene Person) hat schützen wollen. Damit aber nicht genug, gab es noch eine weitere Hürde: Der Rechtsbeugungstatbestand kann nur vorsätzlich begangen werden. Nun kann man in allen Lehrbüchern lesen, dass, wenn nicht das Gesetz oder die Natur der Sache etwas anderes fordert, für den Tatbestandsvorsatz dolus eventualis ausreiche. Für den Rechtsbeugungsvorsatz wurde jedoch dolus directus gefordert. Da aufgrund der besonderen Struktur des Rechtsbeugungstatbestandes – „Recht“ als Tatbestandsmerkmal – das Unrechtsbewusstsein faktisch mit dem Tatbestandsvorsatz zusammenfällt, konnten die angeklagten Richter sich darauf berufen, sie hätten ihr damaliges Handeln für rechtmäßig gehalten, weshalb ihr Tatbestandsvorsatz ausgeschlossen sei. Dies wurde ihnen von ihren Richtern durchweg abgenommen; je abgebrühter der richterliche Angeklagte erschien, desto glaubhafter war ja auch seine diesbezügliche Aussage. Das Richterprivileg gibt es heute noch – es ist nach der deutschen Wiedervereinigung auch den Richtern der DDR zugutegekommen, obwohl diese erklärtermaßen keine unabhängigen Richter waren. Beim Rechtsbeugungsvorsatz hat sich allerdings inzwischen die herrschende Auffassung geändert. Man lässt heute, gestützt auf eine ausdrückliche Erklärung des Strafrechtsreformausschusses des Bundestages, dolus eventualis ausreichen.29 Zweifellos sprechen gute Gründe für die Annahme eines Richterprivilegs; und es gibt auch gute Gründe dafür, dass der Rechtsbeugungstatbestand nur mit dolus directus erfüllt werden kann. Auffällig ist jedoch, dass die Kumulation beider Elemente – verbunden mit einer sensiblen Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, die man sich auch in manchem anderen Verfahren wünschen würde – damals, wie es Jörg Friedrich formuliert hat, zu einem „Freispruch für die Nazi-Justiz“ führte. Die Absenkung der Vorsatzschwelle für die Rechtsbeugung ist jedoch ein Preis, der für die Verfolgung von Nazi-Richtern bezahlt worden ist – allerdings zu einer Zeit, als dieses Kapitel der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit faktisch bereits beendet war. Aber selbst wenn man die beiden gerade erwähnten Hürden generell akzeptierte, hätte die Möglichkeit bestanden, zu einer Verurteilung der richterlichen Täter zu gelangen. Ich nenne von den zahlreichen Kritikpunkten nur die wichtigsten: 28 Soweit ersichtlich, wurde es erstmals formuliert von Gustav Radbruch: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 15. Ausgiebige Recherchen nach einer früheren Erwähnung sind erfolglos geblieben; s. die Nachweise b. Vormbaum, Einführung, S. 236. 29 Näher Thomas Vormbaum: Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils. Berlin 1987, S. 319 f., 366.

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(1) Konnte man die Tätigkeit der Angeklagten überhaupt als „richterliche“ Tätigkeit bzw. als „gerichtliche Tätigkeit“ bezeichnen? Diese Frage ließ sich zwar nicht in allen Fällen verneinen, aber doch beispielsweise für den Volksgerichtshof in seiner Endphase unter der Präsidentschaft Freislers.30 Verneinte man sie, so fehlte es schon deshalb an der Grundlage für ein Richterprivileg.31 (2) Wie konnte den NS-Richtern – immerhin Volljuristen – abgenommen werden, dass ihnen das Unrecht ihrer exorbitant harten Urteile – in den fraglichen Fällen fast immer Todesurteile – nicht bewusst gewesen sei, dass sie also „rechtsblind“ gewesen seien? Und wenn schon „Rechtsblindheit“: Schließt diese überhaupt den direkten Vorsatz der Rechtsbeugung aus?32 Eher als von „Rechtsblindheit“ müsste von „Verblendung“ gesprochen werden; Verblendung aber ist letztlich nichts anderes als Überzeugungstäterschaft, welche allenfalls zur Schuldminderung führen kann.33 (3) Wie verträgt sich im Übrigen die großzügige Verneinung des direkten Vorsatzes der richterlichen Angeklagten mit dem Urteil des BGH vom 16. Februar 1960? Dort wurde einem in den Westen übergewechselten Richter, der in der DDR Zeugen Jehovas zu sehr hohen Strafen verurteilt hatte, der Vorsatz gleichsam zudiktiert: „Der Angeklagte ist Volljurist, von dem erwartet werden kann (!), dass er ein Gefühl dafür hat, ob eine Strafe in unerträglichem Missverhältnis zur Schwere der Tat und zur Schuld des Täters steht“.34 (4) Wie verträgt sich des Weiteren die großzügige Annahme der Rechtsblindheit von Berufsrichtern mit der Strenge des Maßstabes gegenüber einer Denunziantin, die

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Rüping, „Streng, aber gerecht. Schutz der Staatssicherheit durch den Volksgerichtshof“, in: Juristenzeitung 1984, 815 – 821, hier S. 820, gelangt (auf Grund der Auswertung von Aktenbeständen des VolksGH) jedenfalls für die Tätigkeit des Freisler-Senats zur Verneinung der Gerichts-Qualität; ähnlich auch Rüdiger Sonnen, Strafgerichtsbarkeit – Unrechtsurteile als Regel oder Ausnahme? in: Reifner/Sonnen (Hrsg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich. Frankfurt/New York 1984, S. 43. 31 Zu der Deklaration des Bundestages zum Volksgerichtshof s. noch unter Pkt. 3; kritisch Ingo Müller, Wie der Bundestag den Volksgerichtshof „ächtete“, in: Demokratie und Recht 1985, 253 ff. 32 Dazu eingehend Ingo Müller, Die Verwendung des Rechtsbeugungstatbestandes zu politischen Zwecken, in: Kritische Justiz 1984, S. 119 – 141, hier S. 134 f. 33 Müller, a.a.O., S. 135. 34 BGH NJW 1960, 974 (insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 14, 147 f.). – Ingo Müller hat mich gesprächsweise darauf hingewiesen, dass der BGH in diesem Urteil (kryptisch) das Vorsatzelement „Kenntnis (der Beugung) des Rechts“ an dem Maßstab gemessen habe, an dem sonst üblicherweise (anhand von § 17 StGB) die Kenntnis des Rechts (bzw. des Unrechts) gemessen werde, nämlich mit der zusätzlichen Prüfung, ob die Unkenntnis des Unrechts der Tat vermeidbar gewesen sei. Bei Zugrundelegung dieses Maßstabes, der ja im Ergebnis Ähnlichkeit mit der Fahrlässigkeitsprüfung aufweist, konnte man in der Tat zur Bejahung der subjektiven Tatseite gelangen. Auch auf dieser Grundlage bleibt jedoch der Einwand, dass auf Grund der erwähnten besonderen Struktur des Rechtsbeugungstatbestandes die Kenntnis des Rechts Tatumstand und damit (ausnahmsweise) Gegenstand des Tatbestandsvorsatzes ist.

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1957 vom Schwurgericht München35 – vom BGH bestätigt36 – sogar als Täterin verurteilt wurde und deren Vorsatz vom Schwurgericht folgendermaßen begründet wurde: „Die Angeklagte wusste, dass die Rechtsprechung des Volksgerichtshofes im Jahre 1943 durch eine ungewöhnliche Härte gekennzeichnet war und unter bewusster Außerachtlassung der Prinzipien eines Rechtsstaates vor allem der Vernichtung der Gegner des Dritten Reiches und der Einschüchterung der Bevölkerung diente“. Und die volljuristischen Richter dieses Gerichts sollten dies nicht gewusst haben?37 (5) Selbst wenn man alle vorherigen Einwände nicht akzeptierte, gab es eine Möglichkeit, methodisch sauber – und ohne präjudizielle Wirkung für spätere unpolitische Fälle – das Richterprivileg für NS-Richter zu vermeiden: Die bundesdeutsche Justiz knüpfte bei der Verfolgung von NS-Unrecht an den äußeren Umstand an, dass die einschlägigen bundesdeutschen Straftatbestände bereits vor 1945 im Strafgesetzbuch gestanden hatten. Dieser Umstand lieferte nicht nur den Grund, um das Strafrecht des NS-Staates anzuwenden und damit den Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot zu kaschieren; er begründete auch implizit eine Kontinuitätsauffassung zwischen dem positiven NS-Recht und dem Recht der Bundesrepublik;38 eine solche Kontinuitätsauffassung war jedoch im Strafrecht – jedenfalls im Bereich der Rechtsbeugung – keineswegs zwingend.39 Gab es wirklich einen Grund, den Richtern des NS-Staates im Nachhinein ein Richterprivileg zuzubilligen? Welche Unabhängigkeit – oder gar Entscheidungsfreude (!!) – der damaligen Richter wollte man denn damit noch „sichern“? Hätte man die neu entdeckte Figur der Sperrwirkung des Rechtsbeugungstatbestandes nur auf solche Richter bezogen, die das Recht der Bundesrepublik Deutschland anwenden – also „systemimmanent“ –, so hätte man die Richter des NS-Staates nicht anders behandelt, als man Richter eines außerdeutschen demokratischen Rechtsstaates – etwa der Schweiz – behandelt, wenn es sich ergeben sollte, dass ein solcher Richter wegen seiner richterlichen Tätigkeit vor einem deutschen Richter

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LG München II – 7 Ks 5/57, Urteil vom 29. Nov. 1957, im Auszug abgedruckt b. Friedrich, Freispruch, S. 439 f. 36 BGH – 1 StR 134/58, Urteil v. 13. Mai 1958; nachgewiesen b. Friedrich, Freispruch, S. 499. 37 Zum besonders spektakulären Fall des Richters beim Volksgerichtshof Rehse, in dem der BGH sogar seine sonst vertretene subjektive Teilnahmelehre verlassen hat, um zum Freispruch zu gelangen, s. ausführlich Jahntz/Kähne: Volksgerichtshof. S. 16 ff. 38 Friedrich Dencker: Die strafrechtliche Beurteilung von NS-Rechtsprechungsakten, in: Peter Salje (Hrsg.): Recht und Unrecht im Nationalsozialismus. Münster 1985, S. 294 – 310, hier S. 300 ff.; ihm folgend Vormbaum: Schutz des Strafurteils, S. 351 ff. 39 Dencker: Beurteilung, S. 302, weist auf den Widerspruch der Rechtskontinuitäts-Auffassung der BGH-Rechtsprechung zu Art. 123 Abs. 1 GG und zu der bekannten – sehr nachdrücklichen – Entscheidung BVfGE 6, 132 ff. hin. – Auf einer ganz anderen Ebene liegt i.ü. die Problematik der (materiellen) Kontinuität des Strafrechts im 20. Jahrhundert; s. dazu Vormbaum: Einführung, S. 277 ff.

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steht,40 denn die Wahrung der Unabhängigkeit schweizerischer Richter und der Schutz des schweizerischen Rechts ist nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts. Dies gilt zumindest dann, wenn man der m. E. zutreffenden Auffassung folgt, die den Rechtsbeugungs-Tatbestand für einen Tatbestand mit überindividuellem bzw. institutionellem Rechtsgut (nämlich: der staatlichen Rechtspflege) ansieht. 3. Aufhebung der Urteile Für die in der Zeit der NS-Herrschaft ergangenen Strafurteile, vor allem diejenigen der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes, stellte sich die Aufgabe, eine Überprüfung zu ermöglichen. Durch alliierte Gesetzgebung wurden unter Beteiligung der neu gegründeten Bundesländer teils Gesetze, teils Verordnungen erlassen, wonach – teils von Amts wegen, teils auf Antrag – schwere, als unverhältnismäßig empfundene Strafen herabgesetzt, in vielen Fällen auch Urteile insgesamt aufgehoben werden konnten41. Letzteres galt insbesondere für die Verurteilung von Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus. Überhaupt wurde tendenziell mehr auf die antinazistische Gesinnung der Verurteilten als auf das objektive Unrecht der ergangenen Urteile, z. B. in Form der Unverhältnismäßigkeit, Wert gelegt. Am 25. Januar 1985 stellten die Fraktionen des Deutschen Bundestags fest, „dass die als ’Volksgerichtshof’ bezeichnete Institution kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft war“. Seinen Entscheidungen komme daher „nach Überzeugung des Deutschen Bundestages keine Rechtswirkung zu,42 Allerdings war dies nur eine politische Deklaration, an die sich keine unmittelbaren Rechtsfolgen knüpften. Erst mehr als 50 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, im August 1998, erging ein Bundesgesetz, das als Grundsatz die Aufhebung aller Urteile, die gegen elementare Grundsätze der Gerechtigkeit verstießen, verfügte.43 Voraussetzung bleibt, dass das begangene Justizunrecht spezifisch nationalsozialistisches Unrecht gewesen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage hilft der Gesetzgeber mit einigen weiteren Kriterien sowie durch einen Katalog von insgesamt 59 Gesetzen der NS-Zeit, bei deren Anwendung diese Voraussetzung unwiderlegbar als gegeben angesehen wird.44 40

s. Vormbaum: Schutz des Strafurteils, S. 326 ff. Näher Jürgen Welp: Die Strafgesetzgebung der Nachkriegszeit (1945 – 1953), in: Thomas Vormbaum/Jürgen Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband I. Berlin 2004, S. 139 ff., hier 143 f.; s. auch Friedrich-Christian Schroeder: Probleme der Dekontaminierung des deutschen Strafrechts nach 1945, in: FS für Kristian Kühl. München 2014, S. 101 ff. 42 s. bereits den Hinweis in Fn. 31. 43 Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 (BGBl. I, S. 2501). 44 Näher Ralf Vogl: Die Wiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht durch die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, in: Klaus Marxen/Koichi Miazawa/Gerhard Werle 41

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So zeigt sich, dass nicht nur die Geschichte des Volksgerichtshofes selbst, sondern auch die Geschichte der Auseinandersetzung mit ihm zu den dunkleren Seiten der deutschen Strafrechtsgeschichte gehört. Zu ihr gehört auch, dass zahlreiche Berufsrichter des Volksgerichtshofes noch in der Justiz der Bundesrepublik Deutschland tätig waren45. Es zeigt sich aber auch, dass diese Geschichte nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten aufweist.

(Hrsg.): Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland. Berlin 2001, S. 177 ff., 195. 45 Näher Rottleuthner (wie Fn. 27).

Die Herstellung der Strafrechtseinheit nach der deutschen Vereinigung Gerhard Werle und Moritz Vormbaum* Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht hat nach der deutschen Vereinigung (und auch schon vorher) erhebliches Interesse in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit gefunden.1 Etwas anderes gilt für das DDR-Strafrecht, zu dem sich deutlich weniger tiefergehende Auseinandersetzungen finden.2 Der Prozess der Rechtsvereinheitlichung im Strafrecht wurde in der Wissenschaft damals und auch in der Folgezeit ebenfalls stark vernachlässigt; zur Herstellung der Strafrechtseinheit in Deutschland finden sich nur vereinzelt Publikationen.3 Eine kritische Analyse, die auch für andere Staaten – insbesondere das geteilte Korea – von Bedeutung wäre, steht diesbezüglich noch aus. Der folgende Beitrag, der aus einem Gutachten für das Korean Institute of Criminology hervorgegangen ist und im zweiten Teil auf die Habilitationsschrift von Moritz Vormbaum zurückgreifen kann, gilt diesem juristisch-zeitgeschichtlichen Thema.

I. Vorüberlegungen Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 wurde das Strafrecht der DDR zunächst durch zwei umfassende Reformgesetze4 von Elementen, die als besonderer Ausdruck der Ideologie der Parteidiktatur galten, „bereinigt“. Mit der deutschen Ver-

* Die Verf. sind Anna-Julia Egger und Anna Krey, Studentische Hilfskräfte am Lehrstuhl von Prof. Werle, für wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags dankbar. 1 Schrifttumsnachweise finden sich z. B. bei Marxen/Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz, S. 261 ff. 2 Einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen etwa Arnold (Hrsg.), Die Normalität des Strafrechts der DDR (1995); Buchholz, Strafrecht im Osten (2008); F.-C. Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus (1983). Jetzt auch Vormbaum, Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik (2015). 3 Vgl. etwa Eser, GA 1991, 241 ff., Ewald, NJ1990, 134 ff.; Lilie, NStZ 1990, 153 ff., Roggemann, ROW 1969, 97 ff. 4 Zum einen durch das „Gesetz zum Vertrag zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion (Verfassungsgesetz)“ vom 21. Juni 1990, GBl. DDR 1990 I, S. 331 ff., zum anderen durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29. Juni 1990, GBl. DDR 1990 I, S. 526 ff.

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einigung5 am 3. Oktober 1990 trat dann für das Gebiet der ehemaligen DDR, mit Ausnahme einiger weniger Tatbestände, für die der Einigungsvertrag eine zeitlich begrenzte Weitergeltung vorsah, das bis dahin in der Bundesrepublik gültige Strafrecht in Kraft. Damit hörte das DDR-Strafrecht formal auf zu existieren. Bereits in der Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung war Kritik an der sich abzeichnenden Erstreckung des bundesdeutschen Strafrechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR geübt worden. Es wurde bemängelt, die „historische Chance“ zur Schaffung eines neuen, gesamtdeutschen Strafrechts, welche die deutsche Vereinigung mit sich gebracht habe, sei nicht genutzt worden.6 Im „Vereinigungstaumel“ und mit „deutsch-deutsche[m] Tunnelblick“7 sei der DDR die Rechtsordnung der Bundesrepublik „übergestülpt“8 worden; „produktive Ansätze“ des DDR-Strafrechts seien dagegen weitgehend ignoriert worden.9 Auch nach der Vereinigung hieß es vereinzelt noch, „Bewährte[s] und Bewahrenswerte[s]“10 seien im Rahmen der einseitigen Übernahme verlorengegangen. Gegen solche Kritik ließe sich einwenden, es habe sich bei der DDR um eine Diktatur gehandelt, in der Bürgerrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit nicht zuletzt mithilfe des Strafrechts und der Strafjustiz systematisch verletzt worden seien. Das Strafrecht sei in der DDR deshalb in erster Linie eine Waffe im Arsenal der Unterdrückungsinstrumente der Partei gewesen, so dass eine Untersuchung auf „produktive Ansätze“ grundsätzlich abzulehnen sei. In der Tat gelangte das Strafrecht in der DDR, ähnlich wie in anderen Diktaturen, in einem spezifischen politischen Kontext zur Anwendung: Das Erreichen politischer Ziele stand über der Gültigkeit von Rechtsgarantien, gegenüber staatlichen Maßnahmen existierte kein effektiver Rechtsschutz, die Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten wurde von der Staatsführung auf ihre Vereinbarkeit mit der staatlichen Ideologie kontrolliert, und die staatlichen Gewalten waren nicht voneinander getrennt. Ein zentraler Bereich der Verbrechensbekämpfung lag in der DDR zudem nicht in den Händen der Justiz, sondern des Ministeriums für Staatssicherheit, das einer justiziellen Kontrolle entzogen und lediglich der politischen Führung Rechenschaft schuldig war. Eine Übernahme von Elementen des DDR-Strafrechts in das bundesdeutsche Strafrecht hätte aber den menschenverachtenden Charakter der SED-Diktatur und 5 Auch wenn der Begriff „Wiedervereinigung“ weit verbreitet ist, wird im vorliegenden Beitrag der neutralere Begriff „Vereinigung“ verwendet. Wie Roggemann, JZ 1990, 363, 366, zutreffend ausführt, suggeriert der Begriff „Wiedervereinigung“, „dass ,wieder‘ gleichsam bruchlos anzuknüpfen sei an einen früheren Zustand“. Es würden damit, so Roggemann weiter, „vier Jahrzehnte Rechts- und Sozialgeschichte in beiden deutschen Staaten hinweggedacht“. 6 Vgl. Ewald, NJ 1990, 134. 7 Ewald, NJ 1990, 134, 135. 8 Diesen Ausdruck verwendete der Jenaer Strafrechtsprofessor Gerhard Riege am 6. April 1990, zitiert nach Rollecke, NJW 1991, 657. 9 Ewald, NJ 1990, 134, 135. 10 Eser, GA 1991, 241.

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die zentrale Rolle, die das Strafrecht in ihrem Repressionsapparat spielte, nicht in Frage gestellt. Dass in der DDR das Strafrecht als „Erziehungsmittel“ für nichtangepasste Bürger und als „Hebel“ für die Durchsetzung der sozialistischen Ideologie zum Einsatz kam, ist ohnehin unbestritten und lässt sich zahlreichen historischen Quellen entnehmen.11 Es wäre aber eben auch nicht ausgeschlossen gewesen, dass einzelne Normen des DDR-Strafrechts von ihrer tatbestandlichen Ausgestaltung her grundsätzlich rechtsstaatlichen Anforderungen genügten und in einem rechtsstaatlichen Kontext akzeptabel gewesen wären. Immerhin gelang der DDR mit dem Strafgesetzbuch von 1968 – anders als der Bundesrepublik – die Durchführung einer Gesamtreform des Strafrechts, von der es damals auch in der Bundesrepublik trotz aller Kritik hieß, der DDR sei es gelungen, in einigen Bereichen „alte Zöpfe abzuschneiden und moderne, fortschrittliche Rechtsnormen“ zu schaffen.12 Selbst der damalige Bundesjustizminister Gustav Heinemann war der Ansicht, dass zwischen dem Strafgesetzbuch der DDR und Reformvorhaben der Bundesrepublik jener Zeit bei allen Unterschieden auch Parallelen beständen.13 Im Folgenden werden zunächst die verfassungsrechtlichen Optionen zur Herstellung der deutschen Einheit (II.) und die Möglichkeiten der Vereinheitlichung des Strafrechts (III.) untersucht. Sodann wird der Allgemeine Teil (IV.) des DDR-Strafgesetzbuchs, auf den sich der Beitrag aus Platzgründen beschränkt, auf Elemente analysiert, die für eine Übernahme in Betracht gekommen wären. Schließlich wird ein Gesamtfazit gezogen (V.).

II. Verfassungsrechtliche Optionen zur Herstellung der Deutschen Einheit 1. Optionen nach dem Grundgesetz Bei der Schaffung des Grundgesetzes im Jahre 1949 konnte der gesetzgebende „Parlamentarische Rat“, der auf Anweisung der drei westlichen Siegermächte tätig wurde, lediglich für das Gebiet der westlichen Besatzungszonen verfassungsgebend tätig werden. Dies führte dazu, dass das Grundgesetz ursprünglich als eine Übergangsverfassung bis zur Herstellung der deutschen Einheit konzipiert wurde.14 Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands war in der bis 1990 geltenden Fassung des Grundgesetzes ein verbindlicher Verfassungsauftrag,15 der 11 Vgl. nur Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland (1958), S. 31. Speziell zum Strafrecht s. Bein (u. a.), Beiträge zum Strafrecht, Heft 4 (1960), S. 54, 55 f. 12 So ein Kommentar der „Bonner Rundschau“ vom 13. Januar 1968 zum Erlass des Strafgesetzbuchs der DDR, Nachweis bei Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 462. 13 Vgl. DPA-Meldung vom 12. Januar 1968, BA DY 30/IVA2/13/193, Bl. 111. Vgl. auch Grünwald, ZStW 1970, 250, 256. 14 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (1996), Art. 23, Rn. 7. 15 Das sogenannte Wiedervereinigungsgebot [sic], s. BVerfGE 74, 1.

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sich bereits aus seiner Präambel ableiten ließ. Dort hieß es, dass Deutschlands „nationale und staatliche Einheit zu wahren“ sei und dass das „gesamte Deutsche Volk […] aufgefordert [bleibe], in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“16 Das Grundgesetz regelte darüber hinaus in Art. 23 S. 2 GG und Art. 146 GG zwei Optionen zur Herstellung der Einheit Deutschlands. a) „Beitritt“ (Art. 23 S. 2 GG) Das Verfahren gemäß Art. 23 S. 2 GG sah vor, dass Teile Deutschlands, die außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes lagen, diesem „beitreten“ könnten. Die Vorschrift lautete: Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, SchleswigHolstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.

Unter einem „Beitritt“ war mithin die Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes auf das Gebiet „andere[r] Teile Deutschlands“17 zu verstehen. Als erforderlich aber auch ausreichend für einen solchen Beitritt galt eine freie und demokratische Entscheidung der Bevölkerung jenes Teils Deutschlands, welcher der Bundesrepublik beitreten wollte.18 In dieser Entscheidung sollte zum einen der „Wille zur Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland“19 zum Ausdruck gelangen, zum anderen die Annahme des Grundgesetzes ohne Vorbehalte erklärt werden.20 Rechtsfolge war gemäß Art. 23 S. 2 GG die automatische Inkraftsetzung des Grundgesetzes im betreffenden Gebiet; das beitretende Gebiet wurde, in den Worten Tomuschats, „unter das Dach des Grundgesetzes aufgenommen“21. Wegen der Bedeutung für die Bundesrepublik sollte zwar überdies ein einfaches Bundesgesetz den Beitritt beschließen, diesem Gesetz wurde aber nur deklaratorische Bedeutung zugesprochen.22 Der Erlass von Übergangsregelungen parallel zum Beitritt galt als zulässig. Bereits 1957 war der Beitritt des Saarlands zur Bundesrepublik auf diesem verfassungsrechtlichen Wege vollzogen worden. Nach Verhandlungen von Vertretern 16

Eine normative Konkretisierung des Vereinigungsgebotes folgte zudem aus dem Gebot der Wahrung einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit (Art. 116 Abs. 1; 16 Abs. 1 GG), s. BVerfGE 77, 137. 17 Zu diesem Begriff s. Scholz, in: Maunz/Dürig (1996), Art. 23, Rn. 14 ff. Eine endgültige Festlegung der deutschen Grenzen, wie sie heute bestehen, erfolgte schließlich durch den sogenannten Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990 (BGBl. II S. 1318 ff.). 18 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (1996), Art. 23, Rn. 10. 19 BVerfGE 36, 1, 29. 20 Vgl. Epping, JZ 1990, 805 ff.; Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 49. 21 Tomuschat, VVdStRL 49 (1990), 70, 72. Vgl. auch Epping, JZ 1990, 805, 807 f. 22 Vgl. Klein, NJW 1990, 1065, 1070; Stern, in: Stern/Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), StaatsV (1990), S. 36; BVerfGE 36, 1, 29.

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Frankreichs, des Saarlands und der Bundesrepublik wurde am 23. Oktober 1956 im Saarland ein Volksentscheid durchgeführt, auf dessen Grundlage der Saarländische Landtag am 14. Dezember 1956 den Beitritt zur Bundesrepublik erklärte.23 Anschließend beschloss der Bundestag die Geltung des Grundgesetzes und des sonstigen Bundesrechts für das Saarland und erließ Übergangsregelungen, die den Beitritt begleiteten.24 b) „Verfassungsgebung“ (Art. 146 GG) Dagegen sah Art. 146 GG einen grundlegend anderen Weg der Vereinigung vor. Anstelle einer Legitimierung des Grundgesetzes durch den beitretenden Teil Deutschlands wie bei Art. 23 S. 2 GG, sollte das Grundgesetz nach Art. 146 GG durch eine neue Verfassung ersetzt werden.25 Die Norm lautete: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Grundvoraussetzung von Art. 146 GG war eine „freie“, das bedeutete insbesondere von den ehemaligen Besatzungsmächten unbeeinflusste, Entscheidung des ganzen Volkes der (noch) getrennten Teile Deutschlands.26 Der Weg über Art. 146 GG verlangte mithin eine verhandelte Fusion, die zu einem neuen deutschen Staat führte. Da Art. 146 GG die Durchführung der Vereinigung nicht näher konkretisierte und es, anders als beim Beitritt des Saarlandes über Art. 23 S. 2 GG, an einem historischen Präzedenzfall für einen Zusammenschluss fehlte, war das Verfahren im Einzelnen unklar. Es wurde deshalb auf bekannte Wege der Verfassungsgebung rekurriert.27 Für denkbar gehalten wurde beispielsweise die Erarbeitung und Inkraftsetzung einer neuen Verfassung durch eine mit Beschlussvollmacht ausgestattete Nationalversammlung oder die unmittelbare Entscheidung des Volkes in Form einer Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf.28 Beide Wege – Beitritt nach Art. 23 S. 2 GG und Verfassungsgebung nach Art. 146 GG – standen nach herrschender Meinung im alternativen Verhältnis zueinander,29 da die Wahl einer der beiden Varianten zugleich über das weitere Schicksal des Grund23

Amtsblatt des Saarlands 1956, S. 1645. Gesetz über die Eingliederung des Saarlands vom 23. Dezember 1956, BGBl. 1956 I, S. 1011. 25 Vgl. v. Camphausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. (2010), Art. 146, Rn. 7. 26 Vgl. Dreier in: ders., Grundgesetz, 2. Aufl. (2008), Art. 146, Rn. 25 f. 27 Vgl. Häberle, JZ 1990, 358, 359. 28 Vgl. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), 70, 88. 29 Vgl. Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 53; Starck, JZ 1990, 349, 352; Stern in: Stern/ Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), StaatsV (1990), S. 26 f. Nach einer Gegenansicht war allein Art. 23 S. 2 GG vom Grundgesetz für die Herstellung der Einheit vorgesehen, wohingegen Art. 146 GG voraussetze, dass die Vereinigung schon erfolgreich vollzogen worden sei, s. v. Camphausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. (2010), Art. 146, Rn. 9; Dreier in: ders., Grundgesetz, 2. Aufl. (2008), Art. 146, Rn. 29 ff. 24

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gesetzes entscheide und somit die jeweils andere ausschließe: Das Beitrittsverfahren über Art. 23 S. 2 GG hätte zu einer gesamtdeutschen Anwendbarkeit des Grundgesetzes geführt; durch den Erlass einer neuen Verfassung gemäß Art. 146 GG hätte das Grundgesetz dagegen seine Geltung verloren.30 2. Alternativmodelle der Vereinigung a) Vertragsgemeinschaft oder Konföderation Anstelle der beiden vom Grundgesetz vorgezeichneten Wege zur Herstellung der deutschen Einheit wurden kurz nach dem Mauerfall insbesondere von Seiten der Übergangsregierung der DDR Maßnahmen in Betracht gezogen, welche die DDR als selbstständigen Staat noch längere Zeit hätten erhalten sollen.31 Die Regierung unter Hans Modrow hatte zunächst eine „Verantwortungsgemeinschaft“, dann eine auf mehrere Jahre angelegte „Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik geplant.32 Aber auch das Zehn-Punkte-Programm, das Bundeskanzler Helmut Kohl kurz nach dem Mauerfall präsentierte, sah vorerst eine „Konföderation“ vor, wenn auch nur als Zwischenstufe mit zeitlich überschaubarer Dauer bis zur endgültigen Einheit.33 Vereinzelt argumentierten auch Rechtswissenschaftler für diese Lösung. Laut Herwig Roggemann, war „die Fortexistenz einer grundlegend reformierten und demokratisierten, rechtsstaatlichen DDR, mit der Bundesrepublik […] durch offene Grenzen verbunden, eine Lösung, für die bessere europapolitische, wirtschaftliche, militärische und nicht zuletzt historische Gründe geltend gemacht werden“ konnten.34 Denkt man diese letztlich nur rudimentär entworfenen Ansätze, die schnell von den politischen Ereignissen überholt wurden, weiter, wäre zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf völkerrechtlicher Ebene wohl zunächst ein Staatenbund entstanden, vergleichbar mit historischen Vorbildern wie dem Rheinbund (1806 bis 1813) oder dem Deutschen Bund (1815 bis 1866).35 Die Errichtung eines solchen Bundes zwischen der Bundesrepublik und der DDR hätte mit Art. 24 Abs. 1 GG („Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“) eine verfassungsrechtliche Grundlage besessen. Überdies wurde dieser

30

Vgl. Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 48. Vgl. Kilian, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd. I, 3. Aufl. (2003), S. 625. 32 Vgl. das Vertragsgemeinschaftskonzept „Deutschland, einig Vaterland“ des ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow vom 1. Februar 1990. (abrufbar unter http:// www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=01.02.90&sort=002 – 000, zuletzt abgerufen am 17. August 2015). 33 Abgedruckt in Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 177. Sitzung v. 28. November 1989, S. 13510 ff. 34 Roggemann, JZ 1990, 363, 367. 35 Vgl. Starck, JZ 1990, 349, 352. 31

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Lösung zugutegehalten, dass sie den Vollzug der deutschen Einheit auf schonende Art und Weise vorbereitet hätte.36 b) Kombination der Verfahrenswege Vereinzelt wurde auch eine Kombination der beiden Verfahrenswege des Grundgesetzes zur Herstellung der Einheit befürwortet. Dieser Variante lag die Ansicht zugrunde, dass, entgegen der zuvor erwähnten herrschenden Auffassung, zwischen Art. 23 S. 2 GG und Art. 146 GG kein Ausschlussverhältnis bestehe. Vielmehr sollte der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zunächst nach Art. 23 S. 2 GG erfolgen, im Anschluss daran aber eine neue Verfassung gemäß Art. 146 GG in Kraft gesetzt werden.37 Durch diese dem Beitritt folgende Verfassungsablösung sei eine gleichberechtigte Mitwirkung von Bundesrepublik und DDR bei der Gestaltung einer neuen deutschen Verfassung gewährleistet. Gegen diese „Sowohl-Als-Auch-Lösung“38 wurde eingewandt, die Annahme des Grundgesetzes als Verfassung sei gerade eine zwingende Voraussetzung des Beitritts gemäß Art. 23 S. 2 GG. Da das zuvor beschriebene Modell aber auf die Schaffung einer neuen Verfassung hinauslaufe, handele es sich nicht um eine „Kombination“, sondern um eine Herstellung der Vereinigung gemäß Art. 146 GG.39 Dies bedeute allerdings nicht, dass nach einem Beitritt gemäß Art. 23 S. 2 GG Änderungen des Verfassungstextes gänzlich ausgeschlossen seien. Im Gegenteil: der Beitritt mache fraglos eine Überarbeitung einiger Vorschriften des Grundgesetzes erforderlich.40 Hierbei handele es sich dann aber auch nicht um einen „kombinierten“ Weg der Vereinigung, sondern lediglich um einen Beitritt nach Art. 23 S. 2 GG. 3. Die DDR-Verfassung als Grundlage der Vereinigung Theoretisch hätte sich die Vereinigung auch nach der DDR-Verfassung vollziehen können, vorausgesetzt diese hätte entsprechende Optionen bereitgehalten. Im Gegensatz zum Grundgesetz enthielt die Verfassung der DDR allerdings keine „Anleitungen“ zur Herstellung der Einheit. Zwar nahmen die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 noch Bezug auf ein vereintes Deutschland und erklärten die Absicht, die Teilung Deutschlands zu überwinden.41 Mit der Verfassungsnovelle vom 7. Ok36

Vgl. Starck, JZ, 1990, 349, 352. Vgl. Häberle, JZ 1990, 358, 359 f. 38 Häberle, JZ 1990, 358, 359; Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 53. 39 Vgl. Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 54. 40 Vgl. Isensee, VVdStRL 49 (1990), 39, 53; Starck, JZ, 1990, 349, 354. 41 In Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der DDR von 1949 hieß es: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf.“ Art. 1 Abs. 1 der Verfassung von 1968 lautete dann: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. […]“. Und in Art. 8 Abs. 2 S. 2 der Verfassung von 1968 37

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tober 1974 wurde dann aber jeglicher Bezug auf eine „deutsche Nation“ gestrichen und die DDR als sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern bezeichnet. Dahinter standen die Bemühungen der DDR, als unabhängiger Staat international anerkannt zu werden. 4. Vollzug der Deutschen Einheit Die Art und Weise, auf der die deutsche Vereinigung letztlich erfolgte, wurde durch die gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse in der Zeit nach dem Mauerfall bestimmt.42 Nach dem Ausscheiden Erich Honeckers aus allen politischen Ämtern im September 1989 und dem Rücktritt seines Nachfolgers Egon Krenz im Dezember 1989 versuchte die DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow zunächst, durch die Ankündigung umfassender Reformen des Staatsapparates die DDR als eigenständigen (sozialistischen) Staat zu erhalten.43 Allerdings verwaltete die neue Regierung das Land nur noch. Andere politische Kräfte, nämlich die personell umbesetzten Blockparteien, neu gegründete Ost-Parteien (z. B. „Bündnis 90/Die Grünen“) sowie Bürgerrechtsgruppen hatten mehr Einfluss auf das Geschehen in der noch existierenden DDR. Der anfänglich von der Übergangsregierung ins Auge gefasste Weg einer deutschen „Konföderation“ hatte dementsprechend von Anfang an kaum Aussicht auf Erfolg, hätte er doch dem Wunsch des Großteils der DDR-Bevölkerung nach einer schnellen Vereinigung nicht gerecht werden können.44 Am 18. März 1990 fanden dann die ersten freien Wahlen zur Volkskammer statt. Im Rahmen des Wahlkampfs sprachen sich die meisten Parteien (insbesondere das aus konservativ-liberalen Parteien bestehende Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“, die SPD sowie ein weiteres liberales Bündnis) für eine rasche Einheit aus45 und erlangten bei der Wahl insgesamt über 75 % der Stimmen.46 Die anschließend gebildete Regierungskoalition unter Ministerpräsident Lothar de Maizière richtete ihr Hauptaugenmerk dementsprechend auf eine zügige Vorbereitung der Vereinihieß es sogar: „Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben […] die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus.“ 42 Zu den historischen Ereignissen nach dem Mauerfall s. etwa Bahrmann/Links, Chronik der Wende (1994), S. 92 ff.; Hertle/Stephan (Hrsg.), Das Ende der SED (1997), S. 82 ff.; K. Schroeder, Der SED-Staat (1998), S. 319 ff.; Weber, Die DDR 1945 – 1990, 4. Aufl. (2006), S. 107 ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949 – 1990 (2008), S. 359. 43 Vgl. Kilian in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd. I, 3. Aufl. (2003), S. 615. 44 Vgl. Kilian in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd. I, 3. Aufl. (2003), S. 622. 45 Vgl. etwa den Wahlaufruf der „Allianz für Deutschland“ vom 1. März 1990 (abrufbar unter http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Bundestag/1990_Wahlaufruf-undSofortprogramm-der-Allianz-fuer-Deutschland-zur-Volkskammerwahl-in-der-DDR.pdf, zuletzt abgerufen am 1. Juni 2015). 46 Das vollständige Wahlergebnis ist abrufbar unter http://www.bpb.de/politik/hintergrundaktuell/69143/erste-freie-volkskammerwahl-17 – 03 – 2010, zuletzt abgerufen am 1. Juni 2015.

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gung.47 Ein Markstein auf dem Weg dorthin war der am 1. Juli 1990 geschlossene „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik“48. In Absatz 2 der Präambel brachten die Vertragsparteien ihren Willen zum Ausdruck, „in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden“. In Absatz 4 hieß es weiter, man gehe „von dem beiderseitigen Wunsch [aus], die Herstellung der staatlichen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes […] zu unternehmen […]“. Die Frage, ob die Einheit über Art. 23 S. 2 GG, Art. 146 GG oder alternative Modelle zu erreichen war, war spätestens zu diesem Zeitpunkt zugunsten der erstgenannten Option entschieden.49 Der Beitritt über Art. 23 S. 2 GG schien auch angesichts der desolaten Wirtschaftslage der DDR und des seit der Öffnung der Grenzen nicht abreißenden Stroms von DDR-Übersiedlern in das Bundesgebiet die schnellere und damit angemessenere Option zu sein.50 Zudem hoffte man, die politischen Herausforderungen der Vereinigung im Rahmen einer bereits bewährten Verfassung besser bewältigen zu können, als auf dem Boden einer gänzlich neu geschaffenen Verfassung.51 Am 23. August 1990 erklärte die Volkskammer der DDR schließlich den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 3. Oktober 1990. Am 31. August 1990 fand der staatsrechtliche Einigungsprozess mit der Unterzeichnung des unter Hochdruck ausgearbeiteten „Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag)“52 seinen Abschluss. Der Vertrag erweiterte das Territorium der Bundesrepublik bei unveränderter Staatlichkeit um das Gebiet der DDR53 (weshalb der Begriff „Vereinigung“ mitunter als unzutreffend bezeichnet wird)54 und erfüllte gleichzeitig das Erfordernis der formalen Inkraftsetzung des Grundgesetzes in Form eines einfachen Bundesgesetzes. Die DDR hörte durch den Beitritt am 3. Oktober 1990 auf zu existieren.

47 So enthielt bereits die Koalitionsvereinbarung die Herstellung der Einheit nach Art. 23 S. 2 GG, den Abschluss eines vorbereitenden Staatsvertrages sowie den Aufbau von Ländern in der DDR, s. v. Münch, Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands (1991), S. 190 ff. 48 BGBl 1990 II, S. 537 ff. 49 Vgl. Stern in: Stern/Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), StaatsV (1990), S. 43. 50 Vgl. Kilian in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR Bd. I, 3. Aufl. (2003), S. 638. 51 Vgl. Starck, JZ 1990, 349, 354. 52 BGBl. 1990 II, S. 889. Der Einigungsvertrag enthielt zudem eine Vielzahl von Anpassungs- und Übergangsregelungen. 53 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (1996), Art. 23, Rn. 42 f. 54 Laut Ther, „Süddeutsche Zeitung“ vom 30. Juni 2015, handelte es sich „um eine Erweiterung Westdeutschlands, nicht um eine Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten“.

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III. Das Strafrecht nach der Herstellung der deutschen Einheit Vor der Vereinigung existierten in der Bundesrepublik und in der DDR zwei unabhängig voneinander geltende Rechtsordnungen, was der jedenfalls faktischen Souveränität der beiden deutschen Staaten entsprach. Abseits der zuvor behandelten verfassungsrechtlichen Aspekte der Vereinigung stellte sich nach dem Mauerfall die Frage, ob mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zugleich auch eine Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt werden solle oder müsse.55 Für eine solche Rechtsvereinheitlichung gab es generell, und damit auch für das Strafrecht, mehrere Optionen. Diese sollen zunächst dargestellt werden, bevor auf die Rechtsvereinheitlichung im Bereich des Strafrechts eingegangen wird. 1. Optionen der Rechtsvereinheitlichung a) Erstreckung Eine erste Option war die Erstreckung56 des gesamten bundesdeutschen Rechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Unter den zuvor geschilderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Vereinigung lag diese Option nahe, zumal die Rechtsvereinheitlichung dabei dem Weg folgte, den die Beitrittslösung gemäß Art. 23 S. 2 GG vorgab. Freilich musste sich eine solche Erstreckung nicht zwingend auf die gesamte Rechtsordnung beziehen, sondern konnte sich auch auf einzelne Bereiche des bundesdeutschen Rechts beschränken. Auch eine „wechselseitige Erstreckung“ wäre denkbar gewesen. So hätten bestimmte Bereiche, in denen das DDR-Recht als fortschrittlicher gelten konnte,57 auf das Gebiet der Bundesrepublik erstreckt werden können. b) Gespaltene Geltung Eine zweite Option bestand darin, die unterschiedlichen Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik nach der Vereinigung für das jeweilige Teilgebiet des vereinten Deutschland zumindest für eine gewisse Übergangszeit weitergelten zu lassen. Eine solche „gespaltene Rechtsgeltung“ stand nicht im Widerspruch zu der Entscheidung für einen Beitritt nach Art. 23 S. 2 GG.58 Sonder- und Übergangsregelungen waren seinerzeit auch beim Saarland-Beitritt erfolgt, um

55

Vgl. Eser, GA 1991, 241, 246. Teilweise finden sich auch andere Terminologien – z. B. „Angleichung“, „Ausdehnung“ –, die sich inhaltlich aber nicht von dem Begriff der Erstreckung unterscheiden, s. Nissel, DtZ 1990, 330; Roggemann, JZ 1990, 363, 365. 57 In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom 26. Juni 2015 äußerte etwa Lothar de Maizière die Ansicht, dass „manches in der DDR-Gesellschaft fortschrittlicher war als im Westen“, und nennt als Beispiel u. a. das Erbrecht. 58 Vgl. Roggemann, JZ 1990, 363, 365. 56

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den Besonderheiten des beitretenden Gebiets und seines Rechts gerecht zu werden.59 So trat zwar im Gebiet des Saarlands nach Art. 3 des Saarvertrages zum 31. Dezember 1959 grundsätzlich das Bundesrecht in Kraft, zugleich wurden aber in den §§ 2 ff. des Gesetzes zur Einführung des Bundesrechts im Saarland vom 30. Juni 195960 weitreichende, längere Zeit geltende Ausnahmen für zahlreiche Rechtsbereiche normiert, etwa für das Zivilrecht, das Wirtschaftsrecht, das Arbeitsrecht, das Baurecht etc.61 Auch in anderen Ländern, etwa in den USA oder in der Schweiz, finden sich Beispiele für eine sehr unterschiedliche Rechtsgestaltung in Teilgebieten eines gemeinsamen Verfassungsverbundes.62 c) Synthese Eine weitere Option bestand in der Durchführung einer „Rechtserneuerung“63 im Wege einer Synthese der Rechtsordnungen beider deutscher Staaten oder jedenfalls einzelner Normkomplexe. Zwar wurde einem solchen Ansatz entgegengehalten, er würde über Jahrzehnte gewachsene Rechtskörper auseinanderbrechen und schließlich lediglich zu einer „Sammlung von Einzelnormen“ führen.64 Diese Kritik ließ aber außer Acht, dass die Rechtsordnungen der Bundesrepublik und der DDR im Kern auf dieselben Kodifikationen zurückgingen – im Bereich des Strafrechts behielten beide deutsche Staaten sogar bis 1968 formal die gleiche Rechtsgrundlage, nämlich das Reichsstrafgesetzbuch. Insofern hätte man auch die Ansicht vertreten können, dass eine Synthese die besten „Zutaten“ beider deutschen Rechtsordnungen zu einer gesamtdeutschen Rechtsordnung hätte verarbeiten können. Eine solche Synthese hätte nicht schon zwingend im Zeitpunkt der Vereinigung vorgenommen werden müssen, sondern auch nach einer anfänglich gespaltenen Geltung schrittweise erfolgen können.65 Nach einem Vorschlag des DDR-Strafrechtlers Uwe Ewald sollte im Beitrittsgebiet zunächst ein „DDR-spezifisches“ Recht weitergelten, bevor eine gemeinsame (Straf-)Rechtsordnung geschaffen werden sollte.66

59 Vgl. Ewald, NJ 1990, 134, 137, nach dessen Ansicht der Saarland-Anschluss als historisches Vorbild in größerem Ausmaß für eine Vereinheitlichung des Strafrechts nach 1990 hätte dienen können. 60 BGBl. 1959 I, S. 313 ff. 61 Vgl. hierzu Klein, NJW 1990, 1065, 1071. 62 Vgl. Roggemann, JZ 1990, 363, 365. 63 Roggemann, JZ 1990, 363, 367. 64 Nissel, DtZ 1990, 330. 65 Vgl. Roggemann, JZ 1990, 363, 366. 66 Vgl. Ewald, NJ 1990, 134.

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2. Durchführung der Strafrechtsvereinheitlichung a) Erstreckung Durch den Einigungsvertrag wurde im Grundsatz die Erstreckung des gesamten Bundesrechts auf das Beitrittsgebiet angeordnet.67 Auch für das Strafrecht legte Art. 8 des Einigungsvertrags gemeinsam mit Anlage I B), Kapitel III, Sachgebiet C, sowie Anlage II B), Kapitel III, Sachgebiet C, fest, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR grundsätzlich und flächendeckend das bundesdeutsche Straf- und Strafverfahrensrecht in Kraft treten sollte.68 Eine Rückwirkung von Strafnormen sollte durch die Erstreckung nicht erfolgen. Art. 315 des Einführungsgesetzes erklärte grundsätzlich § 2 StGB für anwendbar. Das heißt, die Erstreckung des Rechts der Bundesrepublik auf das Beitrittsgebiet wurde mit einer innerstaatlichen Gesetzesänderung gleichgesetzt. Für vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangene, aber noch nicht abgeurteilte Straftaten galt das „Meistbegünstigungsprinzip“.69 Dies bedeutete, dass, wenn nach dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht weder Freiheitsstrafe noch Verurteilung auf Bewährung noch Geldstrafe verwirkt waren, Straflosigkeit die Folge war.70 Für eine Bestrafung des Täters musste nach dem „Zwei-Schlüssel-Ansatz“ des Einigungsvertrags eine Tat sowohl nach dem Strafrecht der DDR als auch nach dem Strafrecht der Bundesrepublik im Unrechtskern erfasst sein.71 Gemäß § 2 Abs. 2 StGB galt dann das mildere Gesetz. Auch wenn mit der Entscheidung für eine Erstreckung grundsätzlich eine rechtspolitisch klare Lösung gefunden wurde, die dem verfassungsrechtlichen Weg der Vereinigung entsprach und eine zügige Vereinheitlichung des deutschen Strafrechts ermöglichte, wurde diese „Radikallösung“72 von Strafrechtlern aus Ost- und Westdeutschland kritisch bewertet. Es hieß, die Vereinheitlichung von bundesdeutschem und DDR-Strafrecht könne nicht auf die Schnelle erfolgen, sondern sei zwingend ein länger währender Prozess.73 Durch die einseitige Erstreckung würden zudem auf der einen Seite Schwächen der bundesdeutschen Strafrechtsordnung auf das Beitrittsgebiet erstreckt, auf der anderen Seite würden positive Ansätze der Rechtsordnung der DDR verdrängt.74

67

Art. 8 Einigungsvertrag mit Anlage I B), Kap. III Sachgebiet C und Anlage II B Kap. III Sachgebiet C; hierzu Kinkel, NJW 1991, 340 ff.; Schneiders, MDR 1990, 1049 ff. 68 Dazu Schneiders, MDR 1990, 1049. 69 Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag und Wahlvertrag (1990), S. 350. 70 Lackner/Kühl, StGB, § 2 Rn. 11. 71 Lackner/Kühl, StGB, § 2 Rn. 21; Marxen/Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz (1999), S. 3 ff.; Werle, NJW 2001, 3001, 3004. 72 Th. Vormbaum, StV 1991, 176, 177. 73 Vgl. Eser, GA 1991, 241, 260 ff.; Ewald, NJ 1990, 134 ff.; Klein, NJW 1990, 1065, 1071; Lilie, NStZ 1990, 153, 159. 74 Vgl. Ewald, NJ 1990, 134, 135.

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b) Gespaltene Geltung Von dem Inkrafttreten des bundesdeutschen Strafrechts auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sah der Einigungsvertrag einige wenige Ausnahmen in Form von fortbestehenden DDR-Regelungen und Übergangsbestimmungen vor.75 So kam es bei einigen Tatbeständen zu einer zeitlich begrenzten „gespaltenen Geltung“ von bundesdeutschem Strafrecht und DDR-Strafrecht. Diese wurde auf zwei Wegen herbeigeführt: zum einen indem bundesdeutsches Strafrecht im Gebiet der ehemaligen DDR für nicht anwendbar erklärt wurde, zum anderen indem eine Weitergeltung von DDR-Strafrecht für das Gebiet der ehemaligen DDR erklärt wurde. Von der Erstreckung des bundesdeutschen Strafrechts auf das Beitrittsgebiet ausgenommen waren laut Anlage I B, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt III Nr. 1 des Einigungsvertrags folgende Tatbestände: • § 144 (Auswanderungsbetrug), • § 175 (Strafbarkeit homosexueller Handlungen), • § 182 (Verführung), • §§ 218 bis 219 d (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs), • § 236 (Entführung mit Willen des Entführten) • sowie die auf §§ 144, 175 StGB bezugnehmenden Regelungen § 5 Nr. 8, 9 StGB (Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter). Diese Tatbestände galten zunächst nur in der Bundesrepublik weiter, wurden aber auch dort bald nach der Vereinigung entfernt oder neu gefasst: Das 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 199476 hob § 175 (Homosexuelle Handlungen) auf und gestaltete § 182 (Verführung) um. Mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz vom 1. April 199877 wurden § 144 (Auswanderungsbetrug) und § 236 StGB (Entführung mit Willen der Entführten) aus dem Strafgesetzbuch entfernt. Die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs wurde umfassend neu geregelt.78 Neben dieser Beschränkung der Geltung bundesdeutschen Strafrechts auf das Gebiet der alten Bundesländer bewirkte Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertrags eine Weitergeltung von Tatbeständen des DDR-Strafrechts für das Gebiet der ehemaligen DDR. Hiernach galt das in der Anlage des Vertrags benannte Recht der DDR „mit den dort genannten Maßgaben“ fort, „soweit es mit dem Grundgesetz unter Berücksichtigung dieses Vertrags sowie mit dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist“. Eine solche Weitergeltung war nach Art. 143 GG (der durch Art. 4 Nr. 5 des Einigungsvertrags geschaffen wurde) längstens bis zum 75 Zu den Besonderheiten des nach dem Beitritt auf dem Gebiet der DDR geltenden Rechts s. Lilie, NStZ 1990, 153; Wasmuth, NStZ 1991, 160. 76 BGBl. 1994 I, S. 1168 ff. 77 BGBl. 1998 I, S. 164 ff. 78 s. u., Fn. 86, 88.

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31. Dezember 1992 möglich, soweit und solange in Folge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden konnte. Zunächst blieben daraufhin gemäß Anlage II B), Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt I des Einigungsvertrags die folgenden Tatbestände des DDRStrafgesetzbuchs für das Beitrittsgebiet in Kraft: • § 84 DDR-StGB (Unverjährbarkeit von Völkerrechtsverbrechen), • § 149 DDR-StGB (Sexueller Missbrauch von Jugendlichen), • § 153 bis 155 DDR-StGB (Schwangerschaftsabbruch), • § 191 a DDR-StGB (Verursachen einer Umweltgefahr), • § 238 DDR-StGB (Rechtsbeugung). Die Gründe für die Beibehaltung dieser Normen waren unterschiedlich. Hintergrund der Weitergeltung von § 84 (Unverjährbarkeit von Völkerrechtsverbrechen) war, dass die DDR mit der Einführung der Norm ihrer Verpflichtung aus der Ratifikation der „UN-Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against Humanity“ vom 26. November 1968 nachgekommen war.79 Eine ersatzlose Aufhebung erschien deshalb völkerrechtlich bedenklich.80 Die Weitergeltung des § 149 (Sexueller Missbrauch Jugendlicher) erfolgte, da die DDR den sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch eine Person gleichen Geschlechts in derselben Weise kriminalisierte wie den durch eine Person anderen Geschlechts und sich insofern vom bundesdeutschen Strafgesetzbuch, das in § 182 auf die „Verführung“ von „Mädchen unter sechzehn Jahren“ abstellte, unterschied.81 Insofern war die Weitergeltung von § 149 DDR-StGB „notwendige Folge“ der unterschiedlichen Rechtslage im Bereich der Strafbarkeit von Homosexualität in beiden deutschen Staaten.82 Bei der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs orientierte sich das DDR-Strafgesetzbuch in §§ 153 ff. an Fristen und erklärte einen Schwangerschaftsabbruch, im Gegensatz zur Bundesrepublik, bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis grundsätzlich für nicht strafbar. Die Beibehaltung der Regelung des DDR-Strafrechts sollte diesen unterschiedlichen Ansätzen in Ost- und Westdeutschland Rechnung tragen. Die Weitergeltung der Verursachung einer Umweltgefahr gemäß § 191 a DDR-StGB erklärt sich durch den Umstand, dass die DDR auch den Schutz des Bodens vor Verschmutzungen strafrechtlich erfasste und somit weiter ging als das bundesdeutsche Umweltstrafrecht. § 238 DDR-StGB, der verschiedene Formen der Beeinflussung der Justiz kriminalisierte, wurde in Kraft gelassen, da er erst wenige Monate vor der Vereinigung durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR vom 29. Juni 1990 geschaffen worden war. Die Norm wurde auf Grund ihrer 79

Vgl. Kreicker, NJ 2002, 281, 282; Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag und Wahlvertrag (1990), S. 754. 80 Vgl. Kreicker, NJ 2002, 281, 286, der diese Bedenken freilich nicht teilt. 81 Vgl. Kusch, MDR 1991, 99 ff.; Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 562 f. 82 Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag und Wahlvertrag (1990), S. 754; zu den Folgen der gespaltenen Geltung s. Kusch, MDR 1991, 99 ff.

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Weite kritisch bewertet83 und durch das 6. Strafrechtsreformgesetz der Bundesrepublik von 1998 außer Kraft gesetzt. c) Synthese Einer Synthese des Strafrechts im Sinne eines „Verschmelzens“ beider Strafrechtsordnungen zu einem neuen Strafgesetzbuch wurde zwar von Strafrechtswissenschaftlern aus der DDR und der Bundesrepublik Sympathie entgegengebracht,84 ein solches Vorgehen sah der Einigungsvertrag aber nur in einigen wenigen Fällen und auch hier nur in Ansätzen vor. Soweit der Einigungsvertrag eine „gespaltene Geltung“ vorschrieb, verband er dies zum Teil mit einem Auftrag an den Gesetzgeber, neue Regelungen zu schaffen, die den Vorschriften beider Strafrechtsordnungen Rechnung trugen. Dies galt bei: • § 84 DDR-StGB (Unverjährbarkeit von Völkerrechtsverbrechen), • § 149 DDR-StGB (Sexueller Missbrauch Jugendlicher), • §§ 153 ff. DDR-StGB (Schwangerschaftsabbruch), • § 191 a DDR-StGB (Verursachen einer Umweltgefahr). Die Unverjährbarkeit von Völkerrechtsverbrechen findet sich heute in § 5 des Völkerstrafgesetzbuchs, das am 26. Juni 2002 in Kraft trat.85 Das 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 ersetzte § 149 DDR-StGB durch einen neugefassten § 182, der geschlechtsneutral formuliert ist. Durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 199286 wurde eine neue Regelung für die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs eingeführt, die, ähnlich wie im DDR-Strafrecht, von der Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis ausging. Allerdings erklärte das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf die Grundsätze seiner Entscheidung aus dem Jahre 1975 die neuen Vorschriften für verfassungswidrig und nichtig.87 Erst durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 199588 wurde eine Regelung eingeführt, die mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kompatibel war. Die bundesdeutschen Vorschriften des Umweltstrafrechts wurden durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 27. Juni 199489 um den strafrechtlichen Schutz des Bodens ergänzt.

83

Vgl. Schneiders, MDR 1990, 1049, 1052. Vgl. Eser, GA 1991, 241, 247; Ewald, NJ 1990, 134. 85 BGBl. 2002 I, S. 2254. 86 BGBl. 1992 I, S. 1398. 87 BVerfGE 88, 203 ff. 88 BGBl. 1995 I, S. 1050 ff. 89 BGBl. 1994 I, S. 1440 ff. 84

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3. Zwischenfazit und Ausblick auf das weitere Vorgehen Der Einigungsvertrag beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Erstreckung des bundesdeutschen Strafrechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Andere Optionen der Vereinheitlichung wurden nur in Ausnahmefällen genutzt. Die Frage, ob das DDR-Strafrecht Tatbestände besaß, die für eine Übernahme in das bundesdeutsche Strafrecht in Betracht gekommen wären oder zumindest für „rechtspolitische Anstöße“90 hätten sorgen können, blieb dabei weitgehend unbeantwortet. Im Folgenden werden Kernelemente des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs der DDR daraufhin untersucht, ob das DDR-Strafrecht in diesem Bereich das Potential für eine Übernahme besaß oder immerhin als Vorbild für eine Reform hätte dienen können.

IV. Der Allgemeine Teil des DDR-Strafrechts Der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs der DDR untergliederte sich in fünf „Kapitel“, die ihrerseits in „Abschnitte“ unterteilt waren. Die Überschriften der Kapitel lauteten: „Grundsätze des sozialistischen Strafrechts“ (1. Kapitel), „Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ (2. Kapitel), „Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ (3. Kapitel), „Besonderheiten der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher“ (4. Kapitel)91 sowie „Geltungsbereich der Strafgesetze und Verjährung der Strafverfolgung“ (5. Kapitel). Bevor auf die einzelnen Vorschriften des Allgemeinen Teils eingegangen wird, werden zunächst einige grundlegende strafrechtliche Prinzipien untersucht. 1. Strafrechtliche Prinzipien a) Rechtsstaatsprinzip In der Präambel des DDR-Strafgesetzbuchs hieß es, das Recht der DDR „bestätigt die Deutsche Demokratische Republik als den wahren deutschen Rechtsstaat“. Dieser Passus wurde zwar 1977 im Zuge des 2. Strafrechtsänderungsgesetzes aus dem Strafgesetzbuch entfernt,92 kurz vor dem Mauerfall rekurrierte die politische Führung aber erneut auf den Rechtsstaatsbegriff, indem sie die DDR als „Sozialistischen Rechtsstaat“ bezeichnete.93 90

Eser, GA 1991, 241, 252. Das Sanktionenrecht und das Jugendstrafrecht werden im vorliegenden Beitrag nicht analysiert. Siehe zu diesen Bereichen des DDR-Strafrechts eingehend Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 299 ff., 333 ff. 92 „Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen (2. Strafrechtsänderungsgesetz)“ vom 7. April 1977, GBl. DDR 1977, S.100 ff. 93 Vgl. Hager, Aus dem Bericht des Politbüros an die 6. Tagung des ZK der SED (1988), S.66. 91

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Freilich besaß der Rechtsstaatsbegriff der DDR einen anderen Inhalt als jener der Bundesrepublik. Bei der Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip in der DDR ging es eher darum, die (zumindest nach offiziellen Angaben) relativ niedrige Kriminalitätsrate und den effektiven Schutz der DDR-Bürger davor, Opfer von Verbrechen zu werden, zu betonen.94 Der Schutz vor staatlichen Eingriffen spielte bei der Verwendung des Rechtsstaatsbegriffs in der DDR keine Rolle. Der propagandistische Charakter des Rechtsstaatsprinzips in der DDR ist überdies schon durch den wetteifernden Zusatz „wahrer“ deutscher Rechtsstaat erkennbar. Positive Ansätze sind mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip der DDR mithin nicht zu verzeichnen. b) „Sozialistische Gesetzlichkeit“ Praktisch bedeutsamer als das Rechtsstaatsprinzip war in der DDR das Prinzip der „sozialistischen Gesetzlichkeit“.95 Zwar sind gewisse Überschneidungen zwischen beiden Prinzipien festzustellen, es überwiegen aber die Unterschiede. So wurde dem auf Lenin zurückgehenden Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit, dessen konkreter Inhalt dynamisch und damit nie gänzlich klar war, entsprochen, wenn das Recht seine gestalterisch-erzieherische Funktion in der Praxis erfüllte.96 Im Vordergrund stand mithin die Einhaltung der Gesetze durch den Bürger.97 Da sich das Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit vor allem materiell bestimmte, besaß der Wortlaut der Norm nicht den Stellenwert wie beim Rechtsstaatsprinzip, vielmehr stand die „parteiliche“, d. h. die dem Willen der politischen Führung entsprechende, Anwendung des Rechts im Mittelpunkt;98 die SED galt als „die Partei der Gesetzlichkeit“.99 Dagegen findet sich der Gedanke, staatlichen Zugriffen auf den Bürger Grenzen aufzuzeigen, im Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit nicht wieder, sondern es überwog die politische Funktion des Rechts.100 Es versteht sich von selbst, dass

94

Dies kam insbesondere bei der Verwendung des Begriffs „Sozialistischer Rechtsstaat“ zum Ausdruck, s. Hager, Aus dem Bericht des Politbüros an die 6. Tagung des ZK der SED (1988), S. 66 f.; K. Heuer, NJ 1988, 478 ff.; Sarge, NJ 1986, 350; Weichelt, NJ 1989, 438, 440 f. 95 In der DDR-Verfassung von 1968 war die Gültigkeit dieses Prinzips in Art. 19 Abs. 1; 90 Abs. 1 S. 1 ausdrücklich festgeschrieben. 96 Vgl. F. Müller, Kriminalitätsvorbeugung und Gesetzlichkeitsaufsicht (1971), S. 14. 97 Vgl. Geilke, Einführung in das Sowjetrecht (1983), S. 216; Jahn/Petzold, NJ 1961, 116, 119. 98 Vgl. Sontheimer/Bleek, Die DDR, 4. Aufl. (1975), S. 125. Nach H. Benjamin, NJ 1958, 365, 368, hieß sozialistische Gesetzlichkeit „zwar strikte Einhaltung der Gesetze, aber nicht formal, allein am Buchstaben klebende, sondern parteiliche Anwendung. Das Gesetz parteilich anzuwenden heißt, es so anzuwenden, wie es der Auffassung der Mehrheit der Werktätigen und damit den Zielen der Politik der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung entspricht“. 99 Sorgenicht, NJ 1986, 126. 100 Vgl. Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat (1967), S. 85.

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eine Übernahme dieses Rechtsverständnisses keine Option für die Bundesrepublik darstellte. c) Materieller Verbrechensbegriff Etwas anderes könnte sich für das materielle Verbrechensverständnis ergeben, das sich in den fünfziger Jahren in der Strafrechtspraxis und Gesetzgebung der DDR entwickelte101 und sich schließlich auch im DDR-Strafgesetzbuch von 1968 wiederfand. Nach § 1 Abs. 1 DDR-StGB galt: Straftaten sind schuldhaft begangene gesellschaftswidrige oder gesellschaftsgefährliche Handlungen (Tun oder Unterlassen), die nach dem Gesetz als Vergehen oder Verbrechen strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.

Für die Strafbarkeit einer Handlung reichte es mithin nicht aus, dass die formellen Voraussetzungen eines Straftatbestands erfüllt waren, sie musste vielmehr zusätzlich das materielle Kriterium der „Gesellschaftsgefährlichkeit“ bzw. „Gesellschaftswidrigkeit“ erfüllen. Verwirklichte der Täter zwar einen Tatbestand, stellte die Tat sich aber nicht als gesellschaftsgefährlich bzw. -widrig dar, war von Strafe abzusehen. Entsprechend hieß es in § 3 Abs. 1: Ein Vergehen liegt nicht vor, wenn die Handlung zwar dem Wortlaut eines gesetzlichen Tatbestandes entspricht, jedoch ihre Auswirkungen auf die Rechte und Interessen der Bürger oder der Gesellschaft und der Grad der Schuld des Täters gering sind.

Freilich war die Konsequenz nicht unbedingt das Ausbleiben jeglicher Sanktion. Vielmehr galt nach § 2 Abs. 2: Eine solche Handlung kann als Verfehlung, Ordnungswidrigkeit, Disziplinarverstoß oder nach den Bestimmungen der materiellen Verantwortlichkeit verfolgt werden, soweit dies gesetzlich zulässig ist.

Im bundesdeutschen Strafrecht existiert zwar ebenfalls ein materielles Verbrechensverständnis, es geht dabei aber um die kriminalpolitische Frage, welche Handlungen der Gesetzgeber unter Strafe stellen darf, insbesondere, ob eine Strafnorm nur dann akzeptabel ist, wenn sie bestimmte „Rechtsgüter“ schützt.102 Anders als in der DDR geht es bei der Bezugnahme auf den materiellen Verbrechensbegriff in der Bundesrepublik mithin nicht darum, ob im Einzelfall mit einem Verweis auf das Fehlen eines materiellen Kriteriums, das „hinter“ dem Wortlaut der Norm steht, von einer Bestrafung des Täters abzusehen ist. Insofern machte Albin Eser Vorzüge des materiellen Verbrechensbegriffs der DDR beim praktischen Umgang mit bagatellhafter Kriminalität aus. Laut Eser stellte die Regelung der DDR im Vergleich zur bundesdeutschen Regelung, nach der bei weniger schwerer Kriminalität das Verfahren lediglich auf prozessrechtlichem Wege nach §§ 153 ff. StPO eingestellt werden könne, den angemesseneren Weg dar, um zu einem Strafverzicht zu gelangen. Ein materi101

Vgl. hierzu Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 185 f. Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. (2014), Vor § 13, Rn. 2; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), S. 13 ff. 102

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elles Verbrechensverständnis biete „Entlastungsfaktoren“, die dann nicht mehr „schamhaft in der strafprozessualen Einstellung“ versteckt werden müssten.103 Auch rechtsstaatliche Strafrechtsordnungen wie Österreich, so Eser weiter, bedienten sich des materiellen Verbrechensbegriffs in dieser Weise. Dem ist zwar insoweit zuzustimmen, als es sich auch in der DDR beim materiellen Verbrechensverständnis prinzipiell um einen Mechanismus handelte, der sich zu Gunsten des Beschuldigten auswirkte. Der Umgang mit diesem Konzept in der DDR zeigt aber auch seine Gefahren auf. So waren die entscheidenden Begriffe „Gesellschaftsgefährlichkeit“ und „Gesellschaftswidrigkeit“ ausfüllungsbedürftig, ihr Inhalt wurde in der DDR aber – abgesehen davon, dass der Begriff der „Gesellschaftsgefährlichkeit“ die schwereren Taten erfassen sollte – nie gänzlich geklärt. Letztlich waren es die in enger Verbindung mit der politischen Führung agierenden obersten Justizorgane (Oberstes Gericht und Oberste Staatsanwaltschaft), welche die Begriffe im jeweiligen zu entscheidenden Fall im Sinne der politischen Führung und dem Grundsatz der „parteilichen Anwendung des Rechts“ folgend auslegten. Damit wurde dem Strafrecht ein „ideologischer Teppich“ untergeschoben, der es flexibel handhabbar machte. Mit Verweis auf den Grundsatz der Gesellschaftsgefährlichkeit konnte etwa, auch wenn der materielle Verbrechensverständnis offiziell nicht als Strafzumessungskriterium diente,104 eine empfindliche Strafe für ein nach nicht-sozialistischem Verständnis bagatellhaftes oder sogar strafunwürdiges Verhalten begründet werden, z. B. für „Arbeitsbummelei“ (also das Nichterscheinen zur Arbeit trotz Arbeitsfähigkeit über einen gewissen Zeitraum). Mit einem angeblichen Fehlen der Gesellschaftsgefährlichkeit konnte aber auch entgegen dem Legalitätsprinzip die Einstellung eines Verfahrens begründet werden, wenn dies aus politischer Sicht opportun war, etwa bei der Tatbegehung durch einen hochrangigen Parteikader oder wenn sich der Täter bereiterklärt hatte, für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten.105 Mit Blick auf die Gefahren für die Rechtssicherheit bei der Verwendung des materiellen Verbrechensbegriffs, die freilich auch Eser nicht verkennt,106 überwiegen jedenfalls nicht die Vorteile des DDR-Strafrechts, so dass eine Übernahme zwar möglich, aber nicht weiterführend gewesen wäre. 2. Verbrechenslehre a) Rechtslage in der DDR Die Grundsätze des in der DDR herrschenden Aufbaus und Inhalts der Straftat lassen sich dem 1. Abschnitt („Straftaten und Verfehlungen“) und dem 2. Abschnitt 103

Eser, GA 1991, 241, 268. Vgl. Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 331. 105 Vgl. Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 605. 106 Vgl. Eser, GA 1991, 241, 268.

104

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(„Schuld“) des 2. Kapitels des Allgemeinen Teils („Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“) des DDR-Strafgesetzbuchs entnehmen. aa) Schuld Die Verbrechenslehre der DDR basierte auf dem Begriff der Schuld. Nach § 1 Abs. 1 DDR-StGB war für die Verhängung von Strafe stets ein schuldhaftes Handeln erforderlich. Von den Gesetzesvätern des Strafgesetzbuchs wurde dementsprechend betont, es handele sich beim DDR-Strafrecht um ein „echtes Schuldstrafrecht“.107 Einzelheiten der Schuld wurden in §§ 5 ff. geregelt. Zum Inhalt des Schuldbegriffs hieß es in § 5 Abs. 1: Eine Tat ist schuldhaft begangen, wenn der Täter trotz der ihm gegebenen Möglichkeiten zu gesellschaftsgemäßem Verhalten durch verantwortungsloses Handeln den gesetzlichen Tatbestand eines Vergehens oder Verbrechens verwirklicht.

Ausschlaggebend für eine schuldhaft begangene Tat war damit ein „verantwortungsloses Handeln“. Es handelte sich also um ein „normatives Schuldkonzept“.108 Als konkrete Schuldformen galten, wie sich §§ 6 ff. entnehmen ließ, Vorsatz und Fahrlässigkeit. In dogmatischer Hinsicht wurde mithin keine Differenzierung zwischen subjektivem Tatbestand und Schuld vorgenommen.109 Dementsprechend wurde im Deliktsaufbau auch nicht streng zwischen tatbestandsmäßiger Handlung, Rechtswidrigkeit und Schuld unterschieden. Vielmehr wurde in Anlehnung an das russische Strafrecht eine Zweiteilung in „Subjekt und Objekt der Straftat“ sowie eine weitere Unterteilung in eine „subjektive“ und eine „objektive Seite des Verbrechens“ vorgenommen.110 Umfassend geregelt waren neben den Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit (dazu sogleich) der Ausschluss und die Minderung der Schuld. Der Schuldausschluss gemäß § 10 kombinierte Elemente der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens111 und des Verbotsirrtums.112 Die Vorschrift lautete: 107 So eine Aussage des Mitglieds der Gesetzgebungskommission Loose, Protokoll der 2. Sitzung der Staatsratskommission am 13. Oktober 1963, BA DY 30/ IVA2/13/176, Bl. 32. 108 Lilie, NStZ 1990, 153, 156. 109 Vgl. Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 218 ff. 110 Vgl. Lekschas, Zum Aufbau der Verbrechenslehre unserer demokratischen Strafrechtswissenschaft (1952), S. 25; ders., Die Schuld als subjektive Seite der verbrecherischen Handlung (1955); Renneberg, Die objektive Seite des Verbrechens (1955); Lehrbuch des Strafrechts der DDR, Allgemeiner Teil (1957), S. 312 ff. Zum Verbrechensaufbau in der DDR aus bundesdeutscher Sicht s. Mahlmann, Die Strafrechtswissenschaft der DDR (2002), S. 17 ff.; Renzikowski, ZStW 1994, 93, 98; im Vergleich zur russischen Straftatlehre F.-C. Schroeder, FS-Jescheck (1985), S. 1249, 1259 ff. 111 Vgl. Maurach, NJW 1968, 913, 916. 112 Vgl. F.-C. Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus (1983), S. 65; s. auch Roggemann, ROW 1969, 97, 110.

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Schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) handelt nicht, wem die Erfüllung seiner Pflichten objektiv nicht möglich ist oder wer dazu nicht imstande ist, weil er wegen eines von ihm nicht zu verantwortenden persönlichen Versagens oder Unvermögens die Umstände oder Folgen seines Handelns nicht erfassen oder die ihm unter den gegebenen Umständen obliegenden Pflichten nicht erkennen kann.

Nach Auffassung der DDR-Strafrechtswissenschaft diente diese Bestimmung dem Schutz des Bürgers vor Überforderungen, insbesondere solchen, die nicht aus der Sphäre des Täters stammten, und sollte eine unangemessene Ausdehnung der Schuldbestimmungen verhindern.113 Mit Blick auf die Zurechnungsfähigkeit des Täters fallen insbesondere § 15 Abs. 3 und die darin enthaltene Spezialregelung für Rauschtaten in den Blick:114 Wer sich schuldhaft in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt und in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, wird nach dem verletzten Gesetz bestraft.

Bei einem schuldhaften Versetzen in den Rausch (also grundsätzlich bei jedem bewussten Trinken von Alkohol oder Konsumieren rauschverursachender Substanzen) kam mithin ein Schuldausschluss des Täters nicht in Betracht. Über das schuldhafte Versetzen in den Rausch hinaus wurde keine weitere Verknüpfung mit der später begangenen Tat gefordert. Eine Strafmilderung für Rauschtaten wurde nur bei Fällen in Betracht gezogen, in denen das Berauschen unverschuldet erfolgte, etwa weil dem Täter ohne dessen Wissen Alkohol verabreicht worden war oder dieser sich der berauschenden Wirkung mangels Erfahrung im Umgang mit Alkohol nicht bewusst gewesen war.115 Eine vorsätzliche Herbeiführung des Rausches konnte sich sogar schulderschwerend auswirken. Als typische Fallgruppen galten in dieser Hinsicht der „Alkoholgenuss während der Arbeitszeit“, das „Aufsuchen weiterer Gaststätten, wenn vorher wegen Trunkenheit bereits der Ausschank verweigert worden war“, oder ein „in der Persönlichkeit des Täters bereits fest verwurzelte[r] Hang zu übermäßigem Alkoholgenuss“.116 Hintergrund dieser scharfen Regelung war, dass Alkoholismus in der DDR weit verbreitet war und die Bekämpfung unter Alkoholeinfluss begangener Straftaten ein wichtiges kriminalpolitisches Ziel darstellte.117

113

Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 99. Aus bundesdeutscher Sicht zu dieser Norm s. Hettinger, Die „actio libera in causa“ (1988), S. 215 ff. 115 Vgl. Wittenbeck, NJ 1969, 271, 273 ff. 116 Bericht über die 6. Plenartagung des OG, NJ 1973, 269, 270. 117 Vgl. Möbius/Kube, NJ 1967, 40 ff. (die u. a. über die Praktik der „Erfassung aller Personen, die bereits infolge übermäßigen Alkoholgenusses negativ in Erscheinung getreten sind“, berichten); Klitzsch, NJ 1964, 241; Raps, NJ 1964, 759. Vgl. auch Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ (2005), S. 422. 114

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bb) Vorsatz Der Vorsatz war in § 6 geregelt. Die Norm enthielt eine Legaldefinition vorsätzlichen Handelns: 1. Vorsätzlich, handelt, wer sich zu der im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Tat bewusst entscheidet. 2. Vorsätzlich handelt auch, wer zwar die Verwirklichung der im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Tat nicht anstrebt, sich jedoch bei seiner Entscheidung zum Handeln bewusst damit abfindet, dass er diese Tat verwirklichen könnte.

Kernelement des Vorsatzes war die „Entscheidung zur Tat“ nach Absatz 1. Nach Absatz 2 reichten daneben auch ein Handeln und ein „Sich-Abfinden“ damit, dass der tatbestandliche Erfolg eintreten könnte, aus. Bei der Schaffung der Vorsatzvorschrift war in der Gesetzeskommission noch diskutiert worden, ob die aus dem traditionellen deutschen Strafrecht bekannte Formel, nach welcher der Vorsatz ein „Wissen und Wollen“ des Täters darstellte, weiter verwendet werden solle.118 Dies wurde letztlich abgelehnt, trotzdem findet sich eine Bezugnahme auf diese Formel später noch in der Rechtsprechung.119 cc) Fahrlässigkeit Detailliert geregelt war daneben die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit. Der Regelungskomplex enthielt eine Vorschrift über die Pflichten, deren Verletzung ein strafbares fahrlässiges Handeln begründeten (§ 9). Die Norm lautete: Pflichten im Sinne dieses Gesetzes sind solche, die dem Verantwortlichen zum Zeitpunkt der Tat kraft Gesetzes, Berufs, Tätigkeit oder seiner Beziehungen zum Geschädigten zur Vermeidung schädlicher Folgen oder Gefahren obliegen oder die ihm daraus erwachsen, dass er durch sein Verhalten für andere Personen oder für die Gesellschaft besondere Gefahren heraufbeschwört.

In der DDR-Strafrechtswissenschaft wurde betont, es handele sich um eine abschließende Aufzählung.120 Freilich war die Formulierung in § 9 weit.121 Insbesondere die Erfassung von solchen Pflichten, die sich aus einem riskanten Vorverhalten ergaben, ließ bei der Bestimmung der Pflichtverletzung viel Spielraum. In der Rechtsprechung wurde allerdings regelmäßig auf gesetzliche Pflichten (z. B. die Straßenverkehrsordnung oder arbeitsrechtliche Gesetze) rekurriert;122 nach einem Beschluss 118

Vgl. zu dieser Debatte Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 276 f. Vgl. KG Halle – Stadtbezirk West –, Urteil vom 29. September 1977, Der Schöffe 1979, 87, 88; KG Sonnenberg, Urteil vom 15. November 1977, Der Schöffe 1979, 23. 120 Vgl. H. Neumann, Der Schöffe 1969, 270, 272; Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 98. 121 Vgl. Maurach, NJW 1968, 913, 915. 122 Vgl. etwa BG Magdeburg, Urteil vom 30. August 1969, Der Schöffe 1969, 186; BG Magdeburg, Urteil vom 1. Juni 1970, Der Schöffe 1970, 426, 428; Stadtbezirksgericht Berlin119

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des Plenums des Obersten Gerichts galt zudem, dass Rechtspflichtverletzungen „nicht aus allgemeinen Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens unter sozialistischen Verhältnissen abgeleitet werden“ sollten.123 Daneben wurden in §§ 7, 8 drei verschiedene Formen der strafbaren Fahrlässigkeit unterschieden. §7 Fahrlässig handelt, wer voraussieht, dass er die im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Folgen verursachen könnte und diese ungewollt herbeiführt, weil er bei seiner Entscheidung zum Handeln leichtfertig darauf vertraut, dass diese Folgen nicht eintreten werden. §8 1. Fahrlässig handelt auch, wer sich in bewusster Verletzung seiner Pflichten zum Handeln entscheidet und dadurch die im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Folgen herbeiführt, ohne diese vorauszusehen, obwohl er sie bei verantwortungsbewusster Prüfung der Sachlage hätte voraussehen und bei pflichtgemäßem Verhalten vermeiden können. 2. Fahrlässig handelt auch, wer sich zur Zeit der Tat der Pflichtverletzung nicht bewusst ist, weil er infolge verantwortungsloser Gleichgültigkeit sich seine Pflichten nicht bewusst gemacht oder weil er sich auf Grund einer disziplinlosen Einstellung an das pflichtwidrige Verhalten gewöhnt hat und dadurch die im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten, bei pflichtgemäßem Verhalten voraussehbaren und vermeidbaren schädlichen Folgen herbeiführt.

Die in §§ 7, 8 gesetzlich geregelten Fallkonstellationen strafbarer Fahrlässigkeit differenzierten mithin zwischen • einem Für-Möglich-Halten bei gleichzeitigem leichtfertigen Vertrauen auf den Nicht-Eintritt des Erfolgs (§ 7 – sogenannte „bewusste Leichtfertigkeit“), • einer bewussten Pflichtverletzung ohne Vorhersehen des Erfolgseintritts, wobei dem Täter das Vorhersehen aber möglich gewesen wäre (§ 8 Abs. 1), • einer unbewussten Pflichtverletzung ohne Vorhersehen des Erfolgseintritts, bei der die mangelnde Vorhersehbarkeit aber auf „verantwortungsloser Gleichgültigkeit“ oder Gewöhnung auf Grund von „disziplinloser Einstellung“ beruhte. Es wurde demnach eine Unterscheidung getroffen zwischen solchen Fällen, in denen der Täter den Erfolgseintritt voraussah (§ 7), und solchen Fällen, in denen der Täter die Folgen der Tat zwar nicht voraussah, ein „verantwortungsbewusst und pflichtgemäß“ Handelnder dies aber getan und die Folgen vermieden hätte (§ 8).124 Eine Gemeinsamkeit bei allen Fahrlässigkeitsvarianten (und insoweit auch eine Gemeinsamkeit von Fahrlässigkeit und Vorsatz) lag in der Entscheidung Köpenick, Urteil vom 31. August 1970, Der Schöffe 1971, 371, 372; KG Frankfurt (Oder), Urteil vom 13. April 1976, Der Schöffe 1976, 254, 256. 123 Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts vom 2. Juli 1969, Sonderbeilage zu NJ 1970, Heft 15, S. 4. 124 Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 96.

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zum Handeln.125 Sowohl bei der Fahrlässigkeit als auch beim Vorsatz liege der zentrale Vorwurf darin, so hieß es, dass sich der Täter zu einem die sozialen Anforderungen verletzenden Verhalten entschieden habe.126 b) Bewertung Im Rahmen der Verbrechenslehre finden sich deutliche Übereinstimmungen zwischen bundesdeutschem und DDR-Strafrecht. So gilt in beiden Rechtsordnungen schuldhaftes Handeln als Voraussetzung für die Verhängung von Strafe. Die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln findet sich zudem in beiden Strafrechtsordnungen. Die verschiedenen Kategorien der Erscheinungsformen von Vorsatz und Fahrlässigkeit stimmen ebenfalls weitgehend überein, auch wenn in der DDR zusätzliche Kategorien geschaffen wurden, wie etwa die „bewusste Leichtfertigkeit“. Allerdings trifft das bundesdeutsche Strafgesetzbuch kaum Aussagen über den Inhalt von Schuld, Vorsatz und Fahrlässigkeit. Insofern hielt das DDR-Strafgesetzbuch mit seinen Definitionen dieser ausfüllungsbedürftigen Begriffe eine interessante Lösung parat. Auch wenn es mit den verschiedenen Fallgruppen der Fahrlässigkeit in §§ 7, 8 zu einer recht formalistischen Regelung tendierte, fand diese durchaus den Beifall bundesdeutscher Strafrechtswissenschaftler, die insbesondere die beschränkende Funktion, die den Fahrlässigkeitsdelikten durch die gesetzliche Definition zuteilwerde, positiv bewerteten.127 Freilich stellte die Wortlautgrenze kein unüberwindbares Hindernis für die Verhängung einer Strafe dar. Vor allem bei der in der Praxis am häufigsten zu bewertenden Fahrlässigkeitsfallgruppe128 der „verantwortungslosen Gleichgültigkeit“ wurden die Anforderungen von der Rechtsprechung herabgesetzt.129 Kritisch zu bewerten ist, dass die inhaltliche Regelung der Schuld in der DDR eine grundlegende Ideologisierung des Strafrechts begünstigte. Soweit nach § 5 Abs. 1 eine schuldhafte Tat in einem „verantwortungslosen Handeln“ lag, konnte letztlich die politische Führung vorgeben, welches Verhalten als „verantwortungslos“, d. h. im

125

Vgl. Lekschas, NJ 1967, 137, 141; Mettin/Möller/Prestel, NJ 1967, 189, 190. Vgl. Lekschas, NJ 1967, 137, 141; ders. in dem Bericht von Mettin/Möller/Prestel, NJ 1967, 189, 190. 127 Vgl. F.-C. Schroeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus (1983), S. 63. Eine solche Beschränkung der Strafbarkeit war im Übrigen beabsichtigt gewesen, s. Lekschas, Beiträge zum Strafrecht, Heft 1 (1958), S. 61 ff. 128 So die Einschätzung des Mitglieds des Präsidiums des Obersten Gerichts Schlegel, NJ 1973, 255, 258. 129 Vgl. OG, Urteil vom 31. August 1972, NJ 1973, 148 ff.; OG, Urteil des Präsidiums vom 23. Mai 1973, NJ 1973, 397 ff. 126

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Widerspruch zu den Grundsätzen der sozialistischen Gesellschaft, anzusehen war.130 Dass dabei auch die „falsche“ Gesinnung mit strafrechtlicher Schuld gleichzusetzen sei, war schon früh in der DDR-Strafrechtswissenschat artikuliert worden. So bestand nach John Lekschas das „Wesen der Schuld […] darin, dass der Täter in einen negativen ideologischen Widerspruch zu unserer volksdemokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung oder zu einzelnen unserer strafrechtlich geschützten gesellschaftlichen Verhältnisse geraten ist und aus einer derartigen schädlichen Einstellung heraus seine Tat begangen hat.“131 Noch deutlicher formulierte es Wilfried Friebel, nach dessen Ansicht in der Feststellung der Schuld „eine bestimmte Stellungnahme, Haltung, Position des Täters (Individuums) zur Gesellschaft zum Ausdruck“ gelange; es gehe insoweit darum, die sich „in der subjektiven Beziehung Täter-Tat manifestierende Beziehung Täter-Gesellschaft aufzudecken und zu fixieren“.132 Soweit in der DDR ein Ausschluss und sogar eine Minderung der Schuld bei Rauschtaten ausgeschlossen waren, widersprach dies dem Schuldprinzip. Hier setzte sich das DDR-Strafrecht mithin zu dem eigenen Anspruch, ein „echtes Schuldstrafrecht“ zu besitzen, in Widerspruch. Im Ergebnis bleibt deshalb festzuhalten, dass der Ansatz des DDR-Strafrechts, grundlegende Begriffe des Allgemeinen Teils legal zu definieren, positiv zu bewerten ist und als Anreiz für den bundesdeutschen Gesetzgeber hätte dienen können. Der Art und Weise der Umsetzung in der DDR war aber eindeutig durch die Partei-Ideologie beeinflusst, so dass eine Übernahme in dieser Form nicht empfehlenswert gewesen wäre. 3. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe a) Rechtslage in der DDR § 1 DDR-StGB spricht von Straftaten lediglich als „schuldhaft begangenen […] Handlungen“. Dies indiziert bereits, dass die Rechtswidrigkeit als eigenständige dogmatische Kategorie im Strafgesetzbuch der DDR keine besondere Rolle spielte. Hierfür spricht auch die Überschrift des 3. Abschnitts des 2. Kapitels, in der nicht von „Rechtfertigung“, sondern von „Notwehr und Notstand“ die Rede ist. Die Verwendung des Begriffs „Rechtfertigungsgründe“ wurde von Teilen der Strafrechtswissenschaft der DDR sogar als angeblich irreführend gänzlich abgelehnt.133 Freilich muss man die geringe Bedeutung der Rechtswidrigkeit vor dem Hintergrund des in der DDR geltenden Verbrechensaufbaus sehen (s. o.). Danach waren die Rechtferti130 Laut Strafrechtslehrbuch der MfS-Hochschule Potsdam, Allgemeiner Teil (1984), BStU MfS/JHS/40/85, S. 356 ff., musste der Täter „entgegen den für ihn gegebenen Möglichkeiten zu einem gesellschaftsgemäßen Verhalten“ gehandelt haben (Hervorhebung d. Verf.). 131 Lekschas, Beiträge zum Strafrecht, Heft 2 (1959), S. 30. 132 Friebel, NJ 1967, 340. 133 Vgl. Neuhof, NJ 1971, 741, 742; in diesem Sinne bereits Gerats, NJ 1953, 326, 329, der den Ausdruck „Umstände, die die Gesellschaftsgefährdung ausschließen“, bevorzugte. Vgl. aber für die Verwendung des Begriffs „Rechtfertigung“ Hinderer/Bein, NJ 1972, 161, 162.

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gungsgründe Teil der „objektiven Seite“ des Verbrechens, die nicht zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit unterschied. Zwischen diesen Elementen sollte vielmehr ein „dialektisches Verhältnis“ gelten – die Rechtfertigungsgründe wurden im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen geprüft; beim Vorliegen der Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen mangelte es an der Tatbestandsmäßigkeit.134 Die Vorschriften über Notwehr und Notstand befanden sich in §§ 17, 18. Sie lauteten: § 17 Notwehr a) Wer einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff gegen sich oder einen anderen oder gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in einer der Gefährlichkeit des Angriffs angemessenen Weise abwehrt, handelt im Interesse der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Gesetzlichkeit und begeht keine Straftat. b) Bei Überschreitung der Notwehr ist von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abzusehen, wenn der Handelnde in begründete hochgradige Erregung versetzt wurde und deshalb über die Grenzen der Notwehr hinausging. § 18 Notstand a) Wer Rechte oder Interessen Dritter beeinträchtigt, um eine ihm oder einem anderen oder der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung gegenwärtig drohende, anders nicht zu beseitigende Gefahr abzuwenden, begeht keine Straftat, wenn seine Handlung zur Art und zum Ausmaß der Gefahr im angemessenen Verhältnis steht. b) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist gemindert, wenn der Handelnde unverschuldet durch eine ihm oder einem anderen gegenwärtig drohende, anders nicht zu beseitigende Gefahr für Leben oder Gesundheit in heftige Erregung oder große Verzweiflung versetzt wird und diese Gefahr durch einen Angriff auf Leben oder Gesundheit anderer Menschen abzuwenden versucht. Die Strafe kann entsprechend der Größe der Gefahrenlage, der psychischen Zwangslage des Täters und der Schwere der begangenen Tat nach den Grundsätzen über die außergewöhnliche Strafmilderung herabgesetzt werden. In außergewöhnlichen Fällen einer, solchen Gefahrenlage kann von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgesehen werden.

Es konnten mithin nicht nur solche Handlungen durch Notwehr gerechtfertigt sein, die sich gegen Angriffe gegen eine Person, sondern auch gegen Angriffe „gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung“ richteten (§ 17 Abs. 1). Gleiches galt für die Abwehr einer Gefahr im Rahmen des Notstands (§ 18 Abs. 1). Die sozialistische Gesellschaftsordnung war damit ein notwehrbzw. notstandsfähiges Rechtsgut @ insofern lässt sich eine Orientierung an den Vorschriften des russischen Strafgesetzbuchs über Notwehr und Notstand feststellen.135 Diese Gleichstellung der Verteidigung von Individual- und Kollektivinteressen 134

Vgl. Buchholz, ZStW 1989, 943, 948; Gerats, NJ 1953, 326, 329; Neuhof, NJ 1971, 741; s. auch Roggemann, ROW 1969, 97, 107; Renzikowski, ZStW 1994, 93, 103. 135 Vgl. Art. 13, 14 des Strafgesetzbuchs der russischen Föderation von 1960, die insoweit die „Interessen des Sowjetstaates“ als notwehr- bzw. notstandsfähige Rechtsgüter nannten.

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wurde mit der dem Staat und den Bürgern gleichermaßen obliegenden Aufgabe der Kriminalitätsbekämpfung begründet, mit der die Notwehrregelung in Einklang stehe.136 Jeder Bürger durfte mithin wie ein Angehöriger der Strafverfolgungsbehörden gegen Angriffe auf die sozialistische Gesellschaft und gegen ihr drohende Gefahren vorgehen. Darüber hinaus galt nach §§ 17, 18, dass der Handelnde im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen stets „im Interesse der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Gesetzlichkeit“ tätig wurde und deshalb keine Straftat vorlag. Mithin galt ein Vorgehen gegen einen individuellen Angriff bzw. eine Gefahr, soweit sich die Abwehr im Rahmen von §§ 17, 18 hielt, indirekt auch als Verteidigung der sozialistischen Gesellschaft.137 Die Regelungen enthielten in einigen Details aber auch Besonderheiten, welche die sozialistische Ideologie nicht widerspiegelten. Dazu gehörte die Voraussetzung der „Angemessenheit“ der Notwehr („Abwehr des Angriffes in einer dessen Gefährlichkeit angemessenen Weise“). Erwähnenswert sind überdies die Regelung der Notwehrüberschreitung gemäß § 17 Abs. 2, wonach von Strafe abzusehen war, wenn „der Handelnde in begründete hochgradige Erregung“ versetzt wurde, sowie die Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beim Notstand gemäß § 18 Abs. 2, wenn der Handelnde „unverschuldet […] in heftige Erregung oder große Verzweiflung“ versetzt wurde. Insbesondere diese Vorschriften über den Notwehrexzess fanden auf Grund ihrer klaren Vorgaben auch Anerkennung bei bundesdeutschen Strafrechtswissenschaftlern.138 Ergänzt wurden die Vorschriften über Notwehr und Notstand durch den „Nötigungsstand“ (§ 19), der als Sonderfall des Notstands und mithin als Rechtfertigungsgrund galt.139 Zudem enthielt der Abschnitt eine Vorschrift über den „Widerstreit der Pflichten“ (§ 20), die einen Entschuldigungsgrund darstellte. Beide Erlaubnissätze spielten in der Praxis kaum eine Rolle. Dies verwundert nicht, erfassten sie doch recht spezielle Fallgestaltungen, bei denen man überdies eine Strafbarkeit bereits mangels materieller „Gesellschaftsgefährlichkeit“ hätte ablehnen können. Vor diesem Hintergrund war bei der Schaffung des DDR-Strafgesetzbuchs auch vorgeschlagen worden, auf diese Vorschriften gänzlich zu verzichten,140 was wahrscheinlich aus der Binnenperspektive des DDR-Strafrechts die angemessenere Lösung gewesen wäre. 136 Vgl. Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 397; Wittenbeck/Schreiter, NJ 1969, 634; dazu Renzikowski, ZStW 1994, 93, 103, 107. 137 Vgl. OG, Urteil vom 31. Oktober 1969, OGSt 11, 109, 113 („Wer Notwehr übt, handelt verantwortungsbewusst im Interesse und zum Schutz der Bürger und der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“). 138 Vgl. Maurach, NJW 1968, 913, 917; Roggemann, ROW 1969, 97, 107 f. Ausführlich zu den einzelnen Rechtfertigungsgründen des DDR-Strafgesetzbuchs und ihren Voraussetzungen s. Renzikowski, ZStW 1994, 93, 102 ff. 139 Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 114. 140 Vgl. Entwurf 1964, BA DY 30/IVA2/13/177, Bl. 17 RS. Vgl. auch Maurach, NJW 1968, 913, 917.

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b) Bewertung Bei einem Vergleich der Regelung der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der DDR und der Bundesrepublik überwiegen die Übereinstimmungen. Dies gilt freilich nicht für die Erweiterung des Notwehr- und Notstandsrechts auf Angriffe gegen sowie Gefahren für die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR, die zu einer Ausweitung des Notwehr- und Notstandsrechts und damit grundsätzlich zu einer Begrenzung der Strafbarkeit führte. Dem Grunde nach ist dies zwar nicht zu kritisieren, zu beachten ist aber, dass hiervon vor allem jene Bürger begünstigt wurden, die einen Straftatbestand verwirklichten und dabei im Sinne der politischen Führung handelten. So waren beispielsweise Körperverletzungen gegen „Spione“, „Rowdys“ oder sonstige vermeintliche Feinde des Regimes vom Notwehrrecht gedeckt, da § 17 DDR-StGB die gesellschaftlichen Verhältnisse für notwehrfähig erklärte.141 Es wurde klargestellt, dass bereits „Provokationen oder Drohungen mit Gewalttätigkeiten […] eine Notwehrsituation begründen“ könnten;142 bei politischen Straftaten ergab sich ein frühes Eingriffsrecht bereits regelmäßig aus dem Charakter der Tat als „Unternehmensdelikt“.143 Es ist insofern nicht verwunderlich, dass diese Elemente der Vorschriften über Notwehr und Notstand nach dem Mauerfall von der demokratisch gewählten DDR-Regierung entfernt wurden. Progressive Ansätze, die einen Vorteil für das bundesdeutsche Strafrecht gebracht hätten, sind dagegen in der Regelung des Notwehr- und Notstandsexzesses zu sehen. Dieser Bereich, der im bundesdeutschen Strafrecht durch den inhaltsarmen § 33 StGB geregelt und im Einzelnen sehr umstritten ist,144 bietet in der Tat Anlass für eine Reform. Hier hätte das DDR-Strafrecht eine Orientierung darstellen können. 4. Versuch a) Rechtslage in der DDR Der Versuch und die ihm gleichgestellte Vorbereitung waren in § 21 DDR-StGB geregelt. Die Norm war Teil des 4. Abschnitts des 2. Kapitels des Allgemeinen Teils („Vorbereitung, Versuch und Teilnahme“). § 21 Vorbereitung und Versuch a) Vorbereitung und Versuch einer Straftat begründen strafrechtliche Verantwortlichkeit nur, wenn es das Gesetz ausdrücklich bestimmt. 141 Vgl. KG Potsdam, Urteil vom 15. Januar 1959, ROW 1959, 136, wonach die Zerstörung eines fremden Radios als gerechtfertigt galt, wenn das Gerät dem Empfang von „Hetzsendungen“ diente. 142 Strafrecht der DDR, Kommentar, 3. Aufl. (1981), S. 89. 143 Vgl. auch Renzikowski, ZStW 1994, 93, 106. 144 Vgl. BGH NStZ 2002, 141 ff.; Jescheck/Weigend, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (1996), S. 493; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 44. Aufl. (2014), Rn. 447; Zieschang, in: LK, 12. Aufl. (2006), § 33, Rn. 4 ff., 10 ff.

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b) Vorbereitung liegt vor, wenn der Täter Voraussetzungen oder Bedingungen für die Ausführung der geplanten Straftat schafft, ohne mit der Ausführung zu beginnen. c) Versuch liegt vor, wenn der Täter mit der vorsätzlichen Ausführung der Straftat beginnt, ohne sie zu vollenden. d) Vorbereitung und Versuch begründen strafrechtliche Verantwortlichkeit nach demselben Gesetz wie die vollendete Straftat. Dabei sind die Beweggründe des Täters, die von ihm angestrebten oder für möglich gehaltenen Folgen, der Grad der Verwirklichung der Straftat und die Gründe, aus denen sie nicht vollendet wurde, zu berücksichtigen. Die Strafe kann nach den Grundsätzen über die außergewöhnliche Strafmilderung herabgesetzt werden. e) Von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist abzusehen, wenn der Täter freiwillig und endgültig von der Vollendung der Tat Abstand nimmt. Das gilt auch, wenn im Falle des Versuchs der Täter den Eintritt der Folgen freiwillig abwendet.

Die Strafbarkeit des Versuchs wurde in der DDR damit begründet, dass die Versuchshandlung trotz des Ausbleibens des Erfolges gesellschaftsgefährlich sei, immerhin manifestiere sich im Versuch eine gesellschaftsgefährliche Haltung. Dies gelte im Prinzip für alle Arten des Versuchs, etwa auch für den untauglichen Versuch.145 Sogar im Falle des Rücktritts (bei dem allerdings nach § 21 Abs. 5 von Strafmaßnahmen abzusehen war)146 liege, so hieß es, eine Handlung vor, die sich vor dem Hintergrund der Gesellschaftsgefährlichkeit nicht von der vollendeten Tat unterscheide.147 Auf die Höhe der Strafdrohung oder die Einordnung eines Delikts als Verbrechen oder Vergehen kam es weder für die Versuchs- noch für die Vorbereitungsstrafbarkeit an. Beide Handlungsformen waren strafbar, wenn dies gesetzlich vorgesehen war. Eine Vorbereitungsstrafbarkeit findet sich im Besonderen Teil nicht nur bei Kapitalverbrechen wie Mord, sondern auch bei folgenden Tatbeständen: „Anwerbung für imperialistische Kriegsdienste“ (§ 87), „Kriegshetze und -propaganda“ (§ 89), „Faschistische Propaganda, Völker- und Rassenhetze“ (§ 92), „Sammlung von Nachrichten“ (§98), „Landesverräterischer Treuebruch“ (§ 99), „Staatsfeindliche Hetze“ (§ 106, außer Abs. 1 Ziff. 3), „Menschenhandel“ (§ 132), „Verursachung einer Katastrophengefahr“ (§ 190 Abs. 2), „Angriffe auf das Verkehrswesen“ (§ 198 Abs. 1 bis 3), „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ (§ 213) und schwere Fälle des „Rowdytums“ (§8216).

145

Vgl. Bein/Seidel, SuR 1967, 1008; Hennig, NJ 1975, 40, 41; Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 355; Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 121; Strafrechtslehrbuch der MfS-Hochschule Potsdam, Allgemeiner Teil (1984), BStU MfS/JHS/40/85, S. 425 (versuchte Tötung eines bereits Toten; versuchte Abgabe eines Schusses mit einer ungeladenen Waffe). 146 Der Rücktritt wurde als persönlicher Strafaufhebungsgrund gewertet, der einen Anreiz zur Nichtvollendung geben sollte, s. Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 355. 147 Strafrechtslehrbuch der MfS-Hochschule Potsdam, Allgemeiner Teil (1984), BStU MfS/JHS/40/85, S. 438.

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Folge war, dass etwa bereits ein Gespräch über ein geplantes Verlassen der DDR eine strafbare Vorbereitung zur „Republikflucht“ gemäß § 213 darstellte.148 Nach den Ausführungen im Lehrbuch der Juristischen Hochschule des MfS galten als strafbare Vorbereitungshandlungen zu diesem Delikt außerdem u. a. die „Erkundung günstiger Gelegenheiten zur Tatbegehung, wie Beobachtung bestimmter Gepflogenheiten des Opfers, Beobachtung der Bewachung eines bestimmten Objektes, Erkundung der Art und Weise der Sicherung und Aufbewahrung geheimzuhaltender Nachrichten“.149 Nach § 21 Abs. 4 konnte die Berücksichtigung der Beweggründe des Täters, der von ihm angestrebten oder für möglich gehaltenen Folgen, des Grades der Verwirklichung der Straftat und der Gründe, aus denen sie nicht vollendet wurde, zu einer Strafmilderung führen. Nach der Rechtsprechung war entscheidend, dass „die in § 21 Abs. 4 angeführten Umstände die Tat insgesamt als weniger schwerwiegend charakterisieren“.150 Hierbei sollte nicht zuletzt die Täterpersönlichkeit eine Rolle spielen.151 b) Bewertung Die Definition des Versuchs in § 21 Abs. 3 DDR-StGB enthielt zwar im Vergleich zur bundesdeutschen Regelung andere Formulierungen – so wurde dort nicht auf ein „unmittelbares Ansetzen“ wie in § 22 StGB, sondern auf den Beginn „der vorsätzlichen Ausführung der Straftat“ abgestellt. Hieraus ergaben sich aber keine ersichtlichen Unterschiede zur bundesdeutschen Rechtslage. Zentrale dogmatische Fragen, etwa mit Blick auf den Versuchsbeginn, den Versuch des Unterlassens und den Rücktritt vom Versuch, wurden in der DDR in ganz ähnlicher Weise gelöst wie in der Bundesrepublik.152 Auch mit Blick auf die nur fakultative Strafmilderung des Versuchs ergeben sich dem Grunde nach keine Unterschiede zur bundesdeutschen Regelung. Insofern wäre eine Übernahme der Regelung des Versuchs gemäß § 21 DDR-StGB in das bundesdeutsche Strafrecht zwar vertretbar gewesen, hätte aber keine Vorzüge gehabt. Eine Kriminalisierung der Vorbereitung ist zwar auch im bundesdeutschen Strafrecht vorhanden, findet sich hier aber innerhalb mehrerer Tatbestände des Besonderen Teils (vor allem im Ersten Abschnitt des Besonderen Teils über „Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“). Insofern könnte man überlegen, Inhalt und Grenzen der Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen, 148 Diese Fallgestaltung wurde als typisches Beispiel für die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen in Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 365, angeführt. 149 Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 422. 150 OG, Urteil vom 13. November 1970, NJ 1971, 26, 27. 151 Vgl. Strafrechtslehrbuch der MfS-Hochschule Potsdam, Allgemeiner Teil (1984), BStU MfS/JHS/40/85, S. 426. 152 Vgl. zu diesen Fragen im Einzelnen Bein, NJ 1966, 336 ff.; ders./Seidel, SuR 1967, 1008 ff.; Hennig, NJ 1975, 40, 42 f.; Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 355 ff.; Wittenbeck, NJ 1967, 369 ff.

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wie im DDR-Strafgesetzbuch, „vor die Klammer zu ziehen“ und in einer allgemeinen Vorschrift zu regeln. Freilich würde hierdurch der „Trend“ zur Vorverlegung der Strafbarkeitsgrenze153 verstärkt. Eine flächendeckende strafrechtliche Erfassung von Vorbereitungshandlungen wäre aus rechtsstaatlicher Sicht ohnehin inakzeptabel, wird doch bei der Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen unweigerlich an subjektive Voraussetzungen und damit letztlich an die Gesinnung des Täters angeknüpft.154 Dies galt für das DDR-Strafrecht, wo für die Strafbarkeit der Vorbereitung die negative Einstellung des Täters zur sozialistischen Gesellschaft ausschlaggebend war. Die DDR-Strafrechtswissenschaft betonte insofern, dass es ohne Belang sei, dass der vom Täter mit seiner Handlung angestrebte Erfolg ausgeblieben sei,155 da Vorbereitungshandlungen im Prinzip genauso „verantwortungslose“ gesellschaftsgefährliche bzw. -widrige Handlungen darstellten wie vollendete.156 Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass der bundesdeutsche Gesetzgeber die Regelungen über Vorbereitung und Versuch des DDR-Strafgesetzbuchs mit Blick auf die Strafbarkeit der Vorbereitung nicht hätte übernehmen dürfen. Soweit die Vorschrift im Übrigen rechtsstaatlich akzeptabel war, hätte sie zu keinen anderen Inhalten geführt. 5. Täterschaft und Teilnahme a) Rechtslage in der DDR Unter der Überschrift „Täter und Teilnehmer“ regelte § 22 DDR-StGB die Beteiligungsformen an einer Straftat. Die Norm stellte neben dem Versuch den zweiten Regelungskomplex des 4. Abschnitts des Allgemeinen Teils des DDR-Strafgesetzbuchs dar. Sie lautete: 1. Als Täter ist strafrechtlich verantwortlich, wer eine Straftat selbst ausführt oder wer sie durch einen anderen, der für diese Tat selbst nicht verantwortlich ist, ausführen lässt. 2. Als Teilnehmer an einer Straftat ist strafrechtlich verantwortlich, wer a) vorsätzlich einen anderen zu der begangenen Straftat bestimmt (Anstiftung); 153

Vgl. zum Ganzen Silva Sanchez, Die Expansion des Strafrechts (2003). Nach Dencker, KJ 1987, 36, 47, handelt es sich um „unzulässiges Gesinnungsstrafrecht“, wenn „ein Tatbestand, der sozial neutrales oder gar positives Verhalten durch die Verknüpfung mit einem Gesinnungsmerkmal für strafbar erklärt“. 155 Vgl. aus einer Buchbesprechung von Bein/Seidel, SuR 1967, 1008: „Es ist das hervorzuhebende Verdienst der Hennigschen Arbeit, gründlich mit Auffassungen aufzuräumen, die in den Vorbereitungs- und Versuchsstadien einer Straftat noch nicht ,so etwas furchtbar Schlimmes‘ erblicken, da ja – bei fehlgeschlagenem Versuch beispielsweise – nichts ,passiert‘ ist. Im Grunde drückt sich in einer solchen Haltung ein absolutes Nichtverstehen der Funktion des sozialistischen Strafrechts aus, die im eigentlichen nicht darin besteht, auf Schäden zu ,reagieren‘“. Vgl. auch Strafrechtslehrbuch der MfS-Hochschule Potsdam, Allgemeiner Teil (1984), BStU MfS/JHS/40/85, S. 418. 156 Vgl. Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 354 ff.; Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 118. 154

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Gerhard Werle und Moritz Vormbaum b) gemeinschaftlich mit anderen eine vorsätzliche Straftat ausführt (Mittäterschaft); c) vorsätzlich einem anderen zu der begangenen Straftat Hilfe leistet oder wer dem Täter nach der Tatausführung vorher zugesagte Hilfe leistet (Beihilfe).

3. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit richtet sich nach dem Gesetz, das durch die Straftat verletzt wird. Jeder Teilnehmer ist unter Berücksichtigung der Schwere der gesamten Tat und der Art und Weise des Zusammenwirkens der Beteiligten nach dem Umfang und den Auswirkungen seines Tatbeitrages, seinen Beweggründen sowie danach verantwortlich, in welchem Maße er andere Personen zur Teilnahme veranlasst hat. 4. Für Beihilfe kann die Strafe nach den Grundsätzen über die außergewöhnliche Strafmilderung herabgesetzt werden. Das gleiche gilt für Mittäterschaft, wenn der Tatbeitrag des Teilnehmers im Verhältnis zur Gesamttat gering ist. Bei geringer Schuld und unbedeutendem Tatbeitrag kann bei einem Teilnehmer von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgesehen werden. 5. Bestimmt das Gesetz, dass besondere persönliche Umstände die strafrechtliche Verantwortlichkeit erhöhen, vermindern oder ausschließen, gilt das nur für den Täter oder Teilnehmer, bei dem diese Umstände vorliegen.

Als täterschaftliche Begehungsweise kriminalisierte § 22 das Ausführen der Tat durch den Täter selbst sowie durch eine andere, selbst nicht strafrechtlich verantwortliche Person, also die mittelbare Täterschaft. Für die Strafbarkeit der Anstiftung und Beihilfe war als Haupttat lediglich eine „Straftat“ erforderlich, so dass dem Wortlaut nach auch eine Beteiligung an einer gerechtfertigten oder fahrlässig begangenen Tat nach § 22 Abs. 2 strafbar war. Dass auf die Rechtswidrigkeit der Haupttat nicht Bezug genommen wurde, war mit Blick auf die geringe Bedeutung dieser dogmatischen Kategorie (siehe oben) aus der Binnenperspektive des DDR-Strafrechts nur folgerichtig. Im Rahmen der Beihilfe wurde eine zweite Kategorie geschaffen, durch welche Unterstützungshandlungen, die nach der eigentlichen Tatausführung vorgenommen wurden, erfasst werden sollten und mit der eine klare Abgrenzung zur Begünstigung geschaffen werden sollte.157 Mittäterschaftliches Handeln galt nach § 22 Abs. 2 Nr. 2 nicht als Form der Täterschaft, sondern der Teilnahme. Diese ungewöhnliche dogmatische Einordnung hatte freilich keine praktischen Auswirkungen. Kurzzeitig auftauchende Tendenzen in der Rechtsprechung, die Mittäterschaft ebenso wie Anstiftung und Beihilfe als akzessorisch zur Haupttat zu interpretieren, wurden schnell durch das Oberste Gericht korrigiert.158 Die DDR-Strafrechtswissenschaft folgte dieser Linie und bezeichnete die Mittäterschaft als eine „Sonderform der Teilnahme“ und „zugleich eine Form der Täterschaft“159.

157

Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 126 f. OG, Urteil vom 19. August 1970 – 2 Ust 9/70 (das Urteil wurde nicht veröffentlicht, wird aber bei Juch/Heymann, NJ 1972, 707, 708; Mühlberger, NJ 1973, 287, 288, eingehend besprochen). 159 Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 381. 158

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Daneben finden sich in § 22 Abs. 3 bis 5 Grundsätze der Strafzumessung, die Bezug nahmen auf die Rolle als Täter oder Teilnehmer und die als Spezialvorschrift zu den allgemeinen Strafzumessungsregelungen (§ 61) galten.160 Zwar wurde ein kriminelles Zusammenwirken Mehrerer in der DDR grundsätzlich als erhöht „gesellschaftswidrig“ bzw. „gesellschaftsgefährlich“ angesehen, dies bedeutete aber nicht zwingend, dass jede individuelle Handlung innerhalb einer gemeinschaftlichen Tat automatisch zu höherer strafrechtlicher Verantwortlichkeit führte.161 Eine bestimmte Teilnahmeform wurde zudem nicht per se als mehr oder weniger gesellschaftswidrig angesehen als andere. Für Gehilfen sowie für Mittäter mit geringem Tatbeitrag konnte die Strafe aber gemildert und bei „geringer Schuld und unbedeutendem Tatbeitrag“ gänzlich von Strafe abgesehen werden (§ 22 Abs. 4). Die Strafmilderung war freilich nur fakultativ. Im Besonderen Teil finden sich zahlreiche weitere Formen des gemeinsamen Zusammenwirkens und daran anknüpfende Beteiligungsmodalitäten, die den Beteiligungsformen des § 22 als gleichwertig galten.162 Im Einzelnen waren dies: • Bande (§ 86), • Zusammenschluss (§ 236), • Verein zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele (§ 218), • Zusammenrottung (§§ 217, 259), • Gruppe (§§ 107, 162 Abs. 2 Nr. 2, 165 Abs. 2, 181 Abs. 1 Nr. 2, 213 Abs. 2 Nr. 3, 214 Abs. 2), • Organisation (§ 107), • Organisator (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 165 Abs. 2, 181 Abs. 1 Nr. 2, 259 Abs. 2 Nr. 3), • Beteiligter (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 181 Abs. 1 Nr. 2), • Rädelsführer (§§ 216 Abs. 1 Nr. 3, 217 Abs. 2, 236 Abs. 3, 259 Abs. 2 Nr. 3). Insofern verwundert es nicht, dass dogmatische Feinheiten im Bereich von Täterschaft und Teilnahme keine entscheidende Rolle spielten. Die Rechtsprechung der DDR-Strafgerichte, in der sich abseits der Strafzumessung nur selten Ausführungen zu den Vorschriften über Täterschaft und Teilnahme finden,163 trug ihrerseits nicht zur Weiterentwicklung der Dogmatik dieses Rechtsbereichs bei. 160

Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 393. Vgl. Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 370 f. 162 Vgl. Strafrecht der DDR, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 371; Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 128. 163 In der veröffentlichten Rechtsprechung finden sich kaum Urteile, die sich auf tatbestandlicher Ebene mit Fragen von Täterschaft und Teilnahme befassen. Eine seltene Ausnahme ist die Entscheidung der Schiedskommission I in Großräschen, Der Schöffe 1973, 95, bei der es sich bezeichnender Weise nicht um ein Strafgericht, sondern um ein Laiengericht (sogenanntes Gesellschaftsgericht) handelte. 161

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b) Bewertung Nach Lekschas orientierte sich § 22 DDR-StGB an der russischen Gesetzgebung: „Die Definition der einzelnen Teilnahmeformen durch das [russische, Anm. d. Verf.] Gesetz entspricht […] weitestgehend der unsrigen“.164 Freilich lassen sich auch weitreichende Überschneidungen mit der bundesdeutschen Rechtslage erkennen, vor allem die Einteilung in die dogmatischen Kategorien „unmittelbare Täterschaft“, „mittelbare Täterschaft“, „Mittäterschaft“, „Anstiftung“ und „Beihilfe“. Insofern hätte eine Übernahme des DDR-Strafrechts zu nichts grundlegend Neuem im bundesdeutschen Strafrecht geführt. Etwas anderes gilt für die dogmatische Zuordnung der Mittäterschaft zu den Teilnahmehandlungen. Diese verfolgte aber wohl in erster Linie den Zweck, eine (angebliche) Nähe des DDR-Strafrechts zum russischen Strafrecht zu demonstrieren. Die lockere Akzessorietätsregelung der Teilnahme in der DDR, nach der jegliche Haupttaten (also auch gerechtfertigte oder fahrlässige Taten) beteiligungsfähig waren, war hinsichtlich der Anstiftung dogmatisch wenig überzeugend, da sich eine Nähe zur mittelbaren Täterschaft ergab. Mit Blick auf die Beihilfe führte sie überdies zu einer bedenklichen Ausweitung der Strafbarkeit. Soweit für die mittelbare Täterschaft nach § 25 Abs. 1 Fall 2 DDR-StGB galt, dass der Täter „selbst nicht verantwortlich“ sein durfte, schloss dies die dogmatische Figur des „Täters hinter dem Täter“ aus. Gerade diese Beteiligungsform hat sich freilich in der Praxis @ bezeichnender Weise in den Verfahren wegen DDR-Unrechts nach der Vereinigung165 – als wichtiges Instrument bei der strafrechtlichen Bewertung von Systemunrecht, insbesondere von „Schreibtischtätern“, bewährt. Insgesamt bot die Regelung von Täterschaft und Teilnahme in der DDR keine Ansätze, die im Wege einer Übernahme das bundesdeutsche Strafrecht verbessert hätten. 6. Strafanwendungsrecht a) Rechtslage in der DDR Das Strafanwendungsrecht der DDR wurde im 1. Abschnitt des 5. Kapitels unter der Überschrift „Geltungsbereich der Strafgesetze der Deutschen Demokratischen Republik“ geregelt. Kernvorschrift war § 80 DDR-StGB („Räumliche und persönliche Geltung“). Laut § 80 Abs. 1 lag dem DDR-Strafgesetzbuch das Territorialitätsprinzip zu Grunde. Dort hieß es: Die Strafgesetze der Deutschen Demokratischen Republik werden auf alle Straftaten angewandt, die in ihrem Staatsgebiet begangen werden oder deren Folgen in diesem Gebiet eintreten oder eintreten sollen. Das gilt auch für Wasser- und Luftfahrzeuge der Deutschen De164

Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1978), S. 370. Vgl. BGHSt 40, 218, 237 f.; BGHSt 42, 65, 68; BGHSt 45, 270, 296. Hierzu Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. (2012) Rn. 511. 165

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mokratischen Republik, die sich außerhalb der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik befinden.

Das durch die Nationalsozialisten zum Leitprinzip des Strafanwendungsrechts erhobene aktive Personalitätsprinzip, wodurch eine „völkische Treuepflicht“ für alle Deutschen eingeführt wurde,166 hatte in Ostdeutschland bereits in der Besatzungszeit seine zentrale Stellung verloren. Freilich galt es neben dem Territorialitätsprinzip für Staatsangehörige der DDR weiter fort. § 80 Abs. 2 bestimmte: Wer im Ausland eine nach den Gesetzen der Deutschen Demokratischen Republik strafbare Handlung begeht, kann nach ihren Strafgesetzen zur Verantwortung gezogen werden, wenn er zur Zeit der Tat Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder Staatenloser mit ständigem Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik war.

Eine Einschränkung gab es für dieses Prinzip nicht, so dass DDR-Bürger beim Aufenthalt im Ausland grundsätzlich an die Strafgesetze der DDR gebunden waren. Daneben regelte § 80 Abs. 3, für welche Taten die DDR-Strafgesetze unabhängig von Begehungsort und Nationalität des Täters galten (Weltrechtsprinzip): Ausländer können nach den Strafgesetzen der Deutschen Demokratischen Republik wegen einer im Ausland begangenen Straftat zur Verantwortung gezogen werden, wenn 1. sie ein Verbrechen gegen die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte begangen haben; 2. ihre Bestrafung durch spezielle internationale Vereinbarungen vorgesehen ist; 3. sie durch ein Verbrechen die Rechte und Interessen der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Bürger erheblich beeinträchtigt haben; 4. sie Straftaten begehen, die sich gegen Einrichtungen der Deutschen Demokratischen Republik im Ausland richten; 5. sie sich auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik befinden, die Handlung auch am Begehungsort oder im Heimatstaat oder -gebiet des Täters strafbar ist und eine Auslieferung nicht erfolgt.

Während Nr. 2 der Vorschrift auf die Strafbarkeit durch internationale Vereinbarungen, Nr. 3 auf Taten gegen DDR-Einrichtungen im Ausland und Nr. 5 auf den Aufenthalt des Täters in der DDR sowie die Strafbarkeit am Begehungsort oder im Heimatstaat des Täters abstellte, unterfielen gemäß Nr. 1 und Nr. 3 auch Völkerrechtsverbrechen und Staatsschutzdelikte stets dem Anwendungsbereich des Strafgesetzbuchs der DDR. Zur Begründung hierfür wurde mit Blick auf Nr. 1 angeführt, dass es sich bei den Taten um Verbrechen handele, deren universelle Geltung seit den Nürnberger Prozessen anerkannt sei.167 Freilich wurde durch den Verweis in Nr. 1 auf das gesamte 1. Kapitel des Besonderen Teils und damit auch auf die dort enthaltenen Vorschriften des politischen Strafrechts Bezug genommen, z. B. auf die „Kriegshetze 166 167

Vgl. hierzu Werle/Jeßberger, in: LK, 12. Aufl. (2007), Vor § 3, Entstehungsgeschichte. Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 272.

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Gerhard Werle und Moritz Vormbaum

und -propaganda“ (§ 89).168 Der Verweis auf die Verbrechen gegen die DDR gemäß Nr. 3 rechtfertigte sich nach der Kommentierung dadurch, dass sich diese Taten gegen die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft richteten, so dass eine möglichst wirksame Verfolgung nicht nur im Sinne der DDR sondern aller friedliebender Völker liege.169 b) Bewertung Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik galt das Territorialitätsprinzip als Grundlage des Strafanwendungsrechts. Insofern hätte eine Übernahme des Rechts der DDR zu keiner Veränderung des bundesdeutschen Strafrechts geführt. Die weitreichende Anknüpfung an das aktive Personalitätsprinzip in der DDR bewirkte freilich eine fragwürdige Ausweitung des Anwendungsbereichs des DDRStrafrechts, ein Regelungsmodell, das letztlich Ähnlichkeiten zu der im „Dritten Reich“ propagierten Treuepflicht zum NS-Staat zeigte. Eine Erstreckung der Anwendbarkeit auf Staatsschutzdelikte, die im Ausland begangen wurden, findet sich zwar in beiden Rechtsordnungen. In der DDR wurde damit aber auch den wichtigsten Straftatbeständen des Strafgesetzbuchs gegen politische Opposition eine universelle Anwendbarkeit verliehen, so dass sich z. B. auch Bundesbürger für in der Bundesrepublik begangene „Hetztaten“ (also z. B. kritische Berichterstattungen) oder für die Koordination von „Fluchthilfe“ nach dem Strafrecht der DDR strafbar machten.

V. Fazit Die Entscheidung zugunsten des verfassungsrechtlichen Beitritts bedeutete nicht zwingend, dass auch die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik die der DDR ersetzen musste. Hier wäre eine weitergehende Übernahme von DDR-Recht denkbar, eventuell sogar wünschenswert gewesen. Insofern hätten alternative Wege – eine wechselseitige Erstreckung, eine temporäre gespaltene Geltung oder eine Synthese – für die Vereinheitlichung der Rechtsordnung in einem größeren Umfang in Betracht gezogen werden sollen. Bei einem Vergleich des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs der DDR und der Bundesrepublik finden sich viele Übereinstimmungen. Zu nennen sind etwa die Bedeutung der Schuld als grundlegende Voraussetzung für die Strafbarkeit, zahlreiche dogmatische Kategorien (Verbrechen, Vergehen, Versuch, Rechtfertigung, Täterschaft und Teilnahme etc.) sowie die Anknüpfungspunkte des Strafanwendungsrechts. Dies überrascht vor dem historischen Hintergrund des DDR-Strafgesetzbuchs nicht. Zwar wurde von Seiten der Parteiführung zu Beginn der sechziger Jahre an die Gesetzgebungskommission der Auftrag erteilt, einen Allgemeinen Teil zu entwerfen, der sich grundlegend von dem bis dahin geltenden Reichsstrafgesetz168 169

Vgl. zu diesen Tatbeständen Vormbaum, Das Strafrecht der DDR (2015), S. 351 ff. Vgl. Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Bd. I (1970), S. 272 f.

Die Herstellung der Strafrechtseinheit nach der deutschen Vereinigung

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buch unterscheiden und das typisch Sozialistische im Strafrecht herausstellen sollte.170 Dies war aber für die Kommissionsmitglieder schwierig, waren sie doch noch recht eng mit der deutschen Rechtstradition verbunden und hatten vielfach keine Kenntnisse vom russischen Recht, geschweige denn waren sie der russischen Sprache mächtig.171 Soweit tatsächlich russische Einflüsse zur Geltung kamen – etwa was die dogmatische Einordnung von Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen betrifft –, ist zu beachten, dass auch in Russland das traditionelle deutsche Strafrecht einflussreich gewesen war, weshalb Stimmen in der bundesdeutschen Strafrechtwissenschaft spotteten, die DDR habe teilweise einen Rückschritt in die zwanziger Jahre gemacht.172 Es finden sich im Allgemeinen Teil des DDR-Strafrechts aber auch bedeutsame Anpassungen an die sozialistische Ideologie, etwa bei der Behandlung von Bagatellkriminalität auf Grundlage des materiellen Verbrechensverständnisses von der „Gesellschaftswidrigkeit und -gefährlichkeit“ der Straftat, bei den Rechtfertigungsgründen (sozialistische Gesellschaftsinteressen als notwehrfähiges Rechtsgut) und bei der weitreichenden Erfassung von Handlungen im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung zum Schutze der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse. Diese prägten auch den Charakter des DDR-Strafrechts insgesamt. Vor diesem Hintergrund schied eine weitreichende Übernahme von Bestimmungen des Allgemeinen Teils des DDR-Strafrechts aus, da sie sich entweder nicht wesentlich vom traditionellen deutschen Strafrecht unterschieden oder auf Grund ihres ideologischen Inhalts für eine Übernahme nicht Betracht kamen. Allerdings wären einzelne Elemente für eine Übernahme durchaus in Betracht gekommen oder hätten zumindest für kriminalpolitische Impulse sorgen können. Zu nennen ist zunächst die Regelung des Notwehrexzesses, die in der DDR überzeugender war als im bundesdeutschen Strafgesetzbuch. Hervorzuheben sind weiter die Definitionen für Vorsatz und Fahrlässigkeit im DDR-Strafgesetzbuch. Diese besaßen zwar auch Schwächen, aber gerade im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte hätte eine Präzisierung der im bundesdeutschen Strafgesetzbuch nur rudimentär geregelten Voraussetzungen für die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens durch den Gesetzgeber für mehr Rechtssicherheit sorgen können.

170 Auf dem 5. Parteitag der SED im Jahre 1958 hieß es: „Nur wenn alle formalen und konstruierten, nicht von den Bedingungen des sozialistischen Lebens ausgehenden ,Theorien‘ über Bord geworfen werden, wird es gelingen, sozialistisches Recht zu schaffen“. Vgl. H. Schmidt, NJ 1958, 630. 171 Vgl. Buchholz, JoJZG 2011, 102 f. 172 Vgl. Roggemann, ROW 1969, 97, 106.

Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Keiichi Yamanaka School of Law, Kansai-Universität, Osaka/JAPAN Yamate-cho 3 – 3 – 35, Suita-shi 564 – 086 Osaka/Japan Stand: 1. Oktober 2016 Zu der vollständigen Liste der Publikationen des Jubilars und den Titeln der „Veröffentlichungen in japanischer Sprache“ vgl. Anhang zu der japanischen „Festschrift für Keiichi Yamanaka zum 70. Geburtstag”, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2017.

A. Veröffentlichungen in deutscher, englischer und polnischer Sprache I. Bücher 1. Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan (Hrsg. mit Albin Eser), Nomos Verlag, Baden-Baden, 2001, 280 S. 2. Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht (Hrsg. mit Jörg-Martin Jehle/ Volker Lipp), Universitätsverlag Göttingen, 2008, 276 S. 3. Strafrechtsdogmatik in der japanischen Risikogesellschaft, Nomos-Dike, Baden-Baden, 2008, 358 S. 4. Die gegenwärtigen Aufgaben des Rechts in sich ändernden Sozialsystemen, 4. Trilaterales Seminar 2010 in Osaka (Band 4) (Hrsg. mit Rudolf Rengier)(http://www.jura.uni-konstanz.de/rengier/kooperation-mit-koreajapan/ tagungsbaende-1 – 4-trilaterales-seminar/) 5. Das vierte deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung (Hrsg. mit Jan C. Joerden/Andrzej J. Szwarc), Wydawnictwo Poznanskie, Poznan, 2011, 182 S. 6. Geschichte und Gegenwart der japanischen Strafrechtswissenschaft, de Gruyter, Berlin, 2012, 420 S. 7. Präventive Tendenzen in Staat und Gesellschaft zwischen Sicherheit und Freiheit; Ehrenpromotion von Keiichi Yamanaka (Hrsg. mit Jörg-Martin Jehle/Frank Schorkopf), Göttinger Juristische Schriften, Bd. 16, 2014, Universitätsverlag Göttingen, 292 S. 8. Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechtsvergleichender Perspektive (Hrsg. mit Yener Ünver/Jan C. Joerden/Andrzej J. Szwarc), Özyeg˘ in Universität, 2015, Sekin/Hukuk, Ankara (Türkei), 176 S. 9. Einführung in das japanische Strafrecht, 2017, Duncker & Humblot, Berlin, 2017 (geplant).

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Verzeichnis der Schriften von Keiichi Yamanaka

II. Aufsätze 1.

Von dem Irrtum über den Kausalverlauf und der Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs, Kansai University Review of Law and Politics, No. 2, 1981, S. 35 – 55.

2.

Ein Beitrag zum Problem des sog. „Dolus Generalis“ – Kritische Erörterung der bisherigen Theorien –, Kansai University Review of Law and Politics No. 3, 1982, S. 1 – 32.

3.

Kritische Betrachtungen über die Lehre vom rechtsfreien Raum, Kansai University Review of Law and Politics, No. 5, 1984, S. 67 – 84.

4.

Betrachtungen zum Rücktritt vom Versuch anhand der Diskussion in Japan, ZStW 98, 1986, S. 761 – 792.

5.

Zum Beginn der Tatausführung im japanischen Strafrecht, in: Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (Hrsg. v. Hans-Joachim Hirsch/Thomas Weigend), Duncker & Humblot, 1989, S. 101 – 112.

6.

Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik im Lichte des sozialen Wandels, in: ZStW 102, 1990, S. 372 – 375.

7.

Umweltkatastrophen und die Theorie der Aufsichtsfahrlässigkeit in der neuen japanischen Judikatur, in: Kansai University Review of Law and Politics, No. 11, 1990, S. 85 – 107.

8.

Das Gesetzlichkeitsprinzip im japanischen Strafrecht, Kansai University Review of Law and Politics, No. 11, 1990, S. 109 – 122.

9.

Zasada praworzadnosci w japonskim prawie karnym, in: Panistwo i Prawo, Zeszyt 8, 1991, S. 27 – 33 (Übersetzt von Emil Pływaczewski).

10. Umweltkatastrophen, Massenprozesse und rechtlicher Ökologieschutz in Japan, in: Ökologie und Recht (Hrsg. v. Lorenz Schulz), Carl Heymanns Verlag, Köln/Berlin/Bonn/München, 1991, S. 105 – 126. 11. Aktualne zadania japonskiej teorii przestepstw nieumyslnych (Gegenwärtige Probleme der japanischen Theorie der fahrlässigen Delikte), Annales Universitatis Mariae CurieSkłodowska, Vol. 38, 1991, S. 329 – 340, Lublin/Polen (Übersetzt von Andrzej Wa˛sek). 12. Rechtfertigung und Entschuldigung medizinischer Eingriffe im japanischen Strafrecht, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV (Hrsg. v. Eser/Nishihara), Max-Planck-Institut, Bd. 48, Freiburg, 1993, S. 189 – 212. 13. Die gegenwärtige Aufgabe des Wirtschaftsstrafrechts in Japan, in: Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich (Hrsg. v. Kühne/Miyazawa), Carl Heymann Verlag, Köln/Berlin/Bonn/München, 1995, S. 77 – 96. 14. Die Funktion des Strafrechts in der Risikogesellschaft, Japanisch-deutsches Kolloquium zur Bedeutung der Geisteswissenschaften, Alexander von Humboldt-Stiftung, http:// www.kele.or.jo/humboldt/sek4_g.htm, 1996/3/1. 15. Staatsraison versus Rechtsstaat. Zur verfassungshistorischen Bedeutung der Otsu-Affäre, in: Verfassung und Recht in Übersee, 1996, S. 215 – 235. 16. Der Mensch zwischen Leben und Tod – Der Schutz des werdenden und des endenden Lebens im japanischen Recht –, in: Das Recht vor der Herausforderung eines neuen Jahrhunderts; Erwartungen in Japan und Deutschland (Hrsg. v. Kitagawa/Nörr/Oppermann/Shiono), Mohr Siebeck, Tübingen, 1998, S. 411 – 434. 17. Entwicklung und Ausblick der Unterlassungsdogmatik in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung (Hrsg. v. Szwarc/Wa˛sek), Wydawnictwo Poznan´skie, Pozn´an, 1998, S. 109 – 133.

Verzeichnis der Schriften von Keiichi Yamanaka

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18. Gedanken zum Akzessorietätsprinzip – Plädoyer für eine japanische Mindermeinung –, in: Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, Bd. 2 (Hrsg. v. Emil Pływaczewski), Temida 2, Białystok, 1998, S. 583 – 608. 19. Neue Bekämpfungsstrategien gegen die organisierte Kriminalität in Japan – Hintergrund und Bilanz des Boryokudan-Bekämpfungsgesetzes, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für Günther Kaiser zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Albrecht/Dünkel/Kerner/Kürzinger/Schöch/Sessar/Villmow), Duncker & Humblot, Berlin, 1998, S. 1001 – 1017. 20. Betrachtungen über den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts vom Versuch, in: Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi), Walter de Gruyter, Berlin, 2001, S. 775 – 789. 21. Grunderfordernisse des Allgemeinen Teils, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften? (Hrsg. v. Hans-Joachim Hirsch), Duncker & Humblot, Berlin, 2001, S. 180 – 185. 22. Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, Zeitschrift für japanisches Recht, 2002, Heft 14, S. 191 – 207. 23. The New Japanese Law Schools: Putting the Professional into Legal Education, Pacific Rim Law & Policy Journal, Vol. 13, No. 2, University of Washington, 2004, pp. 303 – 328 (with James Maxeiner) (Englisch) 24. IX. Japonsko-Chinskie Symposium Prawa Karnego (Kioto, Maj 2004), Prokuratura i Prawo Styczen, Poland, 2005, S. 179 – 182 (mit Emil Pływaczewski). 25. Das Recht der Person als Grenze des Strafrechts – Zu Arthur Kaufmanns Kritik paternalistischer Strafbestimmungen –, Verantwortetes Recht, ARSP-Beiheft 100, Stuttgart, 2005, S. 179 – 188. 26. Zu den gegenwärtigen Tendenzen der Bekämpfung der High-Tech-Kriminalität in Japan, in: Aktualne Problemy Prawa Karnego i Kriminologii, Bd. 3 (Hrsg. v. Emil Pływaczewski), Białystok/Poland, 2005, S. 394 – 413. 27. Die Entwicklung und Tendenz der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: W Kregu Teorii i Praktyki Prawa Karnego, Ksiega poswiecona pamieci Profesora Andrzeja Wa˛seka, Wydawnicwo Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej, Lublin/Poland, 2005, S. 396 – 410. 28. Strafrechtliche Erfassung in rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten, in: Das dritte deutsch-polnisch-japanische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Aktuelle Probleme des deutschen, japanischen und polnischen Strafrechts (Hrsg. v. Andrzej Szwarc), 2006, Wydawnictwo Pozn´anskie, Pozn´an, 2006, S. 61 – 76. 29. Zabojstwo krewnego wstepnego w japonskim prawie karnym, in: Przestepstwo – kara-polityka kriminalna, Problemy tworzenia i funkcjonowania prawa (Ksiega jubileuszawa z okazji 70. Rocznicy urodzin Profesora Tomasza Kaczmarka), 2006, S. 683 – 692 (Übersetzung v. Jacek Giezek). 30. Die Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, in: Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, Zu Ehren von Prof. Manfred Maiwald (Hrsg. v. Loos/Jehle), C. F. Müller Verlag, Heidelberg, 2007, S. 57 – 75. 31. Die dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, Review of Law & Politics, Nr. 28, 2007, S. 19 – 31. 32. Der „vorzeitige Erfolgseintritt“ in der japanischen Judikatur und Wissenschaft, in: Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag am 1. April 2007 (Hrsg. v. Dannecker/Lan-

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Verzeichnis der Schriften von Keiichi Yamanaka ger/Ranft/Schmitz/Brammsen), Carl Heymanns Verlag, Köln/Berlin/München, 2007, S. 489 – 504.

33. Objektive Zurechnung bei neutralen Beihilfehandlungen – Betrachtungen anhand der japanischen Diskussion –, in: Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. Juli 2007 (Hrsg. v. Michael Pawlik/Rainer Zaczyk), Carl Heymanns Verlag, Köln/München, 2007, S. 767 – 784. 34. Wandelung der Strafrechtsdogmatik nach dem 2. Weltkrieg – Zugleich Kontextwechsel der Theorien in der japanischen Straftatlehre –, in: Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht (Hrsg. v. Jehle/Lipp/Yamanaka), Universitätsverlag Göttingen, Göttingen, 2008, S. 173 – 185. 35. Juristenausbildung in Japan, – Law School japanischer Art –, in: Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht (Hrsg. v. Jehle/Lipp/Yamanaka), Universitätsverlag Göttingen, Göttingen, 2008, S. 249 – 266. 36. Neue Tendenzen der Kriminalität in Japan im Lichte der Kriminalitätsstatistik, in: Przeglad Polocyjny 2008, 2, S. 5 – 27. 37. Nauka praw karnego w Japonii, Panistwo I Prawo Bd. 53, H. 6 (2008), S. 38 – 52. 38. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in Japan – 100 Jahre nach in Krafttreten des geltenden StGB, in: Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie (Hrsg. v. Emil Pływaczewski), Temida 2, Białystok, 2009, S. 649 – 665. 39. Spannungsverhältnis im Bereich des Strafrechts, in: Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan (Hrsg. v. Peter Gottwald), Carl Heymanns Verlag, Köln/München, 2009, S. 27 – 47. 40. Die Normstruktur der Fahrlässigkeitsdelikte, Vergleichende Strafrechtswissenschaft, in: Frankfurter Festschrift für Andrzej Szwarc zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Joerden/Scheffler/Sinn/Wolf), Duncker & Humblot, 2009, S. 279 – 294. 41. Begriff und systematische Einordnung der Pflichtenkollision, Liber Amicorum de Jose de Sousa e Brito, em comemoracao do 70. Aniversario, 2009, Almedina, Coinbra, 2009, S. 865 – 884. 42. Kritisch-dogmatische Überlegungen zur hypothetischen Einwilligung, in: Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht (Hrsg. v. Bloy/Böse/Hillenkamp/Momsen/Rackow), Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag, 2010, Duncker & Humblot, Berlin, 2010, S. 865 – 884. 43. Ryuichi Hiranos Strafrechtslehre. Funktionale Betrachtungsweise des Strafrechts in Japan, Journal der Juristischen Zeitgeschichte, Jahrgang 4, Heft 1, 2010, S. 1 – 9. 44. Die Modelle und Typologie des indirekten Paternalismus im Strafrecht, in: Paternalismus im Strafrecht (Hrsg. v. Hirsch/Neumann/Seelmann), Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2010, S. 323 – 331. 45. Die strafrechtliche Produkthaftung in der japanischen Judikatur – Eine vorbereitende Betrachtung über die Begründung der Garantenpflicht bei den Unterlassungsdelikten –, in: Kansai University Review of Law and Politics, Nr. 32, 2011, S. 17 – 36. 46. Vorläufige Betrachtungen zur strafrechtlichen Haftung bei ärztlichen Behandlungsfehlern in Japan, in: Festschrift für Wolfgang Heinz (Hrsg. v. Hilgendorf/Rengier), Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2012, S. 837 – 853. 47. Die Bilanz des AIDS-Skandals in Japan – Strafrechtliche Haftung wegen der Produktion und ärztlichen Verschreibung von AIDS-kontaminierten Blutprodukten und wegen Aufsichtspflichtverletzungen, in: Die gegenwärtigen Aufgaben des Rechts in sich ändernden

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Sozialsystemen, 4. Trilaterales Seminar 2010 in Osaka (Hrsg. v. Rengier/Yamanaka), Band 4, S. 147 – 164 (http://www.jura.uni-konstanz.de/rengier/kooperation-mit-koreajapan/ tagungsbaende-1 – 4-trilaterales-seminar/). 48. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Eigentums- und Vermögensdelikten anhand der Entscheidungen in der japanischen Judikatur, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2012, Nr. 5, S. 253 – 261 (http://www. zis-online.com). 49. Bemerkungen zum japanischen Winnyfall – Strafbarkeit des Anbietens von Tausch-Software im Internet, in: Current problems of Criminal Law and Criminology/Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie (Hrsg. v. Emil Pływaczewski), LEX, Wolters Kluwer Polska, Warszawa, 2012, S. 805 – 819. 50. Zur Entwicklung der Notwehrlehre in der japanischen Judikatur. Der Streit um den Fall der selbst herbeigeführten Notwehrlage, in: Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems, Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Freund/Murmann/ Bloy/ Perron), Dunker & Humblot, Berlin, 2013, S. 511 – 531. 51. Zum Aszendentenmord, in: Lebensschutz im Strafrecht, Korean Institut of Criminology (Hrsg. v. Ill-Su Kim/Bernd Schünemann), Seoul, 2013, S. 133 – 141. 52. Katastrophen und Fahrlässigkeitsdelikte – Strafrechtliche Organisationshaftung, Die Rolle des Rechts bei der Bewältigung von Katastrophen: Vorträge des 5. Trilateralen deutsch-japanisch-koreanischen Seminars, 3.–5. Juli 2012 in Konstanz (Hrsg. v. Rengier), S. 115 – 130(http://kops.uni-konstanz. de). 53. Die Lehre von der Gefahrrealisierung in der japanischen Judikatur, in: Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie (Hrsg. v. Emil Pływaczewski), Wydawnictwo C. H. Beck, Warszawa, 2014, S. 242 – 258. 54. Abgrenzung von Beihilfe und Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten, in: Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Hefendehl/Hörnle/Greco), de Gruyter, Berlin, 2014, S. 561 – 574. 55. Einige Bemerkungen zu den Verhaltensnormen in der liberalen Präventionsgesellschaft, in: Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis (Hrsg. v. Joerden/Szwarc), 2014, Wydawnictwo Nauka i Innowacje, Pozn´an, 2014, S. 213 – 238. 56. Abstandnahme von der Tat bei mehreren Beteiligten, in: Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechtsvergleichender Perspektive (Hrsg. v. Ünver/Joerden/Szwarc/ Yamanaka), Özyeg˘ in Universitesi, Alman Hukuku, Ankara, 2015, S. 53 – 72. 57. Kurzer Rückblick zu den Fahrlässigkeitsdelikten anhand der Rechtsprechung in Japan, in: Aktuelle Entwicklungslinien des japanischen Strafrechts im 21. Jahrhundert (Hrsg. v. Duttge/Tadaki), Schriften zum Ostasiatischen Strafrecht, Mohr Siebeck, Tübingen, 2016, im Druck.

B. Veröffentlichungen in japanischer Sprache I. Monographien (Titel in deutscher Übersetzung) 1. Kausalität und Zurechnung im Strafrecht, Seibundo-Verlag, Tokyo 1984, 334 S. 2. Grenzen der Notwehr, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1985, 306 S. 3. Betrachtungen über die Otsu-Affäre, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1994, 305 S.

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4. Entstehung und Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts (Mitverfasser Masahiko Tateishi, Katsuhiko Kakiguchi und Yoshihiro Shinpo), Dobunkan-Verlag, Tokyo, 1996, 280 S. 5. Die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafrecht, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1997, 854 S. 6. Studien zum Rücktritt vom Versuch, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2001, 313 S. 7. Ho ni Ikiru (Das Leben der Juristen) (Hrsg.), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2005, 298 S. 8. Struktur und Funktion der Straftatlehre, 2010, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2010, 246 S. 9. Medizinstrafrecht, Bd. 1(Einführung/Behandlungsfehler), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2014, 864 S.

II. Lehr- und Übungsbücher 1.

Juristisches Seminar (Legal seminar) zum Strafrecht (1) AT (verfasst mit Hiroshi Kawabata, Nobutada Saito, Takehiko Sone und Yoshihiro Hidaka), Yuhikaku-Verlag, Tokyo, 1985, 206 S.

2.

Juristisches Seminar (Legal seminar) zum Strafrecht (2) BT (verfasst mit Hiroshi Kawabata, Nobutada Saito, Takehiko Sone und Yoshihiro Hidaka), Yuhikaku-Verlag, Tokyo, 1986, 206 S.

3.

Allgemeiner Teil des Strafrechts (verfasst mit Kazushige Asada, Osamu Sakuma, Kakaaki Matsumiya und Toyoji Saito), Seirinshoin-Verlag, Tokyo 1993, 2. Aufl. 1997, 364 S.

4.

Einführung in das Kriminalrecht, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1994; 2. Aufl., 1996, 338 S.

5.

Besonderer Teil des Strafrechts (verfasst mit Kazushige Asada, Osamu Sakuma, Takaaki Matsumiya und Toyoji Saito), Seirinshoin-Verlag, Tokyo, 1995, 406 S.

6.

Strafrecht Allgemeiner Teil I und II, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1999, 1040 S.

7.

Strafrecht Besonderer Teil I und II, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2004, 860 S.

8.

Strafrecht AT für Law School Studenten, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2005, 468 S.

9.

Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2008, 1114 S.

10. Grundriss des Strafrechts AT, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2008, 276 S. 11. Grundriss des Strafrechts BT, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2008, 270 S. 12. Strafrecht Besonderer Teil, 2. Auflage, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2009, 833 S. 13. Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2008, 1185 S. 14. Strafrecht Besonderer Teil, 3. Auflage, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2015, 903 S.

III. Buchübersetzungen 1. Gernot Schubert, Feuerbachs Entwurf des Strafgesetzbuches für das Königreich Bayern von 1824, 1980, Kansai-University-Press, Osaka, 1980, 397 S. 2. Günther Kaiser, Kriminologie, 7. Auflage, 1987, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1987, 400 S. 3. Günther/Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik – Strafrechtliche Schranken? (verantwortliche Übersetzung zusammen mit Prof. Yoshikatsu Naka), 1991, Seibundo-Verlag, Tokyo, 426 S.

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4. Arthur Kaufmann, Gustav Radbruch (übersetzt zusammen mit Prof. Yoshikatsu Naka) 1992, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1992, 294 S. 5. Hans-Ludwig Günther, Topik des Deutschen Strafrechts (verantwortliche Übersetzung zusammen mit Prof. Yoshihiro Hidaka), Seibundo-Verlag, Tokyo, 1995, 150 S. 6. Knut Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft (verantwortliche Übersetzung), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2002, 287 S. 7. Claus Roxin, Strafrecht AT Bd. 1, 4. Aufl. (Teilband 2) (verantwortliche Übersetzung), 2009, Shinzansha-Verlag, Tokyo, 798 S. 8. Claus Roxin, Strafrecht AT Bd. 2, 4. Aufl. (Teilband 1) (verantwortliche Übersetzung), 2011, Shinzansha-Verlag, Tokyo, 2011, 599 S. 9. Claus Roxin, Strafrecht AT Bd. 2, 4. Aufl. (Teilband 2) (verantwortliche Übersetzung), Mai 2012, Shinzansha-Verlag, Tokyo, 2012, 640 S.

IV. Auswahl in japanischer Sprache verfasster Aufsätze (80 ausgewählte Aufsätze unter insgesamt etwa 280 Aufsätzen, Urteilsbesprechungen, Rezensionen und Übersetzungen.) 1.

Zum Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten (1)(3), Hogaku Ronso Bd. 92, H. 3, 1972, S. 60 – 80; Bd. 93, H. 2, 1972, S. 54 – 86; Bd. 93, H. 5, 1973, S. 29 – 55.

2.

Die Entwicklung der Rechtsstellung der Strafgefangenen in Deutschland – Vollzugszweck und Rechtliche Regelung beim Strafvollzug vor 1933 (1) (2), Hogaku Ronso Bd. 95, H. 5, 1974, S. 50 – 91; Bd. 96, H. 1, 1974, S. 46 – 86.

3.

Kausalität der Beihilfe, Hogaku Ronshu Bd. 25, H. 4=5=6, 1975, S. 665 – 814.

4.

Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitsdelikten – Eine einleitende Betrachtung –, in: Gendai no Keijihogaku (Kriminalrechtswissenschaften in der Gegenwart) (Festschrift für Professor Yasuharu Hiraba zum 60. Geburtstag), Bd. 1 (Hrsg. v. Suzuki), YuhikakuVerlag, Tokyo, 1977, S. 332 – 347.

5.

Über die Vorhersehbarkeit der Kausalverläufe bei den Fahrlässigkeitsdelikten einschließlich des Irrtums über Kausalverläufe (1 – 2), in: Hogaku Ronshu Bd. 29, H. 1, 1978, S. 28 – 92; Bd. 29, H. 2, 1979, S. 25 – 67.

6.

Vertrauensgrundsatz, in: Gegenwärtige Gesellschaft und Verbrechen (Hrsg. v. Nakayama/ Nishihara/Fujiki/Miyzawa), Schriftenreihe des gegenwärtigen Strafrechts, Bd. 3, Seibundo-Verlag, Tokyo, 1979, S. 71 – 93.

7.

Willensmängel bei der Einwilligung des Verletzten, Hogaku Ronshu Bd. 33, H. 3=4=5, 1983, S. 271 – 358.

8.

Rücktritt vom unbeendeten und beendeten Versuch – Eine Betrachtung zum Sinn der Rücktrittshandlung, Hogaku Ronshu Bd. 34, H. 3=4=5, 1984, S. 195 – 320.

9.

Strafrechtliche Haftung für die Gasexplosionskatastrophe, Jurist Nr. 840, 1985, S. 26 – 31.

10. Die Lehre von der Aufsichtshaftung im westdeutschen Strafrecht – insbesondere zur Aufsichtspflicht in den Betriebsorganisationen, Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Kansai-Universität, Bd. 1, 1986, S. 132 – 143. 11. Lehre vom Strafgrund der Teilnahme, Keiho Zasshi, Bd. 27, H. 1, 1986, S. 132 – 143.

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12. Umweltkriminalität und Umweltstrafrecht, Hogaku Ronshu Bd. 36, H. 2 1986, S. 171 – 193. 13. Zur Aufsichtshaftung in der westdeutschen Strafrechtwissenschaft, Keiho Zasshi, Bd. 28, Heft 1, 1987, S. 66 – 96. 14. Eine Betrachtung über den Kreditkartenmissbrauch (1 – 2), Hogaku Ronshu, Bd. 36, H. 6, 1987, S. 39 – 98; Bd. 37, H. 1, 1987, S. 33 – 113. 15. Der Sinn der „Rechtserneuerung“ im nationalsozialistischen Strafrecht. – Ein Erklärungsversuch, Hogaku Kenkyu Sosho, Bd. 3, 1989, S. 159 – 199. 16. Informationsgesellschaft und Kriminalität, Joho-Network – Jidai no Hogaku Nyumon (Hrsg. v. Horibe/Nagata), Sanseido-Verlag, 1989, S. 167 – 212. 17. Probleme der Mittäterschaft, in: Gegenwärtige Aufgabe der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft, AT, Bd. 2 (Hrsg. v. Shibahara/Horiuchi/Matino/Nishida), 1990, Nihon Hyoronsha, S. 192 – 217. 18. Aufarbeitung des Unrechtssystems und der NS-Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Hogaku Ronshu (1990 – 1993): a) Hogaku Ronshu, Bd. 40. H. 5, S. 41 – 110. b) Hogaku Ronshu, Bd. 40. H. 6, S. 78 – 162. c) Hogaku Ronshu, Bd. 41. H. 1, S. 127 – 200. d) Hogaku Ronshu, Bd. 41. H. 2, S. 58 – 173. e) Hogaku Ronshu, Bd. 41. H. 4, S. 48 – 131. f) Hogaku Ronshu, Bd. 42. H. 1, S. 41 – 128. g) Hogaku Ronshu, Bd. 42. H. 2, S. 45 – 192. h) Hogaku Ronshu, Bd. 42. H. 6, S. 1 – 174. 19. Dogmatik und Struktur des deutschen Umweltstrafrechts, Hogaku Ronshu Bd. 41, Heft 3, 1991, S. 495 – 612. 20. Juristisch-historische Bewertung der Otsu-Affäre von 1991, Hogaku Ronshu, Bd. 41, Heft 5 – 6, 1991, S. 105 – 236. 21. Der Kausalzusammenhang, in: Kihon Mondai Seminar Keiho 1, AT (Hrsg. Abe/Kawabata), Ichiryusha, Tokyo, 1991, S. 68 – 79. 22. Dogmatische Probleme des deutschen Umweltstrafrechts, Keiho Zasshi, Bd. 32, H. 2, 1992, S. 193 – 214. 23. Tatsachenirrtum und Irrtum über den Kausalverlauf, in: Keiho Riron no Tankyu (Erforschung der strafrechtlichen Lehre), Festschrift für Professor Yoshikatsu Naka zum 70. Geburtstag (Hrsg. v. Nakayama/Morii/Yamanaka), Seibundo- Verlag, Tokyo, 1992, S. 179 – 209. 24. Verursachungstheorie und Schuldteilnahmetheorie, in: Keiho Kihon Koza (Grundkurs des Strafrechts), Bd. 4, Hogakushoin-Verlag, Tokyo, 1992, S. 94 – 108. 25. Straftaten gegen die Willens- und Handlungsfreiheit, Hogaku Seminar Nr. 454, 1992, S. 98 – 103. 26. Das Dazwischentreten in den Kausalverlauf durch eine zweite Handlung des Täters selbst und objektive Zurechnung, in: Keijihogaku no Sogoteki Kento (Gesamte Überprüfung der Kriminalrechtswissenschaften), Festschrift für Professoren Taira Fukuda und Hitoschi Ot-

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suka, Bd. 2 (Hrsg. v. Fukuda/Nawa/Murai/Shinoda, Yuhikaku-Verlag, Tokyo 1993, S. 247 – 277. 27. Kritische Betrachtung über die Adäquanztheorie: Von der Adäquanztheorie zur Lehre von der objektiven Zurechnung, Hogaku Ronshu Bd. 43, H. 4, 1993, S. 44 – 133. 28. Die Strafrechtslehre von Kanzaburo Katsumoto (Mitverfasser Yoshikatsu Naka), Die gesamten Studien zur Strafrechtsdogmengeschichte (Hrsg. v. Kikkawa/Naito/Nakayama/ Odanaka/Mitsui), Nihon Hyoronsha-Verlag, Tokyo, 1994, S. 140 – 176. 29. Entstehung und Entwicklung des Rechtsinstituts der Entschädigung für die Kriegsopfer in der BRD, Doitsu Nihon Mondai Kenkyu, Bd. 3, Kansai Universität, Osaka, 1995, S. 41 – 88. 30. Dogmengeschichtliche Betrachtungen zur Lehre von der objektiven Zurechnung (1 – 2), Hogaku Ronshu Bd. 44, H. 6, 1995, S. 27 – 107; Bd. 45, H. 1, 1995, S. 1 – 76. 31. Neukonstruktion der Unterlassungsdogmatik, Keiho Zasshi Bd. 36, H. 1, 1996, S. 91 – 106. 32. Zur Bedeutung des „eigenen Willens“ beim Rücktritt vom Versuch, Festschrift für Professor Tatsuo Kagawa (Hrsg. v. Naito/Shibahara/Nishida), Seibundo-Verlag, Tokyo, 1996, S. 309 – 339. 33. Einige Bemerkungen über die Akzessorietät von strafwürdigem Unrecht in der Teilnahmelehre, in: Festschrift für Professor Kenichi Nakayama, Bd. 3 (Hrsg. v. Shukuga/Ronbunshu/Henshu/Iinkai), Seibundo-Verlag, Tokyo, 1997, S. 295 – 318. 34. Strafwürdige Schuld – Die systematische Stellung der Lehre von der Zumutbarkeit, Festschrift für Professor Haruo Nishihara, Bd. 2, 1998, Seibundo-Verlag, S. 137 – 173. 35. Von der Adäquanztheorie zur Lehre von der objektiven Zurechnung, Hogaku Ronso (Koreanische Zeitschrift für die Hanyan-Universität in Seoul), Nr. 15, 1998, S. 389 – 400. 36. Internet und Unzucht, in: Takahashi/Matsui (Suzuki) (Hrsg.), Internet und Recht, Yuhikaku-Verlag, Tokyo, 1999, S. 65 – 91, 3. Aufl., 2004, S. 85 – 119; 4. Aufl., 2010, S. 87 – 121. 37. Eine Betrachtung zum Fall der sukzessiven Schuldunfähigkeit, Sandai Hogaku (Juristische Zeitschrift der Kyoto-Sangyo-Universität), Bd. 32, Heft 2 – 3, 1998, S. 352 – 383. 38. Die gegenwärtige Aufgabe des Umweltstrafrechts, Jurist (Sonderheft für Umweltprobleme), 1999, S. 82 – 87. 39. Der Überblick zur Lehre von der objektiven Zurechnung in Japan, Gendai Keijiho Nr. 4, 2000, S. 4 – 15. 40. Zum Rücktritt vom unbeendeten und beendeten Versuch – Zu neuen Tendenzen der deutschen Rechtsprechung, Hogaku Ronshu, Bd. 49, Heft 5, 2000, S. 22 – 81. 41. Die Struktur der Risikobeurteilung im untauglichen Versuch – die Lehre von der dualistischen Risikoprognose, Gendai Keijiho Nr. 17, 2000, S. 57 – 64. 42. Eine Betrachtung zum Strafmilderungs- und Strafbefreiungsgrund beim Rücktritt vom Versuch, in: Festschrift für Professor Koichi Miyazawa, Bd. 2 (Hrsg. v. Shukuga/Ronbunshu/Henshu/Iinkai), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2000, S. 437 – 464. 43. Normstruktur der Straftatlehre, Sandai Hogaku Bd. 34, Heft 3, 2000, S. 385 – 402. 44. Zum Verfälschungsbegriff in den Urkundsdelikten, Hogaku Ronshu, Bd. 50, Heft 5, 2000, S. 1 – 72. 45. Der Sinn des Amtsmissbrauchs, Keiho no Soten, 3. Auflage, Yuhikaku-Verlag, Tokyo, 2000, S. 252 – 253.

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46. Die zukünftige Perspektive der Strafrechtsdogmatik, Hanzai to Keibatsu Nr. 15, 2002, S. 33 – 63. 47. Amtsbezogenheit in den Bestechungsdelikten, Gendai Keijiho Nr. 39, 2002, S. 25 – 33. 48. Zur Vermögensverfügung beim Betrug, Hogaku Ronshu Bd. 52, Heft 4=5, 2003, S. 475 – 514. 49. Beihilfe durch Unterlassung, in: Keijiho no Genjitsu to Tenkai, Festschrift für Professor Seiji Saito (Hrsg. v. Atsumi/Shiibshi/Hidaka/Yamanaka/Funayama), Shinzansha-Verlag, Tokyo, 2003, S. 331 – 362. 50. Eine Betrachtung zur Vermögensverfügung beim Betrug, Keijiho no Gendaiteki Kadai (Gegenwärtige Aufgaben des Kriminalrechts), Festschrift für Professor Junji Abe (Hrsg. v. Okamoto/Odanaka/Kawabata/Tanaka), Dai Ichi Hoki-Verlag, Tokyo, 2003, S. 317 – 338. 51. Verfrühte Tatbestandsverwirklichung und Erfolgszurechnung, Gendai Shakaikatahanzai no Shomondai (Die Probleme der Straftaten von typischen modernen Gesellschaften), Festschrift für Professor Hiroshi Itakura (Hrsg. v. Nishida/Numano/Maeda/Funayama/ Ito/Shidara), Keisoshobo-Verlag, Tokyo, 2004, S. 97 – 133. 52. Die Strafrechtslehre von Ryuichi Hirano, Jurist Nr. 1281, 2004, S. 48 – 57. 53. Neue Tendenzen der Rechtsprechung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts, Keijiho Journal, Nr. 1, 2005, S. 29 – 36. 54. Zu den Aufklärungspflichten und der hypothetischen Einwilligung der Patienten, Festschrift für Professor Toshio Kamiyama, Bd. 1 (Hrsg. v. Saito/Hidaka/ Kai/Otsuka), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2005, S. 253 – 283. 55. Strafbarkeit der Beihilfe durch neutrale Handlungen?, Hogaku Ronshu Bd. 56, Heft 1, 2006, S. 34 – 134. 56. Der Sinn der „Vermeidbarkeit“ beim Fahrlässigkeitsdelikt, Kenshu 2007, Nr. 704, S. 3 – 14. 57. Dualistische Konzeption der „Risikoprognose“ in der Straftatlehre, Hogaku Ronshu Bd. 56, Heft 5 – 6, 2007, S. 177 – 194. 58. Verhaltens- und Sanktionsnorm in der Straftatlehre, Festschrift für Professor Shigetsugu Suzuki, Bd. 2 (Hrsg. v. Mitsui/Nakamori/Yoshioka/Inoue/Horie), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2007, S. 39 – 78. 59. Tatbestandslehre, Jurist Nr. 1348, Sonderausgabe 100 Jahre japanisches StGB, 2008, S. 8 – 18. 60. Gegenwärtige Bedeutung der Strafrechtstheorie von Chihiro Saeki, Keiho Zasshi Bd. 48, Heft 1, 2008, S. 104 – 120. 61. Teilnahmelehre von Chihiro Saeki, Hanzai to Keibatsu Nr. 18, 2008, S. 79 – 95. 62. Gegenwärtige Bedeutung der Straftatlehre, Hogaku Ronshu Bd. 59, Heft 2, 2009, S. 1 – 30. 63. Abstandnahme vom komplott-mittäterschaftlichen Verhältnis, in: Festschrift für Professor Niroku Tateishi (Hrsg. v. Kawabata/Shiibashi/Kai), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2010, S. 539 – 580. 64. Entstehungsgrund der Garantenpflicht bei der strafrechtlichen Produkthaftung, Hogaku Ronshu Bd. 60, Heft 5, 2011, S. 101 – 173. 65. Einführende Betrachtungen zum Medizinstrafrecht (1 – 2), Hogaku Ronshu Bd. 61, Heft 3, 2011, S. 1 – 34; Heft 4, 2011, S. 36 – 88. 66. Die gegenwärtige Bedeutung der Entstehung der modernen Verbrechenslehre in Deutschland, Horitsu Jiho, Bd. 84, Heft 1, 2012, S. 22 – 28.

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67. Einwilligung des Patienten in den ärztlichen Eingriff, Hogaku Ronshu Bd. 61, Heft 5, 2012, S. 1 – 112. 68. Die ärztliche Aufklärungspflicht (1 – 2), Hogaku Ronshu Bd. 61, Heft 6, 2012, S. 1 – 51 u. Bd. 62, Heft 1, 2012, S. 1 – 62. 69. Lehre vom Straftatsystem und von der Tatbestandslehre, Kenshu Nr. 765, März 2012, S. 3 – 20. 70. Behandlungsfehler und Lehre von der objektiven Zurechnung, in Hogaku Ronshu Bd. 62, H. 2, 2012, S. 64 – 158. 71. Behandlungsfehler und strafrechtliche Organisationshaftung, in: Hogaku Ronshu Bd. 62, H. 3, S. 1 – 71. 72. Strafrechtlicher Sinn des Eingriffs in den menschlichen Körper und den Leichnam (1 – 3) , in: Hogaku Ronshu Bd. 63, H. 2, 2013, S. 1 – 49, Bd. 63, H. 3, 2013, S. 44 – 95, Bd. 63, H. 4., 2013, S. 37 – 103. 73. Studien zum Gedenken der Strafrechtler an Kenichi Nakayama, in: Hanzai to Keibatsu (Verbrechen und Strafe), Nr. 22, 2013, S. 43 – 68. 74. Norm- und Beurteilungsstruktur bei der Lehre von der objektiven Zurechnung, in: Festschrift für Professor Takehiko Sone und Morikazu Taguchi, Bd. 1 (Hrsg. v. Takahashi/Kawakami/Terasaki/Kai/Matsubara/Ogawa), Seibundo-Verlag, Tokyo, 2014, S. 113 – 156. 75. Täterschaft und Teilnahme bei den Unterlassungsdelikten – Betrachtung über Grundgedanken und Entwicklung der Unterscheidungskriterien –, in: Festschrift für Professor Hiroshi Kawabata, 2014, Seibundo-Verlag, Bd. 1, S. 663 – 703. 76. Vermögensschaden und Geschäftszweck beim Betrug, in: Festschrift für Professor Shinji Saito, Hogaku Shinpo Bd. 121, H. 11 – 12, 2015, S. 397 – 437. 77. Über die internen Interessenkollisionen bei der Sterbehilfe – Einleitende Studien zur Lehre von der mutmaßlichen Einwilligung und dem Notstand, in: Kinki Universität Hogaku Bd. 62, H. 3 – 4 (Festschrift zur Emeritierung von Professor Masaki Yamamoto), 2015, S. 265 – 299. 78. Zu den Rechtsgütern der sexuellen Nötigung und des Missbrauchs, Kenshu Nr. 817, Juli 2016, S. 3 – 16. 79. Zum Ablauf der neueren Gesetzgebung zur Sterbehilfe und Teilnahme an der Selbsttötung in Deutschland, in: Festschrift für Professor Kazushige Asada, 2016, Seibundo-Verlag, Tokyo, 2016, S. 611 – 645. 80. Überlegungen zum Strafgrund von § 202 jap. StGB aufgrund der jüngsten Diskussion über die Teilnahme an der Selbsttötung in Deutschland, in: Festschrift für Professor Takayuki Shiibashi, Shinzansha-Verlag, Tokyo, 2016 (im Druck).

V. Veröffentlichungen in China, Korea und Taiwan 1.

Zu den abstrakten Gefährdungsdelikten im Umweltstrafrecht, in: Kan-Nichi-Hogaku Kenkyu (Koreanisch-japanische Rechtsstudien), Bd. 14, Seoul, 1995, S. 145 – 170.

2.

Die Krise der Adäquanztheorie und die Entstehung der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, Verbrechen und Strafe (Festschrift für Professor Shan-Tian Lin zum 60. Geburtstag), 1998, Wu-Nan Book Company LTD. Taipei, S. 25 – 56.

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3.

Von der Adäquanztheorie zur Lehre von der objektiven Zurechnung, – Die Tendenzen der Lehre und Judikatur in Japan, Review of Law, Nr. 15, 1998 (Hanyan Universität, Institut für Rechtswissenschaft), Seoul, S. 389 – 400.

4.

Zum Aszendentenmord in Japan, Journal of Criminal Law, Vol. 16 Special Issue 2001, The Korean Criminal Law Association, Seoul, S. 171 – 178 (Sammelband).

5.

Zur Pflichtenkollision im Strafrecht, in: Ideal und Forschung der Kriminalrechtswissenschaft (Festschrift für Professor Gan zum 60. Geburtstag), Bd. 1 (AT des Strafrechts), Xuelin Wenhua Shiye, Taipei, 2002, S. 153 – 185.

6.

Über die neuen Tendenzen der Bestrafung der High-Tech-Kriminalität in Japan, in: The New Tendency of Criminal Jurisprudence (Festschrift für Prof. Lothar Philipps zum 70. Geburtstag), Shénzho¯u túshu¯, Taipei, 2004, S. 599 – 631.

7.

Gesetzlichkeitsprinzip und Normstruktur, in: Value Pluralism, Tolerance and Law (in memoriam of Professor Arthur Kaufmann) (Hrsg. v. Liu, Shing-I), 2004, Wu-Nan Book Company LTD, Taipei, 2004, S. 621 – 641.

8.

Die Entwicklung der Lehre von der objektiven Zurechnung in der japanischen Strafrechtswissenschaft, Hanyang Law Review, Vol. 22, No. 2 (Dezember 2005), Seoul, S. 9 – 24 (Deutsch).

9.

Teilnahmeverhältnis zwischen Tun und Unterlassen, in: Strafrecht und Denken (Gedächtnisschrift für Prof. Dr. Shan-Tian Lin) 2008, Yuán zhào chu¯ baˇ n, Taipei, S. 77 – 105 (Chinesisch: S. 93 – 105).

10. Zur neuen Strafrechtsreform in Japan, in: International Conference on Contemporary Trends und Modifications of Criminal Law on December 23. 2011, Taipei, S. 1 – 13 (Zusammenfassung auf Chinesisch: S. 1 – 4). 11. Gegenwärtige Bedeutung der Straftatlehre im Strafrecht (Übersetzung von Professor Chen Jalin), Criminal Law Review, Bd. 30, 2012, S. 125. 12. Katastrophen und Fahrlässigkeitsdelikte in der gegenwärtigen Gesellschaft (Übersetzt von Professor Chou Ching-Tung), in: Tonghai Universität (Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 38, 2012), Angie-Verlag, Taichung, 2012 (Chinesisch: S. 1 – 29) (Japanisch: S. 30 – 58). 13. Zur neuen Strafrechtsreform in Japan (Übersetzung von Professor Chou Ching-Tung), National Kaohsiung Universität Law Journal, Bd. 8, H. 2, 2013, S. 37 – 65.

Autorenverzeichnis Ambos, Kai, Prof. Dr. Dr. h. c., Richter am Landgericht Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht, Platz der Göttinger Sieben 5, Blauer Turm, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Brammsen, Joerg, PD Dr., Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftstrafrecht und Gesellschaftsrecht, D-95440 Bayreuth E-Mail: [email protected] Brito, José de Sousa e, Prof. Dr., Richter am Tribunal Constitucional em., Universidade Nova de Lisboa, Faculdade de Direito, Campus de Campolide, 1099 – 032, Pt-Lisboa E-Mail: [email protected] Długosz, Joanna, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Donini, Massimo, Prof. Dr., Università degli studi di Modena e Reggio Emilia, Juristische Fakultät, Complesso San Geminiano, via San Geminiano 3, I-41121 Modena E-Mail: [email protected] Duttge, Gunnar, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Frisch, Wolfgang, Prof. Dr. Dres. h. c., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Direktor a. D., Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, D-79085 Freiburg i. Br. E-Mail: [email protected] Gössel, Karl Heinz, Prof. Dr. Dr. h. c., Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a. D. E-Mail: [email protected] Guzik-Makaruk, Ewa, Prof. Dr., Universität Białystok, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, Universität Białystok, ul. Mickiewicza 1, PL-15 – 213 Białystok E-Mail: [email protected] Haas, Volker, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Juristisches Seminar, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Heinz, Wolfgang, Prof. Dr., Universität Konstanz, Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht, Holdersteig 13, D-78465 Konstanz E-Mail: [email protected]

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Autorenverzeichnis

Hochmayr, Gudrun, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Europäisches Strafrecht und Völkerstrafrecht, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Hübner, Eleonora, Prof. Dr., Universität Salzburg, Assistenzprofessorin, Kapitelgasse 5 – 7, A5010 Salzburg E-Mail: [email protected] Jakobs, Günther, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Rechtsphilosophisches Seminar, Adenauerallee 24 – 42, D-53113 Bonn E-Mail: [email protected] Jehle, Joerg-Martin, Prof. Dr. Dr. h. c., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Kriminalwissenschaften – Abteilung für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, Platz der Göttinger Sieben 6, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr. Dr. h. c., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Kaczmarek, Tomasz, Prof. Dr. habil., Professor der Universität Wrocław und Professor der Helena-Chodkowska Hochschule für Recht in Wroclaw Email: [email protected] Kindhäuser, Urs, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Adenauerallee 24 – 42, D-53113 Bonn E-Mail: [email protected] Kowalewska-Borys, Ewa, Dr., Mgr. Iur. Comp. der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lehrstuhl für Strafprozessrecht, Universität Białystok, ul. Mickiewicza 1, PL-15 – 213 Białystok E-Mail: [email protected] Kuhlen, Lothar, Prof. Dr., Universität Mannheim, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht, Schloss-Westflügel, D-68131 Mannheim E-Mail: [email protected] Kulesza, Witold, Prof. Dr. habil., Leiter der Abteilung für materielles Strafrecht des Lehrstuhls für Strafrecht; 1998 – 2006 Leiter der Hauptkommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Polnische Nation, Universität Łódz´, Lehrstuhl für Strafrecht, ul. S. Kopcinskiego 8/12, PL90 – 232 Łódz´ E-Mail: [email protected] Lagodny, Otto, Prof. Dr., Universität Salzburg, Universitätsprofessor für österreichisches und ausländisches Straf- und Strafverfahrensrecht, sowie Strafrechtsvergleichung, Kapitelgasse 5 – 7, A-5010 Salzburg E-Mail. [email protected]

Autorenverzeichnis

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Lahti, Raimo, Prof. Dr., LL.D., M.Soc.Sc., Universität Helsinki, Juristische Fakultät, P.O. Box 4 (Yliopistonkatu 3), FIN-00014 University of Helsinki E-Mail: [email protected] Maiwald, Manfred, Prof. Dr., Universität Göttingen, Richter am Oberlandesgericht i. R., Stumpfe Eiche 69, D-37077 Göttingen E-Mail: [email protected] Małolepszy, Maciej, Prof. Dr., Lehrstuhl für Polnisches Strafrecht, Europa-Universität Viadrina/Collegium Polonicum, ul. Kos´ciuszki 1, PL-69 – 100 Słubice E-Mail: [email protected] Maxeiner, James, Prof. Dr., University of Baltimore, Institut für internationales Recht und Rechtsvergleichung, John and Frances Angelos Law Center, Room 528, 1401 N. Charles St., US-Baltimore, MD 21201 E-Mail: [email protected] Muñoz-Conde, Francisco, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Universidad Pablo de Olavide, Carretera de Utrera Km.1, E-Sevilla 41013 E-Mail: [email protected] Murmann, Uwe, Prof. Dr., Georg-August-Universität, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Platz der Göttinger Sieben 5, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Neumann, Ulfrid, Prof. Dr. Dres. h. c., Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, Grüneburgplatz 1, D-60629 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Pływaczewski, Emil, Prof. Dr., Universität Białystok, Dekan der Juristischen Fakultät, Leiter des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie, ul. Mickiewicza 1, PL-15 – 213 Białystok E-Mail: [email protected] Rengier, Rudolf, Prof. Dr., Universität Konstanz, Lehrstuhl für Strafrecht und Nebengebiete, Fach 113, D-78457 Konstanz E-Mail: [email protected] Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, Universitätsplatz 6, D-06108 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Rosenau, Henning, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristischer Bereich, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht, Universitätsplatz 6, D06108 Halle E-Mail: [email protected] Roxin, Claus, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Bindingstraße 5, D-82131 Stockdorf E-Mail: [email protected] Roxin, Imme, Dr., Roxin Rechtsanwälte LLP, Brienner Straße 9, D-80333 München E-Mail: [email protected]

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Autorenverzeichnis

Saliger, Frank, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie, Veterinärstr. 1, D-80539 München E-Mail: [email protected]ünchen.de Schmoller, Kurt, Prof. Dr., Universität Salzburg, Ordentlicher Universitätsprofessor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht, Kapitelgasse 5 – 7, A-5020 Salzburg E-Mail: [email protected] Schöch, Heinz, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug, Veterinärstr. 1, D-80539 München E-Mail: [email protected] Schroth, Ulrich, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Veterinärstr. 1, D-80539 München E-Mail: [email protected] Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Ludwigstr. 29, D-80539 München E-Mail: [email protected] Szwarc, Andrzej J., Prof. Dr. Dr. h. c., Deutsch-Polnisches Forschungsinstitut am Collegium Polonicum in Słubice und Frankfurt (Oder) und Adam-Mickiewicz-Universität, ul. S´w. Marcin 90, PL 61 – 809 Poznan´ E-Mail: [email protected] Ünver, Yener, Prof. Dr. h. c., Özyeg˘ in Universität Istanbul, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtstheorie, Kusbakisi Cad. No: 2 34662 Üsküdar-Istanbul, TK E-Mail: [email protected] Vormbaum, Moritz, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte, Bebelplatz 2 (Kommode), D-10099 Berlin E-Mail: [email protected] Vormbaum, Thomas, Prof. Dr. Dr., Fernuniversität Hagen, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Institut für juristische Zeitgeschichte, D-58084 Hagen E-Mail: [email protected] Werle, Gerhard, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte, Bebelplatz 1 (Kommode), D-10099 Berlin E-Mail: [email protected] Wittmann, Roland, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder); jetzt: Rechtsanwalt in der Kanzlei Ogletree and Deakins, Fasanenstraße 77, D-10623 Berlin E-Mail: [email protected]

Autorenverzeichnis

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Yamanaka, Junko, Staatsanwältin in Japan, Zweigstelle Matsumoto der Staatsanwaltschaft Nagano (z. Z.), LL.M. (LMU München) E-Mail: [email protected] Yamanaka, Yuri, Prof. Dr., Kansai-Universität, Politikwissenschaftliche Fakultät, 3 – 3 – 35 Yamate-cho, Suita-shi, JP-Osaka 564 – 8680 E-Mail: [email protected]