Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts: Festschrift für Professor Dr. Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428538225, 9783428138227

Die Festschrift ehrt Prof. Dr. Meinhard Schröder zu seinem 70. Geburtstag am 19. Mai 2012. Der in München geborene Staat

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Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts: Festschrift für Professor Dr. Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428538225, 9783428138227

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1215

Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts Festschrift für Professor Dr. Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Matthias Ruffert

Duncker & Humblot · Berlin

MATTHIAS RUFFERT (Hrsg.)

Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1215

Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts Festschrift für Professor Dr. Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Matthias Ruffert

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13822-7 (Print) ISBN 978-3-428-53822-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83822-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 19. Mai 2012 feiert Prof. Dr. Meinhard Schröder seinen 70. Geburtstag. Ihm zu gratulieren und ihn zu ehren, haben Kollegen und Freunde diese Festschrift verfaßt. Meinhard Schröder ist Münchner (und soll dem Vernehmen nach auch des bayerischen Idioms mächtig sein). Zum Studium der Rechtswissenschaft ging er nach Mainz und Frankfurt; 1966 legte er das Erste Staatsexamen ab. Seine 1969 erschienene Dissertation zu den „wohlerworbenen Rechten“ der Bediensteten in der Rechtsprechung des EuGH bei Karl-Josef Partsch ist eine Pionierleistung – wer hatte in den 1960er Jahren schon erkannt, welche Bedeutung das Recht der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsprechung ihres Gerichtshofs einst erlangen würden? Wenig später wurde auf den begeisterten Teilnehmer des Seminars von Ernst Friesenhahn dessen Lehrstuhlnachfolger aufmerksam, der frisch und jung berufene Fritz Ossenbühl, der Meinhard Schröder an der Bonner Fakultät als Assistenten einstellte. Kurz zuvor hatte der heutige Jubilar am Institut Universitaire des Hautes Êtudes Internationales in Genf seine völkerrechtlichen Studien vervollständigt. 1977 habilitierte sich Meinhard Schröder an der Bonner Fakultät. Neben der Habilitationsschrift zu Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts hat er in den beiden im Habilitationsverfahren gehaltenen Vorträgen aktuelle Fragen der Zeit aufgegriffen, nämlich die Geiselbefreiung von Entebbe (Uganda) durch israelische Einheiten sowie die versuchte Erpressung der Bundesregierung durch die Terroristen der RAF. Auf sein reiches Schriftenverzeichnis wird noch öfter zurückzukommen sein; es befindet sich im Anhang zu dieser Festschrift. 1978 berief die wenige Jahre vorher gegründete Universität Trier Meinhard Schröder an ihren Fachbereich Rechtswissenschaft. Der Trierer Fakultät blieb er bis zur Emeritierung treu und amtierte zweimal als ihr Dekan. Mit seiner Frau Brigitte Schröder-Lemmerz und den beiden Kindern wählte er Mertesdorf im Ruwertal als Wohnsitz der Familie. In Trier gelang es Meinhard Schröder, der ganzen Breite seiner Forschungsinteressen nachzugehen – und man findet nur selten Fachvertreter des Öffentlichen Rechts, die derart prominent sowohl im Völker- und Europarecht als auch im deutschen Staats- und Verwaltungsrecht publiziert haben. Auch diese Festschrift soll die Weite seiner Forschungstätigkeit widerspiegeln. Als besonders sichtbare Forschungsfelder seien nur zwei genannt: Meinhard Schröder wurde 1989 Direktor des Instituts für Umwelt- und Technikrecht an der Universität Trier, dessen Bedeutung

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Vorwort

für die Entwicklung des Umweltrechts in Deutschland jedem Kundigen geläufig ist und kaum überschätzt werden kann. In diesem Zusammenhang war er 1995 Gastprofessor in Utrecht, was nicht nur den intensiven Kontakt zu dieser berühmten niederländischen Fakultät begründete, sondern auch in Gestalt der Antrittsvorlesung eine der weltweit ersten Publikationen zum Prinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development) aus rechtswissenschaftlicher Sicht hervorbrachte. Aber auch über das Umweltvölker- und Umwelteuroparecht hinaus prägte Meinhard Schröder die Arbeit des Instituts nachhaltig – um im Begriff zu bleiben – sei es als Mitherausgeber der renommierten Schriftenreihe, als Mitorganisator des jährlichen Kolloquiums oder bei der Betreuung der Doktoranden im Graduiertenkolleg. Er ist zudem Mitglied des Kollegiums der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Ein zweites nicht zu vergessendes Forschungsfeld ist das Parlamentsrecht, das Meinhard Schröder auch in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages pflegte. Sein Gutachten für den Deutschen Juristentag in Mainz 1988 zum Recht der Untersuchungsausschüsse wirkt noch im erst über zehn Jahre später erlassenen Gesetz (Untersuchungsausschußgesetz – PUAG) nach, und allen Mitarbeitern sowie bestimmt auch dem Lehrstuhlinhaber selbst ist das Forschungs-Sommersemester 2000 in Erinnerung, als Meinhard Schröder beinahe täglich gefragt war, über den Untersuchungsausschuß zur CDU-Spendenaffäre in den Medien Rede und Antwort zu stehen. Wissenschaftliche Expertise ist offensichtlich – nochmals – nachhaltiger als mediale Aktualität, denn während Meinhard Schröders Forschungsergebnisse ihre Bedeutung nicht eingebüßt haben, sind dubiose Vermächtnisse, mysteriöse Spenden und der berühmte schwarze Koffer schon lange im kollektiven Bewußtsein nicht mehr präsent. Die genannten Forschungsfelder decken seine Tätigkeit keineswegs ab. So war Meinhard Schröder auch mehrere Jahre Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Verwaltung“, Berater in Sarajevo im Auftrag des Auswärtigen Amtes zur Umsetzung des Dayton-Abkommens (1996) und 24 Jahre lang Richter im Nebenamt am Oberverwaltungsgericht in Koblenz, eine Tätigkeit, die er besonders schätzte – sicher nicht nur wegen der Zuständigkeit seines Senats für das Weinrecht. Zahllose Studenten näherten sich in seinen Vorlesungen den schwierigen Fragen des Öffentlichen Rechts, zahlreiche Doktoranden und ein Habilitand genossen an seinem Lehrstuhl die akademische Freiheit, die allein wissenschaftliche Leistung ermöglicht und die man in dieser Weise nur selten findet. Entsprechend erfolgreich sind denn auch die Doktoranden in allen juristischen Berufen tätig, von der EU-Kommission bis zur Bundes- und Landesministerialverwaltung, von der Justiz bis zur Bundesbank, von Auslandsvertretungen bis zur Anwaltschaft. Wer am Lehrstuhl oder im Institut als Mitarbeiter forschen durfte, kam auch in den Genuß der berühmten Lehrstuhlausflüge, die dank der großen Neigung Meinhard Schröders zum Wandern auch echte Ausflüge und nicht bloß um einen Spaziergang angereicherte gemeinsame Abendessen waren. Es bleibt dem Herausgeber noch die angenehme Pflicht zu danken: den Autoren für die angenehme Kooperation und die bereichernden Beiträge, Herrn Dr. Meinhard

Vorwort

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Schröder, München, dem Sohn des Jubilars, für die Unterstützung des im Vorfeld eines solchen Vorhabens unvermeidlichen investigativen Journalismus besonderer Art, meiner Mitarbeiterin Juliane Rau sowie meiner Sekretärin Susanne Prater für die glänzende organisatorisch-technische Begleitung der Festschrift sowie dem Verlag Duncker & Humblot und seinem Leiter, Herrn Dr. Florian Simon, LL.M., für die Aufnahme in die „Schriften zum Öffentlichen Recht“ und die hervorragende verlegerische Betreuung. Dem Jubilar im Namen aller Autoren herzliche Glückwünsche und – ad multos annos! Jena, im Januar 2012

Matthias Ruffert

Inhaltsverzeichnis

I. Das Völkerrecht der Internationalen Gemeinschaft Oliver Fehrenbacher und Philipp Jost Völkerrecht und nationale Umsetzung – Probleme aus dem Bereich des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan von Hein Konflikte zwischen völkerrechtlichen Übereinkommen und europäischem Sekundärrecht auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . .

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Eckart Klein Völkerrechtsschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kerstin Odendahl Regimewechsel im Lichte des Interventionsverbots: die Ereignisse in der Elfenbeinküste im Jahr 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Ruffert Gedanken zu den Perspektiven der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre . . . . .

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Thomas Rüfner Historische Bemerkungen zur Regel male captus bene detentus . . . . . . . . . . . . .

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II. Europäisches Verfassungsund Verwaltungsrecht Peter Bülow Europäisches Sekundärrecht in den Privatrechten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . 109 Matthias Cornils Der Fall Ungarn und die Medienfreiheit in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Thomas von Danwitz Der Gerichtshof der Europäischen Union im Verbund der Gerichtsbarkeiten in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhaltsverzeichnis

Udo Di Fabio Der Auftrag zur europäischen Integration und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . 169 Diederich Eckardt Die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen in der Insolvenz . . . . . . . . . 181 Sebastian Krebber Das Verhältnis von Arbeitsrecht und Binnenmarktrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wolfgang Löwer Staatsangehörigkeitsvorbehalt – Unionsrecht – Notare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Jörg Pirrung Ernste Gefahr für Einheit und Kohärenz des Unionsrechts? – Zum Verfahren der EU-Gerichte in der Rechtssache M/EMEA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Thomas Raab Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Hans-Werner Rengeling Entwicklungen allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union . . . . . 271 Thomas Würtenberger Entwicklungslinien des Sicherheitsverfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

III. Parlament und Regierung Peter Badura Plebiszitäre Ergänzung oder Verformung des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Michael Brenner Die Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt Eine verfassungsrechtlich gangbare und praktikable Option? . . . . . . . . . . . . . . . 319 Peter M. Huber Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Michael Kloepfer Grundgesetz, Wende, Wiedervereinigung – Die Anpassung des Grundgesetzes im Prozess der deutschen Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Fritz Ossenbühl Outsourcing von Gesetzentwürfen – ein Scheinproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Inhaltsverzeichnis

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Gerhard Robbers Die Drittintervention vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Überlegungen zu einigen Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Meinhard Schröder Die Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Maximilian Wallerath Was schuldet der Gesetzgeber? – Parlamentarische Gesetzgebung zwischen Dezision und Systemrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Rudolf Wendt Sperrklauseln im Wahlrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

IV. Nachhaltigkeit und Umweltschutz Chris Backes Hauptsache wir haben einen guten Plan! – Effektiver Rechtsschutz zur Einhaltung von Immissionsgrenzwerten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Rüdiger Breuer Flussgebietsgemeinschaften aus europa-, verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Martin Burgi Das Emissionshandelsrecht als unterschätzter Kontrollgegenstand im europäischen Verfassungsgerichtsverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Christian Calliess Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung: Zur Konkretisierung eines politischen Konsensbegriffs durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Bernd Hecker Die Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts (§ 330d Abs. 2 StGB n.F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Christian Heitsch Promoting Equity, Safeguarding Ecological Sustainability, and Building Energy Resilience – A Case for Reorienting ÐSustainable DevelopmentÏ in View of New and Emerging Challenges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Reinhard Hendler Raumordnungsplanerische Mengenziele zur Windkraftnutzung . . . . . . . . . . . . . 567

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Inhaltsverzeichnis

Walter F. Lindacher Wandlungen in der lauterkeitsrechtlichen Beurteilung umweltbezogener Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Peter Marburger Zivilrechtliche Aspekte „virtueller Kraftwerke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Alexander Proelß Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Pulp Mills-Fall und seine Bedeutung für die Entwicklung des Umweltvölkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Peter Reiff Die Anwendbarkeit der §§ 31 und 831 BGB im Rahmen der Handlungshaftung für Gewässerschäden aus § 89 Abs. 1 WHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 V. Der Kontext des Öffentlichen Rechts Rolf Birk Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Arbeitsrecht und Kollisionsrecht . . . . . 643 Johann Braun Funktion und prozessuale Behandlung der Zuständigkeit im Zivilprozeß . . . . . . 657 Peter Krause Ein Druckfehler in Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre oder von der Möglichkeit des reinen Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 Volker Krey und Philipp Reiche unter Mitarbeit von Thomas Roggenfelder Wider die Überdehnung von Richtervorbehalt und richterlichem Bereitschaftsdienst – Zugleich ein Beitrag zur Problematik der Entnahme von Blutproben (§ 81a Abs. 1 und 2 StPO) – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719

I. Das Völkerrecht der Internationalen Gemeinschaft

Völkerrecht und nationale Umsetzung – Probleme aus dem Bereich des Steuerrechts Von Oliver Fehrenbacher und Philipp Jost

I. Einleitung Wie wichtig das Völkerrecht für die einzelnen Staaten, aber auch für die Bürger geworden ist, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen. Wie schwer aber der Umgang mit dem Völkerrecht und der innerstaatlichen Gewaltenteilung sein kann, zeigen zwei aktuelle Sachverhalte mit steuerrechtlichem Bezug ganz deutlich, die nicht nur zu Entscheidungen des BFH geführt1, sondern darüber hinaus eine Gesetzesänderung veranlasst haben (§ 2 Abs. 2 AO)2. Es ging in den steuerrechtlichen Entscheidungen um die Bindungswirkung von Verständigungsvereinbarungen auf der Grundlage eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA), also eines völkerrechtlichen Vertrags zur Vermeidung einer internationalen Doppelbesteuerung. Konkret war die Rechtswirkung einer völkerrechtlich verbindlichen Konsultationsvereinbarung zwischen dem BMF und der ausländischen Finanzverwaltung des jeweiligen DBA-Vertragsstaats bezogen auf den konkreten Steuerfall zu klären. Eine Materie, die anschaulich vor Augen führt, wie wichtig das Verständnis des Zusammenspiels von Völkerrecht und nationalem (Steuer)Recht ist. Ein Rechtsgebiet, das der Jubilar in seiner ausgesprochen erfolgreichen juristischen Karriere über Jahrzehnte mit geprägt hat. Bevor auf die beiden bereits erwähnten Entscheidungen des BFH und die daraus folgende Gesetzesänderung näher einzugehen ist, soll die völkerrechtliche Vereinbarung zur Vermeidung einer internationalen Doppelbesteuerung, das DBA, und dessen nationale Rechtswirkung kurz ausgeführt werden. Im Anschluss daran werden die Entscheidungen des BFH erörtert und die Reaktion des Gesetzgebers kritisch in den Blick genommen. Am Ende steht ein Ausblick auf künftige Fragestellungen.

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BFH, IStR 2009, 814 ff., IStR 2009, 817 ff. BGBl. I 2010, S. 1768.

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II. Das Recht der Doppelbesteuerungsabkommen Das Internationale Steuerrecht umfasst neben den speziellen innerstaatlichen Vorschriften im EStG, KStG oder AStG als formelle und materielle Gesetze auch völkerrechtliche Normen. Hierzu zählen die in § 2 Abs. 1 AO erwähnten DBA, welche ihrer Rechtsnatur nach völkerrechtliche Verträge sind, deren Zielsetzung in der Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung liegt. 1. Rechtsnatur Geht man von der verfassungsrechtlichen Einordnung aus, gehören die Regelungen in den DBA nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG, da sie nicht von der überwiegenden Mehrheit der Staaten der Völkergemeinschaft als verpflichtend angesehen werden.3 DBA sind vielmehr dem völkerrechtlichen Vertragsrecht zuzuordnen und begründen ausschließlich Rechte und Pflichten zwischen den Vertragsstaaten als den Völkerrechtssubjekten. DBA können für die Vertragsstaaten aber gerade keine neuen Steueransprüche begründen, sondern dienen lediglich als Zuweisungsnormen für die nach den jeweiligen nationalen Vorschriften begründeten Steueransprüche.4 Das formelle Recht der DBA als bilaterales Abkommen orientiert sich an dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV) vom 23. Mai 19695. Dem Abschluss eines DBA geht regelmäßig ein mehrphasiger Prozess voraus. Die Vertragsverhandlungen zwischen den beiden beteiligten Staaten führen auf der ersten Stufe zunächst zur Paraphierung, also der vorläufig verbindlichen Festlegung des Abkommenstexts, entsprechender Protokolle und sonstigem Schriftverkehr. Hierin liegt noch keine völkerrechtlich bindende Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Annahme des Vertrags. Diese erfolgt erst im Anschluss an die konkreten Umsetzungshandlungen auf nationaler Ebene im Rahmen der präventiven parlamentarischen Regierungskontrolle. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG regelt insoweit, dass völkerrechtliche Verträge der parlamentarischen Zustimmung bedürfen. Dabei wird auf Initiative der Bundesregierung dem Bundestag und nach Art. 105 Abs. 3 GG auch dem Bundesrat der Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum jeweiligen DBA sowie die Protokolle und der bestehende Schriftverkehr vorgelegt. Das im Bundestag, unter Zustimmung des Bundesrats nach Art. 78 GG, zu verabschiedende Zustimmungsgesetz wird durch den Bundespräsidenten ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Der Vertragsinhalt wird auf diesem Wege innerstaatliches Recht, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Vertrag nach Maßgabe des Völkerrechts auch tatsächlich in Kraft tritt.6 Anschließend wird der Vertragstext von den Vertragsstaaten ratifiziert und mit dem Austausch der Ratifikati3

Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 (08/2000), Rn. 20. Grotherr/Herfort/Strunk, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., 2010, S. 535. 5 BGBl. II 1985, S. 926 (Umsetzung des Zustimmungsgesetzes). 6 Vogel, in: ders./Lehner (Hrsg.), DBA, 5. Aufl., 2008, Einl., Rn. 61 spricht von einem Anwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes. 4

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onsurkunden tritt die bindende Wirkung des völkerrechtlichen Vertrags ein. Organisatorisch ist die Ratifizierung dem Bundespräsidenten zugewiesen (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG), der für den konkreten Fall durch das Vertragsgesetz zur Ratifizierung ermächtigt wird.7 2. Inhalt und Funktionsweise eines DBA Die im Steuerrecht maßgebenden und anerkannten Prinzipien der Universalität und Totalität auf der einen Seite und dem Territorialitäts- und Quellenprinzip auf der anderen Seite, die sich in der unbeschränkten und beschränkten Steuerpflicht spiegeln, können zu Steueransprüchen mehrerer Staaten aufgrund des gleichen Sachverhalts führen. Die jeweils an den gleichen Prinzipien orientierte Steuersouveränität der Staaten lässt aufgrund der entstehenden Überschneidungen der Besteuerungsrechte Doppelbesteuerungen entstehen. Zu unterscheiden ist hier zwischen einer Mehrfachbelastung, der sog. wirtschaftlichen Doppelbesteuerung einerseits und der juristischen Doppelbesteuerung andererseits.8 Im erstgenannten Fall tritt die Doppelbelastung bei unterschiedlichen Steuersubjekten ein, beispielsweise die Belastung der ausschüttenden Gesellschaft mit Körperschaftsteuer und die Besteuerung der ausgeschütteten Dividende in den Händen des Anteilseigners. Die juristische Doppelbesteuerung zeichnet sich durch Steuersubjektidentität aus, d. h., eine Steuerquelle wird bei demselben Steuerpflichtigen doppelt besteuert. DBA sollen solche Effekte aus der juristischen Doppelbesteuerung dadurch abmildern, dass die Vertragsstaaten die Besteuerungsbefugnisse untereinander aufteilen.9 In der Literatur wird insofern teilweise eine Schrankenwirkung der völkerrechtlichen Verträge hergeleitet.10 Der gegenseitige Besteuerungs- und Steuerverzicht wird durch die Besteuerung im Quellenstaat nach den Art. 6 bis 21 OECD-MA und der Verpflichtung des Wohnsitzstaats zur Steuerfreistellung oder Steueranrechnung nach Art. 23 A/ Art. 23B OECD-MA umgesetzt. Das OECD-MA wird hier vereinfachend als Regelungs- und Zitiergrundlage gewählt, obwohl das OECD-MA selbst kein völkerrechtlicher Vertrag ist und keinen Rechtsnormcharakter hat.11 Es dient lediglich als Empfehlung der OECD für die Staaten, sich an der Konzeption des Musterabkommens für den Abschluss des konkreten bilateralen Abkommens zu orientieren. Von dem auf bilateraler Ebene bestehenden und hier angesprochenen Regelungskomplex zu un-

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Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 59 (01/2009), Rn. 95. Lang, in: Tipke/ders., Steuerrecht, 20. Aufl., 2010, § 7, Rn. 41; zur wirtschaftlichen Doppelbesteuerung mit europarechtlichem Bezug: Hey, Vorrecht des Quellenstaates und binnenmarktkonforme Besteuerung von Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union, in: FS für Harald Schaumburg, 2009, S. 767 (784 ff.). 9 Vogel, in: ders./Lehner (Fn. 6), Einl., Rn. 70. 10 So Debatin, Doppelbesteuerungsabkommen und innerstaatliches Recht, DStR 1992, Beiheft zu Heft 23, 1 (2); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., 2011, Rn. 16.5. 11 Haase, in: ders. (Hrsg.), AStG/DBA, 2009, Kapitel II, Einl., Rn. 6 ff. 8

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terscheiden sind unilaterale Maßnahmen der Staaten, Doppelbesteuerungen ihrer unbeschränkt Steuerpflichtigen12 zu vermeiden (z. B. §§ 34c, 34d EStG, 26 KStG). 3. Unterschiedliche Regelungsebenen Probleme bei der Anwendung von DBA entstehen insbesondere dann, wenn Abkommen auf innerstaatliche Normen Bezug nehmen und die Vertragsstaaten hier verwendete Ausdrücke nach ihrem eigenen Recht interpretieren (vgl. Art. 3 Abs. 2 OECD-MA). Oftmals kommt es zu voneinander abweichenden Auslegungen, die entweder in einer doppelten Besteuerung oder aber einer doppelten Nichtbesteuerung des Vorgangs (sog. „weiße Einkünfte“) resultieren. Hier spricht man von positiven Qualifikationskonflikten, d. h. beide Vertragsstaaten machen infolge der innerstaatlichen Rechtsanwendung ihr Besteuerungsrecht geltend bzw. von negativen Qualifikationskonflikten, d. h. beide Staaten sehen aufgrund ihrer (nationalen) Rechtsordnung den jeweils anderen Staat als zur Besteuerung des in Frage stehenden Vorgangs berechtigt an.13 4. Verständigungsvereinbarungen Im Zusammenhang mit den geschilderten Konfliktsituationen erlangen auch die hier näher zu beleuchtenden Verständigungsvereinbarungen Bedeutung. Kommt es aufgrund der unterschiedlichen Auslegung oder Anwendung eines Abkommens zu Schwierigkeiten oder Zweifeln, bemühen sich die Vertragsstaaten im gemeinsamen Einvernehmen gemäß Art. 25 Abs. 3 Satz 1 OECD-MA, diese im sog. Konsultationsverfahren zu beseitigen. Das Vereinbarungsverfahren für Fälle der Doppelbesteuerung, die im Abkommen nicht behandelt sind, wird explizit in Art. 25 Abs. 3 Satz 2 OECD-MA erwähnt. Art. 25 Abs. 4 OECD-MA gestattet den zuständigen Behörden zur Erzielung einer Vereinbarung direkte Verhandlungen miteinander aufzunehmen.14 Die Verfahren werden allerdings nicht von Amts wegen durch die beteiligten Steuerbehörden eingeleitet, sondern sind auf Antrag des Steuerpflichtigen durchzuführen.15 In Deutschland ist der Antrag entweder an das nach §§ 17 ff. AO örtlich zuständige Finanzamt, das den Antrag an das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) zur Entscheidung weiterleitet, oder aber direkt an das BZSt zu richten. Die zuständige Landesfinanzverwaltung wird zur Abgabe einer Stellungnahme seitens des BZSt aufgefordert. Die aufgrund der souveränen Steuerrechtsordnungen der be12

Eine Ausnahme bildet § 50 Abs. 3 EStG. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung: deutsche Investitionen im Ausland; ausländische Investitionen im Inland, 7. Aufl., 2011, S. 520; Grotherr/Herfort/Strunk (Fn. 4), S. 538; Haase, Steueranrechnung bei divergierender Einkünftezurechnung und Qualifikationskonflikten, IStR 2010, 45 (46 ff.). 14 Im Detail: BMF-Schreiben vom 13. 07. 2006, BStBl. I 2006, S. 461 ff. 15 Schmidt, Die gesetzlichen Grundlagen von Verständigungsverfahren und Schiedssprüchen sowie deren Umsetzung nach § 175a AO, SteuerStud 2010, 60 (61). 13

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teiligten Staaten entstehende Doppelbesteuerung kann auch zum Scheitern der Verständigungsverhandlungen führen, sofern keiner der Staaten bereit ist, zumindest teilweise auf seine Steuersouveränität zu verzichten. In diesem Fall steht dem Steuerpflichtigen immerhin noch die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens nach Art. 25 Abs. 5 OECD-MA offen. Zu beachten ist, dass das erst im Rahmen der Änderung des OECD-MA 2008 eingeführte Schiedsverfahren auf bestehende DBA keine Auswirkung hat. Deshalb ist in jedem Einzelfall die Möglichkeit der Anwendung von zum Teil in DBA-Schiedsklauseln unterschiedlich ausgestalteten Schiedsverfahren zu prüfen.16 5. Verfahrensrechtliche Umsetzung im Steuerbescheid Die Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen für Zwecke der Besteuerung des Einzelfalls erfolgt mit Hilfe der besonderen Korrekturvorschrift des § 175a AO, da die erlassenen Steuerverwaltungsakte oftmals bereits bestandskräftig sind. Steuerbescheide können nach § 175a AO erlassen, aufgehoben oder geändert werden, soweit dies für die Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung erforderlich ist.17 Dagegen sind tatsächliche Verständigungen zwischen dem Steuerpflichtigen und der zuständigen Finanzbehörde keine Verständigungsvereinbarungen im Sinne von Art. 25 OECD-MA und werden von § 175a AO nicht erfasst.18

III. BFH-Verfahren Die Bindungswirkung von zwischen DBA-Staaten getroffenen Verständigungsvereinbarungen auf Grundlage von Art. 25 Abs. 3 OECD-MA beschäftigte den BFH in zwei Verfahren. Einerseits ging es um eine Regelung im Hinblick auf das DBA-Belgien19 und andererseits um eine ganz ähnliche Regelung vor dem Hintergrund des DBA-Schweiz20. Gegenstand der Entscheidungen war jeweils die Frage, ob völkerrechtlich verbindliche Konsultationsvereinbarungen zwischen dem BMF und der ausländischen Finanzverwaltung des DBA-Vertragsstaats in Bezug auf die Anwendung einer DBA-Regelung auch vor nationalen Gerichten bindende Wirkung für die Besteuerung eines Einzelfalls entfalten. 1. BFH, Urt. vom 02. 09. 2009 – I R 90/08 Im ersten Ausgangssachverhalt erzielte ein belgischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Belgien Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit in Deutschland. 16 17 18 19 20

Bödefeld/Kuntschik, Schiedsverfahren nach DBA, IStR 2009, 449 ff. Koenig, in: Pahlke/ders. (Hrsg.), AO, 2. Aufl., 2009, § 175a, Rn. 5. BFH, BFH/NV 2002, 1012. BFH, IStR 2009, 814 ff. BFH, IStR 2009, 814 ff.

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Der Steuerpflichtige beantragte die Einkommensteuerveranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG und galt somit fiktiv als in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung erhielt er im konkreten Veranlagungszeitraum eine Abfindung, die abzüglich des anwendbaren Freibetrags aus § 3 Nr. 9 EStG a.F. nach § 34 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 24 Nr. 1 EStG der ermäßigten Besteuerung unterzogen wurde. Das Besteuerungsrecht Deutschlands im Hinblick auf die Abfindung leitete die deutsche Finanzverwaltung aus der nach Art. 25 Abs. 3 DBA-Belgien mit der belgischen Finanzverwaltung geschlossenen Verständigungsvereinbarung21 ab. 2. BFH, Urteil vom 02. 09. 2009 – I R 111/08 Im zweiten Ausgangssachverhalt war eine italienische Staatsangehörige nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses von Deutschland in die Schweiz gezogen und begründete dort ihren Wohnsitz. Die Steuerpflichtige kündigte ihr Dienstverhältnis in Deutschland gegen Zahlung einer Abfindung vorzeitig. Die beantragte Freistellung der zu erwartenden Abfindung vom Lohnsteuerabzug nach § 39b Abs. 6 EStG i.V.m. Art. 15 Abs. 1 DBA-Schweiz wurde mit Verweis auf die zwischen dem BMF und der Eidgenössischen Finanzverwaltung geschlossenen Verständigungsvereinbarung22 gemäß Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz (entspricht Art. 25 Abs. 3 OECD-MA) abgelehnt. Die Besteuerung der Abfindung erfolgte in Deutschland.

IV. Rechtliche Würdigung Zunächst ist festzustellen, dass beiden Konstellationen ein aus steuerlicher Sicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde liegt, sodass die rechtlichen Erwägungen einheitlich erfolgen können. Im erstgenannten Verfahren (I R 90/08) erzielte der in Belgien wohnhafte, aber aufgrund von § 1 Abs. 3 EStG in Deutschland fiktiv unbeschränkt Steuerpflichtige durch sein Angestelltenverhältnis laufenden Arbeitslohn nach § 19 EStG in Deutschland. Die in Frage stehende Abfindung wird zumindest nach deutschem Recht ebenfalls als Arbeitslohn gemäß § 19 EStG qualifiziert und wegen des außerordentlichen Umstands dem ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 24 Nr. 1 EStG unterworfen.23 Nach dem zwischen Deutschland und Belgien geschlossenen DBA stand Deutschland als Quellenstaat das Besteuerungsrecht zweifelsfrei allerdings nur für die laufenden Einkünfte aus unselbstständiger Arbeit zu (Art. 15 Abs. 1 DBA-Belgien), nicht aber für Abfindungen, die anlässlich der Beendigung des Dienstverhältnisses bezahlt werden.

21 22 23

BStBl. I 2007, S. 261. BStBl. I 1997, S. 560. Drenseck, in: Schmidt, EStG, 30. Aufl., 2011, § 19, Rn. 50.

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Im zweitgenannten und ebenfalls am 2. September 2009 entschiedenen Verfahren (I R 111/08) erzielte die in Deutschland aufgrund ihres Wohnsitzes unbeschränkt steuerpflichtige Person zunächst im Rahmen ihres Angestelltenverhältnisses in Deutschland laufende Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit. Mit dem Umzug in die Schweiz und der dortigen Begründung eines ausschließlichen Wohnsitzes war die zu erwartende und ebenfalls als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 19 EStG) einzuordnende Abfindungszahlung in Deutschland grundsätzlich der beschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 4 EStG i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 4 lit. d EStG zu unterwerfen. Insoweit beantragte die Steuerpflichtige aber die Freistellung vom Lohnsteuerabzug nach § 39b Abs. 6 EStG i.V.m. Art. 15 Abs. 1 DBA-Schweiz mit der Begründung, dass Abfindungen anlässlich der Beendigung eines Dienstverhältnisses nicht für die Ausübung der Tätigkeit im anderen Vertragsstaat bezahlt werden. Problematisch erweist sich daher in beiden Sachverhalten die Zuweisung des Besteuerungsrechts im Hinblick auf Abfindungszahlungen vor dem Hintergrund der Regelungen in den einschlägigen DBA. 1. Verteilung der Besteuerungsbefugnisse nach DBA Die Besteuerung von Einkünften aus unselbstständiger Arbeit ist in Art. 15 Abs. 1 DBA-Belgien wortgleich mit Art. 15 Abs. 1 DBA-Schweiz geregelt und bestimmt, dass Löhne, Gehälter und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbstständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat besteuert werden können, es sei denn, dass die Arbeit in dem anderen Vertragsstaat ausgeübt wird. Wird die Arbeit dort ausgeübt, so können die dafür bezogenen Vergütungen in dem anderen Staat besteuert werden. Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung in Art. 15 Abs. 2 der jeweiligen DBA lagen ersichtlich nicht vor. Das insoweit in Art. 15 Abs. 1 OECD-MA verwirklichte Tätigkeitsortprinzip24 als Maßstab für die Zuweisung des Besteuerungsrechts wird nach der Rechtsprechung des BFH in Bezug auf Arbeitnehmer-Abfindungen für nicht anwendbar erachtet. Abfindungen anlässlich der Beendigung eines Dienstverhältnisses sind nach Ansicht des BFH nicht im Tätigkeits-, sprich Quellenstaat zu besteuern, sondern im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen.25 Unbeschadet der Qualifikation nach nationalen Bestimmungen vertritt der BFH die Auffassung, dass es sich bei Abfindungen nicht um ein zusätzliches Entgelt für eine frühere Tätigkeit handelt, wie dies aber von Art. 15 Abs. 1 DBA-Belgien/-Schweiz vorausgesetzt wird.26 Abfindungen werden vielmehr regelmäßig für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt, weshalb die für die Einordnung nach dem Quellenstaatsprinzip maßgebliche Verknüpfung zur tatsächlichen Tätigkeit fehlt. Der bloße Anlasszusammenhang zwischen Tätigkeit und Zahlung genügt insoweit allein nicht. Das wird auch durch den jeweiligen Ab24 25 26

Wassermeyer, in: Debatin/ders. (Hrsg.), DBA, Art. 15 (Stand: Okt. 2011), Rn. 31. St. Rspr. BFHE 222, 560 ff. BFH, IStR 2009, 818; IStR 2009, 815.

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kommenstext belegt, der in dieser Hinsicht von „dafür“ bezogenen Vergütungen spricht. Dieser Sicht der Dinge ist im Übrigen auch das BMF in seinem Schreiben vom September 2006 zur Besteuerung von Arbeitslohn nach DBA gefolgt.27 Im Gegensatz hierzu verstanden die Finanzbehörden bzw. Gerichte in Belgien und der Schweiz den Abkommenstext anders und überließen auch im Hinblick auf Abfindungszahlungen das volle Besteuerungsrecht der deutschen Finanzverwaltung aufgrund der Zuweisung an den Tätigkeitsstaat. Daraus folgt zumindest die Gefahr des bereits zuvor beschriebenen negativen Qualifikationskonflikts, der zu sog. „weißen“, also nichtbesteuerten Einkünften führt.28 Zur Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung hat das BMF auf Grundlage von Art. 25 Abs. 3 DBA-Belgien und Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz Verständigungsvereinbarungen mit den jeweiligen ausländischen Finanzbehörden über die konkrete Zuordnung des Besteuerungsrechts bei Arbeitnehmerabfindungen geschlossen. Darin wurde jeweils eine differenzierte Lösung vereinbart. Ausschlaggebend für die Wahrnehmung des Besteuerungsrechts ist danach, ob der Abfindung ein Versorgungscharakter zukommt. Kann ein Versorgungscharakter festgestellt werden, führt dies zu einer Besteuerung der Abfindung im Wohnsitzstaat. Handelt es sich bei der Abfindung dagegen um eine Nachzahlung von Löhnen, Gehältern oder Tantiemen bzw. anderen Vergütungen aus dem ursprünglichen Arbeitsverhältnis, soll die Besteuerung im vormaligen Tätigkeitsstaat erfolgen.29 Umstritten war in den Fallgestaltungen aber die Bindungswirkung einer derartigen Vereinbarung. 2. Bindungswirkung nach nationalem Recht Zunächst sind die verschiedenen Wirkebenen einer Verständigungsvereinbarung zu unterscheiden. Es muss zwischen drei Ebenen differenziert werden: Dabei sind die völkerrechtliche Bindungswirkung auf Ebene der die Vereinbarung abschließenden Vertragsstaaten, die Bindungswirkung für die nationalen Gerichte in den Vertragsstaaten und die Selbstbindung für die Verwaltungsbehörden durch den Abschluss der Vereinbarung durch das BMF zu unterscheiden.30 Für die hier entscheidende Frage nach der Bindungswirkung für die nationale Finanzgerichtsbarkeit sind einzig die Vorgaben des Verfassungsrechts maßgebend. Die Justiz ist nach dem Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an das geltende Gesetzesrecht gebunden. Um Bindungswirkung für die Gerichte auslösen zu können, müssten die Inhalte der Verständigungsvereinbarungen zu Inhalten nationaler Gesetze geworden sein. 27

BMF-Schreiben vom 14. 09. 2006, BStBl. I 2006, S. 532 ff., Rn. 121. Vgl. dazu Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, 2009, S. 74 ff. 29 Vgl. auch Gosch, Besteuerungsrecht für Abfindungszahlungen an einen in Belgien wohnenden, aber im Inland tätigen und dort unbeschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmer, BFH/PR 2010, 37 (38). 30 Lüthi, in: Gosch/Kroppen/Grotherr (Hrsg.), DBA, Art. 25 (Stand: Nov. 2009), Rn. 94; Frotscher, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., 2009, Rn. 209 f. 28

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Den konkreten Verständigungsvereinbarungen mangelte es aber an der erforderlichen Umsetzung in nationales Recht (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), so dass nur der ursprünglich durch das Zustimmungsgesetz wiedergegebene Abkommenstext verbindlich von den Gerichten zu beachten ist. Bei der Verständigungsvereinbarung handelt es sich wegen der nicht erfolgten innerstaatlichen Umsetzung in ein Gesetz um eine bloße Verwaltungsvorschrift. Wegen der fehlenden Qualität von Art. 25 Abs. 3 OECD-MA als Verordnungsermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 GG kann die Verständigungsvereinbarung allein daher keine Legitimationsgrundlage bilden, um positives Gesetzesrecht abzuändern.31 3. Keine letztverbindliche Auslegung nach den Grundsätzen des WÜRV Aus den Auslegungsgrundsätzen nach dem WÜRV kann in Bezug auf die Bindungswirkung der Verständigungsvereinbarung auf der Grundlage von Art. 25 Abs. 3 OECD-MA für die nationale Gerichtsbarkeit nichts anderes folgen. Gemäß Art. 31 WÜRV ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seiner Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen. Darüber hinaus sind nach Abs. 3 der Vorschrift in gleicher Weise spätere Übereinkünfte zwischen den Vertragsparteien über die Anwendung der Bestimmungen und jede spätere gemeinsame Übung der Vertragsparteien bei der Anwendung des Vertrags zu berücksichtigen. Jedoch, und daran scheitert im Ergebnis die extensive Interpretation der Auslegungsgrundsätze nach dem WÜRV durch die Finanzbehörde, bildet der Wortlaut des Abkommenstexts die Grundlage und gleichzeitig auch die Grenze für etwaige Auslegungsversuche.32 Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die extensive Auslegung von Bestimmungen zu einer Veränderung des Abkommenstexts führt, ohne den dafür vorgesehen Prozess einzuhalten. In Bezug auf die oben dargestellten Entscheidungen ließ nach Auffassung des erkennenden Senats der Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 DBA-Belgien bzw. Art. 15 Abs. 1 DBA-Schweiz keine abweichende Beurteilung und keine Auslegung über den Wortlaut hinaus zu. 4. Fazit Mit den beiden Entscheidungen hat der 1. Senat des BFH klargestellt, dass Arbeitnehmerabfindungen, die einer im DBA-Ausland ansässigen Person deutsche Einkünfte vermitteln, wegen Art. 15 Abs. 1 der anzuwendenden DBA in Deutschland als dem Tätigkeitsstaat nicht besteuert werden dürfen, unabhängig von einer nationalen Regelung, die eine solche Besteuerung vorsieht (§ 49 Abs. 1 Nr. 4 lit. d EStG) 31 Vgl. auch Gosch, in: Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das Internationale Steuerrecht?, 2009, S. 134. 32 BFHE 222, 556 f.

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oder einer daraus möglicherweise entstehenden Nichtbesteuerung, falls auch der Ansässigkeitsstaat die Abfindung nicht besteuert. Identische Fallgestaltungen mit gleichlautenden Verständigungsvereinbarungen im Verhältnis zu den Niederlanden und Österreich sind ebenfalls auf dieser Grundlage zu bewerten; eine abweichende Beurteilung durch die Gerichte ist nicht zu erwarten.33 a) Konkrete Folgen für die Besteuerung Im Verhältnis zur Schweiz erfolgte durch BMF-Schreiben vom 25. März 2010 eine Anpassung der Verständigungsvereinbarung dahingehend, dass ein durch den Tätigkeitsstaat nicht wahrgenommenes Besteuerungsrecht an den Wohnsitzstaat zurückfällt.34 Die „Rückfallvereinbarung“ orientiert sich an Art. 23A Abs. 4 OECDMA, der für die Freistellungsmethode dem Ansässigkeitsstaat ein Besteuerungsrecht zuspricht, wenn der Quellenstaat eine Besteuerung nicht vornimmt.35 Demzufolge können Abfindungen, die aufgrund der BFH-Rechtsprechung in Deutschland nicht besteuert werden können, zumindest durch den Wohnsitzstaat, hier der Schweiz, einer Besteuerung zugeführt werden, so dass eine doppelte Nichtbesteuerung vermieden wird. b) Folgen für Verständigungsvereinbarungen Obwohl ein am verfassungsrechtlich verankerten Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (Art. 3 Abs. 1 GG) orientiertes Verbot der Nichtbesteuerung erwartungsgemäß keine höchstrichterliche Anerkennung gefunden hat,36 erkennt der BFH die Motivation der Finanzverwaltung an, Nichtbesteuerungen im Verhältnis zu DBA-Vertragsstaaten auf Grundlage von Art. 25 Abs. 3 OECD-MA vermeiden zu wollen und gibt insoweit auch den verfassungsrechtlich zulässigen Weg vor. Verständigungsvereinbarungen sind für ihre Verbindlichkeit vor Gericht in positives Gesetzesrecht zu transformieren, da nur auf diese Weise eine gleichrangige Interpretation in Bezug auf das ursprünglich abgeschlossene DBA erreicht werden kann und der Gesetzesvorbehalt beachtet wird.37 Auslegungsgrenze und damit auch die Grenze für den Inhalt von Verständigungsvereinbarungen stellt der Wortlaut der jeweiligen DBA-Bestimmung dar. Eine hiervon abweichende Übung oder Verständigungsvereinbarung zwischen den beteiligten 33 So auch Ziehr, Keine Bindungswirkung von Verständigungsvereinbarungen, IStR 2009, 821; Günkel, Die Besteuerung von Abfindungen an beschränkt Steuerpflichtige, IStR 2009, 892. 34 BMF-Schreiben vom 25. 03. 2010, BStBl. I 2010, S. 268. 35 Portner, Besteuerung von Abfindungen bei Anwendung der DBA mit Belgien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz, IStR 2010, 735 (736). 36 BFH, IStR 2008, 739 ff. 37 BFH, IStR 2009, 819.

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Finanzverwaltungen hat wegen Art. 20 Abs. 3 GG keine bindende Wirkung, denn nach dem Gewaltenteilungsmodell des Grundgesetzes kann der Verwaltung ein Letztauslegungsrecht nicht zustehen.38 Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten im Umgang mit den unterschiedlichen Rechtsebenen können im umgekehrten Fall theoretisch sogar zu einer Doppelbesteuerung führen. Erhält der in Deutschland ansässige Steuerpflichtige eine Arbeitnehmerabfindung aus dem ursprünglichen Tätigkeits- und DBA-Vertragsstaat (z. B. Schweiz), erfolgt, sofern die Verständigungsvereinbarung in diesem Staat als verbindlich angesehen wird, nach der Vereinbarung eine Besteuerung der Abfindung im ehemaligen Tätigkeitsstaat. Da Deutschland aufgrund der fehlenden Bindung aus der Verständigungsvereinbarung nach der Rechtsprechung des BFH bei der Besteuerung des Einzelfalls nicht auf sein Besteuerungsrecht verzichten darf, wäre nach Wortlautauslegung und Anwendung des Tätigkeitsortprinzips des Art. 15 Abs. 1 OECD-MA die Besteuerung der Abfindung in Deutschland ebenfalls vorzunehmen. Hier bliebe dem Steuerpflichtigen wohl nur der erneute Antrag zur Aufnahme eines Verständigungsverfahrens.

V. Reaktion des deutschen Gesetzgebers Der deutsche Gesetzgeber reagierte auf die aus fiskalischer Sicht unliebsamen Folgen der fehlenden Verbindlichkeit von Konsultationsvereinbarungen mit der Einführung des § 2 Abs. 2 AO durch das JStG 2010 vom 8. Dezember 2010.39 Darin wird das BMF ermächtigt, Rechtsverordnungen zur Umsetzung solcher Konsultationsvereinbarungen zu erlassen. Erstmalige Anwendung sollen die hierauf basierenden Rechtsverordnungen nach Art. 9 Nr. 2 lit. b JStG 2010 bereits für den Veranlagungszeitraum 2010 entfalten.40 Die Rechtsverordnung soll zur Sicherung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung oder doppelten Nichtbesteuerung dienen und mit Zustimmung des Bundesrats erlassen werden. Auf diesem Weg besteht nun zumindest die auf Art. 80 Abs. 1 GG beruhende verfassungsrechtliche Legitimation durch eine Rechtsverordnung für die innerstaatliche Bindungswirkung auch gegenüber den Gerichten. Erfasst werden nach dem Willen des BMF auch in der Vergangenheit abgeschlossene Verständigungsvereinbarungen, die über entsprechende Rechtsverordnungen Bindungswirkung erlangen können.41 Das BMF hat hiervon unterdessen bereits im Eilverfahren Gebrauch gemacht und die bestehenden, auf Art. 25 Abs. 3 OECD-MA beruhenden Vereinbarungen mit Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz mit 38 Allg. dazu Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 20 Abs. 3, Rn. 271 ff. 39 BGBl. I 2010, S. 1768. 40 Baum, Änderungen der Abgabenordnung durch das JStG 2010, NWB 2011, 362. 41 BMF-Schreiben vom 13. 04. 2010, BStBl. I 2010, S. 353.

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Zustimmung des Bundesrats als Rechtsverordnung zum 23. Dezember 2010 erlassen.

VI. Grenzen der Neuregelung Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, was durch die Neuregelung erreicht werden kann. Zwar sind die verfassungsrechtlichen Bedenken aufgrund der Verordnungsermächtigung ausgeräumt, aber in der Sache ist nur wenig gewonnen. Denn auch für die nunmehr in Form von Rechtsverordnungen umgesetzten Verständigungsvereinbarungen gilt der ursprüngliche Wortlaut des DBA als äußerste Grenze, die allerdings fließend auch in eine über das Verfahren nach § 2 Abs. 2 AO unerlaubte Vertragsänderung führen kann.42 Abgrenzungsschwierigkeiten sind vorprogrammiert. Das wird zur Folge haben, dass die Frage der Bindungswirkung nun in einem leicht veränderten rechtlichen Umfeld letztendlich wieder der BFH zu klären hat.43 Besonders deutlich wird diese Konsequenz am Beispiel der erlassenen Rechtsverordnung zur Umsetzung der Konsultationsvereinbarung mit Belgien, durch den, im Ergebnis erfolglosen Versuch der Finanzverwaltung, entgegen der ständigen Rechtsprechung des BFH, die Besteuerungsbefugnisse für Arbeitnehmerabfindungen zu erweitern. Nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 VO-Belgien sollen Zahlungen, die allgemein für die Auflösung des Arbeitsvertrags gezahlt werden, nach dem Tätigkeitsprinzip des Art. 15 Abs. 1 DBA-Belgien in Deutschland versteuert werden. Insoweit setzt sich die Finanzverwaltung über die klaren Vorgaben des BFH hinweg, der einen Anlasszusammenhang zwischen Tätigkeit und Vergütung nicht ausreichen lässt, um eine Besteuerung im Quellenstaat zu rechtfertigen.44 Die Zahlung muss gerade für die Tätigkeit erfolgen. Der Wortlaut stellt die absolute Grenze für die Auslegung des DBA dar. Die VO-Belgien zur Auslegung des DBA verstößt gegen diesen Grundsatz und führt, wenn auch verfassungsrechtlich wirksam erlassen, zu einer unzulässigen Vertragsänderung. Eine Vertragsänderung ist aber nur nach den Regeln des Art. 59 Abs. 2 GG möglich, daran hat die Neuregelung in § 2 Abs. 2 AO natürlich nichts geändert. Verständigungsvereinbarungen und die nationale Umsetzung im Verfahren nach § 2 Abs. 2 AO können nur bei Auslegungsschwierigkeiten in Bezug auf einzelne Bestimmungen in einem DBA Lösungen bringen. Handelt es sich nicht um Auslegungsschwierigkeiten, sondern werden einzelne Fälle vom Regelungsbereich einer Bestimmung schlicht nicht erfasst, weil der Wortlaut eine Einbeziehung nicht erlaubt, bleibt nur die Änderung des DBA nach dem dafür vorgesehenen Verfahren. Daran hat auch die Verordnungsermächtigung in § 2 Abs. 2 AO nichts geändert. In der Rechtspraxis muss sich das aber unter Mitwirkung der Finanzgerichte und des BFH offensichtlich erst noch zeigen. 42

BVerfGE 90, 286 (361 ff.). So auch Benecke/Schnitger, Neuerungen im internationalen Steuerrecht durch das JStG 2010, IStR 2010, 432 (439). 44 BFH, IStR 2009, 815. 43

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VII. Ausblick Der deutsche Gesetzgeber versucht immer häufiger, ihm unliebsame steuerliche Problemfelder im Alleingang zu lösen. Dies gilt sowohl für die hier begutachtete Konstellation der Verständigungsvereinbarungen mit DBA-Vertragsstaaten im Verhältnis zur Rechtsprechung des BFH als auch im Verhältnis zu den DBA selbst. Unerwünschte doppelte Nichtbesteuerungen werden oftmals einseitig und ohne Rücksprache mit dem DBA-Vertragspartner durch sog. „Treaty Overrides“ ausgeglichen.45 Die verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken46 ausgesetzten Vorschriften sind überwiegend als Rückfallklauseln ausgestaltet, wodurch unabhängig von der auf bilateraler Ebene geschlossenen Vereinbarung auf nationaler Ebene „weiße Einkünfte“ durch die Besteuerung in Deutschland vermieden werden. Beispiele für die unilaterale Erweiterung der Besteuerungsbefugnisse lassen sich in unterschiedlichen Regelungsbereichen finden, wie § 50d Abs. 10 EStG oder § 20 Abs. 2 AStG verdeutlichen. Eine weitere sog. Umschaltklausel ist § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG,47 wonach die abkommensrechtlich vereinbarte Freistellungsmethode dann nicht von Deutschland gewährt wird, wenn der Quellenstaat z. B. aufgrund eines Qualifikationskonflikts keine Besteuerung vornimmt. Es findet mithin eine Besteuerung der ausländischen Quelleneinkünfte in Deutschland statt.48 Im obigen Verfahren I R 90/08 (Belgien) hatte die Finanzverwaltung ebenfalls versucht, die Nichtbesteuerung der Arbeitnehmer-Abfindung durch die Rückfallklausel des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG zu verhindern. Die Norm verlangt nach ihrem eindeutigen Wortlaut eine unbeschränkte Steuerpflicht des jeweiligen Steuerpflichtigen und erfasst in diesem Sinne nur die klassischen „Outbound-Konstellationen“, d. h. eine tatsächlich im Inland ansässige Person muss eine grenzüberschreitende, steuerlich relevante Tätigkeit ausführen.49 Nach Sinn und Zweck der Vorschrift kann hieraus aber nicht geschlossen werden, eigentlich beschränkt Steuerpflichtige, welche nur fiktiv aufgrund des Antrags als unbeschränkt Steuerpflichtige gelten, in die von § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG ins Auge gefasste Situation einzubeziehen. Die fiktiv unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG in Deutschland vermag die Bedingung einer tatsächlichen unbeschränkten Steuerpflicht aufgrund des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts demzufolge nicht zu erfüllen. In einer solchen Situation sichert 45

Allg. zum Treaty Overriding, siehe Musil, Deutsches Treaty Overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 26 ff. 46 Frotscher, Zur Zulässigkeit des „Treaty Override“, in: FS für Harald Schaumburg, 2009, S. 687 ff.; Brombach-Krüger, Treaty Override aus europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht, Ubg 2008, 324 ff. 47 Die für die Regelung nach § 52 Abs. 59a Satz 6 EStG angeordnete Rückwirkung ist verfassungsrechtlich äußerst bedenklich, siehe dazu allg. Gelsheimer/Meyen, Verfassungsrechtliche Anforderungen an steuerverschärfende Vorschriften mit rückwirkendem Anwendungsbereich, DStR 2011, 193 ff. 48 Loschelder, in: Schmidt (Fn. 23), § 50d, Rn. 55. 49 BFH, IStR 2009, 820; vgl. auch Schönfeld, in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, AStG, § 50d Abs. 9 (Stand: Nov. 2007), Rn. 52 f.

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sich Deutschland vielmehr nur das Besteuerungsrecht als Tätigkeitsstaat. Belgien ist weiterhin Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen geblieben. Weitere Reaktionen des Gesetzgebers sind nicht auszuschließen. Bestrebungen, die doppelte Nichtbesteuerung einer grenzüberschreitenden Investition zu vermeiden, sind nicht nur im europäischen Binnenmarkt, sondern auch auf weltweiter Basis über die völkerrechtlichen Verträge (DBA) der richtige Weg. Hieran kann kein Zweifel bestehen. Demgegenüber muss sich der Weg zur Verwirklichung dieses Ziels zum Teil erheblicher Kritik ausgesetzt sehen. Den von Deutschland abgeschlossenen DBA mit Freistellungsmethode kann nicht nach unilateralem Ermessen ihre Wirkung entzogen werden. Hierfür bedarf es der Nachverhandlungen der DBA und der Aufnahme der veränderten Regeln nach dem oben beschriebenen Verfahren in den Abkommenstext. Unterstützung findet das hier gefundene Ergebnis auch durch Art. 25 Abs. 3 Satz 1 OECD-MA, wonach die beteiligten Finanzbehörden nur bei Auslegungsschwierigkeiten bzw. Auslegungszweifeln im gegenseitigen Einvernehmen diese beseitigen dürfen. Nach Satz 2 der Vorschrift steht den Behörden folgerichtig auch nur ein Beratungsrecht zu, wenn im jeweiligen DBA Fälle der Doppelbesteuerung überhaupt nicht behandelt werden. Die über Rechtsverordnungen erlassenen Verständigungsvereinbarungen deuten bereits die weiterführenden Probleme an: Die Wortlautauslegung kann eigenmächtig durch die beteiligten Behörden zu einer Wortlautänderung führen. Hier ist es dann wieder die Aufgabe des BFH, die Verwaltung mit einer entsprechenden Gerichtsentscheidung in die Schranken zu weisen. Völkerrechtliche Vereinbarungen abzuschließen heißt eben auch, die Vereinbarungen so zu akzeptieren und nur nach den vorgesehenen Spielregeln Einfluss zu nehmen und nehmen zu können.

Konflikte zwischen völkerrechtlichen Übereinkommen und europäischem Sekundärrecht auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts Von Jan von Hein

I. Einleitung Die Europäische Union ist dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit und dem Grundsatz des pacta sunt servanda auch gegenüber Drittstaaten verpflichtet.1 Art. 351 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 307 Abs. 1 EGV) bestimmt ausdrücklich, dass die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die vor dem 1. Januar 1958 oder, im Falle später beigetretener Staaten, vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, durch die europäischen Verträge nicht berührt werden. Dies war im Hinblick auf das Internationale Privatrecht lange Zeit unproblematisch, weil die EU bis zu dem 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam keine Kompetenz zum Erlass von Sekundärrechtsakten auf diesem Rechtsgebiet hatte. Seit der Schaffung der – heute in Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV enthaltenen – Zuständigkeit der EU zur Verabschiedung von Maßnahmen zur Kollisionsrechtsvereinheitlichung hat sich dies jedoch dramatisch geändert. Die damals eingeleitete Europäisierung des Internationalen Privatrechts schreitet mit hoher Geschwindigkeit voran: Im Jahre 2007 wurde die Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Rom II-VO)2 erlassen, der ein knappes Jahr später die Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Rom I-VO)3 folgte, mit der das zuvor bestehende Römische Vertragsrechtsübereinkommen (EVÜ)4 in den Mitgliedstaaten (außer Dänemark, näher 1

Vgl. allgemein Hobe, Rechtsfragen der Einbindung der EG/EU in das Völkerrecht, JuS 2002, 8 ff.; Vranes, Die EU-Außenkompetenzen im Schnittpunkt von Europarecht, Völkerrecht und nationalem Recht, JBl. 2011, 11 ff. 2 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 07. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl.EU 2007 Nr. L 199/40. 3 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. 06. 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“), ABl.EU 2008 Nr. L 177/6. 4 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von 1980 (konsolidierte Fassung), ABl.EG 1998 Nr. C 27/34.

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unten II.6.) abgelöst wurde. Im Wege einer verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 81 Abs. 3 AEUV haben sich zudem mehrere Mitgliedstaaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, zur Teilnahme an einer Vereinheitlichung des Scheidungskollisionsrechts durch die Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 („Rom III-VO“)5 bereit erklärt. All diese EU-Rechtsakte treten in Konkurrenz zu zahlreichen völkerrechtlichen Übereinkommen, denen verschiedene Mitgliedstaaten in der Vergangenheit beigetreten sind. Es kommt daher zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem Grundsatz der völkerrechtlichen Vertragstreue einerseits und dem Streben nach einer möglichst effektiven und umfassenden Vereinheitlichung des Internationalen Privatrechts im europäischen Rechtsraum andererseits. In dem vorliegenden Beitrag soll der in dieser Frage vom europäischen Verordnungsgeber bisher eingeschlagene Lösungsweg einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Die folgenden Ausführungen sind meinem hochgeschätzten Kollegen Meinhard Schröder anlässlich seines 70. Geburtstags gewidmet. Ich hatte von 2007 bis 2010 die Ehre und das Vergnügen, mit ihm gemeinsam den Schwerpunktbereich 6, „Europäisches und Internationales Recht“, des Fachbereichs Rechtswissenschaft an der Universität Trier zu betreuen. Dieser Schwerpunkt umfasst sowohl das Völker- und Europarecht als auch das Internationale Handels- und Wirtschaftsrecht. Ich hoffe daher, dass ein Beitrag, der auf der Schnittstelle zwischen diesen Rechtsgebieten liegt, auf das Interesse des verehrten Jubilars stoßen möge.

II. Internationales Vertragsrecht 1. Allgemeines Die Rom I-VO darf sich nicht auf internationale Übereinkommen auswirken, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören.6 Hiermit sollen die internationalen Verpflichtungen, welche die Mitgliedstaaten eingegangen sind, gewahrt werden.7 Diesem Zweck dient die nach der Drittstaatenbeteiligung an bestehenden Übereinkommen differenzierende Regelung in Art. 25 Rom I-VO. Die Mitgliedstaaten waren zwar nach Art. 26 Rom I-VO verpflichtet, bis spätestens 17. Juni 2009 ein Verzeichnis der einschlägigen bestehenden Übereinkommen zu erstellen und der Kommission zu übermitteln. Diese Informationen wurden aber offenbar eher schleppend erteilt und konnten nur

5 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. 12. 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl.EU 2010 Nr. L 343/10; anders als bei der Rom I- und Rom II-VO ist die „römische“ Zählweise in diesem Fall kein Bestandteil der offiziellen Bezeichnung des Rechtsaktes. 6 Erwägungsgrund 41 Satz 1 der Rom I-VO. 7 Erwägungsgrund 41 Satz 1 der Rom I-VO.

Konflikte zw. völkerrechtlichen Übereinkommen und europ. Sekundärrecht

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mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, nämlich am 17. Dezember 2010, veröffentlicht werden.8 Die Beschränkung des Art. 25 Rom I-VO auf bestehende internationale Übereinkommen ist ein Ausdruck der Tatsache, dass die EU aufgrund des Erlasses der Rom IVO hinsichtlich zukünftiger Übereinkommen gemäß Art. 3 Abs. 2, Art. 216 Abs. 1 AEUV die ausschließliche Außenkompetenz erworben hat.9 Im Gegensatz zur Rechtslage nach Art. 21 EVÜ haben die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht mehr die Freiheit, kollisionsrechtliche Übereinkommen mit Drittstaaten zu schließen.10 In Bezug auf die Fortgeltung des EVÜ ist Art. 24 Abs. 1 Rom I-VO als lex specialis zu beachten. Diese Vorschrift legt den Grundsatz fest, dass die Rom I-VO in den Mitgliedstaaten das EVÜ verdrängt. Hiervon wird jedoch eine Ausnahme für diejenigen Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten gemacht, die in den territorialen Anwendungsbereich des EVÜ fallen, für die aber aufgrund der Anwendung von Art. 52 EUV i.V.m. Art. 349, 355 AEUV (ex-Art. 299 EGV) die Rom I-VO nicht gilt. Diese Ausnahme war notwendig, weil das EVÜ einen konventionellen Staatsvertrag darstellt, der die Vertragsstaaten grundsätzlich unabhängig davon bindet, ob die erfassten Gebiete zugleich dem Geltungsbereich des primären Unionsrechts unterfallen. Es kann also für einzelne Territorien zu Divergenzen kommen.11 2. Entstehungsgeschichte Nach Art. 21 EVÜ ließ das Übereinkommen nicht nur diejenigen Staatsverträge unberührt, denen ein Vertragsstaat zum Zeitpunkt des Abschlusses des EVÜ angehörte, sondern auch diejenigen, denen er künftig angehören würde. Wollte ein Vertragsstaat später einem Übereinkommen beitreten, das hauptsächlich internationalprivatrechtliche Regelungen enthielt, war lediglich ein Konsultationsverfahren vorgeschrieben (Art. 24, 25 EVÜ).12 Dieser liberale Ansatz war für eine Vergemeinschaftung des IPR ungeeignet, da die erzielte Rechtseinheit jederzeit wieder hätte infrage gestellt werden können. Zudem hatte die Kommission bereits im Grünbuch 8

Mitteilungen nach Art. 26 Abs. 1 Rom I-VO, ABl.EU 2010 Nr. C 343/3. So bereits zuvor EuGH, Gutachten 1/03 vom 07. 02. 2006, Slg. 2006, I-1145; hierzu näher im vorliegenden Kontext Kreuzer, Gemeinschaftskollisionsrecht und universales Kollisionsrecht: Selbstisolation, Koordination oder Integration?, in: FS für Jan Kropholler, 2008, S. 129 (130 ff.); Wagner, Normenkonflikte zwischen den EG-Verordnungen Brüssel I, Rom I und Rom II und transportrechtlichen Rechtsinstrumenten, TranspR 2009, 103 (108 f.); ferner die Anmerkungen zum obigen Gutachten von Bischoff, EuZW 2006, 295; Lavranos, CMLRev. 43 (2006), 1087 sowie die Beiträge in: Pocar (Hrsg.), The external competence of the European Union and Private International Law, 2007. 10 Ausführlich dazu Schilling, Materielles Einheitsrecht und Europäisches SchuldvertragsIPR, EuZW 2011, 776 (777 f.). 11 Ausführlich von Hein, in: Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 2011, Art. 24 Rom I-VO, Rn. 3 ff. 12 Vgl. zu Art. 24, 25 EVÜ Bericht von Giuliano/Lagarde, BT-Drucks. 10/503, S. 72. 9

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von 2003 den Standpunkt eingenommen, dass die Gemeinschaft mit Erlass der Rom I-VO die ausschließliche Außenkompetenz erwerbe.13 Die Kommission gewährte in ihrem Verordnungsvorschlag von 2005 den bereits vorhandenen Abkommen Bestandsschutz, sah jedoch in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 vor, dass, wenn sich alle relevanten Sachverhaltselemente zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in einem oder mehreren Mitgliedstaaten befänden, die Verordnung dem Haager Übereinkommen über das auf internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen anzuwendende Recht vom 15. Juni 195514 (HKaufÜ) sowie dem Haager Stellvertretungsübereinkommen vom 14. März 197815 (HStVertrÜ)vorgehen sollte, und begründete dies wie folgt: „Das Nebeneinander zweier Rechtssysteme – Geltung der Übereinkommen für die Mitgliedstaaten, die sie ratifiziert haben, und Geltung der Verordnung für die übrigen Mitgliedstaaten – wäre dem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts abträglich.“16 Dieser sinnvolle Vorschlag stieß zwar auf Zuspruch;17 eine entsprechende Regel konnte sich aber wegen Bedenken in Bezug auf Rechtsunsicherheit und Abgrenzungsschwierigkeiten nicht durchsetzen.18

3. Erfasste Übereinkommen Der sachliche Anwendungsbereich des Art. 25 Rom I-VO erstreckt sich auf „Übereinkommen, […] die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten.“ Hiervon werden ohne weiteres diejenigen Haager Übereinkommen erfasst, die einheitliches Kollisionsrecht schaffen.19 Hauptbeispiel für die Anwendbarkeit des Art. 25 Abs. 1 Rom I-VO ist das – von Deutschland nicht gezeichnete – Haager Übereinkommen über das auf internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen anzuwendende Recht.20 Dieses Übereinkommen ist der Kommission als Anwendungsfall des Art. 25 Rom I-VO von Finnland, Frankreich und Schweden mitgeteilt worden; Italien ist zwar ebenfalls ein Vertragsstaat dieses Übereinkommens, hat 13

KOM(2002) 654 endg., S. 24. Abgedruckt bei Jayme/Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 15. Aufl., 2010, Nr. 76. 15 Abgedruckt in RabelsZ 43 (1979), 176. 16 KOM(2005) 650 endg., S. 10. 17 Max Planck Institute for Comparative and International Private Law, Comments on the European CommissionÏs Proposal for a Regulation of the European Parliament and the Council on the law applicable to contractual obligations (Rome I), RabelsZ 71 (2007), 225 (342 f.); für den Vorrang der Rom I-VO gegenüber allen Übereinkommen im Verhältnis der Mitgliedstaaten Kreuzer (Fn. 9), S. 129 (144). 18 Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 21. 11. 2007, Dok. A6-0450/2007. 19 Ringe, in: Ludwig (Hrsg.), juris Praxiskommentar BGB, Bd. 6, 5. Aufl., 2010, Art. 25 Rom I-VO, Rn. 7; Kenfack, Le rÀglement (CE) n8 593/2008 du 17 juin 2008 sur la loi applicable aux obligations contractuelles („Rome I“): navire stable aux instruments efficaces de navigation?, Clunet 2009, 3 (12). 20 Oben Fn. 14; scharfe Kritik an der Beibehaltung des völlig veralteten Übereinkommens bei Kreuzer (Fn. 9), S. 129 (143 f.). 14

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dies aber entgegen Art. 26 Rom I-VO nicht der Kommission gemeldet.21 Ferner wird das – von Deutschland ebenfalls nicht gezeichnete – Haager Stellvertretungsübereinkommen vom 14. März 1978 als ein Beispiel für Art. 25 Rom I-VO genannt,22 zu dem sich aber, nachdem die Stellvertretung in Art. 1 Abs. 2 lit. g vom Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgeschlossen wurde, ohnehin nur noch in Randbereichen Konkurrenzprobleme stellen dürften.23 Gleichwohl ist es von Frankreich und Portugal der Kommission nach Art. 26 Rom I-VO gemeldet worden.24 Die Niederlande haben hingegen, obwohl auch sie dem HStVertrÜ angehören, keine entsprechende Mitteilung gemacht.25 Die Bundesrepublik Deutschland hat gemäß Art. 26 Rom IVO lediglich einen Anwendungsfall notifiziert, und zwar das Budapester Übereinkommen vom 27. Juni 2001 über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt (CMNI).26 Problematisch ist die Einordnung von Übereinkommen zur Vereinheitlichung des Sachrechts, z. B. des Wiener UN-Kaufrechts (CISG)27 oder verschiedener Staatsverträge auf dem Gebiet des Transportrechts, insbesondere der CMR.28 Derartige Übereinkommen fallen jedenfalls unter Art. 25 Rom I-VO, wenn sie auch internationalprivatrechtliche Vorschriften enthalten, wie dies etwa bei dem von der Bundesrepublik notifizierten CMNI der Fall ist.29 Dieses sieht in Art. 29 CMNI eine ergänzende Kollisionsnorm für in dem Übereinkommen nicht geregelte Fragen vor, die insbesondere den Art. 3 und 5 Rom I-VO vorgeht. Aber auch Konventionen ohne ergänzende IPR-Vorschriften enthalten nicht nur vereinheitlichtes Sachrecht, sondern notwendigerweise auch sogenannte Anwendungs- oder Abgrenzungsnormen, die festlegen, welche internationalen Sachverhalte vom jeweiligen Staatsvertrag erfasst werden.30 Dies kann autonom, d. h. ohne Vorschaltung des IPR, geschehen (so z. B. in Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG; Art. 2 CMNI) oder unter Einbeziehung des IPR (z. B. Art. 1 Abs. 1 lit. b CISG).31 Es ist indes um21

Mitteilungen (Fn. 8). Oben Fn. 15. 23 Zur Reichweite des Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom I-VO s. von Hein, in: Rauscher (Fn. 11), Art. 1 Rom I-VO, Rn. 48 ff. 24 Mitteilungen (Fn. 8). 25 Mitteilungen (Fn. 8). 26 Mitteilungen (Fn. 8); Budapester Übereinkommen über den Vertrag über die Güterbeförderung in der Binnenschifffahrt vom 22. 06. 2001, BGBl. 2007 II, S. 298. 27 BGBl. 1989 II, S. 588. 28 BGBl. 1961 II, S. 1120, BGBl. 1980 II, S. 721, 733. 29 Wagner (Fn. 9), 103 (108); zu Art. 29 CMNI ausführlich Mankowski, Entwicklungen im Internationalen Privat- und Prozessrecht für Transportverträge in Abkommen und speziellen EG-Verordnungen, TranspR 2008, 177 (178 ff.). 30 Näher Drobnig, Anwendungsnormen in Übereinkommen zur Vereinheitlichung des Privatrechts, in: FS für Alfred E. von Overbeck, 1990, S. 15 ff.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 183 ff. 31 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., 2006, § 12, I 1 a. 22

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stritten, ob dies ausreicht, um auch sachrechtsvereinheitlichende Übereinkommen dem Anwendungsbereich des Art. 25 Rom I-VO zu unterwerfen.32 Für eine weite Auslegung wird der Wortlaut des Art. 25 Abs. 1 Rom I-VO herangezogen:33 Auch die speziellen Abgrenzungsnormen der Sachrechtskonventionen bildeten rechtstechnisch (einseitige) Kollisionsnormen.34 Überdies verlange Art. 25 Abs. 1 Rom I-VO nicht, dass die relevanten Übereinkommen insgesamt kollisionsrechtlichen Charakter hätten, sondern nur, dass diese Kollisionsnormen „enthalten“.35 Für eine enge Auslegung wird hingegen angeführt, dass die speziellen Abgrenzungsnormen im internationalen Einheitsrecht nur untergeordnete Bedeutung hätten und ein echtes Konkurrenzverhältnis zur Rom I-VO insoweit nicht bestehe.36 Der Verordnungsgeber habe allein kollisionsrechtliche Konventionen im klassischen Sinne im Blick gehabt, d. h. Übereinkommen, die bestimmen, das Recht welchen Staates anwendbar sei.37 Hierfür wird auch der englische Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 ins Feld geführt („situations involving a conflict of laws“), aus dem sich ergebe, dass der Verordnungsgeber Fälle, in denen internationales Einheitsrecht seinen Anwendungsbereich ohne Vorschaltung des Kollisionsrechts („conflict of laws“) bestimme, nicht erfassen wollte.38 Folgt man dieser Auffassung, werden sachrechtliche Konventionen generell nicht von der Rom I-VO verdrängt, unabhängig davon, ob es sich um alte oder neue Übereinkommen oder solche mit oder ohne Be-

32 Bejahend Garcimart†n Alf¦rez, The Rome I Regulation: Much ado about nothing?, EuLF 2008, I-61 (I-65); Pfeiffer, Neues Internationales Vertragsrecht. Zur Rom I-Verordnung, EuZW 2008, 622 (624) (beide zum CISG); Jayme/Nordmeier, Multimodaler Transport: Zur Anknüpfung an den hypothetischen Teilstreckenvertrag im Internationalen Transportrecht – Ist § 452a HGB Kollisions- oder Sachnorm?, IPRax 2008, 503 (507 f.) (zur CMR); verneinend Calliess/Hoffmann, in: Calliess (Hrsg.), Rome Regulations, 2011, Art. 25 Rom I-VO, Rn. 4; Kadner Graziano, Rome I and CISG, in: Binchy/Ahern (Hrsg.), The Rome I Regulation, 2012 (i.E.); Brödermann/Wegen, in: Prütting/Wegen/Weinreich (Hrsg.), BGB, 6. Aufl., 2011, Art. 25 Rom I-VO, Rn. 5; Ringe in: Ludwig (Fn. 19), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 8; Schilling (Fn. 10), 776 (778 ff.); Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht 2, 2011, Art. 25 Rom I-VO, Rn. 13; Wagner (Fn. 9), 103 (107 f.); eher ablehnend auch Hartenstein, Rom IEntwurf und Rom II-Verordnung: zur Bedeutung zukünftiger Änderungen im Internationalen Privatrecht für das Seerecht, TranspR 2008, 143 (146 ff.); offen lassend Martiny, in: Säcker/ Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 10, 5. Aufl., 2010, Art. 25 Rom IVO, Rn. 3. 33 Jayme/Nordmeier (Fn. 32), 503 (507 f.). 34 Jayme/Nordmeier (Fn. 32), 503 (507). 35 Jayme/Nordmeier (Fn. 32), 503 (507). 36 Wagner (Fn. 9), 103 (107 f.); vgl. in diesem Sinne bereits Max Planck Institute for Foreign Private and Private International Law, Comments on the European CommissionÏs Green Paper on the conversion of the Rome Convention of 1980 on the law applicable to contractual obligations into a Community instrument and its modernization, RabelsZ 68 (2004), 1 (19 f.). 37 Wagner (Fn. 9), 103 (107 f.); ebenso Schilling (Fn. 10), 776 (778 f.). 38 Kadner Graziano, in: Binchy/Ahern (Fn. 32); ebenso Schilling (Fn. 10), 776 (779 f.); im Ergebnis ähnlich Kampf, UN-Kaufrecht und Kollisionsrecht, RIW 2009, 297 (300).

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teiligung von Drittstaaten handelt.39 Eine Ausnahme greife nur insoweit, als eine primär sachrechtsvereinheitlichende Konvention eine echte Kollisionsnorm zur Lückenfüllung enthalte, wie z. B. den bereits genannten Art. 29 CMNI.40 Schließlich wird geltend gemacht, dass die Mitgliedstaaten in den nach Art. 26 Rom I-VO erfolgten Mitteilungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine sachrechtsvereinheitlichenden Abkommen notifiziert hätten.41 Das letztgenannte Argument überzeugt aber allenfalls bedingt, weil die Mitteilungen der Mitgliedstaaten krasse Fehler auch in Bezug auf eindeutig von Art. 25 Rom I-VO erfasste Staatsverträge aufweisen (insbesondere unterlassene Meldungen des Haager Kaufvertragsübereinkommens durch Italien und des Haager Stellvertretungsübereinkommens durch die Niederlande).42 In Bezug auf bestehende Übereinkommen kann dieser Streit dahinstehen, weil die fraglichen Konventionen (CISG, CMR) auch Drittländer zu den Vertragsstaaten zählen und somit auch bei einer weiten Auslegung des Art. 25 Abs. 1 Rom I-VO Bestandsschutz nach Abs. 2 genießen.43 Entscheidende Auswirkungen hat die Frage aber auf künftige Änderungen bestehender Übereinkommen oder die Schaffung neuer Übereinkommen. Hier hat die EU nur dann die Außenkompetenz, wenn man der weiten Auslegung folgt.44 In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, dass jüngst die EG – und nicht die Mitgliedstaaten – dem Kapstädter Übereinkommen über internationale Sicherungsrechte an beweglicher Ausrüstung (Kapstadt-Übk)45 beigetreten ist.46 Obwohl auch dieses Übereinkommen primär international einheitliches Sachrecht schafft – eben ein internationales Sicherungsrecht –, hat die EG die spezielle Abgrenzungsnorm in Art. 3 Kapstadt-Übk sowie die ergänzende Verweisung auf das nach dem IPR der lex fori anzuwendende Recht (Art. 5 Abs. 2 und 3 Kapstadt-Übk) als hinreichend angesehen, um eine ausschließliche Kompetenz für sich in Anspruch zu nehmen.47 Hinzu kommt, dass der Verordnungsgeber sich weder an die noch in Art. 24 EVÜ verwendete Terminologie („Hauptziel“ IPR-Vereinheitlichung) angelehnt noch den Vorschlag des Max-Planck-Instituts 39 Kadner Graziano, in: Binchy/Ahern (Fn. 32); Brödermann/Wegen, in: Prütting/Wegen/ Weinreich (Fn. 32), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 5; Wagner (Fn. 9), 103 (107 f.); wohl auch Hartenstein (Fn. 32), 143 (146 ff.). 40 Wagner (Fn. 9), 103 (108). 41 So Schilling (Fn. 10), 776 (779). 42 s. oben bei Fn. 21 bzw. Fn. 25. 43 Ebenso Wagner (Fn. 9), 103 (108 in Fn. 61). 44 Zutreffend Wagner (Fn. 9), 103 (108 in Fn. 61); die Frage offen lassend Ringe, in: Ludwig (Fn. 19), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 12. 45 Abgedruckt in IPRax 2003, 276. 46 Beschluss des Rates 2009/370/EG vom 06. 04. 2009, ABl.EU 2009 Nr. L 121/3. 47 Erwägungsgrund 5 des Beschlusses 2009/370/EG (vorige Fn.); für die Auslösung des Konsultationsverfahrens nach Art. 24 EVÜ hätte dieser Bezug wohl nicht ausgereicht, denn man kann kaum sagen, dass das „Hauptziel“ des Kapstädter Übereinkommens eine international-privatrechtliche Regelung sei; kritisch zur Annahme einer Außenkompetenz in derartigen Konstellationen aber Schilling (Fn. 10), 776 (779).

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für ausländisches und internationales Privatrecht aufgegriffen hat, vorwiegend sachrechtliche Übereinkommen ausdrücklich als unberührt zu erwähnen.48 Für eine weite Auslegung spricht auch der nach Erwägungsgrund 6 der Rom I-VO im europäischen Rechtsraum angestrebte internationale Entscheidungseinklang, der nicht nur durch Divergenzen bei der Anwendung staatlichen Rechts beeinträchtigt wird, sondern auch dann, wenn einzelne Mitgliedstaaten statt des von der Rom I-VO bezeichneten Rechts internationales Sachrecht anwenden. Gegen eine weite Auslegung des Kollisionsnormbegriffs spricht allerdings wiederum, dass die Kommission selbst in ihrem am 11. Oktober 2011 vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEKVO) mit großem Nachdruck betont, dass es sich bei den speziellen Abgrenzungsnormen des Verordnungsvorschlages nicht um Kollisionsnormen, sondern um materiellrechtliche Bestimmungen handele, welche die Rom I-VO unberührt ließen.49 Die von der Kommission zugrunde gelegte Prämisse, eine Vorschrift über den räumlichen (!) Anwendungsbereich eines Rechtsaktes (Art. 4 GEK-VO) trage keinen kollisionsrechtlichen Charakter, ist aber durchaus kritisch zu hinterfragen, weil sie zu einer komplizierten Verdoppelung der Prüfung geografischer Anwendungsvoraussetzungen – erst kollisionsrechtlich, dann (vermeintlich?) sachrechtlich – führt.50 Die Kommission lässt sich insoweit offenbar ergebnisorientiert von dem Bestreben leiten, ihre Kompetenz allein auf den leichter zu handhabenden Art. 114 AEUV statt – zumindest auch – auf Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV oder Art. 352 AEUV zu stützen.51 Der dogmatische Gehalt einer solchen Strategie für die Auslegung der Rom I-VO ist folglich begrenzt. 4. Bestehende Übereinkommen Art. 25 Abs. 1 Rom I-VO legt den Grundsatz fest, dass die Anwendung der internationalen Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme der Rom I-VO angehören und die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten, von der Rom I-VO unberührt bleibt. Für den Stichtag ist allein die „Annahme“ der Rom I-VO maßgebend, d. h. das Datum in der offiziellen Bezeichnung der Verordnung, mithin der 17. Juni 2008.52 48

Vgl. den MPI-Vorschlag von 2004 (Art. 21 Abs. 1 lit. b) (Fn. 36), 1 (117). Vgl. Erwägungsgründe 10 und 12 des Verordnungsvorschlags, KOM(2011) 635 endg.; hierzu Staudenmayer, Der Kommissionsvorschlag für eine Verordnung zum Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht, NJW 2011, 3491 (3494). 50 Zu den unterschiedlichen Optionen statt vieler Gebauer, Europäisches Vertragsrecht als Option – der Anwendungsbereich, die Wahl und die Lücken des Optionalen Instruments, GPR 2011, 227 ff.; Stürner, Kollisionsrecht und Optionales Instrument: Aspekte einer noch ungeklärten Beziehung, GPR 2011, 236 ff. 51 Zur Frage der Rechtsgrundlage statt vieler näher Reich, EU-Verbraucherkaufrecht in neuen Dokumenten und in einem Optionalen Instrument, ZfRV 2011, 196 (199 f.). 52 Ringe, in: Ludwig (Fn. 19), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 10; Wagner (Fn. 9), 103 (107 in Fn. 40). 49

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Eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält sodann Art. 25 Abs. 2 Rom I-VO für Übereinkommen, die in der Verordnung geregelte Bereiche betreffen und an denen ausschließlich zwei oder mehrere Mitgliedstaaten beteiligt sind. Diese werden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten verdrängt. Im Umkehrschluss zu dieser Klausel genießen sowohl das HKaufÜ als auch das HStVertrÜ Bestandsschutz, denn an beiden Übereinkommen sind auch Drittstaaten beteiligt.53 Für die fortdauernde Anwendbarkeit der Übereinkommen ist es nicht erforderlich, dass der in Rede stehende Vertrag einen irgendwie gearteten Bezug zu einem Drittstaat hat, wie sich aus dem Scheitern von Art. 23 Abs. 2 Satz 2 des Kommissionsvorschlags von 2005 ergibt.54 5. Künftige Übereinkommen Da die EU mit der Schaffung der Rom I-VO die ausschließliche Außenkompetenz für den Abschluss von Übereinkommen auf dem Gebiet des IPR der vertraglichen Schuldverhältnisse erworben hat,55 sind etwaige Revisionen z. B. des HKaufÜ nur durch die EU möglich, die der Haager Konferenz im Jahre 2006 beigetreten ist.56 Die Inanspruchnahme einer ausschließlichen Außenkompetenz ist jedoch nicht angemessen, wenn an dem Abschluss eines spezifischen Übereinkommens nur ein Mitgliedstaat gegenüber einem Drittstaat oder einige Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Nachbarstaaten ein Interesse haben (vgl. Erwägungsgrund 42 Rom I-VO). Diese Fragen sind in der Verordnung (EG) Nr. 662/2009 vom 13. Juli 2009 geregelt worden.57 Diese Verordnung sieht vor, dass ein Mitgliedstaat der Kommission seine Absicht, Verhandlungen über ein neues Abkommen aufzunehmen oder ein bestehendes Abkommen zu ändern, schriftlich mitteilt. Die Kommission prüft sodann, ob der Mitgliedstaat die Verhandlungen aufnehmen darf. Hat die Union mit dem betreffenden 53 Das Haager Kaufrechtsübereinkommen gilt außer für Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien und Schweden auch für Norwegen, die Schweiz und Niger (Jayme/Hausmann (Fn. 14), Nr. 76 Fn. 1); das Haager Stellvertretungsübereinkommen gilt außer für Frankreich, die Niederlande und Portugal auch für Argentinien (Jayme/Hausmann (Fn. 14), S. 173 Fn. 1). 54 s. oben II.2. 55 s. oben II.1. 56 Beschluss des Rates 2006/719/EG vom 05. 10. 2006 über den Beitritt der Gemeinschaft zur Haager Konferenz, ABl.EU 2006 Nr. L 297/1; näher Bischoff, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Haager Konferenz für internationales Privatrecht, ZEuP 16 (2008), 334 ff.; Kreuzer (Fn. 9), S. 129 (135). 57 Verordnung (EG) Nr. 662/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 07. 2009 zur Einführung eines Verfahrens für die Aushandlung und den Abschluss von Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten über spezifische Fragen des auf vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendenden Rechts, ABl.EU 2009 Nr. L 200/ 25; s. zuvor den Kommissionsvorschlag vom 23. 12. 2008, KOM(2008) 893 endg.; hierzu eingehend Bischoff, Notwendige Flexibilisierung oder Ausverkauf von Kompetenzen?, ZEuP 18 (2010), 321 ff.; Wagner, Aktuelle Entwicklungen in der europäischen justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, NJW 2010, 1707 (1708).

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Drittland bereits ein Abkommen über denselben Gegenstand geschlossen, wird der Antrag ohne weitere Prüfung abgewiesen. Andernfalls kann die Kommission die Genehmigung erteilen, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweist, dass er an dem Abschluss des Abkommens vor allem infolge wirtschaftlicher, geografischer, kultureller oder historischer Bindungen zu dem Drittstaat ein besonderes Interesse hat und das geplante Abkommen auf die einheitliche und kohärente Anwendung der geltenden Gemeinschaftsvorschriften nur geringfügige Auswirkungen hat. Falls nötig, kann die Kommission auch Verhandlungsdirektiven ausgeben und die Aufnahme spezieller Klauseln in das Abkommen verlangen. Das Abkommen muss außerdem eine „sunset clause“ für den Fall enthalten, dass die Europäische Union mit dem betreffenden Drittstaat selbst ein Übereinkommen abschließt. 6. Sonderfall Dänemark Art. 24 Rom I-VO regelt das Verhältnis der Rom I-VO zum EVÜ in Anlehnung an die in Art. 68 EuGVO gegenüber dem EuGVÜ getroffene Regelung.58 Der räumliche Geltungsbereich der Rom I-VO lässt sich – wie von Art. 24 Abs. 1 Rom I-VO vorausgesetzt – aus dem allgemein anerkannten Grundsatz, dass der räumliche Geltungsbereich des Sekundärrechts grundsätzlich mit dem der Verträge (Art. 52 EUV i.V.m. Art. 349, 355 AEUV; ex-Art. 299 EGV) übereinstimmt, ableiten.59 Die Rom I-VO gilt folglich in allen Mitgliedstaaten der EU i.S.d. Art. 52 Abs. 1 EUV außer Dänemark, das an Maßnahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen bisher nicht teilnimmt,60 was auch in Art. 1 Abs. 4 Satz 1 und Erwägungsgrund 46 Rom I-VO klargestellt wird. Die bis zum 1. Dezember 2009 geltende Fassung des Protokolls über die Position Dänemarks eröffnete unserem nördlichen Nachbarn im Gegensatz zu Irland und Großbritannien nicht die Möglichkeit eines opt-in zu einzelnen Maßnahmen. Das hat zur Folge, dass dänische Gerichte weiterhin das EVÜ anwenden.61 58

Zu Art. 68 EuGVO s. Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., 2011, Art. 68 EuGVO, Rn. 1 f. 59 Vgl. zur EuGVO Staudinger, in: Rauscher (Fn. 11), Einl Brüssel I-VO, Rn. 13 ff.; Kropholler/von Hein (Fn. 58), Einl EuGVO, Rn. 41 ff. 60 Vor dem 01. 12. 2009 aufgrund des Art. 69 EG i.V.m. Art. 1 und 2 des Protokolls über die Position Dänemarks im Anhang zum Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl.EG 1997 Nr. C 340/101; ab dem 01. 12. 2009 aufgrund der Art. 1 und 2 des Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks, ABl.EU 2008 Nr. C 115/299. 61 Garcimart†n Alf¦rez (Fn. 32), I-61 (I-62); Lando/Nielsen, The Rome I Regulation, CMLRev. 45 (2008), 1687 (1689); Leible/Lehmann, Die Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“), RIW 2008, 528 (532); Martiny, Neues deutsches internationales Vertragsrecht: das Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Rom I-Verordnung, RIW 2009, 737 (739); Pfeiffer (Fn. 32), 622 (623); Wilderspin, The Rome I Regulation: Communitarisation and modernisation of the Rome Convention, ERA-Forum 2008, 259 (261).

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Streitig ist aber, wie sich die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten ab dem 17. Dezember 2009 gegenüber Dänemark zu verhalten haben. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass auch in den anderen Mitgliedstaaten auf Fälle mit einem Bezug zu Dänemark weiterhin das EVÜ anzuwenden sei.62 Dies wird damit begründet, dass gemäß ihrem Art. 24 die Rom I-VO das EVÜ nur in den Mitgliedstaaten i.S.d. Art. 1 Abs. 4 Satz 1 Rom I-VO verdränge, zu denen Dänemark nicht gehöre; im Übrigen bleibe es gemäß Art. 25 Rom I-VO bei der Fortgeltung des EVÜ als vor der Rom I-VO bestehendes internationales Übereinkommen.63 Dieses Ergebnis sei auch wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des EU-Rechts nach Art. 351 AEUV geboten.64 Ferner ließe sich für diese Auffassung die vergleichbare Lage bei den Verordnungen zum Internationalen Zivilverfahrensrecht (EuGVO, EG-ZustellVO) anführen. Bevor diese durch Parallelübereinkommen auf Dänemark erstreckt wurden, galten unstreitig das EuGVÜ und das HZÜ unverändert weiter.65 Die herrschende Meinung hält jedoch auch in Fällen mit Bezug zu Dänemark die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten allein für verpflichtet, die Rom I-VO anzuwenden.66 Hierfür spricht insbesondere, dass die Verordnung selbst in Art. 1 Abs. 4 Satz 2 Rom I-VO voraussetzt, dass sie auch in Fällen mit Bezug zu EU-Mitgliedstaaten angewendet wird, die nicht zugleich Rom I-Mitgliedstaaten sind.67 Darüber hinaus ist die Rom I-VO gemäß ihrem Art. 2 eine loi uniforme, d. h., sie findet auch dann Anwendung, wenn ihre Kollisionsnormen das Recht eines Drittstaates berufen.68 Insoweit ist auch die Parallele zur Fortgeltung des EuGVÜ nicht überzeugend.69 Völkerrechtliche Bedenken stehen dem nicht entgegen, da der dänische Vorbehalt gegenüber der justiziellen Zusammenarbeit keine Reflexwirkung auf die anderen Mitgliedstaaten hat, denen gegenüber Dänemark zumindest eine Loyalitätspflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) trifft.70 Der deutsche Gesetzgeber ist offenbar von 62 Brödermann/Wegen, in: Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 32), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 2; dazu neigend auch Staudinger, Rechtsvereinheitlichung innerhalb Europas: Rom I und Rom II, AnwBl 2008, 8 (9); für erwägenswert halten dies Lando/Nielsen (Fn. 61), 1687 (1689). 63 Brödermann/Wegen, in: Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 32), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 2. 64 Brödermann/Wegen, in: Prütting/Wegen/Weinreich (Fn. 32), Art. 25 Rom I-VO, Rn. 2. 65 Näher Staudinger, in: Rauscher (Fn. 11), Einl Brüssel I-VO, Rn. 15 bzw. Heiderhoff, ebda., Einl EG-ZustellVO, Rn. 4. 66 Calliess/Hoffmann, in: Calliess (Fn. 32), Art. 24 Rom I-VO, Rn. 2; Ringe, in: Ludwig (Fn. 19), Art. 1 Rom I-VO, Rn. 52; Leible/Lehmann (Fn. 61), 528 (532); Martiny (Fn. 61), 737 (739 f.); Pfeiffer (Fn. 32), 622 (623); Rauscher/Pabst, Entwicklungen im europäischen und völkervertraglichen Kollisionsrecht 2007 – 2008, GPR 2008, 302 (306); Magnus, in: Staudinger (Fn. 32), Art. 24 Rom I-VO, Rn. 6. 67 Martiny (Fn. 61), 737 (739). 68 Ringe, in: Ludwig (Fn. 19), Art. 1 Rom I-VO, Rn. 52; Leible/Lehmann (Fn. 61), 528 (532); Martiny (Fn. 61), 737 (739); Pfeiffer (Fn. 32), 622 (623); Rauscher/Pabst (Fn. 66), 302 (306); näher von Hein, in: Rauscher (Fn. 11), Art. 2 Rom I-VO, Rn. 1. 69 Martiny (Fn. 61), 737 (739). 70 Martiny (Fn. 61), 737 (739 f.), im Ergebnis auch Pfeiffer (Fn. 32), 622 (623).

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der Anwendbarkeit der Rom I-VO in Fällen mit Bezug zu Dänemark ausgegangen, weil er im Rom I-Anpassungsgesetz die auf dem EVÜ beruhenden Art. 27 EGBGB a.F. gestrichen hat,71 obwohl in der Begründung ausdrücklich auf Dänemark Bezug genommen wird.72 Schließlich ist nicht erkennbar, wie zwischen Fällen mit und ohne Dänemark-Bezug rechtssicher differenziert werden sollte.73 Als Ausweg aus dem dänischen Dilemma wurden bislang zwei Alternativen diskutiert, entweder die Schaffung eines Rom I-Parallelübereinkommens oder der interne Nachvollzug der Rom I-VO durch die dänische Gesetzgebung.74 Seit dem 1. Dezember 2009 hat Dänemark aber aufgrund eines neuen Anhangs zum Protokoll Nr. 22 dieselbe Möglichkeit, ein opt-in zu Maßnahmen der justiziellen Zusammenarbeit zu erklären, die bisher Irland und Großbritannien genossen.75 Zweifelhaft ist jedoch in intertemporaler Hinsicht, ob, wofür der Wortlaut der Art. 3 und 4 des Anhangs spricht,76 sich diese Option erst auf nach dem 1. Dezember 2009 getroffene Maßnahmen bezieht. Hierzu gehört die Rom I-VO nicht, weil sie bereits am 24. Juli 2008 in Kraft getreten ist (Art. 29 Rom I-VO). Da die Verordnung aber erst ab dem 17. Dezember 2009 „gilt“, ließe sich bei teleologischer Auslegung auch eine großzügigere Betrachtung rechtfertigen.

III. Internationales Deliktsrecht Auch das Verhältnis der Rom II-VO zu kollisionsrechtlichen Staatsverträgen gestaltet sich unbefriedigend.77 Die Kommission beabsichtigte zunächst, die einschlä71

Gesetz vom 25. 06. 2009, BGBl. I, S. 1574. Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung (EG) Nr. 593/2008, BT-Drucks. 16/12104, S. 8. 73 Martiny (Fn. 61), 737 (739); im Ergebnis auch Lando/Nielsen (Fn. 61), 1687 (1689). 74 Lando/Nielsen (Fn. 61), 1687 (1689); Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2008: Fundamente der Europäischen IPR-Kodifikation, IPRax 2009, 1 (7); Francq, Le rÀglement „Rome I“ sur la loi applicable aux obligations contractuelles. De quelques changements …, Clunet 2009, 41 (49 in Fn. 27). 75 Hierauf weist Basedow, Editorial, EuZW 2009, Heft 5, S. V, hin. 76 Die Vorschriften nehmen Bezug auf Maßnahmen, die auf Grundlage des Vertrags über die Arbeitsweise der EU beschlossen wurden, der erst am 01. 12. 2009 in Kraft getreten ist. 77 Umfassend Kadner Graziano, The Rome II Regulation and the Hague Conventions on Traffic Accidents and Product Liability – Interaction, conflicts and future perspectives, NIPR 2008, 425 ff.; Nagy, The Rome II Regulation and Traffic Accidents: Uniform Conflict Rules with Some Room for Forum Shopping: How So?, J.Priv.Int.L. 6 (2010), 93 ff.; Staudinger, Das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Haager Straßenverkehrsübereinkommen und der Rom II-VO, in: FS für Jan Kropholler, 2008, S. 691 ff.; Thiede/Kellner, „Forum shopping“ zwischen dem Haager Übereinkommen über das auf Verkehrsunfälle anzuwendende Recht und der Rom-II-Verordnung, VersR 2007, 1624 ff.; zu den Vorentwürfen noch BriÀre, R¦flexions sur les interactions entre la proposition de rÀglement „Rome II“ et les conventions internationales, Clunet 2005, 677 ff.; Adensamer, Der Verkehrsunfall im Licht der Rom-IIVerordnung, ZVR 2006, 523 (527 f.). 72

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gigen Übereinkommen – insbesondere das Haager Produkthaftungsübereinkommen (HPÜ) und das Haager Straßenverkehrsunfallübereinkommen (HStVÜ)78 –, denen zahlreiche Mitgliedstaaten, wenn auch nicht die Bundesrepublik, angehören, schlicht unberührt zu lassen (Art. 25 des Kommissionsentwurfs von 2003).79 Auch das Parlament wollte die IPR-Staatsverträge grundsätzlich nicht antasten (Art. 25 Abs. 1 des Parlamentsentwurfs von 2005),80 sprach sich aber für die Verdrängung des HStVÜ durch die Rom II-VO zumindest in denjenigen Fällen aus, in denen alle Sachverhaltselemente zur Zeit des Schadenseintritts in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen sind (Art. 25 Abs. 3 Parlamentsentwurf 2005).81 Die Kommission hielt hingegen an ihrer Position fest (Art. 24 des Kommissionsentwurfs von 2006).82 Der im Jahre 2006 vorgelegte Gemeinsame Standpunkt sah wiederum eine nach der Drittstaatenbeteiligung differenzierende Lösung vor: Grundsätzlich sollten einschlägige kollisionsrechtliche Staatsverträge von der Rom II-VO unberührt bleiben (Art. 28 Abs. 1 Gemeinsamer Standpunkt).83 Die Verordnung sollte jedoch in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor solchen einschlägigen Übereinkommen genießen, die ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten gelten, soweit diese Bereiche betreffen, die in der Rom II-VO geregelt sind (Art. 28 Abs. 2 Gemeinsamer Standpunkt). Wie die Kommission zu Recht monierte,84 hätte die in Art. 28 Abs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts vorgesehene Ausnahme die Wirksamkeit des HPÜ und des HStVÜ indes nicht beeinträchtigt, weil beiden Übereinkommen auch Drittstaaten angehören.85 Dennoch ist die im Gemeinsamen Standpunkt vorgesehene Lösung letztlich in Art. 28 Rom II-VO kodifiziert worden.86 Es bleibt folglich bei einer beklagenswerten Zersplitterung des europäischen Deliktskollisionsrechts in den wichtigen Fallgruppen der Haftung für Produkte und Straßenverkehrsunfälle.87 Aufgrund des verbreiteten Unbehagens an diesem Kompromiss wurde die Kommission nach Art. 30 Abs. 1 Nr. ii Rom II-VO dazu verpflichtet, bis zum 20. August 2011 einen Bericht über die Auswirkungen des Art. 28 Rom II-VO auf das HStVÜ vorzulegen. Dieses Dokument wurde aber, soweit 78

Jayme/Hausmann (Fn. 14), Nr. 100. KOM(2003) 427 endg. 80 Abgedruckt in IPRax 2006, 404. 81 s. auch das in Art. 6b Abs. 1 des Parlamentsentwurfs von 2005 vorgesehene Wahlrecht der Mitgliedstaaten zwischen dem HStVÜ und Rom II-VO, hierzu näher Sonnentag, Zur Europäisierung des Internationalen außervertraglichen Schuldrechts durch die geplante Rom IIVerordnung, ZVglRWiss 105 (2006), 256 (292). 82 KOM (2006) 83 endg. 83 ABl.EU 2006 Nr. C 289E/68. 84 KOM(2006) 566 endg., S. 5. 85 Im Falle des HPÜ sind dies Kroatien, Mazedonien, Norwegen und Serbien; im Falle des HStVÜ Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, die Schweiz, Serbien und Weißrussland. 86 Ausführlich zur Problematik die in Fn. 77 Genannten. 87 Kritisch neben den in Fn. 77 Genannten auch Junker, in: Säcker/Rixecker (Fn. 32), Art. 25 Rom II-VO, Rn. 18. 79

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ersichtlich, bislang nicht veröffentlicht. Ferner waren die Mitgliedstaaten nach Art. 29 Rom II-VO verpflichtet, der Kommission die Existenz sowie die Kündigung einschlägiger Staatsverträge mitzuteilen. Diese Notifikationen sind am 17. Dezember 2010 veröffentlicht worden.88 Deutschland hat insoweit acht Übereinkommen mitgeteilt, die sich vor allem auf see- und immaterialgüterrechtliche Fragen beziehen.

IV. Internationales Scheidungsrecht Die Rom III-VO über das internationale Scheidungsrecht enthält in ihrem Art. 19 eine Lösung für Konventionskonflikte, die sich eng am Vorbild der Art. 25 Rom IVO und Art. 28 Rom II-VO orientiert. Für die Bundesrepublik hat die Frage keine praktische Bedeutung, denn das entsprechende Haager Abkommen89 wurde vom Deutschen Reich bereits mit Wirkung zum 1. Juni 1934 gekündigt.90 Da das Übereinkommen derzeit nur noch für Portugal und Rumänien, also ausschließlich zwischen zwei an der verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten, gilt,91 wird es auch in Bezug auf diese Staaten gemäß Art. 19 Abs. 2 Rom III-VO von der Verordnung verdrängt. Aus dieser geringen praktischen Relevanz dürfte sich erklären, dass die Rom III-VO anders als die Rom I- und die Rom II-VO den Mitgliedstaaten keinerlei Mitteilungspflichten in diesem Punkt auferlegt.

V. Ergebnis und Ausblick Die in den EU-Verordnungen zum IPR enthaltenen Vorschriften über Konventionskonflikte sind in mehrfacher Hinsicht reformbedürftig: Erstens bedarf der in den einschlägigen Vorschriften verwendete Begriff der „Kollisionsnormen“ dringend einer Klärung, ob hiermit allein allgemeine IPR-Vorschriften oder auch spezielle Anwendungsnormen des Internationalen Einheitsrechts gemeint sind. Zweitens ist der seit der Rom II-VO eingeschlagene Weg, Staatsverträgen auch bei rein inner-unionalen Sachverhalten einen Anwendungsvorrang einzuräumen, sofern an dem entsprechenden Abkommen auch Drittstaaten beteiligt sind, nicht überzeugend, weil er eine fortdauernde Fragmentierung des europäischen IPR bewirkt. Es bleibt daher abschließend zu hoffen, dass die bevorstehenden bzw. fälligen Evaluationen der Rom I- und II-VO (s. Art. 27 Rom I-VO; Art. 30 Abs. 1 Nr. ii Rom II-VO) zu größerer Rechtsklarheit und europäischer Einheit führen werden.92 88

Mitteilungen nach Art. 29 Abs. 1 Rom II-VO, ABl.EU 2010 Nr. C 343/7. Haager Abkommen zur Regelung des Geltungsbereichs der Gesetze und der Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet der Ehescheidung und der Trennung von Tisch und Bett vom 12. 06. 1902, RGBl. 1904, S. 231. 90 RGBl. 1934 II, S. 26. 91 Jayme/Hausmann (Fn. 14), S. 85 in Fn. 1. 92 Siehe zum Internationalen Deliktsrecht die Reformvorschläge der in Fn. 77 Genannten. 89

Völkerrechtsschichten Von Eckart Klein

I. Problematik Das Phänomen der normativen Verdichtung ist in der Rechtsgeschichte kein ungewöhnlicher Vorgang. So hat etwa zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Entwicklung konkreter Regeln auf der nationalen und internationalen Ebene plötzlich stark zugenommen. Immer häufiger wurden Normen aus der Staatenpraxis oder – more geometrico – aus naturrechtlichen Prinzipien abgeleitet.1 Durch fallrelevante Anwendung wurden die Konturen dieser Regeln weiter geschärft. Eine derartige rechtliche Verdichtung hat sich wie angedeutet auch auf der Ebene des Völkerrechts mehrfach ereignet, seitdem aus naturrechtlich gegründeten Überlegungen ein ganzes Völkerrechtssystem entwickelt worden war.2 Die stetig zunehmenden Möglichkeiten, große Entfernungen immer schneller zu überwinden, führten zu einem ständig stärker werdenden Wirtschafts- und Handelsverkehr zwischen den Staaten, der rechtlicher Regulierung bedurfte. Technische Fortschritte im Kommunikationssektor führten zur Gründung internationaler Verwaltungsunionen, den Vorgängern der heutigen Internationalen Organisationen, die einen normativen Unterbau benötigten und eigenes Recht produzierten, um die ihnen übertragenen Funktionen erfüllen zu können. Mit der Gründung des Völkerbundes erhielt diese Entwicklung einen erheblichen Auftrieb. Die in unterschiedlich stringenter Weise Recht schaffende Tätigkeit der Internationalen Organisationen, an ihrer Spitze – auf universeller Ebene3 – die Vereinten Nationen, ist heute kaum mehr wegzudenken.4 Die von der International Law Commission (ILC), einem Hilfsorgan der Generalversammlung, geleistete, ihrem Arbeitsauftrag entsprechend auf das Völkerrecht bezogene progressive Kodifikationsarbeit5 erhöht die Anwendungsfähigkeit von Regeln, die zuvor im Hinblick auf ihre Existenz, zumindest aber auf ihren Inhalt häufig umstritten waren. Auch im Übrigen ist eine gewisse Lockerung der völkerrechtlichen Rechtserzeugung 1

Hierzu näher Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990, S. 155 ff. Hinzuweisen ist hier etwa auf Pufendorf, De iure naturae et gentium, 1672; ders., De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, 1673. 3 Auf der regionalen europäischen Ebene ist, wenn man an die EG/EU denkt, der Grad der Normkreation besonders hoch. 4 Klein, Die Vereinten Nationen und die Entwicklung des Völkerrechts, in: Volger (Hrsg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, 2007, S. 21 ff. 5 Vgl. Art. 13 Abs. 1 lit. a SVN; zum Statut der ILC vgl. UN Doc. A/CN.4/4/Rev. 2. 2

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erfolgt, die sich tendenziell von den überkommenen Völkerrechtsquellen, jedenfalls was das Gewohnheitsrecht betrifft, emanzipiert.6 Die Vermehrung der Völkerrechtsnormen und ihre der Rechtssicherheit dienende konkretere Fassung hängen jedoch vor allem mit der Zunahme völkerrechtlicher Verträge zusammen, welche die Staaten untereinander (oder auch mit anderen Völkerrechtssubjekten) schließen. Nach einer von mir vor einigen Jahren durchgeführten Zählung war die Bundesrepublik Deutschland Ende 2006 Partei von 2 536 bilateralen Verträgen (mit 184 Staaten) und von 752 multilateralen Verträgen. Das Yearbook of International Organizations 2008/09 verzeichnet eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in 86 völkerrechtlich begründeten Internationalen Organisationen. Diese Zahlen, die sich bis heute eher gesteigert haben dürften, lassen etwas von der Dichte des Netzes ahnen, das die Staaten selbst geknüpft haben und das ihr Verhalten – neben den sonstigen einschlägigen Normen – regelt oder doch jedenfalls regeln soll. Globalisierung und technischer Fortschritt haben überdies ganze Regelungsbereiche neu entstehen lassen, etwa das Weltraumrecht, das internationale Umweltrecht und Wirtschaftsrecht mit allen ihren vielfältigen Facetten. Insoweit wird darüber diskutiert, ob sich diese neuen Rechtsgebiete noch in das allgemeine Völkerrecht integrieren lassen oder ob eine Fragmentierung stattfindet.7 Wichtiger als die Rechtsvermehrung als solche ist für das Verständnis des Völkerrechts, dass die Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 einen noch ganz anderen Entwicklungsschub freigesetzt hat.8 Die Satzung der Vereinten Nationen hat insoweit revolutionierend gewirkt, als sie neben die Betonung der souveränen Gleichheit der Staaten die Wahrung des Weltfriedens und den Schutz der Menschenrechte gesetzt hat. Das bisherige wertneutrale, ganz vom Souveränitätsprinzip bestimmte Völkerrecht, wie es sich nach 1648 (Westfälischer Friede) und bestätigt 1815 (Wiener Kongress) herausgebildet hatte und jedenfalls bis zum Ende des Ersten, wohl sogar Zweiten Weltkriegs Bestand hatte9, ist mit Werten bedacht worden. Werte haben die Tendenz, sich auszuweiten und zu vertiefen. Die Entwicklung der Menschenrechte zeigt dies mit großer Klarheit. Dazu muss es hier genügen, einerseits auf die erhebliche Zunahme menschenrechtlicher Konventionen auf universeller und regionaler Ebene mit einer Vervielfältigung und Spezifizierung der entspre6 Vgl. dazu die zahlreichen Beiträge in: Wolfrum/Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, 2005. 7 Pauwelyn, Fragmentation of International Law, in: Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), OUP Online (Stand: Sept. 2006) m.w.N. 8 Vgl. zu dem dadurch hervorgerufenen Phänomen des sich Überlagerns verschiedener älterer und neuerer Entwicklungen, der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, 2000, S. 165. 9 Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 749 ff. Bereits das klassische Völkerrecht hatte seinerseits die Wende vom gerechten Krieg hin zum ius ad bellum als Bestandteil der staatlichen Souveränität vollzogen; dazu Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Nachdruck 1974 der Erstausgabe 1950, S. 125; ferner Steiger, Die Träger des ius belli ac pacis 1648 – 1806, in: Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, 2000, S. 115 (133).

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chenden Garantien hinzuweisen, andererseits aber auch auf die Ausweitung des Kreises der Berechtigten und Verpflichteten dieser Garantien. Die ersten Menschenrechtserklärungen gingen wie selbstverständlich davon aus, dass Frauen und Sklaven keine eigenen Rechtsträger sind10. Auch der Kreis der Verpflichteten hat sich erweitert. Heute wird darüber diskutiert, ob Verpflichtungsadressaten menschenrechtlicher Garantien neben den Staaten und Internationalen Organisationen auch transnationale Unternehmen sein können.11 Hinzu tritt die (versuchte) Ausweitung des inhaltlichen Umfangs der Garantie. Staaten sind nicht nur gehalten, selbst diese Gewährleistungen zu beachten, sondern in zunehmendem Maß werden daraus auch positive Schutzpflichten abgeleitet.12 Diese Entwicklung hat mit der Proklamierung des Konzepts einer generellen Responsibility to Protect („R2P“) ihren bisherigen Entwicklungshöchststand erreicht.13 Auch das Gebot der Friedenswahrung und das Gewaltverbot werden nicht mehr nur auf die Staaten bezogen. Entsprechende Resolutionen des Sicherheitsrates adressieren vielmehr zunehmend auch non-state actors.14 Mit diesen knappen Bemerkungen kommt es mir nicht auf eine befürwortende oder ablehnende Stellungnahme zu diesen Entwicklungen an, sondern allein darauf, auf die Dynamik hinzuweisen, die – man möchte fast sagen: zwangsläufig – mit der Durchwertung des Völkerrechts verbunden ist. Eine wesentliche Folge dieses Vorgangs ist, dass neue Normen entstehen (oder doch ihr Entstehen behauptet wird), die von diesen Werten substanziell durchdrungen sind, sie reflektieren, dass es aber andererseits Normen und Normbereiche gibt, die (noch) völlig dem klassischen Völkerrecht verhaftet, also souveränitätsgeprägt sind. Damit sind von ganz unterschiedlichen Konzeptionen her gedachte Schichten völkerrechtlicher Normen entstanden, deren Verhältnis zueinander jedenfalls nicht von vornherein auf der Hand liegt, sondern der Klärung bedarf.15 Die bereits erwähnte schlichte Nebeneinanderstellung der souveränen Gleichheit der Staaten mit den Geboten der Friedenswahrung und Achtung der Menschenrechte durch die Satzung der Vereinten Nationen (Art. 1 und 2) löst jedenfalls das Problem nicht.16

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Die Bill of Rights of Virginia (1776) und die Französische Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers (1789) sprechen zwar hochgemut von „alle Menschen“, „jeder Mensch“, „kein Mensch“ oder „jedermann“, doch wurde die im Text erwähnte Exklusion nicht als Widerspruch empfunden. 11 Vgl. Fastenrath, Die Verantwortlichkeiten transnationaler Unternehmen und anderer Wirtschaftsunternehmen im Hinblick auf die Menschenrechte, in: von Schorlemer (Hrsg.), „Wir die Völker“ – Strukturwandel in der Weltorganisation, 2006, S. 69 ff. 12 Dazu die Beiträge in: Klein (Hrsg.), The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, 2000; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001. 13 Hierzu etwa Verlage, Responsibility to Protect, 2009; näher unten III.1. 14 Vgl. etwa nur Sicherheitsratsresolutionen 1333 (2000), 1368 (2001) und 1377 (2001). 15 Klein, Staat und Zeit, 2006, S. 35 ff. 16 In diese Richtung weist aber der Vorschlag von Badescu, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect. Security and Human Rights, 2011, S. 19 ff., wonach der Konflikt dadurch gelöst werden könne, dass Souveränität nicht gegen Menschenrechte gestellt werden

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Gewiss: Das Problem ist nicht völlig neu. Einbrüche des Neuen in das bislang Bestehende hat es immer gegeben und hat dem Früheren seinen Stempel aufgedrückt. Die rudimentären Regeln des ius in bello, die sich übrigens erst auf der Grundlage der Anerkennung der Souveränität entwickeln konnten, weil jeder Souverän den anderen im gleichen Recht gesehen hat,17 sind durch das Aufkommen und die allmähliche Verfestigung humanitärer Vorstellungen seit den Bemühungen von Henry Dunant18 signifikanter Evolution unterworfen gewesen. Dass diese Umformung in diesem Umfang gelingen konnte, liegt im Wesentlichen daran, dass das Neue als im Interesse der Staaten selbst gesehen wurde. Gleichwohl ist auch dieses Rechtsgebiet nicht frei von inneren Bruchstellen. Es mag insofern genügen, auf die Problematik des sog. Begleit- oder Kollateralschadens aufmerksam zu machen. Die heute maßgeblichen Regeln sehen einen Kompromiss zwischen militärischer Notwendigkeit und Schutz der Zivilbevölkerung vor. Danach ist ein Angriff verboten, „bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“.19 Die notwendige, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stets verbundene Abwägung der kollidierenden Interessen ist nicht vorab zugunsten des einen oder anderen Prinzips (souveräne Kriegsführung oder humanitäre Erwägungen) entschieden, sondern wird vom Einzelfall abhängig gemacht.20 Ob dieser pragmatische Ansatz eine generelle Leitlinie bietet, um Widersprüche zwischen den souveränitätsgeprägten Völkerrechtsnormen und den im obigen Sinn wertgebundenen Völkerrechtsregeln aufzulösen, bleibt zu prüfen. Dabei können die folgenden Ausführungen nur ganz vorläufiger Natur sein.

II. Lösungsmöglichkeiten 1. Normenhierarchie Die Annahme einer Normenhierarchie im Völkerrecht ist theoretisch ein durchaus probates Mittel, um Normkollisionen aufzulösen. Nun ist allerdings anerkannt, dass die Völkerrechtsquellen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, dürfe, sondern mit diesen zu denken sei. Das ist zwar richtig, löst aber nicht per se ganz konkrete Kollisionen. 17 Schmitt (Fn. 9), S. 125. 18 Vgl. Dunant, Un souvenir de Solf¦rino, 1862. 19 Art. 51 Abs. 5 (b) Zusatzprotokoll I zu den Genfer Konventionen; dazu etwa Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, S. 631 (701). 20 Dinstein, The Conduct of Hostilities Under the Law of International Armed Conflict, 2. Aufl., 2010, S. 297, meint, der Wunsch nach Humanität müsse „march in lockstep with the compelling demands of reality“. Zur Problematik generell auch neuestens Ben-Naftali (Hrsg.), International Humanitarian Law and International Human Rights Law, 2011.

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sondern prinzipiell gleichrangig sind.21 Grundsätzliche Probleme bereitet dies nicht. Da völkergewohnheitsrechtliche Normen in der Regel dispositiv sind, vermögen sich die Staaten konsensual darüber hinwegzusetzen. Sie können auch im gegenseitigen Verhältnis übereinstimmend bestimmten Verträgen Vorrang einräumen.22 Einer generellen Normenhierarchie im Völkerrecht bedarf es daher nicht. Ansätze hierzu sind freilich insoweit erkennbar, als sich die Konzeption von ius cogens im Völkerrecht (peremptory norms of public international law) durchgesetzt hat, auch wenn nach wie vor nicht in jeder Hinsicht klar ist, welche Normen diese Rechtsqualität tatsächlich haben; ein fester Kern ist indes durchaus definierbar.23 Ius-cogens-Normen reflektieren ausschnitthaft die heutige Werterfülltheit des Völkerrechts. Dazu muss nur an das Gewaltverbot, das Genozidverbot, das Folterverbot und das Selbstbestimmungsrecht der Völker erinnert werden, die heute allgemein als Ausdruck zwingenden Völkerrechts angesehen werden. Diese Normen sind nicht völlig unantastbar, da sie von Normen gleicher Rechtsnatur geändert werden können. Aber sie führen zur Nichtigkeit widersprechender Vertragsnormen24 und auch kollidierender Einzelakte, die von Völkerrechtssubjekten gesetzt werden.25 Insoweit kann sicher von einer Überordnung dieser Normen im Verhältnis zu anderen (kollidierenden) Völkerrechtsregeln oder Rechtsakten gesprochen werden. Im Übrigen ist vieles ungeklärt. Wirken sich die werterfüllten Ius-cogens-Normen auch auf die Interpretation anderer Völkerrechtsnormen aus, mit denen sie wenn nicht in direkte Kollision so doch in eine „feindliche“, d. h. ihrer Intention widersprechende Berührung geraten? Zwei Beispiele mögen für dieses Problem angeführt werden. Der Internationale Gerichtshof verneint in ständiger Rechtsprechung, dass die (behauptete) Verletzung einer zwingenden Völkerrechtsnorm automatisch den Weg zu ihm eröffnet: „The Court observes, however, as it has already had occasion to emphasize, that ,the erga omnes character of a norm and the rule of consent to jurisdiction are two different thingsÐ (East Timor (Portugal v. Australia), Judgment, I.C.J. Reports 1995, p. 102, para. 29) … The same applies to the relationship between peremptory norms of general international law (jus cogens) and the establishment of the CourtÏs jurisdiction; the fact that a dispute relates to compliance with a norm having such a character, which is assuredly the case with regard to the prohibition of genocide, cannot of itself provide a basis for the jurisdiction of the Court to entertain that dispute. Under the CourtÏs Statute that jurisdiction is always based on the consent of 21

Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, in: ders. (Fn. 19), S. 1 (69, 71). 22 Vgl. etwa Art. 103 SVN und Art. 30 Abs. 1 WVK. 23 Frowein, Jus cogens, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. III, 1997, S. 65 (66 f.); Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: Graf Vitzthum (Fn. 19), S. 579 (590). 24 Art. 53 und 64 WVK. 25 Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century, in: Hague Academy of International Law, Collected Courses Vol. 281 (1999), S. 9 (82).

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the parties.“26 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Al-AdsaniFall ganz parallel entschieden, auch wenn es hierfür nur eine knappe Mehrheit gab; auf die Entscheidung ist zurückzukommen.27 Ein weiterer Fall stimmt nachdenklich. Die Frage der VN-Generalversammlung, ob die Drohung mit Nuklearwaffen und gar ihr Einsatz gegen (zwingende) Normen des Völkerrechts verstoßen, hat der Internationale Gerichtshof zwar überwiegend bejaht, aber für den Fall, dass bei Ausübung des Selbstverteidigungsrechts das „fundamental right of every state to survival“ auf dem Spiel stehe, mit der ausschlaggebenden Stimme des Präsidenten gemeint, dass eine Antwort hierauf auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts nicht gegeben werden könne.28 Dieses durchaus umstrittene non liquet zeigt geradezu exemplarisch die Schwierigkeit auf, wie Kollisionen von Normen aus verschiedenen Normschichten rechtlich aufgelöst oder eben – zumindest gegenwärtig – nicht aufgelöst werden können.29 Demgegenüber weist die vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, des Überwachungsorgans für den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, vertretene Rechtsauffassung, darauf hin, dass menschenrechtliche Verpflichtungen sich gegenüber souveränitätsgeprägten Regeln durchsetzen können. Der Ausschuss, übrigens gefolgt von den anderen Vertragsausschüssen, vertritt seit geraumer Zeit die These, dass der Untergang eines Staates die aus einem von diesem ratifizierten Menschenrechtsvertrag resultierenden Verpflichtungen nicht zum Erlöschen bringe, sondern von dem Nachfolgerstaat auch ohne ausdrückliche Sukzessionserklärung oder Ratifikation zu befolgen seien.30 Die Begründung hierfür ist, dass die Menschenrechte die Individuen berechtigen und diese ihnen einmal zugestandenen Rechte nicht durch Souveränitätswechsel automatisch wieder entzogen werden dürfen.31 Mit dieser Betonung der Kontinuität menschenrechtlicher Verpflichtungen 26 ICJ Reports 2006, S. 6, Ziff. 64 (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda). Der in Bezug genommene Ost-Timor-Fall war vom IGH mit einer Mehrheit von 14:2 entschieden worden. 27 Case of Al-Adsani v. The United Kingdom, ECtHR Reports 2001 – XI, 70; dazu näher unten III.2. 28 ICJ Reports 1996, S. 226, Ziff. 96 f. (Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons – Advisory Opinion): „However, in view of the current state of international law, and of the elements of facts of its disposal, the Court cannot conclude definitively whether the threat or use of nuclear weapons would be lawful or unlawful in an extreme circumstance of selfdefence, in which the survival of a State would be at stake.“ 29 Zur Kritik am non liquet vgl. das abweichende Votum der Richterin Higgins, aaO., S. 583, Ziff. 30 ff. 30 Hierzu neuerdings ausführlich Pocar, Some Remarks on the Continuity of Human Rights and International Humanitarian Treaties, in: Cannizzaro (Hrsg.), The Law of Treaties Beyond the Vienna Convention, 2011, S. 279 ff. 31 Eine Kündigung der meisten Verträge, nicht des IPBPR, ist aber möglich; dazu Klein, Denunciation of Human Rights Treaties and the Principle of Reciprocity, in: Fastenrath u. a. (Hrsg.), From Bilateralism to Community Interest. Essays in Honour of Judge Bruno Simma, 2011, S. 477 ff.

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wird ein wichtiger Akzent zugunsten der Durchsetzung der hinter diesen Pflichten stehenden Werte gesetzt. Allerdings ist keineswegs sicher, dass diese Ansicht allgemein geteilt wird. Während der Menschenrechtsausschuss etwa Kasachstan als Nachfolgestaat der Sowjetunion, die den Pakt ratifiziert hatte, an den Pakt gebunden sah und daher von der Verpflichtung zur Vorlage eines Staatenberichts ausging, obwohl dieser Staat eine Sukzessionserklärung zunächst nicht abgegeben hatte,32 wurde Kasachstan in der vom VN Generalsekretär geführten Liste nicht als Vertragspartei aufgeführt.33 Auch in der Literatur wurde diese Ansicht zurückgewiesen.34 Doch welcher Auffassung man sich auch immer anschließen mag: Das Beispiel beleuchtet erneut das Problem, das entsteht, wenn das Verhältnis von aus verschiedenen Völkerrechtsschichten stammenden Normen zueinander zu bestimmen ist. 2. Kollisionsnormen: Lex-posterior- und Lex-specialis-Regel Der Rückgriff auf die allgemein anerkannten Kollisionsregeln des Lex-specialisund des Lex-posterior-Satzes verspricht für unser Problem wenig Hilfe. Gewiss sind die Staaten in der Lage, etwa durch die Schaffung neuer Vertragsregeln das zwischen ihnen bestehende Rechtsverhältnis zu ändern. Insoweit gilt in ihrem Verhältnis dann das neue (spätere) Recht,35 wenn nicht das frühere als lex specialis anzusehen ist und darum von den später geschaffenen Regeln nicht verdrängt wird. Diese Lösung gilt aber unabhängig von der Zugehörigkeit der späteren oder spezielleren Norm zu einer der beiden Rechtsschichten. Die besondere Wertgebundenheit einer Norm wirkt sich nach bisheriger Erkenntnis hier nicht aus. So können Menschenrechtsverträge von den Vertragsparteien geändert und grundsätzlich – wenn sich nicht aus dem Vertrag etwas anderes ergibt – sogar beendet werden; auch einzelne Vertragsparteien können den Vertrag in der Regel für sich selbst beenden und damit eine neue Rechtslage schaffen.36 Gegenüber einer höherrangigen Norm greift weder der Lex-posterior- noch der Lex-specialis-Satz; Letzteres gilt freilich nur, wenn sich trotz der Spezialität eine 32 Vgl. Report of the Human Rights Committee 2001/2002, vol. I, S. 141, UN Doc. A/57/ 40 (Vol. I). 33 Multilateral treaties deposited with the Secretary-General, Status at 31 December 2000 (ST/LEG/SER.E/19 vol. I, S. 173). 34 Vgl. nur Simma, Commissions and Treaty Bodies of the UN System, in: Wolfrum/ Röben (Fn. 6), Developments of International Law in Treaty Making, 2005, S. 581 ff. Allerdings können sich Verpflichtungen aus dem Pakt ergeben, ohne dass ein Staat Partei des Vertrags ist, wie es für die VR China bezüglich Hongkong und Macao anzunehmen ist; vgl. dazu Klein, Thoughts on the Legal Status of the PeopleÏs Republic of China Relating to the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Liber amicorum Günther Jaenicke, 1998, S. 165 ff. 35 Vgl. Art. 30 WVK. 36 Gewohnheitsrechtliche Bindungen, die auch erst aus dem Vertrag erwachsen können (vgl. Art. 38 WVK), sind allerdings durch Vertragsbeendigung nicht abzustreifen.

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Kollision ergibt.37 Ius-cogens-Normen sind danach also allenfalls dann angreifbar, wenn die speziellere oder spätere Norm auf derselben Normebene angesiedelt ist.38 Vor allem wertgebundene Völkerrechtssätze können, wie bereits erwähnt, als Bestandteile des zwingenden Völkerrechts identifiziert werden. Insoweit setzen sie sich bei direkter Kollision in der Tat gegenüber anderen Völkerrechtsnormen oder einseitigen Akten durch. Nun haben aber keineswegs alle werterfüllten Normen Ius-cogens-Charakter. So können zahlreiche, sogar die meisten menschenrechtlichen Gewährleistungen dieser Kategorie nicht zugeordnet werden.39 Aber wir haben gesehen, dass selbst die Normen zwingenden Rechts nicht ohne Weiteres andere nicht in diesem Rang stehende Regeln, die aus der Souveränitätsschicht des Völkerrechts stammen, verdrängen können, um ihre Durchsetzung zu ermöglichen. An den OstTimor- und den Nuklearwaffenfall ist zu erinnern.

III. Interne Schichtkonflikte Nicht nur die Auflösung von Normenkonflikten zwischen der souveränitätsgeprägten und der wertgeprägten Völkerrechtsschicht führt zu Problemen. In gewisser Weise noch ratloser machen den Betrachter Konflikte, die sich zwischen den vom Völkerrecht aufgenommenen Werten auftun, zumindest auftun können. Die Schwierigkeiten sollen am Beispiel eines Konflikts zwischen den Werten Frieden und Menschenrechte und zwischen Menschenrechten selbst erörtert werden. 1. Friede und Menschenrechte Grundsätzlich besteht zwischen den beiden „Hauptwerten“ des heutigen Völkerrechts kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Menschenrechte werden ausdrücklich als „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bezeichnet.40 Sie ergänzen, stärken und stützen sich gegenseitig. Wo Menschenrechte nicht geachtet werden, ist der Friede in Gefahr. Wo kein Friede, sondern militärischer Konflikt herrscht, sind die Menschenrechte in hohem Maß bedroht. Man wird sogar sagen können, dass es keinen militärischen Konflikt gibt, in dem Menschenrechte nicht missachtet werden. 37 Das ist der Fall, wenn die höherrangige Norm umfassend und absolut ist, also alle Abweichungen verbietet. Das Gewaltverbot z. B. ist nicht dieser Art, wie das Selbstverteidigungsrecht und Art. 42 SVN zeigen. 38 Dazu Art. 53 Satz 2 WVK: „… which can be modified only by a subsequent norm of general international law having the same character.“ 39 Vgl. The American Law Institute, Restatement of the Law. The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 2, 1987, S. 167. 40 So die Präambeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der beiden Pakte für bürgerliche und politische sowie für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966.

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Dennoch kann es zu Konfliktlagen im Verhältnis Friede und Menschenrechte kommen, die allerdings stets Folge von vorausgegangenen Völkerrechtsverletzungen sein werden. Der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte eigener oder fremder Staatsangehöriger gegen einen anderen Staat führt notwendig zu einer solchen Kollision. Die Aufrechterhaltung des Friedens wird bei Durchführung einer humanitären Intervention dem Schutz der Menschenrechte nachgeordnet.41 Aufgrund der engen Verzahnung von Friede und Menschenrechten könnte man natürlich argumentieren, dass im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen der Friede schon ohnehin bedroht, wenn nicht gar gebrochen ist, so dass der militärische Eingriff von außen nicht (mehr) selbst den Frieden gefährdet oder bricht. Doch ist dieses Argument jedenfalls insoweit nicht überzeugend, als es übersieht, dass militärische Interventionen zumindest zu einer Ausweitung und Vertiefung der Auseinandersetzung führen, die den internationalen Frieden zunächst einmal weiter gefährden oder gar suspendieren, bevor möglicherweise – und wie mit der Intervention ja auch gewünscht – der Friede restituiert werden kann.42 Aber auch die Unterlassung der Intervention befreit nicht aus dem Dilemma, denn bekanntlich ist nach einem Talleyrand zugeschriebenen Wort auch eine Nichtintervention eine Intervention, und zwar zugunsten des jeweils Stärkeren. Für den besprochenen Wertekonflikt bedeutet dies, dass der Schutz der Menschenrechte hinter das Bestreben, den Frieden (mit militärischer Gewalt) nicht weiter zu gefährden, zurücktritt. Wie die Staaten auch immer in diesen Fällen entscheiden, sie treffen in der konkreten Situation zwangsläufig eine Entscheidung für und zugleich gegen den Schutz des einen oder anderen Wertes. Dies löst den Wertekonflikt zwar auf, aber auf einer je einzelfallbezogenen Basis. Eine generelle Kollisionsnorm, die den Konflikt in eine bestimmte Richtung hin entscheiden würde, besteht somit nicht. Anderes würde nur gelten, wenn man a priori entweder dem einen oder anderen Wert grundsätzlich den Vorrang einräumen würde. Argumente in beide Richtungen werden geltend gemacht. So sind die Gegner einer humanitären Intervention der Auffassung, dass dem Frieden stets der Vorrang gebühre. Demgemäß wurde etwa der (einseitigen) Befreiungsaktion eigener Staatsangehöriger in Entebbe durch Israel43 ebenso wie der Intervention der NATO-Staaten im Kosovo44 zum Schutz der dort lebenden nicht serbischen Be41 Vgl. die Beiträge in: Welsh (Hrsg.), Humanitarian Intervention and International Relations, 2004. 42 Zu Recht sprechen deshalb MacDonald/Alston, Sovereignty, Human Rights, Security: Armed Intervention and the Foundational Problems of International Law, in: Alston/MacDonald (eds.), Human Rights, Intervention, and the Use of Force, 2008, S. 1 (31) von dem „irreducible dilemma posed by the foundational challenges of sovereignty, human rights, and security“. Auf S. 29 heißt es: „(T)he dilemmas can be properly characterized as irreducible insofar as there is no way of completely transcending them, of disposing of them to the satisfaction of all in every situation.“ 43 Vgl. Beyerlin, Die israelische Befreiungsaktion von Entebbe in völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 37 (1977), 213 ff. 44 Hierzu mit vielen Nachweisen pro und contra Bothe (Fn. 19), S. 639 (661 ff.). Vgl. ferner Morris, Humanitarian Intervention in the Balkans, in: Welsh (Fn. 41), S. 98 (110 ff.).

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völkerung die Rechtmäßigkeit abgesprochen. Umgekehrt kann argumentiert werden, dass das Konzept der Responsibility to Protect („R2P“) nicht nur den Einsatz von Waffengewalt bei schweren Menschenrechtsverletzungen erlauben, sondern geradezu fordern, den Staaten also eine entsprechende Handlungspflicht auferlegen würde. Auch dann wäre die Konfliktlösung, wenn die Tatbestandsmerkmale gegeben sind, vorgezeichnet. Beide angeführten Bedingungen sind allerdings stark umstritten. Dies gilt schon für die Frage, ob auf der Basis der Responsibility to Protect überhaupt der Waffeneinsatz legitimiert werden kann, oder ob nur friedliche Interventionsmaßnahmen, wie etwa diplomatische Proteste oder Wirtschaftssanktionen, zulässig sind;45 das ist ohnedies die Ansicht all derer, die militärische humanitäre Interventionen (ohne Legitimierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen) ablehnen. Die Zweifel richten sich aber vor allem dagegen, dass das R2P-Konzept unter bestimmten Umständen zur letztlich sogar militärischen Intervention zwinge. Es darf als ausgeschlossen gelten, dass sich eine derartige Meinung bereits gewohnheitsrechtlich verfestigt hat.46 Immerhin: Das Konzept schließt eine militärische Intervention zum Schutz der Menschenrechte nicht a limine aus, gibt aber nicht grundsätzlich die Entscheidung vor. Mit anderen Worten: Die Staaten können sich im Einzelfall entscheiden. Das R2P-Konzept, seine normative Bedeutung unterstellt,47 enthält richtigerweise keine generelle Kollisionsklausel. Soweit es die Verfechter des Verbots jeder nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimierten militärischen Intervention angeht, geben sie zwar eine klare Konfliktlösung vor. Ob diese Auffassung indes ihrerseits tragfähig ist, ist schon angesichts der Konstruktion des Sicherheitsrats zweifelhaft, der außer Stande sein kann, weder für noch gegen eine militärische Intervention mehrheitlich zu votieren, von der Vetoproblematik einmal ganz abgesehen. So scheiterte einerseits die Initiative der NATO-Staaten, den Sicherheitsrat zur Unterstützung einer militärischen Intervention zu bewegen, andererseits aber auch der russische Versuch, die NATO-Intervention im Kosovo vom Sicherheitsrat verurteilen zu lassen, bereits daran, dass die Mindestzahl von neun befürwortenden Stimmen nicht erreicht wurde.48

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Hierzu bedarf es aber des R2P-Konzepts nicht. Verlage (Fn. 13), S. 185 ff. 47 Das auf Anregung des Generalsekretärs Kofi Annan von der Generalversammlung angenommene (A/RES/60/1, Annex Nr. 138, 139) und in dem von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) im Jahr 2001 veröffentlichten Bericht weiter ausgearbeitete Konzept (dazu Badescu (Fn. 16), S. 69 ff.) wird häufig als bloß nicht-rechtliche Aussage verstanden; vgl. Hehir, The responsibility to protect in international political discourse: encouraging statement of intent or illusory platitudes?, The International Journal of Human Rights 2011, 1331 (1342), wonach das Konzept „lacks substance and is at most an emotive political rallying cry“. Auch wenn man R2P so nicht beschreiben will, werden damit doch die Zweifel deutlich, die sich mit einer Aufnahme des Konzepts in das geltende Völkerrecht verbinden. 48 Vgl. Klein/Schmahl, Die Internationalen und die Supranationalen Organisationen, in: Graf Vitzthum (Fn. 19), S. 263 (360). 46

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2. Menschenrechtskonflikte Entsprechend der Konstellation eines Grundrechtskonflikts auf nationaler kann es auch auf internationaler Ebene zu einer solchen Kollision von Menschenrechtsgarantien kommen.49 Das Recht auf Leben kann gegen das Lebensrecht einer anderen Person treten, das Recht auf Leben gegen das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und das Recht auf Meinungsäußerung oder auf Versammlungsfreiheit gegen das Recht auf Respektierung der Privatsphäre. Ein derartiger Konflikt kann auch in diesem Verhältnis regelmäßig nicht auf einer die Menschenrechte hierarchisch ordnenden Grundlage gelöst werden. Diese Möglichkeit ist für die internationale wie die nationale Ebene nahezu immer ausgeschlossen.50 Im deutschen Recht entzieht sich allein die Menschenwürde jeder Abwägung.51 Die enge Verbindung mit der Menschenwürde, die als „foundational value“ von wesentlicher Bedeutung auch für den internationalen Menschenrechtsschutz ist52, erklärt, weshalb vor allem das Folterverbot (das Recht, nicht gefoltert zu werden) und das Genozidverbot, aber auch das Verbot der Diskriminierung aus rassischen Gründen a priori einer Einzelfallabwägung entzogen sind, sich also in Konfliktsituationen stets durchsetzen. Dies gilt aber nur dort, wo es zu einer wirklichen Kollision kommt. Der bereits oben erwähnte, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedene Fall Al-Adsani zeigt, dass diese Feststellung offenbar gar nicht so leicht zu treffen ist.53 Sowohl die knappe Mehrheit der Richter (9) als auch die Minderheit (8) haben die Frage des Vorliegens einer solchen Kollision nicht geprüft, sind vielmehr stillschweigend von einer solchen ausgegangen. Während die Minderheit das Folterverbot (ius cogens) der dispositiven gewohnheitsrechtlichen Norm „Staatenimmunität“ entgegenstellte und so den Vorrang der zwingenden Norm – und darum eine Verletzung des Rechts auf den Zugang zu den Gerichten (Art. 6 EMRK) – ohne weitere Umstände annahm, ging die Mehrheit davon aus, dass sich gewohnheitsrechtlich keine Regel entwickelt habe, nach der Staatenimmunität eingeschränkt werde, wenn eine Ius-cogens-Verletzung außerhalb des Forumstaates zur Debatte stehe. Tatsächlich hätten beide, Mehrheit und Minderheit, prüfen müssen, ob das Recht, nicht gefoltert zu werden, jedenfalls heute auch das Recht enthält, einen in einem Drittstaat erfolgten Verstoß gegen das Folterverbot vor allen nationalen Gerichten geltend zu machen.54 Der Fall zeigt jedenfalls, dass die Folgen eines Ius-cogens-Verstoßes keineswegs völlig aufgearbeitet sind. Die Hierarchie-Vorstellung hilft nur beschränkt weiter. 49 Bethge, Grundrechtskollisionen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 72 (S. 667 ff.). 50 Klein, Establishing a Hierarchy of Human Rights: Ideal Solution or Fallacy?, Israel Law Review 41 (2008), 477 ff. 51 Daran ist festzuhalten. Vgl. etwa BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293). 52 Chaskalson, Human Dignity as a Constitutional Value, in: Kretzmer/Klein (Hrsg.), The Concept of Human Dignity in Human rights Discourse, 2002, S. 133 (135). 53 Case of Al-Adsani v. The United Kingdom, ECtHR Reports 2001 – XI, 70. 54 Hierzu Klein, Al-Adsani Case, in: Wolfrum (Fn. 7), (Stand: Mai 2007).

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Im Übrigen wird von Fall zu Fall überlegt, mithin abgewogen werden müssen, welches Recht dem anderen Recht in concreto zu weichen hat. Die denkbaren Situationen sind bei Weitem zu vielfältig, als dass abstrakt und generell ein Vorrang des einen oder anderen Rechts angenommen werden könnte. Dafür würde jede überzeugende Entscheidungsbasis fehlen. Nur in Kenntnis aller konkreten Umstände der jeweiligen Situation kann dem einem Recht der Vorrang eingeräumt werden. Im nächsten Fall mag das andere Recht überwiegen. Die Kollisionslösung erfolgt in der hier erörterten Konstellation somit ad hoc, stets angeleitet von den rechtlich zugelassenen Einschränkungsmöglichkeiten der jeweiligen Rechte und immer kontrolliert vom Übermaßverbot. Das konkrete Ergebnis dieses Abwägungsvorgangs ist prinzipiell nicht vorgegeben.

IV. Schlussbemerkung Ob sich in Zukunft die geschilderte Situation zugunsten einer generellen Überordnung der Wertschicht über die Souveränitätsschicht des Völkerrechts ändern wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls kurz- und mittelfristig wird man davon schwerlich ausgehen können. Es wird also bei der genauen Einzelfallanalyse des jeweiligen Konfliktfalles bleiben müssen. Für dieses pragmatische, nicht im Voraus festgelegte Verhalten gibt es auch gute, und zwar mindestens zwei Gründe. Zum einen haben Werte nicht nur einen dynamischen, sie können auch einen tyrannischen Charakter annehmen,55 der die Wertverwirklichung zur unbedingten und darum notwendig durchzusetzenden Leitlinie staatlichen Handelns macht und damit zur Obsession werden lässt. Werte sind notwendig, aber sie sind vorsichtig zu behandeln: „Von Werten im Recht zu reden, nötigt deshalb zu einem reflektierten und juristischen Umgang mit Werten“.56 Der andere Grund ist ebenso triftig. Souveränität ist nach wie vor ein „Schlüsselbegriff“ des heutigen Völkerrechts.57 Ohne Zweifel ist sie heute anders zu definieren als früher. Sie hat aber ihren Eigenwert nicht verloren, tatsächlich darf sie ihn nicht verlieren, solange an die Stelle des Staates keine andere Instanz getreten ist, die in der Lage wäre, ihre Aufgaben zu erfüllen – das heißt den inneren und äußeren Frieden zu wahren und die Menschen in ihren Rechten zu schützen. Die Paradoxie und das rechtliche Dilemma bestehen darin, dass die Staaten selbst zu Garanten der ihnen vom Völkerrecht auferlegten Pflichten geworden sind. Die wertgebundene Völkerrechtsschicht hat die Position der Staaten gestärkt, weil ohne sie die (primär gegen sie selbst gerichtete) Wertverwirklichung ganz unmöglich wäre. Ihr Rechtsstatus kann daher nur vorsichtig beschnitten werden. Souveränität ist kein „S-word“. Statt auf Empörung ist auf Überzeugung zu setzen. Hierzu bedarf es der Geduld und ständigen Mahnung. Furor, auch heiliger Zorn führen nicht weiter. Überzeu55

Vgl. Schmitt, Die Tyrannei der Werte (1967), zitiert aus Schmitt/Jüngel/Schelz, Die Tyrannei der Werte, 1979, S. 9 ff. 56 Di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 46 (S. 1031 ff.). 57 Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009.

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gungskraft entwickelt eher, wer nachweisen kann, dass die Wertverwirklichung gegen sich selbst den Staaten und ihrer Bevölkerung Nutzen bringt, sie effektiv stärker macht. Dass diktatorische Regime davon nicht zu beeindrucken sind, ist freilich wahr. Wir sollten aber nicht meinen, dass irgendwelche Rechtskonstruktionen an dieser betrüblichen Tatsache etwas zu ändern vermögen. Immerhin gibt es genug Beispiele – und man darf dabei getrost gerade auf den europäischen Raum verweisen –, die zeigen, dass geduldige Arbeit ihre Früchte trägt. *** Der akademische Weg von Meinhard Schröder hat sich weitgehend parallel zu dem meinen vollzogen. Dabei haben sich viele gemeinsame Interessen gezeigt, die immer wieder zur Zusammenarbeit führten.58 Fast noch wichtiger war, dass wir Gelegenheit fanden, auch in privater und fröhlicher Runde zusammenzukommen. Es ist mein durchaus selbstsüchtiger Wunsch, dass sich dies noch viele Male wiederholen kann.

58 Neben der gemeinsamen Arbeit an dem von Graf Vitzthum herausgegebenen Völkerrechtslehrbuch (Fn. 19) vgl. etwa Schröder, Die Freiheit der Familiengründung und -planung in Staaten mit starkem Bevölkerungswachstum, in: Klein (Hrsg.), Globaler demographischer Wandel und Schutz der Menschenrechte, 2005, S. 205 ff.

Regimewechsel im Lichte des Interventionsverbots: die Ereignisse in der Elfenbeinküste im Jahr 2011 Von Kerstin Odendahl

I. Einleitung Im Jahr 2011 kam es in der Elfenbeinküste zu einem Regimewechsel, der von der Weltöffentlichkeit nur am Rande zur Kenntnis genommen wurde. Das mangelnde politische wie rechtliche Interesse war wohl vor allem seiner zeitlichen Parallelität mit der sog. „Arabellion“ geschuldet. Trotzdem lohnt sich eine völkerrechtliche Analyse, war doch eines der Grundprinzipien des Völkerrechts betroffen: das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates (Interventionsverbot). Es gehört zu den zahlreichen Themen, zu denen auch Meinhard Schröder wissenschaftlich gearbeitet hat.1

II. Die Ereignisse in der Elfenbeinküste 2010/2011 1. Vorgeschichte Die seit 1960 selbständige Elfenbeinküste war in den ersten Jahrzehnten ihrer Unabhängigkeit einer der reichsten Staaten Westafrikas. Nach dem Tod des ersten Staatspräsidenten F¦lix HouphouÜt-Boigny im Jahr 1993 stürzte das Land jedoch in eine innenpolitische Krise, die bis heute andauert.2 Die politische Instabilität ist zu einem erheblichen Teil auf ethnische Spannungen zurückzuführen, die das Land in einen südlichen und einen nördlichen Teil spalten. Die „Ivorit¦“, also die Frage, wer ein „echter Ivorer“ ist, trägt zur Eskalation bei. Im Jahr 2000 gewann Laurent Gbagbo in einem umstrittenen und von Unruhen begleiteten Verfahren die Präsidentschaftswahlen. Sein wohl wichtigster Herausforderer Alassane Quattara war von den Wahlen mit der Begründung ausgeschlossen 1 Vgl. Schröder, Non-Intervention, Principle of, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL, Bd. III, (1997, S. 619 ff. 2 Eine Darstellung der Ereignisse von 1960 bis zur Einsetzung von MINUCI findet sich im Report of the Secretary-General on Cüte dÏIvoire, 23. 03. 2003, S/2003/374. Vgl. auch Bouquet, G¦opolitique de la Cüte dÏIvoire, 2005; Bellamy/Williams, The new politics of protection? Cüte dÏIvoire, Libya and the responsibility to protect, International Affairs 87 (2011), 825 (829 ff.).

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worden, dass seine Eltern aus Burkina Faso stammten.3 Die nach den Wahlen ausbrechenden Spannungen endeten im September 2002 nach fruchtlosen Versöhnungsversuchen im Aufstand eines Teils der Armee, der den Norden des Landes unter seine Kontrolle brachte. Französische Vermittlungsbemühungen führten am 24. Januar 2003 zur Unterzeichnung des Abkommens von Linas-Marcoussis,4 mit dem der Bürgerkrieg vorläufig beendet wurde. Ziel des Abkommens war die Schaffung einer Regierung der nationalen Aussöhnung.

2. Beginn der UN- und französischen Präsenz Einen Monat später ermächtigte der UN-Sicherheitsrat die Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) und die sie unterstützenden französischen Truppen, die notwendigen Schritte („the necessary steps“) zu unternehmen, um die Sicherheit und Bewegungsfreiheit ihres Personals sowie den Schutz von Zivilpersonen zu gewährleisten.5 Im Mai 2003 setzte der UN-Sicherheitsrat daneben die politische UN-Mission MINUCI (United Nations Mission in Cüte dÏIvoire) ein,6 die den Auftrag hatte, die ivorischen Parteien bei der Durchführung des Abkommens von Linas-Marcoussis zu unterstützen.7 Die Umsetzung des Abkommens bereitete jedoch Schwierigkeiten. Auch zeigte sich, dass die ECOWAS-Truppen überfordert waren. Die ECOWAS bat daher den UN-Sicherheitsrat um Entsendung einer militärischen UN-Mission. Dies geschah im Februar 2004. Die UN-Mission UNOCI (United Nations Operation in Cüte dÏIvoire) umfasste rd. 6 300 Militärangehörige.8 Sie löste die MINUCI und die ECOWAS-Truppen ab. Ihr Mandat war umfangreich: Es reichte von der Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien über den Schutz der Menschenrechte und des UN-Personals bis hin zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens.9 Zu letzterem gehörte auch die Einrichtung eines durch die UNOCI überwachten Korridors zwischen dem Norden und dem Süden. Die französischen Truppen blieben als separate Einheit bestehen. Sie wurden ermächtigt, mit der UNOCI zusammenzuarbeiten und insb. im Falle von Kampfhandlungen sowie zum Schutz von Zivilisten einzugreifen.10 Trotz UNOCI- und französischer Präsenz kam es in den darauffolgenden Jahren immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und zahlreichen gescheiterten 3

Vgl. Scheen, Aus dem Norden, FAZ, 08. 04. 2011, S. 10. Linas-Marcoussis Agreement, 23. 01. 2003, Annex I to the letter dated 27 January 2003 from the Permanent Representative of France to the United Nations addressed to the President of the Security Council, S/2003/99. 5 S/RES/1464 (2003), 04. 02. 2003, Rn. 9. 6 S/RES/1479 (2003), 13. 05. 2003. 7 Vgl. S/RES/1479 (2003), 13. 05. 2003, Rn. 2. 8 S/RES/1528 (2004), 27. 02. 2004, Rn. 2. 9 Vgl. S/RES/1528 (2004), 27. 02. 2004, Rn. 1 und 6 (a). 10 Vgl. S/RES/1528 (2004), 27. 02. 2004, Rn. 16. 4

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Friedensinitiativen von dritter Seite. Der UN-Sicherheitsrat verhängte Sanktionen (Waffenembargo, Verbot von militärisch-technischen Hilfeleistungen, Reiseverbote und Einfrieren von Vermögen).11 Vorgesehene Wahlen konnten wegen der andauernden Unruhen jedoch nicht abgehalten werden.12 Der UN-Sicherheitsrat verhängte weitere Sanktionen.13 Am 4. März 2007 unterzeichneten schließlich Regierungs- und Rebellenvertreter das durch Burkina Faso im Namen der ECOWAS vermittelte Abkommen von Ouagadougou.14 Dieses führte nicht nur zur Aufhebung des von UNOCI bewachten Korridors und damit zur Wiedervereinigung der beiden Landesteile, sondern sah auch die Abhaltung von Wahlen binnen 10 Monaten vor. 3. Die Wahlen 2010 Es sollten mehr als dreieinhalb Jahre vergehen, bevor die Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober 2010 stattfanden. Ihre Durchführung lag in den Händen der ivorischen unabhängigen Wahlkommission. Die UNOCI leistete lediglich technische wie logistische Unterstützung und sorgte für die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen.15 Auch wurde der UN-Sondergesandte für die Elfenbeinküste, der gleichzeitig Leiter der UNOCI war, vom UN-Sicherheitsrat mit der Überprüfung und Bestätigung der Offenheit, Freiheit, Fairness und Transparenz der Wahlen beauftragt.16 In der ersten Runde erreichte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, so dass es am 28. November 2010 zu einer zweiten Runde zwischen dem amtierenden Präsidenten Gbagbo und seinem Herausforderer Quattara kam.17 Am 2. Dezember 2010 verkündete die Wahlkommission den Sieg Quattaras mit 54,1 % der Stimmen.18 Der UNOCI-Leiter erklärte am nächsten Tag die Wahlen, die mit einer Wahlbeteiligung von über 80 % stattgefunden hatten, für fair und glaubhaft.19 Es war das erste Mal, 11 Vgl. S/RES/1572 (2004), 15. 11. 2004, Rn. 7, 9, 11, 14. Die Sanktionen wurden von der EU umgesetzt durch GS 2004/852/GASP, 13. 12. 2004, ABl.EU 2004 Nr. L 368/50; VO (EG) Nr. 174/2005, 31. 01. 2005, ABl.EU 2005 Nr. L 29/5 und VO (EG) Nr. 560/2005, 12. 04. 2005, ABl.EU 2005 Nr. L 95/1. 12 Vgl. Tenth progress report of the Secretary-General on the United Nations Operation in Cüte dÏIvoire, 17. 10. 2006, S/2006/821, Rn. 11 ff.; S/RES/1721 (2006), 01. 11. 2006, Rn. 1, 3. 13 Vgl. S/RES/1643 (2005), 15. 12. 2005, Rn. 6 (Einfuhrverbot für Rohdiamanten). Die EU hatte ein entsprechendes Verbot bereits verhängt, vgl. VO (EG) Nr. 2368/2002, 20. 12. 2002, ABl.EU 2002 Nr. L 358/28. 14 Ouagadougou Political Agreement, Annex to the Letter dated 13 March 2007 from the Secretary-General addressed to the President of the Security Council, S/2007/144. 15 Vgl. S/RES/1609/2005, 24. 06. 2005, Rn. 2 q) – s); S/RES/1911/2010, 28. 01. 2010, Rn, 14, 15. 16 Vgl. S/RES/1765/2007, 17. 07. 2007, Rn. 6. 17 Vgl. Erhardt, Odinga spricht mit Gbagbo, FAZ, 04. 01. 2011, S. 5. 18 Vgl. Scheen, Wahlkommission erklärt Quattara zum Sieger, FAZ, 03. 12. 2010, S. 6. 19 Vgl. Choi, Statement on the Certification of the Result of the Second Round of the Presidential Election held on 28 November 2010, 3. 12. 2011, http://www.un.org/en/peacekee ping/missions/unoci/documents/unoci_srsg_certification_en_03122010.pdf.

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dass eine Wahl in Afrika von der UN so eingestuft wurde.20 Der dem amtierenden Präsidenten nahestehende Verfassungsrat rief jedoch Gbagbo mit 51,4 % der Stimmen zum Sieger aus. Die Verkündung der Wahlergebnisse durch die Wahlkommission sei verspätet gewesen.21 Am 4. Dezember 2010 wurde Gbagbo vom Verfassungsrat als Präsident vereidigt. Aber auch Quattara legte am selben Tag den Eid als Präsident ab.22 4. Der Regimewechsel Die UN23 und kurz danach auch die EU24 erkannten nur den Wahlsieg Quattaras an. Die ECOWAS suspendierte die Mitgliedschaft der Elfenbeinküste und rief Gbagbo zum Machtverzicht auf.25 Die Afrikanische Union (AU) schloss sich dem Rücktrittsaufruf an26 und suspendierte ebenfalls die Mitgliedschaft der Elfenbeinküste.27 Mitte Dezember 2010 kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der beiden Präsidenten. Truppen Gbagbos belagerten das Hotel in Abidjan, das Quattara zum provisorischen Regierungssitz erklärt hatte.28 Die EU verhängte, unabhängig von der UN, Sanktionen gegen Gbagbo, seine Familie und weitere seiner Anhänger in Form eines Reiseverbotes und dem Einfrieren von Vermögenswerten.29 Gbagbo forderte den Abzug der UNOCI- und der französischen Truppen.30 Der UN-Sicherheitsrat verstärkte jedoch die UNOCI-Truppen.31 Auch Frank20 Vgl. Bassett, Winning Coalition, Sore Loser: Cüte dÏIvoireÏs 2010 Presidential Elections, African Affairs 110 (2011), 469. 21 Vgl. Scheen (Fn. 18). Details sind zu finden bei Bassett (Fn. 20), 469 (477 ff.). 22 Vgl. FAZ, Machtkampf in der Elfenbeinküste, FAZ, 06. 12. 2010, S. 7. 23 Vgl. Statement attributable to the Spokesperson for the Secretary-General on the Presidential Election in Cüte DÏIvoire, 03. 12. 2011, http://www.un.org/apps/sg/sgstats.asp? nid=4972. 24 Vgl. Süddeutsche Zeitung, Ein Land, zwei Präsidenten, 04. 12. 2010, http://www.sued deutsche.de/politik/2.220/machtkampf-in-der-elfenbeinkueste-ein-land-zwei-praesidenten-1. 1032139. 25 Vgl. ECOWAS, Final communique on the extraordinary session of the authority of heads of states and government on Cote DÏIvoire, Punkt 8 und 9, 07. 12. 2010, http://news. ecowas.int/. 26 Vgl. Scheen, UN bietet Gbagbo die Stirn, FAZ, 20. 12. 2010, S. 7. 27 Vgl. Reuters, Ivory Coast: African Union Suspension, The New York Times, 10. 12. 2011, A8. 28 Vgl. Süddeutsche Zeitung, Tote bei neuer Gewalt an der Elfenbeinküste, 17. 12. 2010, S. 8. 29 Vgl. Beschluss 2010/801/GASP, 22. 12. 2010, ABl.EU 2010 Nr. L 341/45; Beschluss 2011/17/GASP, 14. 11. 2011, ABl.EU 2011 Nr. L 11/31; Beschluss 2001/18/GASP, vom 14. 1. 2011, ABl.EU 2011 Nr. L 11/36; VO (EU) Nr. 25/2011, vom 14. 11. 2011, ABl.EU 2005 Nr. L 11/1. 30 Vgl. Scheen (Fn 26). 31 Vgl. S/RES/1967 (2011), 19. 01. 2011, Rn. 1 (2 000 Mann). Zu vorherigen Aufstockungen vgl. etwa S/RES/1942 (2010), 29. 09. 2010, Rn. 1 (500 Mann).

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reich stockte sein militärisches Personal auf.32 Beide hielten sich allerdings vom Kampfgeschehen fern. Im März 2011 eskalierte die Lage: Es kam zu Massakern mit mehreren hundert Toten auf beiden Seiten.33 Als Reaktion erließ der UN-Sicherheitsrat am 30. März 2011 schließlich die Resolution 1975.34 Darin forderte er alle Beteiligten auf, den Willen des ivorischen Volkes und den Sieg Quattaras anzuerkennen sowie nach einer politischen Lösung zu suchen.35 Gbabgo forderte er nachdrücklich zum sofortigen Rücktritt auf.36 Er verurteilte alle Formen der Gewaltanwendung und der damit einhergehenden Verletzungen der Menschenrechte.37 Ferner erinnerte er an die von ihm erteilte Ermächtigung38 und betont seine volle Unterstützung von UNOCI, bei der Durchführung ihres Mandats „alle erforderlichen Mittel“ („all necessary means“) zum Schutz von Zivilpersonen einzusetzen.39 Schließlich rief er alle Beteiligten auf, nicht nur die Angriffe auf die UNOCI zu unterlassen, sondern vollständig mit ihr und den französischen Truppen zusammenzuarbeiten.40 Anfang April griffen UNOCI- und französische Soldaten erstmals aktiv in die gewaltsamen Auseinandersetzungen ein, nachdem es zu einem Angriff auf die UNOCI mit vier verletzten Soldaten und der Flucht zahlreicher Menschen in das UNOCIHauptquartier gekommen war.41 Zuvor hatte der UN-Generalsekretär die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates wiederholt und den französischen Präsidenten um Unterstützung der UNOCI durch französische Truppen gebeten.42 Durch das Eingreifen der UNOCI- und französischen Truppen verschoben sich die Kräfteverhältnisse.43 Gbagbo wurde zurückgedrängt und verschanzte sich in seiner Residenz, die kontinu32

Vgl. Scheen/Wiegel, Gbagbo in Abidjan festgenommen, FAZ, 11. 04. 2011, S. 8. Vgl. Süddeutsche Zeitung, Hunderte Tote nach heftigen Kämpfen, 02. 04. 2011, http:// www.sueddeutsche.de/politik/blutiger-machtkampf-um-elfenbeinkueste-heftige-kaempfe-for dern-hunderte-tote-1.1080546. Zur Lage insg. vgl. Strauss, ,ItÏs Sheer Horror HereÐ: Patterns of Violence during the first four months of Cüte dÏIvoires Post-Electoral Crisis, African Affairs 110 (2011), 481 ff. 34 S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011 (einstimmige Annahme). 35 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 1, 2. 36 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 3. 37 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 5. 38 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 6. 39 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 6. 40 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 7. 41 Vgl. Focus Online, UN und Frankreich feuern auf Gbagbos Truppen, Focus Online, 04. 04. 2011, http://www.focus.de/politik/ausland/elfenbeinkueste-un-und-frankreich-feuernauf-gbagbos-truppen_aid_615254.html. 42 Vgl. Twenty-eighth report of the Secretary-General on the United Nations Operation in Cüte dÏIvoire, 24. 06. 2011, S/2011/387, Rn. 5. 43 Vgl. Bellamy/Williams (Fn. 2), 825 (835); Pitzke, Neue Rolle der UNO. Kämpfen statt Kuscheln, Spiegel online, 14. 04. 2011, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,7568 84,00.html. 33

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ierlich von Truppen Quattaras belagert und angegriffen wurde.44 Trotzdem kam es zu weiteren Angriffen von Truppen Gbagbos sowohl auf die Zivilbevölkerung als auch auf die UNOCI.45 Nach einer erneuten Erinnerung des UN-Generalsekretärs, „alle erforderlichen Mittel“ zum Schutz von Zivilpersonen einzusetzen, beschossen UNOCI- und französische Truppen die Residenz und einige militärische Stellungen Gbagbos.46 Am 11. April 2011 nahmen Soldaten Quattaras Gbagbo in seiner Residenz fest.47 Ob UNOCI- oder französische Soldaten unmittelbar am Sturm auf die Residenz und an der Festnahme beteiligt waren, konnte nicht geklärt werden.48 Entsprechende Gerüchte wurden von französischer Seite dementiert.49 Auch nach Darstellung des UN-Generalsekretärs erfolgte die Festnahme allein durch Soldaten Quattaras.50 Dieser wurde am 6. Mai 2011 als neuer Präsident vereidigt, nachdem der Verfassungsrat am Tag zuvor seine Entscheidung vom 3. Dezember 2010 revidiert hatte.51 Zu seinem feierlichen Amtsantritt am 21. Mai 2011 erschienen mehrere Staats- und Regierungschefs sowie der UN-Generalsekretär.52 5. Die Rolle der internationalen Gemeinschaft Der Regimewechsel in der Elfenbeinküste wurde nicht allein von inneren Kräften herbeigeführt. Vielmehr hat ihn die internationale Gemeinschaft in vielfacher Weise unterstützt. Zahlreiche Staaten und internationale Organisationen erkannten Quattara als neuen Präsidenten an und/oder forderten Gbagbo ausdrücklich zum Rücktritt auf. Die UN und die EU verhängten Sanktionen. Die ECOWAS und die AU suspendierten die Mitgliedschaft der Elfenbeinküste. UNOCI- und französische Soldaten griffen militärisch in das Geschehen ein.

III. Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates Das Interventionsverbot gehört zu den Grundprinzipien des Völkerrechts.53 Es bindet sowohl Staaten als auch internationale Organisationen.54 Die inneren Ange44

Vgl. Scheen, Weitere Angriffe auf Gbagbos Versteck, FAZ, 07. 04. 2011, S. 6. Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 6, 7. 46 Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 8. 47 Vgl. Scheen/Wiegel (Fn. 32); Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 9. 48 Vgl. Scheen, Keine Versöhnung in Sicht, FAZ, 27. 04. 2011, S. 10. 49 Vgl. Scheen/Wiegel (Fn. 32). 50 Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 9. 51 Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 16. 52 Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 16. 53 Vgl. Schröder (Fn. 1), S. 619; Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl., 2010, S. 275; Stein/ von Buttlar, Völkerrecht, 12. Aufl., 2009, Rn. 635; Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 354; 45

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legenheiten eines Staates fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der internationalen Gemeinschaft. 1. Innere Angelegenheiten eines Staates Der konkrete Umfang der inneren Angelegenheiten („domaine r¦serv¦“/„domestic jurisdiction“) ist umstritten. Einigkeit besteht jedoch darin, dass Regierungsform und Regierungsinhaberschaft dazu gehören. So hat der IGH in seinem Nicaragua-Urteil 1986 festgehalten, dass die Wahl des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems zu den geschützten inneren Angelegenheiten eines Staates gehöre.55 Im Urteil zur Gewaltanwendung im Kongo erklärte der IGH 2005, dass Uganda gegen das Interventionsverbot verstoßen habe, als es Rebellengruppen im Kongo militärisch, logistisch, wirtschaftlich und finanziell unterstützte.56 Die Friendly Relations Declaration postulierte bereits 1970: „(…) no State shall organize, assist, foment, finance, incite or tolerate subversive, terrorist or armed activities directed towards the violent overthrow of the r¦gime of another State, or interfere in civil strife in another State.“57

Zahlreiche UN-Dokumente enthalten gleiche oder ähnliche Formulierungen.58 Die Literatur folgt durchgängig der Ansicht, dass die autonome Ausgestaltung der Verfassungs- und Wirtschaftsordnung keine völkerrechtliche Angelegenheit ist.59 Demnach lässt sich festhalten, dass die Regimefrage zum „domaine r¦serv¦“ gehört.

Fischer, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 59, Rn. 50; Kunig, Intervention, Prohibition of, in: MPEPIL, 2008, Rn. 7 m.w.N. zur Verankerung in völkerrechtlichen Dokumenten. 54 Vgl. Kunig (Fn. 53), Rn. 8; zur ausdr. Bindung der UNO vgl. Art. 2 Nr. 7 UN-Charta. 55 Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment of 27 June 1986, I.C.J. Reports 1986, S. 14 (108 Rn. 205). Der Grundsatz fand sich allerdings auch schon in der Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of Their Independence and Sovereignty, GA Resolution 2131 (XX), 21. 12. 1965, A/RES/20/2131, Rn. 5 sowie in der Declaration on the Inadmissibility of Intervention and Interference in the Internal Affairs of States, GA Resolution 36/103, 09. 12. 1981, A/RES/36/103, Rn. 2 I b. 56 Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda), Judgment, I.C.J. Reports 2005, S. 168 (280, erster Leitsatz). 57 Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Cooperation among States in Accordance with the Charter of the United Nations, GA Resolution 2625 (XXV), 24. 10. 1970, A/RES/25/2625 (Erläuterung zum dritten Grundsatz). 58 Vgl. etwa Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of Their Independence and Sovereignty (Fn. 55), Rn. 2 Satz 1; Declaration on the Inadmissibility of Intervention and Interference in the Internal Affairs of States (Fn. 55), Rn. 2 II a. 59 Vgl. etwa Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/1, Die Grundlagen: Die Völkerrechtssubjekte, 2. Aufl., 1989, S. 132; Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl., 2004, Rn. 117; Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2007, S. 168; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 639.

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2. Einmischung Alle Handlungen der internationalen Gemeinschaft, die den Regimewechsel in der Elfenbeinküste unterstützten, könnten eine Einmischung in deren innere Angelegenheiten dargestellt haben. Eine Einmischung kann verschiedene Formen annehmen. Wesentlich ist, dass die Handlung unter Androhung oder Anwendung von Zwang erfolgt.60 Wann die Grenze des völkerrechtlich erlaubten politischen, diplomatischen oder wirtschaftlichen Drucks überschritten und Zwang ausgeübt wird, ist allerdings umstritten und obliegt letztlich einer Einzelfallprüfung.61 a) Rücktrittsforderungen Eine Form der Einmischung könnten die zahlreichen, an Gbagbo gerichteten Rücktrittsforderungen gewesen sein. Die Aufforderung an einen Machthaber, sein Amt an eine andere Person zu übergeben, stellt ohne Zweifel eine Befassung mit dem „domaine r¦serv¦“ dar. Die Schwelle zum Eingriff wird mit einer Äußerung jedoch grundsätzlich nicht überschritten. So werden beispielsweise die sachliche Kritik an der Politik eines Staates,62 Missbilligungen63 oder die Förderung eine gewaltlosen Systemwechsels64 nicht als Einmischungen qualifiziert. Die Rücktrittsforderungen an Gbagbo waren demnach keine Intervention. b) Anerkennungen als neuen Präsidenten Eine verfrühte Anerkennung neuer Staaten stellt nach h.M. eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Vorgängerstaates dar.65 Verfrüht ist eine Anerkennung, wenn sie zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem das neue Gebilde noch nicht alle Staatsmerkmale erfüllt, insb. noch keine effektive Herrschaftsgewalt ausübt.66

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Vgl. Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Fn. 55). Zustimmend u. a. Schröder (Fn. 1), S. 622; Kunig (Fn. 53), Rn. 5; Fischer (Fn. 53), § 59, Rn. 54; Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 167; Schweisfurth (Fn. 53), S. 354 f. 61 Vgl. Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 644. 62 So Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 169; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 647; Kunig (Fn. 53), Rn. 24. 63 So Schweisfurth (Fn. 53), S. 355. 64 So Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Aufl., 2008, S. 368; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 647. 65 Vgl. Epping/Gloria, in: Ipsen (Fn. 53), § 22, Rn. 35; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 648; Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 168 f. 66 Vgl. Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 24; Epping/Gloria (Fn. 65), Rn. 34.

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Ob sich dieser Gedanke auf die Anerkennung von Regierungen übertragen lässt, ist umstritten. Teile der Literatur vertreten die Ansicht, dass eine Regierung erst bei Ausübung effektiver Herrschaftsgewalt anerkannt werden dürfe.67 Eine vorher erfolgende Anerkennung wird daher zum Teil als Einmischung qualifiziert.68 Weiter geht die sog. Estrada-Doktrin, nach der jede (Nicht-)Anerkennung einer neuen Regierung eine Billigung bzw. Kritik an Regierungswechseln und damit eine Intervention darstellt.69 Schließt man sich einer dieser beiden Ansichten an, so war die Anerkennung Quattaras eine Einmischung. Folgt man jedoch anderen Meinungen, etwa der sog. Tobar-Doktrin, wonach jede unrechtmäßig an die Macht gelangte Regierung nicht anerkannt werden darf,70 war die Anerkennung Quattaras völkerrechtskonform. Weder die Estrada- noch die Tobar- oder andere Doktrinen71 haben sich jedoch durchsetzen können. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die Staaten in ihrer Anerkennungspraxis frei sind.72 Entscheidend ist daher eine Einzelfallprüfung. Zu fragen ist, ob die Anerkennung die Eingriffsschwelle überschreitet und mit einem Zwangselement einhergeht. Quattara war von der unabhängigen Wahlkommission zum Wahlsieger erklärt worden. Die Anerkennungen knüpften also an einen rechtmäßigen innerstaatlichen Vorgang an und bekräftigten allein eine vom ivorischen Volk getroffene Entscheidung. Die Eingriffsschwelle ist damit nicht überschritten. Die Anerkennung Quattaras als neuen Präsidenten stellt keine Intervention dar. c) Wirtschaftssanktionen Ob die Verhängung von Wirtschaftssanktionen eine Einmischung darstellt, ist umstritten.73 Die einschlägigen Resolutionen der UN-Generalversammlung stufen Wirtschaftssanktionen als potentielle Einmischung ein. Sie verlangen aber, dass 67 Vgl. Hailbronner/Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, S. 147 (212 Rn. 177); Hobe (Fn. 64), S. 73; Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 26 f.; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 331; Schweisfurth (Fn. 53), S. 109; Epping/Gloria (Fn. 65), Rn. 39. 68 So etwa Dallier/Pellet/Forteau, Droit International Public, 8. Aufl., 2009, § 273; Stein/ von Buttlar (Fn. 53), Rn. 331; Schweisfurth (Fn. 53), S. 109. Wohl auch Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 26 f. 69 Vgl. die Erklärung des mexikanischen Außenministers Estrada aus dem Jahre 1930, abgedr. in: AJIL 15 (1931), 203. Zur Estrada-Doktrin vgl. Schweisfurth (Fn. 53), S. 110; Epping/Gloria (Fn. 65), 44. 70 Zur Tobar-Doktrin vgl. Epping/Gloria (Fn. 65), Rn. 43; Schweisfurth (Fn. 53), S. 109 f.; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 332 f.; Hobe (Fn. 64), S. 74. 71 Vgl. etwa die Stimson-Doktrin, näher dazu Epping/Gloria (Fn. 65), Rn. 45; Stein/ von Buttlar (Fn. 53), Rn. 333. 72 Vgl. Hobe (Fn. 64), S. 74. 73 Vgl. Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 649; Herdegen (Fn. 53), S. 276; Kunig (Fn. 53), Rn. 25; Kempen/Hillgrube (Fn. 59), S. 169; Schweisfurth (Fn. 53), S. 357; Fischer (Fn. 53), § 59, Rn. 61 ff.

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die Maßnahme so schwer ist, dass der Staat in seinen vitalen Staatsinteressen berührt oder an der Ausübung seiner Souveränität gehindert ist.74 In der Literatur werden verschiedene Kriterien zur Abgrenzung zwischen zulässigem Druck und unzulässiger Einmischung vorgeschlagen.75 Letztlich kommt es aber auch hier auf eine Einzelfallbeurteilung an. Die von der UN und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen bestanden in einem Waffenembargo, einem Verbot von militärisch-technischen Hilfeleistungen, einem Importverbot für Rohdiamanten, Reiseverboten und dem Einfrieren von Vermögenswerten. Erstmals verhängt wurden sie 2004. Mit dem Regimewechsel hingen sie nur insofern zusammen, als nach Ausbruch der Gewalt die EU Gbabgo, seine Familienangehörigen und weitere seiner Anhänger in die Liste der sanktionierten Personen aufnahm. Mit der Verhängung von Sanktionen gegen einen abgewählten Präsidenten wurde aber die Elfenbeinküste weder in ihren vitalen Staatsinteressen berührt noch an der Ausübung ihrer Souveränität gehindert. Die verhängten Wirtschaftssanktionen stellen demnach keine Intervention dar. d) Mitgliedschaftssuspendierungen Die ECOWAS und die AU suspendierten die Mitgliedschaft der Elfenbeinküste als Reaktion auf die Weigerung Gbagbos, die Macht an Quattara abzugeben. Ob dieser Schritt im Einklang mit den Bestimmungen der jeweiligen Gründungsverträge stand, wäre insbesondere dann zu prüfen, wenn die Eingriffsschwelle überschritten wurde und ein Zwangselement zu bejahen ist. Soweit ersichtlich, gibt es zu Suspendierungen als Interventionsform weder Untersuchungen seitens der Literatur noch eine gefestigte Staaten- oder Organisationspraxis. Die Suspendierung einer Mitgliedschaft führt zu ähnlichen, wenn auch weniger starken Wirkungen wie die Nichtanerkennung einer Regierung (keine Möglichkeit, den Staat zu repräsentieren) und die Verhängung von Sanktionen (vorübergehende Einstellung wirtschaftlicher und/oder politischer Beziehungen). Berücksichtigt man diese Parallelen und die im vorliegenden Fall nicht gegebene ausreichende Eingriffsintensität beider Maßnahmen, so ist eine Intervention durch die Suspendierung der ECOWAS- und der AU-Mitgliedschaft ebenfalls abzulehnen.

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Vgl. Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in Accordance with the Charter of the United Nations (Fn. 57); Charter of Economic Rights and Duties of States, GA Resolution 3281 (XXIX), 12. 12. 1974, A/RES/29/3281, Art. 32. 75 Vgl. Bockslaff, Das völkerrechtliche Interventionsverbot als Schranke außenpolitisch motivierter Handelsbeschränkungen, 1987, S. 82 ff.

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e) Militärisches Eingreifen Das militärische Eingreifen in einen innerstaatlichen Machtkampf zugunsten von Regimegegnern stellt eine Einmischung dar.76 In diesen Fällen überschneiden sich das Gewalt- und das Interventionsverbot.77 Durch das militärische Eingreifen der UNOCI- und der französischen Truppen verschoben sich die Kräfteverhältnisse derart, dass der Verlauf der Ereignisse, insb. in der entscheidenden Schlussphase, maßgeblich von außen beeinflusst wurde. Die ausländischen Truppen griffen die Residenz Gbagbos an und waren – möglicherweise – an dessen Festnahme beteiligt. Damit liegt eine Intervention vor. 3. Rechtfertigung Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates kann allerdings gerechtfertigt sein.78 Zu den Rechtfertigungsgründen bei einer militärischen Einmischung zählen insb. die Ausnahmen vom Gewaltverbot sowie die aus der Einbindung in ein System der kollektiven Sicherheit folgenden Souveränitätseinschränkungen.79 Im Fall der Elfenbeinküste kommen das Recht auf Selbstverteidigung sowie die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta als Rechtfertigungsgründe in Betracht.80 a) Selbstverteidigung Bei den gewaltsamen Unruhen wurden nicht nur Zivilisten, sondern auch die UNOCI- und die französischen Truppen angegriffen. In offiziellen Stellungnahmen der UNOCI wurde als Grund für das militärische Eingreifen neben dem Schutz der Zivilbevölkerung folglich auch die eigene Verteidigung genannt.81 Abgesehen von der Frage, ob sich UN-Truppen bzw. von der UN ermächtigte nationale Militäreinheiten unmittelbar oder nur mittelbar auf Art. 51 UN-Charta berufen können, ist das Recht auf Selbstverteidigung als Rechtfertigungsgrund für die militärische Einmischung zugunsten der Anhänger Quattaras nicht tauglich. Die Absetzung der Regierung eines angreifenden Staates stellt grundsätzlich kein legitimes 76

Vgl. Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Fn. 55); Schröder (Fn. 1), S. 619; Fischer (Fn. 53), § 59, Rn. 58; Kunig (Fn. 53), Rn. 22; Herdegen (Fn. 53), S. 276; Hobe (Fn. 64), S. 368; Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 642; Schweisfurth (Fn. 53), S. 355; Kempen/Hillgruber (Fn. 59), S. 168. 77 Zur Parallelität von Gewalt- und Interventionsverbot vgl. Schröder (Fn. 1), S. 619. 78 Vgl. statt vieler Kunig (Fn. 53), Rn. 28 ff. 79 Vgl. Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 652 ff. 80 Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta sind ausdr. vom Interventionsverbot ausgenommen, vgl. Art. 2 Nr. 7 Satz 2 UN-Charta. 81 Vgl. UNOCI Homepage http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/unoci/elections. shtml, Abschnitt „Recent Developments“.

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Ziel der Selbstverteidigung dar.82 Eine Ausnahme wäre nur dann gegeben, wenn der Regimewechsel die einzig geeignete, erforderliche und verhältnismäßige Selbstverteidigungshandlung gewesen wäre.83 Eine solche Situation ist jedoch im Fall der Elfenbeinküste nicht ersichtlich. b) Ermächtigung nach Kapitel VII UN-Charta aa) Mandatsumfang Die UN-Mandate zum Schutz der Zivilbevölkerung stammen aus dem Jahr 2003 bzw. 2004. Nach dem Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen verschärfte der UN-Sicherheitsrat das Mandat und forderte die UNOCI-Truppen erstmals auf, „alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten und innerhalb ihrer Einsatzgebiete ihren Auftrag zum Schutz von Zivilpersonen, die von unmittelbarer physischer Gewalt bedroht sind, auszuführen und insbesondere den Einsatz schwerer Waffen gegen die Zivilbevölkerung zu verhindern“.84 Die vorherigen Resolutionen enthielten keine derartige Formulierung zum Schutz von Zivilpersonen,85 sondern begrenzten den Einsatz „aller erforderlichen Mittel“ auf die Unterstützung der UNOCI durch französische Soldaten.86 Die Worte „alle erforderlichen Mittel“ stellen die übliche Formulierung des UNSicherheitsrates bei der Ermächtigung zur Gewaltanwendung dar.87 Die Resolution 1975 war zwar nur an die UNOCI-Truppen gerichtet. Da die französischen Truppen jedoch als Unterstützer der UNOCI fungierten, galt die Ermächtigung zur Gewaltanwendung zum Schutz von Zivilpersonen auch für jene. bb) Handeln im Rahmen des UN-Mandats Bei der Frage, ob sich das militärische Vorgehen im Rahmen des UN-Mandats bewegte, sind drei Fallkonstellationen zu unterscheiden: ein Truppeneinsatz zum Schutz der Zivilbevölkerung mit der Folge einer de facto-Unterstützung der Quatta-

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Vgl. Stein/von Buttlar (Fn. 53), Rn. 795. Zum Gebot der Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung vgl. statt vieler Fischer (Fn. 53), § 59, Rn. 39 ff. 84 Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, Rn. 6. 85 Vgl. S/RES/1528 (2004), 27. 02. 2004, Rn. 6 i); S/RES/1609/2005, 24. 06. 2005, Rn. 2 k); S/RES/1739 (2007), 10. 01. 2007, Rn. 2 f). 86 Vgl. S/RES/1528 (2004), 27. 02. 2004, Rn. 16. 87 Vgl. Fischer-Lescano, Bundesmarine als Polizei der Weltmeere?, NordÖR 2009, 49 (51). Erstmals eindeutig in diese Richtung S/RES/679/1990, 29. 11. 1990, vgl. Tomuschat, Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, FAZ online, 23. 03. 2011, http://www.faz.net/aktuell/ politik/arabische-welt/militaerintervention-in-libyen-wenn-gaddafi-mit-blutiger-rache-droht1610025.html. 83

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ra-Anhänger, ein Truppeneinsatz zur Unterstützung der Quattara-Anhänger sowie ein Truppeneinsatz zum Sturz Gbagbos. Laut UN-Generalsekretär galten die Kampfmaßnahmen dem Schutz der Zivilbevölkerung und hatten insb. die Ausschaltung schwerer Waffen der Gbagbo-Truppen zum Ziel.88 Führen der Schutz der Zivilbevölkerung und die Ausschaltung schwerer Waffen zu einer de facto-Unterstützung einer Kampfpartei, so ist dies rechtlich unproblematisch.89 Jeder militärische Einsatz kann zu einer Kräfteverlagerung zwischen den Kampfparteien führen. Die erste Fallkonstellation stellt demnach keinen Verstoß gegen das Interventionsverbot dar. Die zweite Fallkonstellation bereitet hingegen Schwierigkeiten. Ein Truppeneinsatz mit dem Ziel der Unterstützung der Quattara-Anhänger wäre eine Parteinahme in einem innerstaatlichen Konflikt. Offenbar waren UNOCI- und französische Truppen an Angriffen auf die Residenz Gbagbos und auf militärische Stellungen beteiligt. Entsprechend stießen die Maßnahmen auch bei zahlreichen Staaten auf erhebliche Kritik.90 Noch problematischer ist die dritte Fallkonstellation. Sollten die Gerüchte stimmen, dass insb. französische Truppen unmittelbar an der Erstürmung der Residenz und der Festnahme Gbagbos beteiligt waren, so wäre dieser Einsatz nicht vom Wortlaut der Resolution 1975 gedeckt. Diese ermächtigte nicht zur Herbeiführung eines Regimewechsels.91 Die beiden letzten Fallkonstellationen sind demnach als Verstoß gegen das Interventionsverbot zu qualifizieren – es sei denn, die direkte (Erstürmung der Residenz und Festnahme Gbagbos) oder indirekte (Unterstützung der Quattara-Anhänger) Herbeiführung eines Regimewechsels wäre das einzig mögliche Mittel gewesen, um den Schutz der Zivilbevölkerung und die Verhinderung des Einsatzes schwerer Waffen zu gewährleisten.92 Ob es tatsächlich keinen anderen Weg als die Absetzung Gbagbos gab, ist schwer zu sagen. Ein Waffenstillstand und Vermittlungsbemühungen wären mildere Mittel gewesen.

88 Vgl. Twenty-eighth report (Fn. 42), Rn. 5, 8. Zu den Angriffen auf die Zivilbevölkerung von Gbagbo-Truppen mit schweren Waffen vgl. Strauss (Fn. 33), 481 (483 ff.). 89 Vgl. Henderson, International Measures for the Protection of Civilians in Libya and Cüte dÏIvoire, ICLQ 60 (2011), 767 (776) sowie, allerdings bezogen auf Libyen, Geiß/Kashgar, UN-Maßnahmen gegen Libyen. Eine völkerrechtliche Betrachtung, VN 2011, 99 (103). 90 Vgl. Bellamy/Williams (Fn. 2), 825 (835 f. m.w.N.). 91 Ähnlich, allerdings für Libyen, Tomuschat (Fn. 87). 92 Ähnlich, allerdings für Libyen, Henderson (Fn. 89), 767 (774 f.).

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cc) Schutzverantwortung („Reponsibility to Protect“) als Erweiterung des UN-Mandats? In der Präambel der Resolution 197593 nahm der UN-Sicherheitsrat, wie schon einen Monat zuvor im Fall Libyen,94 auf die Schutzverantwortung Bezug. Zwar hatte der UN-Sicherheitsrat bereits früher an sie erinnert.95 Im Frühjahr 2001 zog er sie jedoch erstmals im Rahmen einer Ermächtigung zur Gewaltanwendung heran. Es stellt sich die Frage, ob diese Tatsache bei der Auslegung des Begriffs „alle erforderlichen Mittel“ nicht Berücksichtigung finden muss. Offensichtlich haben die Sicherheitsratsmitglieder die Formulierung unterschiedlich verstanden.96 Indien wies darauf hin, dass die Ermächtigung weder eine Parteinahme noch die Herbeiführung eines Regimewechsels beinhalte und die UNOCIsowie französischen Truppen zur Neutralität verpflichtet seien.97 Das Neutralitätserfordernis wurde auch von Südafrika, Brasilien, Kolumbien und China betont.98 Die USA hingegen erklärten, dass im Falle eines Machterhalts Gbagbos die Gewaltanwendung gegen Zivilpersonen weitergehen würde.99 Ähnlich äußerte sich auch Deutschland: Gbagbo müsse zurücktreten, um weitere Gewalt zu verhindern.100 Großbritannien betonte, dass das Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung bekräftigt worden sei.101 Am weitesten ging die Elfenbeinküste: Die Stärkung des UN-Mandats und die Einsetzung Quattaras gehörten zu den wichtigsten Zielen der Resolution.102 Angesichts dieser unterschiedlichen Interpretationen ist es durchaus möglich, dass mit der Formulierung „alle erforderlichen Mittel“ eine bewusste Mehrdeutigkeit in Kauf genommen wurde.103 Folgt daraus im Lichte der Schutzverantwortung, dass die Formulierung „alle erforderlichen Mittel“ weit auszulegen ist und die direkte oder indirekte Herbeiführung eines Regimewechsels eine mögliche Maßnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung darstellt?

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Vgl. S/RES/1975 (2011), 30. 03. 2011, 9. Erwägungsgrund Präambel. Vgl. S/RES/1970 (2011), 26. 02. 2011, 9. Erwägungsgrund Präambel; S/RES/1973 (2011), 17. 03. 2011, 3. Erwägungsgrund Präambel. 95 Das tat er beispielsweise auch bei der UN-Mission MONUC im Kongo, vgl. S/RES/ 1856/2008, 22. 12. 2008, 3. Erwägungsgrund Präambel. Zu weiteren Fällen seit 2005 vgl. Kreuter-Kirchhof, Völkerrechtliche Schutzverantwortung bei elementaren Menschenrechtsverletzungen, AVR 48 (2010), 338 (363 ff.). 96 So auch der Hinweis von Bellamy/Williams (Fn. 2), 825 (835). 97 Vgl. SC, The situation in Cüte dÏIvoire, 30. 03. 2011, S/PV.6508, S. 3. 98 Vgl. SC (Fn. 97), S. 4, 6, 7. 99 Vgl. SC Fn. 97), S. 5. 100 Vgl. SC (Fn. 97), S. 5. 101 Vgl. SC (Fn. 97), S. 6. 102 Vgl. SC (Fn. 97), S. 7. 103 Ähnlich, allerdings für Libyen, Henderson (Fn. 89), 767 (771). 94

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Das Konzept der Schutzverantwortung104 dient dem Schutz vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist dreistufig aufgebaut: Die primäre Verantwortung liegt beim Staat (erste Stufe): Er ist für den Schutz der Bevölkerung auf seinem Territorium zuständig. Die sekundäre Verantwortung liegt bei der internationalen Gemeinschaft. Diese muss den Staat bei Bedarf, ggf. auch militärisch, unterstützen (zweite Stufe). Erst wenn ein Staat offenkundig – aus welchen Gründen auch immer – seiner Schutzverantwortung nicht gerecht wird, müssen die UN-Mitglieder kollektiv rechtzeitig reagieren (dritte Stufe). Abgesehen von der Frage nach seiner Verbindlichkeit105 stellt sich das neue Konzept jedoch noch aus einem weiteren Grund als schwaches Fundament für eine weite Auslegung der Formulierung „alle erforderlichen Mittel“ dar: Der UN-Sicherheitsrat erinnerte allein an die Schutzverantwortung der Elfenbeinküste und nahm damit auf die erste Stufe Bezug. Die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, schon gar nicht in Form ihres militärischen Eingreifens (dritte Stufe), nannte er nicht. Der UN-Sicherheitsrat berief sich also nicht auf seine eigene Schutzverantwortung oder auf die diejenige der internationalen Gemeinschaft, um seine Ermächtigung zur Gewaltanwendung zu rechtfertigen.106 Demnach kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Formulierung „alle erforderlichen Mittel“ im Fall der Elfenbeinküste weiter ausgelegt werden müsste als nach der bisherigen Praxis. Es bleibt daher bei dem oben gefundenen Ergebnis: Sollten die UNOCI- und die französischen Truppen den Regimewechsel entweder direkt oder indirekt herbeigeführt haben, so stellten diese Handlungen einen Verstoß gegen das Interventionsverbot dar – es sei denn, der Sturz Gbagbos war erforderlich, um die Zivilbevölkerung zu schützen und den weiteren Einsatz schwerer Waffen zu verhindern.

104 Das Konzept wurde auf dem UN-Weltgipfel von 2005 offiziell angenommen, vgl. GA Resolution 60/1, 24. 10. 2005, A/RES/60/1, Rn. 138 und 139. Kurz danach wurde es vom UN-Sicherheitsrat bestätigt, vgl. S/RES/1674 (2006), 28. 04. 2006, Rn. 4. Aus der neueren Literatur vgl. Bellamy/Davies/Glanville (Hrsg.), The Responsibility to Protect and International Law, 2011; Peters, The Responsibility to Protect: Spelling out the Hard Legal Consequences for the UN Security Council and its Members, in: FS für Bruno Simma, 2011, S. 297 ff.; Hilpold, Die Schutzverantwortung im Recht der Vereinten Nationen (Responsibility to Protect) – auf dem Weg zur Etablierung eines umstrittenen Konzepts?, SZIER 2011, 231 ff.; Kreuter-Kirchhof (Fn. 95), 338 ff. 105 Vgl. Schaller, Gibt es eine „Responsibility to Protect“?, APuZ 46 (2008), 9 ff.; Brunn¦e/Toope, The Responsibility to Protect and the Use of Force: Building Legality?, in: Bellamy/Davies/Glanville (Fn. 104), S. 59 ff.; Peters (Fn. 104), S. 297 (300 ff.); Hilpold (Fn. 104), 231 (238 ff.). 106 Ähnlich für den Fall Libyen Geiß/Kashgar (Fn. 89), 99 (100).

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IV. Fazit und Ausblick Die Ereignisse in der Elfenbeinküste stellen keinen Einzelfall, sondern möglicherweise den Beginn einer neuen Epoche dar.107 Diese wäre gekennzeichnet durch eine entschlossenere und unnachgiebigere Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Regimen, die aufgrund schwerster Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts ihre Legitimität verloren haben. Im zeitlich parallel verlaufenden Fall Libyen lassen sich vergleichbare Muster erkennen.108 Die Ereignisse in Syrien könnten einen ähnlichen Verlauf nehmen. Möglicherweise steht das Interventionsverbot vor epochalen Veränderungen, indem entweder die Legitimität eines Regimes nicht mehr als rein innere Angelegenheit angesehen wird, oder aber sich die Schutzverantwortung zu einem Rechtfertigungsgrund für die Herbeiführung von Regimewechseln entwickelt.

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So etwa Bellamy/Williams (Fn. 2), 825 (847 ff.). Entsprechend werden beide Fälle z. T. gleichzeitig untersucht, vgl. etwa Bellamy/Williams (Fn. 2), 825 ff.; Serrano, The responsibility to Protect: Libya and Cüte dÏIvoire, Amsterdam Law Forum 3 (2011), 92 ff. 108

Gedanken zu den Perspektiven der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre Von Matthias Ruffert

I. Ausgangspunkt Die Aufzählung der für ein Rechtsgebiet verbindlichen Rechtssätze, wie sie für das Völkerrecht in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut erfolgt, ist ungewöhnlich. Üblicherweise wird Rechtswissenschaft und Rechtspraxis die Aufgabe überlassen, die Rechtsquellen zu erschließen und dabei auf die höherrangigen Grundlagen – vor allem im europäischen und nationalen Verfassungsrecht – zu rekurrieren. Ausgerechnet im Völkerrecht mit seiner jahrhundertelangen Tradition evolutionärer Rechtsbildungsprozesse außerhalb formalisierter Verfahren und mit überwiegend „ungeschriebenem“ Ergebnis – Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze – soll es gelingen, die Rechtsquellenlehre in einem Katalog aus dem Jahr 1920 zu fixieren und so der Fortentwicklung zu entziehen? Kann im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung der Regelungsansatz versteinert werden, der Ergebnis einer ganz anderen historischen Konstellation ist und nach der Niederlegung im Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, eines Anhangs zum Friedensvertrag von Versailles, nach 1945 in das geltende IGH-Statut aufgenommen wurde? Natürlich ist Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut völkervertragsrechtlich nur für den IGH und seine rechtsprechende Tätigkeit bindend.1 Andere Spruchkörper und Organe der friedlichen Streitbeilegung im Völkerrecht können andere canones verbindlicher Rechtssätze entwickeln.2 Überdies hat sich die Praxis der internationalen Beziehungen nicht davon abbringen lassen, Normen zur Regelung des zwischenstaatlichen und transnationalen Rechtsverkehrs ins Werk zu setzen, die nicht ohne weiteres Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut zugeordnet werden können, und die Völkerrechtswissenschaft sieht sich ebensowenig durch die Rechtsquellenvorschrift für den IGH daran

1 Deutlich Charney, International Lawmaking – Article 38 of the ICJ Statute Reconsidered, in: Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking – International ,LegislationÐ in the Public Interest, 1997, S. 171 (174). s. ferner Monaco, R¦flexions sur la th¦orie des sources du droit international, in: Essays in honour of Krzysztof Skubiszewski, 1996, S. 517. 2 Für das WTO-Recht s. Pauwelyn, The Role of Public International Law in the WTO: How far can we go?, AJIL 95 (2001), 535; Weiß/Herrmann/Ohler, Welthandelsrecht, 2. Aufl., 2007, Rn. 338 ff.

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gehindert, jene Normen zu erschließen.3 Um so wichtiger erscheint es, einen Blick in die gegenwärtige Lehre von den Völkerrechtsquellen zu werfen und Perspektiven für ihre Fortentwicklung aufzuzeigen. Der Versuch, sich dieser völkerrechtswissenschaftlichen Aufgabe anzunehmen, soll sich an dem Leitbild orientieren, das Meinhard Schröder in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit verfolgt: Rechtswissenschaftliche Analysen haben vom tatsächlichen Normbefund auszugehen und sind nicht in eine vorgegebene, idealisierte Form zu pressen, und sie haben vor allem das Ganze im Blick zu behalten und dürfen nicht an den (intra-)disziplinären Schranken zwischen den Teilgebieten des öffentlichen Rechts haltmachen und dadurch Erkenntnispotential verschenken. Dies im Blick macht sich der vorliegende kleine Beitrag auf den Weg zu einer modernen Rechtsquellenlehre des Völkerrechts in dem klaren Bewußtsein, das Ziel hier und heute nicht erreichen zu können. Schritte auf diesem Weg sind die Erörterung aktueller, konkreter Zuordnungsprobleme der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre (s.u. II.), das Aufzeigen vergleichender Parallelen (historisch wie rechtsordnungsübergreifend; s.u. III.) sowie die Prüfung theoretischer Alternativen und ihrer dogmatischen Konsequenzen (s.u. IV.). Daß dabei in jedem Schritt Grundfragen des Völkerrechtsverständnisses berührt werden, ist Anspruch und Verpflichtung des Autors – ganz im Sinne des Jubilars.

II. Konkrete Zuordnungsprobleme 1. Rechtsetzung durch Internationale Organisationen Erste offensichtliche Zuordnungsprobleme zeigen sich in der Rechtsetzungstätigkeit Internationaler Organisationen, wobei die Probleme innerhalb der Formtypik dieser Rechtsetzung mit unterschiedlicher Intensität auftreten.4 Insoweit lassen sich drei Kategorien ermitteln: (1) Keine Schwierigkeiten entstehen dann, wenn sich Internationale Organisationen zur Rechtsetzung des Völkervertragsrechts bedienen.5 Die Vertragsrechtsentstehung innerhalb Internationaler Organisationen ist für multilaterale Verträge dominierend, sei es, daß die betreffende Organisation die Initiative für Verhandlung, Ausarbeitung und Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages ergreift, sei es, daß im organisatorischen Rahmen einer Internationalen Organi3 Statt aller s. Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, 1. Abschnitt, Rn. 148 ff. 4 Umfassend Alvarez, International Organizations as Law-makers, 2005; Aston, Sekundärgesetzgebung internationaler Organisationen zwischen mitgliedstaatlicher Souveränität und Gemeinschaftsdisziplin, 2005. s. auch die frühe, vorausschauende Analyse bei Tammes, Decisions of International Organs as a Source of International Law, Hague Recueil 94 (1958), 261. 5 Dazu Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2009, Rn. 79 ff.

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sation eine Staatenkonferenz eingesetzt und organisatorisch begleitet wird oder sei es, daß die Organisation über ein Gremium zur Vertragsvorbereitung verfügt, wie dies namentlich bei den Vereinten Nationen in Gestalt der International Law Commission (ILC) der Fall ist.6 Eine besondere Form dieses Rechtsetzungstypus ist die Ratifikation von Organbeschlüssen, wie dies insbesondere bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geschieht.7 (2) Dieser Rechtsetzungstypus leitet über zur verbindlichen Sekundärrechtsetzung durch Internationale Organisationen. Gedanklich geprägt durch die Europäische Union und ihre weitreichenden, supranationalen Sekundärrechtsetzungsbefugnisse, wird das quantitative Potential dieser Art der Rechtsetzung eher überschätzt. Tatsächlich gibt es nur wenige Internationale Organisationen mit entsprechenden Befugnissen. Zu nennen sind die Luftverkehrsvorschriften der International Civil Aviation Organisation (ICAO), die Gesundheitsverordnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Vollzugsregelungen des Weltpostvereins (UPU) sowie einige andere Einzelfälle.8 Schon die genannten Organisationen geben den überwiegend technischen Charakter der Rechtsetzung zu erkennen, wenngleich Technizität nicht stets und zwingend mit politischer Unerheblichkeit einhergeht, wie etwa Regelungen der WHO zum Nichtraucherschutz oder zur Seuchenbekämpfung zeigen.9 Dennoch bleibt die Bedeutung verbindlicher Sekundärrechtssetzung gering. Eher überschätzt in ihrer allgemeinen Wirkung für die Völkerrechtsentwicklung wird auch die Rechtsetzungstätigkeit des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die über zwei Resolutionen jeweils zur Terrorismusbekämpfung und zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht hinausgeht.10 Die Diskussion konzentriert sich vor allem auf die Rechtsetzungskompetenz aus Kapitel VII SVN, und hier hat sich – übrigens im Einklang mit der von Meinhard Schröder zu den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen vertretenen Auffassung11 – eine herrschende Ansicht herausgebildet, die dem Sicherheitsrat die Kompetenz zum Erlaß der genannten Maßnahmen zubilligt.12 Nach ganz überwiegender Auffassung sollen die genannten Rechtsakte zum Völkerrecht gehören.13 Nur in Ausnahmefällen, wie der supranational erheblich

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s. GA Res. 174 (II) mit dem ILC-Statut. s. Art. 19 ILO-Verfassung (UNTS 15, 35). 8 Ausführliche Analyse bei Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, S. 54 ff. 9 Dies wird thematisiert bei Lepsius, Standardsetzung und Legitimation, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 345. 10 SC Res. 1373 (2001) und 1540 (2004). 11 Meinhard Schröder, in: Graf Vitzthum (Fn. 3), 7. Abschnitt, Rn. 47. 12 s. vor allem Talmon, The Security Council as World Legislature, AJIL 99 (2006), 175. 13 s. Ruffert/Walter (Fn. 5), Rn. 99. 7

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verdichteten EU, bildet sich eine Rechtsordnung sui generis heraus.14 Nach ebenso überwiegender Auffassung gehören die verbindlichen Sekundärrechtsakte aber nicht zum Völkervertragsrecht.15 Ein Organbeschluß ist kein Vertragsschluß. Damit entsteht eine neue Kategorie des Völkerrechts jenseits des Völkervertragsrechts. (3) Eine dritte Kategorie ist quantitativ von erheblichem Gewicht, aber in ihrer juristischen Tragweite problemträchtig. Es geht um Empfehlungen, Stellungnahmen und Resolutionen, denen das jeweilige Gründungsstatut der Internationalen Organisation keine rechtsverbindliche Kraft beimißt.16 Solchen Handlungen Internationaler Organisationen indes völkerrechtliche Wirkungen durchweg abzusprechen, griffe zu kurz. Für grundlegende Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist die Völkerrechtsqualität schon durch Gewohnheitsrechtsbildung zu bejahen.17 Im übrigen leitet die Erörterung dieser Kategorie der Völkerrechtsetzung in Internationalen Organisationen über zum nächsten gewichtigen Problemfeld, dem sog. soft law.

2. Sogenanntes soft law Nimmt die Völkerrechtslehre soft law wegen seiner vordergründigen Unverbindlichkeit aus dem Rechtsquellenkanon heraus, verschließt sie sich ein breites Feld von Regeln und Prinzipien von hoher praktischer Relevanz. Die lediglich politisch verbindliche Staatenvereinbarung mit explizitem Ausschluß völkervertragsrechtlicher Qualität, wie im Musterfall der KSZE, ist dabei quantitativ mittlerweile eine Erscheinungsform von schwindender Bedeutung.18 Gewichtiger sind die bereits erwähnten, nicht rechtsverbindlichen Organbeschlüsse Internationaler Organisationen. Auch darüber hinausgehend werden im Rahmen Internationaler Organisationen und bei

14 Dies will Bernhardt, Qualifikation und Anwendungsbereich des internen Rechts internationaler Organisationen, BerDGVR 12 (1973), S. 7 (9 ff.), verallgemeinern. 15 Die seinerzeitige Deutung des StIGH, Railway Traffic between Lithuania and Poland (Railway Sector Landwarýw-Kaisiadorys), PCIJ 1931, Ser. A/B, Nr. 42, S. 116, ist überholt; s. Klabbers, An introduction to international institutional law, 2. Aufl., 2009, S. 184 f. 16 s. nur Sands/Klein, BowettÏs Law of International Institutions, 2009, Rn. 11 – 043 ff.; Schermers/Blokker, International institutional law: unity within diversity, 4. Aufl., 2003, §§ 1217 ff. 17 Aus der Spruchpraxis des IGH s. Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Rep. 1986, 14, Ziff. 188; Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICJ Rep. 1996, Ziff. 70. Im Schrifttum umfassend Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, §§ 634 ff. 18 s. insbesondere zur KSZE/OSZE Wenig, Möglichkeiten und Grenzen der Streitbeilegung ethnischer Konflikte durch die OSZE: dargestellt am Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, 1996, S. 27 ff.; sowie Bortloff, Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa: eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme, 1996.

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Staatenkonferenzen Prinzipien und Regeln formuliert, deren „weicher“ Charakter einer Einbeziehung in die völkerrechtlichen Rechtsquellen entgegensteht.19 Gleichwohl ist soft law völkerrechtlich nicht irrelevant. Um den rechtsvorbereitenden Charakter hervorzuheben, ist häufig der Begriff pr¦-droit verwendet worden.20 Viele Kodifikationsvorschläge der ILC werden – zumindest in der akademischen Diskussion – wie geltendes Recht behandelt.21 Auch zur Interpretation vorhandenen Rechts kann es herangezogen werden, soweit nicht sogar direkt auf das soft law zurückgegriffen und nach Hilfskonstruktionen gesucht wird, ihm unmittelbare Geltung zu schaffen, wie z. B. die Konstruktion eines instant customary law.22 Nicht zuletzt die praktische Bedeutung von soft law hat in der völkerrechtstheoretischen Auseinandersetzung zu Versuchen geführt, es zu verarbeiten23 – wenn nicht seine Relevanz und Notwendigkeit vollständig geleugnet wurden, um die Normativität des Völkerrechts nicht aufzuweichen.24 Auch im Recht der EU nimmt die Bedeutung von soft law zu.25 3. Private Rechtsetzung Noch keinen gangbaren Weg hat die Völkerrechtslehre im Umgang mit Normgebilden gefunden, die nicht von Völkerrechtssubjekten erzeugt werden, sondern von anderen Normsetzungsinstanzen.26 Hier handelt es sich zum einen um Normen, die von Netzwerken substaatlicher Akteure geschaffen werden und die als solche weitreichende Wirkung entfalten.27 Paradigmatisch hierfür sind die Baseler Eigenkapital19

s. etwa Klabbers (Fn. 15), S. 201. Hierauf hat Meinhard Schröder großen Wert gelegt: Meinhard Schröder, Völkerrechtsentwicklung im Rahmen der UN, in: Wolfrum/Philipp (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl., 1991, S. 1020 (1026), unter Rückgriff auf Colliard, Institutions des relations internationales, 6. Aufl., 1974, S. 276. 21 Prominentestes Beispiel: ILC Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, GAOR, 56th Session, Suppl. 10. Dazu Schröder (Fn. 11), Rn. 6 f. 22 Dazu Herdegen, Völkerrecht, 10. Aufl., 2011, § 16, Rn. 4. 23 s. vor allem Boyle, Some Reflections on the Relationship of Treaties and Soft Law, ICLQ 48 (1999), 901. Differenzierend dÏAspremont, Softness in International Law: A SelfServing Quest for New Legal Materials, EJIL 19 (2008), 1075. Im Überblick Thürer, Soft Law, in: Max Planck Encyclopedia of International Law, 2011, ausf. bereits Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, 2001. 24 Bereits klassisch Weil, Towards Relative Normativity in International Law, AJIL 77 (1983), 413. Auf der gleichen Linie Klabbers, The Undesirability of Soft Law, Nordic Journal of International Law 67 (1998), 381. 25 s. Peters, Soft law as a new mode of governance, in: Diedrichs/Reiners/Wessels (Hrsg.), The Dynamics of Change in EU Governance, 2011, S. 21. 26 Das Problem wird früh thematisiert bei Tietje, The Changing Legal Structure of International Treaties as an Aspect of an Emerging Global Governance Architecture, GYIL 42 (1999), 26. 27 Zu Netzwerkstrukturen statt vieler Raustiala, The Architecture of International Cooperation: Transgovernmental Networks and the Future of International Law, Virginia Journal 20

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regelungen für die Bankenaufsicht, die von einem bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel verorteten Gremium aus den Leitern der Aufsichtsbehörden und Notenbanken der beteiligten Staaten verabschiedet werden.28 Ihre Geltung entsteht vor allem durch Rezeption in nationale Rechtsordnungen oder, sofern hierfür eine Zuständigkeit besteht, in eine entsprechende supranationale Rechtsordnung wie im Fall der EU.29 Ähnliche Rezeptionsprozesse vollziehen sich zum anderen bei privat gesetzten Normen wie im Fall der Internationalen Normungsorganisation ISO oder bei den Bilanzierungsregeln der IOSCO. Die von den beteiligten Staaten ebenfalls durch nationales Recht – ggf. über Verweistechniken – verbindlich gemachten Normen sind kein Völkerrecht und entziehen sich damit der beurteilenden Analyse durch die Völkerrechtslehre.30 Damit vervollständigen sie den Reigen der Normen, die zwar politische, praktische und in bestimmter Hinsicht auch rechtliche Relevanz aufweisen, jedoch nicht in das primäre Blickfeld der Völkerrechtslehre gelangen können.

III. Vergleichende Parallelen 1. Historischer Rückblick Für die Situation der Unsicherheit über die Rechtsquellen ist ein historischer Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 38 IGH-Statut insoweit erhellend, und sie wird durch die Aufarbeitung des einschlägigen Materials zur Normgenese durch Alain Pellet erheblich erleichtert.31 Nimmt man diese Materialien in den Blick, so wird deutlich, daß die Vorschrift eher einen Kompromiß über die Aufgaben des neu zu schaffenden Gerichtshofs festschreibt als verbindliche Aussagen über einen Kanon völkerrechtlicher Regeln zu treffen. Weil nach dem Zweiten Weltkrieg, wie bereits angesprochen, die Regelungen für den StIGH in Art. 38 des Statuts des IGH übernommen wurden, spielt sich die Normgenese in den zwei Jahrzehnten vor Abschluß des Friedensvertrags von Versailles ab, dessen Bestandteil das IStGH-Statut ist. In dieser Zeit war nicht in erster Linie umstritten, was zum Völkerrecht gehört, sondern ob ein Internationales Gericht darauf beschränkt werden kann, nach vorgegebenen Rechtssätzen zu entscheiden oder ob es nicht sachangemessener ist, ihm die of International Law 43 (2002), 1, sowie Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004, S. 50 ff. m.w.N. 28 Homepage des Ausschusses: http://www.bis.org/bcbs/about.htm. Dazu Ohler, Internationale Regulierung im Bereich der Finanzmarktaufsicht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Fn. 9), S. 259. 29 Erläutert bei Auerbach/Fischer, in: Schwennicke/Auerbach (Hrsg.), KWG, 2009, § 10, Rn. 18. 30 s. Röhl, Internationale Standardsetzung, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Fn. 9), S. 319, sowie Lepsius, ebda., S. 345. 31 Zum folgenden: Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), The Statute of the International Court of Justice, 2006, Art. 38, Rn. 4 ff.

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Entwicklung der Entscheidungsgrundlagen in freier Rechtsschöpfung oder nach Billigkeitsregeln zuzugestehen.32 In dieser Normgenese wird nicht nur die Wurzel der internationalen Gerichtsbarkeit in der Schiedsgerichtsbarkeit besonders deutlich sichtbar, sondern auch die rechtsgestaltende Funktion gerichtlicher Entscheidungen im Völkerrecht eindeutig anerkannt. Erstere bleibt in Art. 38 Abs. 2 IGH-Statut enthalten, wenn auch die Vorschrift an Bedeutung verloren hat; letztere muß sich eine deduktions- und subsumtionsorientierte Rechtspraxis immer wieder vor Augen halten. Ausdrücklich sollte den Richtern des StIGH die Möglichkeit erhalten bleiben, in der rechtsprechenden Tätigkeit konkrete Rechtssätze zu entwickeln und das Recht fortzubilden.33 Für die Fragestellung dieses Beitrags folgt daraus, daß die Suche nach Rechtsquellen und Rechtsetzungsmechanismen im Völkerrecht keineswegs ein neuartiges Phänomen ist. Selbst im engeren Anwendungsbereich von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut, also vor dem IGH, kann die rechtsfortbildende Heranziehung neuer Quellen erwogen werden. Dies läßt sich auch in der Praxis belegen.34 2. Nationale und supranationale Rechtsetzung Die Existenz zentraler Rechtsetzungsinstanzen sorgt auf der Ebene der nationalen und supranationalen Rechtsetzung für eine nachhaltige Stabilisierung der Rechtsquellenlehre. Dennoch verbleiben Unsicherheiten. Dies wird besonders in der neuen Struktur der Rechtsetzung in der EU deutlich. Hier ist die Hierarchisierung und Kategorisierung der Rechtsakte nur halbherzig gelungen; auf die neue Kategorie „Europäisches Gesetz“ wurde im Anschluß an das Scheitern des Verfassungsvertrages verzichtet, jedoch wurde die verfahrensbezogene Kategorie des „Gesetzgebungsaktes“ eingeführt.35 Außerdem gibt es mit den delegierten Rechtsakten und den Durchführungsrechtsakten nun zwei nachrangige Normgebilde, deren Abgrenzung voneinander noch Schwierigkeiten bereitet.36 Vor allem aber ist es nicht gelungen, eine Reihe sog. ungekennzeichneter Rechtsakte in die Rechtsquellensystematik des Unionsrechts einzubinden, die keineswegs ohne Rechtswirkungen sind und in der Praxis erhebliche Bedeutsamkeit entwickeln, namentlich Leitlinien, Mitteilungen, Kodizes und andere Verlautbarungen der Kommission.37 Auch hier trifft es 32

s. die bei Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Fn. 31), Art. 38, Rn. 25, referierte Ansicht. 33 s. Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Fn. 31), Art. 38, Rn. 28. 34 Nachweise bei Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Fn. 31), Art. 38, Rn. 96 ff. 35 Zum Ganzen Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 288 AEUV, Rn. 4. 36 Ausf. Craig, Delegated acts, implementing acts and the new Comitology Regulation, E.L.Rev. 36 (2011), 671. 37 s. die Darstellung bei Härtel, Handbuch europäische Rechtsetzung, 1996, § 13, sowie die Kritik bei Lecheler, Ungereimtheiten bei den Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts –

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die Komplexität der Situation nur unzureichend, wenn nur von soft law die Rede ist.38 Daß schließlich in Deutschland vergleichbare Entwicklungen nicht verzeichnet werden, nimmt ihnen angesichts der Bedeutung in anderen nationalen europäischen Rechtsordnungen wie z. B. in Großbritannien nicht die Relevanz. Dort gehören codes of conduct, citizensÏ charters und ähnliche „weiche“ Regelungsformen zum üblichen Arsenal der Verwaltungssteuerung.39

IV. Theoretische Alternativen und dogmatische Konsequenzen 1. Kodifikation Mit welchem konzeptionellen Neuansatz läßt sich die Rechtsquellenlehre gleichsam so „modernisieren“, daß die von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut nicht erfaßten Erscheinungen einbezogen werden? In den Suchbewegungen zu einer Neuorientierung der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre ruft der Gedanke an ein Wiederaufgreifen früherer Kodifikationsbemühungen Ernüchterung hervor. Natürlich ist eine Änderung von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut ebenso denkbar wie eine Neukodifikation des Quellenkanons in einer separaten völkerrechtlichen Vereinbarung. Offensichtlich ist aber die gegenwärtige Zeit noch weniger zur Kodifikation berufen als es die 1920er und frühen 1930er Jahre waren – und schon seinerzeit wurde der Ausgang der entsprechenden Bemühungen im Rahmen der Konferenzen von Den Haag und Montevideo ausgesprochen negativ bewertet.40 Von den beiden letzten großen Kodifikationsleistungen im Seerecht und im Völkerstrafrecht liegt die jüngere mehr als zehn Jahre zurück. Kodifikationsvorschläge der ILC wie derjenige zur Staatenverantwortlichkeit oder zum Diplomatischen Schutz haben – selbst bei Annahme in der Generalversammlung – nur begrenzte Aussichten darauf, in Gestalt eines völkerrechtlichen Vertrages verbindlich zu werden.41 Daher wird nirgends der Gedanke formuliert, die Rechtsquellenlehre im Wege der Kodifikation zu reformieren. Die ILC richtet sich im Gegenteil offensichtlich auf andere Methoden der Prägung des Völker-

dargestellt anhand der Einordnung von „Leitlinien“, DVBl. 2008, 873, und Weiß, Das Leitlinien(un)wesen der Kommission verletzt den Vertrag von Lissabon, EWS 2010, 257. 38 s. die umfassende und differenzierte Analyse von Senden, Soft Law in European Community Law, 2004. 39 s. Craig, Administrative Law, 6. Aufl., 2008, Ziff. 4 – 022 f. sowie Ziff. 8 – 006 ff. 40 s. erneut Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Fn. 31), Art 38, Rn. 15: „fiasco“. 41 s. International Law Commission, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, UN GAOR, 56th Sess., Supp. No. 10, at 43, UN Doc. A/56/10 (2001), sowie International Law Commission, Draft Articles on Diplomatic Protection with commentaries, Yearbook of the International Law Commission, 2006, vol. II, Part Two, UN Doc. A/61/10.

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rechts ein, indem sie Berichte verfaßt, die nicht in Kodifikationsvorschläge münden. Zu nennen ist hier vor allem der Bericht zur Fragmentierung des Völkerrechts.42 2. Rechtstheoretische Wende? Im neueren Schrifttum wird vorgeschlagen, die „formalistische“ Sicht der überkommenen Völkerrechtslehre vollständig zu verlassen und immer dort, wo ein gemeinsames Rechtsverständnis (shared understanding) in den Beziehungen zwischen (Völker-)Rechtssubjekten (interactional law) in Erscheinung tritt, die Entstehung neuer oder die Bestätigung vorhandener Rechtssätze anzunehmen.43 Die Abgrenzung zwischen Völkerrecht und anderen Normen soll sich nach einer Reihe von Legalitätskriterien (criteria of legality) vollziehen, zu denen Normklarheit, Rückwirkungsverbot und Widerspruchsfreiheit zählen.44 Dann aber dürften eine Fülle der Empfehlungen Internationaler Organisationen, privater Codices oder unverbindlicher Vereinbarungen zum Völkerrecht gezählt werden. Ob man hiermit dem häufig erklärten gegenläufigen Willen der Völkerrechtssubjekte gerecht wird, kann mit Fug und Recht bestritten werden. Die Verabsolutierung eines singulären rechtstheoretischen Ansatzes ist in der akademischen Diskussion anregend, in der Praxis jedoch möglicherweise nicht haltbar. 3. Rechts- und Handlungsformen: Internationales Verwaltungsrecht/Global Administrative Law Eine andere denkbare theoretische Alternative liegt in der – vor allem von deutschen Autoren geforderten – (Re-)Publifizierung des Völkerrechts. An der Stelle des ausgleichend-austauschenden (privatrechtsanalogen) Charakters der Völkerrechtsregeln soll der Umstand Anerkennung finden, daß auch im Völkerrecht die Ausübung hoheitlicher Gewalt begründet und eingehegt werden muß.45 Abgesehen von einer Stärkung des Legitimationsgedankens sowie der Forderung nach intensiviertem Rechtsschutz wird dieser public law-Ansatz methodisch durch die Übertragung verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Denkfiguren auf das Völkerrecht erreicht. Nachdem die Konstitutionalisierung des Völkerrechts als Denkansatz in die Jahre ge-

42 Fragmentation of International Law: Difficulties Arising From the Diversification and Expansion of International Law, Report of the Study Group of the International Law Commission, UN Doc. A/CN.4/L.702 vom 18. 07. 2006. 43 Brunn¦e/Toope, Legitimacy and Legality in International Law, 2010, S. 65 ff. s. auch den Ansatz von van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, 1983, S. 205 ff. 44 Brunn¦e/Toope (Fn. 43), S. 28 ff., in Anlehnung an Lon Fuller. 45 Grundlegend von Bogdandy/Dann/Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities, in: von Bogdandy u. a. (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, 2010, S. 3.

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kommen ist46 und die entsprechende Kritik nicht verstummt, befindet sich das internationale Verwaltungsrecht in Gestalt des global administrative law in voller Blüte. Der entscheidende methodische Wandel kann auf Matthias Goldmann zurückgeführt werden.47 Wenn es im nationalen Verwaltungsrecht Legitimationsanforderungen, Rechtsbindungen und Rechtsschutzerfordernisse auch für Handlungsformen gibt, die nicht als Rechtsformen in Erscheinung treten, wie beispielsweise Informationen oder tatsächliche Handlungen, so lassen sich auch im Völkerrecht Handlungsformen identifizieren und rechtlich bewältigen, ohne daß der Begriff des Völkerrechts ausgedehnt werden muß. Goldmann unterscheidet insoweit bestimmte individualgerichtete und staatengerichtete Handlungsformen, wie einerseits z. B. internationale Verwaltungsentscheidungen und andererseits z. B. internationale öffentliche Standards.48

V. Rechtswissenschaftliche Perspektive 1. Kategorisierung und Ordnung Der Überblick über die Entwicklung in der Theorie unterstreicht zunächst die Notwendigkeit, die Normsätze – ob neuartig oder altbewährt – unabhängig von der Liste des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut zu kategorisieren, zu strukturieren und zu ordnen. Insoweit kann auf die substantiellen Vorarbeiten im Rahmen des Global Administrative Law zurückgegriffen werden. Ziel ist es dabei nicht, die Möglichkeiten der Staaten, Internationalen Organisationen und anderen Akteuren in der Rechtsetzung einzuengen. Vielmehr geht es um die analytische Aufgabe, das Vorhandene zu erfassen und in der Ordnung zu erkennen. Dabei kann die ordnende Kategorisierung Rückwirkungen auf die Weiterentwicklung der Normsätze entfalten, indem den Akteuren des Völkerrechts die Möglichkeit geboten wird, sich die Bereitstellungsfunktion49 der Kategorien zunutze zu machen. Methodisch setzt diese Ordnung und Kategorisierung eine klassische Vorgehensweise in der Völkerrechtslehre fort, die sich vor allem bei der Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht bewährt hat. Während dort jedoch über die Denkfigur der opinio iuris der Sprung vom Faktischen in das Normative vollzogen werden kann50, geht es hier nicht um die Entstehung neuer Rechtsnormen, sondern um die analytische Durchdringung des vorhandenen Rechtsstoffs. 46

s. etwa den umfassenden Sammelband von Dunoff/Trachtman, Ruling the World? Constitutionalism, International Law and Global Governance, 2009. 47 Grundlegend Goldmann, Inside Relative Normativity: From Sources to Standard Instruments for the Exercise of International Public Authority, in: von Bogdandy u. a. (Fn. 45), S. 661. 48 Goldmann (Fn. 47), S. 661 (691 ff.). 49 Begriff: Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrecht, 1993, S. 65 (97). 50 Statt aller s. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 2. Kap., Rn. 67 ff.

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2. Wirkungsanalyse Der analytisch-deskriptiven Kategorisierung hat sich zweitens eine Wirkungsanalyse anzuschließen, die eng mit der kategorisierenden Ordnungsbildung verknüpft ist. Schon infolge der Abwesenheit einer zentralen Gerichtsbarkeit auf Weltebene liegt es fern, allein die gerichtliche Durchsetzung als Modus zu akzeptieren, der den Rechtscharakter der jeweils in Frage stehenden Norm determiniert, wie dies in nationalen Rechtsordnungen tragbar sein mag. Entscheidend ist vielmehr, die Wirkungsmechanismen der einzelnen Normen und Normgruppen zu erfassen. Das bekannte Bonmot Louis Henkins: „almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time.“51 verfügt insoweit über einen rechtswissenschaftlichen Kern. Vielfältige Rechtsdurchsetzungsmechanismen sorgen dafür, daß Rechtsverstöße und die Nichterfüllung völkerrechtlicher Pflichten nicht in der Weise in den Vordergrund rücken, daß die effektive Geltung des Völkerrechts insgesamt gefährdet wäre. Das hierfür herangezogene Konzept der compliance ist allerdings kein primär rechtswissenschaftliches, sondern ist den Sozialwissenschaften entlehnt.52 Es kommt darauf an, Einklang des staatlichen Verhaltens mit dem Völkerrecht herzustellen – nicht allein im Wege gerichtlicher Klagbarkeit. Hierdurch wird die Möglichkeit eröffnet, auch „weiche“ Steuerungsformen in die Betrachtung einzubeziehen und sie nicht innerhalb der unterkomplexen Sammelbezeichnung „soft law“53 aus dem Blickfeld der Völkerrechtslehre herauszudefinieren. Es mag hiergegen eingewandt werden, daß rechtlich ungenügend verdichtete Handlungsformen nicht die Anerkennung als Völkerrecht verdienen, um das Völkerrecht in seiner eindeutigen Wirkung nicht aufzuweichen. Einer solchen Relativierung des Völkerrechts kann indes begegnet werden, indem die Wirkungsmechanismen einzelner Normen und Normgruppen klar voneinander abgeschichtet werden. Zudem wird das „Relativierungsrisiko“ (das sich eindämmen läßt) eindeutig überwogen durch die Vorteile einer Heranziehung rechtswissenschaftlicher Methoden auch auf bisher im soft law marginalisierte Regelungsmuster. Dies gilt vor allem für Interpretationsmethoden, aber auch für das bereits erörterte Systematisierungspotential der Rechtswissenschaft. 3. Geltungsgründe Ein Grundproblem des Völkerrechts stellt sich bei der Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre nicht mit seiner ganzen Schärfe. Die Einbeziehung von organgesetztem Recht oder Recht privaten Ursprungs wirft nur in Grenzen die Frage nach der Geltung des Völkerrechts auf. Zwar ist das Konsensprinzip, wie es 51

Henkin, How Nations Behave, 1968, S. 47. s. aus der rechtswissenschaftlichen Literatur vor allem Chayes/Handler Chayes, The New Sovereignty, 1995, sowie Tietje (Fn. 26), 26. 53 Deutlich Goldmann (Fn. 47), S. 661 (668). 52

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im Lotus-Urteil des StIGH zum Ausdruck kommt54, vielfältigen Anfechtungen ausgesetzt – und dies zu Recht, denn die Konstruktionen eines ius cogens mit Rechtswirkungen erga omnes lassen sich allein mit souveränitätsschonenden Konsensüberlegungen nicht begründen.55 Überpositiver Geltungsgründe bedarf es aber für die hier im Anschluß an den Ansatz des Global Administrative Law anknüpfende Fortentwicklung des Völkerrechts nicht. Ohne daß es allgemein erforderlich wäre, streng beim „Lotus-Prinzip“ zu verharren, läßt sich hier stets mit dem positiv zu ermittelnden und positivistisch zu erfassenden Willen der Völkerrechtssubjekte argumentieren – ob im abgeleiteten Völkerrecht Internationaler Organisationen oder bei der Rezeption privat veranlaßten Rechts. Die erörterten Differenzierungen in der Rechtswirkung können auf diese Weise einbezogen werden.

VI. Fazit Die Umbruchphase, in der sich das Völkerrecht spätestens seit 1989/90 befindet, zeigt sich auch in der Rechtsquellenlehre. Manche Neuorientierungen sind notwendig; andererseits können bewährte Strukturen, Methoden und Grundannahmen erhalten bleiben. Ein „Recht ohne Rechtsquellen“56 drohte nur, wenn die Völkerrechtslehre sich nicht von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut löste. Meinhard Schröder ist zu wünschen, daß seine bereits formulierten wie auch künftigen Gedanken in der Debatte das ihnen gebührende Gewicht er- und behalten.

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Klassisch StIGH, The Case of the S.S. Lotus, PCIJ Rep. Ser. A, No. 10, S. 18: „International law governs relations between independent States. The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these coexisting independent communities or with a view to the achievement of common aim. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“ 55 Zum Ganzen die Beiträge in: Tomuschat/Thouvenin (Hrsg.), The Fundamental Rules of the International Legal Order, 2006. 56 Tietje, Recht ohne Rechtsquellen?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), 27.

Historische Bemerkungen zur Regel male captus bene detentus Von Thomas Rüfner Die Worte male captus bene detentus – „Schlecht [d.h. unrechtmäßig] verhaftet, recht verwahrt [d.h. rechtmäßig in Haft gehalten und verurteilt1]“ werden heute zitiert, wenn es darum geht, welche Folgen die Entführung eines mutmaßlichen Straftäters unter Verletzung der Gebietshoheit eines anderen Staates für das Strafverfahren hat. Wo die Regel male captus bene detentus Anwendung findet, schenken die Gerichte den Umständen, unter denen der Angeklagte ergriffen wurde, prinzipiell keine Beachtung. Die Beispiele für spektakuläre Verfahren, in denen nach diesem Prinzip verfahren wurde, sind zahlreich. Erinnert sei nur an die Fälle Eichmann2, Argoud3 und Öcalan4. Zuletzt hat am 22. Oktober 2011 das Schwurgericht (Cour dÏassises) von Paris den deutschen Arzt Dieter Krombach zu fünfzehn Jahren Haft wegen der Tötung seiner Stieftochter verurteilt. Der Angeklagte konnte erst in Paris vor Gericht gestellt werden, nachdem er aus Lindau am Bodensee gewaltsam nach Mülhausen im Elsass entführt worden war5.

1 Da es letztlich um die Zulässigkeit der Verurteilung des Delinquenten geht, dessen man sich durch Entführung bemächtigt hat, wird statt bene detentus zuweilen gesagt bene iudicatus („gut verurteilt“), vgl. Schultz, Male captus bene iudicatus, SJIR 24 (1967), 67. 2 Becker, Supreme Court (Israel) vom 29. 05. 1962 – Eichmann, in: Menzel/Pierlings/ Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 781; zum Fall Eichmann eingehend Paulussen, Male captus bene detentus? Surrendering suspects to the International Criminal Court, 2010, S. 264 Fn. 375 m.w.N. 3 Cass. crim., 4 juin 1964, Clunet 1965, 93 note Comte; die note ist das Votum des Berichterstatters Comte; sie gehört zu den wenigen richterlichen Äußerungen, in denen die Wendung male captus bene detentus vorkommt ebd. 104. Vgl. aber auch BVerfGE 109, 13 (29). 4 EGMR, EuGRZ 2003, 472 – Öcalan/Türkei. 5 Allerdings war die Entführung Krombachs – anders als in der Mehrzahl der Fälle – nicht von staatlichen Stellen, sondern von dem leiblichen Vater der Getöteten veranlasst worden, der sich deshalb demnächst seinerseits in Frankreich vor Gericht verantworten muss. Vgl. Le Parisien vom 22. 10. 2011, im Internet unter http://www.leparisien.fr/faits-divers/affaire-kalin ka-condamne-a-15-ans-de-prison-dieter-krombach-fait-appel-22-10-2011-1680603.php und der Bericht auf Spiegel online, http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,793418,00.html. Zur juristischen Vorgeschichte vgl. EMRK, NJW 2001, 2387 – Krombach/Frankreich.

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Die spruchregelartige lateinische Formulierung erweckt den Eindruck, dass es sich bei der Regel, wonach die rechtswidrige Entführung des Angeklagten aus einem Gebiet, in dem er dem Zugriff des Strafgerichts entzogen war, der Verurteilung nicht im Wege steht, um einen althergebrachten Rechtssatz handelt – womöglich mit Wurzeln im römischen Recht6. Freilich hat erst jüngst der niederländische Jurist Christophe Paulussen festgestellt, dass sich die Maxime in den Quellen des antiken römischen Rechts nicht finden lässt. Paulussen hält gleichwohl ein hohes Alter der Spruchregel und eine Herkunft etwa aus dem Mittelalter für möglich7. Jedoch stammen die ältesten von Paulussen gefundenen Quellen, in denen die lateinische Maxime zitiert wird, aus dem Jahr 1961. Es handelt sich um zwei in den USA erschienene Beiträge zum Prozess gegen Adolf Eichmann8. Einen früheren Beleg für die Verwendung der Regel male captus bene detentus konnte Paulussen weder im Bereich des angelsächsischen9, noch des kontinentaleuropäischen Rechts10 finden. Überdies hat bereits im Jahr 1991 die südafrikanische Appellate Division die Auffassung vertreten, das römisch-holländische Recht der Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert11 habe eine Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet als Hindernis für die Verurteilung des Angeklagten angesehen. Daher12 dürfe auch nach südafrikanischem Recht kein Strafurteil gegen einen Angeklagten ergehen, der nur infolge einer solchen Entführung vor Gericht stehe. Aus diesem Grund setzte sich die Appellate Division über frühere südafrikanische Präzedenzfälle13 hinweg und hob die Verurteilung eines ANC-Kämpfers auf, der 1986 unter Beteiligung südafrikanischer

6 So sprechen Schleicher, Transborder abductions by American bounty hunters – the Jaffe case and a new understanding between the United States and Canada, Georgia Journal of International and Comparative Law 20 (1990), 489 (502 Fn. 96) und Klein, Extraterritorial abduction: an Australian approach?, Adelaide Law Review 18 (1996), 103 (104) von einer „ancient Roman maxim“; als „ancient maxim“ bezeichnet die Regel Drimmer, When man hunts man: the rights and duties of bounty hunters in the American criminal justice system, Houston Law Review 33 (1996), 731 (773 Fn. 41). 7 Paulussen (Fn. 2), S. 26 mit Fn. 39. 8 Cardozo, When extradition fails, is abduction the solution?, American Journal of International Law 55 (1961), 127 (132) und Baade, The Eichmann trial: some legal aspects, Duke Law Journal 1961, 400 (404); vgl. Paulussen (Fn. 2) S. 25 f. Bei Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl., 1998, M 13, S. 130 wird keine Quelle für die Regel angegeben. 9 Dazu Paulussen (Fn. 2), S. 26 mit Fn. 36 und 38. 10 Paulussen (Fn. 2), S. 14 Fn. 53 und S. 22 – 25. 11 Dazu nur Zimmermann, Römisch-holländisches Recht – ein Überblick, in: Feenstra/ Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht – Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, 1992, S. 9. 12 Zur Bedeutung der Autoritäten des römisch-holländischen Rechts in der modernen südafrikanischen Rechtspraxis Zimmermann, Das römisch-holländische Recht in Südafrika, 1983, S. 58 – 62. 13 Nduli v. Minister of Justice 1978 (1) SA 893 (A); Abrahams v. Minister of Justice 1963 (4) SA 542 (C); R. v. Robertson 1 (1912) T. P. D. 10.

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Sicherheitskräfte aus dem Königreich Swasiland nach Südafrika entführt worden war14. Außerdem hat schon von Bar im Jahr 1877 darauf aufmerksam gemacht, dass sich in einem Gutachten des mittelalterlichen Juristen Baldus de Ubaldis (1327 – 1400)15 gleichfalls die der Regel male captus bene detentus entgegengesetzte Rechtsauffassung findet und dass sich die berühmten Strafrechtler Giulio Claro (Julius Clarus, 1525 – 1575)16 und Tiberio Deciani (Tiberius Decianus, 1509 – 1582)17 der Meinung des Baldus anschließen18. Schließlich hat Bauer vermerkt, dass mit Prospero Farinacci (Prosper Farinacius, 1544 – 1618)19 ein weiterer berühmter italienischer Kriminalist die Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet als Hindernis für die weitere Strafverfolgung ansieht20. Die historischen Wurzeln der Maxime male captus bene detentus sind demnach unklar. Dies und die Bedeutung der Problematik im modernen Recht21 legen es nahe, die Quellen zum Umgang mit Entführungsfällen in der kontinentalen und in der angelsächsischen Rechtstradition zu überprüfen und den Ursprung der Regel zu suchen.

I. Verhaftung auf fremdem Territorium in der kontinentalen Rechtstradition 1. Die Quellen des Ius Commune a) Antikes römisches Recht In den Quellen des römischen Rechts findet sich kein einschlägiger Text zu den Folgen der Entführung eines Angeklagten aus dem Ausland. Einige Quellen behandeln jedoch die Frage, wie ein Provinzstatthalter zu verfahren hat, wenn 14

S. v. Ebrahim 1991 (2) SA 553 (A) (in Afrikaans), gekürzte Fassung in 31 I.L.M. 888 (1992); vgl. auch Dugard, No jurisdiction over abducted persons in Roman-Dutch Law: Male captus, male detentus, South African Journal on Human Rights 7 (1991), 199. 15 Zu Leben und Werk vgl. Lange/Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2, 2007, S. 750 – 795. 16 Holthöfer, Art. Claro [Clarus], Giulio, in: Stolleis (Hrsg.), Juristen – Ein biographisches Lexikon, 1995, ND 2001, S. 134 f. 17 Zu ihm eingehend Pifferi, Generalia delictorum, 2006. 18 von Bar, La personne extrad¦e peut-elle Þtre poursuivie — raison dÏun fait punissable non pr¦vu lors de lÏextradition?, Revue de droit international et de l¦gislation compar¦e 9 (1877), 1 (15 f.); ebenso ders., Lehrbuch des internationalen Privat- und Strafrechts, 1892, S. 327 Fn. 16. 19 Zu seiner Person Schlosser, Prospero Farinacci (1544 – 1618), ein bedeutender Kanonist?, in: FS für Knut Wolfgang Nörr, 2003, S. 893. 20 Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968, S. 144. 21 Dazu umfassend Paulussen (Fn. 2).

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er eine Person strafrechtlich belangen will, die sich in einer anderen Provinz aufhält22 : Aus zwei Äußerungen des spätklassischen Juristen Iulius Paulus ergibt sich, dass die Jurisdiktionsgewalt eines Statthalters über die jeweilige Provinz nicht hinausreicht23. Ulpian, ein ungefährer Zeitgenosse des Paulus, berichtet von einer Anordnung des Kaisers Antoninus Pius, nach der ein Straftäter wegen eines in einer Provinz begangenen schweren Verbrechens (sacrilegium) durch den Statthalter einer anderen Provinz, in welcher der Täter wegen einer weniger bedeutenden Straftat ergriffen wurde, an den Statthalter der Provinz, wo die gravierendere Tat begangen wurde, ausgeliefert werden sollte24. Dass solche Auslieferungen nicht selten vorkamen, belegt eine Bemerkung des ebenfalls in der Spätklassik lebenden Aemilius Macer. Danach war es üblich, dass der Statthalter einer Provinz einen anderen Statthalter schriftlich um die Auslieferung eines Straftäters ersuchte. Diese Vorgehensweise soll nach Macer durch kaiserliche Rechtsbescheide (rescripta) angeordnet sein25. Eine Novelle Kaiser Justinians aus dem Jahr 556 n. Chr. bestätigt die Praxis der Auslieferungsersuchen und verpflichtet den Statthalter, in dessen Provinz sich der Gesuchte aufhält, dem Ersuchen Folge zu leisten26. Aus den genannten Quellen lässt sich schließen, dass es einem Statthalter im römischen und byzantinischen Reich nicht gestattet war, eigenmächtig einen Verdächtigen im Gebiet einer anderen Provinz festzunehmen und dass ein geregeltes Auslieferungsverfahren existierte. Insofern lassen sich die Texte als Grundlage einer Argumentation gegen das Prinzip male captus bene detentus nutzen. Jedoch lässt sich den Quellen keine unmittelbare Aussage zu Entführungen aus einem Gebiet entnehmen, das nicht zum römischen Reich gehörte. Vor allem aber wird nicht ausdrücklich gesagt, ob eine Entführung unter Verletzung fremder Gerichtsgewalt der späteren Verurteilung des Entführten entgegenstand.

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Die im Folgenden genannten römischen bzw. byzantinischen Quellen werden – mit Ausnahme von D. 48, 2, 7, 5 sämtlich in der Entscheidung S. v Ebrahim 1991 (2) SA 553 (569 f.) (A) erörtert. 23 Paulus 1 ad ed. D. 2, 1, 20; vgl. auch Paulus 13 ad Sab. D. 1, 18, 3. 24 Ulpian 7 de off. proc. D. 48, 2, 7, 5. 25 Macer 2 de off. praes. D. 48, 3, 7; dazu Garbarino, Osservazioni in tema di competenza giurisdizionale criminale nelle province alla luce di Ed. XIII, 17 e 22 e di Nov. 134, 5, in: Botta (Hrsg.), Il diritto giustinianeo fra tradizione classica e innovazione, 2003, S. 69 (84) und Miglietta, Domand! se lÏuomo fosse galileo e, venuto a sapere che ricadeva sotto la ,potestasÐ di Erode, lo fece tradurre presso Erode (Luc. 23, 6 – 7): LÏinvio al tetrarca di Galilea e Perea, in: Amarelli/Lucrezi (Hrsg.), Il processo contro Ges¾, 1999, S. 105 (117 – 119). 26 Nov. 134, 5 (545); vgl. dazu Garbarino (Fn. 25), S. 74 f.

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b) Kanonisches Recht Ähnlich verhält es sich mit den Quellen des mittelalterlichen Kirchenrechts, die für das gemeineuropäische ius commune eine kaum geringere Bedeutung hatten als die justinianischen Rechtsquellen. Der Liber Extra, die von Papst Gregor IX. 1234 promulgierte Sammlung päpstlicher Rechtsbescheide (Dekretalen), enthält einen Text, der für unser Thema von Interesse ist. In X 5, 40, 23 ist eine auf den 1. April 1205 datierte Entscheidung Papst Innozenz III. überliefert, die einen Rechtsstreit zwischen der Gräfin von Blois27 und dem Kapitel der Kathedrale von Chartres betrifft. Dem Streit liegt die Ergreifung eines Verbrechers (latro) durch den praepositus der Gräfin für den Ort La-Fert¦Villeneuil zugrunde. Das Domkapitel behauptet, die Festnahme habe in seinem Gebiet (in terra sua) stattgefunden. Da die Grafen von Blois auch über Chartres herrschten, muss die Festnahme innerhalb des gräflichen Herrschaftsbereichs, aber in einem Gebiet stattgefunden haben, in dem das Kapitel Sonderrechte beanspruchen konnte28. Die Schilderung des Sachverhalts spricht zwar davon, der Verbrecher sei durch das Kapitel herausverlangt (requisitus) worden. Dies geschah jedoch erst post factam iustitiam, also erst nachdem der Betroffene wegen der ihm vorgeworfenen Straftaten bestraft worden war. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Worte post factam iustitiam die Vollstreckung der Todesstrafe andeuten. Jedenfalls wird im Weiteren nur noch davon gesprochen, dass das Kapitel eine Entschädigung in Geld (emenda) von der Gräfin fordert. In der päpstlichen Entscheidung geht es nicht unmittelbar um die Verpflichtung der Gräfin zur Zahlung der emenda, sondern darum, ob es rechtens war, dass das Kapitel die Gräfin durch die Verhängung des kirchlichen Interdiktes über ihr Gebiet unter Druck zu setzen suchte, obgleich sie sich bereit erklärt hatte, dafür Sicherheit zu leisten, dass sie sich einem Prozess wegen der erhobenen Vorwürfe stellen würde. Im Ergebnis bestimmt der Papst drei Kleriker, die den Fall untersuchen und entscheiden sollen. Dass die Ergreifung des Verbrechers auf fremdem Hoheitsgebiet prinzipiell Unrecht war, wird in der Dekretale vorausgesetzt. Allerdings betrifft die päpstliche Entscheidung nicht unmittelbar die Verpflichtung der Gräfin zur Wiedergutmachung des Schadens. Eine Rücküberstellung ist ohnehin nicht Gegenstand des Verfahrens. Insofern spricht der Text zwar gegen die Zulässigkeit einer strafrechtlichen Verurtei27 Es handelt sich um Katharine von Clermont, die Ehefrau des Grafen Ludwig von Blois, der zum Zeitpunkt der Abfassung der Dekretale am Vierten Kreuzzug teilnahm und am 14. 04. 1205 ums Leben kam; vgl. Schwennicke, Europäische Stammtafeln, Bd. 2, 1984, Nr. 47 und die Anmerkungen bei Hageneder/Sommerlechner, Die Register InnozenzÏ III., Bd. 8, 2001, Nr. 31 Fn. 5 und 10. 28 Vgl. zur Stellung des Grafen als Stadtherr von Chartres und zu den Rechten von Bischof und Kapitel in Stadt und Umgebung Kaiser, Bischofsherrschaft zwischen Königtum und Fürstenmacht, 1981, 406 – 422.

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lung nach Entführung aus fremdem Hoheitsbereich, enthält aber keine eindeutige Aussage zu dieser Problematik.

2. Die mittelalterliche Rechtswissenschaft a) Oldradus de Ponte Der erste Rechtslehrer, der sich wissenschaftlich mit dem Problem der Ergreifung eines flüchtigen Täters im Ausland befasste, scheint Oldradus de Ponte (oder de Laude, gestorben nach 1335)29 gewesen zu sein. Oldradus behandelte die Frage in einer Quaestio30, die sein Schüler Albericus de Rosate (ca. 1290 – 1360)31 in seinen Traktat de statutis eingliederte32. Die Quaestio des Oldradus passt gut in das Werk seines Schülers Albericus, weil Oldradus das Problem der Verhaftung auf fremdem Territorium mit einer Auslegungsfrage verbindet. Nach den Statuten von Padua, so wird berichtet, steht demjenigen, der einen flüchtigen Verbrecher, der in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde (bannitus ad mortem) ergreift, eine Belohnung von hundert librae zu. Nach einer anderen Bestimmung der Statuten wird demjenigen eine Strafe angedroht, der zum Zwecke der Ergreifung eines bannitus fremdes Territorium betritt. Nun bildet Oldradus den Fall: Ein gewisser Sempronius stellt fest, dass ein gesuchter Verbrecher im Gebiet des Bistums Padua wohnt. Als Sempronius versucht, den bannitus festzunehmen, ergreift dieser die Flucht. Sempronius nimmt die Verfolgung auf und ergreift den Flüchtigen auf dem Gebiet von Verona. Hat er nun die Belohnung für die Ergreifung eines bannitus oder die Strafe wegen einer Festnahme im Ausland verdient? Oldradus geht sehr ausführlich auf das Für und Wider der Frage ein. Als Argument gegen die Bestrafung des Sempronius und dafür, dass ihm die Belohnung für die Ergreifung des Gesuchten zusteht, trägt Oldradus in zahlreichen Varianten den Gedanken vor, dass die Verfolgung zunächst – solange sich Sempronius und der Gesuchte auf dem Territorium von Padua aufhielten – rechtmäßig war. Dieser rechtmäßige Anfang soll den Vorgang im Ganzen als rechtmäßig erscheinen lassen: 29

Zu Leben und Werk vgl. Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 665 ff. Zur literarischen Gattung der quaestio disputata vgl. Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 386 ff. 31 Zu Albericus Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 665 ff. 32 Albericus a Rosate, Comentarium de statutis, Liber 4, Quaestio 78, in: Tractatus de statutis diversorum autorum, Francofurti 1606, 1 (308 – 313). Vgl. zu dem Werk Lange/ Kriechbaum (Fn. 15), S. 681. Dass die Quaestio im Ganzen von Oldradus stammt, ergibt sich aus der Einleitung Disputavit etiam ipse Old. aliam pulchram quaestionem …, sowie an dem Kürzel Old. am Ende der Quaestio (S. 313), an das sich die Worte (des Albericus) anschließen: Et hanc quaestionem sine aliqua detruncatione ideo posui, quia videtur mihi subtilis, et utilis, et argumentabilis ad multa, et bene declarans de initio et fine. Die quaestiones disputatae des Oldradus sind als eigenständiges Werk nicht erhalten, Lange/Kriechbaum (Fn. 13), S. 612. 30

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Oldradus de Ponte, in: Albericus de Rosate, De statutis, Lib. 4, Qu. 78, Nr. 333 In omnibus, quae constant ex pluribus, id alterum ad se trahit quod est in huiusmodi unione potentius. … Sed cuiusque rei potentissima pars est principium. ut ff. de origine iuris l. i. Bei allem, was sich aus mehreren Teilen zusammensetzt, zieht das den Rest an sich, was in der Verbindung am stärksten ist. … Der stärkste Teil jeder Sache aber ist ihr Anfang, so D. 1, 2, 1.

Oldradus zieht demnach die Möglichkeit, dass die Ergreifung des Gesuchten als rechtmäßig angesehen werden kann, nur für den Fall in Betracht, dass der Gesuchte zunächst auf eigenem Gebiet angetroffen und dann verfolgt wurde. Abgesehen von diesem Fall der Nacheile ist es nach dem zugrunde gelegten paduanischen Statut selbstverständlich, dass die Ergreifung eines Gesuchten auf fremdem Territorium verboten und strafbar ist. Die Quaestio des Oldradus bestätigt damit den schon aus X 5, 40, 24 gewonnenen Eindruck, dass die Verletzung fremder Hoheitsrechte bei der Ergreifung von Straftätern im mittelalterlichen Recht unzweideutig missbilligt wird. Die für den Gegenstand dieser Untersuchung entscheidende Frage, ob sich aus dem Rechtsbruch bei der Verhaftung eine Pflicht zur Freilassung des Betroffenen ergibt, oder ob er gleichwohl in Haft gehalten und gegebenenfalls verurteilt werden kann, stellt allerdings auch Oldradus nicht. b) Bartolus Erst Bartolus von Saxoferrato34 befasste sich explizit und eingehend mit der Frage nach der Pflicht zur Freilassung eines auf fremdem Gebiet Verhafteten. Er beschäftigt sich gleich an mehreren Stellen seines umfangreichen Werkes mit diesem Problem. Bei der Kommentierung der oben erwähnten Äußerung Ulpians, nach der ein Straftäter, der das Verbrechen des sacrilegium begangen hatte, deshalb in die Provinz ausgeliefert wurde, in der die Tat geschehen war, vermerkt Bartolus das Folgende: Bartolus de Saxoferrato ad D. 48, 2, 7, 5 Nr. 435 Secundo quaero, aliquis est captus per rectores terrae vicinae, in territorio huius civitatis, an talis homo possit repeti per civitatem istam, cum non potuerit iure capi? Pro quo facit scilicet quod capi non potuerit l. quis sit fugitivus §. Idem Celius supra de aedilicio edicto. Dico quod potest repeti ut extra de verborum significatione c. ex parte j. Zweitens frage ich: Jemand wurde von den Richtern eines Nachbargebiets in dieser Stadt ergriffen; kann eine solche Person von dieser Stadt zurückgefordert werden, weil er nicht 33

(Fn. 32), S. 309. Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 682 ff. 35 Benutzte Ausgabe Bartolus a Saxoferrato, In Secundam Digesti Novi Partem Commentaria, Augustae Taurinorum 1574, digitalisierte Ausgabe hrsg. von Sirks, 2004, dort f. 159vb. 34

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Thomas Rüfner rechtmäßig ergriffen werden konnte? Dafür, das heißt dafür, dass er nicht ergriffen werden konnte, spricht D. 21, 1, 17, 1336. Ich sage, dass er zurückgefordert werden kann entsprechend X 5, 40, 23.

Bartolus stellt – nach anderen Erörterungen – die Frage, ob eine Stadt die Rücküberstellung einer Person verlangen kann, die auf ihrem Gebiet von den Justizbehörden eines benachbarten Gebietes ergriffen wurde. Bartolus bejaht die Frage ohne eingehende Begründung. Der erste Text, auf den Bartolus verweist – D. 21, 1, 17, 1337 – beschäftigt sich mit der Flucht eines Sklaven an einen Ort, wo er Asyl genießt und wo sich deshalb der Eigentümer seiner nicht bemächtigen kann. Als solche Asylstätten waren im klassischen römischen Recht vor allem Statuen des Kaisers anerkannt. Der Hinweis auf diesen Text dient Bartolus wohl nur zur Illustration der Aussage, dass es Orte gibt, an denen eine an sich bestehende Herrschaftsgewalt nicht ausgeübt werden darf: So wie der Eigentümer eines Sklaven sein Zugriffsrecht nicht ausüben darf, wo der Sklave Asylrecht genießt, dürfen die rectores des Nachbarterritoriums außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs keine Verhaftung vornehmen. Außerdem zitiert Bartolus den eben besprochenen kanonischen Text X 5, 40, 23, der eine Pflicht zur Rücküberstellung eines Entführten zwar nahelegt, aber nicht deutlich ausspricht. Letztlich gründet Bartolus seine Auffassung weniger auf autoritative Quellen als auf die Überlegung, dass die unrechtmäßige Verhaftung dem verletzten Hoheitsträger ein Recht auf Wiederherstellung des früheren Zustandes verschafft. Dieselbe Auffassung äußert Bartolus noch an einer anderen Stelle seines Digestenkommentars und bezieht sich dabei konkret auf die politischen Verhältnisse seiner Zeit: Bartolus de Saxoferrato ad D. 21, 1, 17, 1238 Item nota quod si unus caperetur in territorio civitatis Assisii, et duceretur in territorium Perusii, quod debet relaxari. Ita determinat Oldradus in quadam sua disputatione. Beachte weiter, dass, wenn jemand im Gebiet der Stadt Assisi ergriffen und in das Gebiet von Perugia gebracht wurde – dass er freigelassen werden muss. So entscheidet Oldradus in einer seiner Disputationen.

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Im Text der benutzten Druckausgabe werden die Anfangsworte der angeführten Digestenstelle mit Idem Celius wiedergegeben. Wenn diese Angabe zutrifft, verweist das Zitat auf D. 21, 1, 17, 8. Der Sinn einer Verweisung auf diese Stelle ist aber unklar. Daher ist zu vermuten, dass es richtig Item Celius heißen muss. Dann ergibt sich der Verweis auf Ulpian 1 ad ed. aed. cur. D. 21, 1, 17, 13. 37 Zu diesem Text vgl. Gamauf, Ad statuam licet confugere, 1999, S. 65 ff.; Schumacher, Stellung des Sklaven im Sakralrecht, CRRS VI, 2006, S. 38. 38 Benutzte Ausgabe Bartolus a Saxoferrato, In Secundam Digesti Veteris Partem Commentaria, Augustae Taurinorum 1574, digitalisierte Ausgabe hrsg. von Sirks, 2004, dort f. 149rb.

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Bartolus erklärt – wie an der zuerst erörterten Stelle – dass die Verhaftung in fremdem Gebiet zur Freilassung verpflichtet. Dabei wählt er die beiden umbrischen Nachbarstädte Assisi und Perugia als Beispiel. Anders als in der zuvor betrachteten Passage wird nicht hervorgehoben, dass die in ihren Hoheitsrechten verletzte civitas Anspruch auf die Rückführung hat. Die Äußerung lässt sich daher auch so verstehen, dass der Entführte selbst seine Freilassung fordern kann. Schließlich vermerkt Bartolus am Schluss, dass schon Oldradus in einer Disputation in demselben Sinn entschieden habe. Vermutlich bezieht sich dieser Hinweis auf die oben behandelte quaestio disputata des Oldradus, die im Traktat de statutis des Albericus überliefert ist. Wenn diese Annahme zutrifft, ist allerdings zu bemerken, dass Bartolus sich nicht mit vollem Recht auf die Autorität des Oldradus berufen kann, denn – wie gesehen – wird die Frage, ob eine Person, die auf fremdem Territorium ergriffen wurde, freizulassen ist, von Oldradus nicht behandelt. Bartolus äußerte sich noch ein drittes Mal sehr ausführlich in einer eigenen quaestio disputata39. Dabei stellte er an den Anfang die allgemeine Frage, ob eine Person, die rechtswidrig verhaftet wurde, ihre Freilassung fordern kann, oder ob die Haft erneut angeordnet (und faktisch ohne Unterbrechung fortgesetzt) werden kann, wenn ein Haftgrund vorliegt. Allerdings denkt Bartolus in seiner Disputation nicht primär an die Verhaftung zum Zweck der Strafverfolgung, sondern an den persönlichen Arrest als Zwangsmittel des Zivilprozesses. Dies ergibt sich daraus, dass als Grund, der eine erneute Verhaftung des Gefangenen im Zeitpunkt der Entscheidung rechtfertigen könnte, ein entsprechender begründeter Antrag eines Gläubigers genannt wird. Bei der Auflösung differenziert Bartolus danach, aus welchem Grund die ursprüngliche Verhaftung unrechtmäßig war. Gleich am Anfang stellt er – im Einklang mit den beiden Äußerungen in seinem Digestenkommentar – fest, dass der Verhaftete wieder freigelassen werden muss, wenn er auf fremdem Territorium ergriffen wurde. Zur Begründung verweist Bartolus wieder auf D. 21, 1, 17, 13, außerdem auf Nov. 134, 5, die im Verhältnis zwischen verschiedenen Provinzstatthaltern ein förmliches Auslieferungsverfahren vorschreibt40, was, wie Bartolus darlegt, gerade deshalb erforderlich ist, weil kein Richter unmittelbar eine Verhaftung in fremdem Gebiet anordnen darf. Sofern die Verhaftung hingegen aus einem anderen Grund rechtswidrig war – etwa, weil die Schuld, deretwegen zunächst Arrest beantragt wurde, nicht existierte – kann die Verhaftung nach Ansicht des Bartolus erneut angeordnet und der Betroffene in Haft gehalten werden, wenn zum Zeitpunkt der erneuten Anordnung die Voraussetzungen der Verhaftung vorliegen41.

39 Bartolus, Quaestio 6 ,Lapus fuit captusÐ, in: Bartolus a Saxoferrato, Consilia, Quaestiones, et Tractatus, Basileae 1598, digitalisierte Ausgabe, hrsg. von Sirks, 2004, S. 219 – 223. 40 Bartolus, Quaestio 6 (Fn. 39), S. 221. 41 Bartolus, Quaestio 6 (Fn. 39), S. 221 f.

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Obgleich Bartolus auch für den Fall einer aus anderen Gründen rechtswidrigen Verhaftung die Fortdauer der Haft an zusätzliche Voraussetzungen knüpft, stellt die Entführung unter Verletzung fremder Hoheitsrechte doch einen Sonderfall dar: Nur in diesem Fall ist nach Bartolus der Mangel der ursprünglichen Inhaftierung schlechthin unheilbar, so dass der Gefangene frei gelassen werden muss. Bartolus führte damit eine Differenzierung ein, die sich als folgenreich erweisen sollte. c) Baldus de Ubaldis Gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatte Baldus de Ubaldis (1327 – 1400) Gelegenheit, sich anlässlich eines Rechtsgutachtens mit der Auffassung seines Lehrers Bartolus auseinanderzusetzen42. Es handelt sich um den Text, auf den bereits von Bar aufmerksam gemacht hat43 : Ein Untertan des Grafen von Savoyen, der eines Totschlags verdächtigt wurde, war in das Gebiet der Stadt Vercelli geflohen, das zum Herrschaftsbereich von Gian Galeazzo Visconti44 gehörte. Dort aber wurde er von Untertanen des Grafen von Savoyen aufgespürt und mit Gewalt nach Savoyen verbracht, wo ihn der Podest— von Biella als zuständiger savoyischer Amtsträger in Gewahrsam nahm. Bei der Entführung wurde der Verdächtige schwer verletzt. Ob die Entführer im Auftrag ihrer Obrigkeit oder aus eigenem Antrieb handelten, geht aus dem Gutachten nicht hervor. Baldus, der möglicherweise zur Zeit der Abfassung des Gutachtens bereits in Diensten von Gian Galeazzo Visconti stand45, wurde die Frage vorgelegt, ob der Podest— von Vercelli, dessen Jurisdiktionsgewalt durch die Entführung unmittelbar berührt war, von dem Podest— von Biella die Freilassung und Rückführung des Verdächtigen verlangen konnte. Baldus bejahte die Frage, was im Hinblick darauf, dass er damit der Auffassung seines Lehrers folgte und zugleich ein Gutachten im Sinne seines Dienstherrn erteilen konnte, kaum verwundern kann.

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Baldus Ubaldus Perusinus, Consilia, Bd. 2, Venetiis 1575, ND Torino 1970, Consilium 209, f. 59r. und 59v. 43 s. o. Fn. 18. 44 Gian Galeazzo Visconti wird im Gutachten als comes virtutum bezeichnet. Der Titel verweist auf seine Stellung als Graf von Vertus. Gian Galeazzo Visconti hatte diese kleine Herrschaft in der französischen Champagne als Mitgift seiner Frau Isabella erworben und verwendete bis zu seiner Erhebung zum Herzog von Mailand im Jahr 1395 vorzugsweise diesen Titel. Vgl. Burckhardt, Comes Virtutum, Schweizer Münzblätter 1953, 59; Hugo, D. Umbertus aus Lampamiano und D. Peter mit dem Beinamen von der Stadt Andlau im Elsaß, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), 338 (341 f.). 45 Baldus war ab 1390 Professor an der von Gian Galeazzo gegründeten Universität von Pavia und Hofjurist des Gian Galeazzo Visconti, der sogar Taufpate seiner Kinder wurde, vgl. nur Pennington, Was Baldus an absolutist? The evidence from his consilia, in: Essays in honour of Jürgen Mielke, 2004, S. 305 (305 f.).

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In der Begründung des Baldus kehren viele Gedanken aus der Argumentation des Bartolus wieder, auf den Baldus sich auch ausdrücklich beruft. Zusätzlich tauchen aber auch einige neue Begründungselemente auf: Wie schon Bartolus verweist auch Baldus auf die Vorschriften der Novelle 134, 5 zum Auslieferungsverfahren zwischen Provinzstatthaltern und auf X 5, 40, 23. Zusätzlich setzt sich Baldus mit der Frage auseinander, ob nicht der Grundsatz dolo facit, quit petit quod redditiurus est46 der Freilassung des Entführten entgegensteht. Diese Überlegung liegt insbesondere im Hinblick auf Nov. 134, 5 nahe. Denn nach dem justinianischen Gesetz sind ja die Provinzstatthalter verpflichtet, einem formgerechten Auslieferungsgesuch Folge zu leisten. Der Graf von Savoyen oder der Podest— von Biella könnte demnach, wenn ihm entgegengehalten wird, dass der Verdächtige unter Missachtung der Vorschriften über das Auslieferungsverfahren in Nov. 134, 5 verschleppt wurde, replizieren, dass der Graf von Vertus bzw. der Podest— von Vercelli nach Nov. 134, 5 verpflichtet wäre, den Verdächtigen, wenn er zurücküberstellt würde, sogleich wieder nach Savoyen auszuliefern. Diesem gewichtigen Gegenargument setzt Baldus zwei Begründungen entgegen. Zum einen verweist er auf die Grundsätze der Spolienklage und der Besitzschutzinterdikte47, nach denen eine gewaltsame Veränderung der Position einer Partei zunächst rückgängig gemacht werden muss, ehe darüber gestritten werden darf, ob das Opfer der Gewalt seine Position zu Recht innehat. Zur Begründung verweist Baldus auf zwei Texte des spätklassischen Juristen Callistratus48. Zum anderen erklärt Baldus, dass die Auslieferung, wie von Justinian vorgesehen, zu seiner Zeit nicht mehr üblich sei, die angenommene Verpflichtung zur Rücküberstellung also gewohnheitsrechtlich derogiert sei und nicht mehr existiere. Demnach ist für Baldus Nov. 134, 5 nur noch als Beleg dafür relevant, dass die gewaltsame Entführung eines Straftäters aus fremdem Hoheitsgebiet unstatthaft ist. Baldus vertritt die Auffassung, ein auf fremdem Gebiet Entführter sei unbedingt freizulassen, nicht nur in seinem Gutachten, das möglicherweise auch von den Inter-

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Paulus 6 ad Plaut D. 44, 4, 8 pr. = D. 50, 17, 173, 3. Der Gedanke, dass der Grundsatz spoliatus ante omnia restitui debet („wer beraubt wurde, muss vor allem anderen wiedereingesetzt werden“, vgl. Liebs (Fn. 8), S. 58, S. 222) und die im Recht der römischen Besitzschutzinterdikte zum Ausdruck kommenden Wertungen zur Freilassung eines rechtswidrig Verhafteten verpflichten könnten, kommt schon in der Quaestio des Bartolus vor, spielt dort aber nur eine untergeordnete Rolle, Bartolus, Quaestio 6 (Fn. 39), S. 219 (Nr. 2). 48 Callistratus 5 de cogn. D. 4, 2, 13 und 5 de cogn. D. 5, 1, 37 = Marcian 14 inst. D. 44, 6, 5, 3; zur Behandlung des bis heute aktuellen Problems des Verhältnisses von petitorischen und possessorischen Rechtsbehelfen in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft Jakobs, Studien zur Geschichte des Textes der glossa ordinaria, in: FG für Werner Flume, 1998, S. 99 (134 – 154), jetzt auch in Jakobs, Kleine Schriften zur Wissenschaft vom Römischen Recht, 2004, S. 239 (274 – 294). 47

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essen seines Dienstherrn motiviert war, sondern ebenso in seinem Kommentar zu den Digesten49. 3. Die weitere Entwicklung im kontinentalen Recht Die Autorität des Bartolus und des Baldus dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Lehre, ein aus fremdem Territorium Entführter müsse – jedenfalls auf Verlangen des durch die Entführung in seinen Hoheitsrechten Verletzten – wieder freigelassen werden, zur allgemeinen Meinung im europäischen Ius Commune wurde. Ihr folgen unter anderem Bartolomaeus Salicetus (ca. 1330/1340 – 1412)50 und Bartolomeo Cipolla (Bartholomaeus Caepolla, um 1420 – 1475 oder 1477)51. Im 16. Jahrhundert lehrten unter anderen Antonio Gýmez (Antonius Gomezius, gestorben nach 1572) aus Salamanca52 und – wie bereits erwähnt53 – die großen Strafrechtler Giulio Claro54 und Tiberio Deciani55 im Einklang mit Bartolus und Baldus, dass ein aus fremdem Hoheitsgebiet Entführter freigelassen werden müsse. Besonders ausführlich befasst sich Prospero Farinacci mit der Frage56. Er belegt mit umfassenden Nachweisen, dass die Auffassung von Baldus und Bartolus zur communis opinio unter den Juristen des gemeinen Rechts geworden ist. Dabei ist nach der Darstellung Farinaccis die Verpflichtung zur Freilassung nicht davon abhängig, dass sie von dem Hoheitsträger gefordert wird, dessen Rechte durch die Festnahme verletzt wurden. Gegenstimmen verzeichnet Farinacci nicht. Zweifel scheinen lediglich im Fall der Nacheile bestanden zu haben: Paride del Pozzo (Paris de Puteo, 1413 – 1498)57, der ansonsten der Lehre von Bartolus und Baldus folgt, ist der Auffassung, es sei zulässig, einen Delinquenten, dessen Verfolgung 49 Baldus de Ubaldis ad D. 2, 1, 20, Nr. 15, benutzte Ausgabe: Ubaldus Perusinus, In Primam Digesti Veteris Partem Commentaria, Venetiis 1577, digitalisierte Ausgabe hrsg. von Sirks, 2005, dort f. 82va. Zu D. 2, 1, 20 vgl. o. Fn. 23. 50 Ad D. 21, 1, 17, 13, benutzte Ausgabe, Bartholomaeus a Saliceto, In Secundam ff. Veteris Partem Commentaria, Venetiis 1586, dort f. 137vb. Zu diesem Autor Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 795 – 802. 51 Ad D. 21, 1, 17, 13 Nr. 2, benutzte Ausgabe: Bartholomaeus Caepolla, Omnia quae quidem nunc extant Opera, Lugduni 1577, dort S. 64; vgl. zur Person Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 795 – 802. 52 Antonius Gomezius, Variae Resolutiones, Lugduni 1744, Tom. 3, Cap. 9, Nr. 4, S. 164; zur Person von Gýmez Reichardt, Gýmez, Antonio, in: Stolleis (Fn. 16), S. 252 f. 53 Vgl. o. Fn. 18. 54 Julius Clarus, Sententiae, Lib. V, § fin., Quaest. 96, Nr. 6, benutzte Ausgabe, Iulius Clarus, Opera Omnia, Genevae 1666, dort S. 895. 55 Tiberius Decianus, Tractatus Criminalis, Tom. 1, Venetiis 1590, Lib. IV, Cap. 29, Nr. 19, f. 202vb und 203ra. 56 Prosper Farinacius, Operum Criminalium Pars Prima, Editio quarta, Norimbergae 1613, De Inquisitione, Quaest. 7, Nr. 40, S. 75; vgl. auch o. Fn. 20. 57 Zu ihm Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 100 f.

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im eigenen Territorium begonnen wurde, auf fremdem Gebiet zu ergreifen. Dies sei – so berichtet der Gelehrte – im Fall eines Gesuchten entschieden worden, der von Perugia bis Florenz verfolgt und dort schließlich festgenommen worden sei58. Dieselbe Meinung findet sich auch bei Agostino Bonfranceschi (Augustinus Ariminensis, ca. 1437 – 1479)59 in seinen Zusätzen zum Taktat De Maleficiis des Angelo Gambiglioni (Angelus Aretinus, ca. 1400 – ca. 1465)60. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf die bei Albericus überlieferte Quaestio des Oldradus und die Überlegung, dass der rechtmäßige Beginn der Verfolgung auch die Ergreifung auf fremdem Territorium rechtmäßig erscheinen lässt. Angelo Gambiglioni selbst hingegen folgt insgesamt der herrschenden Lehre61. Bei Farinacci ist der Meinungsstreit zum Fall der Nacheile vermerkt. Farinacci weist jedoch nach, dass die meisten Juristen auch in diesem Fall daran festhalten, dass der auf fremdem Gebiet ergriffene Häftling freizulassen ist und schließt mit der Mahnung, nicht von dieser Auffassung abzuweichen, die allgemein verbreitet sei und der auch die Praxis überwiegend folge62. Dass die von Farinacci festgestellte communis opinio auch von den Juristen der niederländischen eleganten Schule geteilt wurde, ergibt sich aus den Belegen, die von der südafrikanischen Appellate Division in ihrer Entscheidung von 1991 angeführt werden63. Die deutschen Juristen der Rezeptionszeit und des usus modernus folgten ebenfalls der von Farinacci festgestellten communis opinio. So ist etwa bei Andreas Gaill (1526 – 1587)64 nachzulesen, dass nach Gemeinem Recht die Verhaftung eines flüchtigen Verbrechers auf fremdem Territorium unzulässig ist und die Verpflichtung nach sich zieht, den Verhafteten unverzüglich freizulassen. Allerdings verweist Gaill zum Recht der Nacheile auf den Reichsabschied von 155965, nach dem bei der Verfolgung

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Paris de Puteo, De Syndicatu Tractatus, Francofurti 1605, De capturis, § Si iudex processit, S. 230 f. 59 Vgl. Pini, Art. Bonfranceschi, Agostino, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 12, 1970, S. 32. 60 Maffei, Art. Gambiglioni, Angelo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 1999, Bd. 52, S. 115. 61 Angelus Aretinus, De Maleficiis cum additionibus D. Augustini Ariminensis …, Lugduni 1555, § Quod fama publica praecedente, Nr. 62, S. 251 f. 62 [N]on tamen recedas a prima opinione quae est communis et magis practicata …, Farinacius (Fn. 56), Nr. 41, S. 69. 63 S v Ebrahim 1991 (2) SA 553 (571 – 579) (A); vgl. auch schon die Ausführungen der Verteidigung in Nduli v. Minister of Justice 1978 (1) SA 893 (895) (A). 64 Otto, Art. Gaill, Andreas, in: Stolleis (Fn. 16), S. 228. 65 Erster Reichsabschied Augsburg 1559, §§ 21 f., in: Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede, Teil 3, Frankfurt 1747, ND 1967, S. 166 f. und bereits Reichsabschied Augsburg 1555, § 37, ebenda S. 21.

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von Landfriedensbrechern die Nacheile in andere Territorien des Reiches und die Ergreifung der Täter auf fremdem Gebiet gestattet wird66. Ähnlich äußert sich etwas später Christoph Besold (1577 – 1638)67. Auch er betont zunächst das Prinzip, dass ein auf fremdem Gebiet Ergriffener ohne weiteres freizulassen ist, hält aber die Nacheile für zulässig. Dafür verweist er allerdings nicht auf die Reichsabschiede von 1555 und 1559, sondern beruft sich auf den Gedanken, dass der rechtmäßige Beginn der Verfolgung (im eigenen Gebiet) auch die Ergreifung (auf fremdem Territorium) als rechtmäßig erscheinen lässt68. Die deutschen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts scheinen der Entführungsproblematik allerdings nur geringe Bedeutung beizumessen. In Benedikt Carpzovs (1595 – 1666) einflussreicher Practica Nova scheint das Problem nicht vorzukommen69. Wolfgang Adam Lauterbach (1618 – 1678) äußert sich nur sehr kurz. Er weist darauf hin, dass nach § 37 des Reichsabschieds von 1551 die Nacheile in ein anderes Territorium innerhalb des Heiligen Römischen Reichs grundsätzlich zulässig sei. Im Übrigen betont er jedoch, dass eine Festnahme auf fremdem Gebiet nicht gestattet ist70. Indes stellt Lauterbach nicht ausdrücklich fest, dass aus der Rechtswidrigkeit der Ergreifung die Pflicht zur Freilassung des Betroffenen folgt. Dies dürfte sich allerdings schon daraus ergeben, dass er Besold zustimmend zitiert71. Ähnlich wie Lauterbach äußern sich noch Christian G. Hübner in seinen 1799 erschienen Principia Processus Inquisitorii72 und Feuerbach im Jahr 180173. Im Jahr 1812 erklärt Mittermaier, dass nach Auflösung des alten Reichs ein allgemeines Recht der Nacheile nicht mehr anerkannt werden kann, so dass die Ergreifung von Straftätern auf fremdem Territorium generell unzulässig ist74. Obwohl Hübner, Feuerbach und Mittermaier nicht ausdrücklich auf die Notwendigkeit hinweisen, den 66 Andreas Gaill, De Pace Publica, Lib. 1, Quaest. 16, Nr. 25 f., benutzte Ausgabe in: ders., Practicarum Observationum … Libri Duo, Antverpiae 1653, dort S. 68. 67 Pahlmann, Art. Christoph Besold, in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl., 2008, S. 58. 68 Christoph Besold, Thesaurus Practicus, Norimbergae 1679, S. 676; auf die einschlägigen Reichsabschiede weisen erst die in der benutzten Ausgabe hinzugefügten Additiones von Christioph Ludwig Diether hin. 69 Bei Benedikt Carpzov, Practica Nova Rerum Criminalium, Wittenbergiae, Pars 3, Quaest. 110, Nr. 47 – 68, S. 90 – 92 werden zwar Fragen des Auslieferungsrechts eingehend behandelt, nicht aber die Folgen einer wiederrechtlichen Entführung. 70 Wolfgang Adam Lauterbach, Collegium theorico-practicum, Pars 3, Tubingae 1715, Ad D. 43, 7, Nr. 3, S. 464. 71 Vgl. die Äußerung von Johannes Voet, Commentarius ad Pandectas, Tom. 2, HagaeComitum 1707, Ad D. 48, 3, Nr. 2, S. 1048. Voet weist gleichfalls nicht ausdrücklich auf die Freilassungsverpflichtung hin; dass er sie bejaht, ergibt sich jedoch aus dem Zitat des Spaniers Antonio Gýmez, so S v Ebrahim 1991 (2) SA 553 (572) (A). 72 Christian G. Hübner, Principia Processus Inquisitorii, Lipsiae 1799, S. 38. 73 Feuerbach, Handbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1801, S. 452 f. 74 Mittermaier, Handbuch des peinlichen Processes, Bd. 2, 1812, S. 71 f.

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aus fremdem Gebiet Entführten unverzüglich freizulassen, besteht kein Anlass zu der Annahme, dass sie zu der gegenteiligen Auffassung und damit zu male captus bene detentus tendieren. Die Auffassung, die der Maxime male captus bene detentus zugrunde liegt, wurde – soweit ersichtlich – im deutschen Sprachraum erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert. Insbesondere der österreichische Jurist Heinrich Lammasch vertrat die Ansicht, das Strafgericht dürfe einen Angeklagten grundsätzlich ungeachtet der Umstände, unter denen er vor Gericht gebracht worden sei, und selbst im Fall der Entführung verurteilen75. Er stützte sich zur Begründung nicht zuletzt auf die englische Praxis. Die Lehre Lammaschs fand einige Anhänger76. Am Ende dieses Überblicks über die Behandlung des Entführungsproblems im kontinentalen Ius Commune steht die Feststellung, dass es vom Mittelalter bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei der Auffassung blieb, dass ein auf fremdem Gebiet Entführter nicht abgeurteilt werden darf, sondern freizulassen ist. Es ist daher nicht erstaunlich, dass uns die Maxime male captus bene detentus in den einschlägigen Texten nicht begegnet ist: Die gemeinrechtlichen Autoren folgten in der Sache nicht dieser Maxime, sondern der entgegengesetzten Regel. Sie hatten keinen Anlass, die von ihnen abgelehnte Meinung in eine Spruchregel zu fassen.

II. Verhaftung auf fremdem Gebiet in der angelsächsischen Rechtstradition 1. Dr. John Story (1571) Etwa zu der Zeit als Prospero Farinacci darlegte, nach der communis opinio der kontinentalen Juristen müsse ein auf fremdem Gebiet Entführter unbedingt freigelassen werden, wurde vom englischen Court of QueenÏs Bench ein Opfer einer solchen Entführung zum Tode verurteilt: Dr. John Story, der erste Regius Professor of Civil Law in Oxford, hatte sich während der Herrschaft der katholischen Königin Mary an der Verfolgung von Protestanten beteiligt und war nach der Thronbesteigung durch Königin Elizabeth I. in die spanischen Niederlande geflohen. In Antwerpen wurde er mit der Aufgabe betraut, englische Schiffe im Hafen darauf zu untersuchen, ob sie Schmuggelware an Bord hatten. Bei einer solchen Kontrolle setzte das kontrollierte Schiff plötzlich die Segel und 75 Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht, 1887, S. 812 ff. und ders., Situation l¦gale de lÏextrad¦ vis-—-vis des tribunaux de lϦtat requ¦rant, Revue de Droit International 20 (1888) 1 (21). 76 Vgl. die Nachweise bei Bauer (Fn. 20), S. 145 f.; ähnlich wie Lammasch auch Travers, Des arestations en cas de venue involontaire sur le territoire, Revue de droit international priv¦ et de droit p¦nal international 13 (1917), 627 und ders., Le droit p¦nal international et sa mise en oeuvre en temps de paix et en temps de guerre, Bd. 3, 1921, Nr. 1301 – 1303, 139 – 164.

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brachte Story zurück nach England. Dort wurde ihm wegen Hochverrats der Prozess gemacht. Story berief sich nicht auf die Rechtswidrigkeit seiner Entführung, sondern nur darauf, dass er inzwischen Untertan des Königs von Spanien geworden sei77. Auch dies war ein juristisch stichhaltiger Einwand, denn das Verbrechen des Hochverrats setzt voraus, dass der Täter dem König bzw. der Königin „allegiance“ schuldet, was bei dem Untertanen eines anderen Fürsten nicht der Fall sein kann78. Das Gericht hielt den Einwand Storys jedoch für unzulässig, weil Story unzweifelhaft in England geboren war. Warum Story sich auch nach Zurückweisung seines ersten Einwandes nicht auf die Umstände seiner Verbringung nach England berief, lässt sich vermutlich nicht mehr aufklären79. Vielleicht war er trotz seiner juristischen Kenntnisse ohne die Hilfe eines Verteidigers80 nicht in der Lage, alle denkbaren Verteidigungsmittel vorzubringen. Vielleicht hielt er es auch ohnehin für aussichtslos, sein Leben mit juristischen Argumenten retten zu wollen. So wurde Storys Fall nicht zum ersten Präzedenzfall für die Regel male captus bene detentus, sondern nur für den Satz, dass die einmal erworbene Eigenschaft als British subject nicht durch freie Willensentscheidung abgelegt werden kann81. 2. Susannah Scott Erst 1829 hatten englische Richter Gelegenheit, sich mit der Frage nach den Auswirkungen einer Entführung im Ausland auseinanderzusetzen. Susannah Scott war wegen Meineides (perjury) angeklagt82. Ein Haftbefehl wurde durch den Court of KingÏs Bench ausgestellt. Ein englischer Polizist, der berühmte Detektiv George

77 StorieÏs Case (1571) 3 Dyer 300b, 73 Eng. Rep. 675 QB. Vgl. auch den Bericht bei 1 HowellÏs State Trials 1087 ff. sowie OÏHiggins, Unlawful seizure and irregular extradition, BYIL 36 (1960), 279 (281 f.). 78 Card, in: HalsburyÏs Laws of England, Bd. 25, Criminal Law, 5. Aufl., 2010, para. 357. 79 Dyer vermerkt in seinem Report ausdrücklich, dass das Gericht drohte, ein nihil dicit zu protokollieren, falls Story nichts anderes vorbringe und Story darauf keinen anderen Einwand gegen die Anklage geltend gemacht habe. Der spanische Botschafter protestierte allerdings ausdrücklich gegen die Entführung Storys und verlangte seine Rückführung und die Bestrafung der Täter, vgl. Calendar of State Papers, Foreign Series, Elizabeth 1569 – 1572, 1874, Nr. 1669, S. 431 und Nr. 1740, S. 457. 80 Der Beistand eines Verteidigers wurde im englischen Strafverfahren vor Ende des 17. Jahrhunderts nur ausnahmsweise gestattet, Baker, An introduction to English legal history, 2002, S. 510. 81 Holdsworth, A History of English Law, Bd. 9, 3. Aufl., 1944, ND 1966, S. 84. Vgl. auch den modernen Fall Joyce v. Director of Public Prosecutions 1 [1946] A.C. 347 HL. 82 Hintergrund war wohl der Vorwurf von Falschaussagen im Zusammenhang mit einem von dem seinerzeit bekannten Dandy William Pole Tylney Long Wellesley angestrengten Prozess, vgl. die Dokumente bei Pole Tylney Long Wellesley, Illustrations of Chancery Practice, 1830, 19 und öfter.

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Ruthven83, reiste nach Brüssel, das damals noch zu den Niederlanden gehörte, und brachte Susannah Scott nach England84. Ob es sich um eine illegale Entführung handelte, ist unklar85. Nach Kluit, der seine Dissertation noch in dem Jahr verteidigte, in dem die Entscheidung fiel und sich auf Presseberichte aus Brüssel stützt, machte der Anwalt Susannah Scotts zwar geltend, ihre Festnahme habe die niederländische Souveränität verletzt; in Wahrheit sei Scott jedoch auf Veranlassung Ruthvens von niederländischen Polizisten verhaftet und dann nach England ausgeliefert worden86. Der englische Richter, Charles Abbot, Lord Tenderden, Chief Justice des Court of KingÏs Bench ließ sich jedoch auf eine Erforschung der näheren Umstände nicht ein, sondern stellte sich pauschal auf den Standpunkt, das Gericht habe nicht die Aufgabe, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung zu untersuchen, sofern nur ein ordnungsgemäßer Haftbefehl vorliege. Ungeachtet der Möglichkeit, dass es sich gar nicht um einen wirklichen Entführungsfall handelte, war damit ein Präzedenzfall für die Anwendung der Regel male captus bene detentus in Fällen der Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet geschaffen. Allerdings kommt auch in diesem Urteil die lateinische Wendung nicht vor. Zwei Präzedenzfälle werden für die Entscheidung in Ex parte Susannah Scott vorgebracht87. Im Fall R. v. Marks wurde die Freilassung mehrerer Personen gefordert, weil die ihnen vorgeworfenen Taten im Haftbefehl nur vage beschrieben waren. Auf das Habeas-Corpus-Gesuch der Inhaftierten hin entschied das Gericht, dass die formalen Mängel des Haftbefehls keine Rolle spielten, da der Tatvorwurf im Nachhinein hinreichend präzisiert und die Verdachtsgründe dargelegt worden waren88. Im Fall Ex Parte Krans waren Verdächtige auf See unter Mordverdacht gänzlich ohne Haftbefehl festgenommen worden. Das Gericht stellte fest, dass hinreichende Verdachtsmomente vorlagen, die einen Haftbefehl und die weitere Untersuchung der Sache rechtfertigten und verweigerte daher die Freilassung89. Die Entscheidungen, auf welche Ex parte Scott sich stützen kann, betreffen demnach Fälle, in denen die Verhaftung aus anderen Gründen als wegen der Verletzung 83

Zur Person Ruthvens vgl. Arnold/Schmidt, Reclams Kriminalromanführer, 1978, S. 18. So die Schilderung des Sachverhalts in der üblicherweise zitierten Fassung aus Barnewall and CresswellÏs KingÏs Bench Reports (B. & C.): Ex parte Susannah Scott (1829) 9 B. & C. 446, 109 E.R. 166 KB. 85 So auch OÐHiggins (Fn. 77), 279 (282). 86 Kluit, De deditione profugorum, 1829, S. 108 mit Fn. 1 und 2. Nach der Sachverhaltsschilderung in den Law Journal Reports (R. v. Susannah Scott (1829) 8 LJ (OS) MC 6 KB) befand sich Scott schon in Haft, weil sie unter falschem Namen und ohne Pass in die Niederlande eingereist war, und wurde dem britischen Beamten auf dessen Ansuchen hin übergeben. 87 Die Fälle werden nicht vom Richter, sondern von den Anklagevertretern angeführt; gleichwohl dürften sie auch für die Meinungsbildung des Richters von Bedeutung gewesen sein. 88 R. v. Marks (1802) 3 East 157, 102 E.R. 557 KB. 89 Ex parte Krans (1823) 1 B. & C. 258, 107 E.R. 96 KB. 84

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fremder Hoheitsrechte (möglicherweise) rechtswidrig war. Es ging also um Situationen, die mit denen vergleichbar sind, in denen schon Bartolus eine Aufrechterhaltung der Haft prinzipiell für möglich gehalten hatte90. Anders als Bartolus hielt Lord Tenderden es nicht für erforderlich, Fälle der Verletzung fremder Hoheitsrechte prinzipiell anders zu behandeln. In der Folgezeit wurde die in Ex parte Scott gefundene Linie in einer Vielzahl von englischen Entscheidungen bestätigt91. Die Wendung male captus bene detentus kommt in den einschlägigen Entscheidungen jedoch nicht vor. Im Jahr 1993 distanzierte sich das House of Lords dann in erheblichem Umfang von der bisherigen Praxis92. 3. Frederick M. Ker, Shirley Collins und Humberto ßlvarez-Macha†n In den USA steht die Entscheidung über das Habeas-Corpus-Gesuch eines gewissen Frederick M. Ker aus dem Jahr 1886 am Anfang der Entwicklung. Ker wurde in den USA wegen Eigentumsdelikten gesucht. Nachdem die Behörden festgestellt hatten, dass Ker sich in Peru aufhielt, wurde ein Beamter nach Peru entsandt, der dort um die Auslieferung Kers nachsuchen sollte. Stattdessen entführte er Ker gewaltsam und ohne Einschaltung peruanischer Behörden auf ein US-amerikanisches Schiff, das ihn in die USA brachte. Der US Supreme Court entschied unter ausdrücklicher Berufung auf das englische Präjudiz Ex parte Scott, dass die gewaltsame Entführung kein Hindernis für die Aburteilung Kers in den USA darstelle93. Diese Linie wurde 1952 im Fall von Shirley Collins bestätigt. Dabei handelte es sich allerdings um einen Fall ohne internationale Implikationen: Collins machte nur geltend, aus dem Bundesstaat Illinois nach Michigan verschleppt worden zu sein94. Dass die Regel, nach der eine Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet die Verurteilung eines Straftäters nicht hindert, weiterhin auch im internationalen Kontext gilt, bestätigte der Supreme Court der USA in einer Aufsehen erregenden Entscheidung aus dem Jahr 199295 : Dem mexikanischen Arzt Humberto ßlvarez-Macha†n wurde die Beteiligung an der Folterung und Ermordung eines Agenten im Dienst der USamerikanischen Drug Enforcement Agency (DEA) vorgeworfen. Er wurde unter Mitwirkung von Beamten der DEA gewaltsam aus Mexiko entführt und in Los An90

Vgl. o. bei Fn. 39. Vgl. nur R. v. O/C Depot Batallion, RASC Colchester (Ex parte Elliott) (1949) 1 All E.R. 373 KB; Reg. v. Plymouth Justices, Ex parte Driver [1986] Q.B. 95. 92 Reg. v. Horseferry Road MagistratesÏ Court, Ex parte Bennett [1994] 1 A.C. 42. Dazu eingehend Paulussen (Fn. 2), S. 241 – 251. 93 Ker v. Illinois, 119 U.S. 436 auf 444 (1886). 94 Frisbie v. Collins, 342 U.S. 519 (1952). 95 US v. Alvarez-Machain, 504 U.S. 655 (1992); vgl. dazu Wilske, Schiller, Jurisdiction over persons abducted in violation of international law in the aftermath of United States v. Alvarez-Machain, University of Chicago Roundtable 5 (1998), 205 – 242. 91

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geles vor Gericht gestellt. Trotz des Protestes der mexikanischen Regierung entschied der Supreme Court, dass ßlvarez-Macha†n sich nicht wegen seiner Entführung gegen das Verfahren in den USA wenden könne. In den USA ist demnach das Prinzip male captus bene detentus ohne Einschränkung geltendes Recht. In den einschlägigen Entscheidungen wird die Maxime jedoch gleichfalls nicht erwähnt.

III. Die Herkunft der Maxime Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Regel male captus bene detentus auf dem europäischen Kontinent zumindest bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Fällen der Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet nicht galt. Die Äußerungen der kontinentalen Juristen zu dieser Problematik scheiden deshalb als Quelle der Maxime aus. In der angelsächsischen Rechtstradition wurde bzw. wird zwar seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Entführungsfällen gemäß dem Grundsatz male captus bene detentus verfahren. Die lateinische Wendung findet sich jedoch in den einschlägigen Entscheidungen nicht. Die Frage nach ihrem Ursprung ist damit immer noch offen. Zur Beantwortung der Frage müssen wir noch einmal auf die mittelalterlichen Juristen blicken. Wie gesehen hatte Bartolus in seiner quaestio disputata über die Folgen einer rechtswidrigen Verhaftung nur für den Fall einer Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet kategorisch statuiert, dass der Verhaftete freizulassen sei. Bei anderen Mängeln der Verhaftung hielt er es hingegen unter gewissen Voraussetzungen für zulässig, den Betroffenen weiter in Haft zu halten. In demselben Sinn entschied Paulus de Castro (ca. 1360 – 1441)96, ein Enkelschüler des Bartolus in einem Gutachten: Es ging um den persönlichen Arrest eines Schuldners, nicht um ein Strafverfahren. Am Ende seines langen Gutachtens stellte Paulus fest, dass der Arrest aufrechterhalten werden könne, auch wenn die ursprüngliche Anordnung rechtswidrig gewesen sein sollte, weil es an einer ordnungsgemäßen Ladung fehlte, sofern nur fest stehe, dass die Schuld, wegen derer der Arrest begehrt werde, existiere97. Diese Auffassung fand Anklang. Schon Ippolito Marsigli (Hippolytus Marsilius, 1451 – 1528) nennt eine Vielzahl von Autoren, die ihr folgen. Marsigli selbst bezog sie nicht nur auf den zivilen persönlichen Arrest, sondern auch auf die Untersuchungshaft im Strafverfahren98. 96

Lange/Kriechbaum (Fn. 15), S. 815 – 826. Paulus de Castro, Consilium 465 a.E., in: Paulus de Castro, Consiliorum Prima et Secunda Pars, Venetiis 1490, f. 270va. 98 Hippolytus Marsilius, Tractatus Bannitorum, Bononiae 1574, In Verbo Capti, Nr. 4 f., Nr. 7, S. 95, 97; vgl. auch Paris de Puteo (Fn. 58), De capturis, § An si potestas, S. 230. 97

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Spätestens bei Prospero Farinacci klingt in diesem Zusammenhang die Maxime male captus bene detentus an: … iudices apud nos in occurenti casu habent in ore illud axioma, male captus, bene detinetur.99 Die Richter führen bei uns im gegebenen Fall den Grundsatz „Schlecht verhaftet wird recht verwahrt“ im Munde.

Bei Farinacci erscheint also die Regel schon nahezu in der heutigen Form. Farinacci nimmt allerdings selbst nicht für sich Anspruch, die Regel formuliert zu haben, sondern erklärt, sie werde von Rechtspraktikern als geflügeltes Wort verwendet. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass sie auch schon bei einem früheren Autor zu finden ist. Wichtiger als die Ermittlung der ersten Quelle, in der sich die Aussage findet, ist jedoch die Feststellung, dass die Regel bei Farinacci nicht auf den Fall der Entführung aus dem Ausland zu beziehen ist. Diesen Fall behandelt er in seinem Werk an ganz anderer Stelle und entscheidet – wie schon erörtert – entgegen der Regel male captus bene detentus. Diese Formulierung wurde indes im 17. und 18. Jahrhundert offenbar populär. Sie lässt sich – nun auch in der heute gebräuchlichen Form – bei zahlreichen Autoren, vor allem aus Italien und von der iberischen Halbinsel nachweisen, wird aber – soweit ersichtlich – nie im Zusammenhang mit der rechtswidrigen Entführung aus fremdem Hoheitsgebiet verwendet100. Auch im 19.101 und 20. Jahrhundert102 taucht die Wendung vor allem in der italienischen Literatur mit Bezug zu rechtlichen Mängeln einer Verhaftungsanordnung 99

Prosper Farinacius (Fn. 56), De Carceribus et Carceratis, Quaest. 27, Nr. 153, S. 412. Vgl. Ianninus Peregrinus, De citatione reali, Francofurti 1600, Lib. 1, Cap. 2, Nr. 24, S. 289; Sigismundus Scaccia, Tractatus de sententia et re iudicata, Lugduni 1628, Gl. 14, Quaest. 8, Nr. 30, S. 433; Sebastianus Guazzinus, Tractatus ad Defensam Inquisitorum, Carceratorum, Reorum et Condemnatorum, Venetiis 1634, Defensio 5, Cap. 2, Nr. 8, S. 207; Michael de Cortiada, Decisiones Senatus Cathaloniae, Pars Secunda, Lugduni 1677, Decisio 73, Nr. 10, S. 77 (dazu Astaing, Droits et garanties de lÏaccuse dans le proces criminel dÏAncien Regime, 1999, S. 180); Hieronymus Palma, Decisionum Rotae Lucanae Liber Quartus, Venetiis 1718, Decisio 347, Nr. 44, S. 117; Michael de Caldero, Sacri Regii Criminalis Concilii Cathaloniae Decisiones, Pars 1, Venetiis 1724, Decisio 13, Nr. 7, S. 82; Matthaeus Antonius Bassanus, Theorico-Praxis Criminalis, Ferrariae 1755; Lib. 3, Cap. 1, Bassani Epitome, Nr. 62 – 66, S. 200; Petrus de Hontalba Arce, Tractatus Apicilegius, Lisbonae 1760, Quaest. 18, Nr. 12, S. 255. 101 Pessina, La libert— individuale e il nuovo codice di procedura penale del regno dÏItalia, Rendiconto delle tornate e dei lavori dellÏAccademia di scienze morali e politiche 5 (1866), 29 (33); Castori, Il diritto di estradizione, 1886, S. 100 (trotz des Titels kein Bezug zu den Entführungsfällen: es geht um die [Nicht-]Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme in dem Staat, der um Auslieferung ersucht wird). 102 Vor allem im Zusammenhang mit dem früheren Art. 275 des Codice di procedura civile, vgl. nur Grevi, Art. Libert— personale dellÏimputato, in: Enciclopedia del Diritto, Bd. 24, 1974, S. 315 (390); nochmals in einem ganz anderen Zusammenhang gebraucht die 100

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noch häufig auf. Es ist aber nicht erkennbar, dass vor den beiden oben erwähnten Aufsätzen im Zusammenhang mit dem Eichmann-Fall ein Zusammenhang mit den Entführungsfällen hergestellt wird. Möglicherweise haben die beiden Autoren dieser Aufsätze, Michael Cardozo und Hans Baade als erste die Wendung in diesem Kontext gebraucht.

IV. Ergebnisse Am Ende dieses mehrfachen Durchgangs durch die Rechtsgeschichte lassen sich einige Resultate festhalten: Die Formel male captus bene detentus wurde von den Juristen des kontinentalen Ius Commune geprägt. Sie geht mindestens auf Prospero Farinacci zurück, ist aber womöglich noch älter. Im Ius Commune wurde die Regel aber niemals im Zusammenhang mit der Entführung eines Verdächtigen aus fremdem Hoheitsgebiet verwendet. Auf diese Fälle ist sie vielleicht erstmals in der amerikanischen Literatur zum Eichmann-Prozess bezogen worden. Mit der Entscheidung Ex parte Scott, die am Anfang der in den USA bis heute geübten Praxis steht, wurde für Entführungsfälle ein Rechtsgrundsatz übernommen, der zuvor für andere Unregelmäßigkeiten bei der Verhaftung entwickelt worden war. Insofern hat es eine gewisse historische Folgerichtigkeit, wenn Autoren aus dem angelsächsischen Bereich die Regel male captus bene detentus, die historisch mit den Entführungsfällen nichts zu tun hat, auf diese Fälle übertragen. Für das europäische Ius Commune bleibt indes festzuhalten, dass die Entführung eines Gesuchten aus fremdem Hoheitsgebiet seit dem späten Mittelalter einhellig abgelehnt wurde. Erst Ende des 19. Jahrhunderts kam die seit einem halben Jahrtausend bestehende communis opinio – nicht zuletzt aufgrund der abweichenden Praxis der angelsächsischen Länder – ins Wanken. In der Tradition des Ius Commune galt: Captus in territorio alieno ante omnia relaxari debet – „Wer auf fremdem Gebiet ergriffen wurde, muss zuvörderst freigelassen werden“.

Wendung Fadalti, Male captus, bene retentus: un principio inciso nella pietra?, in: Archivio della nuova proceedura penale 2001, 87.

II. Europäisches Verfassungsund Verwaltungsrecht

Europäisches Sekundärrecht in den Privatrechten der Mitgliedstaaten Von Peter Bülow Die Grundlagen und Funktionsprinzipien des europäischen Rechts prägen die Forschungsarbeit Meinhard Schröders; exemplarisch sei die tiefgründige und gedankenreiche Abschiedsvorlesung über die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten nach dem Vertrag von Lissabon genannt. Der Privatrechtler hat sein Bemühen eher dem Sekundärrecht, vor allem in Gestalt von Richtlinien, zu widmen; von der Kärrnerarbeit der Normanwendung erzählen die nachfolgenden Überlegungen. Sie beginnen mit einem Wettbewerber auf dem deutschen Arzneimittelmarkt, der sich fragt, ob er für sein Produkt, das Arzneimittel, mit fremdsprachlichen Bezeichnungen werben darf. Er wird auf das Verbot von § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 des Heilmittelwerbegesetzes stoßen. Obwohl die Vorschrift hinreichend klar formuliert ist, mag er doch berechtigte Zweifel haben, ob er an das Verbot gebunden ist, weil er seine Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 GG, vielleicht auch seine Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG, beeinträchtigt sieht und die Norm so, wie sie da im Gesetz steht, nicht anwendbar sein könnte, sondern möglicherweise einschränkend verfassungskonform. In diesem Rahmen könnte er sich Hoffnung machen, die gewünschte Werbung mit fremdsprachlichen Bezeichnungen doch ins Werk setzen zu können. Aber dass ein Gesetzeswortlaut nicht die richtige Handlungsmaxime nennt, kann seinen Grund auch in anderen vorrangigen Normgefügen haben, nämlich im europäischen Sekundärrecht, das sich für das Privatrecht vor allem in Richtlinien nach Art. 288 AEUV äußert. Richtlinien sind bekanntlich nicht wie Verordnungen unmittelbar in jedem Mitgliedstaat verbindlich, sondern in das Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen, z. B. im deutschen Recht durch das eben genannte Gesetz. Wiederum kann sich unser Wettbewerber Hoffnung machen, so wie er es sich wünscht, Werbung zu treiben, wenn das deutsche Gesetz nicht wie formuliert anzuwenden sein sollte, weil es möglicherweise die europäische Richtlinie, die es umsetzen soll, nicht richtig umsetzt. Auf der anderen Seite könnte eine Norm im Recht des Mitgliedsstaats, z. B. Deutschland, die eine strikt formulierte Vorschrift aus der Richtlinie richtig umsetzt, die verfassungsrechtlich gestützte Wohltat wieder in Frage stellen, wenn europäisches Sekundärrecht auch vor nationalem Verfassungsrecht Vorrang beanspruchen könnte. Was also gilt, das formulierte Gesetz oder etwas darüber Stehendes, das der Rechtsanwender herauszufinden hat?

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I. Bindung an die europäische Richtlinie Wenn eine Vorschrift im nationalen Recht die Umsetzung einer Richtlinienbestimmung darstellt und die Richtlinie (deren Einhaltung primärrechtlicher Voraussetzungen – Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 EUV, unionsrechtliche Grundrechte und Grundsätze – unterstellt) den Tatbestand abschließend regelt, sind die innerstaatlichen Stellen des Mitgliedstaats, also auch und gerade innerstaatliche Gerichte, gehindert, die Vorschrift des nationalen Rechts anzuwenden, wenn sie denn weiter geht als die abschließende Richtlinienbestimmung, so erkennt es der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Vorlagebeschluss (jetzt: Art. 267 AEUV) vom 21. Juli 20051. Gemeint ist, dass die nationale Vorschrift so, wie sie formuliert ist, nicht anzuwenden sei, wenn möglich, sei die nationale Vorschrift unionsrechtskonform einschränkend auszulegen und mit dieser Maßgabe anzuwenden, wie der Senat später, in Folge der Entscheidung des EuGH2, präzisiert3. Die Rechtslage wird also nicht richtig erfasst mit der Aussage, eine nationale Norm dürfe nach einer entsprechenden Entscheidung des EuGH nicht mehr angewandt werden4 ; die nationale Norm bleibt vielmehr geltendes Recht, aber in richtlinienkonformer Auslegung, und diese Auslegung war von Anfang an und nicht erst durch die Entscheidung des EuGH anzulegen, der geltendes Recht nicht schafft, sondern es seinerseits nur auslegt. Wo die nationale Norm, weil eindeutig (hierzu unten IV.), nicht auslegungsfähig sein sollte, sind die Regeln über die Staatshaftung nach nationalem und europäischem Recht5 eröffnet, aber im Allgemeinen keine unmittelbare horizontale Wirkung, also unter Privatrechtssubjekten6. Meistens wird sich ein Weg zur richtlinienkonformen Auslegung finden (und die Problematik einer richterlichen Rechtsfortbildung vermeidbar sein, hierzu nachfolgend IV.1.), sodass der Rechtsanwender das Recht nicht durch die Lektüre des so formulierten Gesetzes findet. 1 BGH, GRUR 2005, 1067 (Konsumentenbefragung I, Eingangssatz zu II.3.); EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adelener). 2 EuGH, Rs. C-374/05, Slg. 2007, I-9517 (Gintec). 3 BGH, GRUR 2008, 807 – Millionen-Chance I, Rn. 9; MDR 2011, 555 – MillionenChance II, Tz. 25, mit Anm. Gaugenrieder, EWiR 2011, 325 (Vollzugsurteil zu EuGH, Rs. C-304/08, Slg. 2010, I-217 (plus)). 4 So nämlich Scherer, Erdrutsch im deutschen Lauterkeitsrecht, NJW 2010, 1849 (1850 zu IV: Folgen für das UWG.); ähnlich Gaugenrieder (Fn. 3), 325 (326 zu 3.) betreffend BGH, MDR 2011, 555 – Millionen-Chance II: „ab sofort“. 5 Hierzu EuGH, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177 (Traghetti del Mediteraneo), sowie EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-5357; Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996, I-4845. 6 Str., skeptisch Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, NJW 1993, 13; verletzt die Vorschrift des Mitgliedstaats einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, ist sie nicht anwendbar (negative unmittelbare Wirkung unter Privaten, Kreße, Die negative unmittelbare Wirkung von Richtlinien zwischen Privaten, ZGS 2007, 215), EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 77 (Mangold); hierzu Koch/Ilgner, Mangold, Lissabon, Honeywell – Von der Rechtsfortbildung des EuGH zur Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG, JuS 2011, 540; EuGH, Rs. C-555/07, Slg. 2010, I-365, Rn. 50 (Kücükdevetci); BVerfGE 126, 286 (301 f.) – Mangold; BAG, NJW 2011, 1626, Rn. 20, 21 (Verbot durch RiL 2000/78/EG vom 27. 11. 2000, Nichtanwendung von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB).

Europäisches Sekundärrecht in den Privatrechten der Mitgliedstaaten

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1. Ausmaß und Voraussetzungen der Bindung Die Rechtsfindung beginnt mit der Frage, ob es überhaupt eine europäische Richtlinie gibt, die sich des in der nationalen Norm erfassten Tatbestands annimmt. So einfach diese Ausgangsfrage zu beantworten zu sein scheint, so Schwierigkeiten beladen kann sie sich für manchen Rechtsanwender stellen. Die erste Schwierigkeit kann im Erkennen des harmonisierten Bereichs der Richtlinie liegen. Die nächste kann dadurch auftreten, dass im nationalen Recht Tatbestände richtliniengemäß ausgestaltet wurden, obwohl sie außerhalb des harmonisierten Bereichs liegen und sich bei Auslegungsbedürftigkeit die Frage stellt, ob richtlinienkonform oder frei davon auszulegen ist. Schwierigkeiten können auch in der Festlegung ihres zeitlichen Anwendungsbereichs angesiedelt sein. a) Harmonisierter Bereich einer Richtlinie Eine Richtlinie hat einen Regelungsbereich, mit dem sie sich befasst. Nur für diesen Bereich ist die Rechtsharmonisierung durch Umsetzungsmaßnahmen in den nationalen Rechten der Mitgliedstaaten zu verwirklichen. Natürlich kann eine Richtlinie nicht das gesamte Privatrecht erfassen, was die Errichtung eines europäischen Zivilgesetzbuches bedeuten würde. Deshalb ist der Regelungsbereich der Richtlinie notwendigerweise begrenzt auf ihren harmonisierten Bereich. Was jenseits des harmonisierten Bereichs liegt, begründet keine Verbindlichkeit durch die Richtlinie für die Mitgliedstaaten. Deshalb ist Ausgangspunkt für die Antwort auf die Frage, ob ein nationales Gesetz richtlinienkonform auszulegen sein könnte, die Erforschung des harmonisierten Bereichs. aa) Umsetzungsstandards: Mindestharmonisierung – Vollharmonisierung Dieser Ausgangspunkt muss genommen werden für Richtlinien mit Mindeststandardkonzept wie solchen, die Vollharmonisierung anstreben, und er ist auch einzunehmen, um herauszufinden, ob die Richtlinie das eine oder das andere Konzept verfolgt. In diesem letzten Punkt macht es die Richtlinie dem Rechtsfinder leicht, wenn sie die Frage ausdrücklich beantwortet, wie etwa Art. 86 Abs. 1 der Zahlungsdiensterichtlinie7 oder Art. 22 Abs. 1 der neuen Verbraucherkreditrichtlinie8 für die Vollharmonisierung oder Art. 8 der Haustürgeschäfterichtlinie9 oder Art. 15 der alten

7 Richtlinie 2007/64/EG vom 13. 11. 2007, ABl.EU 2007 Nr. L 319/1 = Artz/Staudinger, Textbuch Europäisches Verfahrens- Kollisions- und Privatrecht, 2010, C 16 (S. 616). 8 Richtlinie 2008/48/EG vom 23. 04. 2008, ABl.EU 2008 Nr. L 133/66 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 17 (S. 685). 9 Richtlinie 85/577/EWG vom 20. 12. 1985, ABl.EG 1985 Nr. L 372/31 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 3 (S. 401).

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Verbraucherkreditrichtlinie10 für den Mindeststandard. Eher im Verborgenen mag die Vollharmonisierung aus dem Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel11, der sich auch mit eingangs angedeuteten Fragen der Werbung für Humanarzneimittel befasst, herauszulesen sein12 ; die fehlende Eindeutigkeit weckt freilich Zweifel an der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips13. (1) Mindeststandard und Option Handelt es sich um eine Richtlinie mit Mindeststandard, sind die nationalen Gesetzgeber an die Einhaltung dieses Mindeststandards gebunden. Das nationale Gesetz ist nur richtlinienkonform, wenn es diesen Mindeststandard wahrt. Deshalb muss festgestellt werden, welche Sachverhalte vom Mindeststandard erfasst sind, wie weit also der harmonisierte Mindestbereich geht. Ist der gewahrt, können den Mitgliedstaaten über den Mindeststandard hinaus weitergehende Optionen offen stehen, z. B. nach Art. 8 der Haustürgeschäfterichtlinie für noch günstigere Verbraucherschutzbestimmungen, als sie die Richtlinie aufstellt. Solche Optionen bauen auf den Tatbeständen des harmonisierten Mindeststandards auf. Denkt sich ein Mitgliedstaat ein Konzept von Verbraucherschutzbestimmungen aus, die er als günstiger als das Richtlinienkonzept ansieht, die aber vielleicht andere Instrumente als das Rücktritts- respektive Widerrufsrecht nach Art. 5 der Haustürgeschäfterichtlinie enthalten, scheitert die Richtlinienkonformität der Option, weil die Option die Einhaltung des Mindeststandards voraussetzt. Davon zu unterscheiden sind Tatbestände, die jenseits des harmonisierten Bereichs liegen. Die Haustürgeschäfterichtlinie wiederum als Beispiel legt ihren harmonisierten Bereich ausdrücklich fest, indem sie durch ihren Art. 2 Abs. 2 bestimmt, wofür sie nicht gilt, z. B. für bestimmte immobilienbezogene Verträge. Für solche Verträge gibt es keine Bindung. Das heißt auch, dass die Mitgliedstaaten derartige Verträge, vielleicht nur teilweise, den Richtlinienbestimmungen trotz fehlender Bindung unterwerfen dürfen, z. B. ein Widerrufsrecht vorsehen. Sie können sich aber auch andersgeartete verbraucherprivatrechtliche Instrumente ausdenken und sind daran nicht gehindert, weil das nationale Gesetz keine Optionsausübung, hier nach Art. 8 Haustürgeschäfterichtlinie, darstellt, sondern jenseits dieser Richtlinie steht. Die Frage der Richtlinienkonformität stellt sich nicht. (2) Maximalstandard und überschießende Umsetzung Wenn und sobald eine Richtlinie das Vollharmonisierungskonzept verfolgt, liegt der praktische Unterschied für die nationalen Gesetzgeber darin, dass ihnen die Richtlinie keine Optionen einräumt. Hiervon war der vorgenannte Beschluss des 10

Richtlinie 87/102/EG vom 22. 12. 1986, ABl.EG 1986 Nr. L 61/14. Richtlinie 2001/83/EG vom 06. 11. 2001, ABl.EG 2001 Nr. L 311/67 mit Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31. 03. 2004, ABl.EU 2004 Nr. L 136/34. 12 So EuGH, Rs. C-374/05, Slg. 2007, I-9517, Rn. 20 – 39 (Gintec). 13 Ellenberger, Neue Rechtsprechung zur zivilrechtlichen Haftung beim Vertrieb von Kapitalanlagen, in: Schriftenreihe der bankrechtlichen Vereinigung 31 (2011), S. 37 (44). 11

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BGH vom 21. Juli 2005 ausgegangen, nämlich in Bezug auf den Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel. Danach hatte der nationale Gesetzgeber Bundesrepublik Deutschland nicht die Option, weitergehende Werbeverbote, als sie der Gemeinschaftskodex enthält, aufrechtzuerhalten oder zu erlassen. Ob aber eine überschießende, die Vollharmonisierung beschädigende Regelung eines Mitgliedstaats festzustellen ist, misst sich abermals am harmonisierten Bereich der Richtlinie. Was außerhalb dessen angesiedelt ist, geht an der Richtlinie und ihrer Vollharmonisierung vorbei, ist also weder richtlinienkonform noch richtlinienwidrig, sondern, wenn man so will, richtlinienneutral und deshalb wiederum unionsrechtskonform. bb) Option oder Norm extra muros am Beispiel des Verbraucherbegriffs Die Unterscheidung von Optionsausübung und legislatorischem Handeln außerhalb des harmonisierten Bereichs macht die Handhabung des persönlichen Anwendungsbereichs verbraucherprivatrechtlicher Regelungen beherrschbar. Im deutschen Recht ist der Begriff des Verbrauchers in § 13 BGB bestimmt, der für alle privatrechtlichen Bereiche des BGB und anderswo, z. B. in § 4 Abs. 1 Fernunterrichtsschutzgesetz oder § 2 Abs. 1 UWG, gilt. Die Vorschrift ist den Formulierungen in zahlreichen europäischen Richtlinien nachgebildet, von Art. 2 der Haustürgeschäfterichtlinie bis Art. 2 Abs. 1 lit. f der sogenannten Time-Sharing-Richtlinie 2008/112/EG14. Während die europäischen Richtlinien den Begriff strikt an das private Handeln der natürlichen Person knüpfen und jeglichen beruflichen Bezug ausschließen, enthält § 13 BGB demgegenüber eine Erweiterung. Wie aus der negativen Formulierung von § 13 BGB folgt, ist Verbraucher nämlich auch, wer zu abhängig-beruflichem Zweck ein Rechtsgeschäft abschließt, also arbeitnehmerbezogen handelt. Wer in dieser Erweiterung eine Optionsausübung bei Richtlinien mit Mindeststandards sieht15, etwa nach Art. 8 Haustürgeschäfterichtlinie oder Art. 15 der alten Verbraucherkreditrichtlinie 87/102/EWG, gerät in überbordende Schwierigkeiten16 bei der Anwendung auf nationales Recht, das vollharmonisierende Richtlinien umsetzt, z. B. die neue Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG oder die Fernabsatz-Finanzdienstleistungsrichtlinie 2002/65/EG17 gemäß ihrem 13. Erwägungsgrund. Diese Schwierigkeiten entstehen jedoch in Wahrheit nicht, weil die Erweiterung des Verbraucherbe14 Richtlinie 2008/112/EG vom 14. 11. 2009, ABl.EU 2008 Nr. L 33/10 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 19 (S. 720). 15 So Ellenberger, in: Palandt, BGB, 71. Aufl., 2012, § 13, Rn. 3; Anwaltskommentar/ Ring, 2. Aufl., 2012, §§ 13/14 BGB Rn. 22; Hoffmann, Der Verbraucherbegriff des BGB nach Umsetzung der Finanz-Fernabsatzrichtlinie, WM 2006, 560 (562); Mohr, Der Begriff des Verbrauchers und seine Auswirkungen auf das neugeschaffene Kaufrecht und das Arbeitsrecht, AcP 204 (2004), 660 (672); wohl auch BGH, NJW 2011, 1237 = GRUR 2011, 941, Tz. 29 betreffend § 16 Abs. 2 UWG. 16 Aufgedeckt durch Hoffmann (Fn. 15), 560 (564 ff.), aber eben mit falschem Ausgangspunkt. 17 Richtlinie 2002/65/EG vom 23. 09. 2002, ABl.EG 2002 Nr. L 271/16 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 11 (S. 490).

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griffs in § 13 BGB keine Optionsausübung darstellt, sondern sich außerhalb des harmonisierten Bereichs der europäischen Richtlinien, seien sie mindest- oder vollharmonisierend, befinden. Die Richtlinien stellen nämlich Regelungen zugunsten natürlicher Personen auf, die zu rein privaten Zwecken handeln. Alle Umsetzungen im deutschen Recht beziehen sich auf solche natürlichen Personen. Über natürliche Personen, die arbeitnehmerbezogen handeln, regelt die Richtlinie nichts, auch nicht etwa in dem Sinne, dass solche Personen von der Anwendung der Richtlinien ausgeschlossen sein könnten. Die natürliche Person als Arbeitnehmer befindet sich also außerhalb des harmonisierten Bereichs der Richtlinien. Den gesetzgebenden Mitgliedstaaten steht es frei, die Richtlinienbestimmungen auch auf solche Personen zu erstrecken, wie es ihnen auch frei stünde, Kleingewerbetreibende einzubeziehen (wie dies für das britische Recht berichtet wird18) oder Existenzgründer (im deutschen Recht für Verbraucherkreditgeschäfte, § 512 BGB, und Vermittlungsgeschäfte, § 655e Abs. 2 BGB) oder juristische Personen, die ideelle Zwecke verfolgen. Deshalb ist aus unionsrechtlicher Sicht auch nichts dagegen zu erinnern, die nicht gewerbliche Gesellschaft bürgerlichen Rechts in den persönlichen Anwendungsbereich verbraucherkreditrechtlicher Vorschriften einzubeziehen19. Es stellt sich dann eine andere Frage, nämlich ob die danach richtlinienneutralen nationalen Vorschriften dennoch richtlinienkonform auszulegen sein sollen20 oder eine gespaltene Auslegung – unionsrechtlich unproblematisch – angezeigt ist21; die Frage beantwortet sich nach dem gesetzgeberischen Willen des Mitgliedstaats. b) Zeitlicher Anwendungsbereich Europäisches Sekundärrecht kann die Anwendung einer Norm im Recht des Mitgliedstaats, die eine Richtlinie getreu umsetzt, dennoch in Frage stellen, weil das nationale Recht einen Zeitfaktor nicht beachtet. Im Allgemeinen kann ein Mitgliedstaat die Umsetzung einer Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist vollziehen. Das Funktionieren des Binnenmarkts kann es aber geboten erscheinen lassen, einen einheitlichen Beginn der neuen Regeln bei allen Mitgliedstaaten zu bestimmen. So heißt es in Art. 27 Abs. 1 Satz 2 der neuen Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG: Sie, die Mitgliedstaaten, wenden die neuen Vorschriften ab dem 1. Juni 2010 an. Zugleich bestimmt Art. 29, dass die alte Verbraucherkreditrichtlinie 18

Consumer-Credit-Act: Ritz, Harmonisierungsprobleme bei der Umsetzung der EGRichtlinie 87/102/EWG über den Verbraucherkredit, 1996, S. 26. 19 BGH, NJW 2002, 368 (369 zu II.1.b)dd)); Artz, Der Verbraucher als Kreditnehmer, 2001, S. 137; Riehm, Die überschießende Umsetzung vollharmonisierender EG-Richtlinien im Privatrecht, JZ 2006, 1035; abl. unter Verkennung des harmonisierten Bereichs Fehrenbacher/Herr, Die BGB-Gesellschaft – eine natürliche Person im Sinne des Verbraucherschutzrechts?, BB 2002, 1006. 20 So für Haustürgeschäfte BGH, NJW 2002, 1881 – Heininger. 21 Habersack, Haustürgeschäfterichtlinie und Realkreditverträge, WM 2000, 981 (991); Habersack/Mayer, Der Widerruf von Haustürgeschäften nach der Heininger-Entscheidung des EuGH, WM 2002, 253 (257).

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87/102/EWG mit Wirkung vom 10. Juni 2010 aufgehoben wird. Die gleichzeitige Geltung der untereinander inkompatiblen alten und neuen Richtlinie wird so vermieden. Im Regierungsentwurf zum deutschen Umsetzungsgesetz22 war dagegen (im Hinblick auf die gleichfalls umzusetzende Zahlungsdienste-Richtlinie 2007/64/ EG) der 31. Oktober 1009 vorgesehen gewesen, was zu einer überschießenden Regelung in zeitlicher Hinsicht geführt hätte. Die richtlinienkonforme Auslegung hätte so aussehen müssen, dass die neuen nationalen Vorschriften nicht auf Verträge anwendbar gewesen wären, die vor dem 11. Juni 2010 abgeschlossen wurden – dem EuGH liegt diese Frage zur Vorabentscheidung vor23. 2. Harmonisierung und nationales Verfassungsrecht Setzt das Recht eines Mitgliedstaats eine Richtlinie konform um, kann Zweifel auftreten, ob die umgesetzte Vorschrift zugleich verfassungskonform ist oder vielmehr, am Beispiel deutschen Verfassungsrechts, Berufsausübungsfreiheit oder Meinungsfreiheit verletzt sein könnten wie im eingangs genannten Beispiel des Werbeverbots für Humanarzneimittel mit fremd- oder fachsprachlichen Bezeichnungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 6 HWG. a) Rangverhältnis europäisches Sekundärrecht – nationales Verfassungsrecht Diese Frage kann sich bei Richtlinien mit Mindestharmonisierungsstandard stellen, wenn bereits dieser verfassungsrechtliche Zweifel auslöst, wobei allerdings meist die verfassungskonforme Auslegung als Optionsausübung den Zweifel zu beseitigen in der Lage sein wird. Im Falle vollharmonisierender Richtlinien – wie dem Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel 2001/83/EG, der dem HWG zugrunde liegt (siehe oben I.1.a)aa)) – ist die Einschränkung oder Erweiterung einer Richtlinienbestimmung durch verfassungskonforme Auslegung nur dann unionsrechtlich erlaubt, wenn das nationale, hier deutsche Verfassungsrecht Vorrang vor vollharmonisierendem europäischen Sekundärrecht hat. So hat das Bundesverfassungsgericht bei heilmittelwerberechtlichen abstrakten Gefährdungsdelikten zur Wahrung von Berufsausübungsfreiheit werbender Ärzte das Tatbestandsmerkmal der zumindest mittelbaren Gesundheitsgefährdung bei den Adressaten entwickelt, die zu einer teilweisen Konkretisierung dieser Gefährdungsdelikte führen. Beispielsweise ist nach § 10 Abs. 1 HWG die Öffentlichkeitswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel verboten. Zur Selbstdarstellung eines Schönheitschirurgen kann es aber geboten sein, ein solches Arzneimittel („Botox“) zu nennen24. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 10 HWG sind Anleitungen zur Selbstmedikation schlechthin verboten; in verfassungs22 23 24

BT-Drucks. 16/11643 (21. 01. 2009), Art. 11. Rs. C-47/11 (Volksbank Romania), auf Vorlage des rumänischen Gerichts in Temesvar. BVerfG, GRUR 2004, 797.

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konformer Auslegung könnte das Verbot jedoch an eine zumindest mittelbare Gesundheitsgefährdung der Adressaten gebunden sein25. Der Vorrang nationalen Rechts, auch Verfassungsrechts, vor europäischem Recht, auch Sekundärrecht, dürfte richtigerweise aber nicht bestehen, solange26 durch europäische Normen eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards gesichert ist, dass europäische Normen nicht unter diese Standards abgesunken sind. Die danach durch den Einzelnen hinzunehmende Einschränkung der Berufsausübungs- oder Meinungsfreiheit bezieht sich auf das allgemeine Gesetz, im Beispiel des HWG und namentlich auf seine Auslegung; unberührt hiervon ist die Frage, ob die Anwendung des einschränkenden Gesetzes aufgrund der besonderen Umstände im konkreten Einzelfall eine Grundrechtsverletzung bewirkt und ein im Allgemeinen grundrechtsfestes Werbeverbot im Besonderen derogiert27, was bei europäischen Normen für die Meinungsfreiheit nach der Rechtsprechung des EuGH28 durch Art. 10 EMRK ermöglicht wird. b) Konkretisierungsbedürftige europäische Normen Heilmittelwerberechtliche Restriktionen als solche und als allgemeines Gesetz stellen Grundrechtsstandards unbestrittenermaßen nicht in Frage. Deshalb ist davon auszugehen, dass europäisches Sekundärrecht und mit ihr die richtlinienkonforme Auslegung Vorrang vor verfassungskonformer Auslegung nach nationalem Recht haben, vorausgesetzt allerdings, die europäischen Normen stellen zwingende und strikte Regelungen auf. Handelt es sich bei den europäischen Normen dagegen um Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe, die der Konkretisierung im zu beurteilenden Einzelfall bedürfen und aus sich selbst heraus diese Konkretisierung nicht leisten, kommt die Heranziehung rechtlicher Maßstäbe aus dem Recht des Mitgliedstaats und insbesondere die verfassungskonforme Auslegung in Betracht. Die Prüfungsmaßstäbe über das Rangverhältnis von europäischem Recht und nationalem Recht hat Doepner29 überzeugend skizziert: Handelt es sich um eine vollharmonisierende Richtlinie und weist diese eine derartige Genauigkeit, Bestimmtheit und Unbedingtheit auf, dass sie ohne weitere Konkretisierung umgesetzt werden kann, hat richtlinienkonforme Rechtsfindung Vorrang vor verfassungskonformer Auslegung, schließt also insbesondere auch die Relativierung der umgesetzten Norm durch das Tatbestandsmerkmal der zumindest mittelbaren Gesundheitsgefährdung aus. 25

BGH, NJW- RR 2004, 1267 – Lebertrankapseln. BVerfGE 37, 271 (280 f. zu B.I.4.); BVerfGE 73, 339 (376 ff., 385, 387 zu B.II.1d), e), f)). 27 BGH, GRUR 2009, 284, Rn. 20 – Festbetragsfestsetzung, zur öffentlich geführten Diskussion über Festbeträge für bestimmte Arzneimittel. 28 EuGH, Rs. C-101/01, Slg. 2002, I-12971 (Lindquist); Rs. C-421/07, Slg. 2009, I-2629 (Frede Damgaard). 29 Doepner, Heilmittelrechtliche Publikumswerbeverbote in § 11 Abs. 1 HWG, PharmR 2010, 560 (571 f.). 26

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Es kommt demgemäß darauf an, welche Richtliniennorm durch die nationale Norm umgesetzt wird. Am Beispiel des Gemeinschaftskodexes seien herausgegriffen Art. 87 Abs. 3, 1. Spiegelstrich als Generalklausel, wonach die Arzneimittelwerbung einen zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels fördern muss, indem sie seine Eigenschaften objektiv und ohne Übertreibung darstellt, und Art. 88 Abs. 1 lit. a als strikte Norm, wonach die Mitgliedstaaten die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel verbieten, die nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden dürfen30. Die Umsetzungsnorm von § 11 Abs. 1 Nr. 13 HWG verbietet aleatorische Werbung (Preisausschreiben, Verlosungen) ohne präzise Entsprechung im Gemeinschaftskodex. Nach Ansicht des EuGH31 kann sich die Norm aber auf den offenen Tatbestand von Art. 87 Abs. 3, 1. Spiegelstrich stützen, weil der unzweckmäßigen und übermäßigen Verwendung des Arzneimittels Vorschub geleistet werde. Zugleich ist Raum für die Konkretisierung am verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal der zumindest mittelbaren Gesundheitsgefährdung. Gleichermaßen hat die eingangs erwähnte Vorschrift von § 11 Nr. 6 HWG über fach- und fremdsprachliche Bezeichnung ihre unionsrechtliche Grundlage in Art. 87 Abs. 3, 1. Spiegelstrich Gemeinschaftskodex32. Der Schönheitschirurg, der seine werbende Selbstdarstellung nur dadurch hinreichend deutlich machen kann, dass er ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel nennt („Botox“33), ist dem strikten und nicht durch die Anwendung nationalen Verfassungsrechts relativierbaren Verbot aus Art. 88 Abs. 1 lit. a Gemeinschaftskodex ausgesetzt, wenn die Vorschrift denn auf seine Werbung anwendbar wäre. Der Gemeinschaftskodex befasst sich jedoch mit der Werbung für Arzneimittel nach Maßgabe von Art. 86 Abs. 1, nicht jedoch mit der Eigenwerbung für einen Arzt. Werbung für Arzneimittel hat das Ziel, die Verschreibung, Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern. Die Eigenwerbung des Chirurgen hat das Ziel, Patienten für die so apostrophierte Schönheitsbehandlung zu gewinnen, also das eigene Unternehmen zu fördern, aber nicht das Arzneimittel. Bei dieser Sicht liegt die werbende Selbstdarstellung außerhalb des harmonisierten Bereichs, den der Gemeinschaftskodex ausfüllt, so dass sich die Frage des Vorrangs nationalen Verfassungsrechts vor vollharmonisierendem Unionsrecht nicht stellt.

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Für (EU-)grundrechtskonforme einschränkende Auslegung, also nicht nur im konkreten Einzelfall, Generalanwältin Trstenjak (Bericht in EuZW 2011, 4) bei lediglich im Internet abrufbaren Informationen, die ohnehin zugänglich zu machen seien; nach EuGH, Rs. C-316/ 09, PharmR 2011, 282, Rn. 47 (MSO/Merckle), mit Anm. St. Schmidt, PharmR 2011, 353 nach Lage des Einzelfalls keine Werbung i.S.v. Art. 86 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2, 1. Spiegelstrich (Etikettierung und Packungsbeilage, Art. 54 ff., insbesondere 62). 31 EuGH, Rs. C-374/05, Slg. 2007, I-9517, Rn. 56 (Gintec). 32 Nawroth/Sandrock, Publikumswerbung für Arzneimittel nach der Gintec-Entscheidung des EuGH – Zur Auslegung des § 11 HWG aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive, FS für Ulf Doepner 2008, S. 279 (285). 33 BVerfG, GRUR 2004, 797.

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III. Zusammentreffen mehrerer Richtlinien – Aspekte des Wettbewerbsrechts Die Erforschung des harmonisierten Bereichs gilt meistens einer einzigen Richtlinie, die sich mit dem Sachverhalt befasst, aber es können, wofür wiederum Heilmittelwerberecht als Beispiel dienen kann, auch mehrere Richtlinien in Frage kommen. Heilmittelwerberechtliche Regelungen dienen der öffentlichen Gesundheit34. Sie sind aber zugleich Teil des wirtschaftlichen Wettbewerbs, der jenseits des Gesundheitsaspekts eigener Regelungen bedarf, nämlich dann, wenn das freie, ungebundene, spontane Handeln der Wettbewerber die Grenze zur Unlauterkeit überschreitet und zum unlauteren Wettbewerb wird. Erst diese Grenzüberschreitung stellt den Wettbewerber vor Regeln, während der Bereich davor durch die Abwesenheit von Regeln gekennzeichnet ist, wie dies marktwirtschaftlichem Funktionieren entspricht; deshalb beruht die vielfach und immer häufiger anzutreffende Apostrophierung als „Lauterkeitsrecht“ auf einem Fehlverständnis. Europäische Richtlinien, die sich mit den Regeln aufgrund dieser Grenzüberschreitung, also jenseits lauteren Wettbewerbs, befassen, erstrecken sich auf unterschiedliche Teilbereiche sachlicher und persönlicher Art. Die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-Richtlinie)35 beschränkt sich in persönlicher Hinsicht auf die Werbung gegenüber Verbrauchern, entspricht also der Öffentlichkeitswerbung nach Art. 86 Abs. 1, 1. Spiegelstrich Gemeinschaftskodex, während in sachlicher Hinsicht die ganze Bandbreite wirtschaftlichen Wettbewerbs erfasst ist, namentlich auch irreführende Werbung (Art. 6). Die Richtlinie 2006/114/EG über Irreführung und vergleichende Werbung36 dient dem Schutz von Gewerbetreibenden (Art. 1) vor irreführender und vergleichender Werbung, soweit diese die in Art. 4 aufgezählten Bedingungen nicht erfüllt. In persönlicher Hinsicht entspricht sie der Fachkreiswerbung nach Art. 91 bis 99 Gemeinschaftskodex. In Bezug auf irreführende geschäftliche Handlungen und auf vergleichende Werbung ersetzen beide Richtlinien die Vorgängerrichtlinie 84/450/EWG37. Die Humanarzneimittelwerbung kann also in den Anwendungsbereich von drei Richtlinien fallen, Gemeinschaftskodex, UGP-Richtlinie und Richtli34 Der mit gewisser Anrüchigkeit behaftete Begriff „Volksgesundheit“, so noch z. B. BVerfGE 17, 269 (276 f. zu II.3.a)); BGH, GRUR 1970, 558 zu I. – Sanatorium; BT-Drucks. IV/1867, S. 5, sowie 4. Erwägungsgrund zur Heilmittelwerberichtlinie 92/28/EWG, während der 45. Erwägungsgrund des Gemeinschaftskodexes als ihrem Nachfolger von „öffentlicher Gesundheit“ spricht, ist der Bezeichnung „Gesundheit der Bevölkerung“, z. B. BVerfG, NJW 2003, 1027 (I.2.), gewichen; krit. zum Begriff „Volksgesundheit“ auch Bachmann, Juristische Person und freier Beruf, NJW 2001, 3385 (3386); Doepner, HWG, 2. Aufl., 2000, Einf., Rn. 40; Gröning/Weihe-Gröning, Heilmittelwerberecht, Einf. (2009), Rn. 1 a.E.; jüngst taucht der Begriff wieder bei Fezer/Götting, Lauterkeitsrecht, 2. Aufl., 2010, §§ 4 – 11 UWG, Rn. 81, auf. 35 Richtlinie vom 11. 05. 2005, ABl.EU 2005 Nr. L 149/22 und ABl.EU 2009 Nr. L 253/18 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 13, S. 520. 36 Richtlinie vom 12. 12. 2006, ABl.EU 2006 Nr. L 271/16 = Artz/Staudinger (Fn. 7), C 14, S. 576. 37 Richtlinie vom 10. 09. 1984, ABl.EG 1984 Nr. L 250/17.

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nie irreführende Werbung, wobei die Erstgenannten vollharmonisierend konzipiert sind38, die Letztgenannte nur für vergleichende Werbung (Art. 9 Abs. 1 Satz 2). 1. Exemplarisch: Rechtsbruchtatbestand § 4 Nr. 11 UWG Was gilt, wird am Beispiel der Norm deutlich, mit der im deutschen Recht Verstöße gegen Vorschriften des HWG durch Privatrecht verfolgt werden können, nämlich durch § 4 Nr. 11 UWG. Das HWG kennt als Sanktion nur Strafe und Bußgeld (§§ 14, 15) und gehört dem öffentlichen Recht an. Unter den weiteren Voraussetzungen von § 4 Nr. 11 UWG, die in Gestalt des HWG erfüllt sind (Marktverhaltensregelungen), gründet der Gesetzesverstoß als Rechtsbruch aber zugleich die Voraussetzungen einer unlauteren geschäftlichen Handlung, die private Beseitigungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche (§§ 8 Abs. 1, 9 UWG) auslösen kann. So wird die private Rechtsdurchsetzung eröffnet. Aus der Sicht der vollharmonisierenden UGP-Richtlinie ist § 4 Nr. 11 UWG aber nicht anwendbar, weil diese einen entsprechenden Unlauterkeitstatbestand nicht kennt. Im Anwendungsbereich der UGPRichtlinie würde die private Rechtsdurchsetzung aufgrund Rechtsbruchs also scheitern. Die UGP-Richtlinie schränkt ihren eigenen Anwendungsbereich aber ein. Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 lässt sie Rechtsvorschriften in Bezug auf Gesundheitsaspekte nämlich unberührt. Hierzu gehört auch § 4 Nr. 11 UWG bei Anwendung auf heilmittelwerberechtliche Marktverhaltensregelungen39. Es bleibt also bei der auf § 4 Nr. 11 UWG gestützten privaten Rechtsdurchsetzung. 2. Exemplarisch: Irreführung Zentraler Regelungsgegenstand im Unlauterkeitsrecht ist das Irreführungsverbot, das für die Humanarzneimittelwerbung in Art. 87 Abs. 3, 2. Spiegelstrich Gemeinschaftskodex niedergelegt ist: Die Arzneimittelwerbung darf nicht irreführend sein. Der Gemeinschaftskodex definiert den Begriff der Irreführung nicht, vermerkt aber im 42. Erwägungsgrund, dass die Anwendung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende und vergleichende Werbung unberührt bleibt. Das bedeutet unter anderem, dass der Begriff der Irreführung auch für die Humanarzneimittelwerbung der Richtlinie 84/450/EWG zu entnehmen war und jetzt für die Öffentlichkeitswerbung der UGP-Richtlinie (Art. 6) und für die Fachkreiswerbung der Richtlinie irreführende und vergleichende Werbung zu entnehmen ist (Art. 2 lit. b). Dieser Begriff gibt auch für die Umsetzungsnorm von § 3 HWG, dem Irreführungsverbot, Maß. Danach reicht die Eignung zur Täuschung. Es bedarf demgemäß nicht der Feststellung, dass Werbungsadressaten tatsächlich in die Irre geführt wurden, sich also von der Wirk38 EuGH, Rs. C-304/08, Slg. 2010, I-217 (Plus) mit Anm. Emmerich, JuS 2011, 77; Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, BGH, GRUR 2008, 807, Rn. 9 – Millionen-Chance I. 39 BGH, GRUR 2010, 654, Rn. 15 – Zweckbetrieb, mit Anm. Emmerich, JuS 2010, 1025.

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lichkeit abweichende Vorstellungen gebildet hatten. Daraus folgt auch, dass keine Differenzierung im Irreführungsbegriff zwischen der Generalklausel von § 3 Satz 1 HWG und den Einzeltatbeständen von § 3 Satz 2 HWG zu treffen ist. Auf der anderen Seite ist denkbar, dass im konkreten Einzelfall ein Arzneimittel durch Werbung eine Wirkung beigelegt wird, die es nicht hat (so der Tatbestand von § 3 Satz 2 Nr. 1), aber kein Werbungsadressat darauf hereinfallen würde, also die Täuschungseignung nicht besteht. Als abstraktes Gefährdungsdelikt wäre die genannte Vorschrift anwendbar, würde aber sekundärrechtlich eine überschießende Regelung darstellen und wäre mangels Täuschungseignung in casu nicht anwendbar. 3. Sich überschneidende Richtlinienbereiche Der Wettbewerber für Heilmittel, der zu den anwendbaren sekundärrechtlichen Bestimmungen vordringen will und sich für seine Öffentlichkeitswerbung mit der UGP-Richtlinie nicht mehr befassen zu müssen glaubt – vom Irreführungsbegriff abgesehen –, wird sich ihrer doch nicht ganz entledigen können. Der Gemeinschaftskodex und ihm folgend das HWG regeln nämlich nicht die gesamte Problematik unlauteren Wettbewerbs im Heilmittelbereich, sondern nur bestimmte Aspekte; beispielsweise ist das Feld der aggressiven Geschäftspraktiken nach Art. 8 und 9 UGPRichtlinie nicht Gegenstand von Heilmittelwerberecht. Insoweit geht die Unberührtheitsklausel von Art. 3 Abs. 3 ins Leere und es bleibt bei der Anwendung der UGPRichtlinie. Der durch den Gemeinschaftskodex geregelte Bereich gilt nur den Humanarzneimitteln und kann die richtlinienkonforme Auslegung von Vorschriften des HWG erfordern, aber nur im harmonisierten Bereich: Das HWG befasst sich nicht nur mit Humanarzneimitteln, sondern auch mit Tierarzneimitteln, Medizinprodukten und anderem, aber auch insoweit gilt der Vorrang von Art. 3 Abs. 3 UGPRichtlinie, bezieht sich nämlich auch auf Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Das Problem der gespaltenen Auslegung stellt sich (siehe oben II.1.a)bb)). Jedenfalls bleiben UGP-Richtlinie und Rechtsvorschriften über Gesundheitsaspekte nebeneinander und sich ergänzend anwendbar, wenn sie unterschiedliche Unlauterkeitstatbestände regeln. Wenn sich beide Regelungswerke mit gleichen Unlauterkeitstatbeständen befassen, aber unterschiedlich regeln, entsteht eine Kollision von Rechtsvorschriften, die Art. 3 Abs. 4 UGP-Richtlinie behebt: Maßgebend sind diejenigen Rechtsvorschriften, die die besonderen Gesundheitsaspekte regeln.

IV. Zum Schluss: Ein Fall für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung? Die Auslegung einer Norm (gleichermaßen einer Willenserklärung) setzt deren Mehrdeutigkeit, also die Möglichkeit unterschiedlicher Bedeutungen, voraus, wenngleich die richtlinienkonforme einschränkende Auslegung auch dann praktiziert wird, wenn die Norm des Rechts eines Mitgliedstaats an sich klar und eindeutig

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ist – was seinerseits Ergebnis einer Auslegung ist40 –, aber nicht für sämtliche Sachverhalte, die unter die Norm subsumierbar sind, angewandt wird. So ist die Regelung in § 4 Nr. 6 UWG eindeutig, nach der unlauter handelt, wer die Teilnahme von Verbrauchern an einem Preisausschreiben von dem Erwerb einer Ware abhängig macht (Koppelung). Ein solcher Tatbestand kommt in der UGP-Richtlinie aber nicht vor41, sodass die Vorschrift richtlinienkonform einschränkend dahin auszulegen ist, dass die Koppelung nur dann unlauter ist, wenn sie als geschäftliche Handlung irreführend ist oder den Erfordernissen der beruflichen Sorgfalt im Sinne von Art. 5 Abs. 2 lit. a UGP-Richtlinie widerspricht. 1. Grenze für die richtlinienkonforme Auslegung Mit richtlinienkonformer Auslegung lässt sich aber nicht eine Erweiterung oder gar die Schaffung einer vorher nicht vorhandenen Norm im nationalen Recht oder die Normanwendung contra legem42 erreichen. So darf nach Art. 90 lit. c Gemeinschaftskodex die Öffentlichkeitswerbung für ein Humanarzneimittel keine Elemente enthalten, die nahelegen, dass die normale gute Gesundheit des Patienten durch die Verwendung des Arzneimittels verbessert werden könnte. Eine Entsprechung im deutschen HWG fehlt43 und kann auch nicht durch Auslegung generiert werden, weil gerade nichts da ist, was ausgelegt werden könnte. Die Erreichung des effet utile führt aber nicht nur zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten und namentlich ihrer Gerichte, ihre Methoden der Auslegung mit Striktheit anzuwenden44, sondern erstreckt sich auch auf die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, soweit deren Voraussetzungen nach der geltenden Methodik des Mitgliedstaats erfüllt sind. Dadurch wird eine unionsrechtswidrige Rechtslage im nationalen Recht mit der Folge von Amts-45 und Staatshaftungsansprüchen46 vermieden. Bekanntlich ist der Bundesgerichtshof den Weg der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung gegangen, um den Anspruch auf Herausgabe von Nutzungen und gegebenenfalls Wertersatz im kaufrechtlichen Gefüge contra legem (§§ 439 Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB) auszuschließen, wenn ein Verbrauchsgüterkauf zu Grunde liegt47 (jetzt § 474 Abs. 2 Satz 1 BGB).

40 Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 2011, 1856; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl., 2011, Rn. 733. 41 EuGH, Rs. C-304/08, Slg. 2010, I-217 (Plus). 42 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110 (Adelener). 43 BGH vom 20. 11. 2008 – I ZR 94/02 – Konsumentenbefragung II, Tz. 15, GRUR 2009, 179. 44 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 111 (Adelener). 45 EuGH, Rs. 173/03, Slg. 2006, I-5177 (Traghetti del Mediteraneo). 46 EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357; Rs. C-178/04 u. a., Slg. 1996, I-4845. 47 BGH, NJW 2009, 427, Rn. 25 – Quelle, in Vollzug von EuGH, Rs. C-404/06, Slg. 2008, I-2685; Herresthal, Die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung im Kaufrecht,

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Peter Bülow

Die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung sieht der BGH in der planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes, die sich daraus ergibt, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundete, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, nämlich die Verbrauchsgüterkaufsrichtlinie 99/49/EG umzusetzen, ihm dies aber misslang. Eine derartige gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung ist herkömmlicherweise allerdings dadurch gekennzeichnet, dass das Gesetz bei seinem Erlass nicht lückenhaft war und folglich einer Fortbildung durch den Richter entgegen gestanden hatte, sich die Lückenhaftigkeit vielmehr erst durch spätere Veränderungen der Umstände einstellte48. Mit seiner neuen Doktrin nimmt der BGH Gesetzgebungsaufgaben für sich in Anspruch, die in der Kompetenz der Legislative, auch zur Korrektur eigener Fehlentscheidungen, liegen49. 2. Zum Beispiel: § 359a Abs.1 BGB Die Problematik wird in einer neuen Vorschrift des BGB virulent werden, wo es nicht um eine teleologische Reduktion (wie im Fall des Ausschlusses der durch § 439 Abs. 4 BGB vorgesehene Nutzungsherausgabe50), sondern um Extension durch Anwendung einer im Gesetz nicht vorgesehenen Vorschrift geht. Gemeint ist die seit dem 11. Juni 2010 geltende Vorschrift von § 359a Abs. 1 BGB und ihrer Ergänzung praeter legem durch § 359 BGB. § 359a ist Teil des Gesetzes zur Umsetzung der neuen Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG, bei dem die Gesetzesschreiber in großer Sorgfalt die Richtlinienkonformität würdigten51, aber an dieser Stelle zu kurz griffen. Es geht um finanzierte Geschäfte, bei denen beispielsweise der Kaufpreis durch gleichzeitigen Abschluss eines Darlehensvertrags zwischen dem Käufer, der Verbraucher ist (siehe oben I.1.a)bb)), und einer Bank aufgebracht wird und die Darlehensvaluta an den Verkäufer fließt. Wenn der Verbraucher den Darlehensvertrag widerruft (§ 495 BGB), erstreckt sich der Widerruf auf den Kaufvertrag; Einwendungen gegen den Kaufvertrag (insbesondere Mangelhaftigkeit der gekauften Sache) kann der Verbraucher gegen den Anspruch der Bank auf Darlehensrückzahlung erheben (Einwendungsdurchgriff nach § 359 BGB). All das gilt nur, wenn Kaufvertrag und Darlehensvertrag verbundene Geschäfte nach Maßgabe von § 358 Abs. 3 Satz 1 BGB darstellen, nämlich eine wirtschaftliche Einheit bilden WM 2007, 1354; ders., Die Richtlinienwidrigkeit des Nutzungsersatzes bei Nachlieferung im Verbrauchsgüterkauf, NJW 2008, 2475. 48 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., 2004, § 4 V 2 (Rn. 83, S. 95). 49 Skeptisch auch Schürnbrand, Die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung im Privatrecht, JZ 2007, 910 (913 f.); dagegen sieht Herresthal, Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung (Fn. 47), 1354 (1356) die Wertungsentscheidung des Gesetzgebers als „nicht mehr aktuell“ an bei unzutreffendem Verständnis der Richtlinie – aber eben hierin liegt das Kompetenzproblem. 50 BGH, NJW 2009, 427, Rn. 21, 22 – Quelle. 51 BT-Drucks. 16/11643, S. 115.

Europäisches Sekundärrecht in den Privatrechten der Mitgliedstaaten

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und das Darlehen zweckgebunden ist. Die wirtschaftliche Einheit ist für jedes Geschäft festzustellen, wofür unwiderlegliche Vermutungen (§ 358 Abs. 3 Satz 2) bereit stehen; die Finanzierung durch Darlehen begründet für sich allein nicht die wirtschaftliche Einheit und den Verbund. Die neue Verbraucherkreditrichtlinie hat nun eine neue unwiderlegliche Vermutung eingeführt, nämlich dass die zu kaufende Sache im Darlehensvertrag genau angegeben ist, was nach den Maßstäben von § 358 Abs. 3 Satz 1 nicht notwendig zur wirtschaftlichen Einheit führen würde. So erklärt sich die neue Vorschrift von § 359a Abs. 1: Wenn die Kaufsache genau angegeben ist, findet die Widerrufserstreckung statt, selbst wenn nach herkömmlichen Maßstäben eine wirtschaftliche Einheit nicht anzunehmen ist. So glaubten die Gesetzesverfasser, Richtlinienkonformität zu gewährleisten. Aber zum Verbundgeschäft gehört auch der Einwendungsdurchgriff, der nicht Eingang in die neue Vorschrift von § 359a Abs. 1 gefunden hat. Der Einwendungsdurchgriff ist in Art. 15 Abs. 2 der Verbraucherkreditrichtlinie vollharmonisierend geregelt. Richtlinienkonform wäre die neue Vorschrift deshalb nur durch die Einbeziehung des Einwendungsdurchgriffs (§ 359 BGB) gewesen, ist in ihrer kodifizierten Form aber defizitär52 und nicht durch richtlinienkonforme Auslegung ergänzbar. Eine analoge Anwendung von § 359 würde eine planwidrige Regelungslücke voraussetzen; die Gesetzesverfasser haben den Einwendungsdurchgriff aber erwogen und sich mit plausiblen und nachvollziehbaren Gründen dagegen entschieden53. Denkbar wäre nur eine richterlich-rechtsfortbildende Analogie. Das Defizit zu verfüllen dürfte richtigerweise aber Aufgabe der Legislative, nicht des Richters sein.

52 Gl.A. Schürnbrand, Das neue Recht der Verbraucherkredite und der verbundenen Verträge, Schriften der bankenrechtlichen Vereinigung 30 (2010), 173 (191). 53 BT-Drucks. 16/11643, S. 115.

Der Fall Ungarn und die Medienfreiheit in Europa Von Matthias Cornils*

I. Europäischer Grundrechtsschutz der Medienfreiheit in den Mitgliedstaaten? Meinhard Schröder hat das Heranwachsen der europäischen Grundrechte, namentlich derjenigen der Unionsrechtsordnung, bis zu ihrer wohl erst mit dem primärrechtlichen Rang der Grundrechtecharta vor zwei Jahren erreichten Volljährigkeit stets mit scharfem Blick begleitet.1 Seine Studien gelten hier vor allem den Grundfragen der Geltung und Wirkkraft der Grundrechte im europäischen und internationalen Kontext, Fragen, die regelmäßig besonders umstritten sind und typischerweise politischen, aber auch jurisdiktionellen Entwicklungsdynamiken unterliegen, so dass die Antworten von gestern nicht immer auch diejenigen von heute sind2 und ebenso wenig die letzteren auch noch morgen Anerkennung finden werden. Das gilt noch immer – und angetrieben durch die Materialisierung des Unionsbürgerstatus in der Rechtsprechung des EuGH sogar wieder mit neuer Schubkraft3 – für die Frage * Meinem Mitarbeiter Robin Schray danke ich für hilfreiche Unterstützung. 1 Meinhard Schröder, Wirkungen der Grundrechtscharta in der europäischen Rechtsordnung, JZ 2002, 849 ff.; ders., Die Wirkkraft der Unionsgrundrechte bei Sachverhalten mit internationalem Bezug, in: FS für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 619 ff. 2 s. nur den Wandel von BVerfGE 37, 271 – Solange I, zu BVerfGE 73, 339 – Solange II und schließlich BVerfGE 118, 79 – TEHG, dazu Cornils, Aller guten Dinge sind V – Zur Abrundung der „Solange“-Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, ZJS 2008, 69 ff.; die Entwicklung der Solange-Doktrin in der Rspr. des EGMR – von EGMR, Urteil vom 18. 02. 1999, Nr. 24833/94, Rn. 33 (Matthews/UK), zu EGMR, Urteil vom 30. 06. 2005, Nr. 45036/98, Rn. 155 ff. (Bosphorus/Irland); s. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl., 2009, § 18, Rn. 23. 3 EuGH, Rs. 34/09, Urteil vom 08. 03. 2011, NVwZ 2011, 545 (Zambrano/Office national de lÏemploi); s. dazu u. a. Hailbronner/Thym, Ruiz Zambrano – Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, NJW 2011, 2008; Huber, Die ausländerrechtlichen Folgen des EuGH-Urteils Zambrano, NVwZ 2011, 856; Frenz, Reichweite des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach den Urteilen Zambrano und McCarthy, ZAR 2011, 221; Callewaert, Grundrechtsraum Europa, DÖV 2011, 825; Vitzthum, Die Entdeckung der Heimat der Unionsbürger, EuR 2011, 550; allgemein zu Fragen der Unionsbürgerschaft vgl. u. a.: Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, 2185; Epiney, Die Rechtsprechung des EuGH im Jahr 2008: Unionsbürgerschaft,

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der Schutzreichweite der Unionsgrundrechte in den mitgliedstaatlichen Bereich hinein. Europäische Grundrechte sind auch für die Verteidigung der Freiheit gegen die eigene Staatsgewalt attraktiv – vielleicht gar die letzte Hoffnung, wenn die eigene staatliche Verfassungsordnung keinen Schutz mehr bietet, also gleichsam eine umgekehrte „Solange“-Lage besteht. Ein solcher Fall, in dem der Ruf nach dem Schutz der Freiheit durch Europa und seine Grundrechte gegen die heimische Staatsgewalt besonders laut ertönt, ist Ungarn4. Europa, so verlangt es auch das Europäische Parlament,5 soll den Ungarn die Freiheit der Medien erhalten, die durch die Mediengesetze der Regierung Orb‚n in Gefahr geraten sei. Die beiden neuen ungarischen Mediengesetze sind zu Anfang des Jahres 2011 in Kraft getreten. Sie haben sofort nach Bekanntwerden ihres Inhalts große Aufregung verursacht und sind auf mit apokalyptischer Rhetorik nicht geizende heftigste Ablehnung gestoßen: Von der „Aufhebung der Pressefreiheit in Ungarn“6, einem „Angriff auf europäische Werte“7, einem wichtigen Baustein in der Errichtung einer „neuartigen Diktatur“ durch das „System Orb‚n“ (György Konrad)8 war die Rede. Der auch aus Brüssel herandrängenden Kritik entledigten sich die ungarische Regierung und das Parlament nicht ungeschickt mit einer postwendenden Novellierung der Gesetze in den von der Kommission beanstandeten Punkten. Diese Änderungen haben die Kritiker etwa aus Menschenrechtsorganisationen nicht überzeugt,9 wohl aber die Grundfreiheiten und Gleichstellungsrecht, NVwZ 2009, 1139; Semmelmann, Die Grenzen der Unionsbürgerschaft im Urteil Förster, EuR 2009, 683. 4 Aus heutiger Sicht gehören die hier nur betrachteten ungarischen Mediengesetze freilich nur zu den früheren (und schon fast wieder historischen) Anknüpfungspunkten einer viel grundsätzlicher ausgreifenden Kritik am Kurs der ungarischen Regierungspolitik, dazu z. B. der – freilich auf völlig unhaltbare rechtliche Prämissen zur Geltung der Unionsgrundrechte („Sie [d. h. die ,in der Charta genannten WerteÐ] gelten uneingeschränkt für alle Mitgliedstaaten“) sich stützende – Antrag der SPD-Fraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 18. 01. 2011, BT-Drucks. 17/4429: „Die EU darf zur Situation der Medien […] in Ungarn nicht schweigen.“ Der Schutzappell an Europa hat sich unterdessen auf andere Themengebiete verlagert, so die jüngst erlassenen Legislativakte, von denen Einschränkungen des Datenschutzes sowie die Unabhängigkeit von Justiz und Zentralbank befürchtet werden (vgl. den ungarischen Pianisten Andr‚s Schiff in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 14. 01. 2012: „Europa muss endlich Druck machen“); s. dazu u. Fn. 10. 5 Am 10. 03. 2011 hat das EU-Parlament eine Entschließung verabschiedet, die eine erneute Überprüfung der bereits nachgebesserten ungarischen Mediengesetze zum Inhalt hat, vgl. MMR-Aktuell 2011, Ungarn: Änderungsvorschläge für umstrittenes Mediengesetz, 314431 sowie Grenz, MMR-Aktuell 2011, EU: Entschließung zum ungarischen Mediengesetz, 316262. 6 So die größte überregionale Tageszeitung Ungarns N¦pszabads‚g in ihrer Ausgabe vom 01. 01. 2011, in der der sie aus Protest über die neuen ungarische Mediengesetze ihre Titelseite freiließ; darüber u. a.: epd-Medien 1/2011, 27. 7 epd-Medien 3/2011, 8. 8 Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 01. 10. 2011, http://www.nzz.ch/nachrich ten/kultur/literatur_und_kunst/die_einsamkeit_der_nationen_1.12752334.html. 9 So nicht den OSZE-Beauftragten für die Freiheit der Medien, s. Office of the OSCE Representative on Freedom of Media, Analysis of the Hungarian Media Law, 28. 02. 2011; den

Der Fall Ungarn und die Medienfreiheit in Europa

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Kommission, die sich mit dem erreichten Rechtszustand abgefunden hat, vorerst zur Ruhe gebracht.10 Mag sich das ohnehin wie stets eher kurzatmige öffentliche Interesse am Zustand der Pressefreiheit in Ungarn außerhalb des Landes auch abgekühlt haben, so besteht doch Grund genug, sich der Affäre aus noch gar nicht großem zeitlichem Abstand wieder zu erinnern,11 sie aber auch über den Fall Ungarn hinaus allgemeiner als europäisches (eigentlich auch sogar globales) Problem zu begreifen und als solches in Beziehung zu gemeineuropäischen grundrechtlichen Maßstäben und Standards der Medienfreiheit zu setzen12: In unregelmäßigen, aber beunruhigend kurzen Abständen erreichen den Leser aus verschiedenen Ländern Berichte über neue „Reformen“ der Medienordnung – durchaus nicht in Richtung von mehr, sondern von weniger Pressefreiheit, zuletzt etwa aus Israel13 und Südafrika14. Rückwärtsbewegungen dieser Art, denen – um eine bei Meinhard Schröder besonders naheliegende umweltrechtliche Terminologieanleihe zu wagen – kein medienfreiheits-

für den Schutz der Meinungsfreiheit zuständigen Berichterstatter der Vereinten Nationen, Pressemitteilung des Berichterstatters der Vereinten Nationen Frank La Rue anlässlich seines Besuchs in Budapest vom 05. 04. 2011; das Center for Democracy and Technology, Legal Analysis of the Proposed Amendments to the 2010 Hungarian Media Laws, 02. 03. 2011; vgl. auch den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, BT-Drucks. 17/4429 sowie die Diskussion im Europäischen Parlament vom 16. 02. 2011, dazu: Pressemitteilung des Europäischen Parlaments vom 16. 02. 2011: „Hungarian Media Law needs to be changed further, says European Parlament“. 10 Dies gilt freilich nur für die Reform des Medienrechts, vgl. Pressemitteilung der Vizepräsidentin Neelie Kroes 11/89 vom 16. 02. 2011. Gegen die legislativen Aktivitäten Ungarns in anderen Rechtsbereichen (auf verfassungs- und einfachgesetzlicher Ebene) ist die Kommission hingegen wieder aktiv geworden. So hat sie am 17. 01. 2012 drei Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, die im Zusammenhang mit Anfang 2012 in Kraft getretenen Gesetzen stehen. Neben Bedenken zur Unabhängigkeit der nationalen Zentralbank und der Justiz hegt die Kommission Zweifel an der EU-rechtskonformen Ausgestaltung des ungarischen Datenschutzbeauftragten, vgl. dazu u. a.: Matzneller, ZD-Aktuell 2012, 27304 oder becklink 1018118: „EU legt Ungarn Daumenschrauben an und hofft auf Einlenken.“ Das am Fall der Mediengesetze eingeübte Spiel mit der Kommission scheint sich nunmehr zu wiederholen: Ministerpräsident Orb‚n hat bereits die Bereitschaft zur Überarbeitung der beanstandeten Regelungen angekündigt, vgl. F.A.Z. v. 18. 01. 2012, http://www.faz.net/aktuell/ politik/ausland/rechtsstreit-ungarns-mit-der-eu-orban-kuendigt-kompromissbereitschaft-an11611981.html. 11 Mittlerweile liegen auch eine Reihe juristischer Beurteilungen vor, die sich insbesondere auch damit auseinander setzen, ob und inwieweit die Gesetzesänderung vom März den europarechtlich begründeten Bedenken der Kommission abgeholfen hat oder nicht; u. a.: Nagy/Poly‚k, Die neuen Mediengesetze in Ungarn, OstEuR 2011, 262 ff. 12 s. auch Greciano, Die Pressefreiheit in Europa, UFITA 2010, 639 ff. 13 Am 22. 11. 2011 ist in der Knesset in erster Lesung ein neues Mediengesetz angenommen worden, das u. a. Bußgelder bis umgerechnet 60.000 Euro für „üble Nachrede“ durch Journalisten vorsieht, s. http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/news/158627/index.html. 14 Zur Verabschiedung des neuen, drakonische Strafen für den Umgang mit vertraulichem Material vorsehenden Mediengesetzes in Südafrika http://www.sueddeutsche.de/politik/poli tik-kompakt-suedafrikas-regierung-setzt-umstrittenes-mediengesetz-durch-1.1196465.

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rechtliches Verschlechterungsverbot15 wirksam Einhalt gebietet, werden dabei schon seit einiger Zeit beobachtet, z. B. auch schon in der Deklaration des Ministerkomitees des Europarates vom 27. September 2006 beklagt.16 Die Pressefreiheit ist eben ein seit jeher, immerwährend und überall gefährdetes Gut17; die Bedingungen für ihre Entfaltung vor allem sind der untrüglichste Indikator für den rechtsstaatlichen Zustand eines Gemeinwesens. Und auch aus Ungarn kommen wieder beunruhigende Meldungen: So ist das noch druckfrische Medienaufsichtsgesetz im Juli 2011 bereits wieder verschärft worden und zwar durch Einführung einer Regelung, wonach sich Veranstalter, die Schulden bei der Medienaufsichtsbehörde haben – etwa infolge auferlegter Bußgelder –, nicht mehr um eine Sendefrequenz bewerben dürfen18. 570 Mitarbeitern der öffentlich-rechtlichen Medien sind entlassen worden – eine zweite Welle soll folgen19. Das regierungskritische Hörfunkprogramm Klubradio hat Ende Dezember 2011 seine bisher zugewiesene Frequenz verloren; diese wurde stattdessen von der Medienaufsicht mit dem Verweis auf im Umfang von 30 bis 40 Prozent mehr zu erzielende Lizenzentgelte an zwei bisher eher unbekannte Sender vergeben20. Die Kommission in Brüssel schließlich nährt trotz des agreements mit der ungarischen Regierung Spekulationen über ein neu aufgelegtes euro15 Zum umweltrechtlichen Verschlechterungsverbot etwa Gellermann, in: Landmann/ Rohmer, Umweltrecht, § 33 BNatSchG, Rn. 6 ff.; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 20a, Rn. 65 ff.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2009, Art. 20a, Rn. 44; krit. Cornils, Reform des europäischen Tierversuchsrechts, 2011, S. 95 f.; s. auch zum sich mit dem Verschlechterungsverbot partiell überschneidenden Nachhaltigkeitsgrundsatz Meinhard Schröder, Nachhaltigkeit als Ziel und Maßstab des deutschen Umweltrechts, Wirtschaft und Verwaltung 2/95, 65 (70). 16 Committee of Ministers, Declaration on the guarantee of the independence of public service broadcasting in the member states: „Regretting developments in a few member states that tend to weaken the guarantee of independence of public service broadcasting or lessen the independence that had already been attained …“; s. auch die in der Beilage zu OstEuR 2011, Heft 1, abgedruckten Vorträge auf den 9. Frankfurter Medientagen 2010, die die Tendenz zu fortschreitenden Einschränkungen der freien Berichterstattung in Teilen Ost- und Südosteuropas aufzeigen, Barner (betreffend Südosteuropa); Bastuniec (Weissrussland); Ivanov (Bulgarien); Mihai (Ungarn und Rumänien); Milenkovic (Serbien); Weberling (Zusammenfassung). 17 Vgl. jüngst nur Pomorin, Die Presse als watchdog – eine gefährdete Art?, ZUM 2008, 40; Schmelz, Historische Entwicklungslinien der Meinungs- und Pressefreiheit – Erinnerung für die Zukunft, UFITA 2011, 111 ff. 18 http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ungarn-parlament-stimmt-verscha erftem-mediengesetz-zu-16600.html. 19 epd-medien Nr. 28/2011, 18. In ihrer Antwort (BT-Drucks. 17/7704) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (BT-Drucks. 17/7468) schreibt die Bundesregierung am 07. 12. 2011, dass seit 2010 bislang 414 Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Medien entlassen worden seien, weitere 400 der zuvor insgesamt 3.000 Stellen sollten noch abgebaut werden, vgl. MMR-Aktuell 2011, 325854. 20 Vgl. dazu u. a.: Beitrag von Deutschlandradio Kultur vom 24. 10. 2011, http://www. dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1586771/; http://hungarianvoice.wordpress.com/2011/12/ 20/klubradio-verliert-budapester-sendefrequenz und http://www.berliner-zeitung.de/politik/zen sur-ungarn-dreht-letztes-oppositionsradio-ab,10808018,11338760.html.

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päisches Engagement in Fragen der Medienfreiheit: Vizepräsidentin Kroes hat im Oktober 2011 eine hochrangige Expertengruppe einberufen, die „Empfehlungen für die Achtung, den Schutz, die Unterstützung und die Förderung von Freiheit und Pluralismus der Medien in Europa erarbeiten“21 soll. Schon allein dieses Untersuchungsprogramm steckt voller Sprengstoff, sind doch die intensiven politischen und juristischen Auseinandersetzungen um die Reichweite der nur binnenmarktlich begründeten Unionskompetenz (Art. 95 EGV/Art. 114 AEUV) für das Medienrecht in den Bereich des Kulturell-Inhaltlichen hinein noch in frischer Erinnerung.22 Sie haben bisher zu dem im Regelungsprogramm der Fernsehrichtlinie und ihrer Nachfolgerin23 niedergelegten (Zwischen?-)Ergebnis weitgehender Zurückhaltung der Union in Fragen der inhaltlichen Medienregulierung (content-Regulierung) ohne unmittelbaren Wettbewerbsbezug geführt. Noch sind die Mitgliedstaaten, in Deutschland die Länder, Herren des Medieninhalterechts, insbesondere der Vielfaltssicherungsregulierung mit ihrem gewaltigen Überbau der positiven Rundfunkordnung einschließlich der Institution öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Sollte Ungarn jetzt den Anlass für einen neuen Versuch der Einverleibung dieser Materie in den unionalen Rechtskreis unter dem Zeichen des gemeineuropäischen Grundrechtsschutzes geliefert haben?

21 Pressemitteilung 11/1173 vom 11. 10. 2011 der Europäischen Kommission; Mitglieder der Gruppe sind u. a. die ehemalige deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin und der ehemalige Generalanwalt des EuGH, Prof. Luis Miguel Poiares Pessoa Maduro. 22 s. zum Kompetenzstreit um die Fernsehrichtlinie etwa von Bogdandy, Europäischer Protektionismus im Medienbereich, EuZW 1992, 9; Knothe/Bashayan, Die Revision der EGFernsehrichtlinie, AfP 1997, 849; Fink, Die Auswirkungen der Fernsehrichtlinie der Europäischen Gemeinschaften auf die Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG, in: Scholz (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union: Wieviel Eurozentralismus – wieviel Subsidiarität?, 1994, S. 188; Henning-Bodewig, Die EG-Fernsehrichtlinie von 1989, in: Schricker/Henning-Bodewig (Hrsg.), Neuordnung des Wettbewerbsrechts, 1999, S. 81; Ukrow, Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Medienrecht? Zum Verhältnis von EG-Fernsehrichtlinie, Europa-Abkommen und Europäischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen, in: Europäisches Medienrecht – Fernsehen und seine gemeinschaftsrechtliche Regelung = European media law, 1998, S. 95 sowie bezüglich eines europäischen Medienkonzentrationsrechts: Gounalakis/Zagouras, Plädoyer für ein europäisches Medienkonzentrationsrecht, ZUM 2006, 716; dagegen: Hain, Sicherung des publizistischen Pluralismus auf europäischer Ebene?, AfP 2007, 527. 23 RL 89/552/EWG vom 03. 10. 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit; ABl.EG 1989 Nr. L 298/23; RL 2010/13/EU vom 10. 03. 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl.EU 2010 Nr. L 95/1 (neue Fassung).

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II. Stein des Anstoßes: Die neuen ungarischen Mediengesetze Bei den vom ungarischen Parlament am 21. Dezember 2010 verabschiedeten Gesetzen handelt es sich zum einen um das „Gesetz über die Freiheit der Presse und die grundlegenden Regeln über Medieninhalte“ (hier im Folgenden: „Pressefreiheitsgesetz“)24. Dieses nur 25 Artikel umfassende Gesetz enthält vor allem Grundsätze und Inhaltsvorgaben für die Presse, on-demand-Medien und Rundfunk. Thematisch weit umfassender – von Jugendschutz- und Werbebeschränkungsregeln bis zur Aufsichtsorganisation – und zugleich detaillierter sind die 230 Artikel des „Gesetzes über Mediendienste und Massenmedien“25 (hier im Folgenden: „Medienaufsichtsgesetz“). Beide Regelwerke folgen einem im Zuge der Medienkonvergenz auch andernorts diskutierten26 und insofern durchaus modernen integrativen Ansatz: Sie erfassen alle Medien, differenzieren allerdings in einigen Regelungen doch – und mehr noch wieder nach der Gesetzesänderung im März 2011 – zwischen linearen und Abrufdiensten oder Presseerzeugnissen. Auch institutionell hat sich Ungarn bereits im Sommer 201027 für eine Konvergenzlösung entschieden: In der autonomen Einheitsbehörde NMIA (National Media and Info-communications Authority) wurden vergleichbar der britischen Ofcom28 die Medienaufsicht und die Telekommunikationsregulierung zusammengefasst. Zentrales Organ der Behörde, jedoch selbst auch mit eigener Rechtspersönlichkeit, ist der fünfköpfige Medienrat als Rechtsnachfolger der früheren Rundfunkkommission; er nimmt die Aufsichtsaufgaben über alle Medien, auch über die vier nunmehr in einer Stiftung zusammengefassten öffentlichrechtlichen Rundfunkveranstalter, sowie die staatliche Nachrichtenagentur wahr. Die Mitglieder des Medienrates werden mit mindestens Zweidrittelmehrheit vom Parlament für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt (Art. 124 Abs. 1 MAG). 24

Amtliche Bezeichnung: 2010. ¦vi CLXXXV. Törv¦ny; fortan als PFG abgekürzt. Amtliche Bezeichnung: 2010. ¦vi CIV. törv¦ny; fortan als MAG abgekürzt. 26 Vgl. u. a.: Rossen-Stadtfeld, Medienaufsicht unter Konvergenzbedingungen, ZUM 2000, 36 ff.; Palzer/Hilger, Medienaufsicht an der Schwelle des 21. Jahrhunderts: Gestaltung und Kompetenzen der Aufsichtsbehörden im Zeichen der Konvergenz, IRIS plus 2001/8; Scheuer/Strothmann, Medienaufsicht an der Schwelle des 21. Jahrhunderts: Welche Anforderungen stellen sich der Rundfunk-, Telekommunikations- und Konzentrationsregulierung?, IRIS plus 2002/2; Holznagel, Konvergenz der Medien – Herausforderung an das Recht, NJW 2002, 2351 ff. sowie der jüngste Überblick in der Studie des Hans-Bredow Instituts „INDIREG – Indicators for independence and efficient functioning of audiovisual media services regulatory bodies for the purpose of enforcing the rules in the AVMS Directive“, Vorabreport Januar 2011. 27 Vgl. zur vorhergehenden Konvergenzdiskussion in Ungarn u. a.: Bayer/Ricke, Die Medienaufsicht in Ungarn – Entwicklung und Reformbedarf, Medien und Recht – International Edition 01/09, 30 ff.; Polyak, Garantie und Reichweite der Medienfreiheit in Ungarn, OstEuR 2011, Beilage zu Heft 1, 21 ff. 28 Zu dieser: Bretschneider, Britisches Medienkonzentrationsrecht als Vorbild?, ZUM 2010, 418 ff.; Libertus, Das britische Whitepaper „A new Future for Communications“, MMR 2001, 292 ff. 25

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Der oder, wie zur Zeit, die Vorsitzende ist allerdings personidentisch mit dem vom Ministerpräsidenten ebenfalls auf neun Jahre ernannten Präsidenten der NMIA (Art. 111 Abs. 3, Art. 125 Abs. 1 MAG); insoweit besteht also zwar noch das formale Wahl-(Bestätigungs-)Recht, aber kein Nominierungsrecht des Parlaments, das die anderen Kandidaten für die Wahl durch eine Nominierungskommission, in der Parlamentsabgeordnete aller Fraktionen mit dem proportionalen Stimmgewicht ihrer jeweiligen Fraktion vertreten sind, bestimmt (Art. 124 Abs. 3 – 9 MAG). Die neue Medienordnung in Ungarn ist sicherlich wichtiges Teilelement der im Land selbst wie auch im Ausland hoch umstrittenen politischen Agenda der seit den Parlamentswahlen 2010 auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament gestützten FIDESZ/KDNP-Regierung des Ministerpräsidenten Viktor Orb‚n.29 Sie ist aber auch vorläufiger Endpunkt und Ergebnis einer seit langem in Ungarn geführten Reformdebatte und setzt jedenfalls auch Bestrebungen um, die durchaus nicht nur mit der Politik der aktuellen Regierung in Verbindung gebracht werden können, so etwa das schon lange diskutierte Vorhaben einer Zusammenführung von TK- und Medienregulierung.30

III. Das ungarische Medienrecht in der Kritik: Modifikation und verbleibende Kritikpunkte Die von der EU-Kommission kurz nach Verabschiedung der Gesetze bei der ungarischen Regierung vorgebrachten Einwände betrafen vier Regelungen, die aus Sicht der Kommission die Besorgnis der Unvereinbarkeit mit Europarecht begründeten. Erstens ging es um die alle Medien erfassende Pflicht zur vorherigen Registrierung, zweitens um die Unterwerfung auch im Ausland ansässiger Anbieter unter die Strafsanktionen des ungarischen Medienrechts (möglicher Verstoß gegen das in der AVMD-Richtlinie für die audiovisuellen Mediendienste verankerte Herkunftslandsprinzip), drittens um die undifferenziert für alle Medien geltenden Vorgabe der Ausgewogenheit der Berichterstattung; schließlich stießen die strengen Verbotsvorschriften hinsichtlich der Beleidigung von Einzelpersonen, Minderheiten oder Mehrheiten auf Bedenken.31 Ungarn reagierte prompt und überbrachte schon Anfang Februar Vorschläge zur Änderung der Gesetze in den kritisierten Punkten32, die von der Kommission akzep-

29 So z. B. Ebert, epd-Medien 3/2011, 8 ff. Zum 01. 01. 2012 trat eine mit der 2/3-Mehrheit der konservativen Regierung durchgesetzte neue ungarische Verfassung in Kraft, die ebenfalls kontrovers diskutiert wird, siehe dazu Fn. 10. 30 Dazu: Bayer/Ricke (Fn. 27), 30 ff.; Nagy/Poly‚k (Fn. 11), 262 ff. 31 Vgl. dazu auch die Rede der Vizekommissionspräsidentin vor dem EU-Parlament vom 11. 01. 2011, amtliches Dokument: Speech 11/6 sowie epd-Medien 1/2011, 27. 32 Dazu: N‚dasdy, JUST, Mai 2011, 7 ff.; MMR-Aktuell 2011, 314431 sowie Ricke/Nüßing, Ungarn: Massive Kritik an Mediengesetz, MMR-Aktuell 2011, 313017.

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tiert wurden.33 Im März 2011 wurden entsprechend der Vereinbarung der Kommission die ungarischen Mediengesetze geändert. Danach ist – um die wichtigsten Änderungen zu nennen – die gesetzliche Forderung der Ausgewogenheit der Berichterstattung jetzt nur noch auf die linearen (Rundfunk-)Medien beschränkt und die Registrierungspflicht für nichtlineare Medien von der (vorherigen) Genehmigung auf eine nachträgliche Anzeige bis spätestens 60 Tage nach Beginn des Angebots umgestellt worden. Auch wurden die Strafsanktionen (Art. 187 Abs. 3 lit. b MAG) für EUausländische Anbieter audiovisueller Medien abgeschafft (Art. 176 f. MAG) und die verwaltungsrechtlichen (bei Presse und Radio auch die hier gem. Art. 178 MAG insoweit noch greifenden Straf-)Sanktionen (Untersagung des Dienstes und Löschung aus dem Register, Art. 187 Abs. 3 lit. c, d) auf die in Art. 3 AVMD-RL den Mitgliedstaaten zugestandenen Notrechtssituationen beschränkt. Der Kritik insbesondere aus Menschenrechtsorganisationen34, aber auch mittlerweile vorliegenden rechtswissenschaftlichen Gutachten35 zufolge reichen die Änderungen nicht einmal aus, um auch nur die Kommissionsbedenken auszuräumen. Behauptet wird dies z. B. für den gerügten Verstoß gegen das Herkunftslandprinzip, der mit der Streichung der Strafsanktion für ausländische Anbieter keineswegs beseitigt sei.36 Auch würden die Verfahrensvorschriften der AVMD-Richtlinie hinsichtlich der ausnahmsweisen Beschränkung der Verbreitung von linearem Rundfunk aus dem EU-Ausland nicht eingehalten. Die negative und positive-content-Vorgaben seien nach wie vor viel zu umfassend, gleichzeitig aber zu vage und damit missbrauchsanfällig formuliert.37 Die fortbestehende Registrierungspflicht für nichtlineare Medien innerhalb von 60 Tagen erreiche zwar nicht mehr die Eingriffstiefe der vorher verlangten Genehmigung, sei aber in ihrer Notwendigkeit nach wie vor fragwürdig und könne immer noch einen mediengrundrechtlich problematischen chilling effect auf Anbieter auslösen.38 Schwerer noch wiegen Einwände, die gar nicht Thema der Änderungsanliegen der Kommission und der nur auf diese reagierenden Novellierung gewesen sind. Diese Einwände betreffen die Höhe und fehlende gesetzliche Vorbestimmtheit der Strafsanktionen, die Verpflichtung der Journalisten zur Offenlegung ihrer Quellen unter bestimmten, nur mehr vage formulierten Voraussetzungen39, die Staatsnähe der Aufsichtsbehörde40, insbesondere ihrer mit erheblichen Be33 Pressemitteilung 11/89 vom 16. 02. 2011 der Europäischen Kommission; beck-aktuellRedaktion, 17. 02. 2011, becklink 1010179. 34 s. o., Fn. 8. 35 Der Journalist Michael Bergius zitiert in der Ausgabe der Frankfurter Rundschau vom 04. 05. 2011 beispielsweise aus einem bis zum Druck dieses Beitrags noch unveröffentlichten Gutachten des Max-Planck-Instituts für Völkerrechts, http://www.fr-online.de/medien/ungari sches-mediengesetz-willkuerliche-sanktionen-,1473342,8409766.html. 36 Center for Democracy and Technology (Fn. 9), S. 4. 37 La Rue (Fn. 9), S. 2. 38 Center for Democracy and Technology (Fn. 9), S. 7. 39 La Rue (Fn. 9), S. 3. 40 Center for Democracy and Technology (Fn. 9), S. 8.

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fugnissen ausgestatteten Präsidentin, das medienartenübergreifende Einheitsmodell der Regulierung, namentlich unter Einschluss der nichtlinearen Medien41, schließlich auch die angeblich gefährdete Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es kann hier nicht darum gehen, alle diese Kritikpunkte mit Anspruch auf Vollständigkeit abzuarbeiten. Der Fall Ungarn bietet aber ein hervorragendes Beispiel, um anhand einiger ausgewählter Fragen die Reichweite und Schutzintensität europäischer Grundrechte anzusprechen, auch das freilich nicht in hier gar nicht möglicher erschöpfender Gründlichkeit.

IV. Die Maßstabfrage: (Auch) Unionsgrundrechte oder (nur) Konventionsgrundrechte? Was die Geltungsfrage als solche anbetrifft, steht im Zentrum natürlich die mögliche Bindung Ungarns oder anderer Mitgliedstaaten, bei denen sich ähnliche Probleme stellen mögen, an das Unionsgrundrecht der Medienfreiheit. Erst wenn eine solche Bindung bejaht wird, sind Beschränkungen der Presse-, Rundfunk- oder Internetfreiheit in Ungarn oder sonstwo in Europa überhaupt ein Fall für die Union (3.) und nicht nur für den Europarat (2.) – sofern nicht der thematisch eher beschränkte Einzugsbereich der AVMD-Richtlinie betroffen ist (1.). 1. Die Richtlinien Europäisches Sekundärrecht ist, soweit es reicht, Maßstab für die europarechtliche Beurteilung der mitgliedstaatlichen Regelungen; es eröffnet in der Reichweite seiner Geltung auch die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf das Verhalten mitgliedstaatlicher Stellen bei der Durchführung dieses Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 GrCh) auf normativer (insbesondere: Richtlinienumsetzung) oder administrativer Vollzugsebene („agency“-Situation)42. Die hier einschlägige AVMD-Richtlinie43 erfasst indessen gegenständlich nur einen kleineren Teil der skizzierten Probleme; sie errichtet kein Bollwerk gegen mitgliedstaatliche Gefährdungen der Medienfreiheit außerhalb der unmittelbar nur geregelten wirtschaftsrelevanten Fragen, etwa der Werbung („kommerzielle Kommunikation“). Die Richtlinie erstreckt sich 41

Office of the OSCE Representative on Freedom of Media (Fn. 9), S. 8. EuGH, Rs. C-201/85, Slg. 1986, I-3477, Rn. 10 (Klensch); Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, 2011, S. 10 ff. 43 RL 2007/65/EG zur Änderung der RL 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl.EU 2007 Nr. L 332/27; neu gefasst als RL 2010/13/EU vom 10. 03. 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl.EU 2010 Nr. L 95/1; ergänzend kommt ggf. auch noch die e-commerceRL 2000/31/EG, ABl.EG 2000 Nr. L 178/1 in Betracht, soweit Anbieter von Internetdiensten über das in dieser Richtlinie vorgesehene Maß hinaus verpflichtet werden. 42

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nicht auf die Presse, die kein audiovisueller Dienst ist, und sie schließt keine umfassenden Gewährleistungen der Kommunikationsfreiheit oder der inhaltlichen Vielfalt der elektronischen Medien ein. Auch die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Medienaufsichtsbehörden wird zwar in Art. 30 AVMD-RL kurz angesprochen und wohl auch vorausgesetzt, aber – entgegen der ursprünglichen Absicht der Kommission – nicht durch die Richtlinie vorgeschrieben oder garantiert. Die AVMD-Richtlinie ist daher nicht der Hebel, über den unionsgrundrechtliche Standards der Medienfreiheit, namentlich aus Art. 6 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 10 EMRK und Art. 11 Abs. 2 GrCh gegen die Mitgliedstaaten gewendet werden können, auch soweit sie ratione materiae tatsächlich verletzt sein sollten. Auch Art. 4 Abs. 1 AVMD-RL, der die Mitgliedstaaten ermächtigt, in den von der Richtlinie koordinierten Bereichen strengere Regelungen vorzusehen, kann nicht dahingehend verstanden werden, dass etwa mitgliedstaatliche Content-Vorgaben – keineswegs nur in Ungarn! – (Ausgewogenheit usw.) in die Reichweite der Richtlinie einbezogen werden und also „Durchführungen“ der Richtlinie im Sinn des Art. 51 GrCh darstellten. Schon der insoweit auch noch von der Kommission in Betracht gezogene Art. 28 AVMD-RL (Gegendarstellungsrecht) erscheint als Anknüpfungspunkt für einen auf die Ausgewogenheit des Rundfunks (balanced coverage) erstreckten Regelungsanspruch der Richtlinie sehr weit strapaziert. Die Richtlinie enthält, aus guten kompetentiellen Gründen, gerade keine Inhalteregulierung der elektronischen Medien über die unmittelbar wirtschaftsrelevanten Bereiche hinaus; sie ist keine „Pluralismussicherungsrichtlinie“, und es kann ihr dieser, von ihr gar nicht in Anspruch genommene Regelungsbereich auch nicht über den Abweichungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten – gewissermaßen über mitgliedstaatliche Bande – wieder zugespielt werden. 2. Art. 10 EMRK: Ungarn als Mitglied des Europarats und Vertragsstaat der EMRK Alle Mitgliedstaaten der Union sind auch Vertragsstaaten der EMRK. Damit steht außer Frage, dass sich auch das neue ungarische Medienrecht am Grundrechtsstandard der europäischen Menschenrechtskonvention messen lassen muss, namentlich an Art. 10 EMRK, der die Medienfreiheiten zwar (von Abs. 1 Satz 2 abgesehen) nicht explizit nennt, aber in der Garantie der Meinungsfreiheit mit verbürgt.44 Tatsächlich ergeben sich aus dieser Garantie, die in einer über Jahrzehnte gewachsenen umfangreichen Rechtsprechung des EGMR, aber auch in einer nicht minder produktiven Resolutions- und Empfehlungspraxis des Ministerkomitees und der parlamentarischen Versammlung des Europarats mit Leben erfüllt worden ist, gehaltvolle Schranken des medienrechtlichen Regulierungsspielraums der Vertragsstaaten. Darauf wird noch zurückzukommen sein.45 44 Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., 2011, Art. 10, Rn. 5; Grote/Wenzel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 18, Rn. 40. 45 s. u., V.

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3. Unionsgrundrechte, insbesondere Art. 11 Abs. 2 GrCh Ob die mitgliedstaatlichen (etwa: ungarischen) Gesetze (und auch ihre Anwendung) hingegen auch den unionsrechtlichen Gewährleistungen der Medienfreiheit unterliegen, ist eine schwierige, ganz grundsätzlich aus europarechtlicher Sicht hochinteressante und nach dem Aufwuchs der Grundrechtecharta in Rechtsverbindlichkeit abermals intensiv diskutierte Frage46. Diese Diskussion konzentriert sich auf zwei Gesichtspunkte, zum einen darauf, ob die vom EuGH seit 20 Jahren anerkannte Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, wenn und soweit die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten des Unionsrechts beschränken (sog. ERT-Rechtsprechung47), unter der verbindlichen Geltung der Grundrechtecharta noch weiterhin akzeptiert werden kann, zum anderen auf die nach jüngeren Urteilen des EuGH denkbare Erschließung eines umfassenden Unionsgrundrechtsschutzes auch gegen den eigenen Mitgliedstaat aus der Unionsbürgerschaft des Art. 20 AEUV. a) ERT Die ERT-Rechtsprechung – oder, genauer formuliert: die Option ihrer Fortsetzung – stößt auf neuen Widerstand, und zwar unter Verweis auf die engere Formulierung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta in Art. 51 Abs. 1 Satz 1, in dem nur von der Durchführung des Unionsrechts die Rede ist48, teilweise auch auf die Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta.49 Andere hingegen sehen in Art. 51 GRCh keine Korrektur der EuGH-Rechtsprechung und halten die ERT-Doktrin für nach wie vor anwendbar. Sie können sich dafür immerhin auf die Erläuterungen zur Grundrechtecharta berufen, die ausdrücklich die Kontinuität zur bisherigen EuGH-Rechtsprechung betonen. Die aus Text und Genese der Grundrechtecharta zu ziehenden juristischen Argumente führen daher wohl in ein Patt: Man kann es eben

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Dazu jetzt instruktiv Nusser (Fn. 42), S. 47 ff. Erstmals: EuGH, Rs. 260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); bekräftigt in: Rs. C-368/ 95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress); Rs. 60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 40 (Carpenter); s. auch: Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 15. 48 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Art. 51, Rn. 24; ebenso an der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zweifelnd: Kingreen, Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, 570 (576); Mager, Die Bedeutung der Grundrechte für das Binnenmarktziel – der zweite Verfassungsabschnitt auf dem Prüfstand des Binnenmarktkonzepts, EuR Beih. 3/2004, 41 (53 f.); Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach dem Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung, NVwZ 2003, 1452 (1455 ff.). 49 Borowsky, in: Meyer (Fn. 48), Art. 51, Rn. 24a.; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385 (2386 f.). 47

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so oder so sehen50. Damit sieht man sich doch wieder auf das sachliche Grundproblem zurückgeworfen, wie es schon seit dem ERT-Urteil besteht und diskutiert wird. Es besteht darin, dass die Anforderungen an das mitgliedstaatliche Recht der Beschränkung von Grundfreiheiten nun einmal sowohl einen Anknüpfungspunkt im Recht der Mitgliedstaaten als auch im Unionsrecht haben: Die Beschränkung selbst ist mitgliedstaatliche Kompetenz, ist aber andererseits an unionsrechtliche Vorgaben („Schranken-Schranken“) gebunden, angefangen von den nach dem Vertrag zulässigen geschriebenen und ungeschriebenen Beschränkungsgründen bis hin zur Verhältnismäßigkeit51. Diese Unterwerfung unter die unionsrechtliche (vom EuGH zu kontrollierende) Rechtfertigungslast von Grundfreiheitseingriffen scheint folgerichtig auch die Grundrechte des Unionsrechts mit einbeziehen zu müssen; diese können ja für die unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung schwerlich ignoriert werden. Das führt aber andererseits zu einer ganz erheblichen unitarisierenden Ausweitung der Unionsgrundrechtsgeltung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hinein52. Der in der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs53 erkennbare Mittelweg, zwar grundsätzlich den Anspruch auf die Geltung der Unionsgrundrechte in der Reichweite einer Grundfreiheitsbeschränkung aufrechtzuerhalten, den Mitgliedstaaten aber einen erheblichen Spielraum bei der Gewichtung der jeweiligen Grundrechtsgüter (Schutzniveau) einzuräumen, mag dogmatisch angreifbar sein, erscheint aber als in der Sache nachvollziehbarer pragmatischer Kompromiss. Akzeptiert man das und geht man also weiterhin von der ERT-Doktrin aus, so avanciert das Unionsgrundrecht der Medienfreiheit immerhin insoweit zum Maßstab der mitgliedstaatlichen Medienregulierung, als diese grenzüberschreitende Sachverhalte erfasst, also die Warenverkehrs-, Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit von Anbietern aus anderen Mitgliedstaaten beschränkt. Was Ungarn anbetrifft, bleibt nach der allerdings in ihrer Reichweite nicht ganz unumstrittenen Herausnahme dieser Anbieter aus dem Zugriff der ungarischen Medienaufsicht fraglich, ob über die in der AVMD-Richtlinie ohnehin sekundärrechtlich geregelten Ausnahmefälle vom Herkunftslandprinzip hinaus Situationen vorstellbar sind, in denen die neuen Mediengesetze zu Grundfreiheitsbeschränkungen führen können.

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Eingehend Nusser (Fn. 42), der indessen selbst ein leichtes Übergewicht der Argumente für eine restriktive Lesart (nur „Durchführung“ des Unionsrechts) des Art. 51 Abs. 1 GrCh konstatiert. 51 s. nur Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 36 AEUV, Rn. 74 ff. 52 Dazu insbesondere: Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190 ff. 53 Insb.: EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 34 ff. (Omega) – hier allerdings für die umgekehrte Bedeutung der Grundrechte als Grund der Beschränkung der Grundfreiheit.

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b) Art. 20 AEUV: Zambrano-Doktrin Die Beschränkung der Unionsgrundrechtsgeltung auf die binnenmarktrelevanten Fälle kann überwunden werden, wenn die Unionsgrundrechte auch die in Ungarn ansässigen Medienunternehmer gegen die ungarische Rechtsordnung berechtigen, also reine Inlandssachverhalte erfassen. Tatsächlich hat die neuere Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft54 und dem sich daraus ergebenden grundlegenden Status Anlass zu Bestrebungen gegeben, eine Inländerberechtigung auch aus den Grundrechten des Unionsrechts gegen den eigenen Mitgliedstaat zu begründen. Überzeugend sind solche Ansätze jedoch nicht. So kann man schon bezweifeln, ob der EuGH gut beraten war, in der Rechtssache Ruiz Zambrano55den Unionsbürgerstatus kleiner Kinder mit einem gegen den eigenen Mitgliedstaat gerichteten Recht auf Aufenthalt der drittstaatsangehörigen Eltern zu verbinden und so erstmals klar mit dem Binnenmarktparadigma zu brechen. Dieses Urteil hat Kritik erfahren,56 ist aber immerhin insofern noch verständlich, als es hier um einen Schutz vor absolutem faktischem Zwang zur Ausreise des (minderjährigen von den Eltern abhängigen) Unionsbürgers aus dem EU-Mitgliedstaat ging, mithin sozusagen um ein Basiselement der Unionsbürgerschaft, um die negative Freizügigkeit57. Gerade wegen der exzeptionellen Umstände des Falles lässt sich dieses Urteil indessen nicht verallgemeinern hin zu einer Anreicherung des Unionsbürgerschaftsstatus um die Grundrechte schlechthin, auch nicht um die Presse- und die Rundfunkfreiheit. Schon das wenig später ergangene Urteil in der Rechtssache McCarthy58 hat klargestellt, dass der EuGH keineswegs eine allgemeine Verknüpfung des Unionsstatus mit anderen (Grund-)Rechten im Sinn hat; in diesem Urteil ist ein Anspruch auf ein Zusammenleben mit einem drittstaatsangehörigen Ehegatten abgelehnt worden. Im Urteil Dereci et al. vom 15. November 2011 hat der EuGH schließlich in erfreulich deutlichen Worten den Ausnahmecharakter der Zambrano-Doktrin erläutert; sie greift nur ein, wenn sich „der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes“.59 Nur in einem solchen Fall darf dem Drittstaatsangehörigen der Aufenthalt nicht verweigert werden, weil ansonsten die Unionsbürgerschaft des mitgliedstaatsangehörigen Familienmitglieds „ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt“, mithin tatsächlich in ihrem Kern beseitigt würde.60 Die 54

EuGH, Rs. C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn. 31 ff. (Grzelczyk); Rs. C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn. 82 ff. (Baumbast und R); Rs. C-148/02, Slg 2003, I-11613, Rn. 22 ff. (Avello); Rs. C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn. 43 ff. (Rottmann); Rs. C-34/09, n.n.i.Slg., Rn. 41 ff. (Zambrano); Rs. C-391/09, n.n.i.Slg., Rn. 58 ff. (Runevic-Vardyn und Wardyn). 55 EuGH, Rs. C-34/09, NJW 2011, 2033 (Zambrano). 56 Instruktiv Hailbronner/Thym (Fn. 3), 2008 (2010 ff.). 57 Huber (Fn. 3), 856 (856). 58 EuGH, Rs. C-434/09, DÖV 2011, 612 (Shirley McCarthy). 59 EuGH, Rs. C-256/11, n.n.i.Slg., Rn. 65 (Dereci et al.). 60 s. auch Vitzthum (Fn. 3), 550 (563).

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Rechtsprechung des EuGH zeigt also immer klarer, dass der mit der Unionsbürgerschaft verknüpfte Rechteschutz in Inlandssachverhalten nur einen Kernbereich dieser Rechte abdeckt, keineswegs aber bei jeder Grundrechtsverletzung eingreift. Eine andere Sicht wäre mit der in Art. 51 GrCh klar zum Ausdruck gebrachten, grundsätzlich auf die Unionsorgane beschränkten Verpflichtungswirkung der Unionsgrundrechte unvereinbar – auch diese Beschränkung bestätigt der EuGH im jüngsten Fall Dereci ausdrücklich.61 Allenfalls oberhalb der Schwelle einer Verletzung der Grundwerte der Union durch einen Mitgliedstaat im Sinn des Art. 2 EUV könnte auch an eine Kernbereichs-Verletzung des Unionsbürgerschaftsstatus der eigenen Staatsangehörigen durch einen Mitgliedstaat zu denken sein. Zu einer solchen Bewertung aber gibt auch das ungarische Medienrecht ziemlich sicher noch – solange seine Anwendung nicht rechtsstaatlich völlig aus dem Ruder läuft – keinen Anlass: Der Grundwertekanon des Art. 2 EUV ist nicht einfach identisch mit dem Grundrechtsstandard der Union gem. Art. 6 EUV62; eine solche Identifizierung würde auf eine universale Rundumgeltung der Unionsgrundrechte, auf eine einheitliche Prägung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen durch den Standard der Unionsgrundrechte hinauslaufen, die mit der differenzierteren Geltungsregel des Art. 51 GRCh unvereinbar wäre. Art. 2 erinnert die Mitgliedstaaten und die Union an den gemeinsamen und insoweit homogenen Kernstandard unabdingbarer Menschenrechte, ebnet aber nicht die Eigenarten mitgliedstaatlicher Grundrechtskulturen auf ein strikt einheitliches Niveau ein. Erst recht sind Sanktionen nach Art. 7 EUV zusätzlich an die Voraussetzung einer eindeutigen und zugleich schweren Verletzung eines Grundwerts gebunden. Insgesamt zeichnet sich also ab, dass den Mediengesetzen der Mitgliedstaaten, auch in Ungarn, mit unionsrechtlichen Mitteln außerhalb der Reichweite der AVMD-RL nur sehr eingeschränkt beizukommen ist. Unionsgrundrechtsschutz kann hier, wenn überhaupt, nur greifen, soweit Binnenmarktfreiheiten berührt sind – was wegen der weitgehenden, wenn auch wohl nicht vollständigen Zurücknahme der grenzüberschreitenden Geltung der Gesetze auf die schon in Art. 3 Abs. 2 und 4 der Richtlinie geregelten Ausnahmefälle aber wohl allenfalls begrenzte Anwendungssituationen betrifft (etwa: ordre-public-Klausel für von der AVMD-RL nicht erfasste Presseerzeugnisse, Art. 178 MAG), nicht aber die Gesetze insgesamt in den Einzugsbereich der Unionsgrundrechte hineinzieht. Es gibt also durchaus gute Gründe für die Zurückhaltung der Europäischen Kommission im ungarischen Fall. Wenn und soweit die Medienordnungen in Europa grundrechtlich beachtliche Defekte aufweisen, sind diese – neben dem nationalen Grundrechtsschutz – in erster Linie ein Fall für die Europäische Menschenrechtskonvention und damit für den Straßburger Gerichtshof, nicht aber für die Union.

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EuGH, Rs. C-256/11, n.n.i.Slg., Rn. 71 (Dereci et al.). Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 2 EUV (Stand: Juli 2010), Rn. 36. 62

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V. Ausgewählte Einzelprobleme der europäischen Medienfreiheit Geht es also bei der Suche nach gemeineuropäischen Positionen zur Medienfreiheit in Europa vor allem um die Aussagen des Art. 10 EMRK, so können diese Positionen hier selbstredend nur in nachgerade willkürlicher Auswahl und überaus kursorisch umrissen werden. Der immer noch virulente Fall Ungarn bietet sich für eine – allerdings eher exemplarisch gemeinte – Betrachtung im Spiegel dieser Positionen an. 1. Institutionell-organisatorische Unabhängigkeitsgewähr In der Debatte um das neue ungarische Medienrecht fällt die Kritik an der institutionellen Struktur der Medienaufsicht besonders auffällig ins Auge, häufig verbunden mit Einwänden gegen die umfassende ungarische Einheitslösung eines sämtlichen Medien, auch die Presse und das Internet, einbeziehenden Aufsichtsmaßstabes und -instrumentariums. Kritisiert werden vor allem die Staatsnähe des Medienrates der, wie man überall vorwurfsvoll lesen kann, ausschließlich aus Parteigängern des amtierenden Ministerpräsidenten bestehe63, und die Unterwerfung der nichtlinearen Medien unter die einheitliche Aufsicht64. Offenkundig gibt es hier befremdliche Erscheinungen, etwa die sehr starke Stellung der vom Ministerpräsidenten bestellten Präsidentin der Aufsichtsbehörde, die nach der gesetzlichen Vorgabe in Personalunion zugleich Vorsitzende des Medienrates ist und auch das Vorschlagsrecht für den Generaldirektor der öffentlich-rechtlichen Medienanbieter einschließlich der Staatlichen Nachrichtenagentur hat65. Auch kann das verwirrend bunte Organisationsdesign mit einer ganzen Reihe verschiedener Gremien und Beauftragter, hinter denen aber letztlich sehr häufig wieder das dominierende Einflusszentrum des Medienrates zum Vorschein kommt66, doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier – eher nur oberflächlich kaschiert – Entscheidungsmacht in einer, zudem sicherlich auch gerade nicht politikfernen Hand konzentriert wird. Die neue Superbehörde für Fernsehen, Radio, Onlinemedien, Presse und Telekommunikationsdienste passt nicht zu einem Idealbild von checks and balances, verwirklicht durch Dekonzentration oder Dezentralisierung von Kompetenzen. Darin liegen Risiken, weil eine wechselseitige Kontrolle und diskursive Maßstabbildung in der Konkurrenz mehrerer Verwaltungsträger so weniger oder auch gar nicht stattfindet. Möglicherweise ist es tatsächlich so, dass der personalen und gegenständlichen Vielfalt in den Medien organisatorisch auch eine plural-gewaltenteilige Medienaufsicht entsprechen muss oder anders gewendet, dass sich aus der Konzentration von – letztlich doch immer ein Stück weit interesseverhafteten – Medienaufsichtsbefugnissen selbst schon Gefah63

Office of the OSCE Representative on Freedom of Media (Fn. 9), S. 12. La Rue (Fn. 9), S. 3. 65 Art. 102 Abs. 2 MAG. 66 s. etwa: Art. 86 Abs. 6; Art. 90 Abs. 1 lit. b, Art. 95 Abs. 2, Art. 102 Abs. 2; Art. 120 Abs. 4 lit. a; Art. 136 Abs. 6, Art. 138 Abs. 2, Art. 139 Abs. 2 MAG. 64

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ren für den Medienpluralismus ergeben. Auch in der gewiss vergleichsweise hochgezüchteten rundfunkrechtlichen Diskussion in Deutschland begegnet dieser Gedanke administrativer Gewaltenteilung als Gewährträger für inhaltlichen Pluralismus wohl bisher nur im Blick auf den organisatorischen Binnenpluralismus des Gruppenrundfunks, nicht aber hinsichtlich dekonzentrierter oder dezentralisierter Zuständigkeiten der Medienaufsicht (Landesmedienanstalten), bei denen ganz die föderale, insbesondere kompetentielle Dimension im Zentrum der Debatte steht, nicht die Vielfaltspflege. In der Leitungsspitze auf Konzentration angelegte geöffnete Medienratsmodelle wie in Ungarn erscheinen vor diesem Hintergrund bedenklich, zumal wenn sie auch noch – wie in Ungarn – staatlichem Einfluss geöffnet oder gegen diesen zumindest nicht sicher abgeschirmt sind67. Auf der anderen Seite sollte man aber nicht ausblenden, dass integrierte Konvergenzmodelle einer zentralen und/oder konzentrierten Medienaufsicht unter dem Eindruck der technischen, inhaltlich-kulturellen und wirtschaftlichen Konvergenz der Medien auch in anderen Ländern ernsthaft diskutiert68 und teilweise ja auch verwirklicht worden sind. Zentralisierungsbestrebungen etwa in der Rundfunkaufsicht sind in den letzten Jahren auch in Deutschland umgesetzt worden, um föderalismusbedingte Effizienzschwächen zu beheben.69 Die medienteilmärkteübergreifende Zusammenschau auf alle Medien – vor allem in der Konzentrationskontrolle70 – gilt vielen als logische und notwendige Reaktion auf die Medienkonvergenz, und es ist vor diesem Hintergrund nicht ohne Witz, dass jetzt im Fall Ungarns plötzlich wieder die guten alten Zeiten einer strikt nach Medienarten getrennten Aufsicht, die auf keinen Fall die Presse oder das sozusagen von Natur aus offene, aufsichtsfeindliche Internet mit einbeziehen dürfe,71 beschworen werden. Es geht dabei gar nicht darum, der Erstreckung der administrativen Medienaufsicht auf die Presse das Wort zu reden: Von einem liberalen Grundrechtsverständnis aus wäre das eine durchaus unerfreuliche Entwicklung. Aus Art. 10 EMRK ergibt sich aber wohl kaum ein zwingendes grundrechtliches Argument gegen eine – freilich vernünftig ausgestaltete – organisatorisch 67 s. die Kritik des Menschenrechtskommissars des Europarats, Opinion vom 25. 02. 2011, CommDH(2011)10, S. 14: „These provisions appear to run counter to Council of Europe standards aimed at preserving independence of the public service broadcasting from interference, notably political, from any external authority.“ 68 Für die deutsche Diskussion über die Zusammenfassung von Regulierungsbefugnissen im Zuge der Medienkonvergenz s. nur Hain, Regulierung in den Zeiten der Konvergenz, K&R 2006, 325 ff., mit dem Vorschlag einer gemeinsamen Ländermedienanstalt. 69 10. RÄndStV vom 19. 12. 2007: Komplettierung der zentralen „Wanderorgane“ durch Einführung der ZAK und GVK nach dem Vorbild der schon etablierten KEK und der KJM in die Privatrundfunkaufsicht (§ 35 Abs. 2 RStV); dazu Ritlewski, Pluralismussicherung im 10. Rundfunkänderungsstaatsvertrag, ZUM 2008, 403 ff. 70 Dazu Reinlein, Medienfreiheit und Medienvielfalt, Kontrolle crossmedialer Konzentration in Zeiten der Konvergenz, Diss. Mainz 2011, S. 293 ff. mit dem Plädoyer für eine medienübergreifende, wenngleich noch fernsehbasierte Konzentrationskontrolle; s. auch Schulz/Held, Die Zukunft der Kontrolle der Meinungsmacht, 2006, S. 71 ff. 71 In diesem Sinn die Forderung des Office of the OSCE Representative on Freedom of the Media (Fn. 9), S. 11.

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zusammengefasste Aufsicht über alle Medien, sofern diese medienartspezifischen Besonderheiten Rechnung trüge, insbesondere nicht den strikten Regelungszugriff der traditionellen Rundfunkregulierung auch auf die Presse oder das Internet erstreckte. Wenig zwingend wäre auch die Vorstellung, der Rechtsgüterschutz vor persönlichkeitsrechtsverletzenden Printmedien müsse den (Zivil- und Straf-)Gerichten vorbehalten bleiben und dürfe keinesfalls der Sanktionsgewalt einer Verwaltungsbehörde überantwortet werden. Zwar mögen Exekutiven vielleicht staatlichem Einfluss eher zugänglich sein als Gerichte (sicher ist auch das keineswegs: Es gibt auch deprimierende Erscheinungsformen einer politisierten und regierungswillfährigen Justiz). Gleichwohl ruhte ein Generalverdacht gegenüber einer administrativen Medienaufsicht, die ja ohnehin auch noch einer Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegt, nicht auf einer tragfähigen grundrechtlichen Basis. Art. 10 EMRK gewährleistet sicher nicht, nur dem Gesetzgeber und allenfalls noch den Gerichten, nicht aber einer Behörde unterworfen zu sein. Das Grundrecht ordnet nicht in problematischer Überladung mit einem schon an sich zweifelhaften materiellen Gewaltenteilungsverständnis die Aufgabe der Medienaufsicht den Gerichten zu; es verlangt nicht eine ziviloder straf- anstelle einer verwaltungsrechtlichen Problemlösung. 2. Die Staatsfreiheit des Rundfunks und der Fall Manole Gehaltvoller sind die grundrechtlichen Aussagen der Konvention zum Gewährleistungsgehalt der Staatsfreiheit der Medien. Bemerkenswerte, hierzulande aber noch kaum wahrgenommene Aussagen zur institutionell-organisatorischen Staatsfreiheit des (öffentlich-rechtlichen) Rundfunks hat der EGMR in seinem erst gut zwei Jahre alten Urteil Manole getroffen.72 Dieses Urteil hat tatsächlich grundlegenden Charakter; keine frühere Entscheidung gibt vergleichbar deutliche Hinweise zur organisationsrechtlichen Dimension des Prinzips der Staatsfreiheit. Im Fall Manole ging es um massive Einflussnahmen der von der kommunistischen Partei, die die Parlamentswahlen 2001 mit großer Mehrheit gewonnen hatte, getragenen moldauischen Regierung, auf die Programmgestaltung insbesondere der Nachrichtenredaktion von Teleradio-Moldova (TRM), dem staatlichen Fernsehsender des Landes. Die Leitung des Senders verordnete den Programmmachern eine „schwarze Liste“ mit verbotenen Begriffen, Personennamen oder Themen, insbesondere solchen, die sich auf die gemeinsame Kultur und Sprache von Rumänien und Moldau oder auf die Verbrechen der stalinistischen Ära in der Sowjetunion bezogen. Die Nachrichten hatten im Wesentlichen aus Darstellungen der Tätigkeit und Auffassungen der Regierung zu bestehen, während Informationen über andere Ereignisse nur in einem knappen zeitlichen Rahmen übermittelt werden durften. Sendungen, in denen die Redakteure Texte entgegen den Anweisungen aus der Leitung des Senders vortrugen, wurden technisch unterbrochen, Redaktionsmitarbeiter, die gegen die Gängelung protestierten oder sich den Zensurmaßnahmen widersetzten, gemaßregelt, einige davon, darunter die 72

EGMR (4. Kammer), Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02 (Manole u. a./Moldova).

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Chefin der Nachrichtenredaktion und Sprecherin der Abendnachrichten Larisa Manole, entlassen oder dazu gebracht, die Anstalt von sich aus zu verlassen. Der Gerichtshof braucht nicht viele Worte, um dieses Verhalten und diese Maßnahmen als schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht der Kommunikationsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK zu qualifizieren. Ein Steuerungsmittel wie die schwarze Liste unterliege jedenfalls einem strengen Rechtfertigungszwang, dem aber im Streitfall schon deshalb nicht genügt sei, weil die Regierung überhaupt keine Rechtfertigungsgründe im Sinn des Art. 10 Abs. 2 EMRK habe vorbringen können.73 Interessanter und über den Fall Manole hinausweisend sind dann aber die Darlegungen zur institutionellen Gewährleistung der Staatsfreiheit. Der Gerichtshof behandelt das Phänomen und Problem der Programmbeeinflussung nicht einfach unter dem Aspekt des Abwehrrechts gegen den Staat, sondern erfasst es unter dem Gesichtspunkt der den Vertragsstaat treffenden positiven Gewährleistungsgehalte des Grundrechts („positive obligations“).74 Damit kommt die der deutschen verfassungsrechtlichen Rundfunkdogmatik so vertraute organisationsrechtliche Dimension auch hier, auf der Ebene des Konventionsrechts, ins Spiel. Der Gerichtshof begnügt sich mithin nicht damit, was immerhin wohl keine Schwierigkeiten bereitet hätte, zu konstatieren, dass die genannten Akte mangels erkennbarer Rechtfertigung eklatant die materielle Programmfreiheit verletzten, ergreift vielmehr die Gelegenheit, die unhaltbaren konkreten Zensurakte auf eine strukturell-organisatorische Schwäche der Rundfunkanstalt zurückzuführen und damit dieses Organisationsdesign schlechthin in Frage zu stellen. Ausgangspunkt ist die dem Staat („ultimate guarantor of pluralism“75) obliegende positive Gewährleistungspflicht: Der Staat muss, so garantiert es Art. 10 EMRK, wenn er einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter installiert (wozu er freilich konventionsrechtlich nicht verpflichtet ist, sofern er andere gleichwertige Mechanismen der Pluralismuspflege einrichtet!76), gewährleisten, dass der öffentlich-rechtlich Rundfunk ein vielfältiges, ausgewogenes Programm bietet, das die volle Breite der politischen Meinungen und Debatten im Land spiegelt. Dazu gehört auch ein gesetzlicher Rahmen, der die Unabhängigkeit der Anstalt von politischer Einflussnahme und Kontrolle sichert.77 Der Gerichtshof hat diese Sätze allerdings nicht neu erfunden, sie vielmehr aus den schon seit 1994 erlassenen Re73

EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 104 (Manole u. a./Moldova). EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 99 (Manole u. a./Moldova) („genuine effective exercise of freedom of expression does not depend merely on the StateÏs duty not to interfere, but may require it to take positive measures of protection, through its law or practice“), 107 ff. 75 EGMR, Urteil vom 24. 11. 1993, A/276, Rn. 38 (Informationsverein Lentia u. a./Österreich); Urteil vom 28. 01. 2001, Nr. 24699/94, Rn. 73 (VGT Verein gegen Tierfabriken/ Schweiz); Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 99 (Manole u. a./Moldova). 76 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 100 (Manole u. a./Moldova). 77 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 107, 109 (Manole u. a./Moldova) („to put in place a legal framework which ensured TRMÐs independence from political interference and control“). 74

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solutionen und Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats übernommen.78 Insoweit erschöpft sich die Leistung des Urteils darin, die bisher nur als „Leitlinien“ zur Interpretation des Art. 10 EMRK formulierten Grundsätze in die Verbindlichkeit des gerichtlichen Urteils zu übersetzen. Die den moldauischen Fall betreffenden Schlussfolgerungen sind kurz und bündig: Das Leitungsorgan der TRM, das ursprünglich aus neun, jeweils zu einem Drittel vom Parlament, dem Staatspräsidenten und der Regierung ernannten Mitgliedern bestand, bot keinerlei Gewähr („did not provide any guarantee“) einer politischen Balance und einer Sicherung gegen die Einflussnahme der herrschenden politischen Partei in der ab 2001 in Moldawien tatsächlich eingetretenen Situation, dass eine politische Partei das Parlament, die Regierung und das Präsidentenamt kontrolliert.79 Damit ist klar, dass der – an sich ja – demokratische Weg einer Bestellung der Rundfunkaufsicht durch Staatsorgane ohne Proporz-Mechanismen, die auch die Opposition zum Zuge kommen lassen (etwa qualifizierte Mehrheiten), oder andere Sicherungen der Unabhängigkeit der Aufsichtspersonen mit der Konvention unvereinbar ist. Auch die im Jahr 2002 implementierte Reform der Organisation des Senders und seines Leitungsorgans findet nicht die Billigung des Gerichtshofs; sie war zuvor schon von dem vom Generalsekretär des Europarats eingesetzten Sachverständigen Jakubowicz als nicht hinreichend kritisiert worden,80 ein Verdikt, dem sich die Richter nunmehr anschließen.81 Dieser Abschnitt des Urteils ist deswegen besonders interessant, weil das neue Aufsichtsgremium (TRM Supervisory Board) mit 15 „bekannten Persönlichkeiten aus dem kulturellen, wissenschaftlichen, Bildungs-, Medien- und sonstigen Bereich“ zu besetzen ist und es daher auf den ersten Blick ein pluralistisches Gepräge als „Organ der Gesellschaft“ aufzuweisen scheint, das aus anspruchsvollen Konzepten der Staatsfreiheit des Rundfunks (nicht zuletzt in der deutschen Ordnung sowohl des öffentlich-rechtlichen als auch des privaten Rundfunks) wohlbekannt und akzeptiert ist. Der Sachverständige des Europarats und ihm folgend der Gerichtshof haben sich von diesem ersten Anschein nicht beeindrucken lassen: Tatsächlich könne angesichts der im Gesetz vorgesehenen Benennungsrechte nicht ausgeschlossen werden, dass bis zu 14 der 15 ernannten Mitglieder doch wieder der regierenden politischen Partei loyal verbunden seien, da nur das Benennungsrecht für einen einzigen Sitz bei der parlamentarischen Opposition liege.82 Schaut man auf die 78 Insb.: Resolution Nr. 1 über die Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks, verabschiedet vom Ministerkomitee in Prag, Dezember 1994; Empfehlung Nr. R (96) 10 „The Guarantee of the Independence of Public Service Broadcasting“; Empfehlung Nr. R (2000) 23 on the independence and functions of regulatory authorities for the broadcasting sector; Erklärung vom 27. 09. 2006 „on the guarantee of the independence of public service broadcasting in the member states“. 79 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 109 (Manole u. a./Moldova). 80 Bericht von Karol Jakubowicz, in: EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 64, 69 (Manole u. a./Moldova). 81 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 110 (Manole u. a./Moldova). 82 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 110 (Manole u. a./Moldova).

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Einzelheiten der moldauischen Benennungsregelung,83 so liegt in dieser nicht weiter erläuterten Aussage des Gerichtshofs Sprengkraft auch für gruppenpluralistisch besetzte Aufsichtsgremien in anderen Ländern. Nach jener Regelung werden nach wie vor jeweils zwei Mitglieder des Aufsichtsgremiums vom Parlament, dem Präsidenten und der Regierung benannt, hinzu kommt noch ein vom Obersten Rat der Gerichtsbarkeit ernanntes Mitglied. Für die übrigen acht Sitze sind Benennungsrechte verschiedener Organisationen vorgesehen, etwa der Organisationen für nationale Minderheiten, der Gewerkschaften, der Medienorganisationen und des Veteranenverbandes. Man kann nun spekulieren, dass der qualitative Zuschnitt der benennungsberechtigten Organisationen so gestaltet und die Zahl der ihnen zur Benennung jeweils zustehenden Sitze so berechnet sind, dass eine Dominanz der Regierungspartei gesichert oder jedenfalls erleichtert ist. Ob die tatsächlichen Verhältnisse in Moldau Anhaltspunkte für eine solche Spekulation bieten, erhellt das Urteil freilich nicht. Deutlich wird aber, dass der Gerichtshof die Mitgliederzahl im Aufsichtsgremium und den Kreis der benennungsberechtigten Organisationen für zu klein und daher einer wahrhaft pluralistischen Zusammensetzung abträglich hält. Die Entscheidungsgründe machen sich insoweit eine Forderung des Sachverständigen Jakubowicz zu eigen, der schon 2002 gefordert hatte, dass die Zusammensetzung des Rates „so pluralistisch wie möglich“ sein müsse, um die möglichen Einflussnahmen, denen die Ratsmitglieder unterlägen, soweit wie möglich zu zerstreuen.84 Im Berichtsteil des Urteils findet sich darüber hinaus noch eine Stellungnahme des OSZE-Repräsentanten für die Freiheit der Medien, die ebenfalls moniert, dass die Zusammensetzung nur scheinbar ein Abbild der Zivilgesellschaft ergebe, tatsächlich aber das ganze Spektrum der gesellschaftlichen Auffassungen nicht repräsentiere und daher politische Einseitigkeit zulasse.85 Obwohl sich der Gerichtshof selbst nicht näher zu den eigentlich tragenden spezifischen Gründen für das Urteil der Konventionswidrigkeit der Gremienzusammensetzung verhält, wird in der Zusammenschau dieser Argumente doch jedenfalls erkennbar, dass er nicht nur für das demokratische Konzept einer staatlichen Ernennung der Rundfunkaufsicht, sondern auch für das auf organisatorische Staatsfreiheit setzende Konzept gruppenpluralistisch zusammengesetzter Gremien recht strenge, allerdings eben inhaltlich noch nicht sehr präzise beschriebene Anforderungen aus Art. 10 EMRK herleitet: Offensichtlich kann eine Gremienstruktur mit weniger als 50 % unmittelbar dem Staat zuzurechnenden Mitgliedern jedenfalls dann konventionswidrig sein, wenn das Gremium insgesamt nur relativ wenige Köpfe zählt, die von einem nur mehr beschränkten Kreis gesellschaftlicher Organisationen bestimmt werden. Der organisatorische Binnenpluralismus in der 83 Art. 13 des Gesetzes Nr. 1320-XV, wiedergegeben in EGMR (4. Kammer), Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 65 (Manole u. a./Moldova). 84 Bericht von Karol Jakubowicz, in: EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 64 (Manole u. a./Moldova) („that the composition of the Council be as pluralistic as possible“). 85 EGMR, Urteil vom 17. 09. 2009, Nr. 13936/02, Rn. 73 (Manole u. a./Moldova): „does not represent the whole spectrum of views prevalent in society, and in fact allows for political one-sidedness“.

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Rundfunkaufsicht ist also dann, aber auch nur dann ein probates Konzept zur Wahrung der Staatsfreiheit des Rundfunks, wenn die relevanten gesellschaftlichen Strömungen in möglichst voller Breite vertreten sind. Damit schließt diese konventionsrechtliche Bewertung des „Gruppenrundfunks“ bemerkenswert dicht an die elaborierten Vorstellungen des BVerfG zur „Repräsentation“ der Gesellschaft in den Rundfunkgremien an,86 eine jetzt im Urteil Manole ausgezogene (wenn auch nicht ausgesprochene) Parallele, die soweit ersichtlich noch kaum wahrgenommen worden ist. Man wird indessen doch vermuten dürfen, dass der organisationsrechtliche Gehalt des Art. 10 EMRK über die – allerdings gegenwärtig im Zusammenhang des Verfahrens zur Überprüfung des ZDF-Staatsvertrages wieder intensiv diskutierten und eben auch noch nicht ausdiskutierten – Maßstäbe des deutschen Rundfunkverfassungsrechts nicht hinausgeht. Aus den eher lakonischen Sätzen in Manole dürfte sich daher kaum etwas gegen die Bestellungsregeln der deutschen Rundfunkgesetze herleiten lassen, was sich nicht ohnehin schon aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt – und vom BVerfG demnächst endlich und hoffentlich präziser erfasst wird. Was schließlich Ungarn anbetrifft, ist der ungarische Medienrat, von der allerdings wie erwähnt problematischen Ernennung und Rolle der Präsidentin einmal abgesehen, immerhin in einer Lage, die den Vergleich mit anderen Beispielen in Europa, etwa der KommAustria in Österreich87, aber auch den Medienräten der Landesmedienanstalten in einigen deutschen Bundesländern nicht scheuen muss. Kommentare der ungarischen Medienrechtsreform haben zu Recht hervorgehoben, dass die einseitige Besetzung des gegenwärtigen Medienrates mit regierungsnahen Mitgliedern eben vor allem Folge der gegenwärtigen Machtverhältnisse im ungarischen Parlament ist88: Die im Gesetz – wie ja auch z. B. in Berlin, Brandenburg89 oder Schleswig-Holstein90 – vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit sorgt normalerweise für eine Proporzzusammensetzung. Diese Sicherung fällt freilich dann aus, wenn wie jetzt in Ungarn die Regierungspartei selbst über mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze verfügt. Absolute Staatsfreiheit im Sinn eines rigorosen Verbotes jeder Bestellung von Aufsichtspersonen durch staatliche Parlamente oder auch Exekutivorgane ver86 Insbesondere: BVerfGE 83, 238, Rn. 497 ff.; näher dazu Cornils, Die Kirchen in den Rundfunkgremien, ZevKR 2009, 417 ff.; ders., Ausgestaltungsgesetzesvorbehalt und staatsfreie Normsetzung im Rundfunkrecht, 2011, S. 156 ff.; Hahn, Die Aufsicht des öffentlichrechtlichen Rundfunks, 2010, S. 43 ff. 87 § 3 Abs. 2 KommAustria-Gesetz: „Der Vorsitzende, der Vorsitzende-Stellvertreter und die weiteren Mitglieder werden vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung für die Dauer von sechs Jahren bestellt.“ 88 Schulz, Eine Armlänge entfernt. Die Ergebnisse einer Studie zur Medienaufsicht in Europa, epd-medien Nr. 15/2011, 6 (7). 89 § 10 Abs. 2 Staatsvertrag über die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg im Bereich des Rundfunks, Berl. GVBl. 2009, S. 251. 90 § 42 Abs. 5 Staatsvertrag über das Medienrecht in Hamburg und Schleswig-Holstein, GVOBl. Schl.-H. 2011, S. 116.

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langt Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht91 (es wäre sonst wohl jedes Rundfunk-Aufsichtsorgan in Deutschland verfassungswidrig), ziemlich sicher aber auch Art. 10 EMRK nicht: Dem EGMR ging es im Urteil Manole um das grundrechtliche Verbot einer institutionellen Struktur, welche die Vereinnahmung des Rundfunks durch die Regierung zuließ, wohl kaum aber um die angesichts der Lage in den Vertragsstaaten ganz unrealistische vollständige Verdrängung des Staates aus jeder Mitverantwortung für den Rundfunk. Immerhin bleibt der Maßstab der Beherrschung durch die Regierung (oder Regierungspartei) potentiell empfindlich auch gegenüber qualifizierten Mehrheiten wie in Ungarn oder in anderen europäischen Staaten: Das ungarische Beispiel veranschaulicht gerade, wie anfällig an sich erprobte und in der politischen Normallage auch leidlich funktionierende institutionelle Arrangements für eine bedenkliche Instrumentalisierung durch die Staatsmacht bei entsprechenden faktisch-politischen Gegebenheiten sein können. 3. Das Problem der Inhalteregulierung Zu den Hauptkritikpunkten in der Diskussion um das ungarische Mediengesetz zählt die Inhalteregulierung, von der in Verbindung mit den hohen Bußgeldsanktionen eine einschüchternde Wirkung gegenüber unbefangen offener und insbesondere regierungskritischer Medienberichterstattung befürchtet wird. Die Bedenken gelten den positiven Geboten ebenso wie den negativen Verboten von Medieninhalten. Sie betrifft also insbesondere die nach der Novelle vom März allerdings auf die linearen Medien zurückgenommene Forderung nach Ausgewogenheit der Berichterstattung (Art. 13 PFG, Art. 12 MAG) sowie die Verbote menschenwürdebeeinträchtigender (Art. 14 PFG), diskriminierender und beleidigender Inhalte (Art. 17 PFG). Staatliche, auch gesetzliche Inhaltsvorgaben berühren die Kommunikationsfreiheit im Kern; sie stehen daher zu Recht im Zentrum grundrechtlicher Aufmerksamkeit und unterliegen strengen Rechtfertigungslasten. Insbesondere bei der Berichterstattung über Politiker dürfen die inhaltlichen Grenzen zulässiger Presseberichterstattung durch die Behörden und Gerichte der Vertragsstaaten nicht eng gezogen werden. Im Fall Oberschlick92hat der EGMR unmissverständlich deutlich gemacht, dass sich Personen mit politischen Ämtern durchaus auch verletzende Berichterstattung gefallen lassen müssen. Politiker haben Kritik danach in besonders weitem Umfang zu ertragen, weil sie sich der Prüfung und Würdigung ihrer Worte und Handlungen in der Öffentlichkeit bewusst aussetzen. Art. 10 EMRK schütze daher grundsätzlich auch Politiker betreffende Meinungsäußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen.93 In dem vom EGMR entschiedenen Fall hatte der Journalist Oberschlick 91

s. nur BVerfGE 12, 205, Rn. 187; näher Cornils, Ausgestaltungsgesetzesvorbehalt (Fn. 86), S. 130 ff. 92 EGMR, Urteil vom 01. 07. 1997, Nr. 20834/92, NJW 1999, 1321. 93 EGMR, Urteil vom 01. 07. 1997, Nr. 20834/92, NJW 1999, 1321 (1322); vgl. MeyerLadewig (Fn. 44), Art. 10, Rn. 6.

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den damaligen Vorsitzenden der FPÖ, Haider, als „Trottel“ bezeichnet und wurde daraufhin wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Gerichtshof befand, der Gebrauch des Wortes „Trottel“ könne zwar als polemisch angesehen werden, stelle aber in erster Linie in dem Zusammenhang, in dem es gefallen sei, eine „sachlich verstärkte“ Erklärung auf die ihrerseits provozierende Rede Haiders dar.94 Diese für den Bereich der „Staatskritik“ kommunikationsfreiheitsfreundliche Linie ist in weiteren Urteilen bestätigt, aber auch verfeinert worden. So ist der grundrechtlich gesicherte Toleranzrahmen für Politiker in Staatsämtern, namentlich in Regierungsfunktionen sogar noch großzügiger bemessen,95 für Beamte und Richter hingegen enger, weil sie sich nicht selbst dem öffentlichen Interesse aussetzen und zudem die Amtsfunktion schutzbedürftig gegenüber bestimmten, diese Funktion beeinträchtigenden (keineswegs aber pauschal gegenüber allen) Formen oder Inhalten der Berichterstattung sein kann.96 Dennoch müssen aber auch die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes97 und der Justiz98, deren Tätigkeit naturgemäß und berechtigterweise ein besonderes Informationsinteresse auslöst, die kritische Begleitung und Kommentierung ihrer Amtsausübung durch die Medien aushalten. Wesentlich ist dafür auch die Erwägung, dass staatliche Sanktionen gegen staatskritische Äußerungen von Privatpersonen oder der Massenmedien die für die offene Debatte als Demokratievoraussetzung schwerwiegende Gefahr begründen können, die Presse (oder Einzelpersonen) „zu entmutigen, sich an Diskussionen über Fragen des berechtigten öffentlichen Interesse zu beteiligen“.99 Deswegen nimmt der Gerichtshof für sich gegenüber solchen Sanktionen der Vertragsstaaten „besondere Wachsamkeit“ („the most careful scrutiny“) zum Schutz der Freiheit des Art. 10 EMRK in Anspruch und ist der „margin of appreciation“ der nationalen Behörden und Gerichte, die derartige Sanktionen verhängen, entsprechend beschränkt („narrow“).100 Im Fall Günerie u. a./Türkei101 bekräftigte der EGMR, dass Äußerungen den Schutz des Art. 10 EMRK selbst dann nicht verlieren, wenn sie dem Inhalt oder der Wortwahl nach in-

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EGMR, Urteil vom 01. 07. 1997, Nr. 20834/92, NJW 1999, 1321 (1322). So schon EGMR, Urteil vom 23. 4. 1992, Nr. 11798/85, Rn. 46 ff. (Castells/Spanien). 96 EGMR, Urteil vom 17. 12. 2004, Nr. 49017/99, Rn. 80 (Pedersen und Baadsgaard/ Dänemark); Urteil vom 29. 03. 2011, Nr. 38432/97, Rn. 47 (Thoma/Luxemburg); Urteil vom 07. 11. 2006, 12697/03, Rn. 27 (Mamere/Frankreich). 97 EGMR, Urteil vom 21. 01. 1999, Nr. 25716/94, Rn. 28 (Janowski/Polen): „they should expect criticism from citizens and must accept that it may sometimes be harsh or expressed in a strong form“. 98 EGMR, Urteil 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 74 (July und Sarl Lib¦ration/Frankreich). 99 EGMR, Urteil 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 67 (July und Sarl Lib¦ration/Frankreich); so auch schon Urteil vom 23. 09. 1994, Nr. 15890/89, Rn. 85 (Jersild/Dänemark); Urteil vom 20. 05. 1999, Nr. 21980/93, Rn. 64 (Bladet Tromsö und Stensaas/Norwegen). 100 EGMR, Urteil 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 67 (July und Sarl Lib¦ration/Frankreich). 101 EGMR Urteil vom 12. 07. 2005, Nr. 42853/98. 95

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akzeptabel sind.102 Geschützt bleiben jedenfalls auch „gewisse Übertreibungen und sogar Provokationen“.103 Vor diesem Hintergrund wird es darauf ankommen, wie die ungarische Vollzugspraxis den sehr pauschal gefassten Art. 17 Abs. 2 PFG – er verbietet jede Kränkung einzelner Personen – anwenden wird, insbesondere, ob in dieser Praxis die grundrechtlich vorgegebenen Differenzierungen für den Einzelfall zur Geltung gebracht werden. Die gesetzlichen Grundlagen als solche – auch Art. 17 PFG – für nationale straf-, zivil- oder ordnungsrechtliche Eingriffe müssen freilich eine derartige Ausdifferenzierung des Zumutbarkeitsmaßstabes je nachdem, inwieweit für die öffentliche Meinungsbildung besonders wesentliche Angelegenheiten („matters of legitimate public concern“) in Rede stehen oder Politiker oder Amtsträger betroffen sind, nicht schon in ihrer textlichen Fassung ausdrücken – das ist typischerweise im Recht der Äußerungsdelikte ja auch nicht der Fall. Zwar verlangt der Gesetzesvorbehalt des Art. 10 EMRK nicht nur überhaupt eine gesetzliche Grundlage, sondern stellt auch „qualitative Anforderungen“ an das Gesetz. Der Gerichtshof formuliert die damit angesprochenen Bestimmtheitsanforderungen aber – im Übrigen ganz ähnlich wie das BVerfG – behutsam und zurückhaltend; gefordert ist immer nur ein relativ auf die Umstände angemessenes Maß an Bestimmtheit, keineswegs ein möglichst hohes Bestimmtheitsmaß.104 Entscheidend ist danach, dass die Folgen, die eine bestimmte Handlung für die handelnden Personen haben kann, für diese „in einem nach den Umständen angemessenen Maß vorhersehbar“ sind.105 Vorhersehbar soll eine Norm insbesondere dann schon sein, wenn sie eine „gewisse Garantie gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt bietet“.106 Das ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die betroffene Person Rechtsrat in Anspruch nehmen muss, um die aus der Anwendung der Norm resultierenden Folgen abschätzen zu können. Besonders gelte das für Berufsangehörige, die daran gewöhnt seien, bei der Ausübung ihres Berufs große Vorsicht walten zu lassen, also namentlich hauptberufliche Journalisten.107

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„Aussi choquants et inacceptables que peuvent sembler certains points de vue ou termes utilis¦s aux yeux des autorit¦s, et aussi ill¦gitimes les exigences en question puissent-elles Þtre“, EGMR Urteil vom 12. 07. 2005, Nr. 42853/98, Rn. 76 (Guneri et autres/Turquie); Meyer-Ladewig (Fn. 44), Art. 10, Rn. 6. 103 EGMR, Urteil vom 26. 04. 1995, Nr. 15974/90, Rn. 38 (Prager und Oberschlick/Österreich); Urteil vom 29. 03. 2011, Nr. 38432/97, Rn. 47 f. (Thoma/Luxemburg); Urteil vom 06. 05. 2003, Nr. 48898/99, Rn. 39 (Perna/Italien). 104 EGMR, Urteil vom 26. 04. 1979, Nr. 6538/74, Rn. 49 (Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr. 1)): Ein Übermaß an Bestimmtheit „may bring in its train excessive rigidity and the law must be able to keep pace with changing circumstances“. 105 EGMR, Urteil vom 26. 04. 1979, Nr. 6538/74, Rn. 49 (Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr. 1)); Urteil vom 17. 02. 2004, Nr. 39748/98, Rn. 30 m.w.N. (Maestri/Italien). 106 EGMR, Urteil vom 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 50 (July und Sarl Lib¦ration/ Frankreich). 107 EGMR, Urteil vom 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 51 f. m.w.N. (July und Sarl Lib¦ration/Frankreich).

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Dass eine Norm durch die dazu berufenen Richter auslegungsbedürftig ist, spricht noch nicht gegen ihre hinreichende Bestimmtheit.108 Angesichts dieser abgewogenen Rechtsprechung empfiehlt sich doch eine gewisse Gelassenheit gegenüber den ungarischen gesetzlichen Content-Regelungen – was keineswegs ausschließt, die Anwendung dieser ja in der Tat sehr weit und offen gefassten Normen in der Vollzugspraxis genau und scharf zu beobachten. Hochfahrende Entrüstung erscheint vor allem auch aus deutscher Sicht, die einen für den Rundfunk erstaunlich weitreichenden, in der positiven edukatorischen Zielausrichtung der Rundfunkveranstaltung durchaus fragwürdigen, aber doch kaum noch in Frage gestellten Kranz von Programmpflichten und -grundsätzen (vor allem in den einzelnen Landesrundfunkgesetzen für den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk109) kennt, unangebracht. Das betrifft beim positive content namentlich die Verpflichtung auf die Ausgewogenheit der Berichterstattung, ein Attribut, das in der Rundfunkrechtsprechung des BVerfG seit jeher mit dem Normziel der Rundfunkgewährleistung konnotiert und verfassungsrechtlich daher nicht nur geduldet, sondern nachgerade gefordert wird110, ebenso auch in expliziter Deutlichkeit in einigen Mediengesetzen111. Die Ausgewogenheit des Programms steht als Gewährleistungsziel des Funktionsgrundrechts der Rundfunkfreiheit immer neben der Meinungsvielfalt, mit der sie thematisch zudem eng verbunden ist. Das BVerfG hat sogar gegen alle „Modellkonsistenz“-Forderungen die verfassungsrechtliche Möglichkeit betont – und bis heute jedenfalls nicht zurückgenommen, auch den privaten Rundfunk binnenpluralistischen Anforderungen (inhaltlich oder organisatorisch) zu unterwerfen, also die Vielfalts- und Ausgewogenheitsforderung nicht nur auf das gesamte Programmangebot aller Anbieter, sondern gegen den einzelnen Veranstalter zu richten.112 Man kann gegen eine solche prekäre Konsequenz des funktionalen Grundrechtsverständnisses der Rundfunkfreiheit Einwände formulieren113, sollte dies dann aber nicht nur und erst im Fall Ungarns tun, sondern sich immer fragen, wie

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EGMR, Urteil vom 14. 02. 2008, Nr. 20893/03, Rn. 56 (July und Sarl Lib¦ration/ Frankreich). 109 s. nur § 7, § 16 LMG Rh.-Pf. 110 BVerfGE 83, 238, Rn. 403 – WDR: „Denn angesichts der von den öffentlichrechtlichen Veranstaltern verlangten Ausgewogenheit müßte jede Verengung oder Einseitigkeit des privaten Sektors zu einer Unausgewogenheit des Gesamtangebots führen und würde so das Ziel von Art. 5 Abs. 1 GG verfehlen.“ 111 Z. B.: § 22 Abs. 1 und 2 LMG Rh.-Pf. 112 BVerfGE 57, 295 (325); 73, 118 (171); 83, 238 Rn. 457. 113 s. z. B. Cornils, Parteilicher Rundfunk? – Die politischen Parteien als Gegenstand und Faktor der Berichterstattung im Privatrundfunk, ZJS 2009, 465 (474 f.); s. auch grundsätzlich kritisch zur funktionalen Grundrechtssicht des BVerfG ders., Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 96 ff. Das ungarische Verfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 19. 12. 2011 (amtliche Nummer 165/2011) auch an den Ausgewogenheitsregelungen Anstoß genommen und Teile davon für verfassungswidrig erklärt, vgl. epd-Medien 51/52/2011, 23 sowie 2/2011, 19.

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es eigentlich mit der individuellen Medienfreiheit in der eigenen Medienrechtsordnung aussieht. 4. Quellenschutz Grundrechtlich notleidend scheint indessen – in Ungarn, aber vermutlich auch anderswo114 – der Quellenschutz. Er wird im ungarischen „Pressefreiheitsgesetz“ durch Verpflichtungen des Medienanbieters in schwer berechenbarer Weise eingeschränkt (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 PFG). Danach umfasst der Schutz der Vertraulichkeit journalistischer Quellen schon von vornherein nicht gesetzwidrig erlangte „qualifizierte Daten“ – was immer das genau ist, das Gesetz schweigt sich dazu aus. Darüber hinaus wird der Quellenschutz durchbrochen in „ausnahmsweise gerechtfertigten Fällen“ zum Schutz der „nationalen Sicherheit“, der „öffentlichen Ordnung“ oder zur Verfolgung oder Verhütung von Straftaten. In solchen Fällen dürfen „Gerichte oder Behörden“ – wer genau, sagt das Gesetz auch nicht – die Aufdeckung der Identität der Quelle verlangen. Diese Regelung scheint nun in der Tat mit den in der Rechtsprechung des EGMR etablierten hohen Standards des Quellenschutzes, der ein „Kernstück der Pressefreiheit“ ist115, unvereinbar. Namentlich im Fall Tillack, der ähnlich wie der vom BVerfG entschiedene Fall Cicero116 die strafprozessuale Durchsuchung sowie Beschlagnahmemaßnahmen bei einem Journalisten betraf, um auf diese mittelbare Weise eine „undichte Stelle“ im Beamtenapparat (hier des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung OLAF) aufzuspüren, hat der Gerichtshof sehr deutlich gemacht, dass das Recht der Presse, die Informationsquellen zu verschweigen, allenfalls durch besonders qualifizierte, nicht aber durch bloß „stichhaltige“ Rechtfertigungsgründe verhältnismäßig eingeschränkt werden kann.117 Der nur mehr „auf Gerüchten beruhende“ Verdacht einer strafbaren Handlung des Journalis114 Dass auch in Deutschland der Schutz der journalistischen Informationsquellen ein durch die informationshungrige Staatsmacht besonders gefährdetes Gut ist, hat die erst durch das BVerfG im Cicero-Urteil (BVerfGE 117, 244) in die Schranken gewiesene Praxis der Umgehung des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts und Durchsuchungs-/Beschlagnahmeverbots des Journalisten durch „Umwidmung“ desselben zum beschuldigten (sukzessive Beihilfe zum Geheimnisverrat) gezeigt; gegenwärtig wird ein Gesetzentwurf der Bundesregierung beraten (BT-Drucks. 17/3355), wonach die vom BVerfG inkriminierte Praxis durch Änderung sowohl des Prozessrechts (Beschlagnahmebefugnis nur bei dringendem Tatverdacht) als auch des materiellen Strafrechts (Straflosigkeit der Entgegennahme, Auswertung oder Veröffentlichung von Geheimnissen durch Journalisten) auch explizit gesetzlich ausgeschlossen werden soll. 115 s. insb. EGMR, Urteil vom 22. 11. 2007, Nr. 64752/01 (Voskuil); Urteil vom 27. 11. 2007, Nr. 20477/05, Rn. 53 (Tillack). Dies hat mittlerweile das ungarische Verfassungsgericht ebenso gesehen (s. o. Fn. 113) und teilweise die entsprechenden Offenlegungspflichten an die Meldebehörde für verfassungswidrig erklärt. Mit Inkrafttreten der neuen ungarischen Verfassung wurden nunmehr die nicht verfassungswidrigen Teile des Gesetzes in den Rang eines „Kapitelgesetzes“ erhoben, die nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden können (vgl. epd-Medien 2/2011, 3; s. auch epd-Medien 51/52/2011). 116 BVerfGE 117, 244. 117 EGMR, Urteil vom 27. 11. 2007, Nr. 20477/05, Rn. 53 (Tillack).

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ten reicht jedenfalls nicht aus, um Strafverfolgungsmaßnahmen zu rechtfertigen, die zu einer Aufdeckung von dessen Quellen führen, wenn diese das eigentliche Ziel der Maßnahmen ist – die Parallelen zum Cicero-Urteil des BVerfG sind offenkundig. Hinsichtlich dieser Formulierungskunst des ungarischen Gesetzgebers greift jetzt tatsächlich auch der Vorwurf eines Verstoßes gegen den Gesetzesvorbehalt: Die Begriffe der „nationalen Sicherheit“, „öffentlichen Ordnung“ sowie der „Strafverfolgung und Straftatenvorsorge“ – umfassend und ohne jede Begrenzung auf bestimmte schwere Straftaten – sind in der Tat viel zu weit, um die grundrechtlich notwendige Einschränkung dieser hochintensiven Eingriffe in die Medienfreiheit auf das unabdingbare Maß zu gewährleisten. 5. Zulassung von Rundfunkveranstaltern/ Zuordnung von Übertragungskapazitäten Besorgnis löst auch die jüngst bekannt gewordene ungarische Ausschreibungspraxis mit Blick auf den Fall KlubRadio aus. Wenn es zutrifft – diesen Vorbehalt muss man freilich als außenstehender Beobachter machen –, dass der ungarische Medienrat im Ausschreibungsverfahren für Rundfunkfrequenzen, gestützt auf die Art. 48 ff. MAG, die Möglichkeit hat, inhaltliche Ausschreibungskriterien im Vorhinein nach Gusto zu modellieren und damit missliebige Anbieter auszuschalten, ist das ein ebenso wirksamer wie bedenklicher Hebel der Programmbeeinflussung und der kaum versteckten Anbieter-Zensur. Tatsächlich sieht Art. 52 Abs. 2 lit. g MAG vor, dass der Medienrat in der Ausschreibung inhaltliche Programmvorstellungen vorgibt. Mit dieser Übertragung von in anderen Bereichen durchaus sinnvollen vergaberechtlichen Transparenzregeln (ex-ante-Festlegung inhaltlicher Auswahlkriterien) auf das Frequenzmanagement für den Rundfunk scheint das Potenzial geschaffen, der Medienaufsicht eine proaktive Anbieterauswahl- und Programmgestaltungskompetenz zu eröffnen, die über eine nur mehr reagierende, am Vielfaltsmaßstab orientierte Auswahlentscheidung in der Situation eines Überhangs von Bewerbern, wie sie auch das deutsche Frequenzzuweisungsrecht kennt118 offenbar hinausgeht. Ob diese Verbindung der Veranstalterzulassung mit einer inhaltlichen Programmgestaltung durch die Aufsicht noch mit Art. 10 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 EMRK vereinbar ist, erscheint in der Tat fragwürdig: Der EGMR hat die Versagung einer Lizenz immerhin als besonders scharfen Eingriff in die von Art. 10 EMRK gewährten Rechte identifiziert.119

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s. etwa § 30 Abs. 3 und 4 LMG Rh.-Pf. EGMR, Urteil vom 28. 03. 1990, Nr. 10890/84, EuGRZ 1990, 255 (Groppera Radio AG u. a./Schweiz); vgl. Meyer-Ladewig (Fn. 44), Art. 10, Rn. 37. 119

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VI. Schlussbemerkung Die sich in verschiedenen Staaten abzeichnenden, hier besonders am ungarischen Beispiel dargelegten Tendenzen eines wieder intensivierten regulatorischen Zugriffs auf die Medien bereiten aus einer rechtsstaatlich-liberalen ebenso wie aus der demokratischen Perspektive Unbehagen – Rechtsstaat und Demokratie wirken gerade in Hinsicht auf die Freiheit der Kommunikation weit mehr gleichgerichtet als gegenläufig, weil gerade diese Freiheit wie keine andere konstitutive Voraussetzung demokratischer Willensbildung ist. Das ungarische Beispiel zeigt freilich auch, dass nicht jede fragwürdige medienrechtliche Regelung schon den europäischen Grundrechtsschutz, der bis heute ganz wesentlich durch Art. 10 EMRK und den Gerichtshof in Straßburg, kaum jedoch durch die Unionsrechtsordnung bestimmt wird, herausfordert. Mehr und mehr schließt dieser Standard zwar zu vergleichsweise anspruchsvollen Schutzkonzepten in den insoweit fortgeschrittenen Grundrechtsordnungen der Vertragsstaaten auf; für die Medienfreiheit wird dies etwa an der Ergänzung des abwehrrechtlichen Grundschemas durch die positive Gewährleistungsfunktion des Mediengrundrechts sichtbar und zuletzt hinsichtlich der organisatorisch-institutionellen Staatsfreiheit eindrucksvoll durch das Urteil des Gerichtshofs im Fall Manole belegt. Gleichwohl bleiben den Staaten auch in der Medienregulierung erhebliche Spielräume und sollte der europaweite menschenrechtliche ordre commun nicht in die Avantgarde der europäischen Grundrechtsentwicklung treten, weder in den Techniken dogmatischer Verfeinerung noch in der inhaltlichen Schutzintensität. Eine Grundrechtsordnung für 47 Staaten mit hochgradig divergierenden Rechtskulturen, muss, will sie erfolgreich und respektiert bleiben, kluge Zurückhaltung in der Formulierung eines europäischen Grundrechtsstandards üben. Konzepte einer Rahmenordnung120 oder eines Auffangschutzes werden der Pluralität Europas eher gerecht als ein überspannter Anspruch nivellierender Letztentscheidung aller europäischen Freiheitsprobleme in Straßburg. Für die normativen Ordnungen der Presse, des Rundfunks und des Internet in den Konventionsstaaten folgen daraus erhebliche Korridore121 der Modellwahl und der institutionellen Ausgestaltung in den Vertragsstaaten. Auch die Anforderungen des Legalitätsprinzips für Grundrechtseingriffe müssen, dazu bekennt sich die Rechtsprechung des EGMR sehr klar, problemadäquat – und nicht übersteigert – auf die Umstände der jeweiligen Regelungssituation abgestimmt werden müssen. Die Schutzfunktion der Konvention bleibt auch bei dieser zurückhaltenderen Sicht wichtig genug: Staatliche Unterdrückung freier, auch kriti120

s. dazu Masing, Vielfalt nationalen Grundrechtsschutzes und die einheitliche Gewährleistung der EMRK, in: FS für Achim Krämer, 2009, S. 61 (69 ff.); ders., Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem – am Beispiel der Meinungsfreiheit, des Datenschutzes, des Rechtsschutzes gegen den Richter und bei Auslegungskonkurrenzen, EuGRZ 2011, 232 ff. 121 Lübbe-Wolff, Der Grundrechtsschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention bei konfligierenden Individualrechten. Plädoyer für eine Korridorlösung, in: Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht, Kolloquium 60. Geburtstag D. Murswiek, 2010, S. 193 ff.

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scher Berichterstattung durch strafrechtliche, aufsichtliche, arbeitsrechtliche, fiskalische oder organisatorische Mittel ist leider auch aus Europa noch keineswegs verschwunden und muss auf den entschiedenen Widerspruch der Hüter der Konvention stoßen, wenn denn die vertragsstaatliche Verfassungsordnung im Schutz der Meinungs- und Medienfreiheit so offenbar versagt. Das demokratische Dilemma, dass die Medien gerade um ihrer Fähigkeit, die informationellen Voraussetzungen der Demokratie zu gewährleisten, prinzipiell staatsfrei – d. h. aber gewissermaßen undemokratisch – reguliert werden müssen, lässt sich indes auch europarechtlich nicht ganz aufheben. Der demokratisch-grundrechtliche Kompromiss einer „halben Staatsfreiheit“, in den dieses Dilemma organisationsrechtlich wohl fast überall führt, kann, in welcher Gestalt auch immer, wohl nie ganz ausschließen, dass unter bestimmten politischen Bedingungen – etwa einer qualifizierten Parlamentsmehrheit der Regierung, die Proporzbindungen überwindet, aber ggf. auch schon bei verfestigten Parteiproporz-Strukturen als solchen – doch ein eigentlich inakzeptabler Staats- oder Regierungseinfluss auf die Medien stattfindet. Auch das aber ist durchaus kein exklusiv ungarisches Problem, sondern betrifft andere Medienordnungen in vergleichbarer Weise, nicht zuletzt auch die deutsche.

Der Gerichtshof der Europäischen Union im Verbund der Gerichtsbarkeiten in Europa Von Thomas von Danwitz

I. Einleitung Die Vermittlung der europäischen Dimension der Rechtsprechung sieht sich in jüngster Zeit mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Sorgen bereitet nicht die inhaltliche Kritik an einzelnen Urteilen des Gerichtshofes,1 die je nach Standpunkt ebenso berechtigt wie notwendig erscheinen mag, um die europäische Rechtsentwicklung insgesamt voranzubringen und namentlich die Qualitätsorientierung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu stärken. Problematisch erscheint vielmehr, dass man sich oftmals keine Mühe macht, die Rechtsprechung des Gerichtshofes genauer zu analysieren, und sich mit einer Diskussion um Vorverständnisse und Paradigmen beschäftigt, die mitunter ersichtlich nur dazu dienen, den Gerichtshof als die vertraglich eingerichtete Instanz zur verbindlichen Auslegung des Rechts der Union institutionell zu diskreditieren und das Vertrauen in die Unvoreingenommenheit seiner Rechtsprechung in Zweifel zu ziehen.2 Angesichts der nunmehr nahezu 60-jährigen Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofes, in der die Mitgliedstaaten die grundlegenden Urteile des Gerichtshofes in den 1960er Jahren3 ebenso vorbehaltlos akzeptiert haben wie die Entscheidungen aus den 1970er Jahren,4 welche die Integration qualitativ auf eine neue Ebene gehoben haben, und sogar, nach einem gewissen Zögern von deutscher Seite,5 auch den richterrechtlichen Ausbau der gemeinschafts1 Siehe dazu aktuell die Kritik an EuGH, verb. Rs. C-65/09 und C-87/09, Urteil vom 16. 06. 2011 (n.n.i.Slg.), EWS 2011, 341 ff. (Gebr. Weber); Büdenbender/Binder, Der Umfang des kaufrechtlichen Nacherfüllungsanspruchs nach § 439 BGB im Licht der EuGH-Rechtsprechung zu Aus- und Einbaukosten, DB 2011, 1736 ff.; Lorenz, Ein- und Ausbauverpflichtung des Verkäufers bei kaufrechtlicher Nacherfüllung – ein Paukenschlag aus Luxemburg und seine Folgen, NJW 2011, 2241 ff.; Purnhagen, Zur Auslegung der Nacherfüllungsverpflichtung – Ein Paukenschlag aus Luxemburg, EuZW 2011, 626 ff.; Schulte-Nölke, Der EuGH gestaltete das Kaufrecht radikal um, ZGS 2011, 289. 2 Siehe statt aller Herzog/Gerken, Stoppt den EuGH, FAZ, 08. 09. 2008, S. 8. 3 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos); Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa/ E.N.E.L.). 4 EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263 (AETR); Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (Simmenthal); Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (Cassis de Dijon). 5 Siehe das Vorbringen der Bundesregierung in der Rs. Brasserie du Pecheur, EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 24 (Brasserie du Pecheur), wonach der Gerichtshof die Grenzen der richterrechtlichen Rechtsfortbildung überschritten habe.

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rechtlichen Sanktionsbefugnisse in den 1990er Jahren hingenommen haben,6 erscheint es heute, als werde solche Kritik ohne hinreichenden Anlass erhoben. Denn gegenüber diesen prätorischen Rechtsfortbildungen hat die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofes nichts vergleichbar Spektakuläres zu bieten. Auch in der Sache scheint es, als seien die Versuche einer institutionellen Delegitimation des Gerichtshofes nicht zu Ende gedacht, wie die Diskussion um die Schaffung eines Kompetenzgerichtes7 gezeigt hat. Denn ohne eine Institution, welche die einheitliche Auslegung und Anwendung des Rechts der Union in der Praxis zu gewährleisten vermag, kann die Europäische Union nicht in der Form der supranationalen Rechtsgemeinschaft fortbestehen, in der sie vertraglich verfasst worden ist. Dass diese Verankerung der Herrschaft des Rechts in Europa auf das Intensivste mit dem Gründungsauftrag der Europäischen Gemeinschaften in der Nachkriegszeit verbunden ist, den Frieden in Europa zu sichern, ist ebenso selbstverständlich wie eine Verpflichtung gerade der Deutschen, für die Herrschaft des Rechts in der Europäischen Union einzutreten. Daher verlohnt es, den Bedingungen nachzugehen, unter denen sich die Rechtsprechung in der Europäischen Union verwirklicht, bevor auf die drei grundlegenden Aspekte von Dialog, Kooperation und Akzeptanz eingegangen werden kann, die den erstrebten Verbund der Gerichtsbarkeiten in Europa erst ermöglichen.

II. Der Beitrag des Gerichtshofes der EU zur europäischen Rechtsgemeinschaft Dass auch der Gerichtshof als zentrales Rechtsprechungsorgan in diesem Verbund zu einem der Kristallisationspunkte der tendenziell euroskeptischen Tonlage geworden ist, die seit geraumer Zeit in der europapolitischen Diskussion vorherrscht, erscheint nicht verwunderlich, zeigen doch oftmals erst seine Urteile die ganze Tragweite der bewirkten Integration und damit korrespondierend der Öffnung der deutschen Rechtsordnung für das Unionsrecht auf, die in den verschachtelten Formulierungen so mancher Rechtsakte auf diplomatisch meisterhafte Weise verschleiert ge-

6 EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pecheur); Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 (Köbler); Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177 (Traghetti). 7 Für die Schaffung eines solchen Gerichts plädieren Friedrich, Bundesfinanzhof contra Europäischer Gerichtshof, RIW 1985, 794 (795 f.); Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwArch 92 (2001), 425 (429); Di Fabio, Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich?, FAZ, 02. 02. 2011, S. 8; ablehnend jedoch Reich, Brauchen wir eine Diskussion um ein Europäisches Kompetenzgericht?, EuZW 2002, 257; Everling, Quis custodiet custodes ipsos? Zur Diskussion über die Kompetenzordnung der Europäischen Union und ein europäisches Kompetenzgericht, EuZW 2002, 357 (360 ff.); Koenig/Lorz, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, JZ 2003, 167 (172).

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blieben war.8 Daher erinnert diese Kritik unweigerlich an die Ablehnung fremder Richter, welche die Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft im Jahre 1291 geprägt hat9 und im modernen Rechtsdenken bis heute in vielfältiger Weise fortwirkt. So unbestreitbar der unauflösbare Sinnzusammenhang von demokratischer Selbstbestimmung, Gesetzesbindung der öffentlichen Gewalt und bürgerschaftlicher Anerkennung der rechtsprechenden Gewalt den neuzeitlichen Verfassungsstaat grundlegend geformt hat, so wenig erscheint dieses Axiom des demokratischen Verfassungsstaates geeignet, Vorbehalte oder gar Legitimitätszweifel am Mandat des Gerichtshofes und seiner Rechtsprechung begründen zu können. Denn die Rechtsprechungsaufgabe des Gerichtshofes ist darauf beschränkt, die Auslegung und Anwendung des Rechts der Union einheitlich zu gestalten.10 Sie ermöglicht es jedoch nicht, die Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten jenseits der Kompetenzgrenzen der Union einer Vereinheitlichung zu unterziehen.11 1. Gewährleistung der Rechtseinheit in der EU Die Gewährleistung der Rechtseinheit in der Union bildet seit jeher die eigentliche raison dÏÞtre des Gerichtshofes und gehört zweifelsohne zu den Grundpfeilern, auf denen die Verfassung der Union als Rechtsgemeinschaft beruht. So klar dieser Zusammenhang in abstracto gesichert erscheint, so sehr ist Anlass zur Wachsamkeit geboten, solange die Wahrnehmung dieser Aufgabe in concreto in Zweifel gezogen wird. Mit Blick auf die Charta der Grundrechte geht es in dieser Hinsicht namentlich darum, das Mandat des Gerichtshofes zur Kontrolle über die Gültigkeit des abgeleiteten Unionsrechts als maßgebliche Voraussetzung für die Gewährleistung seiner einheitlichen Geltung ebenso anzuerkennen wie die Notwendigkeit, dass eine grundrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts aus Gründen der einheitlichen Geltung nur anhand des europäischen Grundrechtsstandards der Charta zu bestimmen ist. Zugleich hat der Gerichtshof die Gefahren erkannt, die mit übersteigerten Einheitlichkeitsanforderungen einhergehen. Seine Urteile in den Rechtssachen Omega12 8 Bspw. EuGH, Rs. C-446/08, Urteil vom 29. 04. 2010 (n.n.i.Slg.), EuZW 2010, 506 ff. (Solgar). 9 In der Gründungsurkunde (Bundesbrief) der Alten Eidgenossenschaft von 1291 heißt es „Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landmann ist, annehmen sollen.“ Quelle: Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Abt. 1, Urkunden Bd., 1 Aarau 1933, abzurufen über die Homepage der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 10 Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV. 11 EuGH, Rs. C-400/10 PPU, Urteil vom 05. 10. 2010 (n.n.i.Slg.), EuGRZ 2010, 741 (J. McB.); verb. Rs. C-483/09 und C-1/10, Urteil vom 15. 09. 2011 (n.n.i.Slg.) (Gueye); Rs. C-256/11, Urteil von 15. 11. 2011 (n.n.i.Slg.), NVwZ 2012, 97 ff. (Dereci). 12 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega).

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und Sayn-Wittgenstein13 sind daher zum Synonym für eine Bestimmung der europäisch notwendigen Rechtseinheit mit Augenmaß geworden, die ganz im Sinne einer rule of reason14 zu verstehen ist. Auch in der jüngsten Entscheidung Mesopotamia Broadcast und Roj TV15 hat der Gerichtshof den Schutz der deutschen Verfassungsidentität schließlich ebenso unspektakulär wie effektiv betrieben, indem er den Integrationsanspruch der sog. Rundfunkrichtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“16 in Bezug auf die öffentliche Sicherheit entsprechend restriktiv gefasst hat. Es steht daher einstweilen nicht zu befürchten, dass extremistische Vereinigungen ihre Propagandatätigkeit unter dem Schutz der Verpflichtung dieser Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung in Mitgliedstaaten verlegen, die mit der Meinungsfreiheit denkbar großzügig umgehen. 2. Subsidiarität Ohne auf symbolträchtige Proklamationen zu setzen, hat der Gerichtshof den Rechtsprechungsdialog im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens bereits seit einiger Zeit um Elemente angereichert, die von den leitmotivischen Vorstellungen der Kooperation und der Subsidiarität nachhaltig geprägt sind und so einen wichtigen Beitrag zur Etablierung eines Verbundes der Gerichtsbarkeiten in Europa leisten. Zunächst sei auf die Gesichtspunkte hingewiesen, die von kluger Konzentration des Gerichtshofes auf die essentialia seiner Rechtsprechungsaufgabe zeugen und demzufolge eine subsidiaritätsorientierte Selbstbeschränkung erkennen lassen. Diese Selbstbeschränkung des Gerichtshofes greift namentlich für Fragen der Sachverhaltsfeststellung ein, die der ausschließlichen Zuständigkeit der nationalen Gerichte unterfallen.17 Demzufolge ist der Gerichtshof an entsprechende Feststellungen gebunden, wie sie sich aus dem Vorlagebeschluss ergeben. Nur in Ausnahmefällen sieht er sich, um eine zutreffende Anwendung des Unionsrechtes zu gewährleisten, zu klarstellenden Aussagen in Bezug auf die Würdigung von Tatsachen veranlasst.18 Demgegenüber ist die Zuständigkeit des Gerichtshofes entsprechend seiner Aufga13

EuGH, Rs. C-208/09, Urteil vom 22. 10. 2010 (n.n.i.Slg.), EuGRZ 2011, 25 ff. (SaynWittgenstein). 14 Der Begriff der rule of reason entstammt dem amerikanischen Kartellrecht, siehe dazu ausführlich Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EGV und die rule of reason, 1997, S. 11 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2 – Europäisches Kartellrecht, 2006, S. 27 f.; Fritzsche, „Notwendige“ Wettbewerbsbeschränkungen und Art. 85 EGV, ZHR 160 (1996), 31 (47 ff.); Reymann, Immanente Schranken des europäischen Kartellverbots, 2004, S. 217 ff. 15 EuGH, verb. Rs. C-244/10 und C-245/10, Urteil vom 22. 09. 2011 (n.n.i.Slg.) (Mesopotamia Broadcast und Roj TV). 16 Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 03. 10. 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl.EG Nr. L 298/23) in der durch die Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 (ABl.EG Nr. L 202/60) geänderten Fassung. 17 EuGH, Rs. C-167/94, Slg. 1995, I-1023, Rn. 9 (Grau Gmois); Rs. C-326/96, Slg. 1998, I-7835, Rn. 26 (Levez); Rs. C-438/06, Slg. 2007, I-69, Rn. 8 ff. (Greser). 18 EuGH, Rs. C-464/10, Urteil vom 14. 07. 2011 (n.n.i.Slg.), Rn. 40 f. m.w.N. (Henfling).

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benstellung auf die Auslegung des Unionsrechts beschränkt.19 Im Hinblick auf die der Auslegung des Unionsrechts nachfolgende Anwendung der ausgelegten Norm auf den streitgegenständlichen Sachverhalt greift erneut die aus der Herrschaft über den Sachverhalt resultierende Verantwortung der mitgliedstaatlichen Gerichte für die verfahrensabschließende Entscheidung ein.20 Dementsprechend ist auch die Anwendung des ausgelegten Unionsrechts regelmäßig eine dem mitgliedstaatlichen Gericht verbleibende Entscheidung. Allerdings liegen die Dinge anders, wenn das vorlegende Gericht die zur Beurteilung maßgeblichen Sachverhaltselemente in der Vorlage im Einzelnen aufführt und diese zugleich zum Gegenstand der Vorlagefrage macht. Soweit der Gerichtshof sich aufgrund der ihm mitgeteilten Umstände in der Lage sieht, die erforderliche Rechtsanwendung vorzunehmen, zieht er in der Regel entsprechende Schlussfolgerungen.21 Noch stärker wird die Selbstbeschränkung des Gerichtshofes in Konstellationen deutlich, in denen die Rechtsanwendung auf mittlerer Abstraktionsebene verharrt und er darauf verzichtet, dem Vorlagegericht eine auf Einzelheiten des Sachverhaltes gemünzte Rechtsauslegung zu präsentieren, die dieses nur noch nachzuvollziehen hätte. So ist der Gerichtshof namentlich bei der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das Spannungsverhältnis zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten vorgegangen22 und hat den Vorlagegerichten insbesondere in den zur Tarifautonomie ergangenen Urteilen einen erheblichen Raum für die Anwendung der europarechtlichen Vorgaben belassen.23 Damit wird insgesamt ein Selbstverständnis des Gerichtshofes von seiner Rechtsprechungsaufgabe deutlich, nach dem er sich zwar als Hüter des Unionsrechtes sieht, nicht aber als zentrale Instanz zur abschließenden Fallentscheidung.24 Jedenfalls bestand für den Gerichtshof bis dato keine Veranlassung, an dem in die mitgliedstaatlichen Gerichte gesetzten Vertrauen zu zweifeln und eine Kursänderung zu erwägen.

19

Gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV. EuGH, Rs. 222/78, Slg. 1979, 1163, Rn. 10 ff. (ICAP); Rs. C-67/91, Slg. 1992, I-1485, Rn. 25 (DGDC); Rs. C-102/91, Slg. 1992, I-4341, Rn. 18 (Knoch); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 59 (Bosman); Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2001, Rn. 38 (Preussen Elektra); Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-1529, Rn. 24 (Arduino); st. Rspr. 21 EuGH, Rs. C-41/04, Slg. 2005, I-9433, Rn. 17, 24 ff. (Levob Verzekeringen und OV Bank); Rs. C-111/05, Slg. 2007, I-2697, Rn. 20 ff. (Aktiebolaget NN); Rs. C-461/08, Slg. 2009, I-11079, Rn. 30 ff. (Don Bosco Onroerend Goed). 22 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger); Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega); Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (Viking); Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 (Laval). 23 Siehe von Danwitz, Grundfreiheiten und Kollektivautonomie, EuZA 2010, 6 ff. 24 Siehe dazu auch Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl., 2011, S. 369. 20

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3. Verfahrensinitiative, Verfahrensherrschaft und Aktivismus Allerdings bedingt die Behandlung des engen Kooperationsverhältnisses, das zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten besteht, auch eine Stellungnahme zu dem Vorwurf des richterlichen Aktivismus, der dem Gerichtshof mit schöner Regelmäßigkeit gemacht wird.25 Statt die Rechtsprechung einer Kritik in sachlicher Hinsicht zu unterziehen und dem Gerichtshof Gelegenheit zu geben, seine Rechtsprechung zu überdenken, zielt namentlich diese Kritik darauf ab, die institutionelle Legitimation des Gerichtshofes und seiner Rechtsprechung in Zweifel zu ziehen. Vorab ist zu bemerken, dass das Gros seiner Rechtsprechung der bloßen Auslegung des Unionsrechts dient, sich keineswegs durch methodisch gewagte Rechtsfortbildungen auszeichnet und namentlich keine stetige Erweiterung von Unionskompetenzen erstrebt.26 Der auch gegenüber Verfassungs- und Höchstgerichten auf innerstaatlicher Ebene erhobene Vorwurf des Aktivismus scheint mir gegenüber dem Gerichtshof durchaus unzutreffend. So verfügt der Gerichtshof über keine Zulassungs- oder Auswahlverfahren, die es ermöglichen würden, eine integrationsbezogene Agenda zu entwickeln. Allerdings ist anzumerken, dass dem Gerichtshof immer wieder Verfahren, vor allem im Rahmen der Vorabentscheidung, vorgelegt werden, die als „test case“ erscheinen, um eine Rechtsprechungsentwicklung einzuleiten, zu verstetigen oder zu begrenzen. Legitime Erkenntnisinteressen und die ernst zu nehmende Sorge um das Unionsrecht lassen sich mitunter nur schwer von einer Instrumentalisierung des Gerichtshofes für ein bestimmtes Sachergebnis unterscheiden. Insbesondere aus diesem Grund ist an die Verantwortung namentlich der mitgliedstaatlichen Instanzgerichte zu appellieren. Im Übrigen dürfte sich dieses Spiel über die Luxemburger Bande in Grenzen halten lassen, soweit manchen Instanzgerichten durch eine umsichtige, die Problematik der neueren Rechtsentwicklung in ihrem Bereich ausschöpfende Vorlagepraxis der Bundesgerichte der Wind aus den Segeln genommen wird.

III. Dialog und Kooperation mit den Gerichten der Mitgliedstaaten Bereits diese wenigen Bemerkungen zeigen, dass der richterliche Dialog, den der Vertrag im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens begründet hat, nicht ohne Grund als „Königsweg“ zum Gerichtshof charakterisiert worden ist.27 Das Vorlagegericht unterbreitet dem Gerichtshof die europarechtliche Fragestellung, die es in einem be25

Siehe dazu wiederum Herzog/Gerken (Fn. 2), S. 8. So aber bspw. die Kritik von Folz, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, in: Fastenrath/Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 65 (73 ff.). 27 Siehe von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 128 f. 26

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stimmten Fall als entscheidungserheblich ansieht, während dieser sich auf die Beantwortung der Fragestellung konzentrieren kann. Die mit dieser Aufgabenverteilung korrespondierende Verantwortungsteilung erklärt namentlich, dass das Verfahren der Vorabentscheidung eine spezifische Prägung aufweist, die sich einem Vergleich mit innerstaatlichen Verfahren entzieht. Ungleich wichtiger als die spezifische Prägung dieses Verfahrens ist es indes, die konkrete Bedeutung zu erkennen, welche mit der Verantwortungsverteilung einhergeht, die den richterlichen Dialog kennzeichnet und den Verbund der Gerichtsbarkeiten in Europa ermöglicht. 1. Strukturfragen Die Struktur des Vorabentscheidungsverfahrens ist ebenso einfach wie nachvollziehbar als ein Zwischenverfahren der richterlichen Kooperation in den Verträgen angelegt.28 Dementsprechend sind dem Verfahren jegliche Elemente fremd, die auf eine Hierarchie hindeuten würden oder an einen nationalen Instanzenzug erinnern könnten. Es geht vielmehr darum, ein arbeitsteiliges Zusammenwirken im Sinne wechselseitiger Loyalität zu verwirklichen. Dies erklärt zunächst die große Zurückhaltung des Gerichtshofes gegenüber der Tatsachenwürdigung und der Auslegung des nationalen Rechts, die der Gerichtshof dem Vorabentscheidungsersuchen tel quel entnimmt, ohne sie in Frage zu stellen.29 Überdies erachtet es der Gerichtshof als nobile officium, auf die zur Auslegung des Unionsrechtes oder allgemein zur Entscheidung der aufgeworfenen Rechtsfrage vom Vorlagegericht angeführten Argumente oder Entscheidungsgesichtspunkte einzugehen, soweit dies dem Gerichtshof als der Sache dienlich oder sinnvoll erscheint, um die Akzeptanz seiner Entscheidung zu fördern. 2. Dialog und Kooperation der Gerichte in Europa Dementsprechend hat es sich bei den deutschen Fachgerichten bereits seit geraumer Zeit herumgesprochen, dass die „Erfolgswahrscheinlichkeit“ einer Vorlage, wie immer man sie bemessen mag, im Wege der Vorabentscheidung ungleich größer ist als bei der Richtervorlage nach Art. 100 GG. Dass dies dem unterschiedlichen Verfahrensgegenstand geschuldet ist und nicht vom Gutdünken der beteiligten Gerichte abhängt, entspricht indes noch nicht dem Stand gesicherter Rechtserkenntnis. Aus Sicht des Gerichtshofes ist noch schwieriger zu beurteilen, welche Folgerungen die beteiligten Gerichte und insbesondere die Instanzgerichte aus der spezifischen Prägung des Vorabentscheidungsverfahrens ziehen, um ihre Rolle mit Leben zu erfüllen und namentlich der Initiativlast zu entsprechen, die sie trifft. Vor allem aber 28

Siehe zur Struktur des Vorabentscheidungsverfahrens Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. II, P II (Stand: 2011), Rn. 25 ff.; ders., Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl., 1995, S. 43 ff.; Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl., 2004, S. 1 ff. 29 Siehe dazu oben unter Punkt II.2.

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bleibt für den Gerichtshof regelmäßig offen, ob sich die Vorlagegerichte ihrer besonderen Verantwortung wohl bewusst sind, die sie bei der Einleitung des Verfahrens, insbesondere bei der Abfassung eines Vorabentscheidungsersuchens und schließlich bei der Wahrnehmung ihrer abschließenden Entscheidungsverantwortung trifft. Denn die das Vorabentscheidungsverfahren prägende Grundeinstellung des Gerichtshofs zur richterlichen Kooperation mag im innerstaatlichen Rechtsraum als vertrauensselig oder gar als naiv erscheinen, erklärt sich aber im europäischen Verbund der Gerichtsbarkeiten, den der Vertrag namentlich mit dem Vorabentscheidungsverfahren bereitgestellt hat, mit dem besonderen Respekt, den die Gerichtsbarkeiten einander wechselseitig schulden. Daher sei daran erinnert, dass die allgemeine Verpflichtung von Union und Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit auch für die am Vorabentscheidungsverfahren beteiligten Gerichte gilt, die sich also gegenseitig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen haben.30 Die Schilderung des Sachverhaltes, die Darlegung des innerstaatlichen Rechts, in den die entscheidungserhebliche Unionsrechtsfrage eingebettet ist, die konkrete Formulierung der Vorlagefrage und die rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Vorlagegerichts zu ihrer Beantwortung beitragen, sollten daher in einer Weise erfolgen, die es dem Gerichtshof ermöglicht, die „eigentliche“ Fragestellung zu erkennen und auf rechtliche Einwände gegen die eine oder andere Lösung sinnvoll einzugehen.31 3. Problematische Konstellationen Für die aus Deutschland stammenden Vorlageverfahren weist die Gesamtbilanz einen durchweg positiven Saldo auf. Vor allem die Ersuchen der Bundesgerichte sind im Hause wegen ihrer besonderen Qualität geschätzt. Daher sollen die nachfolgenden Bemerkungen nicht als Kritik an der Vorlagepraxis deutscher Gerichte verstanden werden, sondern als Hinweis darauf, dass auch deutsche Gerichte den Versuchungen nicht immer widerstehen können, die ein so offen gestaltetes Verfahren zwangsläufig beinhaltet. Aus der Perspektive des Unionsrechtes beansprucht manches Verfahren die richterliche Kooperation in besonderem Maße, wenn Ersuchen die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht von nationalen Rechtsvorschriften betreffen, die bereits außer Kraft getreten sind,32 oder die aufgeworfene Unionsrechtsfrage sich nur noch im Rahmen der zu treffenden Kostenentscheidung stellt.33 Während es sich dabei zum Glück um 30 Siehe die zur Vorgängervorschrift von Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV ergangene Rechtsprechung: EuGH, Rs. C-343/90, Slg. 1992, I-4673, Rn. 14 (LourenÅo Dias); Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Rn. 32 (Marks & Spencer); Rs. C-448/01, Slg. 2003, I-14527, Rn. 77 (EVN); Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10115, Rn. 42 ff. (Inspire Art). 31 Siehe dazu bereits von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten, ZRP 2010, 143 (145). 32 EuGH, Rs. C-284/06, Slg. 2008, I-4571 (Burda). 33 EuGH, Rs. C-336/08, Urteil vom 14. 10. 2010 (n.n.i.Slg.) (Reinke).

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Ausnahmeerscheinungen handelt, ist eine unzureichende bzw. verbesserungsbedürftige Darstellung des innerstaatlichen Rechts ein nicht selten anzutreffendes Phänomen. Es scheint oftmals, als würden die Vorlagegerichte Kenntnisse des innerstaatlichen Rechts stillschweigend unterstellen, obwohl ein deutscher Richter an den Verfahren in aller Regel nicht beteiligt ist. Dass eine solche Vorgehensweise für die Plausibilität der nationalen Rechtslage fatal sein kann, leuchtet nicht nur in komplexen Rechtsmaterien wie dem Körperschaftsteuerrecht ein.34 Insbesondere wenn es darum geht, ob das nationale Recht den Umsetzungserfordernissen entspricht, erscheint es geradezu selbstverständlich, dass das Vorlagegericht objektiv alle Aspekte im Einzelnen zu schildern hat, die insoweit relevant sein können. Unterlässt ein Vorlagegericht eine solche Darstellung, darf es nicht verwundern, wenn die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Auch die gegenteilige Vorgehensweise ist in der Vorlagepraxis anzutreffen, indem Vorlagefragen möglichst abstrakt gestellt werden und Erwägungen in die Begründung Eingang finden, die weit über den zu entscheidenden Fall hinausweisen, und dem Gerichtshof auf diese Weise gleichsam die Erstattung eines Rechtsgutachtens nahegelegt wird. Einer solchen Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens hat sich der Gerichtshof indes bereits eindeutig versagt.35 Schließlich ist es zu Vorlagen in Verfahren gekommen, in denen die Rechtserheblichkeit einer instanzgerichtlichen Vorlagefrage nur um den Preis einer Auslegung des nationalen Rechts angenommen werden konnte, die der gefestigten höchstrichterlichen Fachrechtsprechung zuwiderlief. Solche Fälle zeigen, dass es unerlässlich ist, dem Gerichtshof das nationale Recht in einer objektiv abgewogenen Weise zu schildern und ihm keine letztlich einseitige Sicht der Dinge zu unterbreiten.36 Damit wird deutlich, wie wichtig es ist, die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage stets zu prüfen. Nur so kann vermieden werden, dass der Gerichtshof der einen oder anderen Versuchung erliegt, die in solchen, eigentlich unzulässigen Ersuchen verborgen ist. Bei aller Kritik ist indes zu bedenken, dass derartige Probleme letztlich in der Sphäre der Vorlagegerichte wurzeln und nicht in der des Gerichtshofes. 4. Verantwortung der mitgliedstaatlichen Gerichte Obwohl es sich bei den vorstehend genannten Problemen, zumal in der Vorlagepraxis deutscher Gerichte, um echte „Ausreißer“ handelt, die das positive Gesamt34

EuGH, Rs. 284/06, Slg. 2008, I-4571 (Burda). EuGH, Rs. 104/79, Slg. 1980, 745, Rn. 10 ff. (Foglia I); Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (Foglia II); Rs. C-149/82, Slg. 1983, 171, Ls. 3 (Robards); verb. Rs. C-297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 40 (Dzodzi); Rs. C-83/91, Slg. 1992, I-4919, Rn. 25 ff. (Meilicke); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 61 (Bosman); Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9921, Rn. 36 (Mangold); Rs. C-13/05, Slg. 2006, I-6467, Rn. 33 (Chacýn Navas); verb. Rs. C-188/10 und C-189/10, Urteil vom 22. 06. 2010 (n.n.i.Slg.), Rn. 27 (Melki und Abdeli); Rs. C-310/10, Urteil vom 07. 07. 2011 (n.n.i.Slg.), Rn. 27 (Agifat¸ei). 36 Wiederum von Danwitz (Fn. 31), 143 (145). 35

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bild nicht oder nur unwesentlich einzutrüben vermögen, so sind sie doch Anlass genug, an die besondere Verantwortung zu erinnern, die namentlich die Instanzgerichte trifft, wenn sie sich am richterlichen Dialog des Vorabentscheidungsverfahrens beteiligen.37 Die quasi erga-omnes-Wirkung, die den Vorabentscheidungsurteilen des Gerichtshofes zukommt,38 sollte den Vorlagerichter veranlassen, dem Gerichtshof eindeutige Sachverhaltsfeststellungen und ebenso klare Rechtsausführungen vorzulegen, die ihrerseits nicht erneut Anlass zur Kontroverse vor dem Gerichtshof bieten. Und schließlich sollte ein Gericht mit seinem Ersuchen nicht das Ziel verfolgen, sich als institutionelles Pendant zum Gerichtshof zu positionieren, um auf diese Weise Grundsatzfragen der Integration einer Klärung zuzuführen. Vielmehr sollten Ersuchen stets im bescheidenen Dienst einer Rechtsfindung erfolgen, die von der Rechtserheblichkeit im Einzelfall angeleitet und umgrenzt wird, und sich so stets auf die Klärung der Unionsrechtsfragen beschränken, die zur Entscheidung des anhängigen Verfahrens erforderlich sind. Derart konzipierte Vorlagen ermöglichen es dem Gerichtshof namentlich, seinerseits die Bescheidenheit einer Auslegung des Unionsrechts zu pflegen, die durch die Entscheidungserheblichkeit für den Ausgangsrechtsstreit bestimmt und begrenzt ist. In größerem Zusammenhang ist schließlich festzuhalten, dass eine derartige Wahrnehmung der besonderen Verantwortung, die den nationalen Vorlagegerichten nach dem Vertrag zukommt, jeder erneuten Diskussion über eine Beschränkung der Vorlagebefugnisse auf die Verpflichtung letztinstanzlicher Gerichte zur Vorlage39 oder über die Schaffung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs gegen Vorlageentscheidungen wegen mangelnder Erheblichkeit40 die Grundlage entziehen würde.

IV. Akzeptanz Neben den Erfordernissen von Dialog und Kooperation liegt das zentrale Element des Verbundes der Gerichtsbarkeiten in Europa in der Akzeptanz. Es liegt auf der Hand, dass eine supranationale Gerichtsbarkeit wie der Gerichtshof in besonderem Maße darum bemüht sein muss, dass seine Rechtsprechung auf die Akzeptanz der Rechtsgemeinschaft trifft, in deren Dienste er tätig wird. Es ist jedoch ebenso selbstverständlich, dass die Notwendigkeit der Akzeptanz nicht daran gemessen werden kann, ob die dem Unionsrecht unterworfenen Bürger, Unternehmen oder Mitglied37

Insbesondere die deutschen Instanzgerichte sind besonders vorlagefreudig; von den bisher 1802 deutschen Vorlageersuchen stammen nur 603 von den obersten Bundesgerichten, siehe Europäischer Gerichtshof (Hrsg.), Jahresbericht 2010, 2011, S. 111. 38 EuGH, verb. Rs. 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 63 (81) (Da Costa u. a.); Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191, Rn. 13 (International Chemical); Rs. 238/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 21 (C.I.L.F.I.T). 39 Siehe Lenz, Firnis oder Rechtsgemeinschaft – Einschränkung des Vorlagerechts nach Art. 177 EWGV auf letztinstanzliche Gerichte?, NJW 1993, 664 f. 40 Entsprechend § 99 Abs. 2 FGO.

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staaten sich mit den Entscheidungen des Gerichtshofes einverstanden erklären oder ihre Interessen hinreichend berücksichtigt sehen. Interessenbezogene Zufriedenheit kann auch unter den Vorzeichen der europäischen Integration kein Maßstab für die Güte einer Rechtsprechung sein. Recht ist auch in der Europäischen Union selbstverständlich nicht primär das, was die Akteure zufrieden stellt. 1. Voraussetzungen für Akzeptanz Das Erfordernis der Akzeptanz bezieht sich dementsprechend nicht auf die konkreten Ergebnisse der Rechtsprechung in einem Einzelfall, sondern auf strukturelle und methodische Grundfragen, die das Erkenntnisverfahren des Gerichtshofes kennzeichnen und seine Rechtsgewinnungsmethoden verbürgen. Nach 60 Jahren Integrationsgeschichte genügt es nicht, den Gerichtshof auf seine Rolle als supranationale Streitschlichtungs- und Entscheidungsinstanz reduzieren zu wollen.41 Vielmehr bedarf die Akzeptanz der erheblichen Verpflichtungen, die für die Mitgliedstaaten aus der europäischen Rechtsgemeinschaft resultieren und in ihren jeweiligen Rechtsordnungen tiefgreifende Veränderungen bewirken können, einer Vermittlung im Dialog anhand von richterlichen Begründungen und Erklärungen, die den Richterspruch nicht als autoritäre Machtausübung erscheinen lässt, sondern auf die längerfristige Überzeugung der dem Unionsrecht Unterworfenen setzt. Konkret gehört dazu allem voran die Bereitschaft des Gerichtshofes, alle rechtserheblichen Argumente zu behandeln, die ihm vorgetragen worden sind, und vor allem die Gründe seiner Entscheidung im Einzelnen offenzulegen. In Ermangelung einer Möglichkeit zur Erstattung abweichender Voten42 schafft der Gerichtshof auf diese Weise die notwendige Transparenz seiner Entscheidungen und setzt sich selbst der fachlichen Kritik aus. Nur ein solch diskursiver Urteils- und Entscheidungsstil43 ermöglicht es dem Gerichtshof, eine rationale Überzeugung der Rechtsunterworfenen zu erzielen, auch wenn diese ihren Eigeninteressen im Einzelfall zuwider laufen sollte. Für die Akzeptanz der Rechtsprechung des Gerichtshofes in der supranationalen Rechtsordnung der Europäischen Union gilt daher mutatis mutandis die von Max Huber in seiner Inauguralrede als Präsident des ständigen IGH bereits 1925 für die Aufgabe der Rechtsprechung in der Völkerrechtsordnung formulierte Devise: „Die Seele der Urteile liegt in ihrer Begründung. Ist sie überzeugend, so wird sie den Urteilen den politischen Beigeschmack und Nachgeschmack nehmen und die politischen Leidenschaften zu dämpfen vermögen.“44

41 Zu den Aufgaben des Gerichtshofs siehe Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2011, Art. 19 EUV, Rn. 23 ff. 42 Zur Diskussion um die Einführung von Sondervoten siehe von Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, EuR 2008, 769 (779). 43 Zur Bedeutung bereits von Danwitz (Fn. 27), S. 150 ff. 44 Zitiert nach Kaufmann, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), 1 (11).

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2. Akzeptanzhindernisse Die Mitglieder des Gerichtshofes sind sich dabei durchaus der besonderen Schwierigkeit bewusst, stets für die Akzeptanz seiner Rechtsprechung unter den Rahmenbedingungen der supranationalen Rechtsordnung der Union zu sorgen. Die besonderen Herausforderungen für die Rechtsprechung des Gerichtshofs beginnen bereits mit der Vielsprachigkeit des Unionsrechts, das in allen amtlichen Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich ist, obwohl Akzent- und Bedeutungsverschiebungen natürlich unvermeidlich sind. Die redaktionelle Qualität des Unionsrechts, die durchaus verbesserungsbedürftig erscheint,45 bildet einen zweiten Umstand, der sich als echtes Akzeptanzhindernis für eine Rechtsprechung erweisen kann. Ein wirkliches Problem, das immer wieder praktisch werden kann, ist zudem eine Orientierung an bestimmten Rechtsvorstellungen oder Leitbildern einer bestimmten mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, deren Rezeption auf der Ebene des Unionsrechts für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, denen diese Vorstellungen bisher fremd waren, zu echten Verständnis- und Akzeptanzproblemen führen kann. Auch Fragen der Urteilsredaktion können zu Akzeptanzschwierigkeiten führen. Die Art und Weise, in der die Urteile des Gerichtshofes abgefasst sind, entspricht namentlich nicht den nationalen Justiztraditionen und wird daher mitunter als gewöhnungsbedürftig empfunden. Die Rechtserkenntnisse des Gerichtshofes werden einfach nicht in einer Weise ausgedrückt, an die der national ausgebildete Jurist gewöhnt ist; ihnen fehlt der Stallgeruch des Vertrauten, der oftmals mehr als jede rationale Begründung hilft, Akzeptanz zu schaffen. Die Tatsache, dass die Urteile zudem aus der französischen Arbeitssprache des Gerichtshofes in die Verfahrenssprache sowie in die übrigen Amtssprachen übersetzt werden, trägt trotz der nachhaltigen Bemühungen um sprachliche Präzision und inhaltliche Entsprechung nicht dazu bei, das Verständnis der Urteile zu erleichtern und damit ihre Akzeptanz zu sichern. Bedenkt man schließlich, dass die Urteile des Gerichtshofes nahezu ausschließlich von Richtern geschrieben und beraten werden, die sich nicht in ihrer Muttersprache äußern, so mag es mitunter erstaunen, dass sich der Gerichtshof in seiner Entscheidungspraxis in aller Regel dennoch präzise verständlich machen kann. Jedenfalls sollten diese Bedingungsfaktoren der Rechtsprechung des Gerichtshofes berücksichtigt werden, bevor man zur Kritik schreitet. 3. Akzeptanz in der Rechtsprechung des Gerichtshofes Jenseits all dieser Gesichtspunkte ist vor allem zu betonen, dass der Gerichtshof das Leitmotiv der Akzeptanz sehr wohl auch materiell verstanden und als Grundlage für die Entwicklung und Ausformung seiner Rechtsprechung anerkannt hat, obwohl man den Begriff selbst in der Rechtsprechung vergeblich suchen dürfte. So bezeugt die Rechtsprechung, dass der Gerichtshof in Verfahren, in denen es um den Identi45

Siehe von Danwitz, Wege zu besserer Gesetzgebung in Europa, JZ 2006, 1 (2 ff.).

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tätskern einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung ging, sich zur Achtung dieser Besonderheiten verpflichtet und eine große Zurückhaltung bei der Formulierung unionsrechtlicher Anforderungen in solchen Bereichen gepflegt hat. Die jüngeren Entscheidungen Omega46 und Sayn-Wittgenstein47 sind von paradigmatischer Symbolik für die Achtung und den Schutz der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, ihrer spezifischen Traditionen und der wesentlichen Strukturprinzipien ihrer Rechtsordnungen durch das Unionsrecht und namentlich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes geworden. Doch reicht diese Traditionslinie der Judikatur des Gerichtshofes erheblich weiter zurück48 und bezeugt somit, dass es sich um keine konjunkturbedingte Konzession an den Integrationsverlauf handelt, sondern um eine Grundhaltung zu Aufgaben und Grenzen der Integration im Rahmen der europäischen Rechtsgemeinschaft.

V. Ausblick Die Rede von der wechselseitigen Akzeptanz klingt fraglos modern und kommt zweifelsohne sympathisch daher. In der mitgliedstaatlichen Justiz hört man gerne, dass der Gerichtshof Dialog und Kooperation pflegt, um ganz auf Überzeugung der dem Europarecht unterworfenen Rechtsträger zu setzen und nicht auf die formale Autorität des letztverbindlichen Richterspruchs. Doch ist dies nicht der Grund für die Hervorhebung dieser Gesichtspunkte. In der Tat ist das Bekenntnis zu Dialog, Kooperation und Akzeptanz aus Sicht des Gerichtshofes nicht als Einbahnstraße zu verstehen. Doch vor allem ist dem Gerichtshof sehr wohl bewusst, dass die europäische Rechtsgemeinschaft nicht mit noch so effektiven Instrumenten zur Durchsetzung und Sanktion verwirklicht werden kann, sondern elementar von der Bereitschaft der Beteiligten lebt, Eigenes einzubringen, um Gemeinsames zu schaffen. Nur so kann der Verbund der Gerichtsbarkeiten in Europa funktionieren.

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EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega). EuGH, Rs. C-208/09, Urteil vom 22. 10. 2010 (n.n.i.Slg.), EuGRZ 2011, 25 ff. (SaynWittgenstein). 48 Siehe EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (ERT); Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 (Antenne Gouda); Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 (Grogan); Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger). 47

Der Auftrag zur europäischen Integration und seine Grenzen* Von Udo Di Fabio

I. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Mit der deutschen Verfassung von 1949 und dem Beitritt der DDR im Jahr 1990 endete Deutschlands langer Weg nach Westen.1 Nach dem Scheitern der Weimarer Republik baute das Grundgesetz ganz konsequent den Staat nach den Prinzipien persönlicher Freiheit. Das geistige Fundament der Verfassung bilden die großen Ideen des Humanismus, des Rationalismus und der Aufklärung, die allen freien Völkern gemeinsam sind. Der mit Vernunft begabte zum freien Selbstentwurf geborene Mensch ist das Maß der Dinge.2 Drei großartige Sätze des Grundgesetzes bringen dies zum Ausdruck: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“, „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Nachdem in ihrer Geschichte die Deutschen, mit und ohne Hegel, den Staat auf einen Thron sittlicher Totalität gehoben hatten, wurde mit der Verfassung von 1949 jede politische Herrschaft konsequent von den Menschen her gedacht und entworfen. Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 3 GG, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind. Alle politische Herrschaft geht dabei auf den freien Willen der Bürger zurück: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Damit wird das Prinzip der Volkssouveränität deutlich, dem das internationale Recht mit dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker3 ebenso folgt wie die Verfassungen aller großen Demokratien. Die deutsche Verfassung sieht sich als das Ergebnis der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, also der Summe der Staatsbürger, die im Prinzip völlig frei entscheidet, frei im Sinne von „un-

* Überarbeitete Fassung eines Vortrages anlässlich der Einladung des spanischen Verfassungsgerichts in Madrid am 28. Februar 2012. 1 Winkler, Der lange Weg nach Westen, Sonderausgabe, 2 Bände, 2000. 2 Näher Di Fabio, Das mirandolische Axiom. Gegebenes und Aufgegebenes, in: FS für Klaus Stern, 2012. 3 Siehe nur die Entwicklung von Wilsons 14-Punkte-Programm und die Anerkennung im identischen Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte von 1966.

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abhängig“ und „ungebunden“.4 Aber schon die Präambel des Grundgesetzes macht selbst erkannte und anerkannte Ziele und Grenzen der Freiheit deutlich. Nach den Zerstörungen zweier verheerender Kriege richtet sich ein großes Ziel auf die Erhaltung und Förderung des Friedens in Freiheit: Dazu wollen die Deutschen ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa werden (Präambel), weshalb sie sich zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bekennen, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG) verschrieben haben. Schon in diesen wenigen Bestimmungen des Grundgesetzes wird deutlich, dass es der Verfassung um eine moderne reflektierte Vorstellung von Volkssouveränität geht.5 Sie ist nicht abgeschlossen und selbstgenügsam, sondern offen für internationale Zusammenarbeit, die freiwillige Beschränkung von Hoheitsrechten in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG), und sie ist offen für die supranationale Integration, wie dies Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 GG deutlich machen.6 Die europäische Integration wurde rechtstechnisch zunächst allein von einem einzigen Satz der Verfassung getragen: „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen (Art. 24 Abs. 1 GG).“ Diese nüchterne Vorschrift, die dem Art. 93 Constituciýn EspaÇola (CE) entspricht, hat bis zum Maastrichter Unionsvertrag alle Integrationsschritte verfassungsrechtlich legitimiert. Es geht darum, verfassungsrechtlich abgeleitete Kompetenzen (Hoheitsrechte) auf internationale Organisationen oder Institutionen zu übertragen, so wie das auch Art. 93 der Spanischen Verfassung deutlich macht. Solche Vorschriften erlauben etwas in der Entwicklung moderner Staaten Neuartiges: Sie ermächtigen dazu, verfassungsdefinierte Staatsgewalt nach außen zu verlagern, und das mit zwei über das normale Völkervertragsrecht hinausreichenden Wirkungen. Die Europäische Union ist gekennzeichnet durch das Prinzip der unmittelbaren Geltung von europäischen Regelungen in den Mitgliedstaaten, so wie dies Art. 288 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union für Verordnungen vorsieht. Solche Regelungen können ohne explizite Zustimmung, also auch gegen den erklärten Willen der jeweiligen nationalen Volksvertretung Rechtswirkungen im Mitgliedstaat entfalten, weil und soweit sie durch Mehrheitsentscheidung in den Organen der internationalen Organisation entstanden sind. Diese beiden Elemente konstituieren eine neue Eigenschaft internationaler Organisationen, die Supranationalität7. 4 Dazu Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 24, insbesondere Rn. 2 f. 5 BVerfGE 123, 267 (346). 6 Zum Verfassungsauftrag der Verwirklichung eines vereinten Europas: Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 247. 7 Zum Begriff der Supranationalität im spanischen Verfassungsrecht: Lýpez Castillo, Offene Staatlichkeit: Spanien, in: von Bogdandy/Cruz Villalön/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 24, Rn. 14.

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II. Auftrag und Grenzen der Kompetenzübertragung Von Grenzen einer solchen Kompetenzübertragung ist in Art. 24 Abs. 1 GG ebenso wenig die Rede wie in Art. 93 CE. Im Gegenteil: In Spanien wie in Deutschland herrscht dahingehend Übereinstimmung, dass die Verfassung geändert werden muss, wenn sie mit supranationalem Recht kollidiert. Art. 95 CE stellt das für den Abschluss internationaler Verträge ausdrücklich klar. Können also durch die Änderung der Europäischen Verträge unbeschränkt Kompetenzen auf die EU übertragen werden bis hin zu dem Punkt, wo praktisch alle wesentlichen von der Verfassung behandelten Kompetenzen von europäischen Organen mit Mehrheitsentscheidung ausgeübt werden, und zwar nach deren eigenem Rechtsverständnis? Eine solche Frage behandelt nicht bloß einen theoretischen Grenzfall, sondern reagiert auf die aktuelle Entwicklungsdynamik der EU. Die Europäischen Gemeinschaften entstanden in den fünfziger Jahren zunächst als wirtschaftliche Zweckgemeinschaften. Sie waren zugleich auf eine Dynamik hin angelegt, die auf politische Vereinigung zielte. Viele Menschen interessierten sich zunächst nicht sonderlich für das, was mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, 1952 entstanden war. In dieser Zeit hatte sich der Weg zu einer politischen Union über integrierte europäische Streitkräfte als Sackgasse erwiesen.8 Aber dann wurde mit dem Spaak-Plan von 1955 aus der Kohle- und Stahl-Gemeinschaft der Nukleus für eine umfassende Integration der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften in einem gemeinsamen Markt ohne innere Zollschranken und Handelshemmnisse. Damit war die Idee der funktionalen Einigung Europas geboren. Die Spannung zwischen unterschiedlichen nationalen Interessen und widerstreitenden ordnungspolitische Ideen sollte aufgelöst und in eine gemeinsame Entwicklungsrichtung gelenkt werden. Wenn sich also der europäische Bundesstaat nicht direkt politisch verwirklichen ließ – so dachten viele der damals handelnden Politiker –, dann sollte über eine Integration der Volkswirtschaften doch die ökonomische Basis für ein solches Projekt geschaffen werden. Damit konnte man auch die Anhänger des klassischen Nationalstaates gewinnen, die an einer raschen wirtschaftlichen Erholung Westeuropas interessiert waren und die im Freihandel eine wesentliche institutionelle Bedingung einer Entwicklung hin zu Frieden und Wohlstand sahen. Die Anhänger der „Vereinigten Staaten von Europa“ ihrerseits nahmen mit Begeisterung die Römischen Verträge von 1957 auf, weil sie auf einen „Spill-over-Effekt“ hofften. Dieser in der wissenschaftlichen Literatur schon in den fünfziger Jahren beschriebene Effekt ist von zentraler Bedeutung, weil er der gesamten Entwicklung der europäischen Integration zu Grunde liegt und der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Strukturprobleme der Europäischen Union ist. Darunter verstehen wir eine mechanistische Hebelwirkung und den instrumentellen Einsatz von Recht und Wirtschaft zur Erzielung politischer Ergebnisse, die im direkten Zugriff nicht 8 Schorkopf, Der europäische Weg, Grundlagen der Europäischen Union, 2000, S. 11 ff.; siehe ebenfalls Loth, Der Weg nach Europa, Geschichte der Europäischen Integration 1939 – 1957, 3. Aufl., 1996, S. 91 ff.

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erreichbar waren. So erhoffte man etwa ganz zu Recht, dass die Grundfreiheiten das Bewusstsein der Bürger verändern und das protektionistische Denken der Regierungen zurückdrängen würde. In der Tat führten die Warenverkehrsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit sowie die Kapitalverkehrsfreiheit zu einer regen Inanspruchnahme der durch diese Freiheiten Begünstigten. In Verbindung mit einem selbstbewussten Europäischen Gerichtshof entfaltete dies eine enorme Hebelwirkung zur Durchsetzung des gemeinsamen Marktes und zum Abbau der Handelshemmnisse mit immer wieder merklichem Veränderungsdruck auf politische Perspektiven.9 Von einem gemeinsamen Markt erhoffte man nicht nur den Abbau dieses verhängnisvollen innereuropäischen Protektionismus, sondern auch die Herausbildung eines gemeinsamen weltpolitischen Handelsinteresses und die Bildung europäischer Unternehmen und transnationaler wirtschaftlicher Denkweisen. Dabei zieht eines das andere nach. Wer Grundfreiheiten zur Basis des gemeinsamen Marktes macht, der muss notwendige Sicherheitsanforderungen an Waren und Produkte möglichst harmonisieren. Auch eine gemeinsame Vollstreckung von Zivilgerichtsurteilen oder eine transeuropäische Rechtsform für Kapitalgesellschaften sind dann einfach vernünftig. Wird aus dem gemeinsamen Markt dann der noch engere Binnenmarkt, ist der Gedanke einer gemeinsamen Währung, zunächst über feste Wechselkurse, naheliegend. Die von den Verträgen geforderte „immer engere Union der Völker Europas“ ist also auf Integrationsverdichtung angelegt, was in der bundesstaatlichen Sprache Zentralisierung bedeutet. Seit in Deutschland nach der Wiedervereinigung und anlässlich der Ratifizierung des Unionsvertrages von Maastricht die Verfassung geändert wurde, enthält der neue Artikel 23 GG verbindliche Richtungsvorgaben für die europäische Einigung und weist zugleich auf deren Grenzen hin. Danach wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Für jede Änderung der vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Art. 79 Abs. 3 GG. Diese zuletzt genannte Vorschrift ist eine Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts. Nach dieser sogenannten Ewigkeitsklausel ist eine Änderung der Verfassung unzulässig, welche die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt. In Art. 1 ist von der Menschenwürde die Rede, von den Menschenrechten und von der Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt. Art. 20 enthält die Prinzipien der Staatsorganisation, insbesondere das Demokratieprinzip. Keine Änderung 9 Haas, The Uniting of Europe, 1. Aufl., 1958, sowie ders., Beyond the Nation-State, 1964; mit einer politikwissenschaftlichen Einordnung: Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997, S. 58 ff.

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der europäischen Verträge darf also das grundgesetzliche Demokratieprinzip im Kern berühren, es muss namentlich eine effektive Teilhabe des Volkes an der Herrschaftsausübung gewährleistet werden. Damit hat sowohl der ursprüngliche Verfassungstext von 1949 als auch der nach der Wiedervereinigung geänderte Verfassungstext die europäische Integration zum verbindlichen Staatsziel gemacht,10 aber auch eine Grenze gezogen, die man als Wahrung der eigenen verfassungsrechtlichen Identität verstehen kann oder in den Begrifflichkeiten des internationalen Rechts als Bestätigung fortbestehender Souveränität wird deuten müssen. Die Substanz der freiheitlichen Verfassung liegt nicht nur in der Würde des Menschen, seinem angeborenen Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern auch im Grundrecht auf Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem grundrechtsgleichen Recht des Art. 38 GG, das die freie und gleiche Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages betrifft, eine Konkretisierung der Grundsätze des Art. 1 und 20 GG gesehen, weil der freie Mensch sich keiner politischen Herrschaft zu beugen hat, die er nicht in Freiheit zum gleichen Anteil bestimmt.11 Das bedeutet nichts anderes, als dass die Wahl des Parlaments, also des Repräsentationsorgans des Volkes für die Verfassung eine besondere Bedeutung hat. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bilden das Organ, das der Quelle der Volkssouveränität am nächsten steht. Sie stehen für den politischen Willen des Volkes, bleiben dabei allerdings immer auch nur Vertreter des Volkes. Die Abgeordneten müssen deshalb unter Kontrolle der wählenden Bürger bleiben: Das gilt sowohl für die eigentliche periodische Wahl als auch für die Möglichkeit des Parlaments, praktisch wirksam politische Herrschaft auszuüben oder übertragene Herrschaft effektiv zu kontrollieren. Diese parlamentarische Zentralität12 im Verfassungsgefüge schließt nicht aus, dass die Bundesebene nach „unten“ hin föderal gegliedert ist und damit den Bundesländern ein erhebliches Maß an Eigenstaatlichkeit und Mitwirkungsrechte über den Bundesrat einräumt. Mit der parlamentarischen Zentralität ist es auch nicht unvereinbar, dass nach „oben“ hin supranationale Bindungen eingegangen und Kompetenzen übertragen werden. Allerdings darf die Bundesebene in diesem vertikalen Bild weder nach unten noch nach oben hin ihrer Gestaltungsmacht beraubt werden, also irgendwann alle oder doch alle wesentlichen Kompetenzen abgeben.13 Hätten irgendwann die Bundesländer alle wesentlichen Kompetenzen des Gesamtstaates inne, dann wäre 10 BVerfGE 123, 267 (346 f.) spricht von einem Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas. 11 BVerfGE 123, 267 (341). 12 Dazu: Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 44, insbes. Rn. 45; in gewaltenteiliger Hinsicht Schröder, Bildung, Bestand und parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung, ebda., § 65, Rn. 51 ff. 13 Zum Ringen um die angemessene Kompetenzverteilung Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, 58.

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die Bundesrepublik als einheitlicher Staat zerfallen, dies ist angesichts der ursprünglich starken deutschen Föderalkräfte jedenfalls in historischer Sicht nicht völlig abwegig.14 Hätte dagegen irgendwann die EU alle wichtigen Kompetenzen zur demokratischen Selbstgestaltung in ihrem „Aquis communitaire“ aufgenommen, so liefe das auf eine bundesstaatliche Transformation Europas und auf eine entsprechende Herabstufung der Mitgliedstaaten zu bloßen Gliedstaaten hinaus, die dann im Ergebnis ihre völkerrechtliche Souveränität verlieren würden. Bei diesem Gedankengang geht es allerdings weniger um förmliche Staatlichkeit oder um den Glanz souveränen Auftritts: Ganz im Sinne der Vorschriften des Grundgesetzes geht es nur um die Wahrung der Grundsätze der Demokratie und der verfassungsrechtlichen Identität. Wenn hier von Identität gesprochen wird, dann weil es um den Kern der personalen Freiheit geht. Dieser Kern ist unantastbar,15 gleichgültig wie in Zukunft die jeweilige Architektur der politischen Herrschaft ausfallen mag. Das heißt: Demokratische Legitimation fließt aus zwei Quellen, aus den politischen Primärräumen der Staaten, ihren Parlamenten und gewählten Regierungen, und aus der eigenständigen Legitimationsquelle des direkt gewählten Europaparlaments.16 Die demokratische Legitimation muss so organisiert sein, dass es zu einer wirksamen Regierungskontrolle durch die Bürger kommt, so dass von „Selbstregierung des Volkes“ im Sinne des Demokratieprinzips noch gesprochen werden kann. Das ist nicht ganz einfach in einem vernetzten Mehrebenensystem mit ständig verhandelnden Exekutivspitzen und internationalen Organen.17 Das Verbundsystem ist für den Bürger schwer zu verstehen, weil es eine neue Form der supranationalen Gewaltenteilung etabliert, und zwar mit einer inversen Hierarchie, wo nicht nur im Einzelfall, sondern sogar im Regelfall „Brüssel“ oben steht und die Mitgliedstaaten gehorchen müssen. Aber wenn die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge handeln oder in Sachbereichen, die zu ihrer Eigenverantwortung gehören, wie der Einsatz der Streitkräfte oder die Verantwortung für die staatliche Haushaltswirtschaft, dann geben die Mitgliedstaaten den Ton an.18 Diese inverse, in der Verlaufsrichtung wechselnde Hierarchie kann nicht nur nacheinander, sondern auch zeitgleich wirksam sein; und genau das symbolisiert die Doppelspitze der Union: der Kommissionsprä14 Zur starken föderativen Tradition Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl., 2008, § 126, Rn. 10 m.w.N.; Frankreich tendierte auf der Sechs-Mächte-Konferenz gar zu einem Länderbündnis, Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl., 2003, § 8, Rn. 15. 15 BVerfGE 123, 267 (343). 16 Schröder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2002, 301 (315). 17 Zum Demokratiedilemma bereits Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie, Der Spiegel 43, 19. 02. 1992; politikwissenschaftlich: Kielmannsegg, Lässt sich die EU demokratisch verfassen?, in: Decker/Höreth (Hrsg.), Die Verfassung Europas, 2009. 18 Di Fabio, Mehrebenendemokratie in Europa. Der Weg in die komplementäre Ordnung, in: Lenski (Hrsg.), Die Konsolidierung der europäischen Verfassung. Von Nizza bis 2004, 2002, S. 107 ff.

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sident unter wachsender Kontrolle des Europaparlaments und der ständige Präsident des Europäischen Rates als Repräsentant der mitgliedstaatlichen Regierungen. Nicht die hierarchische Eindeutigkeit des Zentral- oder Bundesstaates bestimmt den Charakter der EU, sondern die Parallelität von politischen Kräften im Mehrebenensystem. Aus diesem Grund können die höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten nicht auf das Recht verzichten, sich eine Ultra-vires-Kontrolle vorzubehalten, weil nur diese prozessuale Konsequenz dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung entspricht. Aber die weitgehende Anerkennung eines Mandats auch zur richterlichen Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof19 und eine Selbstbeschränkung nationaler Verfassungsgerichte auf evidente und schwerwiegende Fälle von Kompetenzüberschreitungen,20 wie dies das Bundesverfassungsgericht in der HoneywellEntscheidung 201021 zum Ausdruck gebracht hat, ist folgerichtig, wenn man das Verfassungsprinzip der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes ernst nimmt. Die Grenzen der europäischen Integration ergeben sich streng genommen auch gar nicht so sehr aus dem deutschen Grundgesetz, sondern aus dem Stand der Integration und den geschlossenen Verträge selbst. Die Verträge zeigen, dass die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten erfolgt. Die moderne Staatstheorie weiß, dass jede politische Herrschaft nicht nur Legalität im Sinne von Rechtmäßigkeit benötigt, sondern auch Legitimation im Sinne empirisch feststellbarer Akzeptanz und eines praktisch wirksamen Kollektivwillens.22 Man kann kollektive Identitäten nicht beliebig durch Rechtsetzung und Verträge oder durch den Einsatz von Machtmitteln erzeugen. Gemeinschaftsbewusstsein muss wachsen, und das braucht Zeit und kluge Förderung.23 Die kollektiven Identitäten der europäischen Nationalstaaten sind über Jahrhunderte gewachsen. Die neue europäische Identität als kontinentale Schicksalsgemeinschaft wächst allmählich darüber, aber sie bildet im Vergleich noch eine sehr dünne Schicht, die leicht zerbrechen kann und die nicht für sich allein bereits belastbar ist, wenn nicht das Stützkorsett der politischen Primärräume der Mitgliedstaaten intakt bleibt. Wer zu schnell und zu stark zentralisiert, riskiert die Schwächung oder sogar 19

Der Europäische Gerichtshof selbst bezeichnet seine Rechtsfindung nicht als Rechtsfortbildung, sondern als Auslegung, Schulze/Seif, Einführung, in: Schulze (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 1 (3 f.) mit Rechtsprechungsnachweisen. Der Gerichtshof dürfte rechtsfortbildend jedenfalls die Prärogative des Rates und des Europäischen Parlaments bei der Rechtssetzung sowie das Initiativrecht und das Recht zur abgeleiteten Rechtsetzung der Kommission nicht beschneiden, Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 201. 20 Zur Abgrenzung der Einflussmöglichkeiten verschiedener Kompetenztitel: Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode? in: von Danwitz/Heintzen/Jestaedt/Korioth/Reinhardt (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 (43). 21 BVerfGE 126, 286 (304 f.). 22 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, Politikwissenschaft, 16. Aufl, 2010, § 16 m.w.N. 23 Isensee, Europäische Nation? Grenzen der politischen Einheitsbildung Europas, in: Decker/Höreth (Fn. 17), S. 254 ff.

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die Implosion der nationalstaatlichen politischen Räume. Das liefe auf eine dramatische Gefährdung des europäischen Friedensprojektes hinaus, denn niemand weiß, welche Kräfte in geschwächten oder gar verzweifelten Mitgliedstaaten an die Macht kommen könnten. Europäische Zentralisten, die möglichst rasch die EU zum Bundesstaat machen wollen, sehen in solchen Argumenten häufig nur Vorwände nationaler Beharrungskräfte. Entsprechend ist auch das Bundesverfassungsgericht vor allem für seine Feststellung des mit dem Lissabon-Vertrag erreichten Integrationsstandes kritisiert worden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts – der sog. Staatssenat – wurde geradezu als ein Rückzugsraum engstirniger Nationalisten auf dem geistigen Entwicklungsstand des 19. Jahrhunderts diffamiert.24 Ich meine, dass dies die Wirklichkeit geradezu auf den Kopf stellt. In Karlsruhe habe ich keinen einzigen integrationsfeindlichen, engstirnigen Richter angetroffen, sondern Frauen und Männer, die am Gelingen Europas glühend interessiert waren und allenfalls andere Ansichten über die verfassungsrechtlich gewiesenen Wege zu diesem Gelingen vertreten. Es ist ein alte und keineswegs der offenen Gesellschaft angemessene Herrschaftstechnik, die Kritik am jeweils vom politischen Mainstream eingeschlagenen Weg als Fundamentalkritik an dem Ziel einer Sache misszuverstehen und sodann den Kritiker im moralischen Schema von Gut- und Böse oder im politischen Schema von Freund und Feind zu stigmatisieren, anstatt sich im rationalen Diskurs auf Argumente einzulassen. Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat lediglich zur Kenntnis genommen, dass auch die neuen europäischen Verträge nicht den Schritt in einen europäischen Bundesstaat gegangen sind, sondern konzeptionell auf handlungsfähige und politisch gestaltungsfähige Mitgliedstaaten als Fundament einer starken Union bauen. Wenn die Mitgliedstaaten als politische Handlungsräume ihre Aufgaben nicht wirksam erfüllen, dann wankt die Union. Wenn die Mitgliedstaaten aber mit guter Regierung, solider Haushaltswirtschaft und wettbewerbsorientierter Wirtschaftspolitik gerüstet sind für die Zukunft, dann wird es ihnen leicht fallen, sich in Brüssel zu koordinieren und mit Kommission und Europaparlament gemeinsam für das Wohl aller Unionsbürger zu handeln. So etwa ließen sich die zum Teil verzweigten juristischen Erwägungen des Lissabon-Urteils in die politische Sprache übersetzen.

24 Zur Diskussion: kritisch etwa Grosser, The Federal Constitutional CourtÏs Lisbon Case: GermanyÏs Sonderweg“ – An OutsiderÏs Perspective, GLJ 10 (2009), 1263; Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, 1197; Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: MaastrichtÏs Epigones At Sea, GLJ 10 (2009), 1201; Tomuschat, The Ruling of the German, Constitutional Court on the Treaty of Lisbon, GLJ 10 (2009), 1259; zustimmend: Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872; Huber, Wer das Sagen hat, FAZ, 10. 09. 2009, S. 8; Schorkopf, The European Union as An Association of Sovereign States: KarlsruheÏs Ruling on the Treaty of Lisbon, GLJ 10 (2009), 1219; differenzierend bis kritisch Schröder, Das Karlsruher Konzept der europäischen Integration. Bemerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 06. 2009, in: FS für Wilfried Fiedler, 2011, S. 675 (688 ff.).

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III. Europäische Staatschuldenkrise Was solche Hinweise auf die fortbestehende Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten praktisch bedeuten, hat die europäische Staatschuldenkrise gezeigt, viel rascher als viele erwartet haben. Die europäische Staatschuldenkrise hat mehrere Ursachen, die aus dem nationalen Raum ebenso stammen wie aus europäischen und weltwirtschaftlichen Problemlagen. Mit der Politik der Rettungsschirme und dem Verhalten der Europäischen Zentralbank entsteht eine Haftungsgemeinschaft, die an sich durch die Vertragsbestimmungen zur Währungsunion gerade ausgeschlossen werden sollte (Art. 122 bis 126 AEUV). Die Bildung von Haftungskollektiven kann vorübergehend notwendig sein, um in einer akuten Krise nicht die Kontrolle zu verlieren, weil die Insolvenz von Mitgliedern schwerwiegende Folgen für die Währungsunion haben kann. Auf längere Sicht dagegen schaden Haftungskollektive in der europäischen Vertragsunion dem demokratischen Prozess, weil die durch Wahl legitimierte haushaltspolitische Verantwortung grundsätzlich organschaftlich getrennt bleiben muss: Ein Parlament kann nicht dem Volk gegenüber verantwortlich sein, wenn über seine Zahlungsverpflichtungen anderen Parlamente ohne sein Zustimmung entscheiden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. September 2011 zur Griechenlandhilfe und zum europäischen Rettungsschirm (EFSF) klargestellt.25 Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Bewahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages insoweit tatsächlich eine Integrationsschranke. Dieser Integrationsschranke stehen zwar nach der Rechtsprechung des Senats haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtungen nicht entgegen.26 Entscheidend bleibt dabei aber, dass die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages auch im Prozess der europäischen Integration dauerhaft gewährleistet bleibt. Hierzu müssen jedenfalls die budgetpolitisch wesentlichen Entscheidungen in der Verantwortung des Haushaltsgesetzgebers verbleiben. Eine solche parlamentarische Gesamtverantwortung setzt ausreichende politische Handlungsspielräume, also Kompetenzen voraus.27 Das Bundesverfassungsgericht erkennt auch hier auf dem Boden der Verfassung stehend nur Integrationsgrenzen, die ohnehin dem geltenden Vertragsrecht entsprechen. Die europäischen Verträge laufen bereits hinsichtlich der Währungsstabilität mit den Anforderungen des Art. 88 Satz 2 GG gleich, der die Beachtung der Unabhängigkeit der Zentralbank und das vorrangige Ziel der Preisstabilität zu dauerhaft geltenden Verfassungsanforderungen einer deutschen Beteiligung an der Währungsunion macht (vgl. Art. 127 Abs. 1, Art. 130 AEUV). Unionsrechtlich sichern auch weitere Vorschriften zur Währungsunion die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Anforderungen der Grundsätze des Demokratiegebots, soweit sie die haushaltspoli25 26 27

BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 07. 09. 2011, Rn. 121 ff. BVerfGE 123, 267 (361 f.). BVerfGE 123, 267 (361).

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tische Eigenverantwortung der beteiligten Staaten zum tragenden Fundament der Währungsunion machen. Dazu zählen das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die Europäische Zentralbank, das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Verbot) und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft (Art. 123 bis 126, Art. 136 AEUV). All das zielt darauf, eine Haftungsübernahme für finanzwirksame Willensentschließungen anderer Staaten zu unterbinden. Auch mit seinem Urteil zum Rettungsschirm hat das Bundesverfassungsgericht der deutschen Regierung einen großen, aber nicht unbegrenzten Freiraum für Stützungsmaßnahmen und Solidarität bei der Bewältigung der Staatsschuldenkrise eröffnet. Hier wie in anderen vergleichbaren Fällen ist die Rolle des Parlaments gestärkt worden. Die Ermächtigung zu internationalen Gewährleistungen darf nicht ohne das Parlament ausgesprochen werden.28

IV. Ausblick Das Bundesverfassungsgericht hat meines Erachtens zurückhaltend und fest auf dem Boden des für die Auslegung maßgeblichen Grundgesetzes entschieden. Es hat gerade nicht Politik gemacht, es hat nicht theoretisiert oder irgendetwas ideologisiert. Über den richtigen Weg zur Vereinigung Europas und zur Förderung von Freiheit, Demokratie und solidarischen Zusammenhalt muss vor allem politisch gerungen werden, aber die Verfassung leistet dazu einen besonderen Beitrag mit ihrer eigenen Rationalität, die im politischen Raum manchmal auch als Eigensinnigkeit oder gar als Starrsinn empfunden wird. Was Europa angeht, bedarf unsere argumentative Grundrichtung und unsere Wahrnehmung einer Revision. Das neue Ziel sollte vielleicht heißen: „pragmatische Balance“. Vieles an den gängigen Wahrnehmungsmustern ist falsch. Wir denken zu viel in den Kategorien eines Kompromisse ausschließenden „Entweder/Oder“, sehen Nullsummenspiele, wo Situationen gemeinsamer Vorteile (win-win) entstanden sind, und wir bevorzugen Darstellungen in einfachen Linearitäten, so wie die These vom Niedergang der Nationalstaaten, vom Verfall bürgerlichen Sitten. Vieles ist damit noch einem Historismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, wonach eherne Geschichtsgesetze über Aufstieg und Untergang von Imperien, sozialen Klassen oder Parteien entscheiden und der Kampf um die Macht letztlich nur Sieger und Verlierer zulässt. Die Europäische Union ist ein Beispiel für eine Win-Win-Situation, wie die Übertragung von Hoheitsrechten, die übertragenden Staaten nicht per se machtloser macht. Die Weimarer Republik war nicht nur wegen ihrer Reparationslasten, sondern auch wegen fortbestehenden Protektionismus, Abhängigkeiten und Egoismen – eigenen wie fremden – eine vergleichsweise hilflose Macht. Selbst das kraftstrotzende, 28 Vgl. nur das in der Folge beschlossene Integrationsverantwortungsgesetz vom 22. 09. 2009, BGBl. I, S. 3022 (Nr. 60).

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machtstaatlich so auftrumpfende Kaiserreich wirkte über die meisten Phasen seiner Existenz mehr wie getrieben, als dass es sich konzeptionell in Europa durchzusetzen vermochte. War Spanien eigentlich einflussreicher und mächtiger, als es sich in der Franco-Diktatur bis Mitte der siebziger Jahre isolierte? In Wirklichkeit ist das heutige integrierte, weltoffene Spanien der Gegenwart viel mächtiger. Spanien kann als Akteur in der Welt nicht nur mit eigener Kultur, Sprache und Wirtschaftskraft auftreten, sondern zugleich als ein zwar sich bindender, aber deshalb auch durch die Kraft der ganzen Union verstärkter Mitspieler. Die Staatsschuldenkrise belegt nur scheinbar das Gegenteil. Ohnmächtig sind Schuldnerstaaten – übrigens geht es Gläubigern manchmal nicht viel anders – nur solange, bis sie ihre Haushaltswirtschaft wieder in Ordnung gebracht haben. Die Europäische Union funktioniert heute als Verbund von souverän bleibenden Staaten. Verbund heißt institutionelle Balance zwischen eigenwilligen Kräften und gemeinsamen Prinzipien. Man kann diesen Verbund, wenn die Völker Europas das so entscheiden, zu den Vereinigten Staaten von Europa fortentwickeln und damit die Verbundidee zugunsten einer bundesstaatlichen Vereinigung aufgeben. Aber es spricht auch nichts dagegen, den Verbund eigenverantwortlicher Staaten neu zu tarieren und sinnvoll fortzuführen. Es kommt nur darauf an, das europäische Erbe von individueller Freiheit, sozialer Verantwortung und rechtsstaatlicher Demokratie mit dem Friedens- und Ausgleichsgebot zu versöhnen und diese wirkmächtige geistige Substanz zur Grundlage jeder Form politischer Herrschaft zu machen.

Die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen in der Insolvenz Von Diederich Eckardt

I. Effektivität der Beihilfenkontrolle und mitgliedstaatliches Recht Die Bestimmungen des Unionsrechts zur Beihilfenkontrolle (also seit Lissabon Art. 107 f. AEUV = ex-Art. 88 f. EGV) verwirklichen grundlegende Bedingungen eines funktionsfähigen europäischen Binnenmarkts, indem sie den miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten gleiche Marktchancen gewährleisten und wettbewerbsverzerrende staatliche Eingriffe verhindern. Ihre von jeher kaum mehr zu überschätzende Bedeutung ist ohne Zweifel in den letzten Jahren immer noch gestiegen – dies liegt zum einen an der Wirtschaftskrise und dem damit einhergehenden Bedürfnis nach wirtschaftsfördernden Subventionen, aber auch an einer wachsenden Sensibilität gegenüber staatlich veranlasster Wettbewerbsverzerrung, die zu einer zunehmend extensiven Interpretation des „Beihilfen“-Begriffs geführt hat.1 Zum massenhaften Rechtsproblem ist damit auch die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen geworden – hiervon waren europaweit allein in den letzten zehn Jahren (2001 bis 2010) Beihilfen im Umfang von knapp 13 Mrd. Euro betroffen.2 Zurückgefordert werden zum einen materiell rechtswidrige Beihilfen, d. h., wenn die Kommission nach Abschluss des Prüfungsverfahrens entschieden hat, dass die Beihilfe unzulässig war und deshalb durch den Mitgliedstaat zurückzufordern ist (Art. 108 Abs. 2 AEUV, Art. 7 Abs. 5 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 VO 659/1999). In der Praxis geht es in der Masse der Fälle aber um Beihilfen, die schon aus formellen Gründen rechtswidrig gewährt wurden: Bekanntlich müssen die Mitgliedstaaten abgesehen von bestimmten Gruppenfreistellungen jede geplante Fördermaßnahme, die im Rechtssinne möglicherweise als Beihilfe zu qualifizieren ist, der Kommission zur Prüfung vorlegen (Notifizierungspflicht, Art. 108 Abs. 1

1 Vgl. dazu etwa etwa Jennert/Pauka, EU-Beihilfenrechtliche Risiken in der kommunalen Praxis, KommJur 2009, 321 ff. 2 Pressemeldung IP/11/201 der EU-Kommission vom 18. 02. 2011.

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Satz 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 VO 659/19993); bis zur Entscheidung der Kommission darf die geplante Maßnahme unter keinen Umständen umgesetzt werden (Durchführungsverbot bzw. Stillhaltegebot, Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV, Art. 3 VO 659/ 1999). Wird das unmittelbar wirkende Durchführungsverbot missachtet – insbesondere weil die mögliche Eigenschaft als Beihilfe gar nicht in Betracht gezogen worden ist –, so muss, auch wenn dies nicht explizit normiert ist,4 als „logische Folge“ des Verstoßes die formell rechtswidrig gewährte Beihilfe einschließlich des zwischenzeitlich angefallenen Zinsvorteils durch den Beihilfengeber zurückgefordert werden;5 der Mitgliedstaat hat sicherzustellen, dass hierfür alle geeigneten Maßnahmen ergriffen werden.6 Ziel der Rückforderungspflicht ist zunächst, dass der als Beihilfe zu qualifizierende Vermögenstransfer rückgängig gemacht wird und der Beihilfengeber die in das Vermögen des Beihilfenempfängers gelangten Werte tatsächlich wiedererlangt, u. a. damit die betreffenden Mittel für anderweitige Beihilfengewährungen zur Verfügung stehen.7 In teleologischer Hinsicht im Vordergrund steht aber die Kehrseite der Medaille, d. h. die Entziehung des mit der Beihilfe verbundenen Wettbewerbsvorteils bei dem Beihilfenempfänger: Die Rückzahlung soll bewirken, dass der Empfänger den Wettbewerbsvorteil, den er gegenüber seinen Konkurrenten besessen hat, verliert und dadurch die Marktsituation vor der Zahlung der Beihilfe wiederhergestellt wird.8 Aus diesem Grund kommt eine Restitution der wettbewerbsverzerrenden 3

Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. 03. 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 93 EGV (jetzt Art. 108 AEUV), ABl.EG 1999 Nr. L 83/1 = Beihilfenverfahrensverordnung = VerfVO = BVVO. 4 Von der (nur unter einschränkenden Voraussetzungen gewährten) Möglichkeit einer vorläufigen Rückforderungsanordnung der Kommission (§ 11 Abs. 2 VO 659/1999) wird in der Praxis der Kommission bislang kein Gebrauch gemacht. 5 Vgl. m.w.N. zuletzt EuGH, Rs. C-199/06, Slg. 2008, I-486, Rn. 38 ff. (CELF I); Rs. C-1/ 09, Slg. 2010, I-2103, Rn. 37 ff., 54 (CELF II), mit der Modifikation der früheren Rspr. dahin, dass die lediglich formelle Rechtswidrigkeit der Beihilfe – d. h. nach einer zwischenzeitlichen Positiventscheidung der Kommission – den Mitgliedstaat zwar noch zur Forderung von Zinsen für die Zwischenzeit verpflichtet, zur Rückforderung der Beihilfe selbst zwar nach wie vor berechtigt (insbesondere für den Fall, dass an der Beihilfengewährung nicht festgehalten wird), dagegen gerade nicht mehr verpflichtet. 6 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-142/87, Slg. 1990, I-959, Rn. 66 (Tubemeuse); Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 24 (Alcan); Rs. C-209/00, Slg. 2002, I-11695, Rn. 31 (Kommission/ Deutschland); Rs. C-232/05, Slg. 2006, I-10071, Rn. 42, 49 (Kommission/Frankreich); zuletzt EuGH, Urt. vom 28. 07. 2011, Rs. C-403/10 P, Rn. 122 (Mediaset); Urteil vom 08. 12. 2011, Rs. C-275/10, Rn. 28 f., 33 (Residex). 7 EuGH, Rs. C-277/00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 74 f. (Deutschland/Kommission); Rs. C-232/05, Slg. 2006, I-10071, Rn. 42, 49 (Kommission/Frankreich); Rs. C-1/09, Slg. 2010, I-2103, Rn. 54 (CELF II); Rs. C-304/09, EuZW 2011, 517, Rn. 32 (Kommission/ Italien); Rs. C-331/09, BeckRS 2011, 80395, Rn. 55 (Kommission/Polen). 8 EuGH, Rs. C-350/93, Slg. 1995, I-699, Rn. 21 (Kommission/Italien); Rs. C-348/93, Slg. 1995, I-673, Rn. 27 (Kommission/Italien); Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 23 (Alcan); s. ferner EuGH, Rs. C-277/00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 75 f. (Deutschland/Kommission); zuletzt EuGH, Rs. C-210/09, EuZW 2010, 585, Rn. 22 (Scott); Rs. C-331/09, BeckRS

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Beihilfenwirkungen auch insoweit Betracht, als sie gar nicht unmittelbar in einem finanziellen Vorteil bestanden.9 Die Rückforderung rechtswidriger Beihilfen richtet sich – in Ermangelung eigener unionsrechtlicher Rückabwicklungsbestimmungen – im Ansatz nach den allgemeinen Grundsätzen zur Vollziehung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten:10 Die Rückforderung muss zunächst mindestens genauso wirksam durchgesetzt werden, wie dies bei den gegen nationales Recht verstoßenden Beihilfen möglich wäre; deshalb sind grundsätzlich die einschlägigen materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen des betreffenden Mitgliedstaats zur Anwendung zu bringen („Äquivalenzgebot“). Diese müssen allerdings so ausgelegt und gegebenenfalls fortentwickelt werden, dass „die Anwendung des nationalen Rechts die unionsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“ kann, positiv formuliert also derart, dass die unionsrechtliche Beihilfenkontrolle effektiv durchgeführt werden kann („Effektivitätsgebot“).11 Die Mitgliedstaaten bzw. ihre Gerichte sind deshalb verpflichtet, die „volle Wirksamkeit” des Rückforderungsgebots zu gewährleisten.12 Ein Mitgliedstaat genügt dieser Verpflichtung nur dann, wenn die von ihm ergriffenen Maßnahmen geeignet sind, die normalen Wettbewerbsbedingungen wiederherzustellen, die durch die Gewährung der rechtswidrigen Beihilfe verfälscht wurden.13 In der Wahl der Mittel bei der Durchsetzung der Beihilfenrückforderung ist der Mitgliedstaat daher nur frei, 2011, 80395, Rn. 56 (Kommission/Polen); EuGH, Urteil vom 08. 12. 2011, Rs. C-275/10, Rn. 34 (Residex); s. auch Erwägungsgrund Nr. 13 Satz 1 und 2 zur VO 659/1999 (Fn. 3). 9 Nach EuG, Urteil vom 07. 10. 2010, Rs. T-452/08, Rn. 39 ff. (DHL Aviation und DHL Hub Leipzig-GmbH/Kommission), etwa in dem Fall, dass eine nichtige Garantie gewisse „faktische Begünstigungswirkungen“ auslöst. 10 Vgl. allgemein etwa von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV (Stand: Juli 2010), Rn. 68 ff., 80 ff.; ausf. Baumann, Die Rechtsprechung des EuGH zum Vorrang von Gemeinschaftsrecht bei mitgliedstaatlichen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen, 2010, S. 44 ff.; Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010, S. 143 ff.; Sinnaeve, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Beihilfen, 1997, S. 97 ff. 11 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 24 (Alcan); Rs. C-232/05, Slg. 2006, I-10071, Rn. 42, 49 (Kommission/Frankreich); Rs. C-368/04, Slg. 2006, I-9957, Rn. 45 (Transalpine Ölleitung); Rs. C-199/06, Slg. 2008, I-486, Rn. 38 (CELF I); zuletzt etwa EuGH, Rs. C-210/09, EuZW 2010, 585, Rn. 20 f. (Scott); Rs. C-452/09, BeckRS 2011, 80867, Rn. 16 (Iaia); Rs. C-89/10 und C-96/10, BeckRS 2011, 81313, Rn. 32 (Q-Beef NV); s. auch Art. 14 Abs. 3 Satz 2 VO 659/1999 mit Erwägungsgrund Nr. 13 Satz 4 und 5, und aus der Literatur schon Sinnaeve (Fn. 10), S. 145 ff.; aktuell etwa Büll, Der Kaufpreis beim Unternehmenskauf (Asset Deal) als Korrektiv bei der Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen, 2008, S. 61 ff.; Cranshaw, Einflüsse des Europäischen Rechts auf das Insolvenzverfahren, 2006, S. 335 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008, S. 149 ff., 158 ff., 232 ff.; Koenig/Hellstern, Der EU-beihilferechtliche Effektivitätsgrundsatz im nationalen Prozessrecht, EuZW 2011, 702 ff. 12 EuGH, Rs. C-305/09, BeckRS 2011, 80463, Rn. 46 (Kommission/Italien). 13 EuGH, Rs. C-209/00, Slg. 2002, I-11695, Rn. 35 (Kommission/Deutschland); Rs. C-210/09, EuZW 2010, 585, Rn. 22 (Scott).

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wenn und soweit die gewählten Mittel nicht die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen.14 Diejenigen „an sich“ tatbestandlich einschlägigen Vorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts, die einer effektiven Durchsetzung des Rückforderungsgebots entgegenstehen würden, dürfen ggf. nicht angewendet werden.15 Aus deutscher Sicht soll das Gebot der effektiven Durchsetzung des EU-Beihilfenkontrollregimes insofern am Anwendungsvorrang des Unionsrechts i.S.v. Art. 24 GG teilhaben.16 Aufgrund des dergestalt im Beihilfenkontrollrecht besonders streng gehandhabten Effektivitätsprinzips bleibt dann freilich im Ergebnis von jedweden beschränkenden Maßgaben des nationalen Rechts wenig übrig. Ist die rechtswidrige Beihilfe durch Verwaltungsakt gewährt, so richten sich die Rücknahme dieses (nicht nichtigen) Verwaltungsakts und die Rückforderung der Beihilfe zwar im Ansatz nach §§ 48, 49a VwVfG.17 Jedoch kann sich der Beihilfenempfänger gegenüber der Rückforderung auf „nationalen“ Vertrauensschutz – sei es unmittelbar, sei es in Gestalt unangemessen kurzer nationaler Ausschlussfristen18 – regelmäßig nicht berufen (d. h. er kann sich allenfalls dann auf Vertrauensschutz berufen, wenn dieser seinem Grund nicht im Verhalten des beihilfengewährenden Mitgliedstaats hat, sondern im Verhalten von Unionsorganen19): Zwar widerspreche es, so der EuGH, an sich nicht dem Unionsrecht, wenn das nationale Recht im Rahmen der Rückforderung das berechtigte Vertrauen und die Rechtssicherheit schütze; da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Art. 107 f. AEUV zwingend vorgeschrie14 EuGH, Rs. C-210/09, EuZW 2010, 585, Rn. 21 (Scott); Rs. C-507/08, BeckRS 2010, 91504, Rn. 52 (Frucona); Rs. C-507/08, BeckRS 2010, 91504, Rn. 51 (Kommission/Slowakische Republik); Rs. C-331/09, BeckRS 2011, 80395, Rn. 57 (Kommission/Polen). 15 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, I-3437, Rn. 18 (Kommission/Deutschland); Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 30 ff., 38 (Alcan); Rs. C-232/05, Slg. 2006, I-10071, Rn. 48 ff., 53 (Kommission/Frankreich); Rs. C-496/09, BeckRS 2011, 81647, Rn. 87 (Kommission/Italien). 16 Vgl. z. B. BGHZ 173, 129 = NZI 2007, 650, Rn. 27 (CDA), unter Hinweis auf BVerfGE 73, 339 (375); 75, 223 (244); 85, 191 (204); aus der Literatur – sub specie einer „indirekten Kollision“ von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht – s. etwa Remlinger, Die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Rückabwicklung rechtswidriger Beihilfeverhältnisse, 2001, S. 96 ff., 108 ff.; Sinnaeve (Fn. 10), S. 123 ff. 17 Vgl. m.w.N. BVerwG, NVwZ 2011, 1016, Rn. 16 ff.; Jestaedt/Loest, Durchsetzung der Rückforderung nach nationalem Recht, in: Heidenhain (Hrsg.), Handbuch des Beihilfenrechts, 2003, § 52, Rn. 6 ff.; Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Bd. 3, 2011, Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 10 ff.; Cranshaw (Fn. 11), S. 558 ff.; Remlinger (Fn. 16), S. 65 ff., 251 ff.; krit. Foitzik, Probleme und Grenzen der Europäisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel der Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Beihilfen, 2006, S. 145 ff. 18 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 38 (Alcan); zuletzt EuGH, Rs. C-1/09, Slg. 2010, I-2103, Rn. 53 (CELF II); Rs. C-452/09, BeckRS 2011, 80867, Rn. 17 ff. (Iaia); Rs. C-89/10 und C-96/10, BeckRS 2011, 81313, Rn. 36, 42 ff. (Q-Beef NV). 19 Anders, wenn das Verhalten der Kommission oder eines anderen Unionsorgans hierzu Anlass gibt, vgl. zuletzt EuGH, Rs. C-158/06, Slg. 2007, I-5103, Rn. 24 ff., 34 (ROM-projecten); Rs. C-537/08 P, BeckRS 2010, 91447, Rn. 63 (Kahla).

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ben sei, dürfe ein beihilfenbegünstigtes Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe jedoch grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Einhaltung des darin vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden sei es regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, dass dieses Verfahren eingehalten wurde.20 Darüber hinaus besteht z. B. kraft Unionsrechts die Pflicht, für die Dauer der Rechtswidrigkeit Zinsen zu fordern (ohne die Möglichkeit, hiervon nach § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG abzusehen).21 Im Hinblick darauf, dass die Beihilfengewährung überwiegend in den Formen des Zivilrechts erfolgt, hat auch das Zivilrecht in den letzten etwa zehn Jahren einige Anstrengungen zur Integration des Beihilfenkontrollrechts unternehmen müssen; dies ist nicht ohne Schrammen abgegangen. Zentral ist zunächst die nach wie vor gültige Erkenntnis, dass der Vertrag, durch den eine wegen Verstoßes gegen Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV rechtswidrige Beihilfe gewährt worden ist, gemäß § 134 BGB insgesamt nichtig ist, da das Durchführungsverbot als Verbotsgesetz interpretiert werden muss;22 sie kann deshalb mittels einer auf Bereicherungsrecht gestützten Rückzahlungsklage rückabgewickelt werden.23 Ähnlich wie im öffentlichen Recht die Berufung auf vertrauensschützende Ausschlussfristen ist hier etwa die Berufung auf unangemessen kurz erscheinende nationale Bestimmungen über die Verjährung ausgeschlossen;24 ebenso wenig darf der Beihilfenempfänger sich auf den Wegfall der Be20 Vgl. EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, I-3437, Rn. 13 f. (Kommission/Deutschland); Rs. C-169/95, Slg. 1997, I-135, Rn. 51 (Spanien/Kommission); Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 25 (Alcan); s. zuletzt EuGH, Rs. C-1/09, Slg. 2010, I-2103, Rn. 53 (CELF II); EuG, Rs. C-537/08 P, BeckRS 2010, 91447, Rn. 63 ff. (Kahla Thüringen Porzellan/Kommission); krit. etwa Götz/Mart†nez Soria, in: Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, Teil H (Stand: 29. EL 2011), Rn. 269, 280 f.; Remlinger (Fn. 16), S. 191 ff., jew. m.w.N. 21 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-199/06, Slg. 2008, I-486, Rn. 52, 55 (CELF I); Rs. C-384/07, Slg. 2008, I-10393, Rn. 28 ff. (Wienstrom); Rs. C-1/09, Slg. 2010, I-2103 (CELF II); s. aus der Literatur Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 76 ff. 22 Hieran will der EuGH offenbar trotz der Modifikation durch die „CELF“-Entscheidungen (oben Fn. 5) festhalten, s. zuletzt EuGH, Urteil vom 08. 12. 2011, Rs. C-275/10, Rn. 40 ff. (Residex); für Deutschland s. – vor „CELF I“ – etwa BGH, EuZW 2003, 444; bestätigt durch BGH, EuZW 2004, 254; EuZW 2004, 252; NVwZ 2007, 973; BGHZ 173, 103 = NJW-RR 2007, 1693; zuletzt OLG Köln, BeckRS 2011, 18439 (betr. Kaufvertrag); hierzu z. B. Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 36 ff.; Cranshaw (Fn. 11), S. 546 ff., 587 ff., 770 ff. m.w.N. 23 Vgl. etwa von Wallenberg/Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 10), Art. 108 AEUV (Stand: Mai 2011), Rn. 100; Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 313 ff. 24 Vgl. zuletzt EuGH, Rs. C-542/08, BeckRS 2010, 90451, Rn. 29 (Barth); Rs. C-89/10 und C-96/10, BeckRS 2011, 81313, Rn. 36, 42 ff. (Q-Beef NV); Rs. C-496/09, BeckRS 2011, 81647, Rn. 78 (Kommission/Italien); s. zur Verjährung der Ansprüche des Wettbewerbers auch BGH, EuZW 2011, 440, Rn. 39 ff. (Flughafen Frankfurt-Hahn); vgl. zur Ausschlussfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG auch BVerwG, NJW 1998, 3728, gebilligt von BVerfG, NJW 2000, 2015 (2016); dazu s. z. B. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 108 AEUV, Rn. 28 f.; Koenig/Hellstern (Fn. 11), 702 (705).

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reicherung berufen.25 Eingriffe in die zivilrechtliche Dogmatik sind etwa zu konstatieren, wenn es um die Geltendmachung von „Beihilfenrückforderungsansprüchen“ gegen Dritte geht, die von dem Beihilfenempfänger wesentliche Vermögenswerte in einer Art und Weise übernommen haben, dass sich der durch die Beihilfe bewirkte Wettbewerbsvorteil bei ihnen perpetuiert: Hier soll der Dritte kraft Unionsrechts unter gewissen Voraussetzungen26 gleichfalls zur Restitution verpflichtet sein, ohne dass freilich eine ohne weiteres einschlägige Anspruchsgrundlage im deutschen materiellen Zivilrecht hierfür zur Verfügung stünde. Auch die mittlerweile vollzogene Integration der Schadensersatz-, Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche der Wettbewerber des Beihilfenempfängers27 ist nicht ohne dogmatisches Bauchgrimmen abgegangen. Ebenso muss sich der Rechtsanwender auf Eingriffe in das nationale Zivilprozessrecht gefasst machen – solche Eingriffe hat der Europäische Gerichtshof etwa, besonders spektakulär, zur materiellen Rechtskraft verlangt28, aber auch zum Aussetzungsverbot29 und zur Beweisaufnahme30. Schon dieser kurze Überblick erweist das Effektivitätsgebot in seiner beihilfenrechtlichen Ausprägung mithin als ein überaus leistungsfähiges Instrument, versehen insbesondere mit dem Potential, limitierende gesetzliche Regelungen des an sich zwingenden mitgliedstaatlichen Rechts in sehr weitgehendem Maße zu derogieren. 25 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591, Rn. 44 ff., 50 (Alcan); s. dazu auch Baumann (Fn. 10), S. 174 f. 26 Zu ihnen z. B. Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 54 ff., 66 f.; ausf. Büll (Fn. 11), S. 69 ff.; Cranshaw (Fn. 11), S. 1030 ff.; ders., Das Effizienzgebot bei der Rückforderung rechtswidriger Staatsbeihilfen, insbesondere im Dreiecksverhältnis, WM 2008, 338 ff.; Mairose, Die Behandlung gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Beihilfen im deutschen Insolvenzverfahren, 2006, S. 146 ff.; Ritter, EGBeihilfenrückforderung von Dritten, 2004, S. 186 ff. 27 Dazu BGH, EuZW 2011, 440, Rn. 39 ff. (Flughafen Frankfurt-Hahn); BeckRS 2011, 05517 (Flughafen Lübeck); Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 107 ff., 126; Rennert, Beihilferechtliche Konkurrentenklagen vor deutschen Verwaltungsgerichten, EuZW 2011, 576 f.; Koenig/Hellstern, Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche nach dem UWG gegen Empfänger von EU-rechtswidrigen Beihilfen, EWS 2011, 216 ff.; zur drittschützenden Wirkung s. allg. EuGH, Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, Rn. 40, 67 (SFEI); Rs. C-368/04, Slg. 2006, I-9957, Rn. 38, 44 ff. (Transalpine Ölleitung). 28 Vgl. (wenngleich zu einem „hard case“, bei dem das nationale Gericht das Unionsrecht geradezu ostentativ missachtet hatte) EuGH, Rs. C-119/05, Slg. 2007, I-6199, Rn. 61 (Lucchini); s. jetzt aber relativierend EuGH, Rs. C-2/08, Slg. 2009, I-7520, Rn. 22 ff., 25 (Olimpiclub); dazu ferner etwa Koenig/Hellstern (Fn. 11), 702 (705); Schmahl/Köber, Durchbrechung der Rechtskraft nationaler Gerichtsentscheidungen zu Gunsten der Effektivität des Unionsrechts?, EuZW 2010, 927 (929); ausführlich Baumann (Fn. 10), S. 137 ff., 161 ff. 29 Vgl. EuGH, Rs. C-1/09, Slg. 2010, I-2103, Rn. 32 f., 39 (CELF II); Rs. C-304/09, EuZW 2011, 517, Rn. 32 (Kommission/Italien); BGH, EuZW 2011, 440, Rn. 75 (Flughafen Frankfurt-Hahn); BeckRS 2011, 05517, Rn. 70 (Flughafen Lübeck); dazu etwa Koenig/Hellstern (Fn. 11), 702 f. 30 Vgl. Nr. 2.4.4. Rn. 76 Kommissionsbekanntmachung über die Durchsetzung des Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte, ABl.EU 2009; Koenig/Hellstern (Fn. 11), 702 (703 f.).

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Diese Rigorosität des Beihilfenkontrollrechts hat zweifellos gravierende verhaltenslenkende und damit realwirtschaftliche Rückwirkungen. In der aktuellen Rechtssache „Residex“, in der es um die Nichtigkeit einer als Beihilfe zu qualifizierenden Staatsbürgschaft ging, hat dies die Generalanwältin Kokott auf den Punkt gebracht, als sie formulierte, die mit der Annahme einer Nichtigkeit der Bürgschaft verbundene Risikoverlagerung könne auf private Kreditgeber eine abschreckende Wirkung (chilling effect) entfalten und sich damit negativ auf die Versorgung von Unternehmen mit Kapital auswirken, was wiederum – wie die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise besonders eindrucksvoll gezeigt habe – gravierende Probleme für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europäischen Union nach sich ziehen könne; diese Rechtsfolge würde daher „über dasjenige hinausgehen, was zur effektiven Durchsetzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV erforderlich ist“.31 Der Gerichtshof hat die Chance, sich der Generalanwältin anzuschließen und hierdurch einen Markstein für die Grenzen des Effektivitätsprinzips zu ziehen, allerdings verstreichen lassen (indem er im Gegenteil von Beihilfenwirkungen auch zugunsten des Bürgschaftsgläubigers ausging und sich damit den Weg über eine Limitierung der Nichtigkeitswirkungen verschloss).32 Entscheidungen wie diese werden eine ohnehin schon zu beobachtende Tendenz verstärken, wonach als Motor der Entwicklung bei der Durchsetzung des EU-Beihilfenregimes weniger die potentiellen Beihilfengeber fungieren als vielmehr die privaten Kreditgeber, die in der Sorge um die Sicherheit ihrer Kredite mit Argusaugen darüber wachen, dass jegliche öffentliche Beteiligung an Projekten und jede Subvention beihilfenrechtskonform vonstatten geht, mit den schon angesprochenen gesamtwirtschaftlichen Risiken. Selbst wenn man dem im Hinblick auf seine große disziplinierende Wirkung für die Beteiligten, zum Wohl der öffentlichen Haushalte und damit der Steuerzahler, durchaus Positives abgewinnen mag, zeigen indessen andere neuere Entscheidungen des Gerichtshofs zur Verjährung, zu den Ausschlussfristen und zur Rechtskraft, dass der Gerichtshof zuweilen durchaus den wünschenswerten „judicial restraint“ zu üben bereit ist33 und explizit auch solche Beschränkungen des nationalen Rechts akzeptiert, die – notwendigerweise – zu einem völligen Untergang des Beihilfenrückgewähranspruchs führen. Es genügt ihm, dass die Vorschriften gemessen an den Zwecken der unionsrechtlichen Beihilfenkontrolle adäquat ausgestaltet sind, d. h. nicht etwa den Anspruch schon nach einer unangemessen kurzen Frist erlöschen oder verjähren lassen.34 Aus Sicht des Gerichtshofs mag 31

Schlussanträge der GAÏin Kokott, Rs. C-275/10, BeckRS 2011, 80939, Rn. 62, 64 (Residex). 32 EuGH, Rs. C-275/10, BeckRS 2012, 80085, Rn. 40 ff. (Residex), dazu v. Bonin, EuZW 2012, 106. 33 Hierfür schon Sinnaeve (Fn. 10), S. 178 ff., 207 ff. 34 Vgl. etwa zur Verjährung bzw. zu Ausschlussfristen EuGH, Rs. C-542/08, BeckRS 2010, 90451, Rn. 29 (Barth); Rs. C-89/10 und C-96/10, BeckRS 2011, 81313, Rn. 36, 42 ff. (Q-Beef NV); zur Rechtskraftdurchbrechung EuGH, Rs. C-2/08, Slg. 2009, I-7520, Rn. 22 ff., 25 (Olimpiclub).

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dies jeweils angebracht sein, um eine dem Einzelfalls gerecht werdende Entscheidung treffen zu können. Aus Sicht des Rechtsanwenders und -unterworfenen sind dabei aber nicht unerhebliche Einbußen an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu beklagen.

II. Beihilfenkontrolle und Insolvenzverfahren Da die Beihilfenempfänger häufig insolvent sind oder werden,35 stellt sich entsprechend häufig die Frage der Anwendung des Beihilfenkontrollrechts in der Insolvenz. 1. Finanzierungshilfen im Insolvenzverfahren als Beihilfen Auch im Insolvenzverfahren spielen Fragen der Zulässigkeit staatlicher Subventionen schon insofern eine große Rolle, als eine finanzielle Reorganisation des Unternehmens(trägers) häufig nur mit staatlichen Subventionen oder Sanierungshilfen anderer Art, die als Beihilfen i.S.v. Art. 107 AEUV zu qualifizieren sind, aussichtsreich ist. Neben der Frage, ob ein im Wege des Insolvenzplans realisierter Forderungs-(teil)erlass durch einen öffentlichen Insolvenzgläubiger eine Beihilfe im Rechtssinne darstellen kann (s. unten sub II.2.f)), hat in diesem Zusammenhang zuletzt die steuerliche Behandlung von Verlustvorträgen des insolventen Unternehmensträgers besonders große Bedeutung erlangt – die mit ihrer Hilfe möglichen Sanierungsgewinne sind in der Praxis sehr häufig ein wesentlicher Baustein einer aussichtsreichen übertragenden Sanierung im Insolvenzverfahren. Die „Sanierungsklausel“ des § 8c Abs. 1a KStG – sie wurde im Zuge der jüngsten Wirtschaftskrise 2009 eingeführt und sollte durch Erhalt von Verlustvorträgen (in Ausnahme zu der erst kurz zuvor durch das Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 eingeführten Bestimmung des § 8c Abs. 1 KStG, der zur Missbrauchsbekämpfung den Erhalt der Verlustvorträge bei Beteiligungserwerb gerade beschnitt) einen Anreiz bieten, in insolvente Kapitalgesellschaften zu investieren – ist von der Kommission beanstandet worden.36 Der Gesetzgeber hat hierauf bereits reagiert und nunmehr in § 34 Abs. 7c KStG n.F. eine Suspendierung der Sanierungsklausel vorgesehen. Für die praktischen Erfolgsaussichten einer Sanierung in der Insolvenz ist diese Frage von gar nicht zu überschätzender Bedeutung; bleibt es bei dem Wegfall der Sanierungsklausel, ist ein vollständiger Erhalt der Verlustvorträge in Zukunft nur noch durch eine Sanierung ohne Anteilsübertragung möglich.

35 Nach von Brevern, Die Umsetzung von Beihilfe-Rückforderungsentscheidungen der Kommission, EWS 2005, 154 (157), in immerhin einem Drittel der Rückforderungsfälle. 36 Vgl. die Entscheidung der Kommission vom 26. 01. 2011 (s. Pressemitteilung IP/11/65 vom 26. 01. 2011, von der Bundesrepublik im Wege der Nichtigkeitsklage angegriffen, Rs. T-205/11, ABl.EU 2011, Nr. C 186/28); dazu z. B. Breuninger/Ernst, § 8c KStG im „Zangengriff“ von Europa- und Verfassungsrecht – Sanierungsklausel und Beihilferecht nach der Negativentscheidung der EU-Kommission, GmbHR 2011, 673 ff.

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2. Rückforderung vorinsolvenzlicher Beihilfen im Insolvenzverfahren Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist freilich nicht die Gewährung von (zusätzlichen) Beihilfen in der Insolvenzsituation, sondern die Rückforderung vorinsolvenzlich gewährter rechtswidriger Beihilfen im Insolvenzverfahren. Was die insolvenzrechtliche Einordnung von Ansprüchen der öffentlichen Hand angeht, ist der Insolvenzrechtler ja mittlerweile Kummer gewohnt. Allerorten erodiert das hehre Prinzip der Gläubigergleichbehandlung durch Statuierung von „Fiskusprivilegien“, sei es durch den Gesetzgeber37, sei es durch die Rechtsprechung, wie zuletzt insbesondere im Steuerrecht38 oder bei den „Altlasten“.39 Die sich hieraus ergebenden Befürchtungen, das Gebot „effizienter“ Durchsetzung des EU-Beihilfenkontrollregimes werde auch im Insolvenzrecht keinen Stein auf dem anderen lassen, haben sich aber nicht bewahrheitet: Mit Billigung des EuGH hat sich eine Art mittlere Linie etabliert; sie soll in ihren wesentlichen Kennzeichen zunächst vorgestellt werden, bevor in einem zweiten Schritt eine kurze Einordnung und Würdigung vorgenommen wird. a) Unerheblichkeit der Insolvenz Festzuhalten ist zunächst, dass das Gebot effektiver Beihilfenkontrolle nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich auch in der Krise und Insolvenz des Beihilfenempfängers insofern keine Einbußen erleidet, als diese die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Beihilfenrückerstattung durchzusetzen, an sich unberührt lassen. Zwar könne diese Verpflichtung durch rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit erlöschen.40 Ein Fall tatsächlicher Unmöglichkeit soll aber nur bei „absoluter Unmöglichkeit“ gegeben sein, d. h., wenn auch die Insolvenzmasse zur Befriedigung des Rückerstattungsanspruchs nichts mehr hergibt, mithin in den 37 Vgl. zum Ganzen aktuell etwa Lenger/Müller, Gläubigergleichbehandlung quo vadis? – Neue Versuche des Gesetzgebers zur Einführung (weiterer) Fiskusprivilegien, NZI 2011, 903 ff. 38 So begründet etwa der Insolvenzverwalter, der das Entgelt für eine vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Rahmen der Sollbesteuerung ausgeführte Leistung vereinnahmt, hinsichtlich des Umsatzsteuerbetrages nach der Rechtsprechung des BFH eine Masseverbindlichkeit im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, vgl. BFHE 227, 513 = NZI 2010, 272; BFHE 232, 301 = NZI 2011, 336. s. dazu aktuell etwa Kahlert, Der V. Senat des BFH als Schöpfer von Fiskusvorrechten im Umsatzsteuerrecht, DStR 2011, 921 ff. 39 Ist das Grundstück mit Bodenverunreinigungen oder Abfällen kontaminiert, so kann die Ordnungsbehörde nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich unter dem Aspekt umweltrechtlicher Zustandsverantwortlichkeit gegen den Insolvenzverwalter vorgehen, so dass diesen – vorbehaltlich rechtzeitiger Freigabe des Grundstücks – die Beseitigungskosten als Masseschuld treffen; ob die Kontamination vor oder nach Verfahrenseröffnung entstanden ist, ist hiernach unerheblich (vgl. BVerwGE 107, 299 = NZI 1999, 37; BVerwGE 108, 269 = NZI 1999, 246; BVerwG, NZI 2005, 55; BVerwGE 122, 75 = NZI 2005, 51); s. dazu etwa Eckardt, Umwelthaftung im Insolvenzverfahren, AbfallR 2008, 197 ff. 40 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-142/87, Slg. 1990, I-959, Rn. 60 (Tubemeuse).

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Fällen der Masseinsuffizienz, wenn nicht sogar vollständigen Masselosigkeit.41 Der Rückforderung als – so der EuGH – logischer Folge der formellen oder materiellen Unionsrechtswidrigkeit steht es deshalb auch nicht entgegen, wenn der Beihilfenempfänger als Folge der Rückforderung liquidiert werden muss oder insolvent wird;42 im Gegenteil verwirklicht sich mit dem Marktaustritt des Begünstigten der Zweck des Rückforderungsgebots, die wettbewerbsverzerrenden Wirkungen der rechtswidrigen Beihilfe zu beseitigen. b) Insolvenzrechtlicher Rang des Beihilfenrückerstattungsanspruchs Im eröffneten Insolvenzverfahren stellt sich dann die entscheidende Frage, mit welcher Qualität bzw. mit welchem Rang der Beihilfenrückerstattungsanspruch befriedigt wird. Denkbar wäre zum einen, den Anspruch zur denkbar „effektivsten“ Umsetzung des unionsrechtlichen Rückforderungsimperativs mit einem (ungeschriebenen) Supervorrecht auszustatten, d. h. ihn zu einer Masseforderung im Rang noch vor den Massekosten (§ 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO) oder allenfalls gleich nach diesen aufzuwerten. Denkbar wäre ferner – wiederum unmittelbar kraft Unionsrechts – die Qualifikation als normale Masseforderung (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO), als bevorrechtigte Insolvenzforderung (quasi im Rang zwischen Insolvenz- und Masseforderungen), als normale Insolvenzforderung, aber auch, wenigstens wenn der Beihilfengeber zugleich Gesellschafter der Schuldner-Gesellschaft ist, als nachrangige Insolvenzforderung. Angesichts des breiten Angebots an Lösungsmöglichkeiten und den hervorstechenden Merkmalen einer Rechtsfindung unter der Herrschaft eines extensiv gehandhabten Effektivitätsgebots, nämlich seiner großen Unbestimmtheit verbunden mit seiner großen Durchschlagskraft, erstaunt es fast, dass über die richtige Antwort wenig Streit herrscht: Man ist sich nahezu einig, dass nur der Rang einer normalen Insolvenzforderung in Frage kommt, mit anderen Worten der Beihilfengeber und -rückforderungsgläubiger sich der par condicio creditorum unterwerfen muss.43 Auch der EuGH akzeptiert die Gleichbehandlung mit den anderen Insolvenz41 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-499/99, Slg. 2002, I-6301, Rn. 37 (Kommission/Spanien); Sinnaeve, Allgemeine Grundlagen, in: Heidenhain (Fn. 17), § 32, Rn. 26; von Wallenberg/ Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 10), Art. 108 AEUV (Stand: Mai 2011), Rn. 100. 42 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-52/84, Slg. 1986, I-89, Rn. 14 (Kommission/Belgien); zuletzt EuGH, Rs. C-280/05, Slg. 2007, I-181, Rn. 28 (Kommission/Italien); Rs. C-496/09, BeckRS 2011, 81647, Rn. 73 (Kommission/Italien); aus der Literatur s. etwa von Wallenberg/Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 10), Art. 108 AEUV (Stand: Mai 2011), Rn. 100; Cranshaw (Fn. 11), S. 1127 ff.; Guski, Beihilfenrückforderung und Gläubigergleichbehandlung, KTS 2008, 403 (406); Ehricke, Grundprobleme staatlicher Beihilfen an ein Unternehmen in der Krise im EG-Recht, WM-Sonderbeilage 3/2001, 3 (10 ff.); Koenig, EG-beihilfenrechtliche Rückforderung als Insolvenzauslöser, BB 2000, 573 ff.; Quardt, Die Rückforderung staatlicher Beihilfen und ihre Grenzen in der Insolvenz, EWS 2003, 312 (313). 43 BGH, WM 2006, 778 (779); BGHZ 173, 103 = NZI 2007, 647, Rn. 29 (SKL-M); BGHZ 173, 129 = NZI 2007, 650, Rn. 23 (CDA); Ehricke, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Bd. 1, 2. Aufl., 2007, § 38, Rn. 95; ders., Die Rückforderung gemeinschaftswidriger Beihilfen in der Insolvenz des Beihilfenempfängers, ZIP 2001, 1656 (1660);

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gläubigern und verlangt lediglich von dem beihilfengewährenden Mitgliedstaat, von den einem Insolvenzgläubiger zustehenden materiellen und Verfahrensrechten konsequenten Gebrauch zu machen.44 Noch erstaunlicher nimmt der EuGH sogar mitgliedstaatliche Detail-„Durchsetzungsausschlüsse“ wie etwa Regelungen zur „Unanmeldbarkeit“ bzw. zum Nachrang der nach Verfahrenseröffnung anfallenden Zinsansprüche hin.45 c) Beihilfenrückgewähransprüche als Insolvenzauslöser Aus der von der ganz h.M. angenommenen Eigenschaft des Beihilfenrückgewähranspruchs als Insolvenzforderung ergibt sich jedenfalls, dass der Beihilfengeber zur Insolvenzantragstellung berechtigt sein muss (§ 14 Abs. 1 InsO) und dass der Rückgewähranspruch gleich jeder anderen Forderung zu berücksichtigen ist, soweit es um die Anwendung der Bestimmungen zu den Insolvenzgründen geht, also insbesondere bei der Feststellung von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung.46 Letzteres hat beträchtliche Folgewirkungen insbesondere für die streng haftungsbewehrte Insolvenzantragspflicht der Organmitglieder von Kapitalgesellschaften (§ 15a InsO, § 64 GmbHG bzw. § 92 Abs. 2 AktG). Fraglich ist allerdings, ab wann die im Fall eines Verstoßes gegen das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUVipso iure entstehende Rückgewährverpflichtung in der Überschuldungsbilanz bzw. im Überschuldungsstatus zu passivieren ist; dies spielt dann eine Rolle, wenn es sich bei der Beihilfe um die Gewährung Bork, Europarechtswidrige Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz, in: FS für Marcus Lutter, 2000, S. 301 (314 f.); Geuting/Michels, Kapitalersatzrecht versus EU-Beihilferecht, ZIP 2004, 12 (14); Guski (Fn. 42), 403 (405); Rapp/Bauer, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidrig gewährter Beihilfen im Insolvenzverfahren, KTS 2001, 1 (18 f.); Quardt (Fn. 42), 312 (315); Smid, Rückführung staatlicher Beihilfen und Insolvenz, in: FS für Wilhelm Uhlenbruck, 2000, S. 405 (415 ff.); Cranshaw, Konkurrenzen zwischen Gesellschafts-, Insolvenzund Gemeinschaftsrecht bei der Rückforderung rechtswidriger Beihilfen in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, DZWIR 2008, 88 (91); Heber, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen bei Insolvenz des Beihilfenempfängers, Diss. Jena 2005, S. 85 ff.; Mairose (Fn. 26), S. 76 ff.; Kiewitt, Rückforderung staatlicher Beihilfen nach Europäischem Gemeinschaftsrecht bei Insolvenz oder Veräußerung des Empfängerunternehmens, 2004, S. 97 ff.; Ristow, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen in der Insolvenz des Beihilfenempfängers am Beispiel der Länder Deutschland, England, Frankreich und Österreich, 2005, S. 73 ff.; Schluck-Amend, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen in ihren Auswirkungen auf das nationale Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2004, S. 125 ff. 44 EuGH, Rs. C-142/87, Slg. 1990, I-959, Rn. 59 f. i.V.m. 61 f. (Tubemeuse); Rs. C-277/ 00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 85 (Deutschland/Kommission) („SMI“); vgl. auch EuGH, Rs. C-276/99, Slg. 2001 I-8055, Rn. 29 (Maxhütte); Rs. C-280/05, Slg. 2007, I-181, Rn. 28 (Kommission/Italien); Rs. C-331/09, BeckRS 2011, 80395, Rn. 60 (Kommission/Polen); Rs. C-496/09, BeckRS 2011, 81647, Rn. 73 f., 76 (Kommission/Italien). 45 EuGH, Rs. C-480/98, Slg. 2000, I-8717, Rn. 32 ff., 38 (Spanien/Kommission). 46 Vgl. Cranshaw (Fn. 11), S. 1128 ff.; Schluck-Amend (Fn. 43), S. 111 ff.; Quardt (Fn. 42), 312 (314 f.).

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von Eigenkapital handelte (während das als Beihilfe gewährte Fremdkapital in Ermangelung eines Rangrücktritts ohnehin von Anfang zu passivieren war47). Hierfür kommt es, auch wenn die Bestimmungen über die Bildung der Handelsbilanz nicht unmittelbar gelten, aus Gründen des Gläubigerschutzes letztlich ebenso wie dort („Vorsichtsprinzip“) auf die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme an; es sind deshalb abhängig vom Grad dieser Wahrscheinlichkeit entsprechende Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden und gewisse Verbindlichkeiten zu passivieren.48 Dagegen, auf dieser Grundlage bereits im Zeitpunkt der Gewährung der ungenehmigten Beihilfe die Bildung einer Rückstellung oder gar die Passivierung vorzuschreiben,49 spricht allerdings, dass der Beihilfengeber die Rückerstattung der Beihilfe zwar vom Moment der Zuwendung an ohne weiteres zurückfordern könnte, dies aber ohne äußeren Anlass – wie ihn eine Negativentscheidung der Kommission darstellen könnte, aber auch z. B. eine Konkurrentenklage – in aller Regel nicht tun wird. Die anlasslose Passivierung des Beihilfenrückerstattungsanspruchs dürfte deshalb nicht angebracht sein, um den Beihilfenempfänger nicht vorschnell in die Insolvenz zu treiben.50 Auf der anderen Seite des Spektrums steht die rechtskräftige Qualifizierung als (materiell rechtswidrige bzw. ungenehmigte) Beihilfe durch die Kommission oder ein nationales Gericht; sie löst jedenfalls die Passivierungspflicht aus.51 Für die Zwischenzeit kommt es auf die nach den Umständen des Einzelfalls – insbesondere die Einleitung bzw. die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Prüfungsverfahrens durch die Kommission bzw. eines auf die Rückgängigmachung abzielenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens, die bestehenden Verteidigungsmöglichkeiten des Beihilfenempfängers einschließlich der Erfolgsaussichten eingelegter oder beabsichtigter Rechtsbehelfe oder des einstweiligen Rechtsschutzes52 – zu bemessende Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme an; hierzu lässt sich schlecht abstrakt etwas sagen. d) Insolvenzanfechtung vorinsolvenzlicher Beihilfenrückzahlungen Folgerichtig ist auch die anfechtungsrechtliche Behandlung: Ist die Beihilfe innerhalb der üblichen tatbestandlichen Anfechtungsfristen vor dem Insolvenzantrag bzw. zwischen Insolvenzantragstellung und Verfahrenseröffnung zurückgezahlt 47

Zutr. Cranshaw (Fn. 11), S. 1133 f.; Schluck-Amend (Fn. 43), S. 118. Vgl. zum Ganzen BGH, ZIP 2003, 2068; Müller, in: Jaeger, Insolvenzordnung, 2004, § 19, Rn. 75; Drukarczyk, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung (Fn. 43), § 19, Rn. 99 ff; Uhlenbruck, in: ders. (Hrsg.), InsO, 13. Aufl., 2010, § 19, Rn. 103 ff. m.w.N. 49 Zu weitgehend insoweit Rapp/Bauer (Fn. 43), 1 (14 f.); s. aber auch Uhlenbruck, in: ders. (Fn. 48), § 19, Rn. 121. 50 Vgl. Heber (Fn. 43), S. 83; Mairose (Fn. 26), S. 71 f.; Ehricke (Fn. 42), 3 (11 f.); Koenig (Fn. 42), 573 (589). 51 Uhlenbruck, in: ders. (Fn. 48), § 19, Rn. 121; Ehricke (Fn. 42), 3 (11); Smid (Fn. 43), S. 405 (418); Heber (Fn. 43), S. 83; Quardt (Fn. 42), 312 (315); Schluck-Amend (Fn. 43), S. 114; Mairose (Fn. 26), S. 71. 52 Mairose (Fn. 26), S. 71. 48

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worden, so unterliegt dieser Erwerb im eröffneten Insolvenzverfahren nach allgemeinen Grundsätzen der Insolvenzanfechtung.53 Konsequent ist dies vor allem insofern, als die Anwendung der besonderen Insolvenzanfechtung (§§ 130 f. InsO) die Eigenschaft als Insolvenzgläubiger voraussetzt und ihre Anwendung deshalb impliziert, dass sich der Beihilfenrückgewährgläubiger in die par condicio creditorum einzugliedern hat, und auch die anderen Anfechtungsbestände können nur eingreifen, wenn die Forderung, zu deren Erfüllung die Leistung erfolgte, im eröffneten Verfahren keine Masseverbindlichkeit gewesen wäre (da es sonst an der objektiven Gläubigerbenachteiligung fehlen würde). e) „Gesellschafter-Beihilfen“ Eine Ausnahme von der prinzipiell gleichrangigen Teilhabe aller Insolvenzgläubiger am haftenden Vermögen bilden die als minder schutzwürdig angesehenen nachrangigen Insolvenzforderungen; sie sind nur dann anzumelden und zu prüfen, wenn das Insolvenzgericht hierzu – sei es für alle Rangklassen, sei es für einzelne von ihnen („soweit“) – besonders aufgefordert hat (§ 174 Abs. 3 InsO). Auch in diesem Fall unterliegen die nachrangigen Gläubiger jedoch zusätzlichen Beschränkungen: Sie sind grundsätzlich nicht stimmberechtigt (§ 77 Abs. 1 Satz 2 InsO), auch nicht bei Abstimmungen über einen Insolvenzplan (vgl. § 246 InsO). Ihre Forderungen sind bei Abschlagsverteilungen nicht zu berücksichtigen (§ 187 Abs. 2 Satz 2 InsO) und gelten im Plan als im Zweifel erlassen (§ 225 Abs. 1 InsO). Es fragt sich deshalb, wie mit dem Beihilfenrückgewähranspruch in der Insolvenz des Beihilfenempfängers umzugehen ist, wenn die Beihilfengewährung – insbesondere weil sich der Subventionsgeber als Gesellschafter an einer beihilfenempfangenden GmbH beteiligt hat – die Voraussetzungen eines nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO als nachrangig eingestuften Gesellschafterdarlehens erfüllt. Dass sich der Rückzahlungsanspruch bei einer als Gesellschafterdarlehen einzustufenden Beihilfe nicht aus Darlehensrecht ergibt, sondern – im Hinblick auf die Nichtigkeit des Darlehensvertrags54 – aus Bereicherungsrecht, ist hierfür unerheblich; denn der für Ansprüche aus Gesellschafterdarlehen gesetzlich angeordnete Nachrang greift auch, wenn der Darlehensbetrag auf der Grundlage eines unwirksamen Vertrags gewährt wurde.55 Nach Ansicht des BGH56 ist es mit dem Effektivitätsgebot unvereinbar, die Ansprüche auf Rückzahlung von „Gesellschafter-Beihilfen“ in der Insolvenz zurückzu53

BGHZ 173, 129 = NZI 2007, 650, Rn. 41 ff. (CDA). Vgl. oben in und bei Fn. 22. 55 Vgl. nur Gehrlein, Kapitalaufbringung und Gesellschafterdarlehen, in: Schimansky/ Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl., 2011, § 84, Rn. 45. 56 BGHZ 173, 103 = NZI 2007, 647, Rn. 25 ff., 31 ff. (SKL-M); BGHZ 173, 129 = NZI 2007, 650, Rn. 24 ff. (CDA); ebenso z. B. Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 96; Mairose (Fn. 26), S. 80 ff.; von der Lühe/Lösler, Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen und Eigenkapitalersatzrecht, ZIP 2002, 1752 (1755 ff.); Sinz, in: Uhlenbruck (Fn. 48), § 38, Rn. 55. 54

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setzen. Der Rückforderungsanspruch müsse daher auch in diesem Fall als gewöhnliche Insolvenzforderung einzustufen sein; dieses Ergebnis schien ihm dermaßen eindeutig als einziges dem Effektivitätsgebot entsprechend, dass er es sogar unterließ, diese – vom EuGH bis heute noch nicht explizit entschiedene – Frage dem EuGH vorzulegen. In der Literatur wird das Ergebnis des BGH aber überwiegend abgelehnt und für die Anwendung der Nachrang-Bestimmungen auch in diesem Sonderfall plädiert.57 An der Rechtslage zur Behandlung von „Gesellschafter-Beihilfen“ hat sich – unabhängig davon, wie man sie zum alten Recht beurteilt hat – auch nach der Neugestaltung des Rechts der Gesellschafterdarlehen durch das MoMiG vom 23. Oktober 2008 nichts geändert.58 Wenn man dem BGH darin folgt, dass es ein Gebot des Effektivitätsprinzips darstellt, dass der Mitgliedstaat den Anspruch auf Rückgewähr einer nicht genehmigten Beihilfe wenigstens als einfacher Insolvenzgläubiger geltend machen kann, so kann es keinen erheblichen Unterschied machen, ob ein vom nationalen Insolvenzrecht angeordneter Nachrang an den eigenkapitalersetzenden Charakter eines Darlehens oder ausschließlich an die Gesellschafterstellung anknüpft (zumal sich richtiger Ansicht nach an der teleologischen Grundlage des Gesellschafterdarlehensrechts, der Finanzierungsfolgenverantwortung des Gesellschafters, durch das MoMiG ohnehin nichts geändert hat59). § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO wird daher auch in seiner Neufassung in dieser Konstellation keine Anwendung finden; der Beihilfengeber kann und muss den Rückforderungsanspruch als einfache, nicht nachrangige Insolvenzforderung anmelden. Meldet der Beihilfengeber seine Forderung allerdings explizit als nachrangiges Gesellschafterdarlehen zur Insolvenztabelle an (was gemäß § 174 Abs. 3 InsO nur zulässig ist, wenn das Insolvenzgericht zur Anmeldung nachrangiger Forderungen ausdrücklich aufgefordert hatte – fehlt es hieran, ist die Anmeldung durch den Insol57 Ehricke, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung (Fn. 43), § 38, Rn. 95; Kindler, Grundlagen, in: ders./Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, § 1 (Stand: 1. EL 2010), Rn. 32; Bork (Fn. 43), S. 301 (314 ff.); Cranshaw (Fn. 11), S. 1007 ff., 1076 ff.; ders. (Fn. 43), 88 (93 ff.); Geuting/Michels (Fn. 43), 12 (15); Rapp/Bauer (Fn. 43), 1 (22); Smid (Fn. 43), S. 405 (417 f.); Heber (Fn. 43), S. 90 f.; Kiewitt (Fn. 43), S. 109 ff.; SchluckAmend (Fn. 43), S. 128 ff., 185; vermittelnd z. B. Mylich, Urteilsanmerkung, ZEuP 2008, 636 (645). 58 Bäuerle, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, 4. Aufl., 2010, § 38, Rn. 33; Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 48), § 39, Rn. 51; Preuß, in: Kübler/Prütting/Bork (Hrsg.), InsO, § 39 (Stand: Nov. 2011), Rn. 82; Dahl, in: Michalski (Hrsg.), GmbHG, 2. Aufl., 2010, Anh. II §§ 32a, 32b a.F., Rn. 35. 59 Vgl. m.w.N. Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., 2009, Anh. §§ 32a, b, Rn. 9; Schmidt, Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht nach der MoMiG-Reform – eine alternative Sicht, ZIP 2010, Beil. zu Heft 39, 15 (17 ff.); ähnlich (an das „Näheverhältnis“ als Gesellschafter anknüpfende gesetzgeberische Entscheidung) Kleindiek, in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., 2009, Anh. § 64, Rn. 115; a.A. z. B. Habersack, in: Ulmer/ders./ Winter (Hrsg.), GmbHG, Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 30, Rn. 37; Huber, Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht nach der MoMiG-Reform, ZIP 2010, Beil. zu Heft 39, 7 (13 ff.): Missbrauch der Haftungsbeschränkung.

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venzverwalter a limine zurückzuweisen und nicht in die Insolvenztabelle aufzunehmen60), ist es nicht möglich, dies unter Hinweis auf das Effektivitätsprinzip zu überspielen;61 denn einen besseren Rang als den, der durch Anmeldung in Anspruch genommen wurde, kann die Feststellung zur Insolvenztabelle (§ 178 Abs. 1 InsO) nicht vermitteln. Der Insolvenzverwalter kann deshalb unter keinen Umständen verpflichtet sein, die Forderung bei der Verteilung so zu berücksichtigen, als ob sie als gewöhnliche Insolvenzforderung angemeldet und festgestellt worden wäre. In Betracht kommt vielmehr nur der Weg über eine (ex nunc wirkende) Änderung der Anmeldung bzw. Nachtragsanmeldung des Beihilfenrückgewähranspruchs mit dem Rang einer einfachen Insolvenzforderung, solange die Masse noch nicht verteilt ist; die Feststellung als nachrangige Forderung steht dem ggf. nicht entgegen.62 f) Insolvenzplanmäßiger Verzicht auf Beihilfenrückgewähransprüche Nach den gleichen Kriterien wie bei einem Forderungs(teil)erlass oder der Abschluss eines einen Forderungs(teil)verzicht enthaltenden außergerichtlichen Vergleichs63 kann auch der Forderungs(teil)erlass im Insolvenzplan eine Beihilfe darstellen, wenn diese Begünstigung „normalen Marktbedingungen“ nicht entspricht.64 Im Rahmen dieser Prüfung wenden Kommission und Gerichte den Maßstab des privaten Investors an, der sich zum Zeitpunkt der Investition in einer ähnlichen Lage wie die betreffende öffentliche Hand bzw. das betreffende öffentliche Unternehmen befunden hat (sog. private market investor test – hier in der Variante des „private creditor test“).65 Diese Frage kann sich auch dann stellen, wenn der Staat gerade mit der Beihilfenrückforderung Insolvenzgläubiger ist und sich mit der Frage der Zustimmung zu einem Insolvenzplan auseinandersetzen muss. Überwiegend wird für diesen Fall allerdings angenommen, der private creditor test sei hier nicht anzuwenden; vielmehr sei die Mitwirkung des Beihilfengebers an einem Insolvenzplan, der 60 Nowak, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Bd. 2, 2. Aufl., 2008, § 174, Rn. 32 a.E. 61 So aber Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 97. 62 Vgl. Eckardt, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., 2009, Kap. 17, Rn. 30. 63 Vgl. Koenig/Hellstern, EU-beihilferechtskonforme Gestaltung von Vergleichsverträgen mit der öffentlichen Hand, RIW 2011, 286 ff.; Solt¦sz/Makowski, Die Nichtdurchsetzung von Forderungen der öffentlichen Hand als staatliche Beihilfe i.S. von Art. 87 I EG, EuZW 2003, 73 ff. 64 Ausf. zu beihilfenrechtlichen Fragen bei der Plansanierung Cranshaw (Fn. 11), S. 1208 – 1525 ff. 65 Vgl. im Einzelnen EuGH, Rs. C-40/85, Slg. 1986, I-23210, Rn. 13 (Belgien/Kommission); Rs. C-305/89, Slg. 1991, I-1603, Rn. 20 (Italien/Kommission); Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, Rn. 60 (SFEI); Rs. C-342/96, Slg. 1999, I-2459, Rn. 41 (Spanien/Kommission); Rs. C-56/93, Slg. 1996, I-723, Rn. 10 (Belgien/Kommission); s. zuletzt EuG, Rs. T-163/04 und T-36/06, BeckRS 2010, 90267 (Bundesverband deutscher Banken e.V./Kommission); ausf. Giesberts, Anforderungen an den „Private Investor Test“ im Beihilfenrecht, EuZW 2009, 484 ff.; Solt¦sz/Makowski (Fn. 63), 73 (75).

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eine Stundung oder einen Teilerlass des Beihilfenrückzahlungsanspruchs vorsieht, ungeachtet des private creditor tests stets unzulässig.66 In der Tat erscheint es, auch wenn die Frage durch den EuGH noch nicht explizit entschieden worden ist, mit dem Effektivitätsprinzip nicht vereinbar, dass der Beihilfengeber einer Abwicklung seine Zustimmung erteilt, die die Weiterführung des durch die rechtswidrige Beihilfe geförderten Unternehmens ermöglicht, ohne dass die Beihilfe in vollem Umfang zurückgezahlt wird. Dies wird im Ergebnis bedeuten, dass ein sanierender, auf die Fortführung des Schuldnerunternehmens gerichteter Insolvenzplan nicht mehr möglich bzw. davon abhängig ist, dass der Beihilfengeber seine Forderung zu 100 % befriedigt erhält.67 Nicht ausreichen dürfte (i. e. für die Anwendung der Obstruktionsregeln der §§ 245, 251 InsO), dass der Beihilfengeber, der wohl auch eine eigene Abstimmungsgruppe bekommen müsste,68 durch den Insolvenzplan genau so gestellt wird, wie er bei insolvenzmäßiger Liquidation stünde. Dass sich hierdurch nur die durch den EuGH gebilligte Gleichstellung des Beihilfengebers mit den übrigen Gläubigern realisiert, ist wohl kein Gegenargument, weil diese Gleichstellung eben nur für den Fall akzeptiert worden ist, dass sich der wettbewerbsverzerrende Effekt der rechtswidrigen Beihilfe schon durch die Liquidation des Beihilfenempfängers und die Einstellung der Betriebstätigkeit erledigt hat. Soll der Beihilfenempfänger im Insolvenzplan saniert werden, gilt dieser Gedanke gerade nicht. Immerhin sollte es als zulässig und gerade nicht als verbotene Bevorzugung eines einzelnen Gläubigers betrachtet werden, wenn der Insolvenzplan unter Berücksichtigung dieser Rechtslage die volle Befriedigung des Beihilfengebers vorsieht. Soweit der Insolvenzplan – ausnahmsweise, wenngleich unproblematisch zulässig – nicht die Sanierung des Beihilfenempfängers regelt, sondern die Liquidation des unternehmenstragenden Schuldners (einschließlich der übertragenden Sanierung) vorsieht, bestehen aber aus diesen Gründen keine Bedenken gegen einen Plan, der dem Beihilfengeber nur oder immerhin diejenigen Befriedigungsaussichten zubilligt, die sich bei einer Liquidation im Regelinsolvenzverfahren ergeben hätten; insoweit sollten dann zulasten des Beihilfengebers auch Mehrheitsprinzip und Obstruktionsverbot eingreifen. 66 Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 96; Köster, ebda., Art. 14 VerfVO, Rn. 46 f.; Mairose (Fn. 26), S. 102 ff.; Borchardt, Die Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Beihilfen beim Verkauf von Vermögenswerten des Beihilfenempfängers durch den Insolvenzverwalter, ZIP 2001, 1301 (1303); Köster/Molle, Gilt das Privatgläubigerprinzip bei der Beihilfenrückforderung?, EuZW 2007, 534 (537); Rapp/Bauer (Fn. 43), 1 (23); wohl auch Solt¦sz/Makowski (Fn. 63), 73 (78); vgl. – hinsichtlich des EU-Beihilfenrecht nur obiter dictum – auch LG Magdeburg, ZInsO 2001, 475 (477); a.A. aber Heidenhain, Einzelne Tatbestandsmerkmale, in: ders. (Fn. 17), § 4, Rn. 12; Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, 2. Aufl., 2005, Rn. 471. 67 Koenig, Bestimmung des passiv-legitimierten Adressaten einer Beihilfenrückforderung nach der Veräußerung eines begünstigten Unternehmens, EuZW 2001, 37 ff.; Mairose (Fn. 26), S. 104 f.; Schluck-Amend (Fn. 43), S. 137 f. 68 Cranshaw (Fn. 11), S. 1272; Mylich (Fn. 57), 636 (641); Schluck-Amend (Fn. 43), S. 132 ff.

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g) Erwerberhaftung bei übertragender Sanierung Wie bereits angedeutet, gehört zu den mittlerweile etablierten Grundsätzen des Beihilfenkontrollrechts ungeachtet ihrer nach wie vor ungeklärten rechtskonstruktiven Grundlagen auch die Erstreckung des „Rückgewähranspruchs“ auf dritte Erwerber von wesentlichen Vermögenswerten des Beihilfenempfängers.69 Dies wird auch und vor allem in der Insolvenz des Beihilfenempfängers nicht selten wirksam: Wird der unternehmerische Betrieb, dessen Rechtsträger die Beihilfen erhalten hat, im Wege der übertragenden Sanierung (des „asset deal“) ganz oder teilweise durch Auffanggesellschaften oder einen Wettbewerber übernommen und weitergeführt, so kann der Erwerber zur Rückerstattung der Beihilfen verpflichtet sein, falls ihm der tatsächliche Nutzen des mit dem Erhalt dieser Beihilfen verbundenen Wettbewerbsvorteils verblieben ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn er die „beihilfeninfizierten“ Aktiva des Insolvenzschuldners erworben hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH setzt dies – entgegen einer zunächst deutlich extensiveren Entscheidungspraxis der Kommission – aber voraus, dass hier kein den Marktbedingungen entsprechender Preis gezahlt wurde, in dem sich auch der durch die Beihilfe gesteigerte Vermögenswert niedergeschlagen hat, oder wenn feststeht, dass hierdurch – vor allem mit der Gründung einer Auffanggesellschaft – die Pflicht zur Rückerstattung der Beihilfen umgangen werden sollte.70 Auch bei einer Veräußerung durch den Insolvenzverwalter muss die Marktgerechtigkeit des Kaufpreises deshalb durch ein offenes, bedingungsfreies und transparentes Bietverfahren nachweisbar gemacht werden.71

III. Kurze Würdigung 1. Das „Ob“ der Rückforderung in der Insolvenz Dass die Rückforderung der Beihilfe auch in der Insolvenz des Empfängers durchgesetzt werden kann und muss, gilt, wie gesehen, als unzweifelhaft. Schon verschiedentlich ist indessen, wenngleich teils in anderem Zusammenhang, darauf hingewiesen worden, dass der Zweck der Beihilfenrückforderung in der Insolvenz des Beihilfenempfängers auch ohne tatsächliche Rückzahlung der Beihilfe erfüllt ist: Dem Durchführungsverbot ist genügt, wenn dem Begünstigten der Vorteil wieder genom69

Vgl. oben bei und in Fn. 26. EuGH, Rs. C-277/00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 86 (Deutschland/Kommission – „SMI“); Götz/Mart†nez Soria, in: Dauses (Fn. 20), Teil H, Rn. 272; Ehricke, Anforderungen an den Insolvenzverwalter bei der Veräußerung des Unternehmens aus einer „beihilfeninfizierten Masse“ zum Schutz des Erwerbers vor Rückforderungsansprüchen, ZInsO 2005, 516 ff.; Heber (Fn. 43), S. 103 ff.; Kiewitt (Fn. 43), S. 167 ff.; Mairose (Fn. 26), S. 108 ff., 132 ff.; s. auch BGHZ 173, 103 = NZI 2007, 647, Rn. 36. 71 Vgl. EuGH, Rs. C-277/00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 95 (Deutschland/Kommission – „SMI“); Karpenstein/Klein, in: Münchener Kommentar (Fn. 17), Anh. zu Art. 14 VerfVO, Rn. 95; Ehricke (Fn. 70), 516 (518); Mairose (Fn. 26), S. 186 ff. 70

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men ist; es ist nicht erforderlich, dass der Beihilfengeber seine Leistung auch zurückerlangt. Indem der insolvente Beihilfenempfänger in der Insolvenz aus dem Markt ausscheidet, hat sich die Beeinträchtigung des Wettbewerbs gewissermaßen erledigt; ob und inwieweit der Mitgliedstaat die zugewendeten Mittel zurückerlangt, ist daher für die Zwecke, die mit der Beihilfenkontrolle und speziell mit der Behilfenrückerstattung primär verfolgt werden, an sich unerheblich.72 Diese Erwägung spielt im Insolvenzfall auch bei der Frage eine Rolle, ob das Effektivitätsprinzip in der Insolvenz des Beihilfenempfängers die Inanspruchnahme eines mithaftenden Dritten verlangt; der BGH verneint dies.73 Legt man dies einmal zugrunde, bedarf aber in besonderem Maße der Begründung, warum in der Insolvenz überhaupt eine Geltendmachung des Beihilfenrückgewähranspruchs erforderlich ist. Dieselbe Frage wird durch den Umstand aufgeworfen, dass sich die Insolvenzmasse nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zwar nach wie vor im Eigentum des Schuldners bzw. schuldenden Unternehmensträgers befindet, dieses Eigentum aber überlagert wird durch die haftungsrechtliche Zuweisung der Insolvenzmasse an die Gläubiger; diese Zuweisung ist dinglich wirksam und materialisiert sich am Ende des Tages in der Teilhabe der Gläubiger am Verwertungserlös. Die richtige Frage ist deshalb, ob die Gläubiger wie ein „Dritter“ für die volle Rückerstattung der Beihilfe haften müssen. Dies ist der Fall, wenn der Umstand, dass die Beihilfenleistung der Sache nach auch den Gläubigern zugute kommt – nämlich durch Erhöhung ihrer Insolvenzquote –, wettbewerbsrechtlich relevante und deshalb im Widerspruch zu Art. 107 f. AEUV stehende Vorteile mit sich bringen würde. Problematisch ist, ob für den Fall einer insolvenzmäßigen Liquidation des Beihilfenempfängers schon die durch die Beihilfe bewirkte Quotenerhöhung ausreicht, um die Rückforderung in der Insolvenz (mit dem Rang einer Insolvenzforderung, dazu sogleich) zu rechtfertigen – hierfür müsste begründet werden, dass die Quotenverbesserung für die Gläubiger des Beihilfenempfängers auch nach dessen Marktaustritt noch den Wettbewerb nachteilig zu beeinflussen geeignet ist. Dafür, dies zu bejahen, spricht immerhin, dass auf diese Weise die im „wirtschaftlichen Umfeld“ des Beihilfenempfängers tätigen Unternehmen gestärkt werden, was gleichzeitig die Unternehmen im wirtschaftlichen Umfeld der Konkurrenten des ursprünglichen Beihilfenempfängers schwächt. Indem das „Umfeld“ des Beihilfenempfängers in der Insolvenz durch die Insolvenzquote immerhin etwas gestärkt wird, wird umgekehrt das wirtschaftliche Umfeld der Wettbewerber relativ geschwächt; dies kann es in der Tat rechtfertigen, von einer fortdauernden Beeinträchtigung des Wettbewerbs auszugehen. Auch wenn dieser Effekt nicht sehr ausgeprägt ist, wird man dies als ausreichend ansehen können, um die Aufrechterhaltung des Rückforderungsanspruchs trotz insolvenzmäßiger Liquidation des Beihilfenempfängers zu legitimieren.

72 Zu diesem Argument s. Bork (Fn. 43), S. 301 (314 f.); Geuting/Michels (Fn. 43), 12 (14); Guski (Fn. 42), 403 (405); Mylich (Fn. 57), 636 (638 f.); Smid (Fn. 43), S. 405 (415). 73 BGHZ 178, 243 = EuZW 2009, 28, Rn. 29 f.

Die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen in der Insolvenz

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2. Das „Wie“ der Rückforderung in der Insolvenz Wenn dem aber so ist, so fragt sich, warum es angemessen ist, dem Rückgewähranspruch der ganz h.M. einschließlich der EuGH-Rechtsprechung gemäß lediglich den Rang einer Insolvenzforderung einzuräumen – immerhin wäre dem Effektivitätsgebot noch mehr gedient, wenn die Beihilfe zu ihrem vollen Wert aus der Masse zurückgezahlt werden müsste, zumindest aber gegenüber den gewöhnlichen Insolvenzforderungen privilegiert wäre. Neben dem eher formalen Argument, dass der Anspruch auf Rückgewähr der nicht genehmigten Beihilfe bereits im Moment der Beihilfengewährung aufschiebend bedingt entstanden sei und deshalb konstruktiv eine Insolvenzforderung i.S.v. § 38 InsO und gerade keine Masseforderung darstelle, wird hierfür in teleologischer Hinsicht geltend gemacht, dass das Insolvenzrecht eine Ausnahme vom Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung zugunsten des Staates gerade nicht vorsehe; deshalb sei die Einräumung eines Vorrangs für den Beihilfenrückerstattungsanspruch mit dem Insolvenzrecht nicht vereinbar. Beide Aussagen sind für sich genommen unbestreitbar zutreffend. Genauso offensichtlich sind sie aber m. E. im vorliegenden Kontext insuffizient: Es ist ja gerade die Frage, ob diese Festlegungen des mitgliedstaatlichen Rechts kraft des vorrangigen und effektiv durchzusetzenden Unionsrechts als derogiert angesehen werden können und müssen. Dass dies in recht offensichtlichem Widerspruch zum Prinzip der Gläubigergleichbehandlung stünde, muss dem nicht per se entgegenstehen. Allerdings wird man durchaus sagen können, dass das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung zum Kernbestand der unionsweit verbreiteten Rechtsprinzipien gehört, mit der Folge, dass sich der unionsrechtliche Beihilfenrückerstattungsanspruch eben nicht ohne weiteres durchsetzt: Auch wenn das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung im europäischen Rechtsvergleich nicht flächendeckend mit absoluter Konsequenz verwirklicht ist, ist es doch als Grundprinzip der Haftungsordnung den Rechtsordnungen aller EU-Mitgliedstaaten gemeinsam,74 und im Hinblick auf die Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO), die die Gläubigergleichbehandlung zwar nirgends ausspricht, implizit aber sehr wohl zu verwirklichen trachtet,75 und die ebenfalls hierauf basierenden Richtlinien über die Insolvenz von Kreditinstituten (2001/24/EG) und Versicherungsunternehmen (2001/17/EG) hat es auf der Ebene des Unionsrechts seinen Platz gefunden. Aber damit kommt man eben nur weiter, wenn die Beihilfenrückforderung sich auf die Haftungsverwirklichung beschränken würde;76 dies ist indessen nicht der Fall, wie die Überlegungen zum Primärzweck des Rückforderungsimperativs – die Restitution der durch die rechtswidrige Subvention verletzten Chan74 Vgl. Wiýrek, Das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung im europäischen Insolvenzrecht, 2005, S. 99 ff., 140 ff., 169 ff., 178 ff.; speziell zur Beihilfenrückgewähr s. auch Ristow (Fn. 43), S. 72 ff. 75 Zutr. Guski (Fn. 42), 403 (418); siehe auch Wiýrek (Fn. 74), S. 64 und passim; Paulus, Europäische Insolvenzverordnung, 2010, Art. 20, Rn. 1 f., 10 ff. 76 Entgegen Guski (Fn. 42), 403 (419).

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cengleichheit im Wettbewerb – gezeigt haben. Gerade die nunmehr auch in Deutschland etablierte Zubilligung einer drittschützenden Wirkung (mit der Folge, dass Dritte sich mit eigenen Rechten in den Rückabwicklungsvorgang einschalten können)77 zeigt doch die Unangemessenheit der Vorstellung, es gehe schlicht darum, dem Beihilfengeber eine empfangene Bereicherung zurückzuerstatten. Gleichwohl vermag die Qualifizierung des Rückerstattungsanspruchs als gewöhnliche Insolvenzforderung rechtspolitisch zu befriedigen. Denn gleich den Beiträgen, die andere Insolvenzgläubiger zum gegenwärtigen Umfang der Insolvenzmasse geleistet haben, ist die Beihilfenleistung im Schuldnervermögen umgesetzt worden: Sie trägt zu deren gegenwärtigen Bestand nicht mehr und nicht weniger bei als die Leistung eines Vertragspartners, der vorgeleistet hat und auf seine Entgeltforderung nunmehr nur noch die Quote zu erwarten hat. Insofern bedeutet eben auch die nach wie vor vorhandene Beeinträchtigung des Wettbewerbs, auf die der Fortbestand des Beihilfenrückerstattungsanspruchs in der Insolvenz gestützt wurde, nicht, dass die Beihilfenleistung gewissermaßen zu ihrem vollen Nennbetrag diese Wirkung noch entfalten würde; diese Wirkung ist gewissermaßen nur noch quotal, also zu demjenigen Anteil auf die Beihilfenleistung zurückzuführen, zu dem der Beihilfenrückgewähranspruch sich zu den übrigen Insolvenzforderungen verhält. Insofern befriedigt es das Gerechtigkeitsgefühl weitaus mehr, die Beihilfenrückerstattung ebenfalls lediglich quotal zu berücksichtigen. Richtig ist jedenfalls auch, dass sich in der Gläubigergleichbehandlung zugleich die wechselseitige Mitverantwortung für die Insolvenz und damit den Ausfall des Mitgläubigers ausdrückt, die jeder Gläubiger durch seine Kreditgewährung trägt.78 Diese Mitverantwortung trifft auch den Beihilfengeber – häufig sogar weit mehr noch als einen privaten Kreditgeber, da die Beihilfe gerade die Betriebsfortführung trotz finanzieller Schwierigkeiten bezweckte.79 Der Umstand, dass hier die unionsrechtlich geforderte Rückabwicklung der Beihilfe gerade den Gestaltungswillen des nationalen Beihilfengebers außer Kraft setzen soll, trägt nicht gegenüber diesem gewissermaßen objektiven Kriterium, wenngleich einzuräumen ist, dass man mit einem rigoros gehandhabten Effektivitätsprinzip letztlich jedes Ergebnis rechtfertigen kann. 3. Die Rückforderung von „Gesellschafter-Beihilfen“ Nicht klar zu beantworten bleibt auch die Behandlung der als Fremdkapital geleisteten Beihilfen eines GmbH-Gesellschafters. Der BGH verweist darauf, dass der Beihilfengeber sich der Rückforderung nicht dadurch entziehen könne, dass er die Beihilfe in das Stammkapital oder die Kapitalrücklage (§ 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB) leiste; folgerichtig verneint er dann auch die Anwendbarkeit der Kapi77

Vgl. oben in und bei Fn. 27. Guski (Fn. 42), 403 (421) unter Hinweis auf Häsemeyer, Die Gleichbehandlung der Konkursgläubiger, KTS 1982, 507 ff.; dens., Insolvenzrecht, 4. Aufl., 2007, Rn. 2.26. 79 Smid (Fn. 43), S. 405 (414). 78

Die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen in der Insolvenz

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talerhaltungsbestimmungen auf eine bereits erfolgte Rückzahlung des Kapitals.80 Das klingt wie eine petitio principii: Inwieweit Gläubigerinteressen gegenüber der Beihilfenrückführung zu beachten sind, ist doch gerade die Frage; sie ist hinsichtlich des Kapitals und des Gesellschafterdarlehens gleich zu beantworten (und womöglich in beiden Fällen in übereinstimmender Weise zu verneinen81). Die Aussage des Europäischen Gerichtshofs, dass das den Gläubigern haftende Kapital vor einer Rückforderung nicht geschützt ist,82 bezieht sich auf die ordnungsgemäße Liquidation des betreffenden Unternehmensträgers und damit auf den potentiellen Liquidationsüberschuss; damit ist keineswegs die Gleichbehandlung der Kapitalgeber mit den Gläubigern im Fall der Insuffizienz des Haftungssubstrats bereits festgeschrieben. Für die Lösung des Bundesgerichtshofs spricht gleichwohl bereits, dass die deutsche Rechtsordnung mit der Subordination von Gesellschafterdarlehen rechtsvergleichend einen Sonderweg beschreitet;83 der Gedanke der europaweiten Rechtsanwendungsgleichheit bei der Beihilfenrückforderung streitet daher in der Tat dafür, den Nachrang hier auszublenden. Letztlich entscheidend muss aber sein, dass eine effektive Durchsetzung des Rückforderungsimperativs vor dem haftenden Kapital nicht haltmachen kann und damit noch weniger vor den Gesellschafterhilfen; dass dies gegenüber den legitimen Gläubigerinteressen gerechtfertigt ist, folgt dabei aus denselben Erwägungen, wie sie überhaupt die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs in der Insolvenz rechtfertigen.

IV. Conclusio Mit den Auswirkungen des „Effektivitätsprinzips“ bei der Durchsetzung der Beihilfenrückgewähr kann das Insolvenzrecht leben. Die Rechtsprechung des EuGH hat sich hier schon früh darauf festgelegt, die par condicio creditorum zu respektieren; angesichts eines vielfach dezisionistisch anmutenden Umgangs mit dem Verhältnis des Beihilfenrückforderungsimperativs zum mitgliedstaatlichen Recht scheint hier ein konsensfähiger Kompromiss gefunden, der auf anderen Gebieten nur noch schwer erreichbar erscheint.

80

BGHZ 173, 129 = NZI 2007, 650, Rn. 25 f. (CDA). So zum Stammkapital Cranshaw (Fn. 43), 88 (94); von der Lühe/Lösler (Fn. 56), 1752 (1757). 82 EuGH, Rs. C-52/84, Slg. 1986, I-89, Rn. 12 ff. (Kommission/Belgien); vgl. auch EuG, Rs. T-318/00, Slg. 2005, II-4179, Rn. 220 f., 234 (Freistaat Thüringen/Kommission). 83 Nachweise bei Mylich (Fn. 57), 636 (646). 81

Das Verhältnis von Arbeitsrecht und Binnenmarktrecht Von Sebastian Krebber

I. Fragestellung Arbeitsrecht dient dem Schutz des Arbeitnehmers. Arbeitnehmerschutz wird im wesentlichen durch mitgliedstaatliches Recht gewährleistet. Europäisches Arbeitsrecht ist mit Ausnahme des Arbeits1- und Diskriminierungsschutzes2 punktueller Natur, nicht selten rudimentären Gehalts, und es klammert besonders bedeutsame arbeitsrechtliche Themen (Koalitions-, Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht; Finden der Lohnhöhe; allgemeinen Kündigungsschutz) insgesamt aus. Das Binnenmarktrecht auf der anderen Seite ist unionsrechtliches Wirtschaftsrecht. Es verwirklicht den Binnenmarkt i.S.v. Art. 26 Abs. 2 AEUV. Seinen rechtlichen Kern bilden die Grundfreiheiten, die durch das Europäische Kartell- und Beihilferecht sowie das Vergaberecht flankiert werden3. Wenn Binnenmarktrecht arbeitsrechtliche Sachverhalte erfaßt (im folgenden Binnenmarktarbeitsrecht), treffen folglich Normen unterschiedlicher Regelungsebenen und mit abweichender Zielsetzung aufeinander. Im folgenden wird untersucht, in welchem Verhältnis Arbeitsrecht und Binnenmarktrecht zueinander stehen. Erster Schritt ist eine Bestandsaufnahme des Binnenmarktarbeitsrechts.

1 Richtlinie 89/391/EWG vom 12. 06. 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit, ABl.EG 1989 Nr. L 183/1, die durch zahlreiche Einzelrichtlinien ergänzt wird, s. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie. 2 Richtlinie 2006/54/EG vom 05. 07. 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl.EU 2006 Nr. L 204/23; Richtlinie 2000/43/EG vom 29. 06. 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl.EG 2000 Nr. L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG vom 27. 11. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl.EG 2000 Nr. L 303/16. 3 Zum Begriff hier nur Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 26 AEUV, Rn. 8 ff.

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II. Bestandsaufnahme des Binnenmarktarbeitsrechts4 1. Grundfreiheiten a) Arbeitnehmerfreizügigkeit Die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEUV statuiert keinen typischen Arbeitnehmerschutz, wie er aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist, sondern ergänzt diesen um Regelungen für spezifische Fragen im Zusammenhang mit der Situation, in der ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates unselbständige Arbeit bei einem Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat aufnehmen möchte. Der arbeitsrechtliche Regelungsgehalt des Rechts der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt sich auf ein Gleichstellungsgebot mit den Arbeitnehmern des Bestimmungsstaates5, der Schwerpunkt betrifft Ausländer-6, Sozial-7 und teilweise auch das Steuerrecht8. Konstellationen, in denen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Arbeitsrecht kollidieren können, sind somit von vornherein begrenzt9.

4 Ausgeklammert werden Auflagen an Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Versuchen der Rettung des Euro: Art. 2 Abs. 2 lit. d, Abs. 3 lit. c–e, Abs. 5 lit. a, c, Abs. 6 lit. a Ratsbeschluss 2010/23/EU vom 08. 06. 2010 gerichtet an Griechenland zwecks Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung und zur Inverzugsetzung Griechenlands mit der Maßgabe, die zur Beendigung des übermäßigen Defizits als notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen, ABl.EU 2010 Nr. L 145/6; Art. 3 Abs. 4 lit. c, Abs. 6 lit. h–k, Abs. 7 lit. a Ratsbeschluss 2011/344/EU vom 30. 05. 2011 über einen finanziellen Beistand der Union für Portugal, ABl.EU 2011 Nr. L 159/88; Art. 3 Abs. 6, Abs. 7 lit. a, b, h, i, Abs. 8 lit. a Ratsbeschluss 2011/77/EU vom 07. 12. 2010 über einen finanziellen Beistand der Union für Irland, ABl.EU 2011 Nr. L 30/34. 5 Art. 45 Abs. 2 AEUV; Art. 7 Abs. 1 und 4, Art. 8 VO 1612/68 vom 15. 10. 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl.EG 1968 Nr. L 257/02. 6 Art. 45 Abs. 3 lit. b, c; das konkretisierende Sekundärrecht betrifft inzwischen die allgemeine Freizügigkeit auch des Art. 21 AEUV und nicht nur die der Arbeitnehmer, Richtlinie 2004/38/EG vom 29. 04. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/ 96/EWG, ABl.EU 2004 Nr. L 158/77. 7 Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 vom 05. 04. 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU 2011 Nr. L 141/01 (seit 15. 06. 2011 als Nachfolger der Verordnung 1612/68 vom 15. 10. 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl.EG 1968 Nr. L 257/02) sowie vor allem die Koordinierungsverordnung 883/2004 vom 29. 04. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2004 Nr. L 166/01. 8 Im Rahmen von Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 vom 05. 04. 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU 2011 Nr. L 141/01. 9 Zu einem Beispiel unten Fn. 28.

Das Verhältnis von Arbeitsrecht und Binnenmarktrecht

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b) Herkunftslandprinzip bei Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit aa) Beschränkungsverbot und Herkunftslandprinzip Ein in der Rechtsprechung des EuGH entwickeltes Kernelement des Binnenmarkts ist das Herkunftslandprinzip: Das Verständnis der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote10 führt in den Grenzen der Keck-Rechtsprechung11 im Ergebnis dazu, daß ein in einem Mitgliedstaat rechtmäßig auf den Markt gebrachtes Produkt in dieser Form Zugang zum Markt eines anderen Mitgliedstaates hat12. Die Anwendung des Rechts des Bestimmungsstaates ist als Beschränkung der Grundfreiheit nur dann grundfreiheitenkonform, wenn sie wegen zwingender Gründe des Allgemeininteresses notwendig ist13. bb) Beschränkungsverbot und Herkunftslandprinzip in Sachverhalten mit Bezügen zum Arbeitsrecht (1) Arbeitnehmerüberlassung und Vermittlung von Arbeitnehmern Zeitlich zuerst wurde aus dem hier interessierenden Bereich soweit ersichtlich die Vereinbarkeit des Genehmigungserfordernisses der Arbeitnehmerüberlassung im Bestimmungsstaat an diesem Schema gemessen. Weil (nur) der Bestimmungsstaat Belange des eigenen Arbeitsmarkts berücksichtigen kann, ist sein Genehmigungserfordernis auch dann im Grundsatz grundfreiheitenkonform, wenn schon eine Genehmigung im Herkunftsland vorliegt14. Zeitlich später geprüfte Niederlassungserfordernisse eines Verleihers im Bestimmungsstaat sind es hingegen nicht, da der EuGH in den hinter dem Erfordernis der Niederlassung stehenden Überlegungen Erwägungen rein administrativer Art sieht15 oder das Erfordernis einer Niederlassung für unverhältnismäßig hält16.

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EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837, Rn. 5 (Dassonville); Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 f. (Gebhard); zur Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs. C-76/90, Slg. 1991, I-4221, Rn. 12 (Säger); Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039, Rn. 43 (Schindler). 11 EuGH, Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6079, Rn. 15 f. (Keck und Mithouard); Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141, Rn. 36 ff. (Alpine Investments BV/Minister van FinanciÜn). 12 Steindorff, Gemeinsamer Markt als Binnenmarkt, ZHR 150 (1986), 687 (689). 13 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8 (Cassis de Dijon). 14 EuGH, Rs. 279/80, Slg. 1981, 3305, Rn. 17 ff. (Webb). 15 EuGH, Rs. C-493/99, Slg. 2001, I-8163, Rn. 17 ff. (Kommission/Deutschland); ob es in dem Fall überhaupt um ein Niederlassungserfordernis ging, ist für den hiesigen Zusammenhang nicht relevant. 16 EuGH, Rs. C-279/00, Slg. 2002, I-1425, Rn. 18 ff. (Kommission/Italien).

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(2) Entsendung von Arbeitnehmern Ein Arbeitgeber aus einem Mitgliedstaat erbringt, geschützt durch Art. 56 AEUV, seine Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat der EU, ohne sich dort niederzulassen. Seine zu diesem Zweck mitgebrachten Arbeitnehmer arbeiten als Ausdruck des Herkunftslandprinzips in dem Bestimmungsstaat zu den Arbeitsbedingungen des Heimatstaates. Zeitlich vergleichsweise früh hat der EuGH in drei obiter dicta ausgeführt, daß es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt sei, seine Rechtsvorschriften oder Tarifverträge auf alle Personen anzuwenden, die sich auch nur vorübergehend in seinem Hoheitsgebiet aufhalten17. Ende 1996 wurde diese Verdrängung des Herkunftsland- durch das Bestimmungslandprinzip durch den europäischen Gesetzgeber in die Entsenderichtlinie18 übernommen. Nach Unsicherheiten über die Konformität mit dem allgemeinen Grundfreiheitenverständnis19 hat der EuGH die Entsenderichtlinie inzwischen in sein Schema eingebaut: Das Arbeitsrecht des Bestimmungsstaates auf entsandte Arbeitnehmer anzuwenden, stellt eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit des Arbeitgebers dar. Der möglicherweise rechtfertigende zwingende Grund des Allgemeininteresses ist der Schutz der entsandten Arbeitnehmer. Das Ausmaß des zulässigen Schutzes dieser Arbeitnehmer durch Anwendung des Arbeitsrechts des Bestimmungsstaates wird abschließend durch die Entsenderichtlinie konkretisiert. Nur soweit es die Entsenderichtlinie vorsieht, ist die Verdrängung des Herkunftslandprinzips zugunsten des Bestimmungslandprinzips also unionsrechtskonform20. (3) Tariftreueerklärungen Daher sind auch sog. Tariftreueerklärungen unionsrechtswidrig, die nach den Landesvergabegesetzen einiger Bundesländer von Bietern um einen öffentlichen Auftrag verlangt werden21, um sicherzustellen, daß ein Auftrag der öffentlichen Hand nur an Anbieter vergeben wird, die sich zur Einhaltung eines Tarifvertrags verpflichten. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 der Entsenderichtlinie nennt in seinen beiden Spiegelstrichen als mögliche Grundlagen des anzuwendenden Rechts des Bestimmungsstaates aber nur Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder allgemeinverbindlich er-

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EuGH, Rs. 62/81 und 63/81, Slg. 1982, 223, Rn. 14 (Seco/EVI); Rs. C-113/89, Slg. 1990, I-1417, Rn. 18 (Rush Portuguesa); Rs. C-43/93, Slg. 1994, I-3803, Rn. 23 (Vander Elst). 18 Richtlinie 96/71/EG vom 16. 12. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl.EG 1997 Nr. L 18/01. 19 Zur Auseinandersetzung vgl. nur Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 136 EGV, Rn. 13, 16 m.w.N. 20 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 (Laval); Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989 (Rüffert); Rs. C-319/06, Slg. 2008, I-4323 (Kommission/Luxemburg). 21 Zu einem Überblick der landesrechtlichen Grundlagen vor der Einwirkung des Unionsrechts: Krebber, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 1. Aufl., 2008, § 5 TVG, Rn. 4.

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klärte Tarifverträge, worunter die Tariftreueerklärung nach Auffassung des EuGH nicht fällt22. (4) Gründungstheorie bei juristischen Personen Die Sitztheorie, nach der auf eine juristische Person das Recht des jeweiligen Sitzstaates anwendbar ist und die im internationalen Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten vorherrschend war23, durch die Gründungstheorie zu ersetzen24, ist ebenfalls Ausdruck des Herkunftslandprinzips. So wird es möglich, eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat ohne Unternehmensmitbestimmung zu gründen25 und ihren Sitz anschließend in einen Mitgliedstaat zu verlegen, dessen Arbeits- und Gesellschaftsrecht eine Mitbestimmung in Unternehmensorganen vorsieht26. Zeitnah zu den entsprechenden Entscheidungen sind die rechtlichen Grundlagen für die Societas Europaea einschließlich einer Richtlinie zur Beteiligung der Arbeitnehmer entstanden27. c) Arbeitskämpfe als Beschränkung der Ausübung von Grundfreiheiten Arbeitskämpfe, deren grundlegende Rechtmäßigkeit wegen Art. 153 Abs. 5 AEUV nach mitgliedstaatlichem Recht zu beurteilen ist, können in einem tatsächlichen Kontext erfolgen, der von einer Grundfreiheit geschützt wird. In der Rechtsprechung des EuGH ging es bislang um Fälle aus dem Bereich von Warenverkehrs-, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit28. In dem ersten einschlägigen Fall sanktionierte der EuGH noch das Unterlassen des Mitgliedstaates, nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen zu haben, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird29. In zwei späteren Rechtssachen maß der EuGH Niederlassungs- und 22

EuGH, Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989, Rn. 21 ff. (Rüffert). Statt vieler Großfeld, in: Staudinger/Großfeld (Hrsg.), Kommentar zum BGB, 13. Neubearb., 1998, IntGesR, Rn. 28 ff. 24 EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (Centros); Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (Überseering); Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 (Inspire Art). 25 England: Pettet, in: Lowry/Reisberg (Hrsg.), PettetÏs Company Law, 3. Aufl., 2009, S. 70 f.; Mayson/French/Ryan, Company Law, 25. Aufl., 2008, S. 26; zur unterschiedlichen Rechtslage in den Mitgliedstaaten Junker, Unternehmensmitbestimmung in Deutschland, ZfA 2005, 1 (17 ff.). 26 Ausdrücklich EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (Überseering). 27 Verordnung 2157/2001 vom 08. 10. 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl.EG 2001 Nr. L 294/01; Richtlinie 2001/86/EG vom 08. 10. 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl.EG 2001 Nr. L 294/22. 28 Vorstellbar ist ein entsprechender Arbeitskampf auch im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, zu Beispielen Wagner, Der Arbeitskampf als Gegenstand des Rechts der Europäischen Union, 2010, S. 38 ff. 29 EuGH, Rs. C-265/95, Slg 1997, I-6959 (Kommission/Frankreich). 23

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Dienstleistungsfreiheit Drittwirkung zu und prüfte unmittelbar den Arbeitskampf an seinem Grundfreiheitenschema30. In der Rs. Viking wird die Arbeitskampfmaßnahme in einem ersten Schritt als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit qualifiziert. Nach anschließender Bejahung eines unionsrechtlichen Rechts auf Arbeitskampf wird in der Argumentation das Grundfreiheitenschema wieder aufgegriffen und geprüft, inwiefern dieses Unionsgrundrecht die Grundfreiheitsbeschränkung als zwingender Grund des Allgemeininteresses rechtfertigen kann31. Das Grundrecht wird hierbei als bloßer Unterfall des allgemein als Allgemeininteresse anerkannten Arbeitnehmerschutzes behandelt32. Die Rs. Laval betraf einen Arbeitskampf, der auf den Abschluß eines Tarifvertrags nach dem Recht des Bestimmungsstaates gerichtet war, der Arbeitsbedingungen entsandter Arbeitnehmer regeln sollte. Geprüft wurde, nachdem die Arbeitskampfmaßnahme als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit qualifiziert wurde, ob eine Rechtfertigung aus dem zwingenden Grund Arbeitnehmerschutz in Betracht komme. Abgelehnt wurde dies mit der bereits erwähnten Argumentation, daß die Entsenderichtlinie den Arbeitnehmerschutz abschließend konkretisiere und diese Form des Tarifvertrags nicht vorsehe33. 2. Wettbewerbsrecht Der EuGH hat staatliche Arbeitsvermittlungsstellen als Unternehmen qualifiziert. Danach unterliegen sie nach Art. 106 Abs. 2 AEUV den Regeln des Europäischen Wettbewerbsrechts, wenn dessen Anwendung die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht verhindert. Dies sei bei einem staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopol nicht der Fall, wenn dieses offenkundig die Nachfrage nicht befriedigen könne, das Monopol die Vermittlung von Führungskräften umfasse und die Vermittlungstätigkeit sich auf andere Mitgliedstaaten oder deren Angehörige erstrecken könne. Auch der Mitgliedstaat, der ein solches gesetzliches Arbeitsvermittlungsmonopol statuiert, verstoße gegen Unionsrecht34. Den Kernbestand des Arbeitsrechts betrifft, ob Tarifverträge dem Europäischen Kartellrecht, Art. 101 AEUV, unterliegen. In weitgehend identischen Textbausteinen hat der EuGH in den Rs. Albany35, Brentjens Handelsonderneming36 und Drijvende Bokken37 entschieden, daß Tarifverträge, die der Verbesserung von Beschäftigungs30

EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 43 (Viking), sowie Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 90 (Laval). 31 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 67 ff. (Viking). 32 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 77 ff., insbesondere Rn. 80, 81, 84 (Viking). 33 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 81 ff. (Laval). 34 EuGH, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 20 ff. (Höfner u. Elsner); Rs. C-55/96, Slg. 1997, I-7119, Rn. 20 ff. (Job Centre II); Rs. C-258/98, Slg. 2000, I-4217, Rn. 13 (Carra). 35 EuGH, Rs. C-67/96, Slg. 1999, I-5863 (Albany). 36 EuGH, Rs. C-115/97 – C-117/97, Slg. 1999, I-6025 (Brentjens Handelsonderneming). 37 EuGH, Rs. C-219/97, Slg. 1999, I-6121 (Drijvende Bokken).

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und Arbeitsbedingungen dienen, „aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands“ nicht unter Art. 101 AEUV fallen38. Spätere Urteile bestätigen diese Haltung39. Der EuGH allerdings begnügt sich nicht mit der bloßen Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Art. 101 AEUV, sondern nimmt eine Prüfung vor, ohne indes präzise zu benennen, was die jeweiligen Voraussetzungen der verwendeten Merkmale sind40. Verlangt werden Tarifverhandlungen zwischen Sozialpartnern41, doch bleibt offen, welches die Anforderungen an diese Sozialpartner sind. Tarifverhandlungen in diesem Sinne sollen nicht vorliegen, wenn sie Selbständige betreffen42. Wenn die „Verbesserung“ der Arbeitsbedingungen hervorgehoben wird, wird nicht mit letzter Sicherheit deutlich, ob es sich um eine bloße Floskel handelt oder ob es sich jedenfalls in dem weiteren Sinne einer Absicherung/Garantie tatsächlich um eine Voraussetzung für die Nichtanwendbarkeit des Europäischen Kartellrechts handelt, deren Vorliegen im Einzelfall verneint werden könnte43. 3. Vergaberecht Gemäß § 1a BetrAVG hat ein Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltumwandlung. Beruhen die Entgeltansprüche auf einem Tarifvertrag, muß auch die Entgeltumwandlung nach § 17 Abs. 5 BetrAVG durch Tarifvertrag vorgesehen oder zugelassen sein. Ein Tarifvertrag zwischen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di macht von dieser Möglichkeit Gebrauch und bestimmt, daß die Entgeltum38 EuGH, Rs. C-67/96, Slg. 1999, I-5863, Rn. 59 ff., wörtliches Zitat in Rn. 64 (Albany); Rs. C-115/97 – C-117/97, Slg. 1999, I-6025, Rn. 56 ff., wörtliches Zitat in Rn. 61 (Brentjens Handelsonderneming); Rs. C-219/97, Slg. 1999, I-6121, Rn. 46 ff., wörtliches Zitat in Rn. 51 (Drijvende Bokken). 39 EuGH, Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451, Rn. 67 ff. (Pavlov); Rs. C-222/98, Slg. 2000, I-7111, Rn. 22 ff. (van der Woude); Rs. C-437/09, Slg. 2011, n.n.i.Slg., Rn. 29 ff. (AG2R Pr¦voyance). 40 Ein Umstand, dessen Folgen in der jüngsten Entscheidung spürbar werden, siehe EuGH, Rs. C-437/09, Slg. 2011, n.n.i.Slg., Rn. 29 ff. (AG2R Pr¦voyance). Zu einer möglichen Deutung der Merkmale, Ackermann, Kartellrecht und Arbeitsmarkt: Der Geltungsanspruch der §§ 1 f. GWB, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Kartellrecht und Arbeitsmarkt, 2010, S. 17 (29 ff.). 41 EuGH, Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451, Rn. 68 (Pavlov); Rs. C-437/09, Slg. 2011, n.n.i.Slg., Rn. 31 (AG2R Pr¦voyance). 42 EuGH, Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451, Rn. 69 (Pavlov). Folgt man der Argumentation des EuGH, die einen Bezug zu Art. 151 AEUV herstellt, sind Tarifverträge mit arbeitnehmerähnlichen Personen (§ 12a TVG) von der Bereichsausnahme erfaßt, wenn diese Personen allgemein unter Art. 151 ff. AEUV fallen. Dazu Rebhahn/Reiner, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 136 EGV, Rn. 1, Art. 137 EGV, Rn. 4; Krebber, in: Calliess/ Ruffert (Fn. 3), Art. 153 AEUV, Rn. 2. 43 Vgl. die Ausführungen insbesondere in EuGH, Rs. C-222/98, Slg. 2000, I-7111, Rn. 25 (van der Woude); Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451, Rn. 68 (Pavlov); Rs. C-437/09, Slg. 2011, n.n.i.Slg., Rn. 32 (AG2R Pr¦voyance).

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wandlung grundsätzlich bei öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen oder der Sparkassen-Finanzgruppe oder den Kommunalversicherern durchgeführt werden muß. In dieser Vergabe der Verträge über Dienstleistungen der betrieblichen Altersvorsorge ohne unionsweite Ausschreibung sieht der EuGH44 einen Verstoß gegen Europäisches Vergaberecht45. Er überträgt seine Rechtsprechung zum Verhältnis von Tarifverträgen und Art. 101 AEUV auf das Vergaberecht nicht; beide Gebiete des Unionsrechts hätten eigene Anwendungsvoraussetzungen46. Geprüft wird vielmehr, ob bei Ausschreibungspflicht zwischen den Interessen der Verbesserung des Rentenniveaus der Arbeitnehmer auf der einen und der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Öffnung für den Wettbewerb auf Unionsebene auf der anderen Seite „das rechte Gleichgewicht gewahrt worden ist“47. Dies wird bejaht, weil die Beachtung der Vergaberichtlinien nicht unvereinbar mit den sozialpolitischen Zielen sei, welche die Tarifvertragsparteien in Ausübung ihres Rechts auf Kollektivverhandlungen verfolgt hätten48. 4. Beihilferecht In den Mitgliedstaaten finden sich vielfach Beispiele für finanzielle Unterstützungen oder Entlastungen in arbeitsrechtlichen Sachverhalten49. Handelt es sich hierbei um Beihilfen i.S.v. Art. 107 ff. AEUV50, greift das grundsätzliche unionsrechtliche 44

EuGH, Rs. C-271/08, Slg. 2010, n.n.i.Slg., Rn. 36 ff. (Kommission/Deutschland). Nunmehr Art. 8, 20, 23 – 55 RL 2004/18/EG vom 31. 03. 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl.EU 2004 Nr. L 134/114; der Entscheidung lag noch die Vorgängerrichtlinie 92/50/ EWG vom 18. 06. 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge, ABl.EG 1992 Nr. L 209/01 zugrunde. 46 EuGH, Rs. C-271/08, Slg. 2010, n.n.i.Slg., Rn. 48 (Kommission/Deutschland). 47 EuGH, Rs. C-271/08, Slg. 2010, n.n.i.Slg., Rn. 52 (Kommission/Deutschland). 48 EuGH, Rs. C-271/08, Slg. 2010, n.n.i.Slg., Rn. 53 ff., 66 (Kommission/Deutschland). 49 Deutschland: Zuschüsse zu Arbeitsentgelten an Arbeitgeber bei Einstellung von Arbeitnehmern mit Vermittlungshemmnissen, §§ 217 – 221 SGB III, sowie älterer bzw. jüngerer Arbeitnehmer, §§ 421f, 421o, 421p SGB III; näher statt vieler, Waltermann, Sozialrecht, 9. Aufl., 2011, Rn. 404 ff. Frankreich: Loi 2006 – 457 vom 21. 04. 2006 sur lÏaccÀs des jeunes — la vie active en entreprise, J.O. vom 22. 04. 2006, mit dem die Rücknahme einer Absenkung des Schutzniveaus beim Beendigungsschutz junger Arbeitnehmer durch eine Senkung der Lohnnebenkosten kompensiert wurde. Spanien: Art. 2 Ley 43/2006 vom 29. 12. 2006 para la mejora del crecimiento y del empleo, BOE Nr. 312 vom 30. 12. 2006, bei dem die Senkung der Lohnnebenkosten eine Einschränkung der Befristungsmöglichkeiten des Art. 15 Estatuto de los Trabajadores begleitete. 50 Maßnahmen, die gleich in welcher Form (Tun oder Unterlassen) die Belastungen verringern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, statt vieler hier Cremer, in: Calliess/Ruffert (Fn. 3), Art. 107 AEUV, Rn. 10 mit umfangreichen Nachweisen. Zu im hiesigen Kontext einschlägigen Beispielen, vgl. Arhold, in: Montag/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), 2011, Art. 107 AEUV, Rn. 117 ff. 45

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Beihilfeverbot in Art. 107 Abs. 1 AEUV51. Die Kommission hat teilweise die Voraussetzungen für die rechtliche Beurteilung entsprechender Beihilfen präzisiert52. In einer Reihe von Verordnungen hat der Europäische Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen Befreiungen von diesem Verbot in arbeitsrechtlichen Sachverhalten statuiert53. 5. Fazit Die Bestandsaufnahme ergibt ein in sich nicht widerspruchsfreies Bild vom Verhältnis von Arbeitsrecht und Binnenmarktrecht. Eine allgemeine, unionspolitikenübergreifende Herangehensweise ist nicht erkennbar. Das Verhältnis ist jeweils punktuell gestaltet. Auf der einen Seite stehen die Grundfreiheiten Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit, zu denen der EuGH ein Verständnis geprägt hat, welches dem Binnenmarkt Vorrang einräumt. Zwar hat der EuGH zunächst auch den Weg zur Entsenderichtlinie geöffnet, diese inzwischen aber auf eine Art in sein Grundfreiheitendenken integriert, daß diese Norm, die das Herkunftsland- durch das Bestimmungslandprinzip verdrängen soll, nunmehr selbst Grenzen für die Anwendung des Arbeitsrechts des Bestimmungsstaates zieht. Selbst das in der Rs. Viking anerkannte unionsrechtliche Grundrecht auf Arbeitskampf wird dem Prüfungsschema und der Dogmatik der Grundfreiheiten untergeordnet und nicht anders geprüft als ein beliebiges mitgliedstaatliches Institut des Arbeitnehmerschutzes. Auf der anderen Seite steht die Bereichsausnahme für Tarifverträge vom Kartellrecht, ebenfalls vom EuGH entwickelt. Zum Vergaberecht ist mit soweit ersichtlich einer einzigen Entscheidung noch nicht hinreichend Material vorhanden, um eine Richtung auszumachen. Zwingende Gründe dafür, warum der EuGH seine Rechtsprechung zu Art. 101 AEUV auf das Vergaberecht nicht übertragen hat, drängen sich jedoch nicht auf, zumal der Gegenstand des Tarifvertrags in der Vergabeentscheidung durchaus mit denen der Tarifverträge in den Urteilen zu Art. 101 AEUV 51 Zu Beispielen aus der Rechtsprechung: EuGH, Rs. C-241/94, Slg. 1996, I-4551 (Frankreich/Kommission); Rs. C-251/97, Slg. 1999, I-6639 (Kommission/Frankreich); Rs. C-5/01, Slg. 2002, I-11991 (Belgien/Kommission). 52 Vgl. nur Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten vom 01. 10. 2004, ABl.EU 2004 Nr. C 244/02, verlängert bis zum 09. 10. 2012, ABl.EU 2009 Nr. C 156/03; siehe insbesondere deren Ziff. 60 ff. 53 Siehe Verordnung 800/2008 vom 06. 08. 2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt in Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungs-Verordnung), ABl.EU 2008 Nr. L 214/ 03; siehe insbesondere deren Art. 13 Abs. 8, 14 Abs. 5 lit. d, 15 Abs. 3 lit. b, 16 Abs. 5 lit. d, 37, 39 Abs. 4 lit. f, 40 ff.; zum wichtigsten Fall der Beschäftigungsbeihilfen siehe näher Heidenhain, European State Aid Law, 2010, § 21, Rn. 69 ff. Vor Verordnung 800/2008 etwa Verordnung 2204/2002 vom 05. 12. 2002 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EGVertrag auf Beschäftigungsbeihilfen, ABl.EG 2002 Nr. L 337/03; Verordnung 70/2001 vom 12. 01. 2001 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen, ABl.EG 2001 Nr. L 10/33; siehe insbesondere deren Art. 4 Abs. 6.

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vergleichbar war54. Eine Sonderstellung nimmt das Beihilferecht ein, weil es hier der Europäische Gesetzgeber selbst ist, der Ausnahmen für arbeitsrechtliche Sachverhalte definiert. Ist aber ein Arbeitskampf wie in Viking schädlicher für den Binnenmarkt als verbreitet zulässige Beihilfen?

III. Das Verhältnis zwischen Arbeits- und Binnenmarktrecht 1. Arbeits- und Wirtschaftsrecht in den Mitgliedstaaten als Konkordanzverhältnis Arbeits- und Wirtschaftsrecht beanspruchen auch in mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vielfach Anwendung auf einen selben Sachverhalt, unter anderem in Konstellationen, die dem Zusammentreffen von Binnenmarkt- und Arbeitsrecht vergleichbar sind. Regeln mitgliedstaatliche Wirtschaftsrechte eine identische Materie wie das Binnenmarktrecht, kann sich sogar dieselbe Frage stellen: Erfaßt mitgliedstaatliches Kartellrecht Tarifverträge55 ? Mitunter ist eine bestimmte Ausprägung des Arbeitnehmerschutzes nur in einzelnen Mitgliedstaaten bekannt. So stellt es sich bei der Tariftreueerklärung dar, die soweit ersichtlich eine deutsche Erscheinung ist56. Ein genauerer Blick freilich offenbart, daß die Grundkonstellation, die die Tariftreueerklärung anzusprechen versucht, auch in anderen Mitgliedstaaten existiert, dort indes von Grund auf anders und allgemeiner gelöst wird: erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen57, allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn58. Bei den Grundfreiheiten muß man weiter abstrahieren, um eine Vergleichbarkeit zu erkennen: Grundfreiheiten betreffen grenzüberschreitende Sachverhalte, weil sie grenzüberschreitend einen Binnenmarkt etablieren möchten. Auf mitgliedstaatlicher Ebene kann sich die Frage so nicht stellen. Dennoch ist vorstellbar, daß sich Arbeitnehmer auch innerhalb eines Mitgliedstaates gegen eine Betriebsverlegung mit einem Arbeitskampf 54 Kingreen/Pieroth/Haghgu, Tarifverträge als Bereichsausnahmen des Europäischen Vergaberechts, NZA 2009, 870 (874 ff). 55 Siehe hierzu bereits die rechtsvergleichenden Ausführungen von GA Jacobs, verb. Schlußantr. zu EuGH, Rs. C-67/96, C-115/97 – C-117/97, C-219/97, Slg. 1999, I-5751, Rn. 80 ff. (Albany); Bruun/Hellsten (Hrsg.), Collective Agreements and Competition Law in the EU, 2001; Van den Bergh/Camesasca, Irreconcilable Principles? The Court of Justice Exempts Collective Labour Agreements from the Wrath of Antitrust, E.L.Rev. 25 (2000), 492 (493 ff.); Pallini, Il rapporto problematico tra diritto della concorrenza e autonomia collettiva nellÏ ordinamento comunitario e nazionale, R.I.D.L. 2000, II, 225 (229 ff.); Di Via, Sindacati, contratti collettivi e antitrust, Mercato concorrenza regole 2/2000, 279 (285 ff.). Aus Raumgründen wird auf Nachweise zu einzelnen Mitgliedstaaten verzichtet. 56 Fn. 21; siehe aber sog. Living-Wage-Vereinbarungen in Großbritannien, http://www. london.gov.uk/sites/default/files/living-wage-2011.pdf. 57 Beispielsweise Art. 82 Abs. 3 Estatuto de los Trabajadores. 58 Etwa Frankreich, sog. salaire minimum de croissance, Art. L3231-1 ff. Code du Travail; Großbritannien, National Minimum Wage Act 1998, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/ 1998/39/contents.

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wehren. Bestehen nach mitgliedstaatlichem Arbeitsrecht bestimmte Anforderungen an das Ziel eines Arbeitskampfs oder setzt es dem zulässigen Inhalt von Tarifverträgen bestimmte Grenzen, ist ein gegen eine Standortverlagerung gerichteter Arbeitskampf nicht ohne weiteres rechtmäßig59. Unabhängig davon, wie sich das Verhältnis in einer konkreten Situation des Aufeinandertreffens gestaltet, wird die Abstimmung zwischen Arbeitnehmerschutz und Wirtschaftsrecht innerhalb einer gemeinsamen, vollständigen und in sich konsistenten Rechtsordnung durch dieselben staatlichen Akteure vorgenommen und durch dieselben außerstaatlichen Akteure beeinflußt60. Innerhalb eines Mitgliedstaates stehen Arbeitsrecht und Wirtschaftsrecht damit in einem Verhältnis der Konkordanz. 2. Mitgliedstaatliches Arbeitsrecht und unionsrechtliches Binnenmarktrecht als punktuelles Hierarchieverhältnis Anders weitgehend das Verhältnis von Arbeits- und Binnenmarktrecht: Treffen mitgliedstaatlicher Arbeitnehmerschutz und unionsrechtliches Wirtschaftsrecht aufeinander, handeln Akteure unterschiedlicher Ebenen. Wegen des Anwendungsvorrangs unionsrechtlicher Rechtsakte61 stehen Binnenmarktrecht und mitgliedstaatlicher Arbeitnehmerschutz nicht in einem Konkordanz-, sondern im Anwendungsbereich der jeweiligen Rechtsregel des Binnenmarktrechts in einem punktuellen Hierarchieverhältnis. Das Binnenmarktrecht, welches wie herausgearbeitet in seinem Verhältnis zum Arbeitsrecht auch in sich nicht stimmig ist, setzt sich durch, wenn es sich nicht selbst Grenzen setzt. Der besondere tatsächliche Hintergrund des Binnenmarkts setzt gleichzeitig Anreize, die so innerhalb eines Mitgliedstaates nicht existieren und die dazu führen können, daß unionsrechtliches Wirtschaftsrecht auf arbeitsrechtliche Sachverhalte tiefere Auswirkungen haben kann als mitgliedstaatliches Wirtschaftsrecht: Niedriglohnstaaten als Teil des Binnenmarkts vor allem seit der Osterweiterung zum 1. Mai 2004 und zum 1. Januar 2007, sich erheblich unterscheidende Einstellungen der Mitgliedstaaten zu bestimmten, teilweise als grundlegend erachteten Facetten des Arbeitnehmerschutzes wie bei der Unternehmensmitbestimmung oder im Tarifrecht62. Die Grundfreiheiten gewährleisten über das Herkunftslandprinzip, daß die Unterschiede 59

Vgl. Lobinger, Arbeitskämpfe bei Standortschließungen und -verlagerungen?, in: Rieble (Hrsg.), Zukunft des Arbeitskampfes, 2005, S. 358 ff.; aus italienischer Sicht Orlandini, Viking, Laval e Rüffert: i riflessi sul diritto di sciopero e sullÏautonomia collettiva nellÏordinamento italiano, 2008, http://www.europeanrights.eu/index.php?funzione=S&op=5&id =181, S. 3 f. 60 Lyon-Caen, LÏinfiltration du droit du travail par le droit de la concurrence, Dr. ouvrier 1992, 313. 61 EuGH, Rs. 6/64 , Slg. 1964, 1251 (Flaminio Costa/E.N.E.L.). 62 Vor allem aus skandinavischen Mitgliedstaaten wird beklagt, daß das Urteil in der Rs. Laval mit dem mitgliedstaatlichen Tarifvertragsrecht unvereinbar sei, siehe Eklund, A Swedish Perspective on Laval, CLL&PJ 2008, 551 (564, 569, 571).

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ausgenutzt werden können, weil der Arbeitnehmerschutz auf der Rechtfertigungsebene keinen leichten Stand hat. 3. Wege zu einer Konkordanz von Binnenmarktrecht und Arbeitnehmerschutz a) Verbreiterung und Vertiefung eines Europäischen Arbeitsrechts oder eines unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes Wenn eine wesentliche Ursache des fehlenden Gleichgewichts ist, daß Binnenmarktrecht sich als Teil des Unionsrechts kraft Anwendungsvorrangs gegen mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerschutz durchsetzt, ist der naheliegendste Weg zu einer besseren Austarierung beider Rechtsgebiete, daß der unionsrechtliche Arbeitnehmerschutz verbreitert und vertieft wird. Auf Unionsebene bestünde dann ähnlich wie in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die beiden betroffenen Rechtsgebiete eine vollständige Rechtsordnung, die Grundlage einer wie im Detail auch immer gearteten Konkordanz wäre. Einen solchen Ausgleich zwischen Binnenmarktrecht und unionsrechtlichem Arbeitnehmerschutz könnte man im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung und in geringerem Maße bei der Mitbestimmung in Unternehmensorganen sehen: Grundfreiheiteneinfluß auf der einen63, Richtlinie über die Leiharbeit64 und eine unionsrechtliche Gesellschaftsform mit Formen der Unternehmensmitbestimmung65 auf der anderen Seite. Allgemein ist dieser Weg jedoch nicht gangbar66. Hauptgrund ist eine zu große Diskrepanz der Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Arbeitsrechte, die sich in jüngerer Zeit verstärkt hat, weil die Mitgliedstaaten zunehmend auf Herausforderungen reagieren, vor die sie ihre jeweiligen nationalen Arbeitsmärkte stellen. Die so entstehenden Regelungen verlaufen teilweise schon im Vergleich nur einiger weniger Mitgliedstaaten konträr zueinander67. Hinzu kommt ein großes Mißtrauen insbesondere gegenüber der Rechtsprechung des EuGH68, so daß die Mitgliedstaaten dazu 63 Fn. 14 ff. mit Text zur Leiharbeit und Fn. 26 mit Text zur Unternehmensmitbestimmung. 64 Richtlinie 2008/104/EG vom 19. 11. 2008 über Leiharbeit, ABl.EU 2008 Nr. L 327/9. 65 Oben Fn. 27. 66 Siehe Birk, Die Realisierung des europäischen Binnenmarktes 1992 und ihre Auswirkungen auf das Arbeitsrecht, NZA 1989, 329 (332); Deakin, Labour Law as Market Regulation: the Economic Foundations of European Social Policy, in: FS Lord Wedderburn, 1996, S. 63 ff.; siehe auch Fn. 67; anders etwa Philip, Droit social europ¦en, 1985, S. 188 ff. 67 Krebber, Der einzelstaatliche Charakter der mitgliedstaatlichen Arbeitsrechte, in: Rieble/Junker (Hrsg.), Das Grünbuch und seine Folgen – Wohin treibt das europäische Arbeitsrecht?, 2008, S. 33, 38; ders., Status and Potential of the Regulation of Labor and Employment Law at the European Level, Comparative Labor Law & Policy Journal 30 (2009), 875 ff. 68 Welches der Gerichtshof, um ein Beispiel aus dem Kernarbeitsrecht zu nennen, vor allem im Zusammenhang mit der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG (Fn. 84) nachhaltig

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neigen, die Masse des Europäischen Arbeitsrechts und damit die Einflußmöglichkeiten des EuGH von vornherein gering zu halten. Es sind daher keine Zufälle, wenn Art. 153 AEUV eine Kompetenz der Union für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsund das Arbeitskampfrecht ausschließt, wenn das Europäische Arbeitsrecht seit dem sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1974 wenig neue inhaltliche Impulse erfahren hat und daß es letztlich seine Rolle und Aufgabe nie wirklich gefunden hat. Ein mosaiksteinartiges und unvollständiges Europäisches Arbeitsrecht bei teilweise stark divergierenden mitgliedstaatlichen Rechten ist gleichzeitig eine denkbar ungünstige Basis für die Entwicklung eines unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes auf dem Gebiet des Arbeitsrechts69, weil ein eigener unionsrechtlicher Fundus, der den Schutzgehalt prägen könnte, weitgehend fehlt und in besonders wichtigen Bereichen wegen Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht entstehen kann. Unklar ist, ob und gegebenenfalls welche sonstigen Rechtstraditionen als Grundlage der Entwicklung unionsrechtlicher Konturen aufgegriffen werden können. Die Verweise auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Gepflogenheiten in Art. 27, 28, 30 GR-Charta spiegeln diese Problematik plastisch wider. Zudem ist die Quellenlage sozialer Rechte diffus, weil die GR-Charta nicht alleine maßgeblich ist70. Das unionsrechtliche soziale Recht ist daher jedenfalls in der derzeitigen Anfangsphase von vornherein strukturell geschwächt. Daß das unionsrechtliche Grundrecht auf Arbeitskampf in der Rs. Viking der Grundfreiheitendogmatik zu- und untergeordnet wurde, belegt, daß in einem solchen rechtlichen Umfeld eine Konkordanz zwischen Grundfreiheiten und Arbeitsrecht über einen grundrechtlichen Ansatz kaum hergestellt werden kann71. b) Beschränkung des Binnenmarktrechts aa) Beispiel Beschränkungsverbot Ist Arbeitnehmerschutz aus strukturellen Gründen schwerpunktmäßig mitgliedstaatlicher Natur, bleibt nur, über den Anwendungsbereich des Binnenmarktrechts nachzudenken. Im folgenden soll diesem Gedanken für das Beschränkungsverbot nachgegangen werden. Anerkannte Grenzen dieses Prinzips sind: Ausschluß interner Sachverhalte vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, Keck und Möglichkeit der Rechtfertigung der Beschränkung. Der Ausschluß interner Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten hat nur für begrenzte Sachverhalte Bedeumit neuem Material speist: EuGH, Rs. C-392/92, Slg. 1994, I-1311 (Christel Schmidt); Rs. C-13/95, Slg. 1997, I-1259 (Ayse Süzen); Rs. C-340/01, Slg. 2003, I-14023 (Carlito Abler); Rs. C-232/04 und C-233/04, Slg. 2005, I-11237 (Güney Görres). 69 Auch dies eine frühe Forderung als Begleitung der Verwirklichung des Binnenmarkts, siehe Hepple, The Crisis in EEC Labour Law, Industrial Law Journal 16 (1987), 77 (86 f.); Däubler, Sozialstaat EG? Notwendigkeit und Inhalt einer Europäischen Grundrechtsakte, in: ders. (Hrsg.), Sozialstaat EG? Die andere Dimension des Binnenmarktes, 1989, S. 35 (95 ff.). 70 Krebber, Soziale Rechte in der Gemeinschaftsordnung, RdA 2009, 224 (225). 71 Einen Weg zur Konkordanz über ein unionsrechtliches Grundrecht zeigt Kamanabrou, Arbeitsrecht im Binnenmarkt, EuZA 2010, 157 (170 ff.), auf.

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tung72. Die Möglichkeit einer Differenzierung nach erfaßten und nicht erfaßten Fällen73 wird von der Praxis nicht angenommen74. Keck wird wie in den Entsendefällen vielfach noch nicht einmal angeprüft. Die Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses ist vom EuGH angelegt, um der Grundfreiheit Vorrang einzuräumen75. Ein im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerschutz eingeschränkter Anwendungsvorrang des Binnenmarktrechts würde an der Ursache der fehlenden Konkordanz ansetzen76. Jedenfalls die Tarifautonomie und das Arbeitskampfrecht zur nationalen Identität i.S.v. Art. 4 Abs. 2 EUV zu zählen, ist angesichts ihrer Bedeutung in allen Mitgliedstaaten gut vertretbar. Ein weiterer Ansatzpunkt könnte eine Präzisierung und Rückbesinnung der Keck-Ausnahme, die ursprünglich der besseren rechtlichen Bewältigung auch arbeitsrechtlich relevanter Fälle dienen sollte77, sein. Regelungen, die „Ausdruck bestimmter politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen“ wären, „die den landesweiten oder regionalen sozialen und kulturellen Besonderheiten angepasst“78 sind, würden so dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entzogen, wenn sie nicht diskriminierend sind. Wenn §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 6 ff. MitbestG die Bildung eines Aufsichtsrats bei der GmbH verlangen, die einen solchen nach dem GmbHG nicht kennt, wäre eine entsprechende Anordnung für eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründet wurde, mit Sitz in Deutschland als Ausübungsmodalität oder soziale Besonderheit dem Zugriff der Niederlassungsfreiheit entzogen79. In der Zeit vor Keck wurde vom EuGH darüber hinaus häufiger als heute mit einer Erheblichkeitsschwelle argumentiert80, die sich gerade in den Rs. Viking und Laval aufdrängt. Daß solche Arbeits72 Beispiel aus dem hier interessierenden Bereich: EuGH, Rs. C-134/95, Slg. 1997, I-195 (Unit‚) – gesetzliches Monopol der Arbeitsvermittlung. 73 Zur Tariftreueerklärung, siehe Hanau, Tariftreue nicht überall vor dem Aus, NZA 2008, 751. 74 Zur Tariftreueerklärung, siehe Krebber, in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 4. Aufl., 2011, § 5 TVG, Rn. 4. 75 EuGH, Rs. C-398/95, Slg. 1997, I-3091, Rn. 23 (SETTG). 76 In diese Richtung Ackermann (Fn. 40), S. 17 (33 f.), nach dem die Reichweite der Bereichsausnahme für Tarifverträge vom Kartellrecht davon abhängt, inwieweit der Mitgliedstaat eine solche Bereichsausnahme kennt. 77 EuGH: Ladenschluß, sonntägliche Beschäftigungsverbote, Rs. C-312/89, Slg. 1991, I-997 (Conforama u. a.); Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851 (B & Q PLC); Rs. C-332/89, Slg. 1991, I-1027 (Marchandise u. a.); Rs. C-169/91, Slg. 1992, I-6635 (B & Q). 78 EuGH, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3851, Rn. 14 (B & Q PLC). 79 Eine solche Erstreckung des Anwendungsbereichs des MitbestG andenkend Thüsing, Deutsche Unternehmensmitbestimmung und europäische Niederlassungsfreiheit, ZIP 2004, 381 (382 ff.); Weiss/Seifert, Der europarechtliche Rahmen für ein „Mitbestimmungserstreckungsgesetz“, ZGR 2009, 544 (547 ff.), die aber nicht mit Keck argumentieren, sondern das Beschränkungsschema prüfen. 80 Fn. 77. Nach Keck aus dem hier interessierenden Bereich noch EuGH, Rs. C-190/98, Slg. 2000, I-493, Rn. 24 (Graf/Filzmoser); siehe vor allem Birk, Zur Vereinbarkeit des § 23

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kämpfe die Verwirklichung des Binnenmarkts im Ergebnis tatsächlich spürbar beeinträchtigen, dürfte kaum nachzuweisen sein. Ferner sind weder eine allgemeine Drittwirkung der Grundfreiheiten, noch eine Prüfung des Unionsgrundrechts auf Arbeitskampf im Grundfreiheitenschema zwingend. Ebensowenig ist es alternativlos, die Entsenderichtlinie wörtlich auszulegen; schon eine funktionale Interpretation hätte zur Unionsrechtskonformität der Tariftreueerklärung führen können. bb) Konkordanz als Aufgabe des Europäischen Gesetzgebers Vom EuGH selbst ist eine Richtungsänderung kaum zu erwarten. Nicht anders als die Europarechtswissenschaft behandelt er jeden Grundfreiheitenfall so, als wäre jeweils bei einer anderen Entscheidung die Verwirklichung des Binnenmarkts gefährdet. Die Betrachtung ist eine verallgemeinernde ohne Berücksichtigung von Besonderheiten des jeweils betroffenen Rechtsgebiets; so wird ohne jeden Blick für mögliche Unterschiede aus einer Drittwirkung gegenüber Sportverbänden eine solche gegenüber Gewerkschaften81. Doch könnte der Europäische Gesetzgeber die Konkordanz gestalten82. Nicht auf der Grundlage der Art. 114 f. AEUV, die zwar in ihren jeweiligen Grenzen83 eine binnenmarktbezogene Harmonisierung auch von Bereichen des Arbeitsrechts erlauben, für das Arbeitsrecht indes kaum mehr Bedeutung haben84. Der Europäische Gesetzgeber könnte aber auf die Art. 46, 50, 5385, 59, 103, 10986 AEUV zurückgreifen. Wegen der Eigenständigkeit der jeweiligen Politiken der Union besteht diese Möglichkeit auch bei den in Art. 153 Abs. 5 AEUV genannten Materien, weil Art. 153 Abs. 5 AEUV nur eine allgemeine Gestaltung Abs. 7 AngG mit der Regelung der Freizügigkeit im Primär- und Sekundärrecht der EU, ZAS 1999, 1 (9 ff.). 81 Vgl. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 33 (Viking) mit Bezug auf Rs. C-36/ 74, Slg. 1974, 1405, Rn. 17 f. (Walrave) und Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 82 ff. (Bosman); ebenso Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 98 (Laval). 82 In diese Richtung möglicherweise Binnenmarktakte vom 13. 04. 2001, KOM (2011) 206 endgültig, Pkt. 2.10., Sozialer Zusammenhalt, S. 19 f. 83 Art. 115 AEUV: Einstimmigkeit; Art. 114 Abs. 2 AEUV schließt das Arbeitsrecht weitgehend aus, siehe aber Art. 114 Abs. 4 AEUV sowie allgemein Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 3), Art. 114 AEUV, Rn. 10. 84 Ausnahme: Nachfolgerichtlinien solcher Richtlinien, die mangels einer sozialpolitischen Ermächtigungsgrundlage auf Art. 100 EWGV gestützt wurden: Richtlinie 98/59/EG vom 20. 07. 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl.EG 1998 Nr. L 225/16; Richtlinie 2001/23/EG vom 12. 03. 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- und Betriebsteilen, ABl.EG 2001 Nr. L 82/16; anders Richtlinie 2008/94/EG vom 22. 10. 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl.EU 2008 Nr. L 283/36: Art. 137 Abs. 2 EGV, nunmehr Art. 153 Abs. 2 AEUV. 85 Richtlinie 96/71/EG (Fn. 18) wurde auf den 1996 maßgeblichen Vorgänger von Art. 53 Abs. 1 AEUV gestützt. 86 Ermächtigungsgrundlage der zuvor genannten Verordnung 800/2008 (Fn. 53) zur Zulässigkeit von beschäftigungsfördernden Beihilfen.

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sperrt, nicht aber ein Zurückdrängen des Unionseinflusses auf die dort genannten Bereiche87.

IV. Ergebnisse Ein Aufeinandertreffen von Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht ist keine Besonderheit des Unionsrechts. Binnenmarktrecht und Arbeitsrecht sind anders als mitgliedstaatliches Arbeitsrecht und mitgliedstaatliches Wirtschaftsrecht aber nicht zwei Bestandteile eines in sich aufeinander abgestimmten Gesamtrechtssystems. Vielmehr trifft punktuelles Binnenmarktrecht auf mitgliedstaatliches Arbeitsrecht. Kraft Anwendungsvorrangs bestimmt der Geltungsanspruch des Binnenmarktrechts, wieviel Raum dem mitgliedstaatlichen Arbeitsrecht verbleibt. In die Bestimmung des Anwendungsbereichs der einzelnen Bereiche des Binnenmarktrechts fließen Belange des Arbeitnehmerschutzes in unterschiedlichem Maße ein. Die geringste Durchschlagskraft hat das Arbeitsrecht in der Dogmatik von Beschränkungsverbot und Herkunftslandprinzip bei Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit. Weil Arbeitnehmerschutz beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung aus strukturellen Gründen grundsätzlich nur mitgliedstaatlicher Natur sein kann, läßt sich eine angemessenere Austarierung nur über eine Beschränkung des Beschränkungsverbots erreichen. Hierin könnte die Aufgabe der Union im Bereich des Arbeitsrechts liegen, die sie seit Mitte der 1970er Jahre vergeblich sucht.

87 Zwischen aktiver und reaktiver gesetzgeberischer Gestaltung differenzierend, Wagner (Fn. 28), S. 67 ff.

Staatsangehörigkeitsvorbehalt – Unionsrecht – Notare Von Wolfgang Löwer

I. 1. Die Europäische Union ist mangels Staatsvolk kein Staat: Das belegt die Präambel, wenn sie sich entschlossen zeigt, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen. Art. 4 EUV bestätigt den Befund: Die Vorschrift spricht von den Mitgliedstaaten, die folglich souveräne Mitglieder der Völker(rechts)gemeinschaft sind (und bleiben), weil sie die Merkmale der Staatlichkeit – Staatgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – erfüllen, wobei Letztere auf die beiden ersten Merkmale bezogen ist: Das Staatsvolk ist „Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt“.1 Das hindert, wie die Europäische Union zeigt (und wie es das Grundgesetz explizit will, wie Präambel und Art. 23 GG verdeutlichen), natürlich nicht die Abgabe nationaler Hoheitsgewalt in die Supranationalität mit dem Effekt von unmittelbar im nationalen Recht wirksamen Unionsrechtsakten. Für das Staatsvolk gelten von daher Normen und Entscheidungen, die nur mittels des Hoheitsgewalt übertragenden Zustimmungsgesetzes mit der vom Volk konstituierten Staatsgewalt verknüpft sind. Das Staatsvolk im Sinne des Grundgesetzes bleibt für das nationale Recht Zurechnungssubjekt und Legitimationsquelle („Grund“)2 der Staatsgewalt. Das setzt die Unterscheidbarkeit und Abgrenzbarkeit des Staatsvolkes voraus. Diese Abgrenzung und die Begründung eines entsprechenden Rechts- und Pflichtenstatus leistet das Staatsangehörigkeitsrecht. Das Volk ist die Summe oder Gesamtheit der Staatsangehörigen.3 Wenn nun Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine „ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern“ fordert4, hat das nicht nur die Konsequenz, dass die Staatsangehörigen republikanisch amtsfähig sind (Art. 33 Abs. 2 GG), sondern auch, dass ihnen die Ausübung von Amtsgewalt, soweit es um Hoheitsaufgaben von Bedeutung geht, vorbehalten ist.5 1

BVerfGE 89, 155 (186). Z. B. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 16, Rn. 30. 3 BVerfGE 83, 37 (51). 4 BVerfGE 42, 235 (275); 52, 95 (130); grundlegend Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 2), § 24, Rn. 16 ff. 5 Grawert (Fn. 2), Rn. 60. 2

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Das gilt für Ämter der Staatsleitung (die Ämter der Abgeordneten, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers, der Minister, der Staatssekretäre usw.), aber auch für gewichtige judikative und exekutive Hoheitsrechtsausübung (Richter, Soldaten und Beamte).6 2. Dieses mit republikanischer Staatlichkeit untrennbar verknüpfte Konzept musste sich im Zeitpunkt des Eintritts in die Supranationalität dem Problem stellen, ob jegliche auf die Hoheitsfunktionen des Staates bezogenen Amts-Dienstleistungen den Grundfreiheiten entzogen bleiben sollten oder für diese geöffnet werden sollten. Die „Hohen Vertragsschließenden Parteien“ hatten für den öffentlichen Dienst insofern einen Vorbehalt für ihre eigene Regelungsbefugnis hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit vertraglich vereinbart: Die Grundfreiheiten sollten auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung keine Anwendung finden (Art. 48 Abs. 4 EWGV in der Ursprungsfassung = Art. 45 Abs. 4 AEUV). Das von den Vertragsparteien Gemeinte ist eigentlich klar: „Die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung kann nach Absatz 4 weiterhin den Inländern vorbehalten werden. … § 7 Abs. 1 Nr. 1 (mit seinem Ernennnungsvorbehalt für deutsche Staatsangehörige, Anm. d. Verf.) des (damaligen) Bundesbeamtengesetzes bleibt also unberührt.“ Das gelte auch für öffentlich-rechtliche Körperschaften und Gemeinden.7 Man weiß, was der Europäische Gerichtshof aus der Unanwendbarkeit nach dem Willen der Vertragsparteien gemacht hat8 : Aus der „Unanwendbarkeit“ wird „eine Ausnahme“, die „eng“ und „funktional“ auszulegen ist nach dem Maßstab der „Erforderlichkeit“ des „Staatsangehörigkeitsbandes“, so dass die Unanwendbarkeit sich nicht auf den öffentlichen Dienst, sondern aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive nur auf einen eng verstandenen Begriff der hoheitlichen Gewalt bezieht.9 Der integrationspolitische Gewinn für die Arbeitnehmerfreizügigkeit soll nicht in Abrede gestellt werden. Der demokratische Grund für den Staatsangehörigkeitsvorbehalt, der weiter reicht als die Argumentation aus dem besonderen Loyalitätsband der Staatsangehörigkeit, wird aber nicht thematisiert. Reflektionen dazu, welche Reichweite die den Vorbehalt vereinbarenden Parteien diesem zumessen wollten, finden sich nicht. 3. Die Hohen Vertragsschließenden Parteien haben einen ähnlichen Vorbehalt für die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit vereinbart (Art. 55 und Art. 66 EWGV = Art. 51 und Art. 62 AEUV). Soweit Tätigkeiten außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind 6

Grawert (Fn. 2), Rn. 60. s. den Referentenkommentar von Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1960, hier Everling, § 48, Anm. 14. 8 Einzelheiten können hier vernachlässigt werden, s. etwa die Rspr.-Nachw. bei Franzen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 45, Rn. 146 f., 150 f. sowie die gesetzliche Reaktion in § 7 Abs. 1 Nr. 1a BBG. 9 EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 10 (Kommission/Belgien); Rs. C-290/04, Slg. 1996, I-3285, Rn. 2 (Kommission/Griechenland). 7

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(dauernd oder zeitweilig), findet die Dienstleistungsfreiheit keine Anwendung. Jetzt entscheidet nicht der Rechtsbegriff des öffentlichen Dienstes über den Anwendungsbereich einer Grundfreiheit, sondern der Begriff der öffentlichen Gewalt. Was zumindest die deutsche Vertragspartei bei Vertragsschluss meinte erreicht zu haben, mag wieder der Referentenkommentar erhellen.10 Angesichts des französischen Textes (autorit¦ publique) sei unter Ausübung öffentlicher Gewalt „alle selbständige Tätigkeit zu verstehen, bei denen jemand mit staatlicher Autorität ausgestattet den anderen Staatsbürgern gegenüber tritt.“ Dafür genüge jedes Verwaltungshandeln.11 „Nach deutschem Recht kommen von den z. Z. für Ausländer beschränkten Berufen vor allem der des Notars (öffentliche Beurkundungen) und vielleicht auch der des Bezirksschornsteinfegermeisters … in Betracht. Nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten könnte der Beruf des Rechtsanwalts erfasst werden.“ Die sechs Gründungsmitglieder hatten also durchaus in Rechnung gestellt, dass die Berufsordnungen in den Mitgliedstaaten bestimmte Berufe unterschiedlich erfasst hatten, dass sie mit unterschiedlicher Staatsnähe ausgestattet sein konnten. Dafür erklären sie den Vorbehalt, diesen status quo und auch ihre etwaige Regelungsbefugnis in der Zukunft nicht aufgeben zu wollen. Dieser Wille der Vertragsparteien bezog sich jedenfalls uneingeschränkt – denn das ist der offensichtliche Grund für die Nichtöffnung bestimmter beruflicher Tätigkeiten für die Freizügigkeit – auf den vorfindlichen Traditionsbestand. Das ist kein Plädoyer für eine entstehungsgeschichtliche Deutung der Vertragsbestimmungen, der sich der Gerichtshof in der Tat auch – oder gerade12 – für das Primärrecht nicht bedient13; wohl ist die Frage zu stellen, ob solche typische Reservatrechtsnorm, die normativ benannte Gegenstände der Integration verschließt, nicht nach dem objektiv in der Norm greifbaren Willen der vertragschließenden Parteien 10

Everling, in: Wohlfarth/ders./Glaesner/Sprung (Fn. 7), Art. 55, Amn. 1. Für das damalige Wissen, was öffentliche Gewalt bedeutet, bezieht sich Everling auf Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), 37 (63). Bachof verweist auf einen leistungsstaatlichen Bedeutungswandel des eingriffsstaatlich geprägten Begriffs der öffentlichen Gewalt. „In einem Staat, in dem diese Macht sich weithin in Gestalt der Leistungsgewährung oder -verweigerung äußert, müssen auch diese Mittel als Äußerung ,öffentlicher GewaltÐ erachtet werden.“ Interessanterweise hält der EuGH in seiner Judikatur zum öffentlichen Dienst an dieser Demarkation ein Stück weit fest, um zu einem engen Anwendungsbereich zu kommen. 12 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, 2. Aufl., 2007, Rn. 430; für einheitliche Methodik für Primär- und Sekundärrecht hingegen Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 5/77. 13 s. EuGH, Rs. 28/75, Slg. 1976, 1639 (1665) (Milac/Hauptzollamt Freiburg); die Literatur stimmt dem zu: s. Ipsen (Fn. 12), 5/80; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 249 f.; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, 2010, Rn. 374 m. Nachw. in Fn. 91; Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 431. Ob allerdings das Argument aus der Unzugänglichkeit und Nichtpublikation der Materialien zu überzeugen vermag, halte ich für zweifelhaft. Soll das Nichtberücksichtigungsargument seine Kraft verlieren, wenn die Materialien veröffentlicht würden? 11

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auszulegen sind, statt sie der sonst gepflegten „dynamischen“ Auslegung14 im Sinne der Integrationsziele auszusetzen (wobei die Intensität zulässiger Dynamik im Lichte des Lissabon-Urteils15 ohnehin neu ausgeleuchtet werden müsste – wenn der EuGH dem Argument zugänglich wäre). Auch in diesem Vorbehaltsbereich verläuft die Entscheidung naturgemäß – im Sinne von: in erwartbarer Konsequenz – in dieselbe Richtung wie bei dem Vorbehalt für den öffentlichen Dienst. Es werden – schon in der zentralen ersten Entscheidung zur Rechtsanwaltschaft16 – juristische „Mysterienvokabeln“ eingeführt, die dem Richter in der Konkretisierung verhältnismäßig freie Hand gewähren: Unmittelbarkeit und Spezifik, was die Teilhabe an der öffentlichen Gewalt betrifft und dass die „Ausnahmen“ sollen nicht weiterreichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um derentwillen sie vorgesehen sind.“17 Spätere Entscheidungen haben das „erforderlich“ zum „unbedingt erforderlich“ gesteigert18 und das Merkmal – parallel zur Judikatur zum öffentlichen Dienst – der „Ausstattung mit vom allgemeinen Recht abweichenden Vorrechten oder Zwangsbefugnissen als konstitutive Voraussetzungen“ hinzugefügt.19 Schließlich wird die den Anwendungsraum des Vorbehalts ausweitende Bestimmung des Art. 51 Abs. 1 AEUV des „dauernd oder zeitweise“ durch einen anderen Begriff „entschärft“: Es soll nicht auf ein Zeitmoment sondern auf ein Sachmoment ankommen, nämlich die „Trennbarkeit“.20 Ist die Hoheitlichkeit „trennbar“, sollen Nicht-Staatsangehörige vom trennbaren Teil ferngehalten werden können, aber nicht von der beruflichen Tätigkeit überhaupt. Dass der Normtext vielleicht das genaue Gegenteil besagen will, wird des näheren nicht thematisiert. Nach Reyners zur Anwaltschaft im Jahre 1974 ist der Staatsangehörigkeitsvorbehalt vor der Notarentscheidung in 14 weiteren Fällen von nationalen Regierungen verteidigt worden, für (beliehene) Privatschulen, für den Betrieb von Datenverarbeitungssystemen, für Wirtschaftsprüfer, für „TÜV“-Prüfungen, den Vertrieb von Lottoscheinen, mehrfach für private Sicherheitsdienste, für öffentlich-rechtlich verpflichtete Rettungsdienste und Öko-Kontrollstellen, zuletzt für gerichtssachverstän14

s. nur die Hinw. bei Frenz (Fn. 13), Rn. 380. In der Tat passt die besondere Betonung des Übertragungsgesetzes als Legitimationsgrund des Gemeinschaftsrechts, also dessen Abhängigkeit und Rückführbarkeit auf den Willen des Übertragungsgesetzgebers, nicht bruchlos zu einer methodisch nicht weiter eingehegten Dynamik der Auslegung des Primärrechts; Art. 5 Abs. 2 EUV versucht die Dynamik im Übrigen primärrechtlich zu moderieren; für die Sicht des BVerfG s. das Lissabon-Urteil BVerfGE 123, 267. 16 EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 (Reyners). 17 EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631, Rn. 43 und 45 (Reyners). 18 EuGH, Rs. C-404/05, Slg. 2007, I-10239 (Kommission/Deutschland) betr. öffentlichrechtlich verfasste Befugnisse von (privaten) Ökö-Kontrollstellen, Rn. 37 ff. 19 EuGH, Rs. C-160/08, n.n.i.Slg., Rn. 79 ff. (Kommission/Deutschland) betr. den öffentlichen Rettungsdienst. 20 EuGH, EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631, Rn. 47 (Reyners) sowie Rs. C-404/05, Slg. 2007, I-10239, Rn. 47 ff. (Kommission/Deutschland). 15

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dige Übersetzer. Das Ergebnis war immer gleich.21 Entweder sind die Voraussetzungen der „Bereichsausnahme“22 nicht erfüllt oder es fehlt die Erforderlichkeit. Zulässige Fälle des Staatsangehörigkeitsvorbehalts sind nicht gefunden worden. Die Norm läuft so gesehen – schon vor der Notarentscheidung – offensichtlich leer: Die vertragsschließenden Parteien haben sich im Vertrag etwas vorbehalten, was sie sich nicht hätten vorbehalten dürfen. Der Staat musste schon gemeine Hoheitsaufgaben – Polizeiaufgaben23, engverstandene Justizaufgaben – in private Hand geben, um einen Staatsangehörigkeitsvorbehalt zulässigerweise zu etablieren.

II. 1. Im lateinischen Notariat ist wohl durchgängig ursprünglich der Staatsangehörigkeitsvorbehalt wirksam gewesen. Noch zuletzt hatte die Kommission Belgien, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Griechenland und Deutschland dieserhalb verklagt.24 Zum Beispiel Spanien, Portugal und Italien hatten den Staatangehörigkeitsvorbehalt schon „freiwillig“ aufgegeben. Man darf fragen, was z. B. den Gesetzgeber – unterstützt von den Berufsinhabern in Deutschland – dazu bewogen hat, am Berufszutritt für Deutsche festzuhalten, wie dies die Bundesnotarordnung 1961 in § 5 und erneut § 4 lit. a der Verordnung über

21 EuGH, Rs. 147/86, Slg. 1988, 1637 (Kommission/Griechenland) betr. Privatschule; Rs. C-3/88, Slg. 1989, 4035 (Kommission/Italien): Betrieb von Datenverarbeitungssystemen für die öffentliche Verwaltung; Rs. C-42/92, Slg. 1993, I-4047 (Thijssen): Wirtschaftsprüfer bei Versicherungsunternehmen; Rs. C-55/93, Slg. 1994, I-4837 (van Schaik): Fahrzeuguntersuchung; Rs. C-272/91, Slg. 1992, I-457 (Kommission/Italien): Lottoscheine/Wettannahme; Rs. C-114/97, Slg. 1998, I-6717 (Kommission/Spanien): private Sicherheitsdienste; Rs. C-355/98, Slg. 2000, I-1221 (Kommission/Belgien): private Sicherheitsdienste; Rs. C-238/99, Slg. 2001, I-4363 (Kommission/Italien): private Sicherheitsdienste; Rs. C-465/ 05, Slg. 2007, I-11091 (Kommission/Italien): private Sicherheitsdienste; Rs. C-438/08, Slg. 2009, I-10219 (Kommission/Portugal): Fahrzeuguntersuchungen; Rs. C-404/05, Slg. 2007, I-10239 (Kommission/Deutschland): Öko-Kontrollstellen; Rs. C-393/05, Slg. 2007, I-10195 (Kommission/Österreich): Öko-Kontrollstellen; Rs. C-372/09, n.n.i.Slg. (Josep PeÇarroja Fa.) 22 Zur Deutung als Bereichsausnahme von der Grundfreiheit s. nur Müller-Graff, in: Streinz (Fn. 8), Art. 51 AEUV, Rn. 2 ff. 23 Das einzige denkbare Beispiel ist die (formell) privatisierte Luftsicherheit, die allerdings ohne Verfassungsänderung (s. Art. 87d GG) nicht realisierbar gewesen wäre (s. z. B. Windhorst, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2009, Art. 87d, Rn. 3), weil der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG die Privatisierung sperrt. Deshalb durchbricht Art. 87d Abs. 1 GG die Sperre. Das führt insgesamt zu einem interessanten Ergebnis: Dort, wo der Staatsangehörigkeitsvorbehalt greifen würde, im Rahmen eines engen Hoheitsrechtsbegriffs, ist eine Übertragung der Hoheitsgewalt zu selbständiger Ausübung nach Lage des Grundgesetzes gar nicht zulässig. 24 s. EuGH, Rs. C-47/08 (Belgien), Rs. C-50/08 (Frankreich), C-51/08 (Luxemburg), C-53/08 (Österreich), C-61/08 (Griechenland), C-54/08 (Deutschland).

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die Tätigkeit von Notaren in eigener Praxis 199025 normieren. Der Vorwurf, das Notariat pflege einen alten Zopf26, wenn es daran festhalte, liegt auf der Hand. Schließlich sei es doch „verkraftbar“, wenn jemand der als Unionsbürger im Inland die Befähigung zum Richteramt erworben habe auch zur Notarausbildung zugelassen werde oder als hier niedergelassener Anwalt die Qualifikationserfordernisse erfülle, Zugang zum Notaramt finde. Wenn der Vorbehalt aus Art. 51 Abs. 1 AEUV in seiner Ursprungsfassung gleichwohl als Legitimation für die Zugangsbegrenzung auf deutsche Staatsangehörige herangezogen wird, geht es um eine Verteidigungslinie gewissermaßen erster Ordnung, die darüber entscheidet, dass das Berufsrecht der Notare dem grundfreiheitsrechtlich harmonisierenden Zugriff des europäischen Gesetzgebers überhaupt entzogen bleibt. Die Amtsverfassung des Notars bleibt damit ohne Unionsrücksicht in der Hand des nationalen Gesetzgebers. Hält diese erste Verteidigungslinie nicht, muss die Amtsverfassung sich gegen allfällige Liberalisierungsbestrebungen, die auch ohne das Urteil des Europäischen Gerichtshofs schon argumentativ durchgespielt worden sind,27 behaupten. Art. 51 AEUV ist insofern das Vorwerk oder der Wellenbrecher für die „Liberalisierungsangriffe“. 2. Der EuGH verneint in seinem Urteil zum deutschen Notariat28, dass der Notar öffentliche Gewalt – verstanden im unionsrechtlichen Sinn29 – ausübt, ohne dass der Leser erführe, wie das Unionsrecht diesen Begriff denn verstehe oder definiere. Das Votum des Generalanwalts30 Pedro Cruz Villalýn, offensichtlich geschult auch im deutschen Verfassungsrechtsdenken, hatte dem Gerichtshof verdeutlicht, dass die präzise begriffliche Erfassung der „öffentlichen Gewalt“ im Sinne des Ergebnisses gewissermaßen „gefährlich“ sein kann, weil, wer definiert, ist auch gebunden. Cruz Villalýn war zu der Schlussfolgerung gelangt, dass für den Begriff der öffentlichen Gewalt die Einseitigkeit des Staatswillens typusprägend ist. Es gehe um die Fähigkeit, eine Handlung, Vorschrift oder Verhaltensweise mittels der Rechtsordnung dem formalisierten Staatswillen zuzuordnen.31 Wenn man einen solchen Obersatz formuliert hat, lässt sich in Ansehung der Amtsverfassung des Notariats die Schlussfolgerung schlecht vermeiden, dass der Notar als Organ vorsorgender Rechtspflege teil hat an der Ausübung der Staatsgewalt.32 Folglich muss die Große Kammer diesen Argumentationsstrang vermeiden. 25

VO Not vom 20. 06. 1990, GBl. DDR I, S. 475. s. den Kommentar von Kämmerer, Die Notare haben ein paar alte Zöpfe verloren, FAZ vom 10. 08. 2011, S. 129. 27 s. etwa Doll, Das lateinische Notariat in Deutschland und die gemeinschaftsrechtliche Liberalisierung von Dienstleistungen, 2011. 28 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468 (Kommission/Deutschland). 29 St. Rspr. beginnend mit EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631, Rn. 45 (Reyners). 30 s. dazu Löwer, 50 Jahre Bundesnotarordnung, DNotZ 2011, 424 (437 – 440). 31 Schlussantrag des Generalanwalts Cruz Villalýn in der Rs. C-54/08, Rn. 121. 32 Die Argumente für die Teilhabe des Notariats an der Staatsgewalt sollen hier nicht wiederholt werden; s. meine Zusammenfassung der Argumente (Fn. 30), Rn. 82. 26

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Der Generalanwalt hatte noch eine zweite durchaus methodengerechte Überlegung (allerdings ohne letzte Klarheit) angestellt, die mehr auf den Willen der Hohen vertragschließenden Parteien abhob: „Das mutmaßlich richtigste (?) Verständnis des Art. 45 Abs. 1 EG (= Art. 51 Abs. 1 AEUV) ist, dass der Vertrag bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten außerhalb der Niederlassungsfreiheit belassen wollte, die ausnahmsweise weiterhin eine Verbundenheit mit der politischen Staatsgewalt aufweisen. Natürlich lässt der Vertrag den Staaten volle Freiheit, wirtschaftliche Tätigkeiten dieser Art beizubehalten oder abzuschaffen. Aber soweit die Staaten sie beibehalten, ordnet er unmittelbar ihren Ausschluss von der Niederlassungsfreiheit an. In diesem Sinne wäre so etwas wie eine fakultative Stand-Still-Klausel zu vermuten.“33 Auch dieser Gedankenstrang, der an den aus dem Vertrag teleologisch deutlich werdenden Regelungswillen der Vertragsparteien anschlösse und deshalb durchaus legitim wäre, würde sich in die bisherige Judikatur nicht einfügen. Das gilt auch für den an sich nicht völlig fernliegenden Gedanken, dass die Begriffe zwar unionsrechtlich auszulegen sind, dass aber auch die Unionsmitglieder Interpreten der Verträge sind. Insofern wäre zu bedenken, ob die Tatsache bedeutungslos ist, dass sechs Mitgliedstaaten wegen derselben Regel im nationalen Recht, handelnd in der Überzeugung wegen Art. 51 Abs. 1 AEUV so verfahren dürfen, verklagt werden (müssen), die wiederum von neun weiteren Mitgliedstaaten unterstützt werden,34 sämtlich bei der Osterweiterung beigetretene Mitglieder, die offenbar von der Vorbehaltsklausel ebenfalls Gebrauch gemacht haben. Alle diese Normgeber irren also über die Bedeutung der Vorbehaltsklausel (was natürlich nicht die Letztverbindlichkeit der Auslegung durch den Gerichtshof in Abrede stellen kann, aber doch für diesen ein Argument ist, die Position der Mitgliedstaaten besonders sorgfältig in Erwägung zu ziehen). Für die Große Kammer wären solche Ideen gefährliche Untiefen. Sie verschafft sich lieber freie Fahrt über tiefes Wasser durch eine Urteilsfassung, die zunächst auf Obersatzbildung und Subsumtion verzichtet und stattdessen „einleitende Vorbemerkungen“ macht35, in deren „Licht“36 das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zu würdigen ist. In der Einleitung steckt aber auch schon die Lösung, weil sie das Ergebnis vorgibt, zu dem der EuGH offensichtlich gelangen will: Die Niederlassungsfreiheit ist eine „grundlegende Vorschrift des Unionsrechts“. Die Vorbehaltsklausel ist danach nicht „grundlegend“, obwohl sie die Reichweite der Grundfreiheit bestimmt. Das „Grundlegende“ schafft die Legitimation einer gewissermaßen überlegenen Geltungsmacht, einen normativen Vorrang, dem durch Normreduktion der limitierenden Bestimmung Rechnung zu tragen ist. Die Mitgliedstaaten haben 33

Schlussantrag des Generalanwalts Cruz Villalýn in der Rs. C-54/08, Rn. 82 (Hervorheb. d. Verf.). 34 Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei (s. EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 60). 35 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 78 – 87. 36 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468 Rn. 88.

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sich letztlich etwas vorbehalten, was „grundsätzlich“ verboten ist“,37 nämlich eine Ungleichbehandlung auf Grund der Staatsangehörigkeit. Der Einschränkung der Vorbehaltsklausel wird dann über die referierten Vokabeln der Spezifik, der Unmittelbarkeit, der unbedingten Erforderlichkeit der vorsorgenden Rechtspflege durch Notare ihre Legitimität genommen, es werde spezifische und unmittelbare öffentliche Gewalt ausgeübt. Das Votum des Generalanwalts, das diese Frage anders gesehen hatte, vermag die Große Kammer offensichtlich nicht zu überzeugen. Ob diese Einzelerörterungen zur Teilhabe an der öffentlichen Gewalt den Leser überzeugen, mag dahinstehen: Der Europäische Gerichtshof ist ein „Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung“ des Unionsrechts. Das Staatsangehörigkeitserfordernis als Zutrittsvoraussetzung zum Notaramt ist damit gefallen. Die erste Verteidigungslinie hat nicht gehalten.

III. 1. Als Konsequenz des Urteils ist klar, dass § 5 BNotO geändert werden muss: „Zum Notar darf nur ein Unionsbürger (Art. 9 Satz 2 EUV) bestellt werden, der die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt hat.“ Das bedeutet, dass das Notariat jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates offensteht, wenn er die Stationen der Juristenausbildung in Deutschland durchlaufen hat. Die Frage kann nur sein, ob damit auch eine zweite Verteidigungslinie, die die existente Amtsverfassung des Notariats verteidigt, geräumt werden muss. Die deutsche Notariatsverfassung beruht auf einem Vorstellungsbild das, wie ich schon bei anderer Gelegenheit zitiert habe38, der kaiserliche Ministerialbeamte Kurlbaum auf die Formel gebracht hatte, der Notar bringe „in seiner Berufsthätigkeit eine nur dem Staat innewohnende Kraft zur Geltung“.39 Im Sinne des Grundgesetzes übt der Notar öffentliche Gewalt aus. Das ist kein Widerspruch zur Judikatur des EuGH, sondern Konsequenz zweier Ordnungen mit unterschiedlichen Rechtsordnungen. Dass dem Notar öffentliche Gewalt zur Ausübung anvertraut ist, erklären und rechtfertigen berufsfreiheitsrechtlich (Art. 12 Abs. 1 GG) die Eckpunkte der deutschen Notariatsverfassung,40 also die bedürfnisabhängige Bestellung, die öffentlich-rechtliche Inpflichtnahme, Amtierungspflicht, Amtsbezirke, etc. 37

EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 82. Löwer (Fn. 30), 424 (426). 39 s. Schubert, Die vergeblichen Versuche Preußens und des Reiches, das Notariat zu vereinheitlichen (1868 – 1874), in: FS zum 175-jährigen Bestehens eines badischen Notarstandes, 1981, S. 159 (167 ff.), Zitat Kurlbaum, S. 169. 40 BVerfGE 73, 280 (294) im Anschluss an BVerfGE 17, 371 (376 ff.); zuletzt mit sorgfältiger Begründung BVerfG(K), ZNotP 2009, 289, Rn. 41. 38

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Die Frage ist, ob diese Struktur jetzt liberalisiert ist kraft bereits existenten Sekundärrechts (2.) oder ob die unmittelbare Wirkung des Primärrechts41 die Notariatsverfassung im Wesentlichen unionsrechtswidrig macht (3.). 2. Zu den rätselhaften Partien des Kommissionsvorbringens im deutschen NotarFall gehört die Rüge, die Bundesrepublik Deutschland habe die Berufsqualifikationsrichtlinie 2005/36/EG42 und deren Vorgängervorschrift – Richtlinie 89/48 – nicht umgesetzt. Dann hätte die Richtlinie auf den Notariatsberuf als reglementierten Beruf (Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2005//36/EG) anwendbar sein müssen; d. h., die Bundesrepublik Deutschland hätte Regeln für einen „Anpassungslehrgang“ oder „Eignungsprüfungen“ vorsehen können und müssen (Art. 3 Abs. 1 lit. g und h RL 2005/36/EG), was durch Nichtumsetzung versäumt worden wäre. Schon in Anwendung der Systematik der RL 2005/36/EG wird deutlich, dass das Notariat nicht erfasst sein soll. Erstens berührt die RL 2005/36, wie sich aus Erwägungsgrund 42 ergibt, nicht einschlägige Spezialregelungen des freien Dienstleistungsverkehrs für Rechtsanwälte43, die die Gemeinschaft wegen Reyners44 erlassen hatte, weil diese Liberalisierung europäischer Orientierung bedurfte. Würde dann bei Notaren dieses Bedürfnis ohne europäische Strukturanordnungen nach 26 verschiedenen Anpassungsverfahren befriedigt werden können?45 Weiter enthält die Richtlinie selbst in Abschnitt 2 Strukturanordnungen für die berufliche Freizügigkeit, z. B. für den Arzt, die Krankenschwester, den Zahnarzt, den Tierarzt, die Hebamme, den Apotheker und den Architekten. Also: Die Rechtsdienstleistungsfreizügigkeit wird von der RL 2005/36/EG nicht erfasst, für typische akademische Berufe enthält die Berufsqualifikationsrichtlinie gemeinschaftsrechtliche Strukturanordnungen für die Voraussetzungen, unter denen jemand kraft ausländischen Abschlusses in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat als Arzt niederlassungsfähig ist oder 41 Zur unmittelbaren Wirkung der Niederlassungsfreiheitsgewährleistung s. EuGH, Rs. 2/ 74, Slg. 1974, 631 (Reyners). 42 RL 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 07. 09. 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl.EU Nr. L 255/22 m. späteren Änd. 43 RL 77/249/EWG, ABl.EG Nr. L 78/17 (freier Dienstleistungsverkehr für Rechtsanwälte); RL 98/5/EG, ABl.EG Nr. L 77/36. 44 s. EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 (Reyners). 45 Die Begründungserwägung 42 misst der RL 2005/36/EG für den Rechtsdienstleistungssektor eine „unmittelbare“ Wirkung zu (trotz der Unberührtheitsanordnung in Satz 2 des Erwägungsgrundes!): „Die Anerkennung der Berufsqualifikationen von Anwälten zum Zwecke der umgehenden Niederlassung unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmemitgliedstaates sollte (wieso jetzt Konjunktiv?, Anm. d. Verf.) von dieser Richtlinie abgedeckt sein.“ Gemeint ist damit die Richtlinie des Rates vom 22. 03. 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte 77/249/EWG, ABl.EG Nr. L 78/17, die in Art. 3 anordnet, dass jeder Rechtsanwalt bei Niederlassung in einem anderen als dem Ausbildungsmitgliedstaat die im Herkunftsland gültige Berufsbezeichnung führen muss. Das soll nach dem zitierten Erwägungsgrund trotz Unberührtheitsanordnung (im Erwägungsgrund!) von der Berufsqualifikationsrichtlinie überlagert werden, so dass die Inlandsbezeichnung für den Beruf des Rechtsanwalts in einer solchen Lage geführt werden darf.

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von der Arbeitsnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen kann (s. Abschnitt 2, für den Arzt Art. 24 ff. RL 2005/36/EG). Dieser Befund enthält ein systematisches Argument: Weil für Notare keine explizite Regelung im Besonderen Teil der RL 2005/36/EG getroffen worden sind, ergibt sich daraus der damalige normative Wille, die Notare vom Regime der Berufsqualifikationsrichtlinie nicht zu erfassen. Erst vor diesem Hintergrund gewinnen die entstehungsgeschichtlichen Ausführungen des EuGH zu RL 2005/36/EG und die Anknüpfung an die Begründung ihren Sinn: In Erwägung 41 heißt es nämlich: „Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung des Art. 39 Abs. 4 und des Artikels 45 des Vertrages, insbesondere auf Notare.“46 Dieses „berührt nicht“ die Anwendung einer Vorschrift, die für Notare tatbestandlich gar nicht einschlägig ist, scheint ein Problem zu bergen: Die normative Überlegung zielt ins Leere, weil sie ein inexistentes Problem löst, nämlich die Nichterfassung der Notare in der erlassenen Norm, weil sie nach Auffassung des Normgebers von einer anderen (primärrechtlichen) Norm erfasst sind, was aber sachlich unrichtig ist. Stimmt die Prämisse nicht, so könnte man folgern, stimmt auch die Folgerung der Begründungserwägung nicht. Geht die Begründungserwägung Nichtgeltung der RL 2005/36/EG „insbesondere für Notare“ wegen Art. 51 Abs. 1 AEUV ins Leere, gilt die Berufsqualifikationsrichtlinie für Notare. Das ist indes unrichtig: Dass die Motivation für ein Unberührtlassen in einer Norm rechtsirrig ist, ändert nichts daran, dass sie sich auf den unberührt bleibenden Fall nach dem Willen des Normgebers nicht erstreckten soll. Der Rechtsirrtum für den Grund des Normerlasses lässt die normative Anordnung nicht entfallen. Der Normgeber macht sich in einer solchen Lage doch gerade keinen Gedanken darüber, ob er in der Gnade richtiger Rechtserkenntnis die Notare einbezogen hätte. Der „Rechtsirrtum“ über die tabestandliche Einschlägigkeit des Art. 51 Abs. 1 AEUV ist offenbar Verfassungsorganen der Gemeinschaft mehrfach unterlaufen, wie in weiteren Dokumenten, die die Notarentscheidung ebenfalls ansprechen47, deutlich wird. Die Entschließung des Parlaments vom 18. Januar 1994 auf der Grundlage des sogenannten 2. Marinho-Berichts48 erkennt durchaus an, dass der Beruf des Notars unter den Staatsangehörigkeitsvorbehalt fällt, hält aber rechtspolitisch dafür, dass das Staatsangehörigkeitserfordernis (durch die Mitgliedstaaten!) gestrichen werden sollte.49 Schließlich hat das Parlament 2006 in einer Entschließung nochmals erkennen lassen, dass der Staatsangehörigkeitsvorbehalt auf Notare nicht

46 Hervorhebung nur hier; heute wären Art. 45 Abs. 4 und Art. 51 AEUV zu zitieren. In der Vorgängerrichtlinie 89/48 hatte es geheißen, dass die in der Richtlinie geregelte Hochschuldiplomanerkennung in keiner Weise die Anwendung von … [heute] Art. 51 AEUV präjudiziert. 47 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 57 und 113 (Kommission/Deutschland). 48 s. die auszugsweise Publikation in der ZNotP 1997, 58. 49 s. dazu Görk, in: Schippel/Bracker (Hrsg.), BNotO, 8. Aufl., 2006, § 5, Rn. 2.

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anzuwenden sei.50 Natürlich handelt es sich dabei nicht um eigentliche Rechtsakte, wohl aber um die Rechtsauffassung der „Verfassungs“-Organe der Union. Der Hinweis auf die fehlende Bindungskraft der Entscheidungen schöpft das Problem nicht aus: Zwar ist die Praxis der Organe der Union nicht Maßstab, sondern Gegenstand der Kontrolle durch den Gerichtshof. Trotzdem sind auch die anderen „Verfassungsorgane“ Interpreten des Primärrechts der Union, das dem Gerichtshof immerhin doch Hinweise darauf hätte geben können, ob die übereinstimmende Auffassung mit den Mitgliedstaaten nicht eventuell doch hätte erwägenswert sein können. Jedenfalls gibt dieses stabile Verständnis des Primärrechts einen deutlichen Hinweis darauf, wie das Sekundärrecht zu verstehen ist. Die Schlussfolgerung des Gerichts51, eine Vertragsverletzung sei wegen letztlich der Uneindeutigkeit der RL 2005/36/EG nicht anzunehmen, übersieht dass dem normativen Handeln der Gemeinschaft durchgängig bis zu der jetzt vorliegenden Entscheidung die auch normativ konsequent gehandhabte Auffassung zugrunde lag, der Beruf des Notars sei vom Staatsangehörigkeitsvorbehalt erfasst. Deshalb ist die Schlussfolgerung, die in der Literatur bereits gezogen worden ist, unrichtig, jetzt sei die Berufsqualifikationsrichtlinie auf Notare anzuwenden, weil das ursprünglich nicht hinreichend deutlich Erkennbare erkennbar geworden sei; jetzt sei die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Ein solches Argument verkennt den systematischen Zusammenhang der Richtlinie, wie er oben beschrieben worden ist: Für die Typik akademischer Berufsqualifikation regelt der europäische Gesetzgeber selbst Grundstrukturen des Anforderungsprofils für solche Freiberuflichkeit mit dem Ziel der Freizügigkeitsgewähr, was er für Notare gerade ungeregelt lassen will. Wegen der als unzutreffend erkannten Rechtsauffassung zum Staatsangehörigkeitsvorbehalt ändert sich der Norminhalt nicht.52 3. Wenn also der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten durch den Wegfall des Staatsangehörigkeitsvorbehalts jetzt prinzipiell eröffnet ist, bleibt die Frage nach den gegebenenfalls aus dem Primärrecht abzuleitenden Konsequenzen dieser Öffnung. Dazu ist in der Tat schon vor der Entscheidung des EuGH gelegentlich die These von Autoren, die den Staatsangehörigkeitsvorbehalt für nicht einschlägig gehalten haben, geäußert worden, dass die deutsche Notariatsverfassung durchgreifend umgestaltet werden müsste, was Amtsbezirk, Bedarfsvorbehalt, Sozietätsverbot, Pflichtmitgliedschaft in der Notarkammer etc. betrifft.53 Nach der Entscheidung wird pro-

50 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. 03. 2006 zu den Rechtsberufen, ABl.EU Nr.C 292/105. 51 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 142 (Kommission/Deutschland). 52 So Pohl, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit in Europa, EWS 2011, 353 (357) und Schmid/Pinkel, Grundfreiheitskonforme Reformierung der nationalen Notariatsverfassung, NJW 2011, 2928 (2929). 53 Doll (Fn. 27), S. 209 ff.

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gnostiziert, es sei eine „Entstaatlichung der deutschen Notariatsverfassung geboten“.54 a) Wenn man zunächst fragt, ob das Urteil zu dieser Frage Explizites sagt, sind zwei Feststellungen möglich: Erstens wird die richterliche Tugend betont, nicht mehr zu entscheiden, als der Rechtsfall erfordert. Insofern ist auf die Vorbemerkung im Urteil zu verweisen, die ausdrücklich „klarstellt“, dass die zu behandelnde Rüge der Kommission gegenüber Deutschland „weder den Status und die Organisation des Notariats in der deutschen Rechtsordnung betrifft noch die Voraussetzungen, die neben der Staatsangehörigkeit für den Zugang zum Beruf des Notars in diesem Mitgliedstaat bestehen“. Außerdem wird hervorgehoben, dass die „erste Rüge“ (die zu Art. 51 Abs. 1 AEUV) „auch nicht die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr betrifft.“55 Der EuGH will diese Frage also nicht präjudizieren durch die tatbestandliche Verneinung der Zuordnung der Notartätigkeit zur spezifischen und unmittelbaren Ausübung öffentlicher Gewalt. Zweitens entscheidet der EuGH bereits einen ersten Aspekt der Rechtfertigungsprüfung für typische Vorschriften des lateinischen Notariats. Neben der Feststellung, dass die Verfolgung eines Allgemeininteresses nicht schon ausreicht, um eine Teilhabe an der öffentlichen Gewalt anzunehmen,56 fährt er mit dem Zugeständnis fort, dass die notarielle Tätigkeit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, soweit sie die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen gewährleisten soll; dieser zwingende Grund – so der EuGH – kann eine etwaige Beschränkung von Art. 51 Abs. 1 AEUV rechtfertigen. Wohlgemerkt: Der zwingende Grund des Allgemeininteresses wird anerkannt, ob er eine hinreichende rechtfertigende Kraft hat, bleibt unentschieden. Der EuGH verdeutlich dann noch, um welche Besonderheiten es geht, die durch zwingende Allgemeininteressen gerechtfertigt werden können (nicht entschieden wird: „gerechtfertigt sind“): das eigengeartete Bestellungsverfahren, Bedürfnisprüfung, die Beschränkung aus der örtlichen Zuständigkeit usw. Diese Besonderheiten stehen für die Rechtfertigungsprüfung unter dem Vorbehalt, dass „diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind.“57 Wenn man bedenkt, dass der EuGH im Fall der spanischen Apotheker, die die Kontingentierung der Apotheken in der Provinz Asturien beanstandet hatten, für die gesetzliche Regelung eine hinreichende Rechtfertigung gefunden hat,58 hat sicher auch das Bedarfsprinzip für Notarstellen eine positive Prognose. 54

Ritter, Entstaatlichung der deutschen Notariatsverfassung, EuZW 2011, 707: s. auch Pohl (Fn. 52), 353 (358 f.). 55 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 75 und 76 (Kommission/Deutschland). 56 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 97 (Kommission/Deutschland). 57 EuGH, Rs. C-54/08, EuZW 2011, 468, Rn. 98 (Kommission/Deutschland). 58 EuGH, Rs. C-570/07, n.n.i.Slg. (Jos¦ Manuel Blanco P¦rez und Maria del Pilar Chao Gýmez gegen Consejer†a de Salud y Servicios und Principado de Asturias).

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Jedenfalls sind die Besonderheiten des deutschen Notariats insofern auf den grundfreiheitsrechtlichen Prüfstand zu stellen. b) Bevor ich darauf eingehe (unten c)), will ich zunächst noch der Frage nachgehen, welche Schlussfolgerungen für die Dienstleistungsfreiheit zu ziehen sind, auf die der Staatsangehörigkeitsvorbehalt ebenfalls bezogen ist (Art. 56 i.V.m. Art. 61 AEUV). Dienstleistungsfreiheit müsste eigentlich bedeuten, dass ein deutscher Notar auch im Ausland beurkundend tätig werden darf, wenn z. B. österreichische Erben ihre in Deutschland ererbten Grundstücke an einen Deutschen verkaufen wollen.59 De lege lata darf er das nicht, weil der Notar Hoheitsgewalt ausübt und dies ist wegen des Territorialitätsprinzips nur in Deutschland zulässig, weshalb Auslandsbeurkundungsakte durch den deutschen Notar nichtig sind.60 Fällt diese lex lata nun weg, weil der Gerichtshof entschieden hat, es handele sich nicht um spezifische und unmittelbare Ausübung öffentlicher Gewalt? Erstens ist damit nur entschieden, dass die Beurkundung keine für Art. 51 Abs. 1 AEUV hinreichende öffentliche Gewaltausübung darstellt. Nicht entschieden ist, dass es sich nicht um öffentliche Gewalt handelt. Aber das ist zweitens auch gar nicht so wichtig, weil es für das Territorialitätsprinzip nicht auf den gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Gewalt ankommt, sondern auf den mitgliedsstaatlichen. Das zeigt die Problematik der „TÜV-Kontrollen“ ganz deutlich: In der Rechtssache van Schaik ging es um die (gewissermaßen umgekehrte) Frage, ob die inländische Staatsgewalt für die Kraftfahrzeugüberwachung ausländische Werkstätten sozusagen derart beleihen darf, dass deren Untersuchung im Inland hoheitliche Legitimationswirkung entfalten.61 Solche Anerkennung wäre aber – so der EuGH – „eine Ausdehnung einer Befugnis der öffentlichen Gewalt über das nationale Hoheitsgebiet hinaus“.62 Das Territorialitätsprinzip mit seiner die Staatsgewalt limitierenden Wirkung wäre verletzt.63 Das gilt erst recht, wenn eine von der deutschen Staatsgewalt legitimierte Amtsperson Amtshandlungen im Ausland vornähme. Bei dem Verbot, „eigenmächtig Hoheitsakte auf fremden Staatsgebiet vorzunehmen“, handelt es sich wohl um eines der am besten gesicherten Grundprinzipien im Bereich des Internationalen Öffentlichen Rechts.“64 Es ist Nicola Preuß deshalb zuzustimmen, wenn sie die

59 In diesem Sinne Ritter (Fn. 54), 707 (710); Pohl (Fn. 52), 353 (358); Schmid/Pinkel (Fn. 52), 2928 (2930) unter Hinweis auf Heinz, Notariat: Ist das Ende der kleinterritorialen Fußfesseln in Sicht?, AnwBl. 2010, 858. 60 BGHZ 138, 359 (361). 61 EuGH, Rs. C-55/93, Slg. 1994, I-4837 (van Schaik); s. dazu Bröhmer, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 51 AEUV, Rn. 11. 62 EuGH, Rs. C-55/93, Slg. 1994, I-4837, Rn. 16; s. dazu Bröhmer (Fn. 61), Art. 51 AEUV, Rn. 11. 63 Zum Verbot der Vornahme von Hoheitsakten im Ausland, s. etwa Menzel, Internationales Öffentliches Recht, 2011, S. 313 ff. 64 Menzel (Fn. 63), S. 788; der sprachliche Mangel im Originalzitat ist hier stillschweigend beseitigt.

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Urkundsgewalt eines Notars an den Grenzen des amtsverleihenen Mitgliedstaats enden lassen will.65 c) Auch wenn der Staatsangehörigkeitsvorbehalt in der Bundesnotarordnung keine Rechtfertigung über Art. 51 AEUV gefunden hat, bleibt die Frage, ob die Notariatsverfassung in ihrer geltenden Ausgestaltung ohne den Staatsangehörigkeitsvorbehalt mit den Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit, vereinbar ist oder ob sie gegenwärtig primärrechtswidrig ist. Das kann hier nicht für alle Einzelheiten nachgeprüft werden; es muss bei einigen Leitlinien bleiben. In der Rechtfertigungsprüfung ist das Zusammenspiel von negativer Integration – ein Berufsfeld wird für den unionsweiten Marktzutritt durch die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten geöffnet66 – und positiver Integration – nach dem Vorstellungsbild der Berufsqualifikationsrichtlinie67 – zu beachten. Wenn positiv ein Regelungsmandat z. B. wegen des Subsidiaritätsprinzips oder des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 EGV) zugunsten des Unionsrechts gar nicht begründet ist, muss das Unionsrecht die bestehenden nationalen Regelungen hinnehmen. Nun ist die Qualifikationsrichtlinie (in heutiger Zählung) auf Art. 46 und auf Art. 53 AEUV gestützt worden, so dass Freizügigkeitsregelungen auch für das Notariat sich auf eine Einzelermächtigung stützen könnten, nachdem der Zugang zu dieser Vorschrift durch Art. 51 Abs. 1 AEUV nicht mehr gesperrt ist. Die Bereichsausnahme wird sich also als echte Kompetenzsperre gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht mehr reetablieren lassen (auch wenn man fragen darf, ob der Gerichtshof nicht eigentlich zunächst diese Frage nach der unionsrechtlichen Zugriffsfähigkeit auf das Thema hätte stellen sollen, ob nämlich der Gemeinschaftsgesetzgeber Regelungen zur Justizverfassung der Mitgliedstaaten überhaupt treffen dürfte;68 immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unmissverständlich ausgeführt, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Rechtspflege zu den Sachbereichen gehöre, die im föderalen Verbund der Europäischen Union grundsätzlich den Mitgliedstaaten zugeordnet seien69). Im Konzept der deutschen Notariatsverfassung ist der Notar aber gerade Teil der vorsorgenden Rechtspflege70. Die Zuordnung des Notariats zur Justizverfassung der Mitgliedstaaten kann demnach zwar nicht (mehr) als Kompetenzsperre berücksichtigt werden, wohl aber in der Rechtfertigungsprüfung, in die auch die spezifischen Interessen der Mitgliedstaaten eingehen, wie das etwa im Steuerrecht anerkannt ist, wenn die Mitgliedstaaten auch in Ansehung der Grundfreiheitendurchsetzung 65 Preuß, Das Notar-Urteil des EuGH und seine Folgen, ZNotP 2011, 322 (326); etwas „zögerlich“, aber i. E. ebenso Fuchs, Urteilssammlung zum Notar-Urteil, EuZW 2011, 475 f. 66 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 61), Art. 36 AEUV, Rn. 2. 67 s. Fn. 42. 68 s. die entsprechenden Überlegungen bei Preuß (Fn. 65), 322. 69 BVerfGE 123, 267 (415) – Lissabon-Urteil. 70 Zusammenfassend zuletzt Löwer (Fn. 30), 424; für die nationale Zuordnung der Notare zur öffentlichen Gewalt s. zuletzt in der Kammerentscheidung BVerfG(K), ZNotP 2009, 289.

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Spielraum gewinnen, um die Integrität und Gerechtigkeit ihres Steuersystems zu gewährleisten.71 In der Literatur wird in diesem Zusammenhang der Begriff des Umrahmungsprinzips verwendet. Der Rahmen der Grundfreiheiten beachtet die Regelungsbefugnisse der Mitgliedstaaten.72 Der Gerichtshof hat in den Fällen, die sich mit der nationalen Regulierung des Apothekenwesens beschäftigen, diese Prinzipien praktiziert: den nationalen Regulierungszielen wird eine hinreichende Rechtfertigungskraft zugemessen.73 Jürgen Bröhmer attestiert der Apotheken-Judikatur zurecht, dass so dem Subsidiaritätsgedanken durch die Gewährung eines breiten Beurteilungsspielraums Rechnung getragen wird, der allerdings nicht diskriminierend ausgefüllt werden darf74 (was wieder auf die Rechtfertigungsgründe rückverweist). Wenn man sich in diesem Licht die Begründung des Gerichtshof im Notarurteil insgesamt anschaut, ergibt sich das Bild, dass die Notartätigkeit zwar nicht spezifische und unmittelbare Teilhabe an der Hoheitsgewalt darstellt, dass aber die von der Bundesrepublik Deutschland (ohne Erfolg) zur Rechtfertigung des Staatsangehörigkeitsvorbehalts getragenen Gründe, gleichwohl als „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ Bestand haben können.75 Das würde jedenfalls für die Qualifikationserfordernisse und das Bedarfsprinzip gelten. Es sei abschließend nur daran erinnert, dass die Begründungserwägungen zur Dienstleistungsrichtlinie zu den „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die noch „weiterentwicklungsfähig“ seien, auch die „Wahrung der ordnungsgemäßen Rechtspflege“ gehört.76

71

(502).

Kokott/Ost, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, EuZW 2011, 496

72 Lenaerts, Die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der direkten Besteuerung, EuR 2009, 729. 73 EuGH, Rs. C-171 und 172/07, Slg. 2009, I-4171, Rn. 27 f. (Apothekerkammer des Saarlandes); Rs. C-531/06, Slg. I-4103, Rn. 51 f. (Kommission/Italien) sowie die AsturienEntscheidung Fn. 58. 74 Bröhmer, in: Calliess/Ruffert (Fn. 61), Art. 49 AEUV, Rn. 34 zu Fn. 104 ff. 75 s. auch die Einschätzung bei Lorz, Kein Grund zur Sorge – Grund zur Entwarnung? – Anmerkungen zum Urteil des EuGH vom 24. Mai 2011 zur Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für Notare, DNotZ 2011, 491. 76 Erwägungsgrund 40 der RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl.EU Nr. L 376/36.

Ernste Gefahr für Einheit und Kohärenz des Unionsrechts? Zum Verfahren der EU-Gerichte in der Rechtssache M/EMEA Von Jörg Pirrung Seit der Eidesleistung der sieben Richter des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Gemeinschaften am 5. Oktober 2005 ist die Gerichtsbarkeit der EG bzw. heute der Europäischen Union drei Gerichten in Luxemburg übertragen. Der Gerichtshof (EuGH) ist nach wie vor oberste Instanz für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, vor allem auch im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, und damit der Sache nach „Verfassungsgericht“; das Gericht (EuG) ist allgemeines Eingangsgericht und so in der Hauptsache europäisches Verwaltungsgericht, zugleich aber auch für Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU (GöD) als ersten Fachgerichts der Union zuständig, dessen Aufgaben sein Name, auch wenn es nach dem Nizzaer Vertrag eigentlich „gerichtliche Kammer“ heißen sollte, zutreffend beschreibt. Für die Bezeichnung des EuG lässt sich das erst seit dem Wirksamwerden des Lissabonner Vertrags am 1. Dezember 2009 uneingeschränkt feststellen; bis dahin hieß es trotz der Erweiterung seiner Funktionen immer noch „Gericht erster Instanz“ und hat als solches über fast 60 Rechtsmittel gegen Entscheidungen des GöD entschieden;1 2010 gab es 37 solcherart erledigte Verfahren vor dem EuG.2 Mit Urteil vom 17. Dezember 2009 in der Rechtssache M/EMEA3 hat erstmals der EuGH ein Rechtsmittelurteil des EuG teilweise aufgehoben, weil es „die Einheit und4 Kohärenz des Gemeinschaftsrechts“ beeinträchtigt hat. Das erscheint als sehr harte Formulierung, die der Präsident des EuG im Jahresbericht 20105 nicht aufgreift. Die folgenden Bemerkungen nehmen dieses Verfahren zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem „r¦examen“-Verfahren bei Rechtsmittelentscheidungen des 1 2007 sieben, 2008 21, 2009 31 erledigte Rechtsmittelsachen, EuGH, Jahresbericht 2009, S. 177. 2 EuG, Jahresbericht 2010, S. 157. 3 EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033 (M gegen Europäische ArzneimittelAgentur (EMEA)). 4 So EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033 (M/EMEA), Tenor zu 1., Stellungnahme GA Maz‚k vom 28. 10. 2009 Nr. 1 des Entscheidungsvorschlags, Slg. 2009, I-12033 (12044, 12051). 5 EuGH, Jahresbericht 2010, S. 157 f.

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EuG. Zwar soll ein entsprechendes Überprüfungsverfahren ebenfalls gelten, wenn es zu einer Zuständigkeit des EuG für bestimmte Vorabentscheidungsverfahren kommt; damit ist jedoch in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Ausführungen sind dem Jubilar in dankbarer Erinnerung an lange Jahre enger Verbindungen zwischen Trier und Luxemburg gewidmet.

I. Das r¦examen-Verfahren 1. Vorgeschichte Art. 225 EGV in der Fassung des Nizzaer Vertrags hat dem EuG in Absatz 2 erstmals förmlich6 eine Zuständigkeit als Rechtsmittelgericht eingeräumt und in Absatz 3 die Möglichkeit geschaffen, in besonderen im Protokoll über die Satzung des EuGH7 festgelegten Sachgebieten dem EuG Vorabentscheidungsverfahren zuzuweisen. Die zuerst genannte Zuständigkeit ist allerdings zunächst mangels bestehender gerichtlicher Kammern nach Art. 225a EGV nicht praktisch geworden, und die zweite ist noch immer Theorie. Für beide neuen Kompetenzen sieht die Bestimmung in Ausnahmefällen eine Überprüfung der Entscheidungen des EuG durch den EuGH „nach Maßgabe der Bedingungen und innerhalb der Grenzen, die in der Satzung vorgesehen sind,“ vor, „wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts berührt ist“, Art. 225 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 UAbs. 3. Dieses r¦examen-Verfahren soll sicherstellen, dass dem EuGH erforderlichenfalls in wesentlichen Fragen des Gemeinschaftsrechts das „letzte Wort“ überlassen bleibt, zugleich aber vermeiden, dass die mit der Kompetenzübertragung an GöD und EuG als Rechtsmittelgericht verbundene Entlastung des EuGH durch zu häufige Befassung des EuGH mit einer „Superrevision“ gefährdet würde. 2. Rechtslage auf der Grundlage von Art. 256 Abs. 2 Satz 2 AEUV M/EMEA, der erste Fall, in dem der EuGH eine Rechtsmittelentscheidung des EuG förmlich überprüft hat, hat sich zunächst noch unter Geltung des Nizzaer Vertrags zugetragen, aber letztlich zu Entscheidungen aller drei EU-Gerichte nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags geführt. Art. 256 AEUV hat die Formulierungen von Art. 225 EGV inhaltlich übernommen, verwendet aber die nunmehr einschlägigen Bezeichnungen Gericht, Fachgericht und Unionsrecht. Auch die Regelungen zum Ablauf des r¦examen-Verfahrens in Art. 62 – 62b der Satzung sowie

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Ähnlichkeiten mit Rechtsmittelverfahren weisen z. B. im Ansatz Verfahren aufgrund von Klagen in Markensachen gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern des Europäischen Markenamts auf. 7 Im Folgenden: „Satzung“.

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Art. 123a – 123e der Verfahrensordnung des EuGH8 sind inhaltlich unverändert, jedoch auf die neue Terminologie umgestellt. Nach Art. 62 Abs. 1 der Satzung kann der Erste Generalanwalt dem EuGH in Fällen des Art. 256 Abs. 2 (und 3) AEUV vorschlagen, eine Rechtsmittelentscheidung des EuG zu überprüfen, wenn er „der Auffassung ist, dass die ernste Gefahr einer Beeinträchtigung der Einheit oder der Kohärenz des Unionsrechts besteht“. Unter den acht Generalanwälten beim EuGH ist jedes Jahr wechselnd eine(r) Erste(r) Generalanwalt/-anwältin.9 Nach Art. 62 Abs. 2 Satz 1 besteht für den Vorschlag des Ersten Generalanwalts eine Frist von einem Monat nach Verkündung der Entscheidung des EuG; gemäß Satz 2 entscheidet der EuGH wiederum binnen eines Monats, ob die Entscheidung des EuG zu überprüfen ist. Art. 62a Abs. 1 sieht vor, dass der EuGH (auch) über die Fragen, die Gegenstand der Überprüfung sind, im Weg eines Eilverfahrens auf der Grundlage der ihm vom EuG übermittelten Akten entscheidet; vor allem die Parteien des Verfahrens vor dem EuG können sich dabei schriftlich äußern, Abs. 2; eine mündliche Verhandlung gibt es nur nach Beschluss des EuGH, Abs. 3. Stellt der EuGH fest, dass die Rechtsmittelentscheidung Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt, verweist er die Sache grundsätzlich an das EuG zurück, das an die rechtliche Beurteilung des EuGH gebunden ist, Art. 62b Abs. 1 Satz 2; dabei kann der EuGH endgültige Wirkungen der Entscheidung des EuG bezeichnen. Lassen die Tatsachenfeststellungen des EuG unter Berücksichtigung der Überprüfung durch den EuGH eine endgültige Entscheidung des Falles zu, entscheidet der EuGH selbst, Abs. 1 Satz 3. Einzelheiten des Überprüfungsverfahrens regeln Art. 123a – 123e VerfO EuGH, so Verfahrenssprache, Art. 123a, Zeitpunkt der Unterrichtung des EuGH über die bevorstehende Verkündung einer Rechtsmittelentscheidung des EuG sowie die alsbaldige Übermittlung der verkündeten Entscheidung, Art. 123c. Das r¦examen-Verfahren besteht aus zwei Phasen: In der ersten entscheidet eine Besondere Kammer nach Art. 123b, welcher der Präsident des EuGH und vier Kammerpräsidenten der mit fünf Richtern besetzten (erweiterten) Kammern angehören, ob die Entscheidung des EuG nach Art. 62 der Satzung zu überprüfen ist. Den berichterstattenden Kammerpräsidenten bestimmt der EuGH-Präsident unmittelbar nach Eingang des Überprüfungsvorschlags, Art. 123d Abs. 2. Von der Entscheidung dieser Kammer, die Rechtsmittelentscheidung des EuG zu überprüfen, sind u. a. die Parteien des Verfahrens vor dem EuG zu unterrichten, Art. 123d Abs. 4, vgl. auch die Zustellung nach Art. 123e Abs. 1 Satz 1, um ihnen wie den übrigen Beteiligten in der zweiten Phase binnen eines Monats schriftliche Ausführungen zu den zu überprüfenden Fragen zu ermöglichen, Art. 123e Abs. 2. 8

„VerfO EuGH“. Bis 07. 10. 2009 E. Sharpston, danach bis 06. 10. 2010 P. Mengozzi, bis 06. 10. 2011 Y. Bot und seitdem J. Maz‚k. 9

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Nunmehr weist der Erste Generalanwalt die Sache einem Generalanwalt zu, Art. 123d Abs. 3, und der EuGH-Präsident bestimmt einen Berichterstatter für die Erstattung des Vorberichts, Abs. 4 Satz 1, der sich auch dazu äußern muss, ob vorbereitende Maßnahmen zu treffen sind, an welche Kammer die (eigentliche) Überprüfung überwiesen werden, ob es eine mündliche Verhandlung geben und in welcher Weise der Generalanwalt Stellung nehmen soll, Satz 2. Schon diese knappe Darstellung des r¦examen-Verfahrens lässt erkennen, welch hohe Hürden aufgebaut sind und welcher Aufwand binnen kurzer Zeit nicht nur auf der Ebene der Generalanwälte, sondern auch in zwei Kammern zu betreiben ist, bevor es zur Aufhebung einer Rechtsmittelentscheidung kommen kann. Der Aufwand ist gerechtfertigt, weil es um einen – der Formulierung des Art. 256 AEUV nach – besonders schweren Vorwurf gegen das EuG geht, nämlich Einheit oder systematische Schlüssigkeit des Unionsrechts ernsthaft beeinträchtigt zu haben. Diesen Vorwurf muss der EuGH im Fall der Aufhebung des Urteils gegenüber der Rechtsmittelkammer des EuG erheben, die entsprechend der Besonderen Kammer des EuGH unter dem Vorsitz des EuG-Präsidenten ausschließlich mit EuG-Kammervorsitzenden besetzt ist. 3. Bisherige Verfahren Auf das erste r¦examen-Verfahren in M/EMEA, das unter II. näher behandelt wird, ist mit der Entscheidung vom 8. Februar 201110 der Besonderen Kammer nach Art. 123b VerfO EuGH zum Überprüfungsvorschlag des Ersten Generalanwalts die erste förmliche Abweisung eines solchen Vorschlags gefolgt. Sie betrifft das Urteil der Rechtsmittelkammer vom 16. Dezember 2010.11 Die im Vorschlag angeführten Umstände12 rechtfertigten es13 nicht, die Überprüfung durchzuführen, weil es im Überprüfungsverfahren nicht Aufgabe des EuGH sei, sich zur Berechtigung 10

Rs. C-17/11 RX1, http://curia.europa.eu; diese Quelle gilt generell für Entscheidungen, bei denen keine Veröffentlichung in der Slg. angegeben ist. 11 Rs. T-143/09 P (Kommission/Petrilli), worin das EuG das Rechtsmittel der Kommission gegen das Urteil des GöD vom 29. 01. 2009 Petrilli/Kommission – F-98/07 – zurückgewiesen hat. 12 Wiedergegeben in Rn. 2, 3 der Entscheidung: Das Urteil, dessen Überprüfung vorgeschlagen wird, lasse eine Divergenz in der Rechtsprechung des EuG zu den Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der EU im Bereich des öffentlichen Dienstes erkennen, vor allem zur Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes des Organs gegen Unionsrecht. Damit habe das EuG anders als im Urteil vom 10. 12. 2008 Nardone/Kommission (T-57/99), entschieden, dass diese Voraussetzung vorliege, wenn das Organ rechtswidrig handle, ohne dass zu prüfen sei, ob die Rechtswidrigkeit offenkundig und erheblich die Ermessensgrenzen überschreite. Der EuGH habe zwar die allgemeinen Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union bereits klargestellt (Rs. C-352/98 P, Slg. 2000, I-5291 (Bergaderm und Goupil/Kommission)), doch habe er sich noch nicht dazu geäußert, ob die Besonderheiten der dienstrechtlichen Streitigkeiten nach Art. 270 AEUV, Art. 90, 91 des Beamtenstatuts es rechtfertigten, die außervertragliche Haftung der Union in diesem Bereich von besonderen Voraussetzungen abhängig zu machen. 13 Nach Rn. 4 der Entscheidung.

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einer Entwicklung der Rechtsprechung des EuG zu äußern, die dieses als Rechtsmittelgericht vornimmt; dass sich der EuGH noch nicht zu einer Rechtsfrage geäußert hat, genüge nicht, um eine Überprüfung nach Art. 62 der Satzung zu rechtfertigen, da es allein Sache von GöD und EuG ist, die Rechtsprechung im Bereich des öffentlichen Dienstes zu entwickeln; der EuGH sei nur befugt zu verhindern, dass die Entscheidungen des EuG Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigen. Die beiden angesprochenen Begründungen des EuGH sind zu begrüßende Klarstellungen, die ein Ausufern der im AEUV ausdrücklich als Ausnahme bezeichneten Überprüfungszuständigkeit verhindern und zugleich die Verantwortung für die fachliche und instanzliche Tätigkeit der EU-Gerichte so verteilen, wie es von der Sache her geboten erscheint. 4. Reformüberlegungen des EuGH Mit Schreiben vom 25. Mai 2011 hat der Präsident des EuGH dem Präsidenten des Rates der EU unter Bezugnahme auf Art. 253 Abs. 6 AEUV den Entwurf einer Neufassung der VerfO EuGH übersandt,14 der u. a. in einem 6. Titel das Überprüfungsverfahren vereinfachen soll, weil dieses wegen seiner Schwerfälligkeit und Kompliziertheit sowie wegen des Mangels an Klarheit über die Voraussetzungen, unter denen es in Gang gesetzt werden kann, kritisiert worden sei.15 Dabei überzeugt der Hinweis auf die möglichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden unterschiedlichen am bisherigen Verfahren beteiligten Kammern des EuGH kaum, weil darin, dass unterschiedliche Entscheidungsträger an der Überprüfung beteiligt sind, gerade eine deutliche Garantie dafür zu sehen ist, dass der schwerwiegende Vorwurf gegenüber dem EuG nicht nur von einer Kammer, sondern von zweien und in jeweils anders ausgestalteten Verfahren geprüft wird, vor allem wenn man, wie es im Einleitungssatz der Begründung hierzu heißt, auf die Seltenheit solcher Verfahren verweist, die sich in der bisherigen Praxis gezeigt hat. Dagegen ist die unter Berufung auf bessere Lesbarkeit der VerfO beabsichtigte klarere Trennung des Überprüfungsverfahrens für Rechtsmittel- und Vorabentscheidungen ohne weiteres zu begrüßen.

II. Zum Verlauf der Rechtssache M/EMEA 1. Verfahren vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst der EU a) Sachverhalt16 M, ein Bediensteter auf Zeit, der 1996 in den Dienst der EMEA getreten war, erlitt im März 2005 einen Arbeitsunfall und befand sich seitdem in Krankheitsurlaub. Sein 14

http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs. Ebda., Begründung zum 6. Titel (Einführung Abs. 1, S. 126). 16 Die Darstellung unter II. ist weitgehend auch in der Formulierung aus der Entscheidung des EuGH vom 17. 12. 2009 übernommen, hier Rn. 5 – 16. 15

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Vertrag bei EMEA endete am 15. Oktober 2006. Am 17. Februar 2006 hatte M beantragt, einen Invaliditätsausschuss einzusetzen; dies lehnte EMEA am 31. März 2006 ab. Am 3. Juli 2006 legte M dagegen Beschwerde ein, die EMEA mit Entscheidung vom 25. Oktober 2006 zurückwies. Inzwischen hatte M am 8. August 2006 einen erneuten Antrag auf Einsetzung eines Invaliditätsausschusses gestellt und ihm ein ärztliches Gutachten von Dr. W beigefügt. Mit Schreiben vom 21. November 2006 ersuchte M EMEA um Klarstellung, ob die Entscheidung vom 25. Oktober 2006, mit der die Entscheidung, den Invaliditätsausschuss nicht zu befassen, bestätigt worden war, eine Zurückweisung des Antrags vom 8. August 2006 darstellt. Mit Schreiben vom 29. November 2006 teilte EMEA M mit, sie habe in ihrer Entscheidung vom 25. Oktober 2006 ordnungsgemäß mitgeteilt, dass der Antrag vom 8. August 2006 nicht als neuer Antrag nach Art. 59 Abs. 4 des Statuts der Beamten der EG17 angesehen werden könne und deshalb aus den in der Entscheidung genannten Gründen abgelehnt werden müsse. Mit Schreiben vom 25. Januar 2007 legte M Beschwerde ein und beantragte die Rücknahme der Entscheidung vom 25. Oktober 2006, soweit diese seinen Antrag vom 8. August 2006 abgelehnt habe. Am 26. Januar 2006 stellte er bei EMEA überdies einen Antrag auf Ersatz seiner materiellen und immateriellen Schäden. Mit Schreiben vom 31. Januar 2007 wies EMEA die Beschwerde zurück und lehnte den Antrag ab. M erhob am 19. März 2007 beim GöD Klage auf Aufhebung der Entscheidung vom 25. Oktober 2006 und auf Verurteilung der EMEA zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 100.000 Euro wegen Amtsfehlern. Mit besonderem Schriftsatz erhob EMEA, gestützt auf Art. 114 § 1 VerfO EuG,18 gegen diese Klage eine Einrede der Unzulässigkeit. b) Beschluss Mit dem nach Art. 114 VerfO EuG ergangenen Beschluss M/EMEA19 wies das GöD ohne mündliches Verfahren und ohne die Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede dem Endurteil vorzubehalten, die gesamte Klage als unzulässig ab. Die Anträge, die sich gegen die Entscheidung vom 25. Oktober 2006 richteten, soweit sie den Antrag Ms vom 8. August 2006 ablehnte, sah das GöD als unzulässig an, weil diese Entscheidung eine bloße Bestätigung der im Schreiben der EMEA vom 31. März 2006 enthaltenen Entscheidung sei und die gegen diese Entscheidung gerichteten Anträge bereits mit Beschluss des GöD vom 20. April 200720 wegen Verspätung der vorausgegangenen Beschwerde für unzulässig erklärt worden seien. Auch die Schadensersatzanträge wies das GöD als unzulässig zurück, u. a. wegen engen Zusammenhangs mit den zuvor geprüften Aufhebungsanträgen. 17

http://ec.europa.eu/civil_service/docs. Die für das GöD bis zum Inkrafttreten seiner eigenen VerfO am 01. 11. 2007 entsprechend galt. 19 Ordonnance TFP (premiÀre chambre) 19. 10. 2007 – F 23/07. 20 L/EMEA (F-13/07). 18

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2. Rechtsmittelverfahren vor dem EuG21 Mit seinem Rechtsmittel beantragte M beim EuG, den Beschluss des GöD aufzuheben und den Rechtsstreit in der Sache zu entscheiden. EMEA beantragte, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen, und beschränkte ihr Vorbringen auf die Frage der Unzulässigkeit der Klage. Die Rechtsmittelkammer des EuG gab dem Antrag von M statt, mündlich gehört zu werden, und hob mit Urteil vom 6. Mai 200922 den Beschluss des GöD auf, weil dieser rechtsfehlerhaft die Aufhebungs- und Schadensersatzanträge von M für unzulässig erklärt habe. Da das EuG den Rechtsstreit für entscheidungsreif nach Art. 13 Abs. 1 Anhang der Satzung hielt, entschied es selbst über ihn. Es erklärte die Aufhebungsanträge für zulässig und begründet und hob die Entscheidung vom 25. Oktober 2006 auf. Es erklärte auch die Schadensersatzanträge Ms für zulässig und verurteilte EMEA zur Zahlung von 3.000 Euro zum Ersatz des von M erlittenen immateriellen Schadens. Hierzu führte das EuG in Rn. 100 aus, M habe in seiner Klageschrift vor dem GöD geltend gemacht, EMEA habe ihn durch die Aufrechterhaltung der Weigerung, das Verfahren zur Feststellung der Dienstunfähigkeit einzuleiten, in einen Zustand der Besorgnis und Unsicherheit versetzt. In Rn. 104 vertrat das EuG die Auffassung, M habe einen immateriellen Schaden erlitten, den die Aufhebung der Entscheidung vom 25. Oktober 2006 nicht in vollem Umfang ausgleichen könne. 3. Verfahren vor dem EuGH a) Entscheidung der Besonderen Kammer nach Art. 123b der Verfahrensordnung Im Anschluss an den von der Ersten Generalanwältin unterbreiteten Vorschlag, das Urteil des EuG zu überprüfen, ist die nach Art. 123b VerfO EuGH eingerichtete Besondere Kammer mit Entscheidung vom 24. Juni 200923 zum Ergebnis gekommen, dass dieses Urteil daraufhin zu überprüfen ist, ob es dadurch Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt hat, dass das EuG den Begriff „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ nach Art. 61 der Satzung und Art. 13 Abs. 1 ihres Anhangs dahin ausgelegt hat, dass er es ihm ermöglichte, eine Rechtssache an sich zu ziehen und in der Sache zu entscheiden, obwohl das bei ihm anhängige Rechtsmittel die Prüfung der Frage betraf, wie eine Einrede der Unzulässigkeit im ersten Rechtszug behandelt worden war, und obwohl der Aspekt des Rechtsstreits, den es an sich zog, weder im Rechtsmittelverfahren noch vor dem GöD Gegenstand einer streitigen Erörterung war. Das EuG habe dem Antrag von M auf Schadensersatz in der Sache teilweise stattgegeben, obwohl die vor dem GöD erhobene prozesshin21

EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 17 – 20 (M/EMEA). ArrÞt TPI (chambre des pourvois) 06. 05. 2009 – T-12/08 P. 23 EuGH, Slg. C-197/09 RX, Slg. 2009, I-12033 (M/EMEA), hier im Wesentlichen wiedergegeben wie in Rn. 21 – 25 der Entscheidung vom 17. 12. 2009. 22

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dernde Einrede dort keine streitige Erörterung zur Sache zugelassen habe und nicht ersichtlich sei, dass vor dem EuG eine solche Erörterung stattgefunden hätte. Somit begründe die Tatsache, dass im Urteil des EuG in der Sache über den Antrag des M auf immateriellen Schadensersatz entschieden worden sei, die ernste Gefahr einer Beeinträchtigung der Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts. Zum Gegenstand der Überprüfung benennt der EuGH in der Entscheidung vom 24. Juni 2009 drei Fragen: 1. was unter einem „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ nach Art. 61 der Satzung und Art. 13 Abs. 1 ihres Anhangs zu verstehen ist, wenn der Beklagte das GöD als Gericht des ersten Rechtszugs ersucht hat, vorab über eine Unzulässigkeitseinrede zu entscheiden, und wenn das EuG als Rechtsmittelgericht den Beschluss des Gerichts des ersten Rechtszugs aufgehoben hat, mit dem es dieser Einrede stattgegeben hat; 2. ob der Umstand, dass das Rechtsmittelgericht, nachdem es den Beschluss aufgehoben und die Klage, insbesondere die mit ihr gestellten Schadensersatzanträge, für zulässig erklärt hat, in der Sache über einen Antrag auf immateriellen Schadensersatz entscheidet, obwohl hierzu vor dem Gericht des ersten Rechtszugs keine streitige Erörterung stattgefunden hat und nicht ersichtlich ist, dass es vor dem Rechtsmittelgericht eine solche gegeben habe, einen Verstoß gegen die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Erfordernisse, insbesondere dasjenige der Wahrung der Verteidigungsrechte darstellt; 3. falls das Urteil vom 6. Mai 2009 gegen Art. 61 der Satzung und Art. 13 Abs. 1 ihres Anhangs und/oder gegen die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Erfordernisse, insbesondere das der Wahrung der Verteidigungsrechte verstoßen sollte, ist zu prüfen, ob und ggf. in welchem Umfang dieses Urteil die Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt. b) Urteil der III. Kammer Aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 24. Juni 200924 betrifft die Überprüfung nur die Verurteilung zur Zahlung der Entschädigung von 3.000 Euro für immateriellen Schaden, nicht dagegen die Aufhebung der Entscheidung vom 25. Oktober 2006 und die Abweisung der Klage im Übrigen.25 Zum Begriff der Entscheidungsreife prüft die Kammer, in welchem Umfang ein Rechtsstreit zur Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht reif ist, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs der vom Beklagten erhobenen Einrede der Unzulässigkeit ohne Erörterung zur Sache stattgegeben hat und wenn sich das Rechtsmittel gegen diese Entscheidung als begründet erweist.26 – Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist ein Rechtsstreit 24

Oben 3.a), Rn. 17, 20. EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 26 (M/EMEA); M hat nach Rn. 27 vorgetragen, das EuG habe den Begriff Entscheidungsreife richtig angewandt und Einheit/ Kohärenz des Gemeinschaftsrechts sowie die Verteidigungsrechte und den Grundsatz kontradiktorischen Verfahrens nicht verletzt. Dagegen haben alle übrigen Verfahrensbeteiligten vorgeschlagen, die Hauptfrage der Entscheidung vom 24. 06. 2009 zu bejahen. 26 EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 28 – 31 (M/EMEA). 25

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grundsätzlich nicht zur Entscheidung über die Begründetheit einer Klage reif, wenn das erstinstanzliche Gericht die Klage aufgrund einer Einrede als unzulässig abgewiesen hat, ohne die Entscheidung dem Endurteil vorzubehalten. – Unter bestimmten Voraussetzungen ist es jedoch möglich, in der Sache über eine Klage zu entscheiden, obwohl sich das Verfahren im ersten Rechtszug auf eine Einrede der Unzulässigkeit beschränkte, der das erstinstanzliche Gericht stattgegeben hat, so, wenn die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zwangsläufig mit einer bestimmten Sachentscheidung über die Klage verbunden ist oder die inhaltliche Prüfung der Aufhebungsklage auf Argumenten beruht, welche die Parteien im Rechtsmittelverfahren im Anschluss an Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts ausgetauscht haben. Hier gab es aber keine solchen Umstände.27 Zu den Verfahrensgrundsätzen (Wahrung der Verteidigungsrechte) prüft der EuGH, ob das EuG, als es in der Sache über den immateriellen Schadensersatzantrag entschied, die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Erfordernisse missachtet hat.28 Die Verteidigungsrechte haben für Gestaltung und Durchführung eines fairen Verfahrens herausragende Bedeutung. Dazu gehört der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der für jedes Verfahren gilt, das zu einer Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans führen kann, durch die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden. Er umfasst das Recht, zu den Umständen Stellung zu nehmen, auf die eine gerichtliche Entscheidung gestützt wird, und die dem Gericht vorgelegten Beweise, Erklärungen und Rechtselemente zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte. Die Gemeinschaftsgerichte sind dafür verantwortlich, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der auch für die Gemeinschaftsorgane gilt, vor ihnen und von ihnen selbst beachtet wird. Zur Frage, ob EMEA während des Verfahrens die Möglichkeit hatte, zur Begründetheit der Schadensersatzanträge Stellung zu nehmen, stellt der EuGH fest, dass sich die Erörterung vor dem GöD und die von ihm vorgenommene Würdigung ausschließlich auf die Zulässigkeit der Klage bezogen, da das GöD der von EMEA nach Art. 114 VerfO EuG erhobenen Einrede der Unzulässigkeit vorab und ohne Eröffnung des mündlichen Verfahrens stattgab. Aus den Schriftsätzen, welche die Parteien im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens vor dem EuG eingereicht haben, geht nicht hervor, dass EMEA zur Begründetheit der Schadensersatzanträge von M Stellung genommen hat. Weder das Protokoll der Sitzung des EuG vom 23. Januar 2009 noch das Urteil vom 6. Mai 2009 enthalten Anhaltspunkte dafür, dass das Bestehen eines Anspruchs auf Ersatz immateriellen Schadens in der Sitzung erörtert worden wäre. Ferner habe das EuG nicht nur die Gründe des erstinstanzlichen Beschlusses ersetzt, sondern mit der Verurteilung der EMEA zur Zahlung einer Entschädigung den Ausgang des Rechtsstreits zulasten der EMEA geändert. 27 28

Näher EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 32 – 37 (M/EMEA). EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 38 – 59 (M/EMEA).

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Der EuGH stellt fest, dass das Fehlen einer Stellungnahme zu den genannten Anträgen und einer kontradiktorischen Erörterung dieser Anträge der EMEA nicht anzulasten ist. Die nach Art. 91 VerfO EuGH wie nach Art. 114 VerfO EuG einen Zwischenstreit auslösende Unzulässigkeitseinrede erlaubt es, aus Gründen der Verfahrensökonomie in einer ersten Phase Erörterung und Prüfung auf die Zulässigkeitsfrage zu beschränken. Wird die Klage im Rahmen einer Zurückweisung der Einrede für zulässig erklärt oder die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten, so muss in einer zweiten Phase die Klage in der Sache erörtert werden. Die VerfO sehen ausdrücklich vor, dass der Vorsitzende neue Fristen für die Fortsetzung des Verfahrens bestimmt, wenn der Antrag, über eine Einrede der Unzulässigkeit zu entscheiden, verworfen oder die Entscheidung dem Endurteil vorbehalten wird. Es wäre daher unvereinbar mit Sinn und Zweck der Regelung, einen Beklagten, der eine solche Einrede erhebt, zu verpflichten, sich vorsichtshalber sogleich oder, wenn er im ersten Rechtszug obsiegt, in seiner Rechtsmittelbeantwortung in der Sache zum Rechtsstreit zu äußern. Die Vorgehensweise des EuG kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass das Verfahren auch ohne die fragliche Unregelmäßigkeit nicht zu einem anderen Ergebnis führen konnte, so dass die Nichtbeachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens keinen Einfluss auf den Inhalt des Urteils vom 6. Mai 2009 haben konnte und die Interessen der EMEA nicht beeinträchtigt hat. Nach der Analyse des EuG erlitt M durch die Entscheidung vom 25. Oktober 2006 einen immateriellen Schaden, der durch die Aufhebung dieser Entscheidung nicht vollständig ausgeglichen wurde, so dass ihm nach Billigkeitskriterien eine Entschädigung von 3.000 Euro zuzusprechen war. Diese Analyse beruht auf einer echten Würdigung, der entgegengetreten werden konnte. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beurteilung des EuG anders ausgefallen wäre, wenn es EMEA in die Lage versetzt hätte, zu den Schadensersatzanträgen Stellung zu nehmen; die Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens hätte also Einfluss auf den Inhalt des Urteils vom 6. Mai 2009 haben können. Das Vorgehen des EuG lässt sich auch nicht mit der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung rechtfertigen, die nach Art. 91 Abs. 1 des Beamtenstatuts29 in Streitsachen vermögensrechtlicher Art zwischen den EG und einer Person, auf die das Statut Anwendung findet, besteht. Nach der Rechtsprechung des EuGH wird dem Gemeinschaftsrichter mit dieser Befugnis die Aufgabe übertragen, die bei ihm anhängig gemachten Streitsachen abschließend zu entscheiden. Sie erlaubt es ihm, selbst dann, wenn kein dahin gehender ordnungsgemäßer Antrag gestellt worden ist, nicht nur die angefochtene Entscheidung aufzuheben, sondern gegebenenfalls auch von Amts wegen die beklagte Partei zur Zahlung einer Entschädigung für den durch ihren Amtsfehler entstandenen Schaden zu verurteilen. Der Gemeinschaftsrichter kann jedoch seine Entscheidung grundsätzlich nicht auf einen von Amts wegen geprüften Rechtsgrund – sei er auch zwingenden Rechts – stützen, ohne die Parteien zuvor auf29

Oben Fn. 17.

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gefordert zu haben, sich dazu zu äußern. Folglich kann die den Gemeinschaftsgerichten in Streitsachen vermögensrechtlicher Art zwischen den Gemeinschaftsorganen und ihren Bediensteten verliehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung30 nicht so verstanden werden, dass sie es diesen Gerichten erlaubt, in einer solchen Streitsache – insbesondere in einer Situation wie hier – die mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens zusammenhängenden Verfahrensregeln unbeachtet zu lassen. Im Übrigen hat sich das EuG hier nicht auf diese Befugnis gestützt. Das EuG hat daher EMEA hier nicht in die Lage versetzt, ihren Standpunkt zur Begründetheit der Schadensersatzanträge zweckdienlich vorzutragen, und damit gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen, der sich aus den mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Erfordernissen ergibt. Da das EuG den Begriff „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung und Art. 13 Abs. 1 ihres Anhangs falsch ausgelegt und damit diese Bestimmung verletzt hat, indem es angenommen hat, dass der Rechtsstreit insgesamt entscheidungsreif sei, und die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Erfordernisse missachtet hat, ist nach der Entscheidung des EuGH vom 24. Juni 2009 zu prüfen, ob und ggf. in welchem Umfang das Urteil des EuG die Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt.31 Dafür sprechen folgende vier Umstände: Das Urteil ist die erste Entscheidung des EuG, in der es festgestellt hat, dass ein Rechtsmittel gegen einen Beschluss des GöD, mit dem einer Einrede der Unzulässigkeit vorab stattgegeben wird, begründet ist. Es kann daher ein Präzedenzfall für künftige Streitsachen sein. – Das EuG ist in Bezug auf den Begriff „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ von einer ständigen Rechtsprechung des EuGH abgewichen. – Die Fehler des EuG betreffen zwei Verfahrensregeln, die nicht ausschließlich zum Recht des öffentlichen Dienstes gehören, sondern unabhängig vom jeweiligen Sachgebiet anwendbar sind. – Den nicht eingehaltenen Regeln kommt große Bedeutung in der Rechtsordnung der Gemeinschaft zu, da die Satzung und ihr Anhang zum Primärrecht gehören. – Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung stellt der EuGH fest, dass das Urteil dadurch die Einheit und Kohärenz des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt, dass das EuG als Rechtsmittelgericht den Begriff „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ nach Art. 61 der Satzung und Art. 13 Abs. 1 ihres Anhangs dahin ausgelegt hat, dass er es ihm ermöglichte, die Rechtssache an sich zu ziehen, in der Sache über den Antrag auf Ersatz des geltend gemachten immateriellen Schadens zu entscheiden und EMEA zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zu verurteilen, obwohl das bei ihm anhängige Rechtsmittel die Prüfung der Frage betraf, wie eine Einrede der Unzulässigkeit im ersten Rechtszug behandelt worden war, und obwohl das Element des Rechtsstreits, das es an sich gezogen hat, weder im Rechtsmittelverfahren noch vor dem GöD Gegenstand streitiger Erörterung war.

30 31

Unten zu N. 40. EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 60 – 71 (M/EMEA).

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Die Folgen aus der festgestellten Beeinträchtigung der Einheit und Kohärenz des Gemeinschaftsrechts bestimmen sich nach Art. 62b Abs. 1 der Satzung. Danach ist das Urteil vom 6. Mai 2009 insoweit aufzuheben, als das EuG in Nr. 3 und 5 des Tenors EMEA verurteilt hat, an M eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zu zahlen und die Kosten des Verfahrens vor GöD und EuG zu tragen. Da sich die Beeinträchtigung der Einheit und32 der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts aus einer falschen Auslegung des Begriffs „Rechtsstreit, der zur Entscheidung reif ist,“ und einem Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens ergibt, kann der EuGH nicht selbst endgültig entscheiden. Er hat die Sache daher, soweit sie die Anträge auf immateriellen Schadensersatz betrifft, an das EuG zurückverwiesen, um EMEA Gelegenheit zu geben, sich zur Begründetheit dieser Anträge zu äußern. 4. Weiteres Verfahren Mit Urteil vom 8. Juli 201033 hat die Rechtsmittelkammer des EuG die Sache zur Entscheidung über die Anträge auf Ersatz des von M geltend gemachten immateriellen Schadens an das GöD zurückverwiesen, nachdem zuvor mit Beschluss dieser Kammer vom 11. März 201034 M Prozesskostenhilfe für das weitere Verfahren vor dem EuG gewährt worden war. Das GöD hat das Verfahren aufgrund eines auf seine Initiative hin zustande gekommenen Vergleichs mit Beschluss des Präsidenten der 1. Kammer vom 31. März 201135 zum Abschluss gebracht, in dem zu 1) die Streichung der Rs. F-23/07 RENV-RX angeordnet sowie zu 2) und 3) festgestellt wird, dass EMA M 3.000 Euro zahlt und die gesamten Kosten der Verfahren F-23/07, T-12/08 P, T-12/08 P-RENV-RX und F-23/07 RENV-RX trägt.

III. Würdigung des Verfahrens M/EMEA 1. Sachergebnis a) Ausgang der Rechtsstreitigkeit Zum Ergebnis des Rechtsstreits: Das EuG hat im Urteil vom 6. Mai 200936 zutreffend dargelegt, dass das GöD sich zu Unrecht auf den Standpunkt gestellt hat, dass es sich bei der Entscheidung der EMEA vom 25. Oktober 2006, soweit sie den 2. Antrag auf Einsetzung des Individualitätsausschusses vom 8. August 2006 zurückwies, im Verhältnis zu der Entscheidung der EMEA vom 31. März 2006 um einen rein bestätigenden Akt gehandelt hat. Die von M angeführten substanzi32 33 34 35 36

EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 70 (M/EMEA). T-12/08 – P-RENV-RX – M/EMA (sic). M/EMA T-12/08 P-RENV-RX-AJ. F-23/07 RENV-RX – M/EMA. Oben Fn. 22, Rn. 43 – 70.

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ellen neuen Umstände, die ein r¦examen durch die EMEA erforderten, ergeben sich in Zusammenhang mit dem Gutachten von Dr. W aus der inzwischen erheblich längeren Arbeitsunfähigkeit und den ernsthaften Zweifeln in Bezug auf die Zukunftsperspektiven von M, womit sich das GöD nicht auseinandergesetzt hat. Deshalb waren der Beschluss des GöD – und insoweit die Entscheidung der EMEA vom 25. Oktober 200637 – aufzuheben,38 und die Sache auch aus der Sicht des EuGH entscheidungsreif, also ohne dass es einer Rückverweisung an das GöD bedurfte. Zum immateriellen Schadensersatzanspruch zeigt die Feststellung des verfahrensabschließenden Vergleichs der Parteien über genau die vom EuG zugesprochene Summe (3.000 Euro)39 sowie die (in vergleichbaren Fällen übliche) volle Kostenübernahme durch EMEA, dass das EuG in der Sache das richtige Ergebnis gefunden hat. Nur: Durfte es das, so sehr sich ihm dies auch aus Gründen der Prozessökonomie – und, ohne dass es dies sagt, auch im Hinblick auf die den EU-Gerichten in Beamtensachen grundsätzlich zustehende Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung40 – aufgedrängt haben mag, nach den Grundsätzen eines ordnungsgemäßen (Rechtsmittel-)Verfahrens auch aussprechen? b) Verfahrensgrundsätze Der EuGH lehnt das ab und beruft sich vor allem darauf, dass die beklagte EMEA in ihren Verfahrensrechten (auf ein faires procedere – rechtliches Gehör/Verteidigungsrechte) verletzt worden sei, weil sie mit einer derartigen materiellen Entscheidung nicht rechnen und sich daher auch nicht dazu äußern musste, also vom EuG insoweit „überfahren“ worden, die Sache nicht entscheidungsreif gewesen sei. Tatsächlich könnte man sich wundern, dass die so erfahrenen Kammervorsitzenden und der Präsident des EuG es unterlassen haben, dieses Element des Verfahrensgegenstands mit den Parteien zu erörtern oder, wenn sie es in der mündlichen Verhandlung angesprochen haben sollten, diesen Umstand ausdrücklich im Protokoll der Sitzung oder im Urteil festzuhalten. Man mag sich im übrigen nur schwer vorstellen, dass der frühere Kanzler des EuG, Hans Jung,41 wenn er an der Konferenz der Rechtsmittelkammer vor der mündlichen Verhandlung oder als Protokollführer an dieser beteiligt gewesen wäre, einen Hinweis auf die verfahrensrechtliche Bedeutung dieses Punkts unterlassen hätte. Unabhängig davon erscheint es problematisch, dass den Parteien eine Instanz verloren geht, wenn das Rechtsmittelgericht – wie vom

37 Wegen des untrennbaren Zusammenhangs von Zulässigkeit und Sachentscheidung, vgl. EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 30 (M/EMEA). 38 Tenor des EuG-Urteils zu 1., 2. 39 Oben zu Fn. 35. 40 Pleine juridiction, Art. 91 Abs. 1 Beamtenstatut, EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 55 (M/EMEA); vgl. auch unten Fn. 42. 41 Der hoch geschätzte erste Kanzler des EuG (10.10.1989 – 05.10.2005), der am 26. 09. 2009 in Berlin nach schwerer Krankheit verstorben ist.

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EuGH nicht kritisiert, weil er das selbst so praktiziert42 – auch nur eine Teilentscheidung in der Sache selbst (wie hier die Aufhebung der EMEA-Entscheidung) fällt, obwohl in erster Instanz aufgrund einer entsprechenden Einrede des Beklagten nur die Zulässigkeit der Klage Entscheidungsgegenstand und daher auch nur dieser Teil des Verfahrens eigentlicher Rechtsmittelgegenstand war. 2. Notwendigkeit einer Aufhebung des EuG-Urteils Vergleicht man die Gründe, welche die Besondere Kammer in der Sache Petrilli43 veranlasst haben, nicht in eine Überprüfung der Rechtsmittelentscheidung des EuG einzutreten, mit der vom EuGH in M/EMEA angeführten Begründung44 für die Annahme einer Beeinträchtigung von Einheit oder Kohärenz des EU-Rechts, so kann man sich fragen, ob es im vorliegenden Fall nötig war, einen so gravierenden Mangel zu konstatieren. Das Argument mit einem Präzedenzfall erscheint danach überholt. Letztlich hat das EuG vielleicht nur einen weiteren Schritt auf einem Weg getan, den die Praxis des EuGH jedenfalls in EU-Beamtensachen bereits angedeutet oder vorgezeichnet hatte; das sollte die Argumentation mit der Abweichung von einer ständigen Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Entscheidungsreife relativieren. Auch der Umstand, dass die verletzten Verfahrensregeln nicht ausschließlich zum Recht des öffentlichen Dienstes der EU gehören, verliert so an Schwere. Gewicht behält vor allem die Tatsache, dass es um Verletzung der Entscheidungsreife als eines in der Satzung des EuGH gebrauchten Begriffs als solchen des EU-Primärrechts geht; aber auch das erscheint eher als formales Argument, je nach dem (mehr oder weniger) Zufall des Standorts gerade dieses Begriffs in Satzung oder Verfahrensordnung. Nimmt man alles zusammen, so bleibt die Aufhebung der EuG-Entscheidung ein deutliches Warnsignal an das Gericht, auch wenn sie vielleicht nicht unbedingt zwingend geboten war.

42 Vgl. auch EuGH, Rs. 24/79, Slg. 1980, 1743, Rn. 14 (Oberthür/Kommission), das (wie EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 56 (M/EMEA), oben zu Fn. 29) aus der pleine juridiction die Möglichkeit ableitet, nicht nur die Entscheidung der Beklagten aufzuheben (in casu dort abgelehnt), sondern sie bei fehlendem Antrag auch von Amts wegen zur Zahlung einer Entschädigung für den durch einen Amtsfehler verursachten immateriellen Schaden zu verurteilen, obwohl der dortige ausführliche Tatbestand keine Anhaltspunkte für eine Erörterung dazu erkennen lässt; zum letzten Punkt weicht EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 57 (M/EMEA) davon aus allgemeinen – und insoweit durchaus überzeugenden – verfahrensrechtlichen Gründen ab, allerdings ohne sich näher mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dies uneingeschränkt auch in Beamtensachen gelten muss – Kohärenz des Unions(beamtenverfahrens)rechts? 43 Oben Fn. 10. 44 EuGH, Rs. C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 60 ff. (M/EMEA).

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IV. Folgerungen für das Rechtsmittelverfahren vor dem EuG 1. Zusammensetzung der Rechtsmittelkammer Am 1. Juli 2011 hat das EuG beschlossen, dass die Rechtsmittelkammer vom 1. September 2011 bis 31. August 2013 aus dem Präsidenten des EuG und zwei Kammerpräsidenten besteht, die nach einem Rotationssystem eingesetzt werden; im Fall der Verweisung an eine erweiterte Rechtsmittelkammer kommen zwei zusätzliche, ebenfalls nach einem Rotationssystem bestimmte Kammerpräsidenten hinzu.45 Die normale Besetzung mit nur drei statt bisher grundsätzlich fünf (vorsitzenden) Richtern mag man als vorweggenommene Reaktion auf die vom EuGH vorgeschlagene Vereinfachung durch Herabstufung des r¦examen-Verfahrens46 verstehen. Für besonders glücklich muss man dies nicht unbedingt halten. 2. Bedürfnis für die Einführung eines Generalanwalts Beim EuG gibt es bisher keine besonderen Generalanwälte. Sollte die Zahl der Richter am EuG, wie vom EuGH vorgeschlagen,47 tatsächlich um zwölf Richter vermehrt werden, so könnte daran gedacht werden, von Art. 49 der Satzung des EuGH Gebrauch zu machen und ein Mitglied zum Generalanwalt für das Rechtsmittelverfahren zu bestellen. Mit Rücksicht auf die Erfahrungen mit der Sache M/EMEA sowie den Umfang und die – insoweit dem EuGH entsprechende – Art der Beanspruchung des EuG sollte ein entsprechendes Bedürfnis nicht von vornherein verneint werden. 3. Gestaltung der mündlichen Verhandlung Als Rechtsmittelgericht sollte das EuG, wenn mit realistischer Aussicht auf Erfolg ein Beschluss des GöD angefochten wird, der die Klage auf eine Unzulässigkeitseinrede hin abgewiesen hat, grundsätzlich eine mündliche Verhandlung vorsehen und dabei besondere Vorsicht hinsichtlich der Behandlung des Rechtsmittelgegenstands walten lassen, damit Vorwürfe wie im Verfahren M/EMEA gar nicht erst erhoben werden können.

V. Zukünftige Entwicklung Sollten EuGH und EuG durch (weitere) Fachgerichte entlastet werden, z. B. im Bereich des geistigen Eigentums, wird sich die Problematik der Feststellung eines Verstoßes des EuG als Rechtsmittelgericht gegen Einheit oder Kohärenz des Unions45 46 47

ABl.EU 2011 Nr. C 232/2. Oben zu I.4. Fn. 14 (zu II.).

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rechts in gravierenderer Form stellen als beim Recht des öffentlichen Dienstes der EU, gerade auch, wenn Vorabentscheidungsverfahren auf einem solchen Gebiet ebenfalls dem EuG zugewiesen werden sollten. Dann müsste der EuGH Kriterien entwickeln, wie ein Ausgleich zwischen der dann gewachsenen Verantwortung des EuG (und der Fachgerichte) für die Fortentwicklung des Rechts auf den speziellen Fachgebieten und der fundamentalen Bedeutung des Rechtseinheitsgedankens im Verständnis des EuGH gefunden werden kann. Die Begründung für die abgelehnte Überprüfung in der Sache Petrilli erscheint jedenfalls in Streitigkeiten über Fragen des öffentlichen Dienstes der EU als geeigneterer Ansatz als diejenige für die Aufhebung in der Sache M/EMEA.

Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht Von Thomas Raab

I. Einführung Das europäische Recht, genauer das Recht der Europäischen Union, hat spätestens seit der Erweiterung der Kompetenzen durch das Sozialabkommen im Vertrag von Maastricht1 und dessen Integration in den EG-Vertrag durch den Vertrag von Amsterdam2 das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten in zunehmendem Maße beeinflusst. Lange Zeit galt jedoch das Arbeitskampfrecht als eines der letzten „Refugien“ nationaler Regelungsautonomie. Spätestens seit den Entscheidungen des EuGH in den Sachen Viking-Line3 und Laval4 hat sich diese Sichtweise als trügerisch erwiesen. Das Gericht hat in den Entscheidungen festgestellt, dass kollektive Maßnahmen des Arbeitskampfes Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit bzw. der Dienstleistungsfreiheit mit sich bringen können, die nur dann zulässig sind, wenn es hierfür ausreichende Rechtfertigungsgründe gibt. Dies könne vor allem dann der Fall sein, wenn die kollektiven Maßnahmen zur Sicherstellung angemessener Arbeitsbedingungen erforderlich sind und die hiermit verbundenen Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten nicht außer Verhältnis zu diesem Zweck stehen. Die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV ergangenen Urteile führten dazu, dass die beklagten Gewerkschaften im weiteren Verlauf des Prozesses unterlagen, obwohl die Kampfmaßnahmen nach dem nationalen Recht als zulässig eingestuft worden waren.5 Zudem sahen sich die betroffenen Mitgliedstaaten veranlasst, ihr nationales Arbeitskampfrecht nicht unerheblich zu verändern.6 Es verwundert nicht, dass die beiden Entscheidungen geradezu eine Flut von Stellungnahmen in der Literatur und eine breite Diskussion über das Verhältnis von 1

Vertrag über die Europäische Union vom 07. 02. 1992, ABl.EG Nr. C 191/1. Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 02. 10. 1997, ABl.EG Nr. C 340/1. 3 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779. 4 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767. 5 Hierzu näher Heuschmid, Der Arbeitskampf im EU-Recht, in: Däubler (Hrsg.), Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., 2011, § 11, Rn. 85. 6 Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 103 ff.; allgemein zu dem von den Grundfreiheiten ausgehenden Harmonisierungsdruck auf die nationalen Rechtsordnungen Kingreen, Grundfreiheiten, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 705 (712). 2

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Grundfreiheiten und nationalem Arbeitskampfrecht ausgelöst haben.7 Mit dem folgenden, dem verehrten Fakultätskollegen Meinhard Schröder gewidmeten Beitrag soll diese Diskussion aufgenommen und der Versuch gewagt werden, den ein oder anderen neuen Gedanken in die Debatte einzuführen.

II. Die Bedeutung der Grundfreiheiten im Rechtssystem der Union und in den Entscheidungen Viking-Line und Laval 1. Die Grundfreiheiten als Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarktes Die Grundfreiheiten sind ein wesentliches Instrument des Unionsrechts, um das in Art. 26 Abs. 1 AEUV definierte Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes zu erreichen. Den Begriff des Binnenmarktes umschreibt Art. 26 Abs. 2 AEUVals „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (…) gewährleistet ist“. Wenn von einem Raum „ohne Binnengrenzen“ die Rede ist, so ist damit naturgemäß nicht gemeint, dass die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Grenzen beseitigt würden. Solange die Mitgliedstaaten ihre Souveränität bewahren,8 wird es auch territoriale Grenzen geben, die das jeweilige Hoheitsgebiet markieren. Gemeint ist vielmehr, dass die Grenzen ihre einengende und beschränkende Wirkung verlieren sollen. Der Austausch der wirtschaftlichen Güter soll sich so vollziehen können, als ob es zwischen den Mitgliedstaaten keine Grenzen mehr gäbe, diese quasi in der Union aufgegangen wären.9 Auf diese Weise soll ein möglichst „unverfälschter Wettbewerb“ sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen ihren regionalen Standorten gewährleistet werden.10 Dieser unionsinterne Wettbewerb wiederum soll die internationale Wettbe7 Vgl. etwa die Dokumentation unter http://eur-lex.europa.eu/ bei Aufruf der Entscheidung des EuGH in Sachen Laval; vgl. auch die Nachweise bei Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 91. 8 Dass die Mitgliedstaaten Träger der staatlichen Souveränität bleiben, es sich also bei der Europäischen Union um einen Staatenverbund handelt, hat vor allem das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont; vgl. BVerfGE 89, 155 (184, 188) – Vertrag von Maastricht; BVerfGE 123, 267 (348) – Vertrag von Lissabon. 9 Zum Verhältnis von Mitgliedstaaten und Europäischer Union insbesondere zur Frage der Staatlichkeit der EU vgl. etwa Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 1 EUV, Rn. 27 ff. m.w.N. 10 EuGH, Rs. C-300/89, Slg. 1991, I-2867, Rn. 15 (Titandioxid); Leible, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 14 EGV, Rn. 25; Carl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 26 AEUV, Rn. 27. Der Begriff des „unverfälschten Wettbewerbs“ wird von Art. 3 Abs. 3 EUV nicht mehr verwendet (anders noch Art. 3 Abs. 1 lit. g EGV). Ausweislich des Protokolls Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb sollte damit dieses Ziel aber nicht aufgegeben oder eingeschränkt werden. Vgl. hierzu Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 3 EUV, Rn. 26.

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werbsfähigkeit der Volkswirtschaften der Union stärken und damit zur Sicherung und zum Ausbau der Lebensqualität der Bürger beitragen (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 EUV). Zur Verwirklichung des Binnenmarktes sehen die Verträge im Wesentlichen zwei Instrumente vor.11 Die Union kann einmal bestimmte, für die Mitgliedstaaten verbindliche Regeln vorgeben und damit einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen schaffen (sog. positive Integration). Hierzu dienen in erster Linie die von der Union selbst im vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahren geschaffenen Normen (insbesondere Verordnungen und Richtlinien, vgl. Art. 114 AEUV). Die im Primärrecht verankerten Grundfreiheiten verfolgen hingegen einen anderen Ansatz. Sie zielen darauf ab, durch die Gewährleistung eines Rechts auf freien Austausch von Gütern bestehende Wettbewerbshemmnisse in den nationalen Rechtsordnungen abzubauen. Man bezeichnet die hierdurch bewirkte Rechtsangleichung auch als negative Rechtsangleichung oder negative Integration.12 Die aus den Grundfreiheiten abgeleiteten Verbote von wettbewerbshemmenden Regeln garantieren damit eine Art Mindeststandard gleicher Bedingungen innerhalb der Mitgliedstaaten, der dort von besonderer Bedeutung ist, wo unionsrechtlich keine verbindlichen Vorgaben existieren. Hieraus ergibt sich zugleich, dass die Grundfreiheiten auch und gerade in den Bereichen Geltung beanspruchen, für die keine unionsrechtliche Regelungszuständigkeit besteht, die vielmehr weitgehend oder ausschließlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.13 Aus diesem Grunde ist dem EuGH in der Sache uneingeschränkt beizupflichten, wenn er in den Entscheidungen Viking-Line und Laval feststellt, dass der Umstand, dass das Unionsrecht in Art. 153 Abs. 5 AEUV den Mitgliedstaaten die Zuständigkeitsregelung des Arbeitskampfrechts zuweist, die Mitgliedstaaten nicht davon freistellt, bei der Ausübung dieser Befugnis die Grundfreiheiten zu beachten.14 Die Frage ist daher nicht, ob die Grundfreiheiten das nationale Arbeitskampfrecht beeinflussen, sondern auf welchem Wege und mit welcher Intensität sie hierauf einwirken. 2. Die Funktionen der Grundfreiheiten Entsprechend ihrer Zielrichtung, den Bürgern und Unternehmen der Mitgliedstaaten möglichst gleiche Wettbewerbschancen im gesamten Gebiet der Union zu gewährleisten, wirken die Grundfreiheiten zunächst als Diskriminierungsverbote.15 So 11

Zum Folgenden etwa Leible, in: Streinz (Fn. 10), Art. 14 EGV, Rn. 16 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 2 ff. 12 Leible, in: Streinz (Fn. 10), Art. 14 EGV, Rn. 17; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 2. 13 Zutr. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 17. 14 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 40 (Viking-Line); EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 87 (Laval). 15 Näher etwa Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 7, Rn. 22 ff.; Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 6. Aufl., 2009, Rn. 697 ff.

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dürfen die Mitgliedstaaten etwa das Angebot von Waren oder Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten nicht durch besondere Vorschriften für EU-Ausländer behindern. Seit langer Zeit werden die Grundfreiheiten aber darüber hinaus auch als Beschränkungsverbote und damit als echte Freiheitsgewährleistungen verstanden. So können auch Regelungen, die unterschiedslos für In- wie für Ausländer gelten, gegen die Grundfreiheiten verstoßen, wenn sie geeignet sind, deren Ausübung „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“.16 Dabei ist „Behinderung“ nicht im Sinne einer rechtlichen Hürde zu verstehen. Vielmehr genügt es, wenn Gestaltungen die entsprechende wirtschaftliche Tätigkeit weniger attraktiv machen.17 Liegt nach diesen Maßstäben eine Beeinträchtigung einer der Grundfreiheiten durch eine nationale Maßnahme vor, so ist diese nur zulässig, wenn sie in nichtdiskriminierender Weise angewandt wird, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet und erforderlich ist, um die hiermit verfolgten Gemeinwohlziele zu erreichen.18 Eine gewisse Lockerung haben die hieraus folgenden strengen Anforderungen an nationale Regelungen im Bereich der Grundfreiheiten zwar durch die sog. Keck-Formel19 erfahren. Danach seien Regelungen, die lediglich bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, unter bestimmten Voraussetzungen nicht als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit anzusehen. Dies sei der Fall, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Lägen diese Voraussetzungen vor, so hätten solche vertriebsbezogenen Regelungen keine den mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen vergleichbare Wirkung i.S.d. Art. 34 AEUV, auch wenn sie geeignet seien, den Absatz von Produkten aus anderen Mitgliedstaaten zu beschränken oder zu behindern.20 Das Gericht hat in späteren Entscheidungen angedeutet, dass die hierin liegende Einschränkung des Schutzbereiches auch auf andere Grundfreiheiten übertragbar ist.21 Die Erweiterung von einem reinen Diskriminierungs- zu einem Beschränkungsverbot und die hiermit verbundene Ausweitung der Funktion der Grundfreiheiten von einem Gleichheitsgebot hin zu einer echten Freiheitsgewährleistung ist in der Lite-

16 So die berühmte „Dassonville-Formel“, EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837, Rn. 5 (Dassonville). 17 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-439/99, Slg. 2002, I-351, Rn. 22 (Kommission/Italien). 18 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4186, Rn. 37 (Gebhardt). 19 Benannt nach der Entscheidung EuGH, Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6126 (Keck und Mithouard). 20 EuGH, Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6126, Rn. 13 ff. (Keck und Mithouard). 21 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1167, Rn. 33 ff. (Alpine Investments) für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit.

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ratur trotz einiger kritischer Stimmen22 überwiegend zustimmend aufgenommen worden23. Sie wird vom EuGH auch in den Entscheidungen Laval und VikingLine zugrunde gelegt. So wird die Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit in der Sache Laval darin gesehen, dass die Durchführung der Arbeitskampfmaßnahmen mit dem Ziel, das Unternehmen zum Beitritt zu dem für die schwedischen Arbeitnehmer geltenden Bautarifvertrag zu veranlassen, geeignet sei, die Durchführung der Bauarbeiten im schwedischen Hoheitsgebiet weniger attraktiv zu machen oder gar zu erschweren.24 Und in der Sache Viking-Line erblickt das Gericht die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit des Reeders darin, dass die kollektive Maßnahme, die darauf gerichtet war, trotz Umflaggung des Schiffes nach Estland den an Bord beschäftigten Seeleuten die nach finnischem Recht geltenden Arbeitsbedingungen zu erhalten, diesen daran hindern könne, im Aufnahmestaat in den Genuss der gleichen Behandlung zu gelangen wie die in diesem Staat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmer.25 Es ging also jeweils nicht darum, dass Unternehmen anderer Mitgliedstaaten aufgrund nationaler Vorschriften des Arbeitskampfrechts besonderen Nachteilen oder Belastungen ausgesetzt worden wären. Entscheidend war vielmehr, dass im Wege des Arbeitskampfes Regelungen durchgesetzt werden sollten, welche geeignet waren, die Unternehmen wegen der hiermit verbundenen wirtschaftlichen Folgen von der Ausübung ihrer Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit abzuhalten.

3. Wirkung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverkehr a) Die Drittwirkung von Grundfreiheiten Eine weitere Besonderheit im Verhältnis von Grundfreiheiten und nationalem Arbeitskampfrecht ist die Tatsache, dass es sich bei den Akteuren des Arbeitskampfes um Privatrechtssubjekte handelt. Damit stellt sich die Frage der Art und Weise der Wirkung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverkehr. Vielfach wird insoweit allgemein von „Drittwirkung“ gesprochen, weil es darum geht, den Grundfreiheiten auch im Verhältnis zwischen Privaten zur Durchsetzung zu verhelfen. Richtigerweise wird man aber unterscheiden müssen.26 Wenn und soweit die Mitgliedstaaten oder die Union selbst Normen zur Regelung des Privatrechtsverkehrs schaffen, sind sie selbstverständlich ohne Einschränkungen an die Grundfreiheiten gebunden, da es sich um Ausübung von Hoheitsgewalt handelt. Sofern die staatlichen Regelungen Grundfreiheiten beschränken, bedürfen sie daher einer entsprechenden Rechtfertigung durch Belange des Gemeinwohls. Da es insoweit um die Sicherung individueller Freiheit 22

Abl. vor allem Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 66 ff. (und öfter, s. die Nachweise in der Kommentierung). 23 Vgl. etwa die Nachweise bei Müller-Graff, in: Streinz (Fn. 10), Art. 43 EGV, Rn. 57. 24 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 99 (Laval). 25 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 72 (Viking-Line). 26 Vgl. zum Folgenden vor allem Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: FS für Reiner Schmidt, 2002, S. 29 (32 f.).

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gegenüber der staatlichen Gewalt und damit um das Verhältnis Staat-Bürger geht, ist es nicht angemessen, in diesem Zusammenhang von Drittwirkung zu sprechen. Dies gilt für sämtliche Maßnahmen, die funktional der öffentlichen Gewalt zugeordnet werden können.27 Die Frage der Drittwirkung der Grundfreiheiten stellt sich nur, wenn und soweit aus den Grundfreiheiten Schranken für das Handeln von Privatpersonen abgeleitet werden sollen. b) Unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung aa) Die Ansicht des EuGH Ähnlich wie früher in der Grundrechtsdogmatik stehen sich in der Debatte um die Drittwirkung der Grundfreiheiten zwei unterschiedliche Konzepte gegenüber: die unmittelbare und die mittelbare Drittwirkung.28 Der EuGH geht dabei zumindest für die Bereiche der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten aus.29 Die Grundfreiheiten beanspruchten insoweit auch im Verhältnis zu Regelwerken nichtstaatlicher Natur Geltung. Das Ziel der Beseitigung von Hindernissen für den Personen- und Dienstleistungsverkehr sei nämlich gefährdet, wenn die Beseitigung staatlicher Schranken dadurch wieder konterkariert werden könnte, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen vergleichbare Hindernisse errichteten, zumal es mitunter allein von den in den Mitgliedstaaten bestehenden Gepflogenheiten abhänge, ob die entsprechenden Regelungen in staatlichen Gesetzen und Verordnungen getroffen würden oder Gegenstand von Verträgen zwischen Privatpersonen oder sonstiger privatrechtlicher Akte seien.30 Lediglich für die Warenverkehrsfreiheit verfolgt das Gericht das Konzept einer mittelbaren Drittwirkung in Gestalt einer Schutzpflicht der Mitgliedstaaten. Diese hätten nicht nur die Pflicht, eigene, den Warenverkehr behindernde Maßnahmen zu unterlassen, sondern auch gegen Beeinträchtigungen des Warenverkehrs durch Private einzuschreiten.31

27 So zutr. etwa Ehlers (Fn. 15), § 7, Rn. 53; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 105. 28 Zum Meinungsstand vgl. etwa Ehlers (Fn. 15), § 7, Rn. 50 ff.; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 111 ff.; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 34 AEUV (Stand: Sept. 2010), Rn. 37 ff. 29 EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19 (Walrave); Rs. 13/76, Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18 (Don—); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 83 f. (Bosman); Rs. C-51/96 und C-191/97, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47 (DeliÀge); Rs. C-176/96, Slg. 2000, I-2681, Rn. 35 (Lehtonen). 30 EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19 (Walrave); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 84 (Bosman). 31 EuGH, Rs. C 265/95, Slg. 1997, I-6959, Rn. 29 (Kommission/Frankreich); Rs. C-112/ 00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 57 ff. (Schmidberger).

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Auch in den Entscheidungen Laval und Viking-Line stützt der EuGH sich maßgeblich auf dieses Konzept der unmittelbaren Drittwirkung.32 So könnten sich private Unternehmer gegenüber kollektiven Maßnahmen der Gewerkschaften ebenfalls auf die Grundfreiheiten berufen. Die Grundfreiheiten beanspruchten auch Geltung für Regelwerke nicht öffentlich-rechtlicher Art, die die Erbringung von Dienstleistung oder die abhängige Erwerbsarbeit kollektiv regeln sollten.33 bb) Kritik Die These von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten wird in der Literatur verbreitet kritisiert und abgelehnt.34 Gegen sie werden vor allem drei Argumente angeführt. Einmal sprächen die im Primärrecht erwähnten und vom EuGH für die Beschränkung sämtlicher Grundfreiheiten anerkannten Rechtfertigungsgründe gegen eine unmittelbare Bindung von Privatpersonen.35 Wie sich etwa aus Art. 36 AEUV ergebe, handele es sich dabei vor allem um zwingende Gründe des Gemeinwohls.36 Diese Kriterien passten aber offensichtlich nicht auf das Handeln von Privatrechtssubjekten, die im Regelfall weder die Befugnis noch die Absicht hätten, die Interessen der Allgemeinheit zu verfolgen, sondern ihre individuellen Eigeninteressen wahrnähmen. Der EuGH versucht diesem Einwand damit zu begegnen, dass auch von Privatrechtssubjekten verfolgte Zwecke als Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen, wenn diese im Rahmen des Unionsrechts als schützenswert anerkannt sind.37 Dies gilt in besonderer Weise, wenn es sich um Zwecke handelt, die unter einem besonderen Schutz, etwa durch grundrechtliche Gewährleistungen, stehen.38 In den Entscheidungen Laval und Viking-Line hat der EuGH denn auch geprüft, ob die mit den Arbeitskampfmaßnahmen verbundenen Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten der Unternehmen dadurch gerechtfertigt sind, dass sie den Schutz der Arbeitnehmer vor unangemessenen Arbeitsbedingungen bezwecken,

32 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 96 ff. (Laval); Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 56 ff. (Viking-Line). 33 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 98 (Laval); Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 58 (Viking-Line). 34 Zur Kritik vgl. stellvertretend Canaris (Fn. 26), S. 29 (42 ff.); Ehlers (Fn. 15), § 7, Rn. 52 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 114 ff.; Streinz/ Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, 459 (464 ff.). 35 Canaris (Fn. 26), S. 29 (43); Ehlers (Fn. 15), § 7, Rn. 53. 36 Vgl. auch den Nachweis in Fn. 18. 37 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 105 f. (Bosman). 38 So wurde etwa in der Entscheidung Schmidberger wesentlich darauf abgestellt, dass sich die österreichischen Behörden, als sie nicht gegen Blockademaßnahmen einschritten, wesentlich davon leiten ließen, dass die Demonstranten von ihrem durch die EMRK und die österreichische Verfassung gewährleisteten Grundrechten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machten; vgl. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 69 (Schmidberger).

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und dabei darauf hingewiesen, dass der soziale Schutz der Arbeitnehmer ebenfalls zu den Aufgaben der Union gehöre (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV).39 Lässt sich der systematische Einwand somit durch eine entsprechende Interpretation der Rechtfertigungsgründe noch entkräften, so zielen die beiden weiteren Einwände ins Zentrum der Dogmatik der Grundfreiheiten. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass die These von der unmittelbaren Drittwirkung in Widerspruch zu grundlegenden Systemvoraussetzungen des Privatrechts steht.40 Dieses ist beherrscht vom Grundsatz der Privatautonomie, also von dem Gedanken, dass privatrechtliche Gestaltungen ihre Rechtfertigung aus dem freien Willen der Beteiligten erfahren und keiner objektiven Rechtfertigung durch übergeordnete Allgemeinwohlziele bedürfen. Ein solches Rechtfertigungserfordernis ist aber notwendigerweise mit der unmittelbaren Drittwirkung verbunden, wenn und sobald privatrechtliche Gestaltungen Grundfreiheiten berühren. Die hiermit verbundene Gefahr für die Privatautonomie wird auch nicht dadurch gemindert, dass man die Verfolgung grundrechtlich besonders geschützter Zwecke als Rechtfertigungsgrund anerkennt. Auch im Rahmen der Grundrechte ist die Privatautonomie nämlich bereits als solche, d. h. als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit, und nicht nur als Ausfluss besonderer Grundrechte wie Glaubens-, Meinungs-, Vereinigungs- oder Berufsfreiheit geschützt. Im Ergebnis kann der Schutz der Grundfreiheiten gegenüber Privatrechtssubjekten dazu führen, dass diese von privatrechtlich an sich zulässigen Gestaltungen allein wegen ihrer Auswirkungen auf die Grundfreiheiten Dritter keinen Gebrauch machen dürfen. Die Grundfreiheiten entfalten damit zumindest partiell eine freiheitsbeschränkende Wirkung. Dies muss zu denken geben und die Frage aufwerfen, ob die Anerkennung der Grundfreiheiten als Freiheitsrechte nicht auf das Verhältnis der Bürger zur staatlichen Gewalt beschränkt bleiben muss. Schließlich, und damit drittens, führt die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten zu einer einseitigen Bevorzugung von privatrechtlichen Betätigungen, die unter dem besonderen Schutz des Binnenmarktes stehen. Betätigungen, die zu einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten führen, sind nur dann zulässig, wenn sie grundsätzlich schutzwürdig und darüber hinaus zur Erreichung der hiermit verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dagegen wird nicht danach gefragt, ob und inwieweit das Unterbleiben dieser Betätigungen zur Sicherung der Grundfreiheiten erforderlich ist. Dies erscheint deshalb unangemessen, weil es sich letztlich um einen Konflikt unterschiedlicher Freiheitsgewährleistungen handelt, der nach einem Ausgleich im Sinne der praktischen Konkordanz verlangt, um beiden Freiheitsrechten zu möglichst optimaler Entfaltung zu verhelfen. Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten läuft hingegen auf einen Vorrang der durch sie geschützten Betätigungen vor anderen Formen der Privatautonomie hinaus.41 39 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 103 ff. (Laval); Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 77 ff. (Viking-Line). 40 Canaris (Fn. 26), S. 29 (44 f.). 41 Zutr. Canaris (Fn. 26), S. 29 (46).

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Gerade der zuletzt genannte Aspekt ist Ansatzpunkt für eine verbreitete Kritik an den Entscheidungen zu den Wirkungen der Grundfreiheiten im Arbeitskampfrecht.42 Es wird moniert, dass der EuGH zwar einerseits anerkennt, dass das Recht der Arbeitnehmerkoalitionen auf Durchführung kollektiver Maßnahmen sowohl in den Verfassungen der Mitgliedstaaten als auch – spätestens seit dem Vertrag von Lissabon durch Art. 28 GRCh – im Recht der Union geschützt ist,43 andererseits dieses Grundrecht aber lediglich als Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung von Grundfreiheiten heranzieht, den Grundfreiheiten also nicht als gleichwertige Rechtsposition gegenüberstellt und zwischen beiden eine Gesamtabwägung vornimmt.44 Da es bei den Grundfreiheiten typischerweise um die Interessen der Unternehmen gehe und diese daher zugunsten der Arbeitgeberseite streiten, führe dies tendenziell zu einer Verschiebung des Gleichgewichts zulasten der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmerseite.45 Dieser Einschätzung ist zwar der Präsident des Gerichts mit der These entgegengetreten, dass der EuGH eine umfassende Abwägung zwischen den für den Binnenmarkt relevanten Grundfreiheiten und den mit der Sozialpolitik verfolgten Zielen unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgenommen habe.46 Den Entscheidungen selbst lässt sich dies allerdings nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit entnehmen, vor allem wenn man die Begründung mit derjenigen in der Sache Schmidberger47 vergleicht, wo das Gericht die Methode der Abwägung und des optimierenden Ausgleichs zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten exemplarisch praktiziert hat.

42 Vgl. nur Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 92 f.; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 27 GRCh, Rn. 7; Rebhahn, Grundfreiheit vor Arbeitskampf – der Fall Viking, ZESAR 2008, 109 (114 ff.); Wißmann, Zwischenruf: Viking und Laval: EG-Grundfreiheiten über alles?, AuR 2009, 149 ff.; Zwanziger, Nationale Koalitionsfreiheit vs. Europäische Grundfreiheiten – aus deutscher Sicht, RdA 2009, Sonderbeilage zu Heft 5, 10 (18). 43 EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 90 f. (Laval); EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 43 f. (Viking-Line). Allerdings hätte man sich hierzu eine fundiertere Begründung gewünscht. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung von Boykottmaßnahmen in den Schutzbereich. Mit Recht krit. insoweit Rebhahn (Fn. 42), 109 (111 f.). 44 Vgl. Franzen, Europäische Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht, in: FS für Herbert Buchner, 2009, S. 231 (238); Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 69; ders., Mitentscheidung durch Arbeitnehmer – ein europäisches Grundrecht?, 2009, S. 196 ff., 207 f.; Kamanabrou, Arbeitsrecht im Binnenmarkt, EuZA 2010, 157 (170 f.); Rebhahn (Fn. 42), 109 (115); Schlachter, The Laval and Viking Cases, in: Blanpain (Hrsg.), Bulletin of Comparative Labour Relations – 69, 2009, S. 64 (65); Wißmann (Fn. 42), 149 (150); Zwanziger (Fn. 42), 10 (18). 45 So Schlachter (Fn. 44), S. 64 (69); Zwanziger (Fn. 42), 10 (18); ähnlich Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 27 GRCh, Rn. 7: Preisgabe des Grundrechts im Verhältnis zu den Grundfreiheiten. 46 Skouris, Das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten, RdA 2009, Sonderbeilage zu Heft 5, 25 (28 f.); ebenso von Danwitz, Grundfreiheiten und Kollektivautonomie, EuZA 2010, 6 (8, 15). 47 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 77 ff., insbes. Rn. 81 (Schmidberger).

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4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Entscheidungen des EuGH in den Sachen Laval und Viking-Line auf den ersten Blick als konsequente Fortführung der bisherigen Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten erscheinen. Doch deuten andererseits nicht nur die – zum Teil massive – Kritik ansonsten durchaus europafreundlich gesonnener Teile der Literatur, sondern auch die Stellungnahmen der nationalen Regierungen in den Verfahren darauf hin, dass die Entscheidungen einen „wunden Punkt“ im Verhältnis zwischen den Kompetenzen der Union und den nationalen Souveränitätsrechten im Bereich des Arbeitskampfes berühren48 und die vom EuGH für dieses Spannungsfeld präsentierte Lösung offenbar noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Mit den folgenden Überlegungen soll versucht werden, einer überzeugenden Lösung einen Schritt näher zu kommen. Dabei sollen sich die Betrachtungen auf folgende Fragen konzentrieren: • Gebietet die Tatsache, dass Art. 153 Abs. 5 AEUV das Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht ausdrücklich aus dem Katalog der Regelungskompetenzen der Union herausnimmt, eine größere Zurückhaltung hinsichtlich der Wirkungen der Grundfreiheiten auf das nationale Arbeitskampfrecht?49 • Welche Regelungen des nationalen Arbeitsrechts für kollektive Maßnahmen bergen Gefährdungen für den Binnenmarkt, denen durch einen Vorrang der Grundfreiheiten begegnet werden muss?

III. Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht – Versuch einer Harmonisierung 1. Die „Bereichsausnahme“ des Art. 153 Abs. 5 AEUV Ausweislich der – bereits im Abkommen über die Sozialpolitik50 enthaltenen (Art. 2 Abs. 6) – Bestimmung des Art. 153 Abs. 5 AEUV stehen der Union auf den Gebieten des Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrechts keine eigenen Rechtssetzungskompetenzen zu. Die Union ist also daran gehindert, durch Erlass von Rechtsnormen die entsprechenden Rechtssysteme der Mitgliedstaaten zu harmonisieren und damit eine Art „europäisches Arbeitskampfrecht“ zu schaffen.51 Hintergrund dieser Beschränkung ist, dass gerade das Arbeitskampfrecht als eine besonders 48

Vgl. auch die Schilderung der Reaktionen bei von Danwitz (Fn. 46), 6 (7). Hierfür etwa Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 123, 143; Wißmann (Fn. 42), 149 (151). 50 Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik vom 07. 02. 1992, ABl.EG Nr. C 191/91. 51 Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 153 AEUV, Rn. 12; Schlachter, Die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen gegen grenzüberschreitende Standortverlagerungen, in: FS für Rolf Birk, 2008, S. 809 (816). 49

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sensible Materie gilt, bei der zudem die Systeme und Traditionen der Mitgliedstaaten nicht unerheblich divergieren. Diese nationalen Besonderheiten sollten nicht angetastet werden.52 Nicht ganz so eindeutig wie für das Arbeitskampfrecht ist die Bedeutung der Vorschrift für das Tarifvertragsrecht. So ist etwa umstritten, ob die Schaffung eines eigenständigen europäischen Tarifvertragsrechts möglich oder – nicht zuletzt wegen des engen Zusammenhanges mit dem Arbeitskampfrecht – durch Art. 153 Abs. 5 AEUV ebenfalls ausgeschlossen ist.53 Etwaige Zweifel betreffen allerdings nur die Etablierung eines eigenständigen Systems des Tarifvertrages, also beispielsweise Regelungen über den Abschluss und die Beendigung von Tarifverträgen sowie die Art und Weise ihrer Wirkung auf das einzelne Arbeitsverhältnis. Unumstritten ist dagegen, dass die Tarifpartner bei der Gestaltung der Tarifverträge die europarechtlichen Vorgaben zu beachten haben. So unterliegen auch Tarifnormen grundsätzlich einer Kontrolle auf ihre Vereinbarkeit mit europäischem Primär- oder auch Sekundärrecht.54 2. Strukturprinzipien des nationalen Arbeitskampfrechts und die Auswirkungen der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten a) Das Paritätsgebot im nationalen Arbeitskampfrecht Lässt sich aus Art. 153 Abs. 5 AEUV entnehmen, dass die Union die Strukturen des Arbeitskampfrechts der Mitgliedstaaten unberührt lassen will, so gilt es nun zu untersuchen, ob und inwieweit diese Strukturen durch die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten tangiert werden. Die vorliegende Betrachtung muss sich dabei auf das deutsche System des Arbeitskampfes beschränken, auch wenn dieses bisher nicht Gegenstand der Verfahren vor dem EuGH war. Ein Grundaxiom des deutschen Arbeitskampfrechts besteht darin, dass der Arbeitskampf „Hilfsinstrument der Tarifautonomie“ ist.55 Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet ein System freier Tarifverhandlungen, innerhalb dessen die Koalitionen die Ar52

Vgl. etwa Rebhahn/Reiner, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 137 EGV, Rn. 59; Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 143. 53 Gegen eine tarifrechtliche Regelungskompetenz Birk, in: Richardi/Wlotzke, Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., 2000, § 19, Rn. 435, 436; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 153 AEUV, Rn. 12; a.A. Rebhahn/Reiner, in: Schwarze (Fn. 52), Art. 137 EGV, Rn. 50 (für die Regelung kollektiver Verhandlungen). 54 Zum Verstoß gegen Primärrecht etwa die Entscheidungen des EuGH zum Grundsatz der Entgeltgleichheit von Mann und Frau; vgl. EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 39 (Defrenne I); Rs. C-399/92, Slg. 1994, I-5727, Rn. 12 f. (Helmig); Rs. C-33/89, Slg. 1990, I-2591, Rn. 12 (Kowalska); zum Verstoß gegen Sekundärrecht etwa jüngst EuGH, Rs. C-45/ 09, NZA 2010, 1167, Rn. 51 f. (Rosenbladt) zur Altersgrenze in Tarifverträgen; Rs. 214/10, EuZW 2011, 958, Rn. 44 (KTS) zur Zulässigkeit der Befristung des Urlaubsabgeltungsanspruches. 55 BAG – 1 AZR 372/86 – EZA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 80 unter A I 1.

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beitsbedingungen selbst gestalten und den Bedürfnissen der jeweiligen Branche oder Unternehmen anpassen können. Dabei geht der Verfassungsgeber davon aus, dass zwischen den potentiellen Tarifvertragsparteien, also zwischen den Gewerkschaften einerseits und den Arbeitgeberverbänden bzw. einzelnen Arbeitgebern andererseits (§ 2 Abs. 1 TVG), ein Verhandlungsgleichgewicht besteht. Stehen sich gleich starke Partner gegenüber, so gewährleistet dies zunächst, dass das Ergebnis solcher Verhandlungen grundsätzlich einen angemessenen Interessenausgleich darstellt. In einem System freier Verhandlungen wird damit aber noch nicht sichergestellt, dass es überhaupt zu einem Vertragsabschluss kommt. Hierfür ist vielmehr der Arbeitskampf als zusätzliches Druckmittel erforderlich. Durch die Zufügung von (wirtschaftlichen) Nachteilen soll der jeweilige Verhandlungspartner zum Nachgeben gezwungen und eine einvernehmliche Regelung erreicht werden. Hieraus folgt zugleich, dass der Arbeitskampf nur und insoweit zulässig ist, wie er notwendig ist, um die eigene Position in den Verhandlungen zu behaupten und eigene Forderungen durchzusetzen. Dem Kräftegleichgewicht am Verhandlungstisch muss ein ebensolches Gleichgewicht im Rahmen des Arbeitskampfes entsprechen; das Erfordernis der Verhandlungsparität setzt sich in dem Gebot der Kampfparität fort.56 Dies bedeutet für die Partei, die mit dem Arbeitskampf beginnt, dass sie grundsätzlich alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben muss (sog. ultima-ratioGrundsatz).57 Für die gegnerische, angegriffene Partei bedeutet es, dass sie ihrerseits nur dann zu Kampfmaßnahmen greifen darf, wenn diese erforderlich sind, um die Tarifforderungen abzuwehren und nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).58 Bezugspunkt für die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Arbeitskampfes ist damit grundsätzlich die Herstellung von Parität zwischen den Kampfparteien.59

56 BVerfGE 84, 212 (229); BAG GS – GS 1/68 – EzA Art. 9 GG Nr. 6 unter III B 1; BAG – 1 AZR 822/79 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 37 unter A I 2 und 3. 57 Hierzu Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 7, Rn. 11 ff. Dieser Grundsatz ist allerdings durch die Entscheidungen des BAG zum Warnstreik so stark aufgeweicht worden, dass er praktisch nahezu jede Bedeutung verloren hat; vgl. BAG – 1 AZR 651/ 86 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75. 58 Vgl. etwa zur Notwendigkeit der Abwehraussperrung durch die Arbeitgeberseite BAG – 1 AZR 822/79 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 37 unter A I 3 b. 59 BAG – 1 AZR 822/79 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 37 unter A I 3 b; BAG – 1 AZR 96/02 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 134 unter B I 1 b bb (1); ausführlich Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 29, Rn. 38 ff. Hieran ist trotz der gegenläufigen Tendenzen in der neueren Rechtsprechung des 1. Senats des BAG (BAG – 1 AZR 396/06 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 140 zum Unterstützungsstreik; BAG – 1 AZR 972/08 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 143 zum „Flash-Mob“) festzuhalten. Vgl. hierzu Jacobs, Das neue Arbeitskampfrecht des Bundesarbeitsgerichts – Kritische Überlegungen zur Akzentuierung der Kampfmittelfreiheit und zur Entwertung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der neuen Rechtsprechung des 1. Senats, ZfA 2011, 71 (88) m.w.N. zu den ganz überwiegend kritischen Reaktionen in der Literatur.

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b) Verhältnismäßigkeit des Arbeitskampfes und Tarifziele Vergleicht man die vorstehenden Grundsätze mit den Aussagen des EuGH in den Entscheidungen Viking-Line und Laval, so wird deutlich, dass diese mindestens teilweise voneinander abweichen. Der EuGH prüft die Frage, ob die Beschränkung der Grundfreiheiten durch das Recht zur Durchführung von Kollektivmaßnahmen gerechtfertigt ist, ebenfalls am Maßstab der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. In der Entscheidung Viking-Line gibt der EuGH dem nationalen Gericht deshalb auf zu prüfen, ob der Gewerkschaft nach den nationalen Vorschriften andere, die Niederlassungsfreiheit weniger beschränkende Mittel zur Verfügung stehen, um zum Abschluss von Tarifverhandlungen zu gelangen.60 Dies steht noch weitgehend im Einklang mit dem ultima-ratio-Grundsatz des deutschen Arbeitskampfrechts. Anschließend stellt das Gericht aber wesentlich auf die von den Gewerkschaften erhobenen Forderungen, und damit nicht auf die Notwendigkeit des Arbeitskampfes zur Herstellung der Verhandlungsparität ab.61 Selbst wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stehen, hält der EuGH die kollektive Maßnahme nämlich dann nicht für gerechtfertigt, wenn sie zur Herstellung eines angemessenen Arbeitnehmerschutzes nicht erforderlich ist. Die Rechtmäßigkeit der kollektiven Maßnahme wird demgemäß in der Sache Viking-Line mit der Begründung verneint, dass die Maßnahme unabhängig davon durchgeführt werden sollte, ob die Umflaggung des Schiffes schädliche Auswirkungen auf die Arbeitsplätze oder Arbeitsbedingungen haben kann.62 Letzteres ist aber eine Frage, die nach deutschem Verständnis in das Beurteilungsermessen der Koalitionen fällt. Diese werden zum einen eine Anpassung der Arbeitsbedingungen ohnehin nur verlangen, wenn anderenfalls Nachteile für die Arbeitnehmer zu befürchten sind, und dies gegebenenfalls durch einen Vorrang der günstigeren Regelung absichern. Zum anderen wird aber gerade die Beurteilung, ob eine Maßnahme des Arbeitgebers schädliche Auswirkungen haben kann, mitunter schwierig sein und sollte keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegen, da dies letztlich auf einen Eingriff in die Tarifautonomie in Gestalt einer Tarifzensur hinausliefe.63 Die Entscheidungen des EuGH würden deutsche Arbeitsgerichte aber nunmehr zu einer Angemessenheitskontrolle zwingen, wenn Tarifforderungen die Ausübung von Grundfreiheiten tangieren.64 Ähnlich argumentiert der EuGH in der Rechtssache Laval. Die ArbeitnehmerEntsende-Richtlinie 96/71 lasse es nicht zu, die Erbringung einer Dienstleistung in einem Mitgliedstaat davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäfti60

EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 87 (Viking-Line). Diesen Unterschied verkennt von Danwitz (Fn. 46), 6 (11), wenn er meint, dass sich für Mitgliedstaaten, die eine Überprüfung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kennen, in Grundfreiheitskonstellationen keine Änderung ergebe. 62 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 89 (Viking-Line). 63 Hierzu BVerfGE 84, 212 (231). 64 Anders in der Einschätzung offenbar Schlachter (Fn. 51), S. 809 (817); Zwanziger (Fn. 42), 10 (20). 61

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gungsbedingungen eingehalten werden, die über den durch die Richtlinie vorgegebenen Mindestschutz hinausgingen. Solche Bedingungen könnten auch nicht durch kollektive Maßnahmen erzwungen werden, da dies eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstelle.65 Nach Ansicht des Gerichts werden also der im Rahmen der Entsendung von Arbeitnehmern erforderliche Schutz und die zu diesem Zwecke hinzunehmende Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Entsenderichtlinie abschließend definiert.66 Weitergehende Forderungen gehen damit über das zur Verwirklichung des Arbeitnehmerschutzes Erforderliche hinaus. Auch hier soll mithin die Zulässigkeit des Arbeitskampfes von einer inhaltlichen Bewertung der Tarifziele abhängen. c) Grundfreiheiten und Tarifautonomie Bei genauer Betrachtung kann die Beurteilung der Zulässigkeit der kollektiven Maßnahme am Maßstab der hiermit verfolgten Zielsetzung kaum verwundern, stellt der EuGH doch auch für die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nicht auf die kollektive Maßnahme selbst, sondern auf die Forderungen ab, die mit diesen Maßnahmen durchgesetzt werden sollen.67 So erblickt das Gericht nicht etwa in der Baustellenblockade oder in dem Boykott der Gewerkschaft der Seeleute den Umstand, der geeignet ist, die Unternehmen von der Ausübung ihrer Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit abzuhalten. Entscheidend ist nach Ansicht des Gerichts vielmehr, dass die Gewährung der von den Gewerkschaften angestrebten Arbeitsbedingungen die Durchführung der Bauarbeiten bzw. die Umflaggung für die Unternehmen weniger attraktiv machen würde.68 Dass ein Arbeitskampf unzulässig ist, wenn das Regelungsziel, dessen Durchsetzung der Arbeitskampf dient, gegen übergeordnete Rechtsgrundsätze verstößt, ein entsprechender Tarifvertrag also unwirksam wäre, ist im deutschen Arbeitskampfrecht allgemein anerkannt.69 Ginge man davon aus, dass im Falle des Nachgebens der Arbeitgeberseite die Tarifverträge die Grundfreiheiten verletzen würden, wäre es also ohne weiteres konsequent, schon den Arbeitskampf selbst als rechtswidrig und unzulässig anzusehen. Dies wirft freilich die Frage auf, ob das durch eine solche kollektive Maßnahme erzwungene Zugeständnis überhaupt eine Verletzung der Grundfreiheiten darstellen kann. Diese Vorstellung erscheint zumindest dann befremdlich, wenn die Geltung von Tarifverträgen das Ergebnis freier Verhandlungen potentiell gleich starker Verhandlungspartner ist. Die Tarifautonomie ist in einem solchen System nichts anderes 65

EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 80 f., 107 ff. (Laval). So auch Franzen (Fn. 44), S. 231 (239). 67 Vgl. auch Franzen (Fn. 44), S. 231 (236 f.); Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 95. 68 EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 73 (Viking-Line); Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 99 (Laval). 69 Vgl. nur BAG – 1 AZR 96/02 – EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 134 unter B I 3 a m.w.N. 66

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als kollektiv ausgeübte Privatautonomie.70 Ist die Regelung durch die freie Entscheidung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern legitimiert und damit das Ergebnis einer Freiheitsausübung, so kann aber ihr Inhalt nur schwerlich gleichzeitig als Freiheitsbeschränkung angesehen werden.71 Dies ist bei Tarifverträgen stets der Fall, wenn der Tarifvertrag von dem Betroffenen selbst geschlossen worden ist oder seine Anwendung auf dem freiwilligen Beitritt zu dem tarifvertragschließenden Verband beruht. Genau solche Konstellationen hatte der EuGH in den Sachen Viking-Line und Laval aber zu beurteilen. Es ging jeweils darum, dass die betroffenen Unternehmen durch die Kampfmaßnahmen dazu veranlasst werden sollten, durch Beitritt zu bestehenden Tarifverträgen bzw. durch Abschluss besonderer Vereinbarungen Nachteile für die Arbeitnehmer abzuwenden.72 Insoweit unterschieden sich die Fallgestaltungen auch deutlich von den Entscheidungen, in denen der EuGH früher den Grundfreiheiten eine Schutzfunktion gegenüber Regelungen von Verbänden, insbesondere im Bereich des Sports, zuerkannt hat und auf die sich das Gericht nunmehr beruft.73 Dabei ging es um Regularien von Sportverbänden, also um Vorschriften, denen die Sportler nicht ausdrücklich zugestimmt hatten. Und auch der Beitritt zu den Verbänden konnte kaum als freiwillige Unterwerfung unter die Satzungshoheit verstanden werden, war eine Ausübung des Sports außerhalb des Verbandes doch zumindest praktisch ausgeschlossen. Dass hier Sportler eines gewissen Schutzes gegenüber freiheitsbeschränkenden Vorschriften der Verbände bedürfen, erscheint angesichts der bestehenden Verbandsmacht nachvollziehbar. Die Interessenlage ist aber grundlegend anders, wenn die freiheitsbeschränkende Regelung nur mit Zustimmung des Betroffenen zustande kommt oder ihm gegenüber Wirkung entfaltet. Hiergegen ließe sich allenfalls anführen, dass es mit der Freiwilligkeit nicht allzu weit her sei, wenn die betroffenen Unternehmen durch kollektive Maßnahmen des Arbeitskampfes und damit durch Zufügung wirtschaftlicher Nachteile zum Abschluss solcher Vereinbarungen gezwungen werden können. Damit würde jedoch verkannt, dass Freiwilligkeit im Rahmen privatautonomer Regelung nicht bedeutet, dass sämtliche Vertragsbedingungen von beiden Vertragspartnern erwünscht sind. Vielmehr sehen sich Vertragspartner häufig in der Situation, ihnen nicht genehme Bedingungen akzeptieren zu müssen. Dies zeigt sich gerade in Wettbewerbssituationen, wenn Güter knapp sind und daher die Anbieter dieser Güter ihre Interessen besser durchsetzen können. So mag etwa ein Unternehmen, das an einem konkreten 70

Vgl. nur BAG – 4 AZR 549/08 – EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 25, Rn. 22. Ebenso Kamanabrou (Fn. 44), 157 (169); ähnliche Erwägungen bei Schlachter (Fn. 44), S. 64 (68). 72 Hierauf weist Kamanabrou (Fn. 44), 157 (169) zutreffend hin. 73 EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 14 ff. (Walrave); Rs. 13/76, Slg. 1976, 1333, Rn. 17 f. (Don—); Rs. C-51/96 und C-191/97, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47 (DeliÀge); ähnlich gelagert ist der Fall EuGH, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Rn. 120 (Wouters), in dem es um eine Verordnung einer Rechtsanwaltskammer ging, in der die Bildung von Sozietäten von Rechtsanwälten mit Wirtschaftsprüfern untersagt wurde. 71

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Standort Waren oder Dienstleistungen anbieten will, nicht erfreut sein, wenn es für die Anmietung eines Gewerbegrundstückes ein hohes Entgelt zahlen muss. Doch handelt es sich dabei schlicht um den Preis, zu dem die entsprechende Leistung am Markt angeboten wird. Wenn dann das Unternehmen im Hinblick auf die hohen Kosten auf die Anmietung verzichtet, wird man hierin keinen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit sehen können. Tarifverträge wiederum dienen dazu, den Preis für die Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer auf dem Markt der abhängigen Dienstleistungen festzulegen. Und Arbeitskämpfe sind das Instrument, um im Ringen zwischen Arbeitgebern auf der Nachfrageseite und Arbeitnehmern auf der Angebotsseite die jeweilige Marktmacht auszuspielen. Dass dem Gegner dabei wirtschaftlicher Schaden zugefügt wird, ist systemimmanent. Und für die Frage der Vereinbarkeit mit den Wertungen des Binnenmarktes ist die Wertentscheidung des Art. 28 GRCh von entscheidender Bedeutung. Dieser erkennt das Recht an, „Tarifverträge … auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“. Nach dem Recht der Union gehört also die Möglichkeit, durch kollektive Maßnahmen Druck auf den jeweiligen (potentiellen) Tarifpartner auszuüben, zum System freier Tarifverhandlungen.74 Welche kollektiven Maßnahmen zulässig sind, bestimmt sich dabei allein nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.75 Die Parallele zur Keck-Rechtsprechung drängt sich auf.76 Dort hat der EuGH einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit verneint, wenn es sich lediglich um nationale Bestimmungen handelte, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, wenn diese auch auf inländische Unternehmen Anwendung finden. Zur Begründung verweist das Gericht darauf, dass die Anwendung solcher Regelungen „nicht geeignet (ist), den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut“.77 Anders ausgedrückt: Es handelt sich um marktimmanente Begrenzungen, die niemanden vom Zugang zu dem Markt ausschließen, denen sich aber auch niemand entziehen kann, der auf diesem Markt tätig werden will. Das Gleiche muss aber für die Möglichkeit gelten, Tarifforderungen durch Maßnahmen kollektiven Drucks durchzusetzen. Diese 74 Ähnlich Kamanabrou (Fn. 44), 157 (173), die diesen Aspekt allerdings in der Abwägung zwischen Grundfreiheiten und dem Koalitionsgrundrecht im Rahmen der praktischen Konkordanz berücksichtigen will. 75 Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 9), Art. 28 GRCh, Rn. 4. Nach deutschem Recht wäre wohl zumindest die im Fall Laval durchgeführte Blockade als unzulässig angesehen worden, für den Boykott im Fall Viking-Line wäre die Zulässigkeit zweifelhaft gewesen. Vgl. hierzu Otto (Fn. 57), § 11, Rn. 25 ff.; Treber, in: Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 14. Aufl., 2011, § 193, Rn. 71 f. 76 Ähnlich, allerdings beschränkt auf die Behinderung der Warenverkehrsfreiheit durch kollektive Maßnahmen, Franzen (Fn. 44), S. 231 (241 f.); Heuschmid (Fn. 5), § 11, Rn. 138; Rebhahn (Fn. 42), 109 (117). 77 EuGH, Rs. 267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6126, Rn. 17 (Keck und Mithouard).

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Maßnahmen mögen die Rentabilität und damit die Attraktivität wirtschaftlicher Betätigung schmälern und Unternehmen davon abhalten, von ihren Grundfreiheiten Gebrauch zu machen. Die hiermit für die betroffenen Arbeitgeber verbundene Last ist aber zumindest im Bereich der Union dem Arbeitsmarkt immanent und daher für sich genommen nicht als Gefährdung des Binnenmarktes anzusehen.

3. Konsequenzen für die Wirkung der Grundfreiheiten auf das nationale Tarif- und Arbeitskampfrecht Die vorstehend beschriebenen Einschränkungen auf der Tatbestandsebene der Grundfreiheiten betreffen zunächst lediglich die Wirkung der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote. Dagegen behalten sie in ihrer Funktion als Diskriminierungsverbote ihre volle Bedeutung. Eine Verletzung der Grundfreiheiten kommt daher einmal dann in Betracht, wenn Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten durch das nationale Arbeitskampfrecht schlechter behandelt werden als inländische Unternehmen. Dies gilt insbesondere, wenn ihnen bestimmte Rechte im Rahmen der Tarifauseinandersetzung nicht oder nur eingeschränkt zustehen, also im Falle einer unmittelbaren Diskriminierung. Eine vergleichbare Situation liegt aber auch dann vor, wenn die Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten aus tatsächlichen Gründen von den ihnen im Rahmen des Tarif- und Arbeitskampfrechts zustehenden Rechten nicht in gleicher Weise Gebrauch machen können wie in ländischen Unternehmen, da dies den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung erfüllen kann. Solche Diskriminierungen haben dabei nicht nur eine gleichheitsrechtliche, sondern auch eine freiheitsrechtliche Dimension. Beruht die Einordnung der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie und damit als Freiheitsausübung auf der Annahme gleich starker Verhandlungspartner, so wird dies in Frage gestellt, wenn es zu Paritätsstörungen und damit zu einer Verschiebung des Kräftegleichgewichts kommt. Ist dies der Fall, so kann eine Verletzung der Grundfreiheit nicht mehr mit der Begründung verneint werden, dass die Regelung das Ergebnis einer freien Willensausübung des Betroffenen sei. Ist danach tatbestandlich ein Eingriff in Grundfreiheiten gegeben, so stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen. Hier spricht zumindest im Bereich des Arbeitskampfrechts alles für eine lediglich mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten im Sinne einer Schutzpflicht der Mitgliedstaaten. Diese haben die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die nationalen Rechtssysteme keine diskriminierende Wirkung entfalten, insbesondere nicht zu einer Paritätsstörung gerade für ausländische Unternehmen führen. Hierfür spricht neben der allgemein für eine mittelbare Drittwirkung angeführten Erwägung, dass die Gewerkschaften als Träger von kollektiven Maßnahmen freie, privatrechtlich gegründete Vereinigungen sind und daher keiner generellen Rechtfertigungspflicht unterworfen werden sollten,78 vor allem die Regelung des Art. 153 Abs. 5 AEUV, welche aus Rücksicht auf die nationalen Besonderheiten 78

Vgl. oben bei Fn. 40.

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auf eine Vereinheitlichung verzichtet. Wie gezeigt, können aus den Grundfreiheiten abgeleitete unmittelbare Rechtsfolgen dazu führen, dass grundlegende Pfeiler des nationalen Arbeitskampfrechts ins Wanken geraten. Der Wertung des Art. 153 Abs. 5 AEUV wird man daher deutlich besser gerecht, wenn die Mitgliedstaaten in die Pflicht genommen werden, für eine systemimmanente Abhilfe zu sorgen. Anders mag es zu beurteilen sein, wenn sich eine Kampfmaßnahme unmittelbar gegen die Wahrnehmung der Grundfreiheit richtet. Dies war in der Sache VikingLine anfangs der Fall, weil die Gewerkschaft sich gegen die Ausflaggung des Schiffes selbst wandte und verhindern wollte, dass die Reederei von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht. Ähnliches hätte in der Sache Laval gegolten, wenn die Gewerkschaft sich zum Ziel gesetzt hätte, dass das lettische Bauunternehmen generell keine Dienstleistungen in Schweden erbringt. In diesem Fall wären die Maßnahmen nicht darauf gerichtet, die Marktbedingungen zu gestalten, sondern den Marktzugang zu unterbinden. Hätte eine solche Maßnahme Erfolg, würde das Ziel des Binnenmarkts in Frage gestellt. Sie hätte außerdem letztlich eine diskriminierende Wirkung, weil sie Unternehmen betrifft, die sich auf einem anderen Markt als dem des Herkunftsstaates betätigen wollen. Aus diesem Grunde hat der EuGH in der Sache Keck79 in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit seine einschränkende Rechtsprechung auf Maßnahmen begrenzt, die nicht geeignet sind, den Marktzugang zu versperren. Es erschiene daher zum einen gerechtfertigt, einen Verstoß gegen Grundfreiheiten anzunehmen, wenn die kollektive Maßnahme sich gegen die Erbringung der Dienstleistung oder die Niederlassung als solches richtet und das Unternehmen sich durch die Kampfmaßnahme von der Wahrnehmung der Grundfreiheit abhalten lässt, sofern es hierfür keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe gibt. Zum anderen wäre hier eine unmittelbare Drittwirkung weniger problematisch, weil es nicht um die Gestaltung von Arbeitsbedingungen und damit um Tarif- und Arbeitskampfautonomie, sondern allein um die Verhinderung einer unternehmerischen Tätigkeit geht. Das Vorstehende gilt im Übrigen nur, wenn sich die Geltung der Tarifbedingungen auf den freien Willensentschluss derjenigen zurückführen lässt, die der Tarifregelung unterworfen sind. Dies ist sicher dann anzunehmen, wenn die betroffenen Unternehmen selbst Partner des Tarifvertrages sind. Gleich zu behandeln sind aber wohl auch die Fälle, in denen der Tarifvertrag durch einen freiwilligen Beitritt zu einem Verband legitimiert ist. Gilt der Tarifvertrag dagegen aufgrund staatlicher Anordnung (etwa kraft Allgemeinverbindlichkeit oder kraft Rechtsverordnung), so gibt es zum einen keinen Grund für eine Einschränkung des Schutzbereiches der Grundfreiheiten. Werden diese durch tarifliche Regelungen im Sinne der Dassonville-Formel80 beeinträchtigt, so bedarf es stets einer entsprechenden Rechtfertigung durch Gründe des Gemeinwohls. Der EuGH sieht daher völlig zu Recht die in der Entsende-Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, inländische Tarifverträge kraft staatlicher Anord79 80

EuGH, Rs. 267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6126, Rn. 17 (Keck und Mithouard). s. bei Fn. 16.

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nung auf ausländische Unternehmen zu erstrecken, als (im Interesse des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigte) Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit an.81 Zum anderen entfalten die Grundfreiheiten ohne Weiteres unmittelbare Wirkung, weil es sich um eine Maßnahme handelt, die funktional der öffentlichen Gewalt zuzuordnen ist.82

IV. Fazit Die Entscheidungen des EuGH zur Bedeutung der Grundfreiheiten im Arbeitskampfrecht haben in den Mitgliedstaaten für Unruhe gesorgt; wie sich gezeigt hat, nicht völlig zu Unrecht. Ursache hierfür ist vor allem, dass das Gericht seine Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten auf den Bereich des Arbeitskampfes übertragen hat, ohne die dortigen Besonderheiten hinreichend zu berücksichtigen. Erkennt man, dass der Arbeitskampf regelmäßig ein Instrument im Rahmen eines Systems freier Tarifverhandlungen ist, so lässt sich die Durchsetzung von Tarifforderungen, die eine wirtschaftliche Betätigung weniger attraktiv machen, nicht ohne Weiteres als rechtfertigungsbedürftige Beschränkung von Grundfreiheiten ansehen. Die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten führt zudem zu kaum kalkulierbaren Eingriffen in das nationale Rechtssystem, die in ihrer Intensität einer Rechtsangleichung durch europäisches Sekundärrecht nur unwesentlich nachstehen und damit in einen Wertungswiderspruch zu dem in Art. 153 Abs. 5 AEUV gewährleisteten Regelungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten geraten. Die Untersuchung hat aber gezeigt, dass eine Interpretation der Grundfreiheiten möglich ist, die sowohl die Souveränität der Mitgliedstaaten im Bereich des Arbeitskampfrechts respektiert als auch den Grundfreiheiten dort Geltung verschafft, wo dies zur Verwirklichung der Idee des Binnenmarktes geboten ist.

81 82

EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 56 ff. (Laval). s. bei Fn. 18.

Entwicklungen allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union Von Hans-Werner Rengeling

I. Einleitung Das Thema der allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Union ist nicht neu, aber nach fast 50 Jahren lohnt sich ein Rückblick und eine Skizzierung der Entwicklungen zu einzelnen Rechtsgrundsätzen1 und zu allgemeinen Fragen.2 Außerdem gibt es neue Schwerpunkte in der Rechtsprechung des EuGH und in den Diskussionen über das Thema.3 Nach ersten Ansätzen4 finden sich heute in Monographien,5 Lehrbüchern,6 Handbüchern,7 Kommentaren8 und zahlreichen Aufsätzen viele Darstellungen zu den all1

Umfassend: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl., 2005: Gesetzesbindung und Entscheidungsfreiheit der Verwaltung, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbot, Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz, rechtsstaatliche Grundsätze des Verwaltungsverfahrens. 2 Dazu etwa Rengeling, Die Entwicklung verwaltungsrechtlicher Grundsätze durch den Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften, EuR 1984, 331 (341 ff.); Szczekalla, Allgemeine Rechtsgrundsätze, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Aufl., 2003, § 11, Rn. 4 ff. 3 Dazu Lenaerts/Guti¦rrez-Fons, The Constitutional Allocation of Powers and General Principles of EU Law, CMLRev. 2010, 1629 ff.; Editorial Comments, CMLRev. 2010, 1589 ff.; Schwarze, Zwischen Tradition und Zukunft: Die Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze im Recht der Europäischen Union, DVBl. 2011, 721 ff. 4 Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundätze, 1971; Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1977. 5 Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 109 ff.; von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System der Europäischen Integration, 1996, S. 116 ff., 147 ff., 161 ff., 279 ff., 352 ff., 370 ff., 499 ff., 1621 ff. 6 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, § 10, Rn. 33 ff.; Streinz, Europarecht, 8. Aufl., 2008, Rn. 412 ff. 7 Scheuing, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl., 2010, § 6, Rn. 28 ff.; Zuleeg/Kadelbach, ebda., § 8, Rn. 42 ff.; della Cananea, in: von Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III: Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 52, Rn. 25 ff., 29 ff.; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 168 ff., 210 ff., 567 ff.; Terhechte, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der europäischen Union, 2011, § 1, Rn. 26 f., § 7, Rn. 19 ff.

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gemeinen Rechtsgrundsätzen. Dabei wird auch der Zusammenhang mit den Grundrechten (als allgemeinen Rechtsgrundsätzen)9 deutlich, aber auch in einzelnen Fragen problematisch.

II. „Allgemeine Rechtsgrundsätze“ in der Rechtsprechung des EuGH – Beispiele 1. Primärrechtlicher Ansatz: außervertragliche Haftung Bekanntlich findet sich die Bezeichnung der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ in der Bestimmung des Art. 340 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 288 EGV-Amsterdam, exArt. 215 EGV-Maastricht). Danach ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Der EuGH hat dazu eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt.10 Dem „Rumpftatbestand“ der Amtshaftung, Art. 340 Abs. 2 AEUV, wird Modellcharakter für die Bedeutung und die Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze zugesprochen.11 2. Anfang der Rechtsprechung: der Widerruf begünstigender Verwaltungsakte Der EuGH hat schon früh wesentliche Aussagen zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen getroffen, beginnend mit der Rechtsprechung zum Widerruf begünstigender Verwaltungsakte:12 Zwar handele es sich bei dem Widerruf solcher subjektive Rechte gewährender Verwaltungsakte um „eine der Rechtsprechung und Lehre der Mitgliedstaaten wohl vertraute verwaltungsrechtliche Frage“, doch enthalte der EGKSV für deren Lösung keine Regelungen. „Um sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung auszusetzen“, sei der Gerichtshof daher verpflichtet, „diese Frage von sich aus unter Berücksichtigung der in Gesetzgebung, Lehre und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln zu entscheiden“. Unter Ein8 Schröder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV, Rn. 15, 19, 43, 90, 116, 129, 136; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 220 EGV, Rn. 14 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 4. Aufl., 2011, Art. 19 EUV, Rn. 35 ff. 9 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäschen Union, 2004. 10 Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 6), § 11, Rn. 5 ff. 11 BVerfGE 126, 286. Darauf weist auch der EuGH hin. Siehe Urteil des EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-000, Rn. 51 (PPU, J.McB./L.E.). 12 EuGH, Rs. 7/56 und 3/57 bis 7/57, Slg. 1957, 83 (118 f.) (Algera/Gemeinsame Versammlung); dazu Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 4.

Entwicklungen allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union

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schluss rechtsvergleichender Untersuchungen heißt es beim EuGH, dass ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, der dem Betroffenen subjektive Rechte gewährt habe, „grundsätzlich“ nicht widerrufen werden könne, weil in diesem Fall das Vertrauen auf den Fortbestand der geschaffenen Rechtsstellung das Interesse der Verwaltungsbehörde an einer Rückgängigmachung ihrer Entscheidung überwiege. Anders sei die Situation im Fall der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes. Nach dem Recht aller (damaligen) Mitgliedstaaten sei der „Widerruf“ zulässig, weil der „Mangel an einer objektiven gesetzlichen Grundlage“ auch dem subjektiven Recht des Betroffenen anhafte, was die Aufhebung rechtfertige. Nach einer Skizze der nationalen Regelungen befürwortet der Gerichtshof die Zulässigkeit der Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes im Gemeinschaftsrecht bzw. Unionsrecht jedenfalls bei der Einhaltung einer „angemessenen Frist“. Inzwischen gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung zum Bereich Rücknahme und Widerruf eines Verwaltungsaktes.13 Weiterhin hat der EuGH in vielen Entscheidungen allgemeine Rechtsgrundsätze herangezogen und entwickelt, vor allem aus dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.14 Genannt seien die folgenden Grundsätze. 3. Rechtmäßigkeit der Verwaltung a) Allgemeines, Grundlagen Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bezweckt vor allem die gleichmäßige Gewährleistung eines dem „Gesetz“ entsprechenden Rechtszustandes.15 Der Grundsatz kann in einem Spannungsverhältnis zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stehen. Dieses Spannungsverhältnis ist im Einzelfall durch Abwägung aufzulösen.16 b) Vorbehalt des „Gesetzes“ Der EuGH erkennt einen gemeinschaftlichen Gesetzesvorbehalt, besser Rechtsatzvorbehalt, für Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre privater Betätigung natürlicher oder juristischer Personen als allgemeinen Rechtsgrundsatz an.17

13

von Danwitz (Fn. 7), S. 396 ff. Erstmals wohl in: EuGH, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 5 (Granaria); vgl. auch Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, VVDStRL 53 (1994), 201 (224 ff.). 15 Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 19. 16 EuGH, verb. Rs. 42/59 und 49/59, Slg. 1961, 109 (172) (SNUPAT). 17 EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 (Hoechst); vgl. auch Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996, S. 110 ff., 152 ff.; Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 20 und 42. 14

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c) Vorrang des „Gesetzes“ Auch der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ist in der Rechtsprechung anerkannt worden.18 Jedenfalls besteht ein Anwendungsvorrang geschriebenen Rechts.19 4. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz a) Allgemeines und Grundlagen Der Grundsatz des Vertrauensschutzes20 folgt aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der es gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sein müssen,21 und der die Voraussehbarkeit der unter das Gemeinschaftsrecht/Unionsrecht fallenden Tatbestände und Rechtsbeziehungen gewährleisten soll. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes gehört zwar zu den „tragenden Grundsätzen der Gemeinschaft“, schließt aber nicht den Schutz der Wirtschaftsteilnehmer auf Beibehaltung einer bestehenden Situation ein, die die Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens ändern können.22 Voraussetzung ist, dass die Europäsche Union einen Vertrauenstatbestand gesetzt hat, der sich nicht auf bloße Chancen oder Aussichten erstreckt.23 b) Beispiel: Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen Bezüglich der Gewährleistung des Vertrauensschutzes bei der Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen hat der Gerichtshof grundlegende Aussagen darüber unterbreitet, inwieweit das Gemeinschaftsrecht auf nationales Verfahrensrecht einwirken kann und sollte. Der Gerichtshof führt aus, dass die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht gemäß Art. 5 EWGV24 auf der Basis der „Gemeinschaftstreue“ zu vollziehen haben, wobei aber die einheitliche und gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts bzw. des Unionsrechts sichergestellt sein müsse. Zur Konkretisierung wird hinzugefügt, dass die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich werden dürfe (Effizienzgebot) und die

18

Schwarze (Fn. 1), S. 378 m.w.N. Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 34. 20 Wohl erstmals erwähnt in: EuGH, Rs. 111/63, Slg. 1965, 893 (911) (Lemmerzwerke). 21 EuGH, Rs. 169/80, Slg. 1981, 1931, Rn. 17 (Zollverwaltung); vgl. auch Rengeling (Fn. 14), 201 (224). 22 EuGH, Rs. C-296/93 und C-307/93, Slg. 1996, I-795, Rn. 54 ff. (Frankreich und Irland). 23 Nichtigkeitserklärung eines Gemeinschaftsrechtsaktes wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutz: EuGH, Rs. 120/86, Slg. 1988, 2321, Rn. 23 ff. (Mulder). 24 Vgl. nunmehr Art. 4 Abs. 3 und 5 Abs. 3 EUV; dazu Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Fn. 7), § 11, Rn. 32. 19

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Sachverhalte nicht anders beurteilt werden dürften als rein nationale Fälle (Diskriminierungsverbot).25 c) Grundsatz des Rückwirkungsverbots Das grundsätzliche Rückwirkungsverbot gilt nicht für Verfahrensvorschriften. Sie sind grundsätzlich auf alle zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar. Materielle Regelungen finden dagegen grundsätzlich nur für die Zukunft Anwendung.26 d) Grundsatz von Treu und Glauben Der Grundsatz von Treu und Glauben27 wird als Unterfall des Vertrauensschutzes und damit der Rechtssicherheit gesehen, ebenso wie der Grundsatz der Verwirkung und das Verbot des venire contra factum proprium28. 5. Verhältnismäßigkeit Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit29 (im weiteren Sinne) dürfen Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist; außerdem müssen die verursachten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.30 Der EuGH nimmt eine vierstufige Prüfung vor: erstens Untersuchung, ob eine Regelung ein zulässiges Ziel verfolgt, zweitens Prüfung der Geeignetheit der Maßnahme für die Verfolgung des Ziels, drittens Erforderlichkeit der Maßnahme anhand der Frage, ob mildere, gleich geeignete Mittel zur Verfügung stehen, und viertens die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also die Angemessenheit oder Zumutbarkeit der Maßnahme. Auf allen Stufen wird den Unionsorganen ein erheblicher Ermessensspielraum eingeräumt, den der EuGH nur selten als überschritten ansieht.31 25 Grundlegend: EuGH, Rs. 205 – 215/82, Slg. 83, 2633 ff. (Deutsche Milchkontor) = DVBl. 1984, 29 ff., mit Anmerkung von Rengeling, DVBl. 1984, 33 ff.; ders. (Fn. 2), 331 (352 ff.); zu den weiteren Entwicklungen in der Rechtsprechung von Danwitz (Fn. 7), S. 483 ff., vgl. auch S. 310 ff. und 555 ff.; Hatje, Rechtssicherheit im europäischen Verwaltungsverbund, in: FS für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 249 ff. 26 Einzelheiten dazu bei Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 15. 27 EuGH, Rs. verb. 43/59, 45/59 und 48/59, Slg. 1960, 965 (989) (von Lachmüller u. a./ Kommission). 28 Zu dem gesamten Komplex: Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 14 m.w.N. 29 Schwarze, Dimensionen des Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: FS Rengeling (Fn. 25), S. 633 ff. 30 EuGH, verb. Rs. C-296/93 und C-307/93, Slg. 1996, I-795, Rn. 25 ff. (Frankreich und Irland). 31 Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 16 und 44 f.

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6. Allgemeiner Gleichheitssatz Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet es, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln, wenn nicht eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.32 Hinzuweisen ist an dieser Stelle (als Beispiel) auf den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den Grundrechten. So hat der EuGH in jüngster Zeit formuliert: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der in den Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.“33 Auf die damit verbundenen allgemeinen Fragen ist zurückzukommen.34 7. Grundsatz des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen und verwaltungsrechtlichen Verfahren Entwickelt wurde der Grundsatz des rechtlichen Gehörs35 im gerichtlichen36 und verwaltungsrechtlichen Verfahren37, wenn dieses z. B. zu Sanktionen oder auch zur Versagung von Vergünstigungen oder allgemein zu einer beschwerenden Maßnahme führen kann.38 8. Verbot der Doppelbestrafung Im Kartellrecht folgt aus dem Grundsatz ne bis in idem, dass die Kommission bei der Bemessung der Höhe einer Geldbuße die einem Unternehmen bereits auferlegten Bußen berücksichtigen muss, wenn es sich um Sanktionen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Kartellrecht eines Mitgliedstaates handelt, also im Unionsgebiet begangene Rechtsverletzungen.39 9. Notwehr, Notstand, höhere Gewalt Auch diese Grundsätze werden gelegentlich herangezogen.40

32

EuGH, Rs. 8/57, Slg. 1958, 231 (257, 259) (Groupement des Hautes Fourneaux). EuGH, Rs. C-550/07 P, Slg. 2010, I-000, Rn. 54 (Akzo Nobel u. a./Kommission). 34 s. Ausführungen unten unter III.1.b). 35 Umfassend grundsätzlich Schwarze (Fn. 1). 36 EuGH, verb. Rs. 423/59 und 49/59, Slg. 1961, 109 (173) (SNUPAT); Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935 ff., Rn. 25 ff. (Krombach und Bamberski). 37 EuGH, Rs. 32/62, Slg. 1963, 107 (123 ff.) (Alvis). 38 Weitere Einzelheiten bei Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 6. 39 EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, I-1, Rn. 11 (Walt Wilhelm). 40 Dazu Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 18 m.w.N. 33

Entwicklungen allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union

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10. Grundsatz des umfassenden und effektiven Rechtsschutzes Der Grundsatz ist vielfach behandelt worden.41 Der Grundsatz des (auch das Grundrecht auf) umfassenden und effektiven Rechtsschutzes schließt die Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes ein, wenn und soweit dies für die volle Wirksamkeit der künftigen Entscheidung erforderlich ist.42 11. Resümee In der Rechtsprechung ist somit ein Netz rechtsstaatlicher Grundsätze entwickelt worden.43

III. Grundlagen zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen 1. Begriff und Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze a) Rechtsprechung des EuGH und weitere Entwicklungen aa) Anfänge Wesentliche Aussagen hat der EuGH – wie dargestellt – bereits in der Rechtssache Algera getroffen.44 Bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen handelt es sich nach der Rechtsprechung des EuGH um ungeschriebene Regeln, die in der Rechtsordnung der Europäischen Union Verfassungsrang besitzen.45 Das geschriebene Vertragsrecht wird durch die Rechtsgrundsätze ergänzt. Sie dienen der Lückenfüllung und als Instrument der Auslegung des Unionsrechts.46

41 Vgl. etwa von Danwitz, Aktuelle Fragen der Grundrechte, des Umwelt- und Rechtsschutzes in der Europäischen Union, DVBl. 2008, 537 (538); Schwarze, Der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für Christian Starck, 2007, S. 645 ff.; Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit. Zu den Bedingungen einer nachhaltigen Sicherung des effektiven Rechtsschutzes im Europäischen Verfassungsverbund, EuR 2011, 151 ff. 42 EuGH, Rs. C-213/889, Slg. 1990, I-2433, Rn. 21 (Factortame I). 43 Vgl. Schwarze (Fn. 3), 721 ff. 44 EuGH, Rs. 7/56 und 3/57 bis 7/57, Slg. 1957, 83 (118 f.) (Algera/Gemeinsame Versammlung); dazu oben unter II.2. 45 Vgl. EuGH, Rs. C-101/08, Slg. 2009, S. I-9823, Rn. 63 (Audiolux SA e.a./Groupe Bruxelles Lambert SA (GBL) u. a. und Bertelsmann AG u. a.); Rs. C-174/08, Slg. 2009, Slg. I-10567, Rn. 42 (NCC Construction Danmark/Skatteministerie); vgl. auch Terhechte (Fn. 7), § 7, Rn. 19; differenzierend: Szczekalla (Fn. 2), § 11, Rn. 27 ff. 46 Schwarze (Fn. 3), 721 (722, Fn. 10) m.w.N.

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bb) Entwicklungsstufen Im Überblick lässt sich Folgendes feststellen:47 Erstens: Der Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze folgte eine Konkretisierung. Zweitens: Zunächst ungeschriebene Rechtsgrundsätze sind später zum Teil kodifiziert worden, insbesondere durch die Europäische Grundrechtecharta, vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV. Außerhalb der Grundrechtecharta ist etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. 5 Abs. 4 EUV zu nennen, auch einige Verfahrensrechte sind geregelt, etwa die Begründungspflicht in Art. 296 AEUV. In einigen Bereichen sind sekundärrechtliche Kodifikationen allgemeiner Rechtsgrundsätze vorgenommen worden, z. B. im Zollrecht; dadurch ist die „Pfadabhängigkeit“ des europäischen Verwaltungsrechts vom europäischen und mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht gelockert worden.48 Drittens: Art. 6 Abs. 3 EUV bestimmt, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts“ sind. Heute spricht man in Ansätzen von einem ius publicum Europaeum.49 cc) Allgemeine Rechtsgrundsätze als Primärrecht Die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden „gewissermaßen als ein auf der Basis der Rechtsvergleichung gewonnenes Destillat aus der verfassungsrechtlichen Grundausrichtung der Gemeinschaft/Union sowie aus den Rechts- und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“ bezeichnet.50 Sie zählen zum primären Unionsrecht und entfalten sowohl für den direkten wie für den indirekten Vollzug des Unionsrechts51 ihre Wirkung, so dass auch die Mitgliedstaaten beim Vollzug des Unionsrechts an sie gebunden sind.52 Der Gerichtshof der Europäischen Union sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, so heute Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV. Als dogmatische Grundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze kann heute Art. 2 EUV betrachtet werden, der für die Union das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip festschreibt; außerdem ist die Legitimationsbasis der Rechtsgrundsätze mit der Verbindlichkeit der europäischen Grundrechte verbreitert worden,53 worauf nunmehr einzugehen ist. 47

Schwarze (Fn. 3), 721 (722, Fn. 10). Terhechte (Fn. 7), § 7, Rn. 20. 49 Siehe von Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. I bis IV, 2007, 2008, 2010 bzw. 2011; zu den Entwicklungen: Schwarze, Zukunftsaussichten für das Europäische Öffentliche Recht, 2010, mit Besprechung von Tomuschat, DVBl 2011, 283. 50 Terhechte (Fn. 7), § 7, Rn. 19. 51 Dazu bereits Rengeling (Fn. 4), S. 9 ff. 52 Terhechte (Fn. 7), § 7, Rn. 19; im Einzelnen und differenzierend: von Danwitz (Fn. 7), S. 567 ff.; Hatje (Fn. 25), S. 249 ff. 53 Terhechte (Fn. 7), § 7, Rn. 19. 48

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b) Allgemeine Rechtsgrundsätze und Grundrechte aa) Rechtsprechung des EuGH Schon begrifflich besteht ein Zusammenhang zwischen allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Grundrechten. Der Gerichtshof hat schon früh die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkannt.54 Vielfach hat der Gerichtshof eine Verbindung zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der Grundrechtscharta hergestellt.55 Als Beispiel wurde bereits der allgemeine Gleichheitssatz genannt.56 bb) Grundrechtecharta und Vertrag von Lissabon Generell geht es auch um das Verhältnis von geschriebenem und ungeschriebenem Recht.57 Hinsichtlich des Verhältnisses der Charta der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen stellen sich manche Fragen. (1) Z. B. ist es problematisch, dass Großbritannien, Polen und Tschechien die Charta der Grundrechte als Teil des Lissabonner Vertrages für sich nicht anerkannt haben. Allerdings sind auch diese Länder gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV an die allgemeinen Rechtsgrundsätze gebunden, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat.58 (2) Ferner kann es künftig zu entscheiden sein, ob die Gewährleistungen der Grundrechtecharta (unabhängig von den soeben genannten Sondersituationen in einigen Ländern) austauschbar sind. Bezüglich der Grundrechtecharta gibt es bekanntlich Fragen hinsichtlich des Umfangs der Bindung der Mitgliedstaaten,59 die auch durch Art. 51 der Charta – Anwendung der Grundrechte bei der „Durchführung des Rechts der Union“ – nicht abschließend gelöst sind60. Denn nach der Rechtsprechung gelten die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Europäischen Union, wenn die nationalen Vorschriften in den Anwendungsbereich der Verträge fallen.61 (3) Fragen können sich auch im Zusammenhang mit den Kompetenzen der Europäischen Union stellen. Nach Art. 51 Abs. 2 der Grundrechtecharta dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hin54

EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419 (Stauder/Stadt Ulm). Schwarze (Fn. 3), 721 (724, Fn. 43), unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-550/07 P, Slg. 2010, I-000, Rn. 54 (Akzo Nobel u. a./Kommission). 56 Dazu Ausführungen oben unter II.6. 57 Vgl. zum Verwaltungsrecht allgemein Schwarze (Fn. 1), S. XCV ff. 58 Schwarze (Fn. 3), 721 (726). 59 Dazu jetzt ausführlich: Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, 2011. 60 Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Grundrechtecharta, in: Schwarze (Hrsg.), Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 331 (359 ff.). 61 Dazu: Rengeling (Fn. 60), S. 331 (359 f.); Schwarze (Fn. 3), 721 (726). 55

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aus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union.62 Wie verhält es sich, wenn allgemeine Rechtsgrundsätze etwa ausgedehnt werden und sich bei ihnen die Kompetenzfrage stellt?63 2. Methoden der Rechtsgewinnung a) Erste Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH Verwendet wird die Methode der wertenden Rechtsvergleichung, wobei die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine besondere Rolle spielen, aber auch völkerrechtliche Verträge, insbesondere die EMRK.64 b) Aktuelle Frage zum Grad der Übereinstimmung mit nationalen Verfassungsgrundsätzen Dem Rumpftatbestand der Amtshaftung, Art. 340 Abs. 2 AEUV, wird Modellcharakter zugesprochen.65 Aus dieser Regelung ist aber nicht zwingend abzuleiten, dass die größere Anzahl der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einen entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatz beinhalten muss.66 Auf der anderen Seite wird die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Mangold67 kritisch beurteilt, in der er für das Gemeinschaftsrecht ein Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt hat, obwohl ein solcher in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur vereinzelt (Finnland und ansatzweise Portugal) anerkannt ist.68 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht in dem Mangold-Urteil des EuGH keine Kompetenzüberschreitung gesehen hat.69 Sicher kann man nicht verlangen, dass ein vom EuGH anzunehmender allgemeiner Rechtsgrundsatz in allen Mitgliedstaaten anerkannt sein muss. Die Grenze zu bestimmen ist nicht einfach.70

62 Zur neueren Rechtsprechung diesbezüglich: BVerfGE 126, 286 (313). Darauf weist auch der EuGH hin. Siehe Urteil des EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-000, Rn. 51 (PPU, J.McB./L.E.). Vgl. zum Problem bereits Rengeling, Eine Europäische Charta der Grundrechte, in: FS für Dietrich Rauschning, 2001, S. 225 (243 ff.). 63 Dazu Schwarze (Fn. 3), 721 (726). 64 Rengeling (Fn. 2), 331 (346 f.); von Danwitz (Fn. 5), S. 212 ff. 65 BVerfGE 126, 286. Darauf weist auch der EuGH hin. Siehe Urteil des EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-000, Rn. 51 (PPU, J.McB./L.E.). 66 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 6), § 10, Rn. 33 ff. 67 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, Slg. I-9981, Rn. 74 (Mangold/Helm). 68 Schwarze (Fn. 3), 721 (723, Fn. 20); ders. (Fn. 49), S. 126 f. 69 BVerfGE 126, 286 (308). 70 Vgl. die Hinweise bei Schwarze (Fn. 3), 721 (723 f.).

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3. Zur inhaltlichen Gewährleistung allgemeiner Rechtsgrundsätze a) Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch Sekundärrecht In der jüngsten Rechtsprechung wird bisweilen darauf hingewiesen, dass ein allgemeiner Rechtsgrundsatz durch Sekundärrecht konkretisiert werden müsse, bevor in der Rechtspraxis aus ihm bestimmte Folgerungen gezogen werden könnten.71 Diese Überlegungen finden sich im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.72 Im Übrigen wird auch etwa im deutschen Verfassungsrecht verlangt, dass allgemeine Verfassungsgrundsätze zunächst durch die einfache Gesetzgebung konkretisiert werden müssen, bevor aus ihnen Rechte ableitbar sind.73 Der jüngeren Rechtsprechung ist eine Tendenz zu entnehmen, die inhaltlichen Gewährleistungen der einzelnen Rechtsgrundsätze weiter auszudehnen.74 b) Allgemeine Rechtsgrundsätze und Kompetenzfrage Im Zusammenhang mit der Frage der Rechtsgewinnung kann das Problem der inhaltlichen Gewährleistung allgemeiner Rechtsgrundsätze stehen, also die Frage der zulässigen Ausdehnung der inhaltlichen Gewährleistung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Damit ist nochmals75 der Problembereich angesprochen,76 dass die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts nicht zu einer Ausweitung der Zuständigkeiten der Union führen darf, wie sie für die Grundrechte ausdrücklich geregelt ist, Art. 51 Abs. 2 der Charta der Grundrechte.77

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Schwarze (Fn. 3), 721 (724, Fn. 41), unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-101/08, Slg. 2009, I-9823, Rn. 63 (Audiolux SA e.a./Groupe Bruxelles Lambert SA (GBL) u. a. und Bertelsmann AG u. a.) und Rs. C-174/08, Slg. 2009, I-10567, Rn. 42 (NCC Construction Danmark/Skatteministeriet). 72 BVerfGE 126, 286. 73 Schwarze (Fn. 3), 721 (724, Fn. 42), unter Hinweis auf Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 303 ff.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 691. 74 Dazu Schwarze (Fn. 3), bei Fn. 34, etwa unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-550/07 P, Slg. 2010, I-000, Rn. 30 (Akzo Nobel u. a./Kommission). 75 Dazu bereits Ausführungen oben unter III.1.b).bb)(3). 76 Dazu Schwarze (Fn. 3), bei Fn. 34 ff. 77 Zur neueren Rechtsprechung diesbezüglich: BVerfGE 126, 286 (313). Darauf weist auch der EuGH hin. Siehe Urteil des EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-000, Rn. 51 (PPU, J.McB./L.E.). Vgl. zum Problem bereits Rengeling (Fn. 62), S. 225 (243 ff.).

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4. Anwendungsbereiche allgemeiner Rechtsgrundsätze a) Eigenverwaltungsrecht der Europäischen Union Die allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten selbstredend im „Eigenverwaltungsrecht“78 der Europäischen Union, also beim direkten Verwaltungsvollzug.79 b) „Gemeinschaftsverwaltungsrecht“ – Europäischer Verwaltungsverbund Die Frage der Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze im „Gemeinschaftsverwaltungsrecht“80 bzw. „Unionsverwaltungsrecht“ kann schwieriger zu beantworten sein.81 Es ist seit langem anerkannt, dass mitgliedstaatliche Rechtsakte und Handlungen am Maßstab der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zu messen sind, wenn die Mitgliedstaaten im „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts tätig werden.82 Das gilt namentlich dann, wenn die Mitgliedstaaten im Bereich des indirekten Verwaltungsvollzuges agieren oder wenn sie einschränkende Regelungen zu den Grundfreiheiten des Unionsrechts treffen.83 Im Einzelnen ist von der bereits erwähnten84 Grundsatzentscheidung des EuGH auszugehen, in der es nach der grundsätzlichen Feststellung, es sei gemäß Art. 5 EWGV85 Sache der Mitgliedstaaten, für die Durchführung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen, heißt: Die nationalen Behörden gingen dabei nach den nationalen Bestimmungen vor, „soweit das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält“.86 Die Tragweite dieser „Soweit“-Formel ist oft umschrieben worden.87 Der Gerichtshof hat in der genannten Grundsatzentscheidung nicht den Standpunkt vertreten, dass die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze über die Aufhebung von Verwaltungsakten die Anwendung etwa des § 48 VwVfG total verdrängen, was im Hinblick auf die Entscheidung in der Rechtssache Algera88 durchaus denkbar gewesen wäre. Deshalb wird vielfach angenommen, die Rechtsgrundsätze der Union im Sinne der 78 Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – Wechselseitige Einwirkungen, DVBl. 1993, 924 (925). 79 Dazu von Danwitz (Fn. 7), S. 344 ff.; dazu auch Rengeling (Fn. 2), 331 (348 ff.). 80 Schmidt-Aßmann (Fn. 78), 924 (926 ff.). 81 von Danwitz (Fn. 7), S. 227 ff, 567 ff. 82 So schon EuGH, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2833, Rn. 17 (Deutsche Milchkontor). 83 von Danwitz (Fn. 7), S. 568. Zu den Anfängen: Rengeling (Fn. 2), 331 (350 ff.). 84 Siehe oben Fn. 25. 85 Vgl. nunmehr Art. 4 Abs. 3 und 5 Abs. 3 EUV. 86 EuGH, Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 17 (Deutsche Milchkontor). 87 Nachweise bei Rengeling (Fn. 14), 201 (225 ff.). 88 Oben Fn. 12.

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„Soweit“-Formel des Gerichtshofs seien „Maßstabsnormen“ für das nationale, weiterhin grundsätzlich anwendbare Verfahrensrecht als Vollzugsrecht.89 Dazu ist allerdings festzustellen, dass sich die Rechtsprechung des EuGH im Lauf der Zeit gewandelt hat. Die Einwirkungen auf das nationale Recht sind intensiviert worden.90 Allerdings kann eine zu billigende Anwendung der zitierten EuGH-Rechtsprechung in der „Soweit“-Formel nur dann angenommen werden, wenn im konkreten Fall eine rechtsstaatlich gebotene Abwägung der maßgeblichen rechtsstaatlichen Grundsätze erfolgt.91 So ist z. B. darauf hinzuweisen, dass die Effektivität des Gemeinschaftsrechts im Sinne der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zwar auf einem rechtsstaatlichen Prinzip beruht, dass dieses aber „gerecht“ abzuwägen ist mit anderen gegenläufigen rechtsstaatlichen Prinzipien, wie etwa dem Prinzip der Rechtssicherheit bzw. des Vertrauensschutzes.

IV. Resümee Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze ist aktuell und künftig notwendig.92 Die Idee etwa, die allgemeinen Rechtsgrundsätze in einem allgemeinen „Rechtsakt“ (ähnlich den nationalen Verwaltungsverfahrensgesetzen) zusammenzufassen,93 sollte nicht verfolgt werden, schon wegen der Aufgabe der Flexibilität.94 Zunächst ging es um die Frage, ob ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht anerkannt werden könnte, später sind dann die Rechtsgrundsätze immer mehr konkretisiert worden. Wechselseitige Einwirkungen zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht gibt es, z. B. beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.95 Hier wird von einem Beitrag zur Rechtsharmonisierung gesprochen.96

89 Streinz, Der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 182, Rn. 23 ff. (28); vgl. auch von Danwitz (Fn. 7), S. 227 ff. 90 Dazu Rengeling (Fn. 14), 201 (226 f.). 91 Vgl. zur Abwägung auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, 1988, S. 1407. 92 Siehe zur Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Gemeinschaftsrecht näher Schwarze (Fn. 1), S. LXXIV ff. 93 Vgl. zu den damit verbundenen Fragen: Vedder, (Teil)Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts der EG?, in: Schwarze/Starck (Hrsg.), Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts in der EG?, EuR Beiheft 1/1995, 7 ff. 94 So auch Terhechte (Fn. 7), § 1, Rn. 27. 95 Rengeling (Fn. 14), 201 (208 f.); zur Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Gemeinschaftsrecht näher Schwarze (Fn. 1), S. LXXIV ff. 96 Schwarze (Fn. 3), 721 (724, Fn. 41).

Entwicklungslinien des Sicherheitsverfassungsrechts Von Thomas Würtenberger Im internationalen Vergleich weist die Entwicklung des Sicherheitsrechts in Deutschland Besonderheiten auf: Zum einen haben der Bundes- und mancher Landesgesetzgeber die neuen technischen Möglichkeiten der informationellen Gefahrenabwehr fast umfassend rechtlich geregelt und damit den Sicherheitsbehörden zur Verfügung gestellt, zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in zunehmendem Maß die neuen sicherheitsrechtlichen Regelwerke verfassungsrechtlich eingeschränkt. Die Gründe für diesen sicherheitsrechtlichen Sonderweg Deutschlands sind vielschichtig: Auf der einen Seite hat die Wahrung innerer Sicherheit in der deutschen politischrechtlichen Tradition einen hohen Stellenwert. Der Staatsaufgabe der Wahrung innerer Sicherheit und mit ihr der Wahrung eines besonders ausgeprägten Bedürfnisses nach individueller ebenso wie nach kollektiver Sicherheit dienten die Polizeiordnungen des wohlfahrtsstaatlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation,1 das Polizeirecht des liberalen Rechtsstaates sowie die moderne Wendung zum informationellen Sicherheitsrecht. Grundrechtsdogmatisch kann die Ausdifferenzierung des Sicherheitsrechts in den letzten beiden Jahrzehnten an die Schutzpflichtenlehre, staatstheoretisch an die Wende zum Präventionsstaat2 anknüpfen. Nicht zuletzt führen die mediale Vermittlung von Terrorismus sowie erste Erfahrungen mit Ausfällen der kritischen Infrastruktur zu einem Gefährdungsbewusstsein, das den Ausbau des Sicherheitsstaates zu akzeptieren bereit ist.3 Auf der anderen Seite steht ein im gesellschaftlichen Bewusstsein tief verankertes Konzept von Privatheit, das auf Freiheit vor staatlicher Überwachung und auf die Wahrung einer freiheitlichen politischen Ordnung dringt. Mit und seit dem Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht diesem Privatheitskonzept verfas1 Zur „Schutzpflicht der Regenten für die Sicherheit in ihren Ländern“: Conze, Sicherheit, Schutz, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831 (837 ff.). 2 Zu diesem sicherheitsrechtlich relevanten Wandel der Staatlichkeit: Würtenberger, Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: Kugelmann (Hrsg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73 (88 ff.); Poscher, Sicherheitsverfassungsrecht im Wandel, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 245 ff.; Gusy, Staat und Sicherheit – Der kooperative Präventionsstaat, in: Möllers/van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit, Halbbd. 1, 2011, S. 21 ff. 3 Zu einem derartigen Mechanismus vgl. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., 1991, S. 106 f.

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sungsrechtliche Konturen verliehen. Wie ein verfassungsrechtlicher „rocher de bronce“ setzt dieses Privatheitskonzept dem Sicherheitsrecht und der Sicherheitspolitik deutliche Grenzen. Anderen Rechtsordnungen ist diese Ambivalenz von Privatheits- und Sicherheitskonzept weitgehend fremd. So mögen zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika Privatheitskonzepte politisch diskutiert werden, sie finden jedoch in der Sicherheitsrechtsprechung des Supreme Court keine verfassungsrechtlichen Konturen. In Frankreich bleibt abzuwarten, ob der Conseil Constitutionnel seine bisher eher punktuellen Einschränkungen des Sicherheitsrechts zu einem umfassenderen Modell des Grundrechtsschutzes ausbaut.4 Insgesamt gilt für eine Vielzahl ausländischer Rechtsordnungen, dass dort das Sicherheitsrecht nicht unter einem strengen Gesetzesvorbehalt steht, eine Verfassungsbeschwerde die Ausdifferenzierung eines Sicherheitsverfassungsrechts nicht ermöglicht sowie die öffentliche Meinung nicht mit Nachdruck den Schutz der Privatsphäre fordert. In der Folge stehen die Normierung und Praxis des Sicherheitsrechts weitestgehend im Belieben des Staates mit seinen Sicherheitsbehörden. In Deutschland folgte die Ausdifferenzierung des Sicherheitsrechts einem komplexen Zusammenspiel von sich ändernden Bedrohungslagen und neuen Überwachungstechniken, daraus resultierenden neuen Ermächtigungsgrundlagen und darauf folgenden verfassungsrechtlichen Restriktionen durch das Bundesverfassungsgericht. In einem ersten Abschnitt wird in gebotener Kürze der Perspektivenwechsel in den Bedrohungsszenarien und in den Techniken der Überwachung entwickelt (I.). Sodann werden die wichtigsten Kriterien diskutiert, mit denen das Bundesverfassungsgericht den Sicherheitsgesetzgeber in seine grundrechtlichen Schranken weist (II.), die abschließend kritisch bilanziert werden sollen (III.).

I. Zum Perspektivenwechsel in den Gefährdungslagen und in den präventiven Techniken 1. Neue Gefährdungslagen Zu den neuen Gefährdungslagen5 gehört der nationale und internationale Terrorismus. In Deutschland stellte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die RAF eine erhebliche Bedrohung für die innere Sicherheit dar und wurde durch damals neue rechtliche Instrumentarien bekämpft. Das Neue am nationalen und internationalen Terrorismus ist eine schwer überschaubare Verflechtung terroristischer Netzwerke 4 Würtenberger, Sicherheitsrecht im deutsch-französischen Vergleich, in: Fehling/Grewlich (Hrsg.), Struktur und Wandel des Verwaltungsrechts, 2011, S. 133 (143 f.). 5 Ein an Szenarien orientierter Überblick findet sich im Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland, 2008.

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sowie großflächige Wirkungen mit einer Vielzahl von Opfern.6 Im Zuge der Globalisierung des Terrorismus sind weltweit und auch in Deutschland terroristische Anschläge zu befürchten. Hinzu treten Gefährdungen der kritischen Infrastruktur, also der Versorgungs- und Kommunikationsnetze, auf die der Einzelne ebenso wie die Wirtschaft existentiell angewiesen sind. Einschränkungen oder Ausfall der kritischen Infrastruktur führen zu gravierenden individuellen und kollektiven Schäden. Die Netze zur Versorgung mit Strom, Gas und Wasser oder die Kommunikationsnetze der Datenübermittlung sowie der Telefonie können durch einen terroristischen Anschlag, durch kriminelle Eingriffe, aber auch durch aufgrund des Klimawandels häufiger werdende Naturkatastrophen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden. Der Schutz dieser kritischen Infrastruktur gehört zu den vorrangigen Aufgaben des Sicherheitsrechts.7 Mit der Europäisierung und Globalisierung hat seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bedrohung durch die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität deutlich zugenommen. Diese reicht in fast alle Lebensbereiche hinein. Genannt seien etwa Netzwerke der Schutzgelderpressung, international agierender Drogenhandel, Internetkriminalität, Waffenhandel, Zwangsprostitution, Industriespionage, Produktfälschungen oder Geldwäsche. 2. Innovation im Bereich der präventiven Techniken Neue Technik ermöglicht neue Methoden der Beobachtung, der Überwachung der Kommunikation, der Verarbeitung sicherheitsrelevanter Informationen und der Kontrolle8, die die gesamte Lebenswelt betreffen: Zu den neuen Methoden der Beobachtung gehören offene und geheime Videoüberwachung, Überwachung durch Flugroboter, satellitengestützte Beobachtung, Beobachtung abweichenden Verhaltens durch Video-Tracking, Erkennung von Personen durch biometrischen Abgleich und nicht zuletzt eine Vernetzung der Systeme privater und öffentlicher Überwachung. Zu den neuen Methoden der Überwachung der Kommunikation zählen Verfeinerungen der Überwachung des Telefonverkehrs durch Suchbegriffe etc., Erfassung der Nutzer von Prepaid-Karten, Standortbestimmung von empfangsbereit geschalteten Handys, Vorratsdatenspeicherung, Überwachung durch Richtmikrofone oder Wanzen, Überwachung der Internetkommunikation durch Trojaner sowie Überwachung 6 Vgl. Middel, Innere Sicherheit und präventive Terrorismusbekämpfung, 2007, S. 44 ff.; Schneckener, Zehn Jahre nach 9/11: Zum politischen Umgang mit dem „Terrorrisiko“, PVS 52 (2011), 355 ff. 7 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie), 2009, S. 3 ff. 8 Ein Überblick bei Saurer, Die Ausweitung sicherheitsrechtlicher Regelungsansprüche im Kontext der Terrorismusbekämpfung, NVwZ 2005, 275 ff.

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der sozialen und ökonomischen Kommunikation, etwa des Zahlungsverkehrs, von Flug- und Mietwagenbuchungen etc. Zu den neuen Methoden der Erhebung und Verarbeitung sicherheitsrelevanter Informationen gehören der Zugriff auf Kontendaten der Banken, die Rasterfahndung, der automatische Abgleich mit öffentlichen Registern (etwa der automatisierte Abgleich von Kfz-Kennzeichen), der transnationale Austausch sicherheitsrechtlich relevanter Informationen nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit, die Einrichtung zentraler Dateien (wie etwa der Antiterrordatei oder den von EUROPOL geführten Dateien) und nicht zuletzt die unionsweite Vernetzung sicherheitsrelevanter Daten aus den verschiedensten Bereichen (wie etwa die Vernetzung der DNA-Dateien nach dem Vertrag von Prüm)9. Zu den neuen Methoden der Kontrolle im Bereich der Gefahrenabwehr gehören das Verwenden von biometrischen Daten, das Scannen von Flugpassagieren, der Einsatz von Sprengstoffdetektoren, neue Biosensorsysteme zur Sicherung der Trinkwasserversorgung, Systeme zur Entdeckung von Biogiften etc.10 und nicht zuletzt die neuen Methoden zur Überwachung der Flugsicherheit. Diese neuen Gefahren abwehrenden Maßnahmen folgen in aller Regel den neuen Techniken der Kommunikation und Vernetzung. Sie werden, soweit rechtlich statthaft, auf den jeweiligen Fortschritt in der individuellen Kommunikation aufgesattelt. Leitmotiv ist, konkrete Gefährdungssituationen möglichst frühzeitig zu erkennen, um effektive Gegenmaßnahmen zu ermöglichen. 3. Eine bedrohlicher werdende Sicherheitslage? Sehr kontrovers wird diskutiert, ob die beschriebenen Gefährdungsszenarien zu einer Verschärfung der Sicherheitslage geführt haben und damit die Ausdifferenzierung des Sicherheitsrechts zu rechtfertigen vermögen. Die ökonomische Theorie der inneren Sicherheit gelangt zu der Einschätzung, dass die Kosten der Gefahrenvermeidung höher als die der Bewältigung etwaig eintretender Großschadensereignisse sein können.11 Davon abgesehen wird als Sicherheitsparadox bezeichnet, dass das Gefährdungsgefühl mit der Verbesserung der Sicherheitslage nicht abnehme, sondern vielmehr steige. Gegenüber derartigen Relativierungen der Bedeutung staatlicher Sicherheitsgewährleistung ist zu erinnern, dass die Sicherheitsbehörden im Verlauf der letzten zehn Jahre fast jährlich einen terroristischen Anschlag verhindert hatten12, zuletzt u. a. jenen der sog. Sauerland-Terroristen. Diese positive Einschätzung wird allerdings durch Defizite bei Ermittlungen in der rechtsradikalen gewaltbereiten Szene 9

Beschluss des Rates 2008/615/JI, ABl.EU 2008 Nr. L 210/1 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit; Mutschler, Der Prümer Vertrag, 2010. 10 Die Entwicklung von Techniken zum Schutz kritischer Infrastruktur wird durch das Sicherheitsforschungsprogramm der Bundesregierung entscheidend gefördert. 11 Brück/Karaisl/Schneider, A Survey on the Economics of Security, DIW Berlin, 2008. 12 Poscher, Terrorism and the Constitution, Dissent, Winter 2009, S. 13 (17).

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in Frage gestellt. Auch diese jüngst zutage getretenen Gefährdungen zeigen mit aller Deutlichkeit: Wer die sicherheitsrechtlichen Ermächtigungen ausdünnen möchte, muss sich der Frage stellen: Lässt es sich rechtfertigen, den Sicherheitsbehörden Maßnahmen zu verwehren, die das Leben und die Gesundheit einer Vielzahl von Personen schützen können? Dass eine freiheitliche Gesellschaft ebenso wie die Todesfälle im Bereich des Straßenverkehrs auch jene durch terroristische Aktionen hinnehmen müsse13, ist ein ebenso zynischer wie verfehlter Vergleich. Er verkennt, dass der Terrorismus letztlich die Befriedungs- und Ordnungsfunktion des Staates öffentlich erschüttern und dadurch dessen Legitimität untergraben will.

II. Leitlinien des Sicherheitsverfassungsrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Balance von Freiheit und Sicherheit ist das Leitmotiv der Sicherheitspolitik und der sicherheitsrechtlichen Dogmatik.14 Wie gezeigt sind mittlerweile Überwachungstechniken verfügbar, die in ihrer Vernetzung das Überwachungsszenario Orwellscher Vision überschreiten: Weit im Vorfeld möglicher Gefährdungen kann jeder Bürger Objekt von Überwachungsmaßnahmen werden, die seine gesamte Individualsphäre erfassen. Bei einer Vernetzung der personenbezogenen Datenbestände, die den Polizeibehörden zur Verfügung stehen, lassen sich (fast) umfassende Persönlichkeitsprofile erstellen. Der ungehemmte und unbegrenzte Einsatz dieser Möglichkeiten sicherheitsrechtlicher Überwachung führt nicht nur zum Verlust individueller Freiheit, sondern auch der Freiheitlichkeit der Gesellschaft insgesamt.15 Daher ist das erreichbare Maß an Sicherheit, das seinerseits Voraussetzung für ein Leben in Freiheit ist, in Abwägung mit dem grundsätzlich gegenläufigen Belang individueller und gesellschaftlicher Freiheit zu bestimmen. Die Balance von Freiheit und Sicherheit wird durch eine zunehmend engmaschige Maßstabsbildung in der sicherheitsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfas13

Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, 497 (501). 14 Aus der fast unübersehbaren Literatur zu dieser Thematik seien genannt: Brugger, Freiheit und Sicherheit, 2004; Brugger/Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL 63 (2004), 101 bzw. 151; Denninger, Freiheit durch Sicherheit? Wieviel Schutz der inneren Sicherheit verlangt und verträgt das deutsche Grundgesetz?, in: Pitschas/Stolzlechner (Hrsg.), Auf dem Weg in einen „neuen Rechtsstaat“, 2004, S. 113; Heckmann, Das Paradoxon von individueller Freiheit und öffentlicher Sicherheit, in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, 2005, S. 183; Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit?, 2005; Baldus, Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001, ZVglRWiss 2005, 364; Di Fabio, Sicherheit in Freiheit, NJW 2008, 421; Masing, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, JZ 2011, 753; Papier, Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: FS für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 263. 15 BVerfGE 115, 320 (354); 113, 29 (46); 65, 1 (43).

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sungsgerichts mehr und mehr determiniert. Seiner Ansicht nach enthält das Grundgesetz eine grundsätzliche Aussage zur Balance von Freiheit und Sicherheit: „Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte dürfen jedoch von ihm nicht grundlegend verschoben werden.“16 In dieser apodiktisch statuierten „Balance“ liegt möglicherweise der „Quellcode“17 der Sicherheitsarchitektur des Bundesverfassungsgerichts. Dem Gericht ist offenbar der verfassungsrechtliche Ausgleich von Freiheit und Sicherheit bekannt, er wird aber mit dieser Formulierung nicht offengelegt. Zudem wird eine Stabilität behauptet, die kaum Bestand haben kann: Weil das Grundgesetz eine zukunftsoffene Verfassung ist, kann sich die Gewichtung zwischen Freiheit und Sicherheit auf der Zeitachse durchaus verschieben. Bei der Entwicklung seines Sicherheitsverfassungsrechts lässt sich das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht allein von derartigen „Großformeln“ leiten. Zu Zwecken des Grundrechtsschutzes entwickelt es in rascher Entscheidungsabfolge18 eine Vielzahl formeller und materieller Kriterien sowie von Abwägungsregeln, die in einem beweglichen System des Gewichtens und Argumentierens die einfachrechtliche Fortentwicklung des Sicherheitsrechts aus verfassungsrechtlicher Perspektive aufgreift, begleitet und – wo dies dem Gericht nötig erscheint – begrenzt.19 1. Verfahrenssicherungen Mit einer Reihe von Verfahrenssicherungen wird der gebotene Grundrechtsschutz vor allem gegenüber heimlichen Informationseingriffen gewährleistet. a) Richtervorbehalt Ein Richtervorbehalt für polizeiliche Maßnahmen ist im Grundgesetz für die Durchsuchung von Wohnungen (Art. 13 Abs. 2 GG), für die Überwachung von Wohnungen mit Hilfe technischer Mittel (Art. 13 Abs. 3 und 4 GG) und die Freiheitsent16

BVerfGE 115, 320 (360). Zu dieser Metapher Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltsicherung. Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das Bundesverfassungsgericht, JZ 2009, 917 ff. 18 Aus jüngerer Zeit seien genannt: BVerfGE 109, 279 – großer Lauschangriff; 113, 348 – Telekommunikationsüberwachung; 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz; 115, 320 – Rasterfahndung; 120, 274 – Onlinedurchsuchung; 120, 378 – automatische Kfz-Kennzeichenüberwachung; 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung. 19 Ein Überblick bei Weber, Die Sicherung rechtsstaatlicher Standards im modernen Polizeirecht, 2011; Poscher (Fn. 2), S. 245 (254 ff.); Jae-Young Son, Heimliche polizeiliche Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, 2006; Möstl, Das Bundesverfassungsgericht und das Polizeirecht, DVBl. 2010, 808 ff.; Waechter, Die Menschenrechte und der Schutz der Inneren Sicherheit im 21. Jahrhundert, in: Menschenrechte – Innere Sicherheit – Rechtsstaat, 2006, S. 1 ff.; Frenz, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht versus Opferschutz und Fahndungserfolg, NVwZ 2007, 631 ff. 17

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ziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) vorgesehen. Fraglich ist, ob eine richterliche Anordnung darüber hinaus auch in weiteren Fällen verfassungsrechtlich geboten ist, z. B. für den (sonstigen) Einsatz technischer Mittel, den Einsatz verdeckter Ermittler, die polizeiliche Beobachtung oder die sog. Rasterfahndung. Was Art. 13 Abs. 2 bis 4 GG und Art. 104 Abs. 2 GG in speziellen Konstellationen vorschreiben, ist nicht verallgemeinerungsfähig.20 Die erforderlichen organisatorischen und verfahrensrechtlichen Vorkehrungen, die der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts begegnen sollen21, umfassen nicht zwingend einen Richtervorbehalt. Zwar ist es Sache des Gesetzgebers, den Grundrechtsschutz auch durch eine entsprechende Gestaltung des Verfahrens zu bewirken. Dafür stehen ihm aber neben dem Richtervorbehalt auch weitere Instrumente wie etwa Kontrollen durch unabhängige Stellen, Unterrichtungspflichten und Ähnliches zur Verfügung. Dieser am Wortlaut des Grundgesetzes und an der Prärogative des Gesetzgebers zur Gestaltung des Sicherheitsrechts orientierten Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht eine Absage erteilt: Bei heimlichen Ermittlungen der Polizei, die eine besonders hohe Eingriffsintensität aufweisen oder in besonders geschützte Zonen der Privatsphäre eingreifen, soll es grundsätzlich eines Richtervorbehalts bedürfen.22 Dieser Richtervorbehalt soll der „Mäßigung exekutiver Eigenmacht“23 dienen und zudem den Verlust an Rechtsschutzmöglichkeiten durch eine begleitende Verfahrenskontrolle ausgleichen.24 Damit können Richtervorbehalte im Bereich des Art. 10 GG, zum Schutz der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, zum Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sowie zur Effektuierung des Rechtsschutzes25 verfassungsrechtlich geboten sein. Wie für die verfassungsrechtlich geregelten gilt auch für die verfassungsrichterlich entwickelten Richtervorbehalte: Der Richter ist verpflichtet, die geplanten Überwachungsmaßnahmen eingehend zu prüfen und die erforderlichen Abwägungen schriftlich festzuhalten.26 b) Trennung zwischen Erhebungs- und Auswertungsebene Der verfahrensmäßigen Sicherung der Menschenwürdegarantie dient das zweistufige Schutzkonzept einer Trennung zwischen Erhebungs- und Verwertungsebene. 20 Heckmann, Der Sofortvollzug staatlicher Geldforderungen, 1992, S. 175 ff.; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., 2005, Rn. 577 f. 21 BVerfGE 65, 1 (44). 22 BVerfGE 120, 274 (332). 23 Voßkuhle, Der präventive Richtervorbehalt, in: FS für Rainer Wahl, 2011, S. 443 (444 f.). 24 Gusy, Grundgesetzliche Anforderungen an Durchsuchungsbeschlüsse i.S.d. Art. 13 II GG, NStZ 2010, 353 (354). 25 BVerfGE 109, 279 (368): Richtervorbehalt zur Kontrolle der Benachrichtigungspflicht. 26 BVerfGE 120, 274 (332); 109, 278 (358 ff.); Voßkuhle (Fn. 23), S. 443 (446 ff.); Gusy (Fn. 24), 353 (355).

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Auf der Erhebungsebene kann es unvermeidlich sein, Daten zu erheben, die dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung zuzuordnen und damit von Art. 1 Abs. 1 GG gegen staatliche Zugriffe geschützt sind. Um ihnen den gebotenen Schutz zukommen zu lassen, ist auf der Ebene der Auswertung ein Filter vorzuschalten.27 Eine unabhängige Stelle, in der Regel ein Gericht, filtert jene Daten und Informationen heraus, die unter den Kernbereichsschutz fallen. Die Sicherheitsbehörden erhalten damit Datenbestände, die nicht mit dem Kernbereichsschutz kollidieren.28 So etwa müssen nach § 20k Abs. 7 BKAG die heimlich erhobenen Daten unter Sachleitung des anordnenden Gerichts unverzüglich vom Datenschutzbeauftragten des BKA und zwei weiteren Bediensteten dieser Behörde auf kernbereichsrelevante Inhalte durchgesehen werden. Diese gewaltennivellierende Verschränkung von dritter Gewalt, unabhängigen Stellen und Exekutive lässt sich nur schwer mit der verfassungsrechtlichen Stellung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit vereinbaren. Zudem erhalten Bedienstete des BKA von kernbereichsrelevanten Daten Kenntnis, was einer freiheitsschützenden strikten Trennung von Erhebungs- und Auswertungsebene entgegensteht.29 c) Kontrolle durch die Parlamente Eine parlamentarische Kontrolle der Arbeit der Sicherheitsbehörden ist nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 und 13 Abs. 6 GG geboten. Sie wird zudem durch gesetzliche Berichtspflichten über Anlass und Häufigkeit geheimer Überwachungsmaßnahmen ermöglicht.30 Außerdem kann eine begleitende Kontrolle durch die parlamentarischen Kontrollkommissionen stattfinden. Durch diese Formen parlamentarischer Kontrolle wird ein Nachsteuern durch Gesetzgebung, aber auch durch Parlamentsbeschlüsse, die auf die Arbeit der Polizei- und Sicherheitsbehörden Einfluss nehmen, ermöglicht. Eine Befristung und Evaluation neuer Überwachungsregelungen durch unabhängige Gremien sind zur legislativen Erfolgskontrolle und grundrechtsschützenden Nachbesserung vorzusehen.31 27

Vgl. BVerfGE 120, 274 (337 ff.). Zur Feststellung der kernbereichsrelevanten Daten durch das Gericht gemäß § 100c Abs. 7 StPO vgl. BVerfG, NJW 2007, 2753 (2757); zum präventiven Bereich vgl. Perne, Richterband und Kernbereichsschutz, DVBl. 2006, 1486 (1488 ff.). 29 Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (276). 30 Vgl. § 23a Abs. 10 BW PolG (Unterrichtung über die Erhebung von Verkehrsdaten); § 100c Abs. 1, 2 StPO (Berichtspflicht betreffs akustischer Wohnraumüberwachung); § 23c Abs. 8 ZFG (Berichtspflicht bei präventiver Brief-, Post- und Telekommunikationsüberwachung); Weber (Fn. 19), S. 97 ff. 31 BVerfGE 110, 33 (76) zur Befristung; zur Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers: BVerfGE 112, 304 (316 f., 319 ff.); Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, Rn. 108 f.; vgl. weiter Albers, Evaluation sicherheitsbehördlicher Kompetenzen: Schritte von der symbolischen Politik zum lernenden Recht, VerwArch 99 (2008), 481 ff.; Gusy, Leerlaufende Evaluationspflichten?, in: FG für Burkhard Hirsch, 2006, S. 139 ff.; Albers/Weinzierl (Hrsg.), Menschenrechtliche Standards in der Sicherheitspolitik. Beiträge zur rechtsstaatsorientierten Evaluierung von Sicherheitsgesetzen, 2010. 28

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d) Die Offenlegung geheimer Maßnahmen als Voraussetzung effektiven Rechtsschutzes Die spätere Offenlegung geheimer polizeilicher Maßnahmen ist aus Gründen eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und zur Effektuierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) bzw. von Art. 10 und 13 GG prinzipiell erforderlich.32 Dies bedeutet nicht, dass die Polizei alle Einzelheiten ihres Polizeieinsatzes offenlegen müsste, so dass auch strategische und taktische Aspekte des Polizeihandelns bekannt würden.33 Erforderlich ist aber, dass jeder Adressat einer geheimen Überwachungsmaßnahme über deren Existenz, ihren Zweck und ihr wesentliches Ergebnis informiert wird. Wichtig ist, dass der Betroffene nachvollziehen kann, ob seine persönlichen Belange, insbesondere seine Grundrechte, bei dem Polizeieinsatz gewahrt wurden. Dem entspricht die im Sicherheitsrecht geregelte Unterrichtungspflicht.34 Diese entsteht, sobald durch die Unterrichtung der Zweck der polizeilichen Maßnahme nicht mehr gefährdet ist. Bestehen Ausnahmen von dieser Unterrichtungspflicht, so ist eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung der polizeilichen Datenerhebung praktisch unmöglich. Die darin liegende Einschränkung der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) muss sich an den Anforderungen messen lassen, die das Bundesverfassungsgericht35 entwickelt hat: Danach darf die Benachrichtigung des Betroffenen eines staatlichen Eingriffes unterbleiben, solange dies durch die besondere Geheimhaltungsbedürftigkeit der Maßnahme veranlasst ist und dem Schutz von Leib und Leben einer Person dient. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass eine nachträgliche Benachrichtigung dann erfolgen muss, wenn eine Gefährdung des Zwecks der Maßnahme als auch der zu schützenden Rechtsgüter ausgeschlossen werden kann. Dies ist nach einem bestimmten Zeitablauf regelmäßig der Fall. Eine Benachrichtigungspflicht ist jedoch ausgeschlossen, wenn hierdurch der Grundrechtseingriff der Zielperson vertieft oder wenn Leib und Leben verdeckter Ermittler gefährdet würden, nicht aber, wenn der verdeckte Ermittler nicht enttarnt werden soll, um in weiteren Ermittlungsverfahren eingesetzt werden zu können.36 e) Technischer Grundrechtsschutz Technischer Grundrechtsschutz bedeutet, dass zwar sicherheitsrelevante Daten automatisch erhoben und abgeglichen werden, diese aber, wenn sie dem Ermittlungszweck nicht dienlich sind, sofort wieder gelöscht werden. In diesen Fällen liegt nach 32

BVerfGE 100, 313 (361, 397); 109, 279 (363 ff.); Kutscha, Rechtsschutzdefizite bei Grundrechtseingriffen von Sicherheitsbehörden, NVwZ 2003, 1296 ff. 33 Ebenso BayVerfGH, JZ 1995, 299 (304). 34 Vgl. §§ 12 G 10; 22 Abs. 8, 23 Abs. 4, 25 Abs. 4 BW PolG. 35 BVerfGE 30, 1 (18 ff.); 109, 279 (366); vgl. auch BVerwG, NJW 2009, 2135 (2139). 36 BVerfGE 109, 279 (365, 367); zum Richtervorbehalt für die Entscheidung der Zurückstellung der Benachrichtigung, ebd. S. 368.

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Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor.37 Inkonsequent erscheint es allerdings, wenn das Bundesverfassungsgericht auch diese Fälle, in denen kein Grundrechtseingriff vorliegt, in den Trefferfällen eingriffsverstärkend berücksichtigt, weil diese ganz allgemein die Freiheitlichkeit der Gesellschaft bedrohten.38 Denn wie kann eine polizeiliche Maßnahme, die keinen Grundrechtseingriff darstellt, die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft gefährden? Und warum sollte eine polizeiliche Maßnahme, wenn sie zu einem „Treffer“ führt, bei dem Betroffenen von besonderem Gewicht sein, obwohl sie bei einer großen Zahl anderer Personen nicht zu einem Grundrechtseingriff führte? Eine Logik ist in dieser Gedankenführung nicht erkennbar. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ist auch dogmatisch nicht nachvollziehbar, weil die Person, die „getroffen“ wurde, regelmäßig im Verdacht steht, eine Straftat zu begehen, was für eine Rechtfertigung der Verwertung etwa von „Treffern“ einer automatisierten Kennzeichenerfassung streitet. 2. Bestimmtheit des Gesetzes Wegen der Intensität heimlicher Grundrechtseingriffe stellt das Bundesverfassungsgericht weitreichende Anforderungen an die Bestimmtheit der gesetzlichen Eingriffsgrundlage: Je weiter die polizeilichen Überwachungsmaßnahmen in das Vorfeld konkreter Gefahren ausgreifen, desto höheren Anforderungen an die Bestimmtheit müssen die gesetzlichen Ermächtigungen genügen. Die den Anlass bildenden Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit bzw. Straftaten39 müssen bereichsspezifisch und normenklar umschrieben, die Anforderungen an die Verdachtsgrundlage und damit an die Tatsachenbasis müssen ebenso wie die Eingriffsintensität klar geregelt sein. Insgesamt ist damit die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme vom Gesetzgeber zu regeln und darf nicht der Abwägung der Sicherheitsbehörden überlassen bleiben.40 Die sonst statthafte und gebotene verfassungskonforme Auslegung verbietet sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bei sicherheitsrelevanten Gesetzen, „wenn es an einem die wesentlichen Fragen umfassenden Regelungskern fehlt, der auf einen erklärten objektivierten Willen des Gesetzgebers zurückgeführt werden kann“41. 37

BVerfGE 100, 313 (366); 107, 299 (328); 115, 320 (343); 120, 378 (399). BVerfGE 115, 320 (357); 107, 299 (328). 39 Allerdings ist vom Gesetzgeber auf das Gewicht der geschützten Rechtsgüter, nicht aber auf Kataloge von Straftaten abzustellen (BVerfGE 122, 120 (142)); kritisch Möstl (Fn. 19), 808 (812). 40 BVerfGE 110, 33 (52 ff.); 113, 348 (375 ff.); 115, 320 (365); 120, 378 (407 f.); Weber (Fn. 19), S. 109 ff.; Puschke/Singelnstein, Verfassungsrechtliche Vorgaben für heimliche Informationsbeschaffungsmaßnahmen, NJW 2005, 3534 (3535 ff.); Shirvani, Die Kontakt- und Begleitpersonen und die „Besonderen Mittel der Datenerhebung“ im Polizeirecht, VerwArch 101 (2010), 86 (97 ff.). 41 BVerfGE 120, 378 (423); kritisch Möstl (Fn. 19), 808 (813 ff.). 38

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Diese Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit haben dazu geführt, dass die Regelungen sicherheitsrechtlicher Überwachungsmaßnahmen äußerst detailliert und kasuistisch geworden sind. Die Gestaltungsfreiheit des Polizeirechtsgesetzgebers ist erheblich eingeschränkt, bisweilen werden verfassungsgerichtliche Formulierungen fast wörtlich übernommen. Gleichwohl wird durch diesen neuen Stil der Gesetzgebung die demokratische Legitimation von Eingriffsmaßnahmen erhöht, da den Sicherheitsbehörden die Verhältnismäßigkeitsprüfung weitgehend abgenommen wird. Gegenläufig hierzu bedeutet es einen Verlust an demokratisch legitimierter politischer Gestaltung, wenn der Gesetzgeber sich gezwungen sieht, Passagen aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu übernehmen. Die neuen Anforderungen an den sicherheitsrechtlichen Gesetzesvorbehalt stehen für einen Verlust des Vertrauens in die verhältnismäßige Ausübung der Kompetenzen durch die Sicherheitsbehörden. Ob dieser Vertrauensverlust gerechtfertigt ist, muss jedoch bezweifelt werden. Immerhin gibt es nur wenige Fälle, in denen Überwachungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip von den Verwaltungsgerichten als rechts- bzw. verfassungswidrig erklärt worden sind. Ein generelles Misstrauen dahingehend, dass Sicherheitsbehörden die ihnen auferlegten rechtlichen Bindungen nicht ausreichend beachten, wie es in der veröffentlichten Meinung oftmals anklingt, ist fehl am Platz. 3. Erweiterung grundrechtlichen Schutzes Auf die neuen Methoden und rechtlichen Regelungen polizeilicher Datenerhebung und -verarbeitung hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit einer Fortentwicklung des grundrechtlichen Schutzes reagiert. Dies betrifft nicht allein das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zudem wird die an bestimmte Schutzbereiche anknüpfende Rechtfertigungsdogmatik u. a. mit der Bemerkung aufgegeben, dass die am Recht auf informationelle Selbstbestimmung und an Art. 10 GG orientierte Eingriffsrechtfertigung identischen Maßstäben folge.42 a) Das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme Das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme bewahrt „den persönlichen und privaten Lebensbereich des Grundrechtsträgers vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten“43. Es soll vor Persönlichkeitsgefährdungen bei der Nutzung komplexer informationstech42

BVerfGE 100, 313 (358); 115, 320 (347); 124, 43 (60). BVerfGE 120, 274 (313) mit krit. Bespr. von Volkmann, DVBl. 2008, 590 ff.; Gusy, Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, DuD 2009, 33 ff. 43

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nischer Systeme schützen, die durch Art. 10 Abs. 1, 13 Abs. 1 GG sowie durch die bislang anerkannten Ausprägungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts keinen grundrechtlichen Begrenzungen unterliegen. Die heimliche Infiltration komplexer informationstechnischer Systeme soll durch dieses neue Grundrecht bereits im Vorfeld begrenzt werden. Zugleich dient der so erlangte Integritätsschutz auch der Erhaltung der subjektiven Voraussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung. Ob dieses neue Computergrundrecht über den durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährten Schutz hinausgeht, ist mit Recht bezweifelt worden.44 Ohne dass es der Schöpfung einer neuen Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts bedurft hätte, wäre hinreichender Schutz dadurch zu erreichen gewesen, dass man den Eingriff in informationstechnische Systeme im Rahmen der informationellen Selbstbestimmung einer typisierenden Verhältnismäßigkeitsprüfung unterstellt hätte. b) Ausdehnung des Menschenwürdeschutzes Der Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unterliegt nach überwiegender Ansicht keinen verfassungsimmanenten Schranken. Wegen Art. 79 Abs. 3 GG entziehen sich alle polizeirechtlichen Regelungen, die Art. 1 Abs. 1 GG verletzen, jeglicher demokratischer Rechtfertigungsmöglichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Entscheidungen mit dem Menschenwürdeargument sicherheitsrechtliche Regelungen als verfassungswidrig beurteilt. Dies betrifft zum einen den unantastbaren Menschenwürdekern des Wohnungsschutzes45 und allerdings abgeschwächt des Telekommunikationsgeheimnisses.46 Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht einen „finalen Rettungsabschuss“ nach § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz a.F. als Verletzung der Menschenwürdegarantie stigmatisiert, da Passagiere „als Mittel zur Rettung“ anderer Personen „benutzt“ und damit „verdinglicht und zugleich entrechtet“ würden.47 Diese Ausdehnung sowie die Unabwägbarkeit des Menschenwürdeschutzes sind auf rückhaltlose Zustimmung, aber auch auf deutliche Kritik gestoßen48 : Die auf den Einzelfall bezogene Konkretisierung der Menschenwürdegarantie führe zu deren In44 Gurlit, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Datenschutzes, NJW 2010, 1035 (1036); Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, DÖV 2008, 411 (413 f.). 45 BVerfGE 109, 279. – Nach BVerfGE 120, 274 (338) muss dann, wenn die Kernbereichsrelevanz der überwachten Vorgänge nicht abgeschätzt werden kann, die Überwachung wegen des Risikos einer Kernbereichsverletzung auf der Erhebungsebene nicht von vornherein unterlassen werden, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte für eine Gefahr für ein überragend wichtiges Schutzgut gibt. Abzuwarten bleibt, ob künftig verfahrensmäßige Konzepte des Kernbereichsschutzes eine größere Rolle spielen werden. 46 BVerfGE 113, 348. 47 BVerfGE 115, 118 (154). 48 Zippelius/Würtenberger (Fn. 31), § 21, Rn. 58 f. m.N.; Frenz (Fn. 19), 631 ff.; Linke, Ein Karlsruher Befreiungsschlag für den Rechtsstaat?, NWVBl. 2006, 174 (178 ff.); Elsner/ Schobert, Gedanken zur Abwägungsresistenz der Menschenwürde, DVBl. 2007, 278 (282).

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flationierung und damit letztlich zu deren Entwertung. Weiterhin werde verkannt, dass bereits vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG her dem Gebot der Achtung gleichrangig das Gebot des Schutzes der Menschenwürde zur Seite stehe. Wegen dieses Schutzgebotes könne es nicht richtig sein, z. B. in einem Entführungsfall die Wohnung des der Entführung Verdächtigen nicht rundum überwachen zu dürfen, wenn er sich dort mit seiner Freundin aufhält.49 Fragwürdig sei zudem die demokratische Legitimation einer verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die die Ausgestaltung der wehrhaften Demokratie und die Erfüllung der Schutzaufgabe des Staates mit einem ausufernden Menschenwürdeargument dem demokratischen Diskurs entziehe. c) Verbot totaler Erfassung und Registrierung „Zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik“ zählt das Verbot einer „möglichst flächendeckende(n) vorsorgliche(n) Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten“50. Die Freiheitsausübung des Einzelnen, auch wenn er in erheblichem Maße die innere Sicherheit zu stören beabsichtigt, darf nicht total erfasst und registriert werden. Verboten sind die Rundumüberwachung jeglicher Lebensäußerung ebenso wie die Erstellung von umfassenden Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen.51 Damit muss in einer doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst die konkrete Überwachungsmaßnahme und sodann die Kumulation von Überwachungsmaßnahmen für die Gewichtung von Grundrechtseingriffen geprüft werden. Im Grundsatz muss vermieden werden, dass vom Staat die gesamte Privatsphäre einzelner Bürger in umfassender Weise ausgeforscht wird. Gleichwohl bleibt zu bedenken: Es kann Fälle geben, in denen ein Mitglied einer terroristischen oder radikalen und gewaltbereiten Gruppierung identifiziert worden ist und es nunmehr gilt, durch dessen „Rundumüberwachung“ die Mittäter zu erfassen, um sodann in effektiver Weise gegen derartige „Netzwerke“ vorzugehen. Hier kann es nicht überzeugen, eine „Rundumüberwachung“ für verfassungswidrig zu erklären, sofern die Störung der öffentlichen Sicherheit zum Lebensinhalt derartiger Täter gehört. Derartige Täterprofile sind in der terroristischen und rechtsradikalen Szene bekannt. In Anlehnung an die Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung lässt sich diskutieren, ob eine „Rundumüberwachung“ statthaft ist, wenn sie nach eindeutiger Identifizierung eines Täters der Aufdeckung erheblich krimineller terroristischer oder gewaltbereiter Gruppierungen dient.52 Davon abgesehen ist es alles andere als klar, was Rundumüberwachung jeglicher Lebensäußerung oder die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen und Bewegungsbil49 So für den Entführungsfall Jakob von Metzlers: Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 (224). 50 BVerfGE 125, 260 (323). 51 BVerfGE 65, 1 (42 f.); 109, 279 (323); 112, 304 (319); 125, 260 (323 f.). 52 In diese Richtung: Baldus (Fn. 49), 218 (225 ff.).

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dern eigentlich bedeutet. Soll dadurch etwa das Einschleusen verdeckter Ermittler verboten sein, wenn sie zur Rundumüberwachung oder Erstellung von Persönlichkeitsprofilen in der Lage sind? Oder ist nur die Addition entsprechender Überwachungsmaßnahmen verboten, was wenig konsequent wäre? Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen und von Bewegungsbildern gehört immerhin zum Alltag sicherheitsbehördlicher Praxis. Wann hier die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten wird, bedarf klarer verfassungsrechtlicher Abschichtung. 4. Maßstäbe im Bereich der Abwägung Gemäß der Je-desto-Formel gilt für die Abwägung im Bereich sicherheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeitskontrolle: Je tiefer die Grundrechtseingriffe einzelner Maßnahmen sind, desto gewichtiger muss das Schutzinteresse sein. Das Gewicht bzw. die Tiefe des Grundrechtseingriffs wird „insbesondere von der Art der erfassten Informationen, vom Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der möglichen Verwendung der Daten beeinflusst“.53 Diese allgemeine Formel ist weiter ausdifferenziert worden, um die Eingriffsschwere und -schwellen zu bestimmen. Die Skala der Eingriffstiefe reicht von geringfügige über höhere bzw. hohe und erhebliche Eingriffsintensität bis zu schwerwiegenden Eingriffen. a) Art der erfassten Informationen und Verfahren der Informationserhebung Zu den persönlichen Daten von „gesteigerter Sensibilität“ gehören Informationen über persönliche Verhältnisse oder die Lebensführung. Selbst den Verbindungsdaten im Bereich der Kommunikation soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine weitreichende Aussagekraft zukommen.54 Des Weiteren spielen die verfassungsrechtlichen Wertungen des Art. 3 Abs. 3 GG und der Schutz besonderer Vertrauensverhältnisse bzw. von Amts- und Berufsgeheimnissen für die Gewichtung der Intensität von Grundrechtseingriffen eine wichtige Rolle. Anlasslose Informationserhebungen sind grundsätzlich von höherer Eingriffsintensität als solche, die der Betroffene, etwa durch eine Rechtsverletzung, veranlasst hat.55 Bei heimlichen sicherheitsrechtlichen Maßnahmen ist immer von einer erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigung auszugehen.56 Ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff ist die Infiltration eines informationstechnischen Systems durch einen Trojaner.57 53 54 55 56 57

BVerfGE 120, 378 (408 f.). BVerfGE 125, 260 (319). BVerfGE 100, 313 (392); 113, 348 (383); 115, 320 (354); 120, 378 (402). BVerfGE 125, 260 (337); 124, 43 (62); 120, 387 (406); 115, 166 (194); 115, 320 (353). BVerfGE 120, 274 (323, 326).

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b) Einschüchterungseffekte Bei der Gewichtung von Grundrechtseinschränkungen sind Einschüchterungseffekte durch heimliche oder offene polizeiliche Maßnahmen zu berücksichtigen.58 Die grundrechtliche Freiheit schützt auch vor der Furcht vor Überwachungsmaßnahmen und damit verbundenen Verlusten an selbst bestimmter Freiheit. Die in der Rechtsprechung und Literatur beschworenen Einschüchterungseffekte sind bislang allerdings nicht empirisch belegt. Bei der Beurteilung von Einschüchterungseffekten müsste man zudem, wie auch sonst im Polizeirecht üblich59, zwischen einer großen Mehrheit der Bürger einerseits, für die die Überwachungsmaßnahmen allenfalls Belästigungen sind, und einer kleinen Minderheit unterscheiden, die sich durch polizeiliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen in ihrer Grundrechtsausübung einschüchtern lässt. Ob diese den Maßstab für den Grundrechtsschutz setzen sollen, ist sehr zweifelhaft. Davon abgesehen erscheint die These der von Überwachungsmaßnahmen ausgehenden Einschüchterungseffekte vom psychologischen Standpunkt angreifbar. In der psychologischen Forschung werden sog. Gewöhnungseffekte ausgemacht, wobei nach einer ersten Phase gewisser Einschüchterung durch Überwachungsmaßnahmen eine Gewöhnung eintritt, so dass Beeinträchtigungen freier Entfaltung empirisch nicht mehr nachweisbar sind.60 c) Kumulative Grundrechtseingriffe Verdachtslose Grundrechtseingriffe mit großer Streubreite, bei denen eine Vielzahl von Nichtstörern von dem Wirkungsbereich einer Maßnahme betroffen wird, besitzen in der Regel eine hohe Eingriffsintensität.61 Bei diesen sog. kumulativen Grundrechtseingriffen betrifft eine Maßnahme, etwa der Rasterfahndung, des polizeilichen Kraftfahrzeugkennzeichenabgleichs oder der Kontrolle im Rahmen der Schleierfahndung, eine Vielzahl von Grundrechtsträgern, die nicht Störer der öffentlichen Sicherheit sind. Hier stellt sich die Frage, ob durch die Kumulation solcher Eingriffe geringer Intensität beim Individuum eine für die Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutsame Eingriffstiefe entsteht. Dies ist entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts62 abzulehnen. Die Eingriffsdogmatik ist am individuellen Freiheitsschutz ausgerichtet. Sie bestimmt, unter welchen Voraussetzungen staatliches Handeln Grundrechte des Einzelnen zu beeinträchtigen vermag. Bei einer am Individualschutz orientierten Grundrechtsdogmatik kann es, was bei ausländischen 58

BVerfGE 65, 1 (42); 113, 29 (46); 115, 320 (354); 120, 274 (323). Würtenberger/Heckmann (Fn. 20), Rn. 413. 60 Zweifelnd Gusy, Die „Schwere des Informationseingriffs“, in: FS für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 395 (402, 411). 61 BVerfGE 100, 313 (376, 392); 107, 299 (320 f.); 113, 348 (383); 115, 320 (354). 62 BVerfGE 115, 320 (347); kritisch Bull, Zweifelsfragen um die informationelle Selbstbestimmung, NJW 2006, 1617 (1620). 59

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Gerichten außer Streit steht, keine Rolle spielen, dass durch dieselbe Maßnahme eine Vielzahl weiterer Grundrechtsträger einen Grundrechtseingriff erfahren mussten. Kumulative Grundrechtseingriffe sind damit für Rechtfertigungsfragen ohne Relevanz.63 Gleichwohl können kumulative Grundrechtseingriffe die Freiheitlichkeit der Gesellschaft insgesamt in Mitleidenschaft ziehen. Dies ist aber keine Frage des dem Bundesverfassungsgericht übertragenen individualrechtlichen Grundrechtsschutzes, sondern der demokratisch legitimierten politischen Gestaltung.64 d) Additive Grundrechtseingriffe Bei additiven Grundrechtseingriffen wird ein Betroffener durch eine Vielzahl von heimlichen sicherheitsrechtlichen Maßnahmen überwacht, so dass u. U. Bewegungsund Kommunikationsprofile erstellt und sein persönliches ebenso wie wirtschaftliches Verhalten erfasst werden. Solche additiven Grundrechtseingriffe können durch verschiedene Sicherheitsbehörden erfolgen, wobei die Vernetzung der erhobenen Daten die Grundrechtseingriffe vertieft. Dies aber gefährdet „die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland“, nach der „die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf“65. Daher bedarf es zur Sicherung der grundrechtlichen Freiheit vor einer totalen Erfassung und Registrierung organisatorischer und rechtlicher Vorkehrungen, die derartige additive Grundrechtseingriffe unterbinden bzw. auf das erforderliche Maß begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht66 fordert insoweit eine verfahrensrechtliche Verhinderung unkoordinierter sowie den Bürger umfassend registrierender Überwachungsmaßnahmen verschiedener Behörden sowohl im Rahmen des geltenden Rechts als auch, soweit verfassungsrechtlich geboten, durch den Gesetzgeber.67 Dieser muss bei der Regelung neuer Speicherungsberechtigungen und Datensammlungen die Gesamtheit bereits vorhandener Datensammlungen berücksichtigen, was ihm eine gewisse Zurückhaltung auferlegen soll.68 63

Bull, Informationelle Selbstbestimmungsvision oder Illusion?, 2009, S. 18, 62 f., 77 f.; Bausback, Fesseln für die wehrhafte Demokratie?, NJW 2006, 1922 (1923 f.); Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 2007, 200 (202): Es „wiegt der individuelle Grundrechtseingriff nicht deshalb schwerer, weil eine große Anzahl von Personen betroffen ist“. 64 Anders Gusy (Fn. 60), S. 395 (411), der demgegenüber auf die Funktion der Grundrechte als Elemente gesellschaftlicher Ordnung abstellt. 65 BVerfGE 125, 260 (324). 66 BVerfGE 112, 304 (319 f.); 125, 260 (324 zur Freiheitsgefährdung durch Datensammlungen). 67 Roßnagel, Die „Überwachungs-Gesamtrechnung“ – Das Bundesverfassungsgericht und die Vorratsdatenspeicherung, NJW 2010, 1238 (1240 f.); Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, 732 ff.; Hornung, Die kumulative Wirkung von Überwachungsmaßnahmen, in: Albers/Weinzierl (Fn. 31), S. 65 ff. 68 Zu den Schwierigkeiten der praktischen Realisierung dieser Forderung: Hornung/ Schnabel, Verfassungsrechtlich nicht schlechthin verboten – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Vorratsdatenspeicherung, DVBl. 2010, 824 (827).

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Die Frage, wie in einem föderalen Sicherheitsrecht additive Grundrechtseingriffe vermieden werden können, ist organisationsrechtlich kaum lösbar. Das Bundeskriminalamt, das Zollkriminalamt und die Bundespolizei, der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst sowie die Polizei- und Sicherheitsbehörden der Bundesländer arbeiten ohne effektive Koordination nebeneinander. Mehrfachüberwachungen und additive Grundrechtseingriffe lassen sich bei dieser föderalen Organisationsform schwerlich vermeiden. Der Preis für eine organisatorische Vermeidungsstrategie wäre eine weitere Stärkung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes und damit eine neuerliche Zentralisierung der Sicherheitsarchitektur. e) Eingriffsschwere mit Blick auf die nachfolgende Informationsverwendung Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird die Eingriffsschwere auch durch die nachfolgende Verarbeitung der erhobenen Informationen bestimmt. Kann diese zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen, wie etwa durch die Einleitung von Strafverfahren, führen, soll bereits die Informationserhebung selbst einen schwerwiegenden Informationseingriff darstellen.69 Dies kann nicht überzeugen. Entscheidend ist nämlich, auf die Folgemaßnahme, etwa auf die Einleitung eines Strafverfahrens, abzustellen. Wenn hierfür die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, ist diese Maßnahme statthaft und nach dem Legalitätsprinzip geboten. Die vorausliegende Informationserhebung darum aber als schwerwiegenden Grundrechtseingriff zu bezeichnen und möglicherweise zu verbieten, ist nicht nachvollziehbar. f) Eingriffsschwellen mit Blick auf den Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis für die Prognose einer Rechtsgutgefährdung Die Bestimmung der Schwelle, ab der ein sicherheitsbehördliches Tätigwerden verfassungsrechtlich zulässig ist, wird durch das Gewicht des gefährdeten Rechtsgutes, durch die Intensität des Grundrechtseingriffs und durch die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie der Schadensvermeidung bestimmt. Diesen Eingriffsschwellen kommt insbesondere bei heimlichen Maßnahmen eine besondere Bedeutung zu. Insoweit soll ein besonders schwerwiegender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorliegen, wenn der Einzelne befürchten müsste, zum Objekt polizeilicher Ausforschung zu werden, ohne entsprechende Verdachtsmomente geliefert zu haben.70 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als SchrankenSchranke gestattet nur jene Beschränkungen und Eingriffe, die in angemessener Weise den Sicherheitsinteressen des Staates und der Bürger dienen. So ist es unver69

BVerfGE 118, 168 (197); 120, 378 (403); ablehnend Bausback (Fn. 63), 1922 (1923 f.). Vgl. BVerfGE 93, 181 (191); SächsVerfGH, SächsVBl. 1996, 160 (178, 187); Schenke, Verfassungsrechtliche Probleme polizeilichen Gewahrsams und polizeilicher Informationseingriffe, DVBl. 1996, 1393 (1396 f.). 70

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hältnismäßig, ohne hinreichende Anhaltspunkte für das mögliche Vorliegen einer Störung durch heimliche Maßnahmen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder in den Schutzbereich von Art. 10 sowie Art. 13 GG einzugreifen. Für die erforderliche Abwägung sind folgende Leitsätze entwickelt worden: Je weniger gewichtig der Grundrechtseingriff ist, desto weniger wahrscheinlich braucht die Tatsachenbasis zu sein, die der Prognose der Rechtsgutsgefährdung zugrunde liegt. Intensive Grundrechtseingriffe sind erst ab bestimmten Gefahren- oder Verdachtsstufen statthaft, die durch den Gesetzgeber zu bezeichnen sind.71 Eingriffsermächtigungen müssen an tatsächliche Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr anknüpfen, bloße Vermutungen reichen nicht aus. Die Prognose muss sich auf die Entstehung einer konkreten Gefahr beziehen und die Maßnahme kann gerechtfertigt sein, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr hinweisen.72 Bei diesen Anforderungen geht es letztlich um die Klärung der Frage, wie konkret ein Gefahrenverdacht beschaffen sein muss, um gezielt gegen einzelne Personen mit Überwachungsmaßnahmen vorgehen zu können.73 Im Vorfeld konkreter Gefahren sind heimliche Überwachungsmaßnahmen, mit denen schwere Grundrechtseingriffe verbunden sind, nicht verfassungskonform.74 Dementsprechend müssen bei heimlichen Maßnahmen „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, es werde zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit kommen.75 Für den verdeckten Einsatz technischer Mittel, für eine längerfristige Observation oder für den Einsatz verdeckter Ermittler ist Voraussetzung, dass entweder eine konkrete Gefahr abzuwehren ist oder „tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“, dass Straftaten künftig begangen werden. Datenerhebungen in oder aus Wohnungen sind nur gegen Störer und unter den engen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes auch gegen Nichtstörer statthaft. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erfordern Fakten, die den Eintritt einer Störung als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die polizeiliche Einschätzung kann sich aus bisher begangenen Straftaten, aus Vorbereitungshandlungen, aus mündlichen Äußerungen, aus schriftlichen Unterlagen etc. ergeben. Dabei ist im Hinblick auf die Grundrechtsbeeinträchtigung weiter zu differenzieren: Die Anforderungen an die Tatsachenbasis und den Wahrscheinlichkeitsgrad „müssen auch in angemessenem Verhältnis zur Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung und zur Aussicht auf den Erfolg des Rechtsgüterschutzes stehen.“76 71 BVerfGE 100, 313 (383 f.); 109, 279 (350 ff.); 115, 320 (360 f.); Poscher, Eingriffsschwellen im Recht der inneren Sicherheit, Die Verwaltung 41 (2008), 345 (356 ff.). 72 Roggan, Präventive Online-Durchsuchungen, in: ders. (Hrsg.), Online-Durchsuchungen, 2008, S. 97 (103 f.); BVerfGE 120, 274 (328 ff.). 73 Möstl (Fn. 19), 808 (810 f.); Poscher (Fn. 71), 345 (359 f.). 74 BVerfGE 120, 274 (329). 75 Vgl. §§ 21 Abs. 1 und 2, 25 Abs. 1 Nr. 2 BW PolG; § 15 Abs. 2 Nr. 2 – 4 Hess SOG; § 17 Abs. 2 LSA SOG. 76 BVerfGE 115, 320 (361).

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Derartige Verdachtsschwellen bzw. der erforderliche Gefahrenverdacht sind gesetzlich zu regeln. Davon abgesehen gilt grundsätzlich: Grundrechtseingreifende Ermittlungen „ins Blaue hinein“ sind verfassungsrechtlich nicht zulässig.77

III. Zusammenfassende Bewertung Das Sicherheitsverfassungsrecht konstitutionalisiert in weiten Bereichen das Recht der inneren Sicherheit. In der sicherheitsrechtlichen Diskussion ist das Bundesverfassungsgericht zu einem entscheidenden Akteur geworden.78 Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Sicherheitsverfassungsrecht schützt die Freiheit des Einzelnen und die Freiheitlichkeit der Gesellschaft vor einem Staat, der Gefährdungslagen zum Anlass für weit reichende Grundrechtseingriffe nimmt. Dabei wird gegenüber den neuen informationellen Überwachungsmöglichkeiten, wie sie durch den Wandel der Informationstechnologien ermöglicht wurden, der gebotene Grundrechtsschutz in Stellung gebracht. Dieses im Verfassungsvergleich ausdifferenzierteste System grundrechtlichen Schutzes führt in weiten Bereichen zu einem angemessenen Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit. Abzuwarten bleibt, ob es angesichts der Europäisierung und Internationalisierung des Sicherheitsrechts modellbildend sein kann. Bei aller positiven Würdigung stößt die sicherheitsverfassungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Randbereichen auf gewichtige Bedenken: Die verfassungsgerichtliche Begrenzung staatlicher Sicherheitsanstrengungen führt bisweilen dazu, dass der Staat nur „bedingt abwehrbereit“ gegenüber Angriffen auf die Grundrechte seiner Bürger ist.79 Freilich wurde bis in jüngste Zeit die Effektivität sicherheitsbehördlicher Gefahrenabwehr offensichtlich nicht beeinträchtigt. Es gibt allerdings zu denken, dass das Bundesverfassungsgericht im Vergleich zu anderen Verfassungsstaaten westlicher Prägung in einem bemerkenswert raschen „judicial activism“ der Fortentwicklung des Sicherheitsrechts die weitaus engsten Fesseln anlegt. Unterschwellig mag es eine Rolle gespielt haben, dass die deutschen Polizei- und Sicherheitsbehörden mit den ihnen zur Verfügung stehenden Eingriffskompetenzen terroristische Anschläge bereits im Vorfeld aufdecken und verhindern konnten. Die im November 2011 aufgedeckte rechtsradikal motivierte Mordserie konfrontiert die dezidiert liberale sicherheitsverfassungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit einer kriminellen Energie kaum je gekannten Ausmaßes. Die Verantwortung für die Folgen eines nur bedingt abwehrbereiten Sicherheitsrechts liegt beim Bundesverfassungsgericht und, anders als in sonstigen Staaten, erst in zweiter Linie beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Wie kaum ein anderer 77 78 79

BVerfGE 115, 320 (360 f.); 120, 398 (429); 125, 260 (343 f.). Poscher (Fn. 2), S. 245 (260). Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes nur „bedingt abwehrbereit“?, JZ 2007, 209 ff.

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Bereich wurde die Entwicklung des Sicherheitsrechts durch den typisch deutschen Richterstaat bestimmt. Der Schutz durch Verfahren, der Bestimmtheitsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip sind wie in keinem anderen Teilbereich des Verfassungsrechts ausdifferenziert worden. Die Achtung der Prärogative des Gesetzgebers, über die Sicherheitspolitik und das Sicherheitsrecht zu bestimmen, wird dadurch in Frage gestellt, dass er weitgehend nur noch über das „Ob“ einer sicherheitsrechtlichen Regelung entscheiden kann, bei dem „Wie“ deren Ausgestaltung aber weitgehend an präzise verfassungsgerichtliche Begrenzungen gebunden ist.80 Diese Entwicklung ist umso bedenklicher, als das Bundesverfassungsgericht bei der Würdigung von Gefährdungslagen von unbewiesenen empirischen Befunden ausgeht und bei der Bewertung der Schwere eines Grundrechtseingriffs vielfach in sehr einseitiger Weise gewichtet.81 Wenn Einschüchterungseffekte nahezu 30 Jahre die sicherheitsrechtliche Argumentation maßgeblich bestimmen, aber trotz Mahnungen in der Literatur kein Versuch zu deren empirischer Absicherung unternommen wird, mögen manche an der handwerklichen Solidität der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zweifeln. Dies umso mehr, als verfassungsgerichtliche Rechtsschöpfung nur dann auf gesellschaftliche oder psychologische Phänomene zurückgreifen darf, wenn sie in den Nachbarwissenschaften belegt sind. Fehlt es an Belegen, so wird Rechtsfortbildung irrational. Daher ist wie für alle Rechtsfortbildung auch für die Verfassungsrechtsfortbildung die Einbeziehung der „Realitätsbeschreibungen anderer Wissenschaftsdisziplinen“82 eine unabdingbare Richtigkeitsvoraussetzung. Mit seiner Sicherheitsrechtsprechung entwickelt das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe des Volkszählungsurteils für die Informationserhebung und -verarbeitung fort. Die dadurch gewonnene Kontinuität in der Rechtsprechung ist beachtlich. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die Koordinaten und Maßstäbe des Volkszählungsurteils in Form ihrer sicherheitsverfassungsrechtlichen Ausdifferenzierung nicht anachronistisch werden. Die mit Blick auf veränderte Verhaltensweisen und Kommunikationsgewohnheiten vielfach angemahnte neue Standortbestimmung des Rechts auf Datenschutz tut Not, kann an dieser Stelle freilich nicht erfolgen.

80 Zum Gesetzgeber als einem „Getriebenen der judikativen Vorgaben“, der sich „oft auf eine wörtliche Umsetzung der Richtersprüche beschränkt“: Gurlit (Fn. 44), 1035 (1041). 81 Schoch, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, in: Gander u. a. (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 63 (65 ff.). 82 Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 1, Rn. 31.

III. Parlament und Regierung

Plebiszitäre Ergänzung oder Verformung des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesverfassung Von Peter Badura

I. Bestrebungen und Projekte Die Institutionen und Verfahren der parlamentarischen Demokratie mit der gewählten Volksvertretung als Kernstück gewährleisten, dass die Staatsgewalt und ihre Ausübung konkret auf der Anerkennung und Billigung des Volkes beruhen. Die parlamentarische Repräsentation ist ein die Verwirklichung der Volkssouveränität näher bestimmendes Verfassungsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 GG). Parlamentarische Repräsentation ist die praktische Verwirklichung der Staatsform der Demokratie in einem verfassungsrechtlich geordneten Staat. Der Verzicht des Grundgesetzes auf plebiszitäre Ergänzungen der parlamentarischen Repräsentation und der in der Staatspraxis beachtete und von der herrschenden Lehre bekräftigte konkludente Ausschluss plebiszitärer Verfahren der Rechtsetzung und das Verbot selbst konsultativer Abstimmungen über politische Streitfragen im Bund haben schon lange und in neuerer Zeit verstärkt Bestrebungen und Vorschläge auf den Plan gerufen, durch die Einführung außerparlamentarischer Sachentscheidungen demokratische Selbstbestimmung von Fall zu Fall gegenüber der parlamentarischen, d. h. parteienstaatlicher, Selbstbestimmung des Volkes zur Geltung zu bringen1. 1 Schneider, Volksabstimmungen in der rechtsstaatlichen Demokratie, in: GS für Walter Jellinek, 1955, S. 155 ff.; Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: FS für Hans Huber, 1961, S. 222 ff.; Oppermann/Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, Anlage – Erfahrungen – Zukunftseignung, VVDStRL 33 (1975), 7 ff. und 69 ff.; Skouris, Plebiszitäre Elemente im repräsentativen System, in: Kloepfer/Merten/Papier/Skouris (Hrsg.), Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, 1984, S. 77 ff.; Ebsen, Abstimmungen des Bundesvolkes als Verfassungsproblem, AöR 110 (1985), 2 ff.; Dach, Verfassungsrechtliche Aspekte der konsultativen Volksbefragung, ZG 4 (1987), 158 ff.; Mahrenholz, Teilhabe, Entscheidungslegitimation und Minderheitenrechte in der repräsentativen Demokratie, in: Däubler-Gmelin/ Adlerstein (Hrsg.), Menschengerecht, 1987, S. 371 ff.; von Danwitz, Plebiszitäre Elemente in der staatlichen Willensbildung, DÖV 1992, 601 ff.; Lerche, Grundfragen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, in: Huber/Mößle/Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, S. 179 ff.; Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 25, Rn. 40 f., 60; ders., Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, E 12; Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 34;

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Die Diskussion in der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Bundestages in der 7. Wahlperiode zu dem Thema „Volksbegehren, Volksentscheid, Volksbefragung“ über die Zweckmäßigkeit einer Verstärkung des plebiszitären Elements im Grundgesetz wurde unter der Voraussetzung geführt, dass dadurch das repräsentativ-parlamentarische System keinesfalls geschwächt werden dürfe, sondern vielmehr eine Stabilisierung erfahren müsse. Es setzte sich in der Kommission die Überzeugung durch, dass Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid und andere Formen der Volksinitiative keine geeigneten Instrumente seien, die Legitimation und Handlungsfähigkeit der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zu verstärken. Es bestehe vielmehr die Gefahr, dass sie die Bedeutung des Parlaments verringern und die Funktions- und Integrationsfähigkeit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik insgesamt beeinträchtigte2. Im Rahmen der Wiedervereinigung Deutschlands wurde in den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 die Empfehlung der Regierung der beiden Vertragsparteien an die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands aufgenommen, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Ausdrücklich genannt wurde die Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung (Art. 5 EinVertr). Die auf dieser Grundlage am 16. Januar 1992 konstituierte Gemeinsame Verfassungskommission, bestehend aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates, legte im Herbst 1993 ihren Bericht vor3. Die Kommission befasste sich auch mit dem Thema „Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid“, führte dazu am 17. Juni 1992 eine Anhörung „Bürgerbeteiligung/Plebiszite“ durch, gab aber keine Schwieger, Volksgesetzgebung in Deutschland, 2005; Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006; Neumann, Sachunmittelbare Demokratie im Bundes- und Landesverfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der neuen Länder, 2009; Rux, Demokratie in Deutschland, 2008; Feld/Huber/Jung/Welzel/Wittreck (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011. 2 Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drucks. 7/5924 (09. 12. 1976), S. 12 ff. 3 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000 (05. 11. 1993). Siehe die dann eingebrachten Gesetzentwürfe zur Änderung des Grundgesetzes, insbesondere den Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. (BT-Drucks. 12/6633) und dazu die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages, BTDrucks. 12/8165 (28. 05. 1994). – Menz, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – zur Diskussion um eine Verfassungsreform, VBl.BW 1991, 401 ff.; Ossenbühl, Probleme der Verfassungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1992, 468 ff.; Isensee, Mit blauem Auge davongekommen – das Grundgesetz, NJW 1993, 2583 ff.; Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Auftrag, Verfahrensgang und Ergebnisse, ZG 9 (1994), 1 ff.; Jahn, Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes, DVBl. 1994, 177 ff.; MeyerTeschendorf, Die Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Reform des Gesetzgebungsverfahrens, DÖV 1994, 766 ff.; Vogel, Die Reform des Grundgesetzes nach der deutschen Einheit – Eine Zwischenbilanz, DVBl. 1994, 497 ff.

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Empfehlung zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid oder von anderen Formen unmittelbarer Demokratie ins Grundgesetz ab4. Schon sehr früh trat die Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 mit einem Antrag hervor, dem Grundgesetz einen neuen Abschnitt „Unmittelbare Gesetzgebung des Bundes. Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid“ einzufügen, um dem Auftrag des Art. 20 Abs. 2 GG zu genügen. Aus Text und Auftrag des Grundgesetzes ergebe sich klar, dass es neben den politischen Wahlen auch Abstimmungen geben solle, in denen das Volk die Staatsgewalt unmittelbar ausübe5. Dieses Vorhaben wurde dann von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verfassungsreform weiter verfolgt, zu dessen Vorschlägen es gehörte, nach Art. 82 des Grundgesetzes einen neuen Abschnitt „VII a. Volksbegehren, Volksentscheid“ (Art. 82a) einzufügen6. Die Fraktion der SPD beteiligte sich an der interfraktionellen Reform-Novelle von 19947, brachte aber daneben einen eigenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ein, der u. a. die Einfügung eines Abschnitts „VIII a. Volksinitiative, Volksentscheid“ (Art. 82a) anstrebte8. Die – unverzichtbare – parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes bedürfe heute der Ergänzung um Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung. Die Einführung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene sei geeignet, „dem Ohnmachtsgefühl der Bürgerinnen und Bürger und der daraus resultierenden Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und bisher brachliegende Reserven an Mitverantwortungsbereitschaft und Engagement zu mobilisieren“. Dass den Parteien, die damit ihr faktisches „Politikmonopol“ verlören, neben ihren parlamentarischen Entfaltungsmöglichkeiten auch die Wege zur Anrufung wie Organisation von Volksinitiativen und Volksentscheid eröffnet seien, werde „als zusätzliche Form des Dialogs mit den Bürgerinnen und Bürgern die politische Kultur nur befruchten können“. Der Entwurf regelt und be4 Bericht (Fn. 2), S. 83 ff. Siehe weiter die Stellungnahmen in der öffentlichen Anhörung am 17. 06. 1992. Eine Mehrheit der Länder – nicht Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – befürwortet die Aufnahme von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz, ohne einen konkreten Vorschlag hierfür zu unterbreiten (Bericht und Beschlussempfehlung des Arbeitsausschusses 2 des Bundesrates „Plebiszitäre Elemente“ vom 03. 04. 1992 zu der 6. Sitzung der Kommission Verfassungsreform am 14. 05. 1992, Arbeitsunterlage Nr. 16). 5 Antrag „Änderung des Grundgesetzes“, BT-Drucks. 11/8412 (06. 11. 1990). 6 Entwurf eines Gesetzes zur Verfassungsreform, BT-Drucks. 12/6686 (27. 01. 1994). Dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 3), S. 53 ff. – Wiederum in der 14. und erneut in der 16. Wahlperiode hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzentwürfe zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz eingebracht: BT-Drucks. 14/8503 (13. 03. 2002); BT-Drucks. 16/680 (15. 02. 2006), nunmehr mit dem Vorschlag, nach Art. 78 GG die Art. 78a bis 78d einzufügen; dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 16/12019 (18. 02. 2009). 7 Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/6633; siehe Fn. 3. 8 Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/6323 (01. 12. 1993), S. 6, 8, 26 ff. Dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 3), S. 36 ff.

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gründet ausführlich das dreistufig ausgestaltete Verfahren der Volksgesetzgebung, das eine „gleichrangige Alternative“ zu dem weiterhin das Regelgesetzgebungsverfahren bleibenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren darstelle. Der Rechtsausschuss sprach sich aus verfassungssystematischen und verfassungspolitischen Gründen gegen die Aufnahme von Verfahren der Volksgesetzgebung aus. Plebiszitäre Entscheidungsformen trügen die Gefahr einer schleichenden Abwertung des Parlaments in sich und führten auch zu einer Schwächung föderaler Strukturen. Plebiszite könnten der Vielschichtigkeit und Kompliziertheit der Staatsaufgaben der modernen pluralistischen Gesellschaft und Demokratie nicht gerecht werden. Diese erfordere eine Kompromisssuche und -findung, die nur das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren ermögliche. „Volksabstimmungen über Einzelprobleme verwirklichten allenfalls punktuelle Lösungen anstelle einer abgestimmten politischen Gesamtkonzeption.“9 Ein Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE im Jahr 2007 sah dringenden Handlungsbedarf, einen Volksentscheid über den Vertrag zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verfassungsrechtlich zu ermöglichen; nur so könne die demokratische Legitimität der Europäischen Union gewährleistet werden. Dementsprechend müsse in Art. 23 GG nach Absatz 1 ein neuer Absatz 2 eingefügt werden10. Die Fraktion DIE LINKE brachte außerdem den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz ein. Den Bürgern werde durch die plebiszitären Verfahren, die das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes ergänzten, die Möglichkeit gegeben, mehr Verantwortung zu übernehmen und sich unmittelbar an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Mit einer bemerkenswerten Interpolation wird die Volkssouveränität nicht auf das Staatsvolk bezogen: „Im Interesse der Weiterentwicklung der in Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerten Souveränität der Bevölkerung, von der alle Staatsgewalt ausgeht, ist es an der Zeit, die repräsentative Demokratie durch direktdemokratische Elemente zu ergänzen und zu verstärken.“11 Die Fraktion DIE LINKE verfolgte ihr Projekt in der 9

Beschlussempfehlung und Bericht (Fn. 3), S. 46 ff. Gesetzentwurf, BT-Drucks. 16/7375 (29. 11. 2007). Dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 16/8913 (23. 04. 2008). – Schon zu dem Vertrag von Maastricht war ein Volksentscheid für notwendig gehalten worden; als Akt der verfassunggebenden Gewalt sei dieser Volksentscheid sogar ohne Verfassungsänderung allein durch Bundesgesetz vorzusehen, das ein Entscheidungsverfahren bereitstelle und die geordnete Ausübung der verfassunggebenden Gewalt ermögliche (Murswiek, Maastricht – nicht ohne Volksentscheid. Eine verfassungsrechtliche Analyse, Süddeutsche Zeitung, 14. 10. 1992, S. 11). 11 Gesetzentwurf, BT-Drucks. 16/1411 (09. 05. 2006). In den Grundanliegen übereinstimmend die Vorlagen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks. 16/680 (15. 02. 2006), siehe Fn. 6, und der Fraktion der FDP, BT-Drucks. 16/474 (25. 01. 2006), beide Vorlagen dahingehend, nach Art. 78 GG die Art. 78a bis 78d einzufügen. Zu den drei Vorlagen siehe Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 16/12019 (18. 2. 2009). 10

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17. Wahlperiode weiter12. Der Entwurf strebte die Einführung eines neuen Abschnitts in das Grundgesetz an (Art. 82a bis 82d) und beruft sich angesichts der aktuellen Vorgänge in Baden-Württemberg und die Notwendigkeit einer Schlichtung darauf, dass sich der klassische Parlamentarismus in einer Krisensituation befinde.

II. Volksgesetzgebung Die plebiszitären Verfahren der „Volksgesetzgebung“ unterscheiden sich nach Grund, Ziel und Wirkung von Verfahren „partizipatorischer“ Demokratie im Bereich der Verwaltung, insbesondere bei der Zulassung raumgreifender Vorhaben und im Fall kommunaler Bürgerentscheide13. „Partizipation“ an Verwaltungsentscheidungen im eigentlichen Sinn betrifft allerdings nur eine Verfahrens- oder Entscheidungsteilhabe von Personen, Gruppen oder sonstigen Rechtsträgern, die nicht durch Verwaltungsentscheidungen oder -maßnahmen unmittelbar rechtlich betroffen sind (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO)14. Die Partizipation, die eine besondere „Legitimation durch Verfahren“ durch Öffentlichkeitsbeteiligung anstrebt, bleibt im Rechtsstaat der Gewaltenteilung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung unterworfen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG), in der sich das demokratische Vorrecht der gewählten Volksvertretung und ihres Gesetzgebungsrechts zur Geltung bringt. Verfassungspolitik und Staatspraxis des Bundesstaates unter dem Grundgesetz sind bisher dadurch gekennzeichnet, dass Verfahren der Volksgesetzgebung allein in den Ländern stattfinden können, die im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) entsprechende Regelungen in ihre Verfassungen aufgenommen haben15. Die Bestrebungen und Auseinandersetzungen, die plebiszitäre Novellierungen des Grundgesetzes zum Gegenstand haben, können Streitfragen und Rechtsauffassungen zu den landesverfassungsrechtlichen Ausgestaltungen der Volksgesetzgebung ceteris paribus berücksichtigen. Die Volksgesetzgebung des 12 Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz, BT-Drucks. 17/1199 (24. 03. 2010), dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 17/3609 (02. 11. 2010). 13 Walter/Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), 147 ff. und 179 ff.; W. Schmidt/Bartlsperger, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung, VVDStRL 33 (1975), 183 ff. und 221 ff.; Pestalozza, Startbahn frei für das Verwaltungs(akt)referendum, NJW 1982, 1571 ff.; Steinberg, Standortplanung umweltbelastender Großvorhaben durch Volksbegehren und Volksentscheid?, ZRP 1982, 113 ff. 14 Schmidt (Fn. 13), 210 f. 15 A. Weber, Direkte Demokratie im Landesverfassungsrecht, DÖV 1985, 178 ff.; Degenhart, Direkte Demokratie in den Ländern – Impulse für das Grundgesetz, Der Staat 31 (1992), 77; ders., Volksgesetzgebungsverfahren und Verfassungsänderung nach der Verfassung des Freistaats Thüringen, ThürVBl. 2001, 201 ff.; Jung, Aktuelle Probleme der direkten Demokratie in Deutschland, ZRP 2000, 440 ff.; Hartmann, Volksgesetzgebung und Grundrechte, 2005; Decker, Parlamentarische Demokratie versus Volksgesetzgebung. Der Streit um ein neues Wahlrecht in Hamburg, ZParl. 38 (2007), 118 ff.; P. M. Huber, Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung im Widerstreit, ZG 24 (2009), 311 ff.

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Landesverfassungsrechts kann sich auf Landesgesetze und auf Änderungen der Landesverfassung richten, kann aber Regelungen und Materien nicht erfassen, die der Bundeskompetenz unterliegen. Das neueste Projekt, über die nukleare Energieversorgung abgestimmte Plebiszite in allen Bundesländern herbeizuführen16, setzt sich nicht nur über die bundesstaatliche Ordnung hinweg. Volksbegehren und Volksentscheide über bestimmte Sachfragen missachten das demokratische Gesetzgebungsrecht der zuständigen parlamentarischen Volksvertretung. Nach den Landesverfassungen werden die Gesetze von der gewählten Volksvertretung oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen17. Die Gesetze der Landesparlamente und die durch eine verfassungsmäßige Abstimmung zustande gekommenen Gesetze sind danach in gleicher Weise – „gleichrangig“ –, wenn auch nicht gleichartig Bestandteil der Rechtsordnung. Die Grundnorm der Verfassungen über die Gesetzgebung in der parlamentarischen Demokratie legt fest, dass plebiszitäre Gesetzgebung im Wesentlichen die Funktion hat, Defizite der parlamentarischen Gesetzgebung zu mildern oder auszugleichen, und damit auf eine Ergänzung der notwendigen und nicht zu beeinträchtigenden Grundform der parlamentarischen Repräsentation und des parlamentarischen Regierungssystems beschränkt bleibt18. Die zu der Verfassung Sachsens vertretene Rechtsauffassung, dass diese die Volksgesetzgebung der gesetzgebenden Gewalt des Landtages „ohne Vorrangentscheidung“ zur Seite stelle und damit das parlamentarische Repräsentativsystem „plebiszitär modifiziert“ habe (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Art. 70 SächsVerf.)19, gibt der Landesverfassung einen Inhalt, der zu deren Unvereinbarkeit mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG führt. Die ergänzende und balancierende Funktion der Volksgesetzgebung wird in deren Ausgestaltung dadurch wirksam, dass geeignete Quoren der Beteiligung bei Volksbegehren und Volksentscheid und der notwendigen Mehrheiten für den Erfolg von Volksbegehren und Volksentscheid vorgesehen und eine eigene Initiative des Parlaments vorbehalten wird20. Der Gewährleistung der finanzpolitischen Verantwortung des Parlaments und des parlamentarischen Budgetrechts dienen Vorbehaltsklauseln, die Volksabstimmungen über den Staatshaushalt, Abgabengesetze und Besoldungsgesetze ausschließen21. Das Verbot von Abstimmungen über den Staatshaushalt ist so zu verstehen,

16

„Volk soll über Atomausstieg entscheiden“, CDU-Wirtschaftsrat strebt aufeinander abgestimmte Plebiszite in den Ländern an, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 05. 2011. 17 Art. 59 Abs. 3 BaWüVerf., Art. 72 Abs. 1 BayVerf., Art. 123 Abs. 2 BremVerf., Art. 116 HessVerf., Art. 42 Abs. 1 Nds.Verf, Art. 37 Abs. 2 SH.Verf., u. a. 18 BVerfGE 123, 267 (340 ff., 367 ff.); StGH Bremen, DÖV 2000, 915; Lerche (Fn. 1), S. 186 f.; Böckenförde (Fn. 1), Rn. 3, 23, 27. 19 SächsVerfGH, Urt. vom 11. 07. 2002, NVwZ 2003, 472, mit Anm. Sachs, JuS 2003, 705. 20 Dazu eingehend am Beispiel der Art. 81 ff. ThürVerf. Huber (Fn. 15); grundsätzlich dazu von Danwitz (Fn. 1), 601 (609). 21 Art. 60 Abs. 6 BaWüVerf., Art. 73 BayVerf., Art. 62 Abs. 5 Berl.Verf., Art. 76 Abs. 2 BbgVerf., Art. 70 Abs. 2 Brem.Verf., u. a. – Müller-Franken, Plebiszitäre Demokratie und

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dass damit alle Vorschläge und Gesetzentwürfe erfasst werden, die gewichtige staatliche Einnahmen oder Ausgaben auslösen und damit den Haushalt wesentlich beeinflussen22. Art. 68 Abs. 1 Satz 4 NRWVerf. und Art. 108a Abs. 1 Satz 2 RhPf.Verf. erstrecken den Budgetvorbehalt ausdrücklich auf „Finanzfragen“. Auf der anderen Seite zielen Verfassungsänderungen in Berlin23, Hamburg24 und Bremen25 darauf ab, finanzwirksame Volksentscheide unter gewissen Bedingungen ausdrücklich oder konkludent zuzulassen (Art. 62 Abs. 2 Berl.Verf., Art. 50 Abs. 1 Satz 2 Hamb.Verf, Art. 70 Abs. 2 Brem.Verf.)26. Das parlamentarische Budgetrecht betrifft unmittelbar die Haushaltsgesetzgebung, wird aber auch durch finanzwirksame Staatsaufgaben und die Entscheidung über andere Sachfragen berührt, die Einnahmen oder Ausgaben der öffentlichen Hand beeinflussen27. Die verteilungspolitische Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie angesichts der wohlfahrtsstaatlichen Entgrenzung der Staatsaufgaben28 darf nicht durch außerparlamentarische Verfahren der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung in Frage gestellt werden. Der parlamentarische Budgetvorbehalt der Volksgesetzgebung lässt sich nicht restriktiv auf ein pouvoir finance oder auf die der Exekutive gegenübergestellte Gesetzgebungsgewalt zurückschneiden; denn seine innere Rechtfertigung findet sich in der staatsleitenden Aufgabe und Verantwortung der gewählten Volksvertretung. Der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion von 2006 enthielt die Klausel: Finanzwirksame Volksinitiativen sind nur zulässig, wenn sie einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten des begehrten Gesetzes enthalten (Art. 78a Abs. 2)29. Die Begründung sagt dazu: Das Budgetrecht bleibt im Bereich der Legislative. Lediglich innerhalb der legislativen Staatsfunktion findet ein Austausch statt. An die Stelle der bislang rein parlamentarischen Legislative tritt unter bestimmten Voraussetzungen eine finanzwirksame Volksgesetzgebung. Dem gleichen Gedanken folgt der Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von 2006, der allgemein formuliert: „Finanzwirksame Volksbegehren sind zulässig.“ Haushaltsgewalt. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen finanzwirksamer Volksgesetzgebung, Der Staat 44 (2005), 19 ff. 22 BVerfGE 102, 176 (187 f.); VerfG Bbg, Urteil vom 20. 09. 2001 – 57/00; BayVerfGH, BayVBl. 2008, S. 466. – Eine engere Auslegung zugunsten finanzwirksamer Gesetze: SächsVerfGH (Fn. 19); Klatt, Die Zulässigkeit des finanzwirksamen Plebiszits, Der Staat 50 (2011), 3 ff. 23 Änderungsgesetz vom 25. 05. 2006, GVBl. S. 446. 24 Änderungsgesetz vom 16. 12. 2008, GVBl. S. 431. 25 Änderungsgesetz vom 01. 09. 2009, GBl. S. 311. 26 Dazu Klatt (Fn. 22), 3 (31 ff.). 27 Badura, Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie, in: FS für Peter Selmer, 2004, S. 19 ff.; ders., Das parlamentarische Budgetrecht, Comparative Law 22 (2005), 135 ff. 28 Badura, Aussprache, VVDStRL 33 (1975), 141 f.; ders., Staatsaufgaben (Fn. 27), S. 25 ff.; Zacher, Aussprache, VVDStRL 33 (1975), 138; Lerche (Fn. 1), S. 182. 29 Gesetzentwurf (Fn. 11).

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(Art. 78a Abs. 2), und dazu bemerkt, die Einschränkung des parlamentarischen Budgetrechts zugunsten der Volksgesetzgebung belasse das Budgetrecht innerhalb der legislativen Staatsfunktion30. Die „legislative Staatsfunktion“ in der Hand der gewählten Volksvertretung ist von anderer Art, als wenn sie als Entscheidung der Volksgesetzgebung ausgeübt wird.

III. „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ 1. Schutz der politischen Freiheit durch Grundrechte Die Volksgesetzgebung besteht aus der Abstimmung über eine bestimmte Sachfrage. Die parlamentarische Gesetzgebung dagegen geht aus einem politischen Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung hervor, der in der Hand der durch Wahlen zur Volksvertretung berufenen Abgeordneten und Fraktionen liegt und maßgeblich durch die im Parlament vertretenen Parteien bestimmt wird. „Der Pluralismus der Repräsentation bildet die eigentliche Stärke des Parlaments“31. Wahlen können in besonderen politischen Lagen durch eine Sachentscheidung dominiert sein und insofern einen plebiszitären Charakter annehmen, verlieren aber deswegen nicht die Funktion der organisatorischen Vermittlung, die das Wesen der parlamentarischen Repräsentation ausmacht. Die mit der Wahl durch die Wähler ausgeübte politische Freiheit ist auf die parlamentarisch vermittelte Bildung des vor allem durch die Gesetzgebung wirksamen Staatswillens und der staatlichen Hoheitsgewalt gerichtet. Demgegenüber schützt die in den Grundrechten der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und der Presse- und Rundfunkfreiheit zum Ausdruck kommende politische Freiheit die Teilhabe an den politischen Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung und gewinnt so mittelbar auch einen plebiszitären Einfluss auf die parlamentarische Gesetzgebung und die Initiativen und Bestrebungen einer Volksgesetzgebung. Das Schlagwort von der „Mediendemokratie“ weist darauf hin, dass die Massenmedien und neuerdings die Verbreitungsformen der Online-Aktivitäten neben den in Versammlungen auftretenden politischen Kräften eine plebiszitäre Wirkung und ggf. auch eine Deformation der parlamentarischen Repräsentation erreichen können. Die verfassungsrechtlich vorgegebene und begrifflich fassbare Unterscheidung der grundrechtlichen Freiheit, auch soweit sie im politischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung wirksam wird, und die vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübte Staatsgewalt darf auch angesichts des praktisch stattfindenden Wechselspiels und Zusammenwirkens nicht beiseitegeschoben werden.

30 31

Gesetzgebung (Fn. 11). Scheuner, Aussprache, VVDStRL 33 (1975), 121.

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2. Parlamentarische Demokratie Das Volk, von dem in der Demokratie alle Staatsgewalt ausgeht, ist – als Staatsvolk – eine normative Größe, die sich aus der sozial gegebenen politischen Einheit, den Meinungen, Interessen und politischen Kräften ableitet, die sich jeweils in einem konkreten Prozess der Meinungs- und Willensbildung zur Geltung bringen. Die Parteien wirken bei politischer Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG). Mit dem Prädikat der „parteienstaatlichen“ Demokratie wird die verfassungsrechtliche und praktisch konstitutive Stellung und Aufgabe der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie unterstrichen. „Den Parteien obliegt es, politische Ziele zu formulieren und diese den Bürgern zu vermitteln sowie daran mitzuwirken, dass die Gesellschaft wie durch den einzelnen Bürgern betreffende Probleme erkannt, benannt und angemessenen Lösungen zugeführt werden. Die für den Prozeß der politischen Willensbildung im demokratischen Staat entscheidende Rückkopplung zwischen Staatsorganen und Volk ist auch Sache der Parteien. Sie erschöpft sich nicht in dem nur in Abständen wiederkehrenden Akt der Wahl des Parlaments.“32 Meinungs- und Willensbildung des Volkes, vielfältig und pluralistisch in Parteien, Verbänden, Medien und allgemein in der öffentlichen Meinung auftretend, ist von der organisierten Willensbildung und Entscheidungsfindung unterschieden, aber mit ihr in notwendiger Wechselwirkung. Diese Gegebenheit kann durch die Unterscheidung und Verbindung von „formaler“ Repräsentation, die einen rechtsförmlichen Autorisations- und Legitimationszusammenhang bezeichnet, und „inhaltlicher“ Repräsentation dogmatisiert werden. Die demokratische Legitimationskraft des Handelns repräsentativer Organe, insbesondere des Parlaments, hängt entscheidend davon ab, dass eine inhaltliche Repräsentation des Volkswillens stets von Neuem verwirklicht wird, ohne dass schlechthin die demokratische Repräsentation in dem natürlich-empirischen Willen der vielen gesucht werden kann33. Auch die plebiszitär hervorgebrachte Entscheidung ist in der ihr eigenen Art eine Form mittelbarer Demokratie. „Der direkt-demokratische Mantel verhüllt die Repräsentationsstruktur, die sich dabei entfaltet.“34 Die materielle Repräsentation des Volkswillens wird durch die in den Parteien wirksamen politischen Kräfte und durch die Grundrechte der politischen Freiheit bestimmt. In der neuen Mediendemokratie haben die Massenmedien und das Internet als „Faktoren“ der politischen Meinungsbildung einen selbstständigen Einfluss erlangt, der mit der Parteiendemokratie in eine Wechselwirkung tritt. Unter dem Schild grundrechtlicher Freiheiten setzt sich eine andere Mediatisierung des Volkes ins Werk, die das Werk der parlamentarischen Demokratie mit den Mitteln plebiszitärer Demokratie verformt35. In der parlamentarischen Demokratie ist die Volksvertretung kraft ihrer Legitimation durch die Wahlen und durch ihre Befugnisse der Gesetzgebung und der parlamentarischen Kontrolle 32 33 34 35

BVerfGE 85, 264 (284 f.). Böckenförde (Fn. 1), Rn. 28, 29, 30 ff. Böckenförde (Fn. 1), Rn. 7. Badura, Parlamentarische Demokratie (Fn. 1), Rn. 39.

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der Regierung das Staatsorgan, in dem die ausschlaggebenden Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten politischer Herrschaft vereinigt sind. Das parlamentarische Regierungssystem verbindet mit der in der gewählten Volksvertretung konzentrierten Vollmacht politischer Herrschaft die parlamentarisch verantwortliche Staatsleitung durch die als selbstständiges Organ ausgestattete Regierung. Die Staatsleitung durch die Regierung und die im Bundesrat verkörperte grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes dürfen durch Verfahren der Volksgesetzgebung ebenso wenig geschmälert werden wie die Handlungs- und Entscheidungsrechte des Bundestages. 3. Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung Das Volk der parlamentarischen Demokratie handelt durch Wahlen und durch die verantwortliche, mit einem befristeten Mandat ausgestattete Volksvertretung36. Die dadurch ermöglichte Vermittlungsaufgabe, das Kernstück der parlamentarischen Repräsentation, zwingt zur Betrachtung und Beurteilung des Gesamtspektrums der Themen und Interessen und damit des Geflechts der Wirkungen; Parlament und Parteien agieren und reagieren in Bezug auf den Zusammenhang der politischen Ziele und Aufgaben, gemessen an der politischen und finanziellen Leistungsfähigkeit der staatlich verfassten Gesellschaft. Die einzelne Entscheidung wird als Teil des am Allgemeininteresse ausgerichteten Zusammenhangs der Politik begriffen und getroffen. Die als Wähler, einzeln und in Versammlungen und Vereinigungen, agierenden Bürger können aufgrund von Information und Transparenz urteilen und handeln, die vielfältig und pluralistisch durch die Medien bereitgestellt wird. Volksinitiative und Abstimmung können den Zusammenhang der Politik, der Themen und Aufgaben, negieren und stellen sich demgemäß der notwendigen Vermittlungsleistung und ausgleichenden Abwägung nicht. Sie entbehren des hohen Maßes an Flexibilität, an Beweglichkeit, das einer der unübersehbaren Vorzüge des Repräsentativsystems ist37. Das plebiszitäre Verfahren – im Regelfall durch aktuelle Absichten und taktische Bestrebungen der initiierenden Gruppen bestimmt – löst die Verantwortung für ein Gesetz oder eine sonstige Sachentscheidung ohne rechtfertigenden Grund aus dem parteiendemokratischen, parlamentarisch geordneten Kräfteverhältnis und aus dem parteiinternen Ausgleich des Programms heraus, der gerade die entscheidende Leistung der Parteien ist. Plebiszitäre Verfahren verfälschen die Eigenart der politischen Entscheidungsverfahren des Parlamentarismus durch die in ihrem im Regelfall erfolgende Selektion, durch die Vermeidung der Anstrengung, alle berührten Belange und alle in Frage kommenden Gesichtspunkte des Gemeinwohls berücksichtigen zu müssen und dadurch, dass ein einzelner Punkt her36 Hierzu und zum folgenden die Schriftliche Stellungnahme zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Thema Bürgerbeteiligung/Plebiszite am 17. 06. 1992, unter 5, sowie die ergänzenden Äußerungen lt. Protokoll der Anhörung, S. 9 ff. 37 Lerche (Fn. 1), S. 180.

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ausgegriffen wird und zum Erfolg geführt werden soll. Verfahren der Volksgesetzgebung sind nur eine andere Form der mittelbaren Demokratie, entbehren aber – in dieser Hinsicht weniger leistungsfähig – der Richtigkeitsgewähr, die von der parlamentarischen Gesetzgebung erwartet werden kann. Sie stellen in Wahrheit nur außerparlamentarische Aktionsmöglichkeiten für parlamentarisch nicht oder nicht hinreichend erfolgreiche Gruppen oder Vereinigungen dar, nicht zuletzt von politischen Parteien der parlamentarischen Opposition. Sie zielen darauf ab, das auf der staatsbürgerlichen Gleichheit beruhende Mehrheitsprinzip der parlamentarischen Demokratie in seiner Wirkung für einzelne Sachfragen zu korrigieren. Das dafür ausschlaggebende Instrument ist die von den Initianten in Anspruch genommene Formulierung der zur Abstimmung gestellten Frage, die nur bejaht oder verneint werden kann38. Die Reichweite der Entscheidungsgegenstände plebiszitärer Verfahren im Bund ist verhältnismäßig begrenzt und wird immer begrenzter. Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich, dass plebiszitäre Verfahren im Bereich der Kommunalpolitik und der Landespolitik auf andere Bedingungen treffen. Auf der Ebene des Bundes, wo es um die grundsätzlichen Fragen der Außenpolitik, der Verteidigungspolitik, der Wirtschaftsund Sozialpolitik geht, ist nur ein schmales Spielfeld für plebiszitäre Entscheidungsmöglichkeiten gegeben. Durch die Entwicklung der europäischen Integration sind wichtige Bereiche der nationalen Wirtschaftspolitik, der Umweltpolitik und wohl auch der Sozialpolitik der nationalen Entscheidung ohnehin entzogen39. Außerdem sind nach einer immerhin sehr verbreiteten Auffassung und nach der Verfassungstradition und Staatspraxis finanzwirksame Entscheidungen von Gewicht plebiszitärer Initiative und Entscheidung entzogen. Mehr oder weniger hervortretende Unzufriedenheit mit der Politik der gewählten Volksvertretung und der parteiendemokratisch agierenden Regierung und auch eine häufig beschworene „Politik-“ oder „Parteienverdrossenheit“ kann nur mit einer Stärkung der Kräfte der Parteiendemokratie (siehe nur Art. 21 Abs. 1 Satz 2 und 4 GG) und des Parlamentarismus behoben werden. Hier zu beobachtende Mängel können nicht durch plebiszitäre Verfahren beseitigt oder gemildert werden40, sondern nur 38

Klein, in: CDU Fachkongress. Freiheitliche Demokratie in Deutschland, Diskussionsforum I „Parlamentarische oder plebiszitäre Demokratie“, 11./12. 05. 1992, Abschn. 10. – In dem für den Parlamentarismus charakteristischen Dualismus von Regierung und Opposition wird das Referendum zur Waffe der Opposition (Scheuner (Fn. 31), 121 (122)). 39 Die „Bürgerinitiative“ gemäß Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 Abs. 1 AEUV entfernt sich naturgemäß von den Prozessen der Entscheidungsfindung durch die nationalen Parlamente und kann auch nicht als geeignete Ergänzung des Handlungsbereichs des Europäischen Parlaments gelten. Politische Parteien im Sinn der nationalen parlamentarischen Demokratie sind einer supranationalen Föderation fremd; vgl. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, § 7 Rn. 55, § 16 Rn. 32. 40 Ebsen (Fn. 1) hält konsultative Volksbefragungen im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der funktionellen Kompetenz des Gesetzgebers für verfassungsrechtlich zulässig, desgleichen konstitutive Volksabstimmungen in der Weise, dass ein Bundesgesetz sein Inkrafttreten vom positiven Ausgang einer Volksabstimmung abhängig macht. Sie dazu von Danwitz (Fn. 1), 601 (602). Mit einem affirmativen Gesetzesreferendum entäußert

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durch eine erfolgreiche Politik in den Einrichtungen und Verfahren der parlamentarischen Demokratie41, unterstützt durch Information und Kritik der öffentlichen Meinung42, d. h. durch Presse und Rundfunk, aber auch durch Vereinigungen und Versammlungen. Durch die Wahlen und die Parteien und im größeren Zusammenhang der staatlich geformten Gesellschaft durch die öffentliche Meinung begründet und legitimiert die politische Freiheit die Willensbildung und die Entscheidungen der parlamentarischen Demokratie in der Form des parlamentarischen Regierungssystems.

sich der Bundesgesetzgeber seiner ungeteilten Verantwortung für eine politische Entscheidung. 41 Schneider (Fn. 1); Scheuner, Die Lage des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik, DÖV 1974, 433 ff.; Hennis, Der „Parteienstaat“ des Grundgesetzes. Eine gelungene Erfindung, Der Spiegel, Dokument 5, 1992; Badura, Verfassungsrechtliche und politische Grundlagen parlamentarischer Regierung in Deutschland, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1995/I, 1995, S. 29 ff. 42 Zu der maßgeblichen Bedingung des Funktionierens einer öffentlicher Meinung Mahrenholz (Fn. 1), S. 383.

Die Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt Eine verfassungsrechtlich gangbare und praktikable Option?* Von Michael Brenner

I. Die Verknüpfung von ausgeglichenem Staatshaushalt und individueller Abgabenentlastung Der Bürger sieht sich dem Steuerzugriff des Staates mittlerweile in einem Ausmaß ausgesetzt, das vielfach Verbitterung hervorruft, vor allem aber ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefert-Seins begründet. Dieses Gefühl wird verstärkt durch eine nach wie vor kaum gebändigte staatliche Ausgabenpolitik, Rettungsaktionen zugunsten von in Schieflage geratenen „systemrelevanten“ Banken und in jüngster Vergangenheit durch die Einrichtung von sog. Rettungsschirmen, von denen unklar ist, ob sie nicht dereinst tatsächlich aufgespannt werden müssen. Dieser ausgreifende Zugriff auf den Geldbeutel des Einzelnen, der den finanziellen Hunger des Staates stillen soll, wie auch die Erkenntnis, dass einmal eingeführte Steuern und Abgaben im Regelfall nicht mehr abgeschafft, sondern im Zweifel erhöht werden, stellt sicherlich einen der zahlreichen Gründe für die vielfach konstatierte Parteienverdrossenheit und damit auch für die zunehmende Entfremdung des Bürgers von „seinem“ Staat dar. Eine Möglichkeit, dieses Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit des Bürgers gegenüber dem staatlichen Steuerzugriff zu reduzieren, vor allem wieder mehr Vertrauen in die Politik und die Politiker zu generieren, läge sicherlich darin, Politiker stärker in die Verantwortung zu nehmen und sie stärker als bislang Rechenschaft ablegen zu lassen über das von ihnen zu verantwortende finanzielle Gebaren des Staates, insbesondere über Umfang und Höhe der Steuern. Ein überlegenswerter Ansatz hierfür könnte darin bestehen, die Erhebung einzelner Steuern von einem ausgeglichenen Staatshaushalt abhängig zu machen und ggf. die Erhebung einzelner Steuern bei Vorliegen eines ausgeglichenen Staatshaushalts auszusetzen. Auf diese Weise könnte eine unmittelbare Verknüpfung der auf eine Reduzierung der Staatsschulden zielenden parlamentarischen Ausgabendisziplin auf der einen Seite mit steuerlichen Ent* Für wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts danke ich Frau Assessorin Claudia Jahrmarkt.

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lastungen der Bürger auf der anderen Seite herbeigeführt werden. „Der Politik“ würde damit ein interessanter Anreiz zur Reduzierung der Staatsverschuldung an die Hand gegeben werden, da die Bürger die Sparbemühungen der Parlamentarier – genauer: der parlamentarischen Mehrheit – bei der nächsten Wahl möglicherweise honorieren würden. Zumindest könnten bei einer solchen Koppelung Parteien und Politiker einer besonderen Darlegungs- und Rechtfertigungslast unterworfen werden, warum das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts und einer hieran gekoppelten finanziellen Entlastung der Bürger nicht verwirklicht werden konnte. In besonderer Weise würde sich für ein solches Vorhaben der Solidaritätszuschlag eignen, bei dem es sich um eine Bundessteuer von hoher finanzieller Relevanz handelt; im dritten Quartal 2011 ermöglichte der Solidaritätszuschlag dem Bund im Bereich der Bundessteuern (Gesamtaufkommen insgesamt ca. 24,31 Mrd. Euro) hinter der Energiesteuer und der Tabaksteuer die dritthöchsten Einnahmen in einer Größenordnung von ca. 2,88 Mrd. Euro; dabei betrug das Einnahmeplus zum Vorjahresquartal 10,1 % bei leicht steigenden Einnahmen aus allen Bundessteuern insgesamt1. Hieran wird die Relevanz des Zuschlags, der auf jedem Steuerbescheid gesondert ausgewiesen ist, für den einzelnen Bürger besonders deutlich. Vor allem aber mag im Jahre 22 nach der Wiedervereinigung mit Blick auf die immer größer werdende Herausforderung der Ausgabendisziplinierung – nicht zuletzt auch im Lichte vielfältig sprudelnder anderweitiger Steuerquellen – durchaus darüber nachgedacht werden, ob die Kosten der Einheit Deutschlands mit Blick auf das zwischenzeitlich Erreichte nicht aus den anderen Steuerquellen finanziert werden können. Mit anderen Worten hätte die Idee der Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages bei ausgeglichenem Staatshaushalt damit zugleich den Charme, zu signalisieren, dass die Wiedervereinigung auf einem guten und erfolgreichen Weg ist.

II. Der Solidaritätszuschlag Der Solidaritätszuschlag wurde zunächst in den Jahren 1991 und 1992 erhoben. Seit dem Jahr 1995 wird er ununterbrochen erhoben. In beiden Erhebungszeiträumen ist er mit den Kosten der Finanzierung der Einheit Deutschlands begründet worden. 1. Das Solidaritätsgesetz 19912 Bereits 1991 – und damit im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung – sah sich der Gesetzgeber mit der Herausforderung konfrontiert, zur Finanzierung zusätzlicher Aufgaben und Herausforderungen die Haushaltseinnahmen des Bundes zu verbes1

Siehe hierzu die Daten unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4158/DE/ BMF__Startseite/Service/Downloads/Abt__I/1110201a6002,templateId=raw,property=pu blicationFile.pdf. 2 BGBl. 1993 I, S. 1318 ff.

Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt

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sern. Als Rechtfertigung dieses erhöhten Finanzbedarfs wurden vom Gesetzgeber „die jüngsten Veränderungen in der Weltlage (Entwicklungen im Mittleren Osten, in Südost- und Osteuropa und in den neuen Bundesländern), die die Bundesrepublik verstärkt in die Pflicht nehmen“3, angeführt. Die damit verbundenen finanziellen Anforderungen gingen nach Auffassung des Gesetzgebers weit über den bisherigen Finanzrahmen hinaus, was eine Neubewertung der finanzpolitischen Handlungsalternativen unumgänglich machte4. Neben zusätzlichem Finanzbedarf für die Entwicklungen im Mittleren Osten und in Südostund Osteuropa waren es vor allem zusätzliche, zuvor nicht absehbare und sich aufgrund externer Entwicklungen ergebende Aufgaben in den neuen Bundesländern, die zu dem erhöhten Finanzbedarf des Bundes führten5. Die im Solidaritätsgesetz geregelten steuerpolitischen Maßnahmen sollten die absehbaren zusätzlichen Staatsaufgaben abdecken; dabei ging es um eine „solidarische Bewältigung nationaler Herausforderungen, die alle Bürger betreffen“6. Daher war im Entwurf zum „Solidaritätsgesetz“ in Art. 1 das „Solidaritätszuschlaggesetz – SolZG“ enthalten, nach dessen § 1 ein Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben werden sollte7. In dem SolZG spiegelte sich die Einschätzung des Gesetzgebers wider, dass ein geringer, zeitlich eng befristeter Zuschlag zur Lohn-/Einkommen- und Körperschaftsteuer zur Lösung vorübergehender dringender Finanzprobleme besonders geeignet und nach den Entlastungen durch das Steuerreformgesetz 1990 auch vertretbar sei8. Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag, der nach § 3 SolZG auf die Jahre 1991 und 1992 beschränkt und damit von vornherein auf zwei Jahre befristet war (sic!), waren dabei die Veranlagungszeiträume 1991 und 1992 (§ 3 SolZG). Dem Solidaritätszuschlag waren – im Unterschied zum SolZG 1995 – alle Einkommen linear ohne Ausnahme unterworfen; es sollte eine gleichmäßige Belastung aller Steuerzahler entsprechend ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit sichergestellt werden9. Bei dem Solidaritätszuschlag auf der Grundlage des SolZG 1991 handelte es sich um eine befristete Ergänzungsabgabe gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, die ohne Ausnahme von jedem Lohn-/Einkommen- bzw. Körperschaftsteuerpflichtigen erhoben wurde und die zur Deckung des vorübergehend erhöhten Finanzbedarfs des Bundes verwendet wurde. Dieser erhöhte Finanzbedarf resultierte auch, aber nicht ausschließlich aus den zu erbringenden Aufgaben in den neuen Bundesländern. 3

So die Begründung im Gesetzesentwurf, BT-Drucks. 12/220, S. 1 (1, 6). BT-Drucks. 12/220, S. 1 (6). 5 BT-Drucks. 12/220, S. 1 (6). 6 BT-Drucks. 12/220, S. 1 (6). 7 BGBl. 1993 I, S. 1318 (1318); vgl. insoweit auch den Gesetzesentwurf, BT-Drucks. 12/ 220, S. 1 (3 f.). 8 BT-Drucks. 12/220, S. 1 (6); der Gesetzgeber erwartete aus diesen Gründen auch keine Beeinträchtigung von Leistungswillen und Investitionstätigkeit. 9 BT-Drucks. 12/220, S. 1 (6). 4

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Eine Verfassungsbeschwerde gegen das SolZG 1991/1992 wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen10. Allerdings ließ das Gericht in der Entscheidung keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Solidaritätszuschlag um eine Ergänzungsabgabe i.S.v. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG handelt11. 2. Der Solidaritätszuschlag als ein Baustein der Finanzierung der Wiedervereinigung Seit dem Jahr 1995 wird erneut und nunmehr zeitlich unbeschränkt12 ein Solidaritätszuschlag13 erhoben; dieser ist im SolZG 1995 enthalten, das wiederum einen Bestandteil des „Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG)“ vom 23. Juni 199314 darstellte. Im Jahr 1993 erachtete der Gesetzgeber die Anpassung von Staat und Wirtschaft an die veränderten Bedingungen und Aufgaben nach Herstellung der Einheit als wichtigste wirtschafts- und finanzpolitische Aufgabe in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sollte das FKPG ein Konzept umfassen, durch das die notwendige Anpassung im staatlichen Bereich vollzogen werden sollte15. Dabei verfolgte das „Föderale Konsolidierungsprogramm“ vier Ziele, nämlich die dauerhafte Finanzierung des Aufholprozesses in Ost-Deutschland, die Bewältigung der Erblastschulden der sozialistischen Herrschaft in der ehemaligen DDR, die gerechte Verteilung der daraus resultierenden Finanzierungslasten auf die öffentlichen Haushalte sowie die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte als Grundlage einer gesunden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung16. Zur Abdeckung der im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung entstandenen finanziellen Belastungen wollte der Gesetzgeber mit Hilfe des FKPG vielfältige Maßnahmen ergreifen, insbesondere Ausgabeneinsparungen auf allen staatlichen Ebenen, Abbau von Steuervergünstigungen und allgemeine Einnahmeverbesserungen17. Zu dieser letzten Kategorie ist auch die auf der Grundlage des SolZG durch10

BVerfG, NJW 2000, 797 f. BVerfG, NJW 2000, 797 (798); zuvor hatte bereits der BFH das SolZG 1991 für verfassungsgemäß erachtet, vgl. BFH, NJW 1992, 2654 ff.; anders dagegen Wagner, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Solidaritätszuschlages, BB 1992, 2043 ff., der eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage für den Solidaritätszuschlag von 1991/1992 ausdrücklich verneint. 12 Drenseck, in: Schmidt (Hrsg.), EStG, 30. Aufl., 2011, § 51a EStG, Rn. 4. 13 Gesetzliche Grundlage: Solidaritätszuschlaggesetz 1995 (SolZG 1995) in der Fassung vom 15. 10. 2002 (BGBl. 2002 I, S. 4130), zul. geändert d. Art. 31 JStG 2010 vom 08. 12. 2010 (BGBl. 2010 I, S. 1768). 14 Dort Art. 31, BGBl. 1993 I, S. 944 (975 f.); Gesetzesentwurf mit Begründung: BTDrucks. 12/4401, S. 1 ff. (dort noch Art. 34). 15 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (1). 16 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (45). 17 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (4). 11

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geführte und sich am Vorbild des Solidaritätszuschlages von 1991/199218 orientierende Einführung des Solidaritätszuschlages ab dem Jahr 1995 zu zählen, der alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit belasten sollte19. Die endgültige Höhe des Solidaritätszuschlages wurde in dem Gesetzesentwurf freilich ausdrücklich von der Bereitschaft der alten Bundesländer abhängig gemacht, welchen Beitrag diese zur Finanzierung der deutschen Einheit leisten mögen20. Das SolZG 1995 stellt mithin lediglich eine von insgesamt 40 im FKPG vom 23. Juni 199321 enthaltenen Maßnahmen dar, die zur Abdeckung der im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung entstandenen finanziellen Belastungen ergriffen wurden22. Von den drei Abschnitten des Gesetzes – den Einschränkungen von Ausgaben, den steuerlichen Maßnahmen und der „Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands“23 – ist das SolZG 1995 dem Abschnitt 2, den steuerlichen Maßnahmen, zugeordnet24 und damit auch systematisch von den im dritten Abschnitt geregelten Maßnahmen zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und der Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands deutlich getrennt. Das Gesetz machte damit deutlich, dass der Gesetzgeber zur Sicherung der erforderlichen Einnahmen in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden jedenfalls auch steuerliche Maßnahmen für unausweichlich hielt25 ; dabei wurde die Wiedereinführung eines Solidaritätszuschlages ab dem Jahr 1995 als ein „unausweichliches solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen zur Finanzierung der Vollendung der Einheit Deutschlands“ angesehen26. Der Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle Steuerpflichtigen mit Wirkung zum 1. Januar 1995 erschien der Bundesregierung auch unter dem Aspekt der Steuergerechtigkeit als der richtige Lösungsweg, der alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit belastet27. Freilich hatte der Gesetzgeber bereits indirekt in der Begründung des Gesetz-

18

Hierzu BT-Drucks. 12/220, S. 1 ff. BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (5). 20 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (5). 21 BGBl. 1993 I, S. 944 ff. 22 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (4); Rohde/Geschwandtner, Ist das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995 verfassungswidrig?, NJW 2006, 3332 (3334), die auch auf eine fehlende Verwendungsbindung in der Gesetzesbegründung hinweisen. 23 Siehe Inhaltsverzeichnis BGBl. 1993 I, S. 944 (944 f.); sehr ähnlich bereits der Gesetzesentwurf, der in der inhaltlichen Aufteilung der Abschnitte ebenso gefasst ist, vgl. BTDrucks. 12/4401, S. 1 (8 f.). 24 BGBl. 1993 I, S. 944 (945, 975): Art. 31. 25 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (50). 26 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (51). 27 BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (51). 19

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entwurfs zum Ausdruck gebracht, dass der Solidaritätszuschlag auch wieder abgeschafft werden könnte („mittelfristig zu überprüfen“28). 3. Die Höhe des Solidaritätszuschlags Gemäß § 3 SolZG dient als Bemessungsgrundlage für die Höhe des Solidaritätszuschlags die bei der Veranlagung zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer festgesetzte Steuer; es handelt sich beim Solidaritätszuschlag somit um eine Jahresergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer29 und damit um eine Steuer i.S.d. § 3 Abs. 1 AO30. Konkret beträgt der Solidaritätszuschlag der Höhe nach 5,5 % der Bemessungsgrundlage (§ 4 SolZG31). Die Bemessungsgrundlage beträgt derzeit 972 Euro bei Einzelveranlagung und 1944 Euro bei Zusammenveranlagung, d. h., erst wenn mehr als dieser Betrag an jährlicher Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer zu entrichten ist, wird von dem die Bemessungsgrundlage überschießenden Betrag der Solidaritätszuschlag berechnet; Einzelheiten hierzu sind in § 3 SolZG enthalten. Dies bedeutet, dass natürliche Personen, die weniger als 972 Euro (bzw. als Ehepaar 1944 Euro) Einkommensteuer pro Jahr zahlen, auch keinen Solidaritätszuschlag entrichten müssen; es existiert für Geringverdiener mithin eine sog. „Null-Zone“32, die flankiert wird durch einen Übergangsbereich mit abgemilderter Ergänzungsabgabe (§ 4 SolZG)33. Der Solidaritätszuschlag bzw. das SolZG ist verfassungsgemäß, da das Bundesverfassungsgericht durch einen ohne Begründung erlassenen Kammerbeschluss vom 11. Februar 2008 eine entsprechende Verfassungsbeschwerde, die vom Bund der Steuerzahler34 unterstützt worden war, nicht zur Entscheidung angenommen hat35. Zuvor hatte bereits der 7. Senat des Bundesfinanzhofes den Solidaritätszu-

28

BT-Drucks. 12/4401, S. 1 (51). So auch BFH, DStR 2006, 1362 (1362); Drenseck, in: Schmidt (Fn. 12), § 51a EStG, Rn. 5, 6; Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), EStG, 10. Aufl., 2011, § 51a EStG, Rn. 5 m.w.N. Vgl. auch § 1 Abs. 1 SolZG. 30 Drenseck, in: Schmidt (Fn. 12), § 51a EStG, Rn. 5. 31 Seit 1998; zuvor lag die Höhe bei 7,5 %, hierzu Drenseck, in: Schmidt (Fn. 12), 27. Aufl., 2008, § 51a EStG, Rn. 7. 32 Drenseck, in: Schmidt (Fn. 12), § 51a EStG, Rn. 7; diese Ausgestaltung befand auch das BVerfG für zulässig, vgl. BVerfGE 32, 333 (339), insbesondere auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfGE 32, 333 (343). 33 Drenseck, in: Schmidt (Fn. 12), § 51a EStG, Rn. 7. 34 s. hierzu die ausführliche Argumentation des Bundes der Steuerzahler zur Ergänzung der Verfassungsbeschwerde bei Schemmel, Verfassungswidriger Solidaritätszuschlag – unzumutbar und unzulässig, hrsg. vom Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e.V., 2008. 35 BVerfG, zitiert nach juris, abgedruckt in: DStZ 2008, 229; vgl. hierzu die gleichlautende Pressemitteilung auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts. 29

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schlag insbesondere unter dem Aspekt der fehlenden Befristung für verfassungsgemäß erachtet36. 4. Der Solidaritätszuschlag in steuersystematischer Hinsicht Nach ganz einhelliger Meinung handelt es sich beim Solidaritätszuschlag um eine Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG37. Im Gegensatz z. B. zur Ökosteuer ist der Solidaritätszuschlag somit nicht als sog. Zwecksteuer ausgestaltet, da der Gesetzgeber mit dem SolZG 1995 weder ein besonderes Lenkungsziel verfolgt noch normativ festlegt, wofür das Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag ganz bzw. teilweise konkret verwendet werden soll38. Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, handelt es sich um ein solidarisches Opfer aller Bevölkerungsgruppen in Ost und West zur Bewältigung finanzieller Herausforderungen, nicht dagegen um eine Solidarisierung der in Westdeutschland Lebenden gegenüber den in Ostdeutschland Lebenden in Form einer umfangreichen und transparenten finanziellen Förderung39 ; eine solche Interpretation des Solidaritätszuschlags entspricht weder den Motiven des Gesetzgebers noch dem Wortlaut des SolZG 1995. Die Tatsache, dass der Solidaritätszuschlag eine Bundessteuer darstellt, hat zur Folge, dass ihr Ertrag – ebenso wie der der in Art. 106 Abs. 1 GG aufgezählten weiteren Steuern – allein dem Bund zusteht40. Die in Art. 106 Abs. 1 GG aufgeführten Steuern sind dadurch gekennzeichnet, dass sie entweder eine besondere Verknüpfung zu den Aufgaben des Bundes besitzen oder aber wegen ihrer Gestaltungswirkung in erster Linie für den Bund von Bedeutung sind41. In diese Vorgabe fügt sich ein, dass die Ergänzungsabgabe Solidaritätszuschlag vornehmlich als subsidiäres Finanzierungsmittel zur Deckung eines anderweitig nicht auszugleichenden Fehlbedarfs des Bundeshaushalts und somit als Elastizitätsfaktor für außerordentliche Situationen bzw. als Alternative zu einer (in der gegebenen Situation nicht erreichbaren) Revision der Steuerverteilung zugunsten des Bundes (Art. 106 Abs. 4 GG) vorgesehen ist42. Voraussetzung für die Erhebung der Ergänzungsabgabe 36

BFH, DStR 2006, 1362 ff. So z. B. Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 106, Rn. 7 m.w.N.; Kirchhof, in: ders. (Fn. 29), § 51a EStG, Rn. 5 m.w.N.; Rohde/Geschwandtner (Fn. 22), 3332 (3333); Pieroth, in: Jarass/ders., GG, 11. Aufl., 2011, Art. 106, Rn. 4b m.w.N.; Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 106, Rn. 21. 38 Rohde/Geschwandtner (Fn. 22), 3332 (3333). 39 Rohde/Geschwandtner (Fn. 22), 3332 (3333). 40 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 106, Rn. 4 m.w.N.; Schwarz, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl., 2010, Art. 106, Rn. 42; Heintzen, in: von Münch/Kunig (Fn. 37), Art. 106, Rn. 21. 41 Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 40), Art. 106, Rn. 42 m.w.N.; Heintzen, in: von Münch/Kunig (Fn. 37), Art. 106, Rn. 15. 42 Heintzen, in: von Münch/Kunig (Fn. 37), Art. 106, Rn. 21. 37

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ist eine konkrete Deckungslücke im Bundeshaushalt oder ein besonderer, üblicherweise befristeter Deckungsbedarf des Bundes43. Ergänzungsabgaben nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, mithin auch der Solidaritätszuschlag, sind akzessorisch zu der auf Dauer angelegten Einkommen- und Körperschaftsteuer44. Sie dürfen grundsätzlich nicht zur Aushöhlung dieser Steuern führen, da es sich hierbei um Gemeinschaftsteuern gemäß Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG handelt45; eine zeitliche Befristung ist hingegen nicht notwendig46. Das Bundesverfassungsgericht geht vielmehr sogar davon aus, dass bereits die Funktion der Ergänzungsabgabe im gesamten Steuersystem, nämlich die Deckung eines zusätzlichen Finanzbedarfs des Bundes bei gleichzeitiger Vermeidung der Erhöhung der Verbrauchssteuern, gegen einen lediglich kurzen Erhebungszeitraum spricht47. Auch gibt das Bundesverfassungsgericht in der aus dem Jahr 1972 datierenden Entscheidung in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass ein „statisches Haushaltsdenken“ überholt sei und daher die Finanzplanung den Zielen der Gesellschafts-, Wirtschaftsund Sozialpolitik fortlaufend angepasst werden müsse48. So könnten sich während des Laufs der Ergänzungsabgabe für den Bund auch neue Aufgaben ergeben, für deren Erfüllung die bei der allgemeinen Verteilung des Steueraufkommens zur Verfügung stehenden Einnahmen nicht ausreichten, so dass die erneute Einführung der Ergänzungsabgabe und damit auch die Fortführung einer bereits bestehenden gerechtfertigt wäre49. Grundsätzlich gehöre es zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zu entscheiden, welche Aufgaben bzw. Reformmaßnahmen in Angriff genommen werden sollen und wie diese finanziert werden sollen50. Die Frage, ob ein verfassungsrechtlicher Zwang zur Aufhebung einer Ergänzungsabgabe besteht, wenn die Voraussetzungen für die Erhebung der Ergänzungsabgabe evident entfallen, ließ das Gericht in der Entscheidung ausdrücklich offen51.

5. Die Einführung und Abschaffung von Ergänzungsabgaben Die Gesetzgebungshoheit für Steuern im Bundesstaat regelt Art. 105 GG. Mit dieser Regelung verbunden ist die Entscheidung über die Frage, welcher föderalen Einheit die Zuständigkeit über die Einführung, Abschaffung und Ausgestaltung über Steuern zusteht, einschließlich der Steuersätze52. Dabei ist die Tatsache, dass die Ge43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Heintzen, in: von Münch/Kunig (Fn. 37), Art. 106, Rn. 21. Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 106, Rn. 7. Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 106, Rn. 7. So schon BVerfGE 32, 333 (340); Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 106, Rn. 7 m.w.N. BVerfGE 32, 333 (340). BVerfGE 32, 333 (342). BVerfGE 32, 333 (342 f.). BVerfGE 32, 333 (343). BVerfGE 32, 333 (343). Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 1.

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setzgebungshoheit (insbesondere Art. 105 GG) nicht mit der Ertragshoheit übereinstimmt, charakteristisch für das finanzverfassungsrechtliche Konzept des Grundgesetzes53. Beim Solidaritätszuschlag handelt es sich um eine Ergänzungsabgabe i.S.d. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, dessen Aufkommen zu 100 % dem Bund zusteht54. Dem Bund obliegt daher insoweit gemäß Art. 105 Abs. 2 1. Alt. GG die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis, von der er mit dem SolZG 1995 auch Gebrauch gemacht hat. Mit der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz seitens des Bundes verlieren die Länder aufgrund der bei Gleichartigkeit der Steuer bestehenden Sperrwirkung ihre Kompetenz zum Erlass eines entsprechenden Steuergesetzes. Da das Aufkommen aus dem SolZG 1995 vollständig dem Bund zusteht, bedurfte es im Übrigen auch keiner Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 105 Abs. 3 GG. Dass der Bundesrat dennoch der Einführung des Solidaritätszuschlages im Jahr 1995 zugestimmt hat, lag in dem Umstand begründet, dass das SolZG 1995 Teil des erwähnten FKPG war55. Da der Ertrag der in Art. 106 GG genannten Steuern verfassungsrechtlich nicht garantiert ist und die in der Bestimmung genannten Steuern nicht erhoben werden müssen56, umschließt die Gesetzgebungskompetenz auch das Recht, eine Steuer abzuschaffen57. Hat der Bundesgesetzgeber eine Steuer ersatzlos aufgehoben, sind insbesondere die Länder nicht berechtigt, diese Steuer einzuführen58. So kann der Bundesgesetzgeber z. B. aus Gründen der Konjunkturpolitik oder aus Zweckmäßigkeitserwägungen Steuern abschaffen; er übt damit sein Gesetzgebungsrecht aus und schließt damit zugleich die Länder von der Gesetzgebung aus59. Bei einer ersatzlosen Aufhebung eines Steuergesetzes ist mangels gegenteiliger Anhaltspunkte im Gesetz daher auch davon auszugehen, dass die Steuer nicht mehr erhoben werden soll60. Im Ergebnis haben daher die Länder insgesamt bzw. einzelne Länder keine Möglichkeit, auf Landesebene für Steuern Ersatz zu schaffen, wenn der Bund eine Steuer abschafft und ihre Wiedereinführung auf Landesebene ausschließt61.

53

Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 2 f. Beim Solidaritätszuschlag handelt es sich aber weder um einen Zoll noch um ein Finanzmonopol des Bundes, so dass eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Art. 105 Abs. 1GG nicht besteht. 55 Rohde/Geschwandtner (Fn. 22), 3332 (3333). 56 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 55 m.w.N. und den evtl. notwendigen Einschränkungen, die jedoch die Ergänzungsabgabe nicht betreffen. 57 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 55. 58 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 29 m.w.N. 59 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 29. 60 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 29 m.w.N. 61 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 105, Rn. 61. 54

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Da der Solidaritätszuschlag zu 100 % dem Bund zufließt und der Bund insoweit mit dem SolZG 1995 von seiner ihm zustehenden konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat, kann er diese Ergänzungsabgabe daher jederzeit auch wieder (ersatzlos) abschaffen oder aussetzen. Aus der Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt mit anderen Worten auch dessen Recht zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Aufgrund fehlender Befristung bzw. Zweckbindung im SolZG wäre eine Abschaffung oder (zeitweise) Aussetzung des Solidaritätszuschlags seitens des Bundes mithin jederzeit möglich, ohne dass weitere rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Insbesondere wären nach Abschaffung bzw. im Fall der Aussetzung des Solidaritätszuschlages auch die Länder vom Erlass eines entsprechenden Gesetzes zur Erhebung eines entsprechenden Zuschlages ausgeschlossen. Aus dem Gesagten folgt zunächst, dass es dem Bund unbenommen wäre, die Erhebung des Solidaritätszuschlages im Falle eines ausgeglichenen Haushalts auszusetzen und damit ein politisches Signal zu setzen. Dabei wäre freilich zu berücksichtigen, dass sich die Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages vor allem für diejenigen Bürger bemerkbar machen würde, die der Lohn-/Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht unterliegen. Es wäre mit anderen Worten bei einer Aussetzung der politische Einwand zu vergegenwärtigen, dass sich diese für Personen auszahlen würde, die jährlich mehr als 972 Euro (bzw. als Ehepaar 1944 E) Einkommensteuer zahlen; diese Bürger würden von einem höheren Nettoeinkommen bei unverändertem Bruttoeinkommen profitieren, nicht hingegen Geringverdiener, die schon jetzt keinen bzw. nur einen geringen Solidaritätszuschlag zahlen („Null-Zone“, Übergangsbereich). Der Gesetzgeber müsste sich im Falle der Aussetzung des Solidaritätszuschlages mithin dem politischen Einwand stellen, dass Nutznießer einer solchen Aussetzung vornehmlich Besserverdienende wären – auch wenn dieser Personenkreis freilich derjenige ist, der einen wesentlichen Anteil der Steuereinnahmen erwirtschaftet. Zudem könnte einer solchen Aussetzung entgegen gehalten werden, dass sie aufgrund der finanziellen Größenordnung des Solidaritätszuschlages möglicherweise durch anderweitige Steuererhöhungen aufgefangen werden müsste – ein Argument, das wiederum mit dem Argument entkräftet werden könnte, dass die Aussetzung des Solidaritätszuschlags einen ersten Schritt hin zu „Mehr Netto vom Brutto“ bedeuten würde.

III. Die Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Bundeshaushalt Wollte man nun, so der Gedanke, die Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages an das Vorliegen eines ausgeglichenen Bundeshaushalts anbinden, so könnte sowohl an die Feststellung eines ausgeglichenen Haushalts als auch an den von der Bundesregierung vorzulegenden Haushaltsplan und das auf dieser Grundlage vom Bundestag zu beschließende Haushaltsgesetz angeknüpft werden.

Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt

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1. Ein denkbarer Weg: Die Anbindung der Aussetzung des Solidaritätszuschlags an die Feststellung eines ausgeglichenen Haushalts Eine erste Variante bestünde darin, die Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages an die Abrechnung mit Rechnungsprüfung und Entlastung anzubinden, die in Art. 114 GG geregelt ist. Danach hat der Bundesminister für Finanzen Bundestag und Bundesrat über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden des Bundes zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen, und zwar im Laufe des nächsten Rechnungsjahres (Art. 114 Abs. 1 GG). Der Bundesrechnungshof prüft die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung (Art. 114 Abs. 2 GG). Bei dieser Variante wäre sichergestellt, dass die Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages nur dann erfolgen würde, wenn ein ausgeglichener Haushalt tatsächlich nachgewiesen ist. Der – erhebliche – Nachteil dieser Variante bestünde indes darin, dass die Feststellung eines ausgeglichenen Haushalts und die daran anknüpfende Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages in zeitlicher Hinsicht erheblich auseinander klaffen würden, was durch die nachfolgenden Ausführungen deutlich wird. a) Die Rechnungslegung durch den Bundesfinanzminister Durch die Rechnungslegung wird der Vollzug des Haushalts dargestellt62. Dabei müssen Einnahmen und Ausgaben des Bundes mittels geordneter schriftlicher Aufzeichnungen ebenso dokumentiert werden wie der Umfang der Ausschöpfung des Haushalts sowie die Entwicklung des Vermögens und der Schulden des Bundes63. Belegt wird der Haushaltsvollzug daher durch Buchführung (§§ 71 bis 75 BHO). Die Rechnungslegung hat stets jährlich zu erfolgen; dies gilt auch für mehrjährige Haushalte64. Spätester Zeitpunkt hierfür ist der Ablauf des auf die Rechnungsperiode folgenden Rechnungsjahres, wie sich aus dem Wortlaut des Art. 114 Abs. 1 GG a.E. ergibt. Allein dem Bundesminister für Finanzen obliegt die Pflicht zur Rechnungslegung65. Adressat der Rechnungslegung sind Bundestag und Bundesrat, welche beide gesondert Entlastung erteilen.

62

Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 114, Rn. 5 m.w.N. Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 114, Rn. 5 m.w.N. 64 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 114, Rn. 8 m.w.N. 65 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 114, Rn. 9 m.w.N.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl., 2008, Art. 114, Rn. 16. 63

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b) Die Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof Bevor die Entlastung durch den Bundestag und den Bundesrat erfolgt, findet freilich zunächst im Anschluss an die Rechnungslegung die Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof statt66. Der Bundesrechnungshof übt zudem umfassend die Funktion der Finanzkontrolle aus67. Die Ergebnisse der Rechnungsprüfung werden in einem Bericht (§ 97 BHO) niedergelegt, der den Abschluss der jährlichen Rechnungsprüfung bildet; zur Erstattung des Berichts ist der Bundesrechnungshof rechtlich verpflichtet (Art. 114 Abs. 2 Satz 2 GG, § 46 HGrG, § 97 BHO). Allerdings sind weder die Schlussfolgerungen noch die Empfehlungen des Bundesrechnungshofs aus der Rechnungsprüfung rechtsverbindlich und daher auch nicht unmittelbar durchsetzbar; vielmehr sind die Kontrollergebnisse auf die Umsetzung durch Parlament und Exekutive angewiesen68. Diese rechtliche Sanktionslosigkeit der Entscheidungen des Bundesrechnungshofs stellt das notwendige Korrelat seiner so umfassenden Kontrollkompetenzen dar69. c) Die Entlastung durch Bundestag und Bundesrat (Art. 114 Abs. 1 GG) Nach der Berichterstattung an die Bundesregierung gemäß § 97 BHO beginnt die parlamentarische Rechnungsprüfung, welche selbst nur einen Teilvorgang innerhalb der fortlaufenden Beobachtung und Kontrolle des Haushaltsvollzuges darstellt. Dabei dient die durch den Rechnungsprüfungsausschuss als Unterausschuss des Haushaltsausschusses durchgeführte Finanzkontrolle hauptsächlich der Integration der Kontrollergebnisse in den budgetären Entscheidungsprozess70. Erst die eigentliche Entlastung schließt den Haushaltszyklus formal ab, wobei die Entlastung grundsätzlich gleichberechtigt und selbständig durch Bundestag und Bundesrat erfolgt; allerdings tritt in der Praxis der Bundesratsbeschluss gänzlich zurück71. Der Bundestag erteilt die Entlastung durch Parlamentsbeschluss, wobei die Entlastung der gesamten Bundesregierung (des betreffenden Rechnungsjahres) insgesamt zu erteilen ist72.

66 67 68 69 70 71 72

Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 18. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 18. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 31. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 31 m.w.N. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 32 m.w.N. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 33 m.w.N. Heun, in: Dreier (Fn. 65), Art. 114, Rn. 33 m.w.N.

Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt

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d) Folgerungen für eine Aussetzung des „Soli“ Da die Feststellung eines ausgeglichenen Haushalts nach Abschluss des Rechnungsjahres erfolgt, kann wohl nur in seltenen Fällen bereits in dem auf das zu beurteilende Rechnungsjahr folgenden Rechnungsjahr eine parlamentarische Entlastung erfolgen. Dies folgt bereits aus dem Recht des Bundesfinanzministers, bis zum Ablauf des nächsten Rechnungsjahres die Rechnungslegung für das abgeschlossene Rechnungsjahr vorzunehmen (Art. 114 Abs. 1 GG); erst hieran schließen sich aber die Rechnungsprüfung und die Entlastung an. Mit Blick auf das Vorhaben, die Erhebung des Solidaritätszuschlages bei einem ausgeglichenen Haushalt auszusetzen, hat dies indes erhebliche Probleme bei der praktischen Umsetzung zur Folge, wie die beiden nachfolgend dargestellten Varianten verdeutlichen. aa) Variante 1 In einer ersten Variante könnte die Erhebung des Solidaritätszuschlages zunächst ausgesetzt, faktisch mithin gestundet werden. Dies wäre prinzipiell bereits im laufenden Steuerjahr möglich, da es sich insoweit um eine Begünstigung des Steuerzahlers handeln würde. Allerdings würde bei einer später festgestellten Neuverschuldung ein Nachzahlungsanspruch des Bundes gegenüber dem Steuerzahler entstehen, der freilich erst nach Abschluss des Steuerjahres, in dem die Erhebung des Solidaritätszuschlages ausgesetzt wurde, abschließend festgestellt werden könnte. Dem Einwand, dass es sich insoweit um einen Fall der echten Rückwirkung handeln könnte, ließe sich dann entgegen halten, dass der Steuerzahler mit einer solchen rückwirkenden Erhebung rechnen musste, mithin der notwendige Vertrauensschutz fehlte und damit selbst eine echte Rückwirkung zulässig wäre. bb) Variante 2 Die zweite Variante könnte ein im SolZG verankerter Erstattungsanspruch darstellen, d. h. die Steuerpflichtigen würden zunächst wie bisher den Solidaritätszuschlag zahlen. Würde sich dann aber bei der Feststellung des ausgeglichenen Haushalts herausstellen, dass eine Neuverschuldung für das betreffende Rechnungsjahr tatsächlich nicht notwendig gewesen, der Haushalt mithin ausgeglichen ist, bekämen die Steuerzahler den bereits gezahlten Solidaritätszuschlag wieder zurück. Dieses System ähnelt der jetzigen Erstattung zu viel gezahlter Steuern nach Abgabe und Bearbeitung der Steuererklärung durch das Finanzamt. Denkbar wäre insoweit die Beantragung der Rückzahlung des Solidaritätszuschlages mittels eines entsprechenden Formulars, das der Steuererklärung beizufügen wäre. Der Vorteil für den Fiskus läge darin, dass er zunächst den Solidaritätszuschlag von den Steuerpflichtigen erheben könnte und ihn nur unter der Voraussetzung eines ausgeglichenen Haushalts – freilich zinsfrei – an den Steuerpflichtigen zurückzahlen müsste, der

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Nachteil in der Tatsache, dass der Steuerbescheid des Finanzamts nur unter Vorbehalt erlassen werden könnte. cc) Die Untauglichkeit beider Varianten Beide Ausgestaltungen sind daher letztlich nicht wirklich praktikabel. Denn auch wenn die erste Variante mit der Verfassung vereinbar wäre, so hätte sie doch zur Folge, dass der Steuerzahler im Falle eines Nachzahlungsanspruchs des Bundes erst zwei bis drei Jahre nach Entstehen der Steuerpflicht zu einer rückwirkenden Zahlung aufgefordert werden würde – was weder sonderlich glücklich noch wirklich praktikabel erscheint. Vor allem aber bei der zweiten Variante würde sich das Problem des Grundsatzes der Vollständigkeit des Haushalts gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG stellen, da der Solidaritätszuschlag zunächst als Einnahme des Bundes verbucht werden müsste. Erst nach Entlastung und Feststellung des ausgeglichenen Haushalts könnten die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag aus dem abgeschlossenen Haushalt wieder „herausgenommen“ und dem Steuerschuldner zurückerstattet werden. Zudem bestünde eine weitere Schwierigkeit darin, dass die Feststellung des ausgeglichenen Haushalts zunächst unter Einbeziehung des Solidaritätszuschlages vorgenommen wird, die Rückzahlung des Solidaritätszuschlags indes zu einem – nachträglichen – Haushaltsdefizit in Höhe des Rückzahlungsbetrages führen würde, das bei ca. 10 bis 12 Mrd. Euro pro Jahr73 liegen dürfte. Es wäre damit gerade die Rückzahlung des Solidaritätszuschlages, die einen unausgeglichenen Haushalt zur Folge haben würde, so dass damit die „Geschäftsgrundlage“ für die Aussetzung des Solidaritätszuschlages – nämlich die Feststellung eines ausgeglichenen Haushaltes – wieder entfiele. Um dies zu umgehen, müsste daher die Aussetzung des Solidaritätszuschlages auf einen Haushalt abstellen, in dem der Solidaritätszuschlag als Einnahme gar nicht berücksichtigt ist. Dies wiederum wäre ohne eine Modifikation der Rechnungslegung durch den Bundesfinanzminister kaum möglich. 2. Ein zweiter Weg: Die Anbindung der Aussetzung an den Haushaltsplan und das Haushaltsgesetz Die zweite Ausgestaltung der Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt könnte darin bestehen, dass nicht an die Feststellung eines ausgeglichenen Haushalts angeknüpft wird, sondern an den durch das Haushaltsgesetz festgestellten Haushaltsplan.

73 Vgl. die Auflistung des Bundes der Steuerzahler e.V. unter: http://www.steuerzahler.de/ Einnahmen-aus-dem-Solidaritaetszuschlag/19922c23264i1p426/index.html.

Aussetzung des Solidaritätszuschlags bei ausgeglichenem Staatshaushalt

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Der Bundeshaushaltsplan ist ein „Wirtschaftsplan und zugleich staatsleitender Hoheitsakt“74, der die Grundlage der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes bildet75. Er unterliegt dem Grundsatz der Vollständigkeit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG), was insbesondere bedeutet, dass das Steueraufkommen ausnahmslos einzusetzen ist76; Einnahme- und Ausgabekreisläufe außerhalb des Budgets sind mithin unzulässig77. Mit Blick auf die nach Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG bestehende verfassungsrechtliche Vorgabe, dass Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsplan formal ausgeglichen sein müssen, wäre es daher vorstellbar, die Erhebung des Solidaritätszuschlages für das von dem Haushaltsplan umfasste Haushaltsjahr dann auszusetzen, wenn ein Haushaltsausgleich ohne die Aufnahme von Krediten im Haushaltsplan vorgesehen ist, oder, weniger streng, wenn der Haushaltsplan zwar eine Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten enthält, die den Vorgaben des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 GG gerecht wird, indes nicht die Ausnahmemöglichkeit nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG in Anspruch genommen wird, mithin keine Kredite zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufgenommen werden. Die Aussetzung der Erhebung des Solidaritätszuschlages würde somit an das Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 bis 4 GG), das als förmliches Bundesgesetz ergeht, anknüpfen; dies würde wegen Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG vor dem Beginn des betreffenden Rechnungsjahres erfolgen. Dabei könnte die Aussetzung beispielsweise in einem Begleitgesetz zum den Haushaltsplan feststellenden Haushaltsgesetz erfolgen. In diesem Zusammenhang müsste freilich unberücksichtigt bleiben, dass während des Haushaltsjahres ggf. überplanmäßige oder außerplanmäßige Ausgaben getätigt werden – was letztlich bedeuten würde, dass bei dieser Art der Ausgestaltung eine nachträgliche Ausgabenüberschreitung im laufenden Haushaltsjahr nicht ausgeschlossen werden könnte. In einem solchen Fall dann dazu überzugehen, den Solidaritätszuschlag im laufenden Haushaltsjahr wieder einzufordern, würde indes politisch kaum durchzusetzen sein.

IV. Fazit Der Gedanke, die Erhebung des Solidaritätszuschlags bei einem ausgeglichenen Staatshaushalt auszusetzen, ist zu schön, um wahr werden zu können. Auch wenn der Gedanke auf den ersten Blick eine gewisse Faszination ausstrahlt, so haben die Ausführungen doch deutlich gemacht, dass die Aussetzung des Solidaritätszuschlags zwar auf keine unüberwindbaren verfassungsrechtlichen Probleme, indes auf letztlich unüberwindbare Praktikabilitätshindernisse stoßen würde; die in der politischen 74

BVerfGE 79, 311 (328); Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 37), Art. 110, Rn. 2 m.w.N. Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 37), Art. 110, Rn. 2. 76 Siekmann, in: Sachs (Fn. 37), Art. 110, Rn. 48 ff. m.w.N.; Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 37), Art. 110, Rn. 3 m.w.N. 77 Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 37), Art. 110, Rn. 3 m.w.N. 75

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Diskussion immer wieder geforderte Verringerung oder vollständige Aufhebung des Solidaritätszuschlages wäre daher sicherlich die bessere Variante. Hinzu kommt schließlich gerade in Zeiten der europäischen Wirtschafts- und Währungskrise die Erkenntnis, dass der Bund, selbst wenn er einen ausgeglichenen Haushalt verwirklichen könnte, auf das Aufkommen des Solidaritätszuschlages letztlich wohl nicht verzichten kann. Fazit der Überlegungen also: Außer Spesen nichts gewesen!

Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten Von Peter M. Huber

I. Bestandsaufnahme: Keine allgemeine Gleichsetzung von unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung 1. Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in Deutschland beruht auf der durch Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG geprägten Vorstellung, dass die Grundrechte in erster Linie im Status negativus angesiedelte Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat bzw. der öffentlichen Gewalt sind. Mit dem Lüth-Urteil vom 15. Januar 19581 tritt dann die Vorstellung hinzu, dass die Grundrechte auch eine objektive Wertordnung bilden und als Elemente objektiver Ordnung auch auf die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten ausstrahlen, also eine (nur) mittelbare Drittwirkung entfalten. 2. Auch der Europäische Gerichtshof behandelt Grundrechte und Grundfreiheiten in erster Linie als gegen die öffentliche Gewalt – die Organe und die Mitgliedstaaten – gerichtete Garantien, wobei die Inpflichtnahme der Mitgliedstaaten die der Organe etwas überwiegt. Eine unmittelbare Drittwirkung bzw. horizontale Wirkung hat er im Bereich der klassischen Grundrechte bislang nicht,2 im Bereich der Grundfreiheiten vor allem dort bejaht, wo es ein – dem Verhältnis zwischen Einzelnem und Staat vergleichbares – Machtgefälle gibt und sich Regelungen privater Verbände als effektive Hindernisse der Arbeitnehmerfreizügigkeit erwiesen. Soweit der EuGH in den Rs. Walrave (1974),3 Bosman (1995),4 Angonese oder Viking Line5 in Ausnahmefällen auch Verbände in die Pflicht genommen hat, handelt es sich um – natürlich diskussionsbedürftige – Ausnahmen, die jedoch die Regel bestätigen.

1

BVerfGE 7, 198 (205); 25, 256 (263); 42, 143 (148); 73, 261 ff. – st. Rspr. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 18. 3 EuGH, Rs. C-36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 17, 20 ff. (Walrave/Union cyclist). 4 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 82 f. (Bosman). 5 EuGH, Rs. C-28198, Slg. 2000, I-4139, Rn. 31 (Angonese); Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 53 (International Transport WorkersÏ Federation und Finnish SeamenÏs Union („Viking Line“)), sind insoweit die Ausnahme, die die Regel bestätigen. 2

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3. Die Rechtsprechung des EGMR sieht sich schon wegen der prozessualen Ausgangskonstellation – stets geht es nur um die Frage, ob ein Mitgliedstaat den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt6 – praktisch nie mit Fragen der Drittwirkung der in der EMRK verbrieften Grundrechte konfrontiert. Christoph Grabenwarter, einer der besten Kenner der Materie, stellt denn auch lapidar fest: „Ansatzpunkte für eine unmittelbare Drittwirkung sind in keiner Garantie der EMRK zu finden, mag es auch Garantien geben, die dies nahe zu legen scheinen. … Das aber zeigt, dass eine Drittwirkung auch nach der EMRK nur in der Form „mittelbarer Drittwirkung“ besteht, die EMRK wirkt zwischen Privaten vermittelt über die Gesetze“.7

II. Grundlagen der Unterscheidung und ihre Tragfähigkeit 4. Die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und nur mittelbarer Wirkung der Grundrechte beruht auf der kategorialen Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft und ist eine Konsequenz des sog. rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips, wonach privates Handeln, weil grundrechtsgestützt, per se legitim und nicht weiter begründungsbedürftig ist, das Handeln der öffentlichen Hand hingegen stets rechtfertigungsbedürftig. 5. Ob das Unionsrecht dies auch so sieht, erscheint freilich nicht ausgemacht. Soweit ersichtlich, gibt es zwischen den Mitgliedstaaten keinen Konsens darüber, ob die Grundrechte die öffentliche Gewalt in derselben Weise binden wie Private oder ob die in der deutschen Grundrechtsdogmatik kategoriale Unterscheidung zwischen ihrer unmittelbarer Wirkung in den bipolaren Rechtsverhältnissen zwischen Bürger und Staat und ihrer nur mittelbaren (Ausstrahlungs-)Wirkung auf die Rechte und Pflichten in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten auch in der GRCh eine Entsprechung finden muss. Das Thema war Gegenstand des Europäischen Juristentages 2011 in Luxemburg8, und es wurde sehr kontrovers diskutiert. Vor allem der französische Rechtskreis scheint, wie der EuGH, die Grundrechte in erster Linie als allgemeine Rechtsgrundsätze oder Prinzipien zu begreifen, die zwar mit- und untereinander abgewogen werden müssen, es letztlich aber nicht so wichtig ist, ob diese Abwägung vom Gesetzgeber oder vom Richter vorgenommen wird. Vor diesem Hintergrund, vor dem Hintergrund einer eher diffusen Ausstrahlungswirkung allgemeiner Prinzipien, kommt es auf die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung in der Tat nicht entscheidend an.

6 EGMR, EuGRZ 1981, 559 – Young, James und Webster; EGMR, Urteil vom 25. 03. 1993, Serie A, Bd. 247-C, S. 57, Nr. 26 ff. (Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich), sowie Individualbeschwerde Nr. 22860/02 vom 01. 03. 2005, Nr. 60 (Wos´/Polen (Entsch.)). 7 Grabenwarter, EMRK, 4. Aufl., 2009, § 19, Rn. 14. 8 LÜtzebuerger Journal, 20. 05. 2011, „Europas Juristen-Elite diskutiert über Finanzregulierung und Grundrechte“.

Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten

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6. Das gilt letztlich auch für den EGMR, wenn auch in umgekehrtem Sinne. Da es der EGMR im Zweifel mit Entscheidungen nationaler Gerichte zu tun hat, kann er immer an ein den Mitgliedstaaten zurechenbares Handeln anknüpfen. Das gilt auch für zivilrechtliche Streitigkeiten, wie die Rechtssachen Caroline von Hannover9 und Görgülü10 zeigen, die in Deutschland besonders Furore gemacht haben, oder der – das Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit und Privatsphäre betreffende – Konflikt um die „super injunctions“, der das Vereinigte Königreich im Frühjahr 2011 in Atem gehalten hat. All diese Fälle kann der Straßburger Gerichtshof als bipolare Auseinandersetzungen zwischen Bürger und Staat behandeln, obwohl es in der Sache doch um Streitigkeiten zwischen Bürgern geht.

III. Konnexität mit der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht 7. Eng mit der Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer bzw. horizontaler Wirkung der Grundrechte hängt die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht zusammen. Sie ist schon im Corpus Iuris Civilis des Kaisers Iustinian angelegt11 und hat – bei allen Einwänden, die man im Detail gegen sie erheben mag – ebenfalls eine rationalisierende und freiheitssichernde Wirkung. Denn sie ermöglicht es, die spezifischen Bindungen, denen der Staat – die öffentliche Hand – unterworfen ist, zu konkretisieren und in der Rechtspraxis des Alltags erfahrbar zu machen, weil die unmittelbare Wirkung der Grundrechte idealtypisch auf das öffentliche, die mittelbare Wirkung hingegen auf das Privatrecht zugeschnitten ist. Die Fraport-Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG vom 22. Februar 2011 bietet hierfür ein jüngstes und instruktives Beispiel.12 8. Gleichwohl hat auch die an sich kategorische Unterscheidung zwischen öffentlich und privat vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung eingebüßt,13 was vor allem zwei Gründe hat: den über die Jahre (zu) dominierenden Einfluss des Common law auf das Unionsrecht und den Umstand, dass die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat die Durchsetzung des Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit (effet utile) ebenso erschweren kann wie die rechtspolitischer Ziele im nationalen Kontext.

9 BVerfGE 97, 125 ff. – Caroline von Monaco I; 101, 361 ff. – Caroline von Monaco II; 120, 180 ff. – Caroline von Monaco IV; EGMR, NJW 2004, 2647 ff. 10 BVerfGE 111, 307 ff. – Görgülü; EGMR, Urteil vom 26. 02. 2004, Nr. 74969/01, Rn. 37, 26. 11 Liber primus, De iustitia et iure Nr. 4, abgedruckt in Corpus Iuris Civilis, Institutionen, Übersetzung von Behres u. a., 1990, S. 2. 12 BVerfG, DVBl. 2011, 416 ff. 13 Huber, Die Demontage des Öffentlichen Rechts, in: FS für Rolf Stober, 2008, S. 547 ff.

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Aus der Karlsruher Rechtsprechung lassen sich der Glykol-Beschluss14 in diesem Zusammenhang ebenso aufführen wie die Entscheidung zum unterschwelligen Vergaberecht15 oder der Plenarbeschluss vom 30. April 2003, der zwar zum ersten Mal – zu Recht – einen Rechtsschutz auch gegen den Richter anerkannt, ihn jedoch nicht Art. 19 Abs. 4 GG entnommen hat, sondern dem Justizgewährungsanspruch.16 Was den EuGH angeht, so mögen zwei Beispiele genügen: die Entscheidung in der Rs. Mangold17 und die Entscheidung über den Datenschutz im nicht öffentlichen Bereich vom 9. März 2010. In der Rs. Mangold hat der EuGH das ArbG München verpflichtet, die Entscheidung über ein Arbeitsverhältnis u. a. auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Alter zu stützen,18 was in der Sache auf eine unmittelbare Drittwirkung des Altersdiskriminierungsverbotes hinauslief. In der Rs. Kommission/Deutschland ging es um die Unabhängigkeit der Datenschutzüberwachung im nicht öffentlichen Bereich. Einigermaßen überraschend gelangte der EuGH hier zu dem Ergebnis, dass die von der Richtlinie 95/46/EG geforderte „Unabhängigkeit“ der Datenschutzkontrolle nicht, wie es bei der Verabschiedung verstanden worden war, Unabhängigkeit von den zu Überwachenden bedeutete, sondern Unabhängigkeit von der parlamentarisch verantwortlichen Regierung, was – wie das Urteil auch darlegt – auf eine Parallelisierung der Datenschutzkontrolle im öffentlichen und nicht öffentlichen Bereich hinausläuft, obwohl die Funktionen beider doch gänzlich unterschiedlich sind.19 9. In dem Maße, in dem die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat erodiert, geht auch das Verständnis für die spezifische Funktion des Zivilrichters verloren. Unter dem Blickwinkel der EMRK hat sie freilich noch nie eine besondere Rolle gespielt; bedeutungslos ist sie deshalb auch in diesem Kontext nicht. Der Zivilrichter – Gleiches gilt für den Arbeitsrichter – erfüllt eine ganz andere Funktion als Richter in der Straf-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit. Während sie für die Integrität der Rechtsgüter des Einzelnen vor der Bedrohung durch den Leviathan Sorge zu tragen haben, ist der Zivilrichter in erster Linie ein Schiedsrichter, der für einen fairen Interessenausgleich zwischen den Parteien sorgt und nur im Ausnahmefall korrigierend eingreifen und strukturelle

14

BVerfGE 105, 252 (265). BVerfGE 116, 135 (149) – Rechtsschutz im unterschwelligen Vergaberecht. 16 BVerfGE 107, 395 (407 ff.) – Rechtsschutz gegen den Richter I; 108, 341 (347 ff.) – Rechtsschutz gegen den Richter II; krit. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl., 2010, Art. 19 Abs. 4, Rn. 441 f. 17 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold/Helm). 18 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 76 (Mangold/Helm). 19 Näher Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385 (2389). 15

Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten

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Disparitäten zwischen den Parteien kompensieren muss.20 Im Grundgesetz hat das sogar darin Ausdruck gefunden, dass die Verfassung für die Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat ein eigenes Grundrechts, die in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltene Garantie effektiven Rechtsschutzes, vorgesehen hat, während es im Zivil- und Arbeitsrecht mit dem schwächeren, aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleiteten Justizgewährungsanspruch sein Bewenden hat.21

IV. Folgen der Erosion 10. Die Einebnung der miteinander zusammenhängenden Unterscheidungen zwischen unmittelbarer und mittelbarer Grundrechtswirkung sowie zwischen öffentlichem und privatem Recht hat einen hohen Preis. Sie schwächt den Gesetzgeber und reduziert Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen. 11. Verzichtete man auf die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung der Grundrechte, mit der Konsequenz, dass sie grundsätzlich auch in den Rechtsverhältnissen zwischen Privaten gelten, so hätte i. d. R. der Richter im Einzelfall über ihre Grenzen zu entscheiden. Das ginge notgedrungen wiederum22 auf Kosten des Gesetzgebers, dem es in erster Linie zukommt, kollidierende (Grund-)Rechtspositionen einander zuzuordnen und die Kollisionen nach Maßgabe des Grundsatzes praktischer Konkordanz aufzulösen. Zwar geschieht auch die Herstellung praktischer Konkordanz nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten. Verhältnismäßigkeit bedeutet insoweit jedoch keine strikte Überprüfung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit, sondern eine großzügige Kontrolle am Maßstab einer Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit,23 die erst bei einer offensichtlichen Fehlgewichtung der beteiligten Rechtspositionen wirksam wird. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass im Zivil- und Arbeitsrecht daher ein erheblicher Gestaltungsspielraum existiert, den die Gerichte – Verfassungsgerichte, EuGH und EGMR – aus funktionell-rechtlichen, demokratischen, integrationsspezifischen und völkerrechtlichen Gründen zu respektieren haben. Die Zuordnung von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht etwa kann in den 20 BVerfGE 89, 1 ff. – Besitzrecht des Mieters; krit. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 268 f. 21 Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 16), Art. 19 Abs. 4, Rn. 352 ff. 22 Zur Europäisierung als Prozess der Entparlamentarisierung Huber, § 26 – Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: von Bogdandy/Cruz Villalýn/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, Rn. 47 ff.; insoweit sind BVerfGE 90, 286 ff. – Out of area; 113, 273 ff. – Europäischer Haftbefehl; 123, 267 ff. – Lissabon, lediglich bescheidene Versuche der Gegensteuerung. 23 Grundlegend Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 53; Ruffert (Fn. 20), S. 133 f.

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Mitgliedstaaten der EMRK ganz unterschiedlich vorgenommen werden, und es ist nicht Aufgabe des EGMR sie jenseits eines Mindeststandards zu harmonisieren. Dasselbe gilt für die Umgangsrechte biologischer Väter im Familienrecht. Daran vermag auch die Berufung auf die EMRK als „living instrument“ nichts zu ändern. Sie überdehnt – wie H. J. Papier bei seiner Verabschiedung im Jahre 2010 zutreffend hervorgehoben hat – das Mandat des EGMR und wird auf Dauer die Akzeptanz des europäischen Menschenrechtsschutzes beschädigen. 12. Eine horizontale Wirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten wirkt überdies freiheitsbeschränkend und bringt die Betroffenen zudem um rechtsstaatliche Errungenschaften wie den Vorbehalt des Gesetzes. Es liegt auf der Hand, dass es freiheitsbeschränkend wird, wenn Arbeitgeber, Vermieter, Gastwirte, Presseunternehmen und andere Beteiligte am Rechtsverkehr nicht nur an das für alle geltende Privatrecht gebunden werden, sondern auch zu Adressaten von (sozialen) Grundrechten, Diskriminierungsverboten und Grundfreiheiten mutieren. Das ist umso misslicher, als diese Bindung vom Richter ohne viel Federlesens implementiert werden kann, insbesondere ohne dass dem ein langwieriger parlamentarischer Prozess der Entscheidungsfindung, des Interessenausgleichs, der Interventionen von Fachleuten und Lobbyisten u. a.m. vorausgegangen ist. So kann das Gesetz seine im Vorbehalt des Gesetzes seit dem 19. Jahrhundert erprobte und verbriefte Freiheitsverheißung nicht einlösen.

V. Fazit 13. Die Unterscheidung zwischen der unmittelbaren Bindung der öffentlichen Hand an Grundrechte und Grundfreiheiten auf der einen und der nur mittelbaren – horizontalen – Bindung Privater auf der anderen Seite ist, wenn die Grundrechte mehr sein sollen als allgemeine abwägungsoffene Prinzipien, ein demokratisches und rechtsstaatliches Postulat. Sie ist Grundlage dafür, dass der über das Gewaltmonopol und das Recht zur einseitigen Begründung von Pflichten für die Bürger verfügende Leviathan seinem Gefährdungspotential adäquaten Bindungen unterworfen werden kann und hat insoweit eine eminent freiheitsund die Selbstbestimmung sichernde Wirkung. Dieses Erbe steht auf dem Spiel, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten von ihrer primären Ausrichtung auf die öffentliche Gewalt gelöst werden und zu beliebigen Abwägungsgesichtspunkten degenerieren. 14. Die Aufgabe der Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung führt zudem zu einer Gewichtsverschiebung zwischen den „Gewalten“ und zu einer unangemessen starken Stellung der Judikative. Dafür lassen sich Belege in der Rechtsprechung des BVerfG ebenso finden wie in der Judikatur von EuGH und EGMR.

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15. Konsistent aufrechterhalten werden kann die grundsätzlich nur die öffentliche Hand treffende unmittelbare Bindung der Grundrechte und Grundfreiheiten nur, wenn sich die unionale Rechtsordnung und ihre nationalen Teilrechtsordnungen ihres Erbes erinnern und die Dichotomie von öffentlich und privat wieder mit neuem Leben füllen.

Grundgesetz, Wende, Wiedervereinigung Die Anpassung des Grundgesetzes im Prozess der deutschen Wiedervereinigung Von Michael Kloepfer

I. Mauerfall und Wiedervereinigung Die friedliche Revolution der Bürger in der DDR gipfelte am 9. November 1989 im Fall der Berliner Mauer, die bei ihrer Errichtung im Jahre 1961 die deutsche Teilung scheinbar unwiderruflich gemacht hatte. Der Fall der Mauer führte zum Sturz des SED-Regimes und leitete zugleich den Prozess zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 ein. Es kam zur ersten und einzigen freien Wahl in der DDR am 18. März 1990,1 zur Bildung der Regierung unter dem Ministerpräsidenten Lothar de MaiziÀre (CDU) und zu weitereichenden Umbauten der Rechtsordnung und der Verfassung der im Untergang begriffenen DDR. Aus der Wende-Losung „Wir sind das Volk!“ wurde Ende 1989 die Einheits-Losung „Wir sind ein Volk!“. Am 23. August 1990 beschloss die erstmals frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 3. Oktober 1990.2 An diesem Tag wurde damit das vollendet, woran zum Schluss nur noch wenige Deutsche geglaubt und was viele Bundesregierungen und fast alle Parteien in der Bundesrepublik Deutschland für viele Jahre stillschweigend von der faktischen politischen Agenda genommen hatten: die Wiedervereinigung Deutschlands. Das Grundgesetz hatte indessen diesen Glauben an die Wiedervereinigung nie aufgegeben. In verschiedenen Vorschriften, insbesondere in der Präambel und in Art. 146 GG a.F., hielt es an diesem Ziel der Wiedervereinigung fest, obwohl dies insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren von vielen in der Bundesrepublik Deutschland als überholt und eher als nostalgisch oder unrealistisch betrachtet wurde. Die verfassungsrechtliche Fixierung auf die Wiedervereinigung verhinderte immerhin die Einfügung rechtlicher Wiedervereinigungssperren in die westdeutsche

1 Zimmermann, DDR: Geschichte, in: Weidenfeld/Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, 1999, S. 150 (162). 2 BGBl. 1990 I, S. 2057, Art. 1 Abs. 1 EV; Anlage II Kapitel II Sachgebiet A – Staatsund Verfassungsrecht Abschnitt II des EV, Ländereinführungsgesetz der DDR vom 22. 07. 1990 (GBl. I Nr. 51, S. 955).

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Rechtsordnung (z. B. im Staatsangehörigkeitsrecht), was die spätere tatsächliche Wiedervereinigung erheblich erleichterte. Neben diese formale, juristische Reserveposition trat die noch wichtigere Funktion der verfassungspolitischen Wiedervereinigungsermöglichung durch das Grundgesetz. Als freiheitliche Verfassung ermöglichte das Grundgesetz eine freiheitliche – und relativ wohlhabende – Gesellschaft mit freien Wahlen, Meinungs-, Reise- und Konsumfreiheit sowie Eigentumsgewährleistung in der Bundesrepublik Deutschland, die auf viele Bewohner der DDR eine hohe Attraktivität ausübte und politisch die Wiedervereinigung im Jahre 1990 seitens der Bevölkerung der DDR stark erleichterte.

II. Grundgesetz und deutsche Einheit 1. Grundsätzliches Das Grundgesetz hielt aber nicht nur juristisch und verfassungspolitisch den Weg zur Wiedervereinigung offen, sondern ermöglichte und begleitete die Wiedervereinigung auch verfassungsrechtlich. Dabei sind zwei Aspekte des Verfassungswandels auf dem Weg zur deutschen Einheit zu unterscheiden: die wiedervereinigungsermöglichenden Verfassungsänderungen3 und die wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen4. Der vom völkerrechtlichen Zwei-plus-Vier-Vertrag5 vorbereitete staatsrechtliche Zusammenschluss der beiden Staaten durch den Einigungsvertrag (EV)6 und den Beitritt der DDR im Jahr 1990 machte zunächst wiedervereinigungsermöglichende Änderungen des Grundgesetzes (s.u. 3.) unausweichlich. Nach den wiedervereinigungsermöglichenden Verfassungsänderungen im Jahre 1990 folgten im Jahr 1994 die von der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat vorbereiteten wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen (s.u. 4.).7 2. Zwei Vertragskonzepte zur Wiedervereinigung Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bot 1990 zwei alternative Konzepte der Schaffung eines wiedervereinigten deutschen Gesamtstaates an: 3

Art. 4, 6 und 7 EV. Art. 5 EV, BGBl. 1994 I, S. 3146; s. dazu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 186 f. 5 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. 09. 1990, BGBl. II, S. 1317. 6 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag vom 31. 08. 1990, BGBl. II, S. 889. 7 Zum rechtswissenschaftlichen Echo: Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 1995, Fn. 4. 4

Grundgesetz, Wende, Wiedervereinigung

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Art. 23 GG und Art. 146 GG.8 Ersterer stellte eine Öffnungsklausel für eine Geltung in „anderen Teilen Deutschlands“ nach deren Beitritt dar, welche die Wiedervereinigung unter Beibehaltung des deutschen Grundgesetzes ermöglichte, wogegen letzterer nur unter Preisgabe des Grundgesetzes durch Verfassungsneuschöpfung beschritten werden konnte, in freier Entscheidung des gesamtdeutschen Volkes – freilich eine demokratietheoretische Selbstverständlichkeit. Bei Schaffung des Grundgesetzes im Jahr 1949 war an sich klar, dass Art. 146 GG den „Königsweg“ zur Wiedervereinigung beinhalten sollte, auf dem dann das Grundgesetz als zunächst provisorisches Statut durch eine „richtige“ neue Verfassung, d. h. einer Vollverfassung Gesamtdeutschlands abgelöst werden sollte. Im Gegensatz dazu war Art. 23 GG für den Beitritt kleinerer Gebiete bei Fortbestand der (westdeutschen) Bundesrepublik gedacht, also eher für einen Fall wie den Beitritt des Saarlandes im Jahre 1957. In der Situation der Jahre 1989/1990 bot eine Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG den neuen Bundesländern die intensivere Form der Mitgestaltung an der gesamtdeutschen Verfassung und insgesamt mehr Chancen zu Innovationen. Demgegenüber war der Beitritt naturgemäß darauf gerichtet, die Verfassung (und das politische System) der Bundesrepublik den neuen Bundesländern im Osten einfach aufzustülpen, was aber viele DDR-Bürger und noch mehr Bundesbürger jedenfalls damals auch so wollten. Allerdings gab es Bedenken gegen diese aufstülpende Beitrittslösung in den Bürgerbewegungen der DDR, sowie in der PDS als SED-Nachfolgerin, aber eben auch insbesondere in sog. progressiven Kreisen Westdeutschlands, die in der Wiedervereinigung die Chance zu grundsätzlichen politischen Reformen im neuen gesamtdeutschen Staat sahen, für die in der alten Bundesrepublik keine Mehrheiten zu finden waren. Schnell wurde allerdings klar, dass weder genügend Zeit (wegen der Situation in der Sowjetunion und ihrer Armee, aber auch bei einigen Westalliierten – s.u. 3.) noch hinreichende politische Mehrheiten in Deutschland für eine Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG bestanden. So beschritt man die Lösung über Art. 23 GG, mit der der Beitritt wiedervereinigungsermöglichende Verfassungsänderungen auslöste (s.u. 3.). Größere wiedervereinigungsfolgende Verfassungsänderungen für die Zeit nach der Wiedervereinigung wurden durch Art. 5 EV zwischen beiden deutschen Staaten in Aussicht gestellt (s.u. 4.). Zur Vorbereitung dieser wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen wurde eine Gemeinsame Verfassungskom8 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 146 (Stand: Sept. 1991), Rn. 3. A.A.: „Draufsatteltheorie“, bei der eine Verfassungsneuschöpfung anlässlich der deutschen Einheit hätte geschehen können: Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, VVDStRL 49 (1990), 7 (15 f.); Grabitz, Aussprache, VVDStRL 49 (1990), 177 f.; Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ 1990, 358 (359 f.). A.A.: „Geburtsmakeltheorie“, wonach ein gesamtdeutsches Plebiszit erforderlich gewesen wäre: Meyer, Aussprache, VVDStRL 49 (1990), 161 (163 f.); Mahrenholz, Das Volk muss „ja“ sagen können, Die Zeit, 14. 09. 1990, S. 13; Sachs, Das Grundgesetz im vereinten Deutschland – endgültige Verfassung oder Dauerprovisorium?, JuS 1991, 985 (990).

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mission von Bundestag und Bundesrat im Jahre 1992 eingesetzt (s. u. 4. b)).9 Die wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen wurden im Jahr 1994, d. h. fast vier Jahre nach der Wiedervereinigung, verabschiedet. Insbesondere durch sie sollten die ursprünglichen Verfassungsbestrebungen der Bürgerbewegungen in der vergehenden DDR von 1989 aufgefangen werden und das Gefühl vermittelt werden, man habe an der Ausgestaltung des „gesamtdeutschen Hauses“ maßgeblich mitwirken können. Seit der Wende im Jahre 1989 waren aber fünf Jahre vergangen und die ursprüngliche Euphorie war 1994 fast schon verflogen. Es ist eben schwer, politische Aufbruchsstimmungen in Verfassungsform zu konservieren. 3. Wiedervereinigungsermöglichende Verfassungsänderungen Die Volkskammer der DDR verzichtete bei ihrem Beschluss über den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG (s. o. I.) auf jedwede Vorbehalte bezüglich späterer Grundgesetzänderungen. Grund für die Anwendung von Art. 23 GG und dessen damit einhergehender Streichung war im Wesentlichen das enge außenpolitische Zeitfenster zur Realisierung der deutschen Einheit, da 1990 eine umfassende Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG sehr zeitaufwändig gewesen wäre10 und – wie erwähnt – die Gefahr bestand, dass sich das außenpolitische Fenster für eine Wiedervereinigung etwa durch entsprechende politische Neupositionierung der Sowjetarmee, möglicherweise aber auch durch Widerstände Englands und Frankreichs unwiderruflich geschlossen hätte. In verschiedenen Kreisen in Westdeutschland wurde zudem das Risiko gesehen, dass wichtige Gehalte des Grundgesetzes durch eine neue deutsche Verfassung hätten beseitigt oder doch stark vermindert werden können. In weiten Teilen Westdeutschlands bestand eben wenig Neigung, die Errungenschaften des Grundgesetzes für die Erreichung der deutschen Einheit aufs Spiel zu setzen. Man beschränkte sich deshalb im Jahre 1990 zunächst nur auf unabdingbare, wiedervereinigungsermöglichende bzw. wiedervereinigungsunerlässliche Verfassungsänderungen.11 Diese hatten die Funktion, einerseits Regelungsprobleme der Wiedervereinigung auf Verfassungsebene zu lösen und andererseits deutlich zu machen, dass das wiedervereinigte Deutschland entsprechend Art. 1 Abs. 3 des Zwei-PlusVier-Vertrags keinerlei Territorialansprüche außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik und der DDR mehr geltend machen wollte. Art. 146 GG erhielt deshalb den formelhaften Einschub, dass das Grundgesetz „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk“ – also von nun an auch für die fast 17 Millionen ehemaligen Bürger der DDR – gelte. In eine vergleichbare Richtung gingen Änderungen der Präambel durch Art. 4 Nr. 1 EV. Der Provisoriumscharakter 9 Einsetzungsbeschluss vom 28. 11. 1991 (Bundestag) und Zustimmung vom 29. 11. 1991 (Bundesrat); Kloepfer (Fn. 7), S. 20. 10 Kloepfer (Fn. 4), § 2 Rn. 158; ders. (Fn. 7), S. 18. 11 Art. 4, 6 und 7 EV; Kloepfer (Fn. 4), § 2 Rn. 186.

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des Grundgesetzes von 1949, der noch ausdrücklich durch die ursprüngliche Präambel und durch den Namen Grundgesetz statt Verfassung artikuliert war, verschwand damit.12 Dieser Abschied vom Grundgesetz als Verfassungsprovisorium war im Übrigen durch viele vorhergehende Verfassungsänderungen und eine überbordende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorbereitet und bisweilen auch schon vollzogen worden. Die übrigen wiedervereinigungsermöglichenden Verfassungsänderungen13 betrafen u. a. die Stimmenanpassung im Bundesrat durch Neufassung von Art. 51 Abs. 2 GG wodurch der maßgebliche Einfluss der großen Flächenländer der alten Bundesrepublik gewahrt werden sollte. Hinzu kam etwa eine Zusatzregelung für DDR-Verbindlichkeiten in Art. 135a GG. Die Fortgeltung des Rechts der DDR wurde per Übergangsvorschrift grundsätzlich bis Ende 1992 nach Art. 143 Abs. 1 GG zugelassen, für Teilgebiete nach Abs. 2 auch bis Ende 1995. Ein Restitutionsausschluss für besatzungsrechtliche Enteignungen wurde hingegen dauerhaft durch Art. 143 Abs. 3 GG festgeschrieben.14 Des Weiteren wurde Art. 131 GG, der die Rechtsverhältnisse der ehemaligen Reichsbediensteten betraf, durch Art. 6 EV für den neuen Geltungsbereich vorübergehend suspendiert und die Finanzverfassung durch Art. 7 EV einer befristeten Modifikation zur Durchführung der Wiedervereinigung zugeführt. 4. Wiedervereinigungsfolgende Verfassungsänderungen a) Themenfeld nach Art. 5 EV Nach den wiedervereinigungsermöglichenden wurden die wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen15 in Angriff genommen. Der Auftrag zur Grundgesetzänderung, der sich aus der Befassungsempfehlung nach Art. 5 EV ergab, umfasste neben Fragen des Bund-Länder-Verhältnisses, der möglichen Gebietsneugliederung des Raumes Berlin/Brandenburg und der etwaigen Aufnahme von Staatszielbestimmungen die künftige Anwendung eines durch die Wiedervereinigung modifizierten Art. 146 GG. Eine Beschränkung allein auf diese Themen fand indes in der folgenden Arbeit der Verfassungskommission [s.u. b)] nicht statt, weil sich die Kommission ihres Selbstverständnisses entsprechend beinahe aller damals aktuell diskutierten Vorschläge zu Verfassungsänderungen annahm16 und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Einigungsspezifität. So wurde bei den Arbeiten an den Verfassungs12 von Campenhausen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 4. Aufl., 2001, Art. 146, Rn. 21. 13 Sämtliche Verfassungsänderungen erfolgten durch ein Zustimmungsgesetz: BGBl. 1990 II, S. 885. 14 Die Regelung wurde als nicht verfassungswidriges Verfassungsrecht beurteilt: BVerfGE 84, 90. 15 Kloepfer (Fn. 4), § 2 Rn. 192 f. 16 BT-Drucks. 12/6000, S. 10.

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änderungen das geistige Band zur Wende und Wiedervereinigung zumindest gelockert, wozu auch die zeitliche Distanz zu den Jahren 1989/1990 beitrug. b) Gemeinsame Verfassungskommission aa) Kommissionsstruktur Die Arbeit zur Vorbereitung der in Art. 5 EV angesprochenen Verfassungsänderungen von 1994 wurde einer Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat übertragen. Besetzt wurde sie mit je 32 Mitgliedern (und gleich vielen Stellvertretern) aus dem Bundestag entsprechend den Fraktionsstärken und aus dem Bundesrat. Jedes Land stellte zwei Mitglieder, also ohne den bundesratstypischen Bevölkerungsproporz.17 Vorschläge, das Gremium politikferner zu gestalten,18 und somit z. B. auch für kritische Debatten z. B. über Wucherungen der Parteienstaatlichkeit zu öffnen, scheiterten schon im Vorfeld des Diskurses an der einfachen damaligen parlamentarischen Koalitionsmehrheit.19 Die praktischen Reformmöglichkeiten durch die Kommission verringerten sich damit von vornherein entscheidend. In insgesamt 26 Sitzungen und neun Anhörungen unter Gutachterbestellung nach Fraktionsschlüssel,20 entschied die Kommission unter Verweis auf Art. 79 Abs. 2 GG stets mit Zwei-Drittel-Mehrheit.21 Damit sollten unrealistische Vorschläge von vornherein ausgeschieden werden. Dieses Quorum schränkte die Kommissionsarbeit freilich im Hinblick auf deren Resultate stark ein. Im Ergebnis erwies sich dieses Erfordernis jedoch weder als eine Garantie für eine spätere Umsetzung22 noch als durchweg wirksamer Filter für parlamentarisch nicht mehrheitsfähige Empfehlungen.23 Die ersten drei Sitzungen nach Konstituierung und Generalaussprache fanden zunächst unter Öffentlichkeitsausschluss statt, was man erst danach unter Bemühung um einen „breit angelegten Verfassungsdiskurs“ geändert hat24 und etwa 800.000 Eingaben aus der Bevölkerung25 folgen ließ.

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BT-Drucks. 12/6000, S. 7. SPD: BT-Drucks. 12/415, S. 2 und Bündnis90/Die Grünen: BT-Drucks. 12/563, S. 2. 19 Kloepfer (Fn. 7), S. 22. 20 BT-Drucks. 12/6000, S. 11. 21 BT-Drucks. 12/6000, S. 9. 22 Empfehlungen wie z. B. zu Art. 20b GG wurden trotz Kommissionsmehrheit im Bundestag verworfen. 23 In der Kommission verworfene Anträge z. B. zu Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG erwiesen sich später als mehrheitsfähig. 24 BT-Drucks. 12/6000, S. 9. 25 BT-Drucks. 12/6000, S. 13. 18

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bb) Kommissionsthematik Die Kommissionsagenda war außerordentlich breit. Hier sollen nur überblickhaft die bedeutsamen Themenkomplexe angesprochen werden. Zu ihnen zählen u. a.: Grundgesetz und Europa, diverse Staatszielbestimmungen, Grundrechte, plebiszitäre Elemente, Wahlrecht, Parlamentsrecht, kommunale Selbstverwaltung, Staatskirchenrecht, Bund-Länderverhältnis, militärische Verteidigung, Präambel und Art. 146 GG. Demgegenüber finden sich einige durch die Wende aufgeworfenen Themen insbesondere zur Aufarbeitung des Unrechtsregimes der DDR (z. B. Ausreisefreiheit) auch nicht ansatzweise in den Materialien. Die partielle Distanz der Verfassungskommission zu Wende und Wiedervereinigung wurde so offenkundig. c) Einzelthemen der Beratungen und der Beschlussfassung zu den Verfassungsänderungen 199426 Die europarechtlichen Vorgaben des Maastrichter Vertrags wurden schon am 25. Dezember 1992 umgesetzt27 und wiesen außer einer eher zufälligen zeitlichen Parallele keinen spezifischen inhaltlichen Bezug zur deutschen Einigung auf.28 Die Debatte über Staatszielbestimmungen war ein ausgewiesener Schwerpunkt der Kommissionsarbeit. Der Umweltschutz,29 hier Schutz natürlicher Lebensgrundlagen genannt, gelangte im Ergebnis im Rahmen der Verfassungsänderungen von 1994 aber als einziges Staatsziel in Form von Art. 20a GG ins Grundgesetz. Der damals sehr kontrovers diskutierte Gesetzesvorbehalt für diese Staatszielbestimmung,30 der die Legislative zum primären Adressaten bestimmte,31 aber sekundär die zweite und dritte Gewalt durch den Vorbehalt von „Recht und Gesetz“ einbezog,32 und die tautologische33 Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung waren wichtige Kritikpunkte an dieser Aufnahme des Umweltschutzgedankens in die Verfassung. Der Tierschutz als ein 1994 noch gescheitertes Staatsziel war damals noch nicht mehrheitsfähig.34 Dieses Scheitern konnte auch durch eine später vom Bundestag mit bloßer einfacher Mehrheit beschlossene Entschließung35 ohne jede verfassungsrecht26

BT-Drucks. 12/6000; Kloepfer (Fn. 7). Gesetz vom 21. 12. 1992, BGBl. I, S. 2086. 28 Kloepfer (Fn. 7), S. 35 f. 29 Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht – Zum neuen Art. 20a GG, DVBl. 1996, 73; ders., Umweltschutzrecht, 2008. 30 Kloepfer (Fn. 7), S. 38 ff., insb. Fn. 111. 31 BT-Drucks. 12/6000, S. 66. 32 BT-Drucks. 12/6000, S. 68. 33 Kloepfer (Fn. 4), § 12 Rn. 46. 34 BT-Drucks. 12/6000, S. 68 f. 35 BT-Plenarprotokoll 12/238, S. 21038 A. 27

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liche Bindung36 nicht ausgeglichen werden. In dieser Entschließung wurden Tiere als Bestandteil der in Art. 20a GG normierten natürlichen Lebensgrundlagen bezeichnet. Acht Jahre später, im Jahre 2002, wurde der Tierschutz dann doch in das Grundgesetz, nämlich in Art. 20a GG aufgenommen.37 Das vorgeschlagene Staatsziel, die Identität von Minderheiten zu achten und als neuen Art. 20b GG einzufügen, fand die Mehrheit in der Kommission zur Aufnahme in das Grundgesetz. Diese Empfehlung erfolgte ungeachtet des Arguments einer wegen lokaler sowie kultureller Relevanz vornehmlich landesverfassungsrechtlichen Kompetenz für diese Fragen.38 Im Auge hatte die Kommission dabei speziell die dänischen, friesischen und sorbischen Minderheiten, obwohl die Formulierung jede ethnische Gruppe – insbesondere auch bei den zugewanderten Gastarbeitern – erfasst hätte. Das führte dann zum Einwand, mit einer solchen „Achtensklausel“ werde in Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft der Integration von Minderheiten vorgezogen.39 Im späteren Parlamentsverfahren verlor dieser Vorschlag dementsprechend auch die Unterstützung der Unionsparteien, erreichte dort somit nur die einfache Mehrheit40 und wurde deshalb nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Keine Empfehlung gab die Kommission für einen Aufruf „zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn“ im Grundgesetz ab. Obwohl ein ethischer Appell zu weniger Egoismus als Bindeglied zwischen Politik und Moral im Sinne Kants in der Sache Zustimmung erfuhr, wurde er wegen mangelnder Justiziabilität und Sanktionierbarkeit abgelehnt41 – im Hinblick auf die prinzipielle Programmferne und Vollzugsgeneigtheit des Grundgesetzes konsequent. Große Bedeutung hatten in der Diskussion der Gemeinsamen Verfassungskommission soziale Staatsziele. Zu ihnen gehörten neben Arbeit, Wohnung und sozialer Sicherheit auch Bildung und Kultur. Gerade bei den Bestimmungen zu Arbeit, Wohnung und sozialer Sicherheit wurde eine grundsätzliche Ablehnung solcher sozialen Staatszielnormierungen deutlich. Zwar sprechen mehrere Verfassungen der neuen Länder42 und internationale Konventionen43 solche Ziele an. Diese stünden aber in einem essentiellen Spannungsverhältnis zur parlamentarischen Aufgabe der Politikgestaltung sowie zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes. Soziale Staatsziele müssten jedoch faktisch vor allem unter den Vorbehalt des Möglichen gestellt werden, weshalb sie insoweit nicht bzw. kaum erzwingbar erscheinen. Das barg 36

Kloepfer (Fn. 4), § 12 Rn. 9 f. BGBl. 2002 I, S. 2862. 38 BT-Drucks. 12/6000, S. 71, 74. 39 BT-Drucks. 12/6000, S. 74 f. 40 Kloepfer (Fn. 7), S. 53 f. 41 BT-Drucks. 12/6000, S. 82 f. 42 Art. 28, 45, 47, 48 LVerf. BB, Art. 7, 13 LVerf SN, Art. 34 – 40 LVerf ST, Art. 17 LVerf MV, Art. 36 LVerf TH. 43 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, BGBl. 1973 II, S. 1569. 37

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freilich ein hohes Enttäuschungspotential und das beträchtliche Risiko der Verfassungsverdrossenheit.44 Zudem wurden die bereits bestehenden einschlägigen Gewährleistungen des bestehenden Grundgesetzes keineswegs als unerheblich bezeichnet.45 Gegen eine Aufnahme von Bildung und Kultur in die Bundesverfassung als die Chancengleichheit wahrenden geistigen Existenzbedingungen, setzte sich die Befürchtung kompetenzieller Verschiebungen im Föderalsystem durch.46 Auch Grundrechte standen partiell auf der Agenda der Verfassungskommission. Die Pflicht zur tatsächlichen Durchsetzung der Geschlechtergleichbehandlung in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG als Grundlage einer Frauenförderungspolitik stand von vornherein trotz fortwährender Uneinigkeit über die Ermöglichung sogenannter „Quoten“ unter breitem Konsens47 und passierte das Parlamentsverfahren reibungsfrei. Nicht ganz so glatt lief die Einführung eines Verbots der Benachteiligung von Behinderten. Der Vorschlag scheiterte zunächst in der Kommission, weil diese im unzureichenden Vollzug der bestehenden Regelungen das eigentlich defizitäre Moment erkannte. Das Problem der Beseitigung von Nachteilen sei weniger auf Verfassungsebene als vielmehr auf einfachgesetzlicher Ebene einer Lösung vor allem im Sinne einer verbesserten Behindertenförderung zuzuführen.48 Im parlamentarischen Verfahren neu aufgegriffen fand sich hingegen eine überwältigende Mehrheit für den das Benachteiligungsverbot für Behinderte,49 wenngleich auch hier die normative Durchsetzungskraft der wunde Punkt geblieben ist.50 Aus ähnlichen Überlegungen – wie zunächst bei der Benachteiligung von Behinderten – wurde es abgelehnt, den Katalog des Art. 3 Abs. 2 GG um das Merkmal der sexuellen Identität zu erweitern.51 Es ging primär um die Bekämpfung einschlägiger gesellschaftlicher Diskriminierungen, die durch die Verfassung kaum bekämpft werden könnten. Gleichwohl sind später wieder – erfolglos – Vorschläge zu einer derartigen Verfassungsänderung gemacht worden.52 Das Vorhaben, neben der Ehe auch andere auf Dauer angelegte nichteheliche Lebensgemeinschaften verfassungsrechtlich über Art. 2 Abs. 1 GG hinaus durch Art. 6 GG zu schützen, scheiterte schon in der Kommission. Die weitgehende Eman44

BT-Drucks. 12/6000, S. 80 f. Kloepfer (Fn. 7), S. 64. 46 BT-Drucks. 12/6000, S. 82. 47 BT-Drucks. 12/6000, S. 50. 48 BT-Drucks. 12/6000, S. 53. 49 BT-Drucks. 12/8165, S. 6; nach BT-Plenarprotokoll 12/238, S. 21052 A mit fast 99 % der Stimmen angenommen. 50 Kloepfer (Fn. 7), S. 72. 51 BT-Drucks. 12/6000, S. 54. 52 BR-Drucks. 741/09, abgelehnt am 27. 11. 2009, BR-Plenarprotokoll der 864. Sitzung, S. 426. 45

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zipation homosexueller Verbindungen (etwa durch die Anerkennung eheähnlicher gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften) war dadurch aber nicht aufzuhalten, sondern erfolgte wenige Jahre später auf einfachgesetzlicher Grundlage.53 In der Kommission scheiterten ebenfalls Anträge bezüglich Art. 6 GG und zwar zum Mutterschutz und zu speziellen Kinderrechten.54 Die Kommission empfahl ferner nicht, das vom Bundesverfassungsgericht frühzeitig entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung55 in das Grundgesetz aufzunehmen. Gleiches galt für andere Vorschläge zum Datenschutz56, obwohl in diesem Zusammenhang eine geeignete Aufarbeitung der Informationsverbrechen der Staatssicherheit der DDR hätte angestoßen werden können.57 Die größte Resonanz in der Öffentlichkeit erlangte wohl die Befassung mit der verstärkten Einführung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz.58 Die Frage nach dem richtigen Mischungsverhältnis von repräsentativer zu direkter Demokratie stellt ein altes Strukturproblem des Grundgesetzes dar, das sich 1949 dezidiert für eine repräsentative Demokratie entschieden hatte. Zeitlich zwischen Entstehung des Grundgesetzes und der Arbeit der Verfassungskommission lag aber insbesondere die Studentenbewegung und das Aufkommen der ökologischen Bewegung in den sechziger und siebziger Jahren, die beide mehr Volksbeteiligung eingefordert hatten. Mit der Einführung verstärkter plebiszitärer Elemente versprach man sich mehr verantwortungsbewusstes Politikengagement in der Bevölkerung und verwies auf eine Vielzahl funktionsfähiger in- und ausländischer Vorbilder.59 Gegen die Bürgerpartizipation wurden hingegen angebliche historische Negativbeispiele aus Weimarer Zeit angeführt60 sowie die Furcht vor unkontrollierbarem Populismus und vor einer Parlamentsverantwortungsflucht beschworen.61 Angesichts der längst deutlich gewordenen Schwächen eines (fast) allein repräsentativen demokratischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland und angesichts der friedlichen Volksbewegungen in der DDR wäre ein vorsichtiger Schritt zu mehr plebiszitären Elementen in den Verfassungsänderungen von 1994 durchaus angebracht gewesen.62 Auch die spätere Entwicklung nach 1994 bis heute legt dies nahe. In diesem Bereich liegt die politische Führung längst bei den Ländern. Irgendwann wird der Bund aber folgen.

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Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. 02. 2001, BGBl. I, S. 266. BT-Drucks. 12/6000, S. 54, 58 ff. 55 BVerfGE 65, 1 (43 ff.). 56 BT-Drucks. 12/6000, S. 60 ff. 57 Kloepfer (Fn. 7), S. 79. 58 BT-Drucks. 12/6000, S. 124. 59 BT-Drucks. 12/6000, S. 84. 60 Da die beiden Referenden ohne Erfolg blieben, BT-Drucks. 12/6000, S. 84, stellte man auf den „permanenten Druck“ durch sie ab, BT-Drucks. 12/6000, S. 85. 61 BT-Drucks. 12/6000, S. 85 f. 62 Kloepfer (Fn. 7), S. 88 f. 54

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Im Bereich des Parlamentsrechts wurde u. a. das Selbstauflösungsrecht des Bundestags diskutiert. Die im Jahre 1983 absichtlich verlorene Vertrauensfrage von Helmut Kohl führte zur Auflösung des 9. Bundestages und schürte eine breite verfassungsrechtliche Debatte,63 die später – 2005 – erneut an der Vertrauensfrage von Gerhard Schröder64 wieder aufflammte. Ebenso fanden neben vielen kleineren Themen die Stärkung von Oppositions-, Fraktions- und Abgeordnetenrechten, die Einführung eines einfachen Untersuchungsausschussgesetzes65 und die Dauer von Wahlperioden den Weg in die Debatte, wozu indes am Ende keine einzige Empfehlung abgegeben wurde.66 Da wegen des Maastrichter Vertrags ein EG-Bürgerwahlrecht auf Kommunalebene eingeführt wurde, befasste man sich mit einer Ausweitung des Kommunalwahlrechts auch für Nicht-EG-Angehörige, traf aber keine Entscheidung, weil der Weg zur politischen Teilhabe über Integration und Staatsbürgerschaft anzutreten sei.67 Diskutierte Änderungen des Art. 116 GG, etwa einen ius soli-Grundsatz der Staatsangehörigkeit verfassungsrechtlich zu verankern, gelangen jedoch ebenso nicht, da weder Inhalt noch Regelungsebene mehrheitsfähig waren.68 Das Staatskirchenrecht wurde 1994 ebenfalls nicht verändert, da die Inkorporation der fünf Artikel der Weimarer Reichverfassung wegen ihrer historischen Bedeutung erhalten bleiben sollte und auch sonst keine staatskirchenrechtlichen oder kirchensteuerrechtlichen Änderungen mehrheitsfähig waren.69 Die Beseitigung des „Provisoriums“ im Art. 140 GG und die Schaffung eines einheitlichen „Religionsverfassungsrechts“ bleibt künftigen Umgestaltungen des Grundgesetzes vorbehalten. Weil die Finanzierung der kommunalen Selbstverwaltung zunehmend von kommunalen Steuern auf staatliche Zuweisungen verlagert wurde, herrschte allgemein der breite Konsens darüber, der drohenden Überlastung durch eine Festschreibung der Gewährleistung der Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG begegnen zu müssen.70 1997 erfolgte zudem eine Konkretisierung der Grundlagen in einem zweiten Halbsatz.71

63

BVerfGE 62, 1. BVerfGE 114, 121. 65 Erst am 19. 06. 2001 folgte ein Untersuchungsausschussgesetz (PUAG), BGBl. 2001 I, S. 1142. 66 BT-Drucks. 12/6000, S. 86. 67 BT-Drucks. 12/6000, S. 97 f. 68 BT-Drucks. 12/6000, S. 112 f. 69 BT-Drucks. 12/6000, S. 106 f. 70 BT-Drucks. 12/6000, S. 46; BGBl. 1994 I, S. 3146. 71 BGBl. 1997 I, S. 2470. 64

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Das Bund-Länder-Verhältnis als einer der Themenkreise mit ausdrücklichem Befassungsauftrag war Gegenstand einer Vielzahl von Kommissionsempfehlungen.72 Auf Seiten der Länder wünschte man sich, der Unitarisierungstendenz entgegensteuern und damit den Föderalismus stärken zu können.73 Dem folgend empfahl die Kommission einerseits mit der „solange und soweit“-Formel eine funktionsfähige Begrenzung der Sperrwirkung von Bundesrecht gegenüber neuem Landesrecht und forderte, die bis dato faktisch wirkungslose Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG in eine verfassungsgerichtlich überprüfbare Erforderlichkeitsklausel mit Rückholmöglichkeit bei Wegfall des Erfordernisses zu überführen.74 Andererseits sollte im Kompetenzkatalog eine Verschiebung einzelner Gesetzgebungszuständigkeiten an den Bund erfolgen.75 Beides gelang nach einem letztlich höchst konfliktreichen Vermittlungsausschussverfahren, welches das „Zersägen“ der Kommissionsvorschläge im Bundestagsausschuss weitgehend revidierte.76 Hinzu traten eine verfahrensrechtliche Fristenverlängerung für Beratungen im Bundesrat, ein Initiativrecht des Bundesrates für Rechtsverordnungen im Falle ihrer Zustimmungsbedürftigkeit und eine Befugnis des Landesgesetzgebers anstelle einer Verordnung der Landesregierung ein Landesgesetz zu erlassen.77 Intensivere Verfassungsänderungen im bundesstaatlichen Gefüge erfolgten erst nach 1994, nämlich durch die Föderalismusreformen I78 und II79. Zur föderalen Neugliederung wurden von der Kommission einige Vorschläge zu Art. 29 GG erarbeitet,80 die im Grundgesetz aufgenommen wurden.81 Die im Einigungsvertrag ausdrücklich gestellte Frage nach der föderalen Neugliederung des Gebiets Berlin/Brandenburg wurde mit Art. 118a GG in die Hände der beiden Länder und deren Wahlberechtigten gelegt82. Die Fusion beider Länder scheiterte bereits zwei Jahre später, weil in Brandenburg die nötige Mehrheit verpasst wurde. Seitdem erfolgten nur noch kleinere Fusionsschritte (z. B. in Form gemeinsamer Gerichte). Keine Empfehlung erfolgte trotz intensiver Befassung zu wehrpolitischen Themen, wie Auslandseinsätzen, Rüstung, Friedensstaatlichkeit, Wehr- und Ersatz-

72

BT-Drucks. 12/6000, S. 30 ff. BT-Drucks. 12/6000, S. 32, insbesondere unter Verweis auf das sogenannte „Eckpunkte-Papier“. 74 BT-Drucks. 12/6000, S. 33 f. und S. 36. 75 BT-Drucks. 12/6000, S. 34 ff. 76 Kloepfer (Fn. 7), S. 105 ff. 77 BT-Drucks. 12/6000, S. 38. 78 BGBl. 2006 I, S. 2034. 79 BGBl. 2009 I, S. 2248. 80 BT-Drucks. 12/6000, S. 43 f. 81 BGBl. 1994 I, S. 3146. 82 BT-Drucks. 12/6000, S. 45. 73

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dienst, oder Kriegsdienstverweigerung.83 Die parteipolitischen Lager und Argumentationen waren für Konsensentscheidungen auch hier zu festgefahren.84 Die Präambel unterlag bereits 1990 einer wiedervereinigungsermöglichenden Veränderung (s. o. 3.), die neben der formalen Anpassung an die zusätzlichen Bundesländer auch den Übergang von der Vollendungsaufforderung zur nationalen Einheit in deren Feststellung markierte und somit – wie eingangs erwähnt – die Vorläufigkeit beendete. Die Verfassungskommission befasste sich gleichwohl mit möglichen neuerlichen Änderungen, beschloss aber letztlich keine Empfehlungen:85 Die in Teilen der Kommission verfochtene Verankerung des Gedankens der Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt fand keine hinreichende Mehrheit, weil trotz globaler Verflechtungen von Gerechtigkeit und Friedlichkeit ein Auftrag über das innerstaatliche Gefüge hinaus hinsichtlich der Souveränität anderer Staaten und dem Prinzip der Nichteinmischung Missverständnisse hätte wecken können.86 Rein innerstaatlich geprägt war indes die diskutierte ausdrückliche Zielsetzung, auf die innere Einheit Deutschlands hinzuwirken, die nach Auffassung der Mehrheit jedoch nicht in die Präambel aufgenommen werden sollte.87 Schließlich bildet der bisherige Gottesbezug in der Präambel noch ein identitätsstiftendes Verfassungselement, dessen Streichung von Kommissionsmitgliedern vorgeschlagen wurde.88 Dies traf aber auf eine erhebliche Gegnerschaft in der Kommission.89 Ausdrücklich beauftragt war die Kommission zur Prüfung der Anwendung des Art. 146 GG, der über ein konkretes Verfahren zur Anrufung des pouvoir constituant90 jedoch keine Auskunft gibt. Die Befassung wurde indes – unter Hinweis auf verschiedene Auslegungsvarianten, aber ausdrücklich ohne vertiefte Erörterung – aufgegeben. Dies wurde damit begründet, dass sich für die wenigen Änderungsvorschläge ein Referendum im Umfang von Art. 146 GG verfassungspolitisch nicht lohnen würde.91 Auffällig ist das Auslassen bedeutender Themen durch die Verfassungskommission. Trotz der hohen Befassungsbreite in der Kommission setzte man sich mit dem Handeln von Sicherheitsorganen und der Parteiendominanz in der Bundesrepublik Deutschland gar nicht auseinander, obwohl der SED – wie auch dem nationalsozialistischen Regime zuvor – gerade diese Elemente zur Aufrechterhaltung eines totalitären Staates dienten. Auf die deutliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht durch Nennung der Ausreisefreiheit im Grundrechtskatalog jenseits der bisherigen Herlei83 84 85 86 87 88 89 90 91

BT-Drucks. 12/6000, S. 101 ff. Kloepfer (Fn. 7), S. 117 ff. BT-Drucks. 12/6000, S. 108. BT-Drucks. 12/6000, S. 109. BT-Drucks. 12/6000, S. 109 f. BT-Drucks. 12/6000, S. 108. BT-Drucks. 12/6000, S. 110 f. Nach: SieyÀs, QuÏest-ce que le tiers ¦tat?, 1789, Kapitel 5. BT-Drucks. 12/6000, S. 111 f.

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tung aus der schwach geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit92, oder ein Indoktrinationsverbot als Gegenkonzept zur ideologischen Erziehung in der DDR verzichtete man genauso wie auf einen Diskurs über die wirtschaftsverfassungsrechtliche Neutralität und Art. 15 GG. Immerhin wurde im Jahre 2006 durch den neuen Art. 22 Abs. 1 GG die Hauptstadtfrage verfassungsrechtlich zugunsten Berlins gelöst. Der letztlich blamable Einsatz großer Teile der westdeutschen Politik für das Festhalten an einer Bundeshauptstadt Bonn – trotz jahrelangen Bekenntnisses zu Berlin als Hauptstadt Deutschlands – bleibt aber unvergessen. d) Zwischenbilanz Das insgesamt doch eher magere Resultat der Arbeit der Verfassungskommission und des verfassungsändernden Gesetzgebers von 1994 war ein bereits durch Be- und Einsetzung der Verfassungskommission weithin determiniertes Ergebnis, das weitgehend durch das hohe Zwei-Drittel-Quorum in der Kommission viele grundlegende Reformanstöße verhinderte. Die Themenfülle in der Breite führte außerdem zu einem Defizit im vertieften Eindringen in Grundfragen. Insgesamt tendierte die Themenauswahl stark zu nicht wiedervereinigungsspezifischen Verfassungsänderungen. Dies ging eindeutig zulasten einigungsspezifischer Verfassungsfragen (z. B. Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Ausreisefreiheit). Die Kommission diente insgesamt weniger der innovativen Aufbereitung von Fragen vordringlicher Verfassungsänderungen, als vielmehr einer vorverlagerten parteipolitischen Kompromissfindung im Hinblick auf eine Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG. An den Beispielen der weitgehend gescheiterten Staatszielbestimmungen (Ausnahme: Art. 20a GG – Umweltstaat) und den weithin unterentwickelten Elementen direkter Demokratie wurde im Übrigen eine relativ geringe Reformwilligkeit der Mehrheiten in der Verfassungskommission deutlich. Letztlich wurde das Grundgesetz im Wesentlichen nicht auf den Prüfstand gestellt, sondern fungierte vielmehr als nostalgisches Bollwerk gegen Veränderungen im wiedervereinigten Deutschland.

III. Identität und Verfassung Nach der Wiedervereinigung fiel 1994 eine echte Verfassungsreform aus. Es erfolgten insgesamt nur Verfassungsänderungen statt einer Verfassungsreform.93 Die Bereitschaft zu einem innovativen Verfassungsumbau nach der Wiedervereinigung war jedenfalls in den alten Bundesländern wenig ausgeprägt. Potentielle Fehlentwicklungen in der Parteienstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland wie die augenscheinlichen Defizite der innerparteilichen Demokratisierung, die Ämterpatronage oder die zunehmenden außerparlamentarischen Entscheidungspräformierun92 93

BVerfGE 6, 32. Kloepfer (Fn. 7), passim.

Grundgesetz, Wende, Wiedervereinigung

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gen blieben ebenso ohne verfassungsrechtliche Reaktionen wie die eklatanten Missstände im Herrschaftsapparat der untergegangenen DDR. Insoweit ist der Beitrag der wiedervereinigungsermöglichenden Verfassungsänderungen von 1990 und der 1994 erfolgten wiedervereinigungsfolgenden Verfassungsänderungen zur Stiftung staatlicher Identität des wiedervereinigten Deutschlands eher gering. Immerhin stellen die wiedervereinigungsermöglichenden Änderungen von 1990 einen rechtlich und wohl auch politisch unverzichtbaren Schritt auf dem Weg zur Herstellung der nationalen Einheit dar. Demgegenüber waren die wiedervereinigungsfolgenden Änderungen von 1994 nahezu irrelevant für eine weitere Identitätsbildung der nunmehr wiedervereinten Nation. Vielleicht stellt die Aufnahme der Staatszielbestimmung Umwelt hiervon eine gewisse Ausnahme dar, weil sie immerhin als die Bekundung der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden kann, langfristig (auch) ein Umweltstaat94 zu sein. So wichtig die Verfassung für einen Staat ist, wäre es im Übrigen doch vermessen, in der Verfassung diejenige Kraft zu sehen, die ein Staat im Innersten zusammen hält. Nein, der Zusammenhalt geschieht durch das Volk, durch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in einem Land. Dabei kann freilich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auch durch eine gute politische Ordnung und eine funktionierende Verfassung gestützt und gefördert werden. Insoweit kann eine gute Verfassung eine wichtige Grundlage für einen den Staat zusammenhaltenden Grundkonsens einer Nation sein. Die Verfassung als Rechtsnorm ist dabei freilich stets nur ein Instrument, ein Hilfsmittel zur Hervorbringung staatlicher Identität. Die Verfassung selbst ist nicht Staatsidentität und Verfassungspatriotismus ist deshalb gewiss auch nicht Patriotismus.95 Die Wiedervereinigung ist durch das Grundgesetz ermöglicht, nicht aber herbeigeführt worden. Im Nachhinein betrachtet hat eher ein Zusammenwirken unterschiedlicher Geschehnisse und Kräfte diese Wiedervereinigung ermöglicht: die friedliche Revolution in der DDR, die Ausbreitung des Freiheitswillens im ehemaligen Ostblock, die Perestroika, die US-amerikanische Solidarität, aber z. B. eben auch das Zusammenspiel „weicher und harter“ Politik in der Bundesrepublik (BrandtÏsche Ostpolitik einerseits, Nachrüstung unter Schmidt und Kohl andererseits). Die Verfassung kann solche historischen Vorgänge begleiten und verarbeiten sowie im besten Falle erleichtern. Sie kann aber historische Vorgänge weder erzeugen noch substituieren.

94 95

Kloepfer (Fn. 4), § 12; ders., Umweltstaat, 1989. Kloepfer (Fn. 4), § 9 Rn. 39.

Outsourcing von Gesetzentwürfen – ein Scheinproblem Von Fritz Ossenbühl

I. Anlass des Themas Im Zusammenhang mit der Finanzkrise war der Bundesregierung die Aufgabe gestellt, binnen kürzester Zeit (in einem Fall innerhalb von 48 Stunden1) Gesetzentwürfe zu Vorhaben der Finanzmarktstabilisierung zu erstellen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, hat der am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Bundesminister für Wirtschaft zweierlei getan, was in der bisherigen Praxis in der geschehenen Form nicht vorgekommen ist: Er hat erstens eine Anwaltskanzlei in das Entwurfsverfahren eingeschaltet und er hat zweitens den anwaltlichen Beistand in einer bis dahin nicht gekannten Intensität in Anspruch genommen. Dabei soll es zur Fertigung von Gesetzesentwürfen durch eine Kanzlei gekommen sein. Die Einzelheiten dieser Vorgänge sind inzwischen sowohl durch Auskünfte der Bundesregierung2 auf parlamentarische Anfragen im Bundestag wie auch durch Berichte anderer Beteiligter3 aufgeklärt. Weil es sich um ein neuartiges Ereignis handelte, hat es naturgemäß die Aufmerksamkeit der Tagespresse gefunden und dadurch vermittelt auch das Interesse der Wissenschaft.4 Im Folgenden geht es mir in erster Linie darum, wie sich die wissenschaftliche Literatur dieses Themas aus gegebenem Anlass angenommen hat.

II. Outsourcing – ein Unbegriff im Kontext der Jurisprudenz Bemerkenswert ist zunächst, dass auch die juristischen Schriftsteller einem schädlichen Modernitätsstreben nicht nachgeben können und für einen nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalt kurzerhand einen Begriff importieren, der verfehlt ist und sich in der juristischen Argumentation wie ein Virus auswirkt.5 Outsourcing 1

Vgl. Wolfers, Finanzmarktstabilisierung 2008: „Gefahrenabwehr“ in 48 Stunden, in: Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing, 2011, S. 161 ff. 2 Vgl. BT-Drucks. 16/14133, 16/13983. 3 Vgl. die Beiträge von Risse, Endler, Wolfers in: Kloepfer (Fn. 1). 4 Vgl. Krüper, Lawfirm – legibus solutus?, JZ 2010, 655; Kloepfer (Hrsg.) (Fn. 1). 5 Vgl. Battis, Outsourcing von Gesetzentwürfen?, ZRP 2009, 201; Begriffsverwendung schon vorher durch Kettiger, Wer soll Gesetze Vorbereiten – Organisationsformen der legis-

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ist ein Begriff der Ökonomie und betrifft die Auslagerung von Aufgaben auf andere Unternehmen, die diese Aufgabe selbständig und eigenverantwortlich erfüllen und dem auslagernden Unternehmen ihr Produkt liefern. Im juristischen Bereich ist dieser Begriff ungebräuchlich. Wenn es um die Auslagerung von hoheitlichen Aufgaben geht, dann kommt dem Outsourcing am ehesten der im juristischen Sprachgebrauch bekannte Begriff der Privatisierung nahe. Hingegen hat das Outsourcing mit dem juristischen Begriff etwa der Delegation oder des Mandates nichts gemein.6 Von Outsourcing bei Gesetzentwürfen zu sprechen, wäre also nur dann gerechtfertigt, wenn Gesetzentwürfe in private Hand gegeben würden und der von Privaten erstellte Gesetzentwurf als fertiges Produkt unverändert und ungeprüft übernommen würde, die Herstellung des Produkts „Gesetzentwurf“ seinerseits also, in der alleinigen Konzeption, Herstellung und Verantwortung des Privaten läge. Bleibt die Verantwortung und Urheberschaft trotz der weitestgehenden Mithilfe Privater bei der Erstellung von Gesetzentwürfen in der Zuständigkeit der Bundesregierung, so ist es schlicht falsch, den Begriff des Outsourcing zu verwenden. Überdies ist evident und bedarf keiner verfassungsrechtlichen Ableitungen, dass eine Privatisierung der Erstellung von Gesetzentwürfen mit Art. 76 GG in Widerspruch steht. Aus diesem Grunde ist ebenso offenkundig, dass ein Outsourcing von Gesetzentwürfen verfassungswidrig wäre. Ein solches Outsourcing ist genau besehen eigentlich gar kein Thema des deutschen Verfassungsrechts. Dennoch hat dieses Thema breite Aufnahme im wissenschaftlichen Schrifttum gefunden und ist schließlich auch zum Thema für die Eröffnung eines Instituts für Gesetzgebung geworden.7 Interessant dabei ist der Verlauf der Diskussion.

III. Art und Weise der Themenbehandlung Aufschlussreich ist, wie sich die wissenschaftliche Literatur des Themas aus gegebenem Anlass angenommen hat. Am Anfang steht eine knappe Wiedergabe skandalisierender Stellungnahmen in der üblichen Tagespresse auf der einen und abwiegelnde Gegenäußerungen auf der anderen Seite, die das Problem weder erhellen noch weiterführen.8 Aber schon wird in der Überschrift der für die juristische Begriffswelt als Virus wirkende „Unbegriff“ Outsourcing verwendet.9

tischen Arbeit ZG, 2002, 269; Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, DVBl. 2004, 986 (991). 6 Vgl. auch Wimmer, „Gesetzgebungsoutsourcing“ – einige Gedanken (nicht nur) zur Abordnung von Rechtsanwälten zu gesetzesvorbereitenden Stellen, in: Kloepfer (Fn. 1), S. 131. 7 Vgl. Kloepfer (Fn. 1). 8 Battis (Fn. 5). 9 Battis (Fn. 5); Kloepfer (Fn. 1).

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In einer ausführlichen Untersuchung mit dem Titel „Lawfirm – legibus solutus?“ wird von Krüper10 kurzerhand unterstellt, es sei „die großzügige Praxis verschiedener Bundesministerien bekannt geworden, die Ausarbeitung eiliger oder sachlich hochkomplexer Gesetzentwürfe an spezialisierte Anwaltskanzleien zu delegieren und deren Entwürfe praktisch unverändert in das Gesetzgebungsverfahren einzuspeisen.“11 Damit werden anwaltliche Kanzleien vorbehaltlos als „Urheber von Gesetzentwürfen“12 apostrophiert und das Problem als „anwaltliche Gesetzgebung“13 definiert und etikettiert. Ob mit diesen Charakterisierungen noch irgendein Realitätsbezug verbunden werden kann, bleibt außer Betracht. Stattdessen wird die Begriffsverwirrung noch vollständiger gemacht, indem nun nicht nur von Outsourcing, sondern auch von dem in diesem Zusammenhang unpassenden Begriff der „Delegation“ von Gesetzentwürfen gesprochen wird.14 Der wahre Sachverhalt wird nicht weiter aufgeklärt. Eine solche Aufklärung hätte auch für das Projekt einer verfassungsdogmatischen Untersuchung nur störend wirken können. Mit dem Vorstellungsbild einer „anwaltlichen Gesetzgebung“, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Anwaltskanzlei einen Gesetzentwurf ganz oder teilweise ausformuliert, der dann unverändert und ohne weiteres in das Gesetzgebungsverfahren eingespeist wird, hat man ein notfalls aus der Retorte stammendes Problem vor sich, das man sozusagen störungsfrei von situativen Besonderheiten mit verfassungsrechtlichen Prinzipien befragen und beurteilen kann. Sodann wird das exekutive Initiativrecht sowohl auf das Demokratiegebot wie auch auf das Rechtsstaatsprinzip zurückgeführt,15 um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Regierung Regie und Entscheidungsverantwortung für Gesetzentwürfe nicht vollständig aus der Hand geben, sich allenfalls der Mithilfe Dritter bedienen darf. Indessen bedarf es weder diffiziler verfassungsrechtlicher Überlegungen noch eines besonderen verfassungsrechtlichen Sachverstandes, um zu erkennen, dass „anwaltliche Gesetzgebung“ als solche verfassungsrechtlich unzulässig ist. Dabei bleibt es jedoch nicht. Weil „anwaltliche Gesetzgebung“ das verfassungsrechtliche Gefüge rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien „ins Wanken“ bringt, sind „kompensatorische Maßnahmen erforderlich“.16 – Als solche Maßnahmen werden angeboten respektive gefordert in erster Linie Transparenz über die „Einbindung von Kanzleien“17, Transparenz aber nicht nur gegenüber dem Parlament, sondern „für die Öffent10 11 12 13 14 15 16 17

Krüper (Fn. 4). Krüper (Fn. 4), 655. Krüper (Fn. 4), 655 (658). Krüper (Fn. 4), 655 (659). Krüper (Fn. 4), 655 (661). Krüper (Fn. 4), 655 (657). Krüper (Fn. 4), 655 (658). Krüper (Fn. 4), 655 (661).

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lichkeit“.18 Überdies wird gefordert eine Begründung, warum die bei Kanzleien nachgefragte Zuarbeit nicht mit eigenen Mitteln des Ministeriums erfüllt werden kann. Und schließlich wird auch ein „Akt inhaltlicher Aneignung“19 durch das Ministerium verlangt, der die politische Zurechnung gegenüber dem Ministerium dokumentieren soll. Was von solchen Darlegungen zu halten ist, wird noch zu erörtern sein. Was an den verfassungsrechtlichen Überlegungen stört, ist der Umstand, dass auf dem ungesicherten Boden fiktiver und zugespitzter tatsächlicher Annahmen mit verfassungsrechtlichen Dogmen argumentiert, um nicht zu sagen spekuliert wird. Befreiend wirkt in der einschlägigen Diskussion demgegenüber die von Kloepfer veranstaltete Tagung zum Thema „Gesetzgebungsoutsourcing“.20 Bei ihr kamen zahlreiche Stimmen zu Wort, die in erster Linie aus der Praxis stammen, und zwar von Autoren jenseits und diesseits staatlicher Zuständigkeiten. Die rechtlichen Beurteilungen und Bewertungen treten gegenüber einer Aufarbeitung der tatsächlichen Vorgänge, die stattgefunden und zur medialen Aufregung geführt haben, zurück. Deutlich wird nach dieser Aufklärung, dass wohl in der Tat nicht mehr zurückgeblieben ist als ein „Sturm im Wasserglas“.21 „Anwaltliche Gesetzgebung“ im Sinne eines echten Gesetzgebungsoutsourcing hat nicht stattgefunden. Deshalb wird auch die Verwendung des Begriffs des Outsourcings in diesem Zusammenhang kritisiert22, wie gezeigt mit Recht. Der Fall besonders intensiver Beratung durch Anwaltskanzleien, wie er geschehen ist, war kein Outsourcing und damit eine bisher nicht gekannte neue Kategorie, die auch einen neuen Begriff erfordert, sondern allenfalls eine an die Grenze zulässiger Beratung gehende Aktion der Bundesregierung bei der Erstellung von Gesetzentwürfen. Solche Beratung und Mithilfe durch außenstehende Dritte ist ein Problem, seitdem es parlamentarische Gesetzgebung gibt. Die Beratung durch Anwaltskanzleien in diesem Feld ist kein Sonderfall. Anwaltskanzleien sind als Berater nicht von vornherein verfassungsrechtlich ausgegrenzt. Sie bieten innerhalb des Kreises infrage kommender außenstehender Dritter eine Gruppe, die spezifische Probleme mit sich bringen kann. Das wohl, aber deshalb sind die Anwaltskanzleien keine spezielle Gruppe, die unter dem Topos des Gesetzgebungsoutsourcings eine Sonderbeurteilung verlangten. Die vorgefallenen Inanspruchnahmen der Anwaltskanzleien durch die zuständigen Bundesministerien sind also gewiss Anlass genug, über die Grenzen sachverständiger Beratung bei der Erstellung von Gesetzentwürfen durch die Bundesregierung neu nachzudenken, nicht aber rechtfertigender Grund, ein Sonderrecht für eine in Betracht kommende Beratergruppe zu kreieren. In diesem Sinne wollen die folgenden kritischen Anmer18

Wie vorige Fußnote. Wie vorige Fußnote. 20 Vgl. Kloepfer (Fn. 1). 21 So der Präsident des Deutschen Anwaltsvereins, FAZ, 14. 08. 2009, S. 12 (zitiert bei Battis (Fn. 5)). 22 Vgl. Wimmer (Fn. 6). 19

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kungen zu der neu aufgeflammten Diskussion um die sachkundige Beratung im Gesetzgebungsverfahren verstanden sein.

IV. Verfassungsrechtliche Aspekte 1. Ausgangspunkt Art. 76 Abs. 1 GG Der Wortlaut des Grundgesetzes enthält lediglich die Aussage, dass Gesetzesvorlagen „durch die Bundesregierung“ beim Bundestag eingebracht werden. Dies ist eine Verfahrensregel, die keinerlei Aussagen über das Zustandekommen der Gesetzesvorlage enthält.23 Gesetzesvorlagen können auf vielfältige Weise zustande kommen und ganz unterschiedliche Urheber haben. Es kann sich um Gesetzentwürfe Einzelner oder einer Gruppe von Wissenschaftlern handeln, einer Sachverständigenkommission, womöglich eingesetzt von der Bundesregierung, oder einer Interessengruppe. Solche Gesetzesurheber haben jedoch keinen Zugang zum Parlament als Gesetzgeber. Diesen Zugang hat – neben den anderen in Art. 76 Abs. 1 GG genannten Stellen – nur die Bundesregierung. Art. 76 Abs. 1 GG sagt auch nicht, dass die Gesetzesvorlage eine solche „der Bundesregierung“ sein muss, sondern die Verfassungsvorschrift schreibt lediglich vor, dass die Gesetzesvorlage „durch die Bundesregierung“ beim Bundestage eingebracht werden kann. Allerdings bedeutet das Initiativrecht der Bundesregierung, dass die Verantwortung für die Gesetzesvorlage der Bundesregierung zugerechnet wird und die Bundesregierung mit der Einbringung die Gesetzesvorlage als ihre eigene deklariert und sich zu eigen gemacht hat.24 Gesetzesvorlagen, die „durch die Bundesregierung“ beim Bundestag eingebracht werden, sind also Gesetzesvorlagen „der Bundesregierung“, d. h. Gesetzesvorlagen, für die die Bundesregierung die Verantwortung trägt. Eines besonderen womöglich inhaltlich qualifizierten „Aktes der Aneignung“ bedarf es nicht.25 Formell geschieht das „Sich zu eigen machen“ regelmäßig durch den der Einbringung vorausgehenden Kabinettsbeschluss.26 Das Grundgesetz enthält demzufolge für das Zustandekommen des Gesetzentwurfs keine Vorgaben. Wer dem Verfahren der Erstellung des Gesetzentwurfs Direktiven oder Beschränkungen auferlegen will, ist deshalb gehalten, solche Anforderungen mit der notwendigen Plausibilität anderen Verfassungsprinzipien zu entnehmen.

23

Vgl. Masing, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 76, Rn. 2 ff.; Risse, Verfassungsrechtliche und politische Grenzen des Gesetzgebungsoutsourcing, in: Kloepfer (Fn. 1) S. 109 (113). 24 Vgl. Risse (Fn. 23), S. 109 (114). 25 So Krüper (Fn. 4), 655 (661). 26 Vgl. Risse (Fn. 23).

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2. Gesetzgebung und Rationalitätsanpruch Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Phänomens des Gesetzgebungsoutsourcings baut Krüper ein Szenario auf, welches aus der Spannungslage zwischen Demokratieprinzip und Rechtsstaatsgebot für die Gesetzgebung bestehen soll.27 Über das Demokratieprinzip fließe dem Gesetz Legitimation zu; das Rechtsstaatsgebot hingegen verlange von der Gesetzgebung Rationalität im Sinne von Sachgerechtigkeit des zu regelnden Gegenstandes. Schon dieser Ansatz ist zumindest schief. Ob dem Rechtsstaatsprinzip ein „verfassungsrechtliches Rationalitätsgebot“ immanent ist, welches soweit plausibel konkretisierbar ist, dass aus ihm konkrete Folgerungen für die Erstellung eines Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung gezogen werden können, ist mehr als zweifelhaft. Rationalitätsanforderungen an einen Gesetzentwurf können nicht weiter gehen als entsprechende Anforderungen, die an ein Gesetz gestellt werden. Gesetzliche Regelungen sollten selbstredend der Sachgerechtigkeit des jeweiligen Regelungsgegenstandes entsprechen, also sachgerecht und „vernünftig“ sein. Dies ist ein Handlungsziel der Politik schlechthin, kein verfassungsrechtliches Gebot. Die Sachgerechtigkeit bleibt jedoch nicht selten auf der Strecke. Denn das Gesetz ist in der Demokratie das Produkt eines Kompromisses und als solches Ausdruck der demokratischen Mehrheitsentscheidung. Seine maßgebliche praktische Grundlage ist die politische Akzeptanz, nicht seine sachliche Richtigkeit (Quis judicabit?) oder innere Vernunft.28 Der Gesetzgeber braucht also keineswegs nur auf die ratio zu schauen; er kann, ja er muss auch irrationale Strömungen in der Gesellschaft legislativ aufnehmen. Er kann Ängste, Hoffnungen und sonstige Befindlichkeiten in der Bevölkerung berücksichtigen und legislativ verarbeiten. Stehen Wahlen bevor, und das ist nicht selten, stehen Verstand und Vernunft ohnehin irrationalen Erwägungen und Prophezeiungen nach. Die abrupte Energiewende in der jüngsten Vergangenheit ist allgemein in diesem Sinne gedeutet worden. Das Parlament kann und darf also auch „aus dem Bauch entscheiden“. Grenzen ergeben sich nur aus verfassungsrechtlichen Regelungen des Minderheitenschutzes (Grundrechte!) und auch der Vernunft und des Maßes, soweit sie sich in Verfassungsprinzipien wiederfinden (Übermaßverbot). Rationalitätsanforderungen hat das Bundesverfassungsgericht im Übrigen erfunden, weil sie als Kontrollmaßstäbe notwendig waren.29 Die Bestrebungen, dem Gesetzgeber möglichst „rationale“ Zügel anzulegen, konnten sich nicht durchsetzen.30 Aber was soll aus diesem Ansatz für die gestellte Frage nach dem Gesetzgebungsoutsourcing folgen? Ein verfassungsrechtliches Rationalitätsgebot würde eine sach27

Krüper (Fn. 4), 655 (657). Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 102, Rn. 7. 29 Vgl. Cornils, Rationalisierungsanforderungen an die parlamentarische Gesetzgebung im demokratischen Staat, DVBl. 2011, 1053. 30 Das Thema war auch Gegenstand der Beratungen bei der Staatsrechtslehrertagung 2011 in Münster, deren Veröffentlichungen im Frühjahr 2012 folgen. 28

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verständige Hilfe von außen bei der Gesetzgebung stützen und womöglich sogar fordern. Zulieferungen von außen mögen sachlich fundierter oder „richtiger“ sein; ihnen fehlt aber die Legitimation. Deshalb wird gefordert, dass die als gesetzesvorbereitende Instanzen legitimierten Bundesministerien selbst hinreichend Hand anlegen müssten, damit die Legitimation des Gesetzentwurfs nicht verloren geht.31 Doch das überzeugt nicht. Entscheidend für die demokratische Legitimation ist allein, ob die legitimierte Instanz sich den Gesetzentwurf zu eigen macht, also sich mit ihm inhaltlich identifiziert. Anderes wird auch vom Parlament nicht verlangt, wie beispielsweise der in Gesetzesform gekleidete Atomkompromiss hinreichend deutlich belegt.32 3. Erfordernis von Sicherungsmechanismen a) Forderungen im Schrifttum Gefahr und zugleich Ärgernis eines Gesetzgebungsoutsourcings, verstanden im Sinne eines textlich vorformulierten Gesetzentwurfs oder eines Teils eines solchen Gesetzentwurfs, wird in der faktischen Vorprägung des Gesetzesinhalts gesehen.33 Dabei wird an die allgemein bekannte Beharrungskraft von Texten gedacht, die bei Beratungen auf dem Tisch liegen, gleichsam die Argumentationslast umkehren, zur Widerlegung zwingen und vielleicht die eigene Initiative im Nachdenken erlahmen lassen. Von einigen Schriftstellern werden unterschiedlich strenge Sicherungsmechanismen vorgeschlagen34, die der genannten, aus der Erfahrung vielfach bestätigten Tatsache entgegenwirken sollen. Zu diesen Sicherungsmechanismen wird als Erstes ein Transparenzgebot aufgestellt. Wenn Anwaltskanzleien eingeschaltet worden sind, so soll dies bekannt gegeben werden. Dabei bleibt wiederum undeutlich, wem gegenüber diese Transparenz angezeigt sein soll. Nahe liegt es wohl, dass der Bundestag respektive der Bundesrat damit gemeint ist. Aber es gibt auch die Forderung, dass die Bekanntgabe gegenüber der „Öffentlichkeit“ erfolgen soll.35 Darüber hinaus wird zum Teil verlangt, dass die Bundesregierung bei Heranziehung von Anwaltskanzleien eine Begründung dafür abzugeben hat, warum sie nicht selbst in der Lage ist, mit eigenen Mitteln und eigenem Sachverstand die nachgefragte Aufgabe zu bewältigen. Darüber hinaus wird sogar gefordert, die der Bundesregierung aufzuerlegende Begründungspflicht erfasse auch „Einzelheiten des Entwurfs“, denn der „gesetzgebende Teufel stecke im Detail“.36 Andere Autoren aus dem wissenschaftlichen Lager meinen, bei der „externen 31

Krüper (Fn. 4), 655 (661). Vgl. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 230 ff. 33 Vgl. Krüper (Fn. 4). 34 Vgl. Battis, Verfahrensrechtliche Lösungen beim Gesetzgebungsoutsourcing, in: Kloepfer (Fn. 1), S. 123 ff.; Krüper (Fn. 4), 655 (661). 35 Wie vorige Fußnote. 36 Krüper (Fn. 4), 655 (661). 32

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Erarbeitung von Gesetzesvorlagen“ seien „verfahrensrechtliche Regelungen strikt zu beachten“, verweisen dann aber für solche Regelungen lediglich auf Kapitel 6 der GGO.37 b) Kritik der Forderungen Bemerkenswert an dieser Diskussion ist, dass – von einigen Ausnahmen abgesehen38 – auch in der wissenschaftlichen Literatur die vorgefallene Einschaltung von Anwaltskanzleien in die Erstellung von Gesetzentwürfen als eine gefährliche Fehlentwicklung eingeschätzt wird, der es vorzubeugen gilt. Dabei wird dann überlegt, welche praktischen Möglichkeiten es gibt, eine solche Prävention zu verwirklichen, ohne sich zuvor darüber Klarheit zu verschaffen, ob und welche rechtlichen Möglichkeiten hierfür zur Verfügung stehen. Eine kritische Betrachtung des Problems hat aus verfassungsrechtlicher Sicht von folgenden Fragen auszugehen: Erstens: Liegt in den in der Tagespresse dargestellten Sachverhalten überhaupt ein Fall des Gesetzgebungsoutsourcings vor und zeigt sich insoweit ein Missstand in der Verfassungspraxis? Zweitens: Falls ein solcher Missstand vorliegen sollte, dessen Abhilfe geboten ist, auf welchen rechtlichen Grundlagen können entsprechende Sicherungsmechanismen beruhen? Drittens: Falls es Sicherungsmechanismen in Gestalt von Regeln geben sollte, welche Sanktionen bestehen in diesem Falle bei entsprechenden Regelverletzungen? Was die erste Frage anbetrifft, so scheidet ein Gesetzgebungsoutsourcing verstanden im Sinn einer Privatisierung von vornherein aus. Denn mit dem Kabinettsbeschluss und der Einbringung der Gesetzesvorlage in den Bundestag ist der Gesetzentwurf formell als Entwurf der Bundesregierung dokumentiert. Dabei ist es gleichgültig, wer dem Gesetzentwurf oder einzelnen Teilen des Entwurfs seine endgültige inhaltliche und sprachliche Form gegeben hat. In den hier in Rede stehenden Fällen, in denen Anwaltskanzleien maßgeblich an der Formulierung von Gesetzentwürfen beteiligt waren, liegt aber auch kein nachgewiesener Fall vor, in dem die Bundesregierung und die den Entwurf vorbereitenden Bundesministerien einen Gesetzentwurf oder Teile von diesen übernommen haben, ohne nach sachgemäßer und sachkompetenter Prüfung sich die zugearbeiteten Teile inhaltlich zu eigen zu machen.39 Davon abgesehen sind die Fälle, in denen die gesetzvorbereitenden Bundesministerien die sachverständige Beratung und Hilfe Dritter in Anspruch genommen haben, schon 37

Battis (Fn. 34). Z. B. Risse (Fn. 23), S. 109 (120 f.). 39 Dies ergeben weder die Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen (vgl. Fn. 2) noch die Zeugnisse sonstiger am Gesetzgebungsverfahren Beteiligter (vgl. die Referate in: Kloepfer (Fn. 1)). 38

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statistisch die Ausnahme.40 Unter dem Strich ergibt sich die nüchterne Feststellung, dass die Aufregung in der Presse eher als „Sturm im Wasserglas“41 denn als Anprangerung eines wirklichen oder vermeintlichen Missstandes zu charakterisieren ist. Sieht man von diesem tatsächlichen Befund ab, so ist die weitere Frage zu stellen, ob Umfang und Maß der fachlichen Beratung bei der Erstellung von Gesetzentwürfen überhaupt ein verfassungsrechtliches Thema ist oder ob es nur um einen rechtlich nicht reglementierten politischen Prozess geht. Misstrauen gegen Einflüsse auf die Gesetzesvorbereitung von außen, im vorliegenden Zusammenhang speziell gegenüber der Einschaltung von Anwaltskanzleien, beruht auf der Vorstellung, dass sich diese Kanzleien Vorteile verschaffen und überdies die Gesetzgebung in ihrem Sinne beeinflussen könnten. Diese Bedenken erscheinen mir weit übertrieben. Mit Recht ist in diesem Zusammenhang auf das Strucksche Gesetz hingewiesen worden, nach welchem kein Gesetzentwurf den Bundestag unverändert verlässt.42 Gewiss sind Gesetzentwürfe der Bundesregierung mit einer eigenen fachlichen Autorität versehen, die faktisch auch bei den Beratungen im Bundestag wirken mag. Solche faktischen Vorprägungen sind jedoch keine besondere Eigenheit bei der Erstellung von Gesetzentwürfen. Sie bestimmen die gesamte Politik. Niemand kann den Politikern vorschreiben, wo und wie sie ihre Überzeugungen gewinnen. Auch besteht insoweit keine Offenlegungspflicht. Und wiederholt sei auch, worauf schon an anderer Stelle mit Recht hingewiesen worden ist, dass der Einfluss auf die Gesetzgebung von außen in einigen Bereichen, namentlich im technischen Sicherheitsrecht, bei weitem intensiver ist als in den hier in Rede stehenden Fällen bei der Gesetzesvorbereitung.43 Vieles spricht also dafür, dass das, was als „Gesetzgebungsoutsourcing“ neuerdings diskutiert wird, in Wirklichkeit gar kein rechtliches Thema ist. Dafür zeigt sich zum einen am Mangel an rechtlichen Grundlagen für eine rechtliche Beurteilung und des weiteren im Hinblick auf die bislang überhaupt noch nicht behandelte Frage, welche rechtlichen Folgen (Sanktionen) sich ergeben, wenn die Gesetzentwürfe den vielfach aufgestellten Sicherungsmaximen nicht entsprechen. Schon bei der Frage, woher die rechtlichen Grundlagen genommen werden sollen, aufgrund deren man der Bundesregierung bei der Erstellung eines Gesetzentwurfs Schranken auferlegen kann, ergeben sich erhebliche Probleme. Wie gezeigt enthält das Grundgesetz insoweit in Art. 76 GG keinerlei Vorgaben. Verfassungsrechtliche Schranken können allenfalls aus grundgesetzlichen Direktiven oder Geboten resultieren. Da solche Direktiven oder Gebote explizit nicht existieren, wird versucht, sie in weit hergeholten Ableitungen aus verfassungsrechtlichen Grundprinzipien zu gewinnen.

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Vgl. die Auskünfte in den BT-Drucks. (Fn. 2). Vgl. Fn. 21. 42 Risse (Fn. 23), S. 109 (120). 43 Vgl. Risse (Fn. 23), S. 109 (111); Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 28), § 104, Rn. 7 ff. 41

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Weil Art. 33 Abs. 4 GG nicht einschlägig ist44, wird insbesondere das Demokratieprinzip bemüht. Die Entfernung dieser hochabstrakten Prinzipien zu den konkreten angeblichen oder vermeintlichen Missständen, die es zu beheben gilt, sind jedoch so groß, dass solche Ableitungen eher durch Vorurteile und Spekulationen als durch rationale plausible Folgerungen gekennzeichnet sind. Die Methode ist schlicht die, dass ein Missstand angenommen und wie bei einem Unternehmensproblem danach gefragt wird, welche Maßnahmen geeignet sind, den vermeintlichen Missstand zu beheben. Es wird so getan, als ginge es um bloßes Ingenieurwissen zur Lösung eines technischen Problems. Auf diese Weise kommen dann durchgehend das Transparenzgebot (Wo steht das im Grundgesetz?), Begründungspflichten und sog. verfahrensrechtliche Lösungen zum Vorschlag. Ihre verfassungsrechtlichen Fundamente und Absicherungen bleiben jedoch entweder ungenannt oder mehr als vage. Wunschvorstellungen und subjektive Vernunfterwägungen können jedoch verfassungsrechtlich geforderte Grundlagen für die Beschränkung von Regierungshandeln nicht ersetzen. Die verfassungsrechtlichen Erwägungen schweben deshalb genau so fiktiv über der ratio wie die vermeintlichen Missstände über der Realität. Und selbst wenn man all den Rezepten für eine Kanalisierung des Verfahrens bei der Erstellung von Gesetzentwürfen folgen wollte, niemand sagt etwas zu der Frage, welche Sanktion denn eintreten soll, wenn gegen die von vielen Seiten frei erfundenen Schranken für die Bundesregierung nicht eingehalten werden, der also verfahrensfehlerhaft zustande gekommene Gesetzentwurf der Bundesregierung im Bundestag eingebracht, dort beschlossen und als Gesetz verkündet wird. Wo und in welchem Stadium in diesem Verfahrensablauf Sanktionen eintreten sollen, bleibt schleierhaft. Es ist nicht zu sehen, dass die vielfach aufgestellten Regeln gegen angebliche Missstände bei der Erstellung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung mehr sein können als sanktionslose Verhaltensnormen.

V. Resümee Gesetzgebungsoutsourcing gibt es weder im Verfassungsrecht noch in der Verfassungswirklichkeit. Es ist schlechthin ein Scheinproblem. Der Begriff ist als Rechtsbegriff ein „Unbegriff“ und sollte schleunigst wieder vergessen werden. Die Erstellung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung wird vom Grundgesetz keinen expliziten Regelungen unterworfen, sondern angesichts der übernommenen Praxis offenbar dem verantwortlichen politischen Prozess überlassen. Wie Gesetzentwürfe optimal zustande kommen können, liegt im politischen Ermessen der Bundesregierung. Nachweisbare Missstände bei der Aufstellung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung hat es bislang nicht gegeben. Die Bundesministerien als vorbereitende Instanzen haben das Initiativrecht der Bundesregierung verantwortlich und 44

Anders Krüper (Fn. 4), 655.

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sorgfältig gehandhabt und vor allem von der Inanspruchnahme außenstehender Dritter nur selten und nur bei gegebener Notwendigkeit Gebrauch gemacht. Die wissenschaftliche Literatur hat keine Veranlassung, auf alle investigativen und skandalisierenden Neigungen der Tagespresse zu reagieren. Der Diskussion ist ein schnelles Ende zu wünschen. Die hier aufgewendeten intellektuellen Energien werden an anderer Stelle dringend gebraucht.

Die Drittintervention vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Überlegungen zu einigen Besonderheiten des Verfahrens Von Gerhard Robbers

I. Drittintervention und Restitutionsklage Die Europäische Menschenrechtskonvention sieht in ihrem Art. 36 mehrere Formen der Beteiligung Dritter im Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor. In allen bei einer Kammer oder der Großen Kammer anhängigen Rechtssachen ist gemäß Art. 36 Abs. 1 EMRK die Hohe Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer besitzt, berechtigt, schriftliche Stellungnahmen abzugeben und an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen. Ebenso ohne weiteres beteiligen kann sich der Kommissar für Menschenrechte des Europarats; er kann gemäß Art. 36 Abs. 3 EMRK ebenfalls in allen bei einer Kammer oder der Großen Kammer anhängigen Rechtssachen schriftliche Stellungnahmen abgeben und an den mündlichen Verhandlungen teilnehmen. Demgegenüber darf es für die Beteiligung anderer Dritter der besonderen Zulassung. Im Interesse der Rechtspflege kann der Präsident des Gerichtshofs jeder Hohen Vertragspartei, die in dem Verfahren nicht Partei ist, oder jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit geben, schriftlich Stellung zu nehmen oder an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen. Das Grundkonzept dieser Regelungen ist das der Information und Beratung des Gerichtshofs. Es folgt der Struktur des Beschwerdeverfahrens, das sich gegen einen Staat richtet und nicht zwei gleichgestellte Streitparteien kennt. Die Drittintervention ist dabei wenn nicht ausschließlich, so doch stark an die wesentlich dem angelsächsischen Rechtskreis entstammende Tradition des amicus curiae briefs angenähert. Unterschiedliche Sichtweisen, gesellschaftliches und staatliches Wissen sowie die Vielfalt von Interessenlagen sollen dem Gerichtshof zur Kenntnis gebracht werden. In diese Tradition des amicus curiae briefs reiht sich auch die Drittintervention gemäß Art. 36 Abs. 2 EMRK von „betroffenen Personen, die nicht Beschwerdeführer“ sind, ein. Deshalb überrascht es nicht, dass eine der führenden Kommentierungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention als Dritte im Sinne von Art. 36 Abs. 2 EMRK lediglich Staaten und Nichtregierungsorganisationen er-

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wähnt1. Es scheint, dass in durchaus zunehmendem Maße Menschenrechtsgruppen, Nichtregierungsorganisationen und Interessenverbände Gebrauch von diesem Verfahrensinstrument machen, um ihre Sichtweisen und Interessen in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubringen. Dem Gerichtshof steht so ein Mittel zur Verfügung, neue und erweiterte Einsichten zu gewinnen, die für das konkrete Verfahren Bedeutung besitzen können. Entsprechend ist das Verfahren der Drittintervention nach der Konvention und den Verfahrensregeln des Gerichtshofs ausgestaltet. Für Parteien, die im Ausgangsverfahren in Deutschland obsiegt haben, bringt dies Probleme mit sich. Sie sind im Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anders als der Beschwerdeführer in nur eingeschränktem und begrenztem Maße beteiligt. Im Ausgangsverfahren in Deutschland standen sich die gegnerischen Parteien gleichberechtigt gegenüber; im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschrechte ist das anders. Für die im Ausgangsverfahren in Deutschland obsiegende Partei können sich daraus Nachteile ergeben, bei denen fraglich ist, ob sie durch die Besonderheiten des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof gerechtfertigt werden können. Die Probleme ergeben sich zunächst und in besonderem Maße aus der Möglichkeit der Restitutionsklage für den vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte obsiegenden Beschwerdeführer in Deutschland. Gemäß § 580 Nr. 8 ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Diese Norm findet Anwendung auch in Verfahren vor den Arbeitsgerichten (§ 79 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 580 Nr. 8 ZPO), den Verwaltungsgerichten (§ 153 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 580 Nr. 8 ZPO), den Sozialgerichten (§ 179 Abs. 1 SGG i.V.m. § 580 Nr. 8 ZPO) und den Finanzgerichten (§ 134 FGO i.V.m. § 580 Nr. 8 ZPO). Gemäß § 48 Abs. 2 FamFG kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Buches 4 der Zivilprozessordnung wiederaufgenommen werden. § 359 Nr. 6 StPO bestimmt, dass die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig ist, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht2.

1

Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, 3. Aufl., 2009, Art. 36, Rn. 2 – 4. § 359 Nr. 6 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 09. 07. 1998, BGBl. 1998 I, S. 1802. 2

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Gemäß § 35 EGZPO ist § 580 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, nicht anzuwenden3. Damit sind nur neuere Verfahren von der Restitutionsmöglichkeit betroffen. § 580 Nr. 8 ZPO wurde eingefügt durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 22. Dezember 20064. Er beruht auf der Erwägung5, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weder die Kompetenz hat, Rechtsnormen für nichtig zu erklären, noch die Möglichkeit besitzt, Urteile der nationalen Gerichte aufzuheben, durch die Rechte der Konvention verletzt werden. Er stellt lediglich eine Verletzung der Rechte aus der Konvention fest. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben jedoch bindende Wirkung. Dies folgt aus Art. 46 Abs. 1 EMRK, wonach die Vertragsparteien sich verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Der Konventionsstaat ist verpflichtet, die Konventionsverletzung abzustellen und Ersatz für die Folgen zu leisten. Die Überwachung dieser Verpflichtung erfolgt gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK durch das Ministerkomitee. Soweit eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lediglich in die Zukunft weist, verursacht ihre Umsetzung in Deutschland in aller Regel keine rechtlichen Probleme. Die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention muss beendet und darf nicht wiederholt werden. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch dann, wenn die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht allein durch zukünftig wirkende Maßnahmen beseitigt werden kann. Das gilt besonders für eine Verletzung durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung. Aus dem die Konventionsverletzung feststellenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgt keine Durchbrechung der Rechtskraft; die Rechtskraft der Entscheidung im Ausgangsverfahren bindet den Staat weiterhin. Eine Aufhebung des Urteils ist nach herrschender Meinung auch nur im Fall einer ausdrücklich geregelten Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Diese Möglichkeiten gab es zunächst lediglich nach § 359 Nr. 6 StPO. Eine analoge Anwendung des § 580 Nr. 7 lit. b ZPO6, um eine Wiederaufnahme zu begründen, hatte die Rechtsprechung mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts7 abgelehnt8. Nur bei Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK bestand nach deutschem Zivilprozessrecht und nach den auf die ZPO insoweit verweisenden Prozessordnungen die Möglichkeit der Wiederaufnahme jedenfalls insoweit, als einzelne 3 Vgl. dazu LArbG Düsseldorf, 7. Kammer, Urteil vom 04. 05. 2011 – 7 Sa 1427/10; gegen die Entscheidung ist Revision eingelegt (Az. des BAG: 2 AZR 570/11). 4 Art. 10 des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22. 12. 2006, BGBl. 2006 I, S. 3416). 5 Vgl. das Folgende in BT-Drucks. 16/3038, S. 39 f. 6 Vgl. etwa Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., 1994, Vorb. § 578, Rn. 58 m.w.N. in Fn. 134; Zöller, ZPO, 25. Aufl., 2005, Einl. Rn. 136. 7 BVerfG, Beschluss vom 17. 08. 2004 – 1 BvR 1493/04; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, Rn. 55, zitiert nach juris. 8 Vgl. etwa OLG Dresden, VIZ 2004, 459; OLG Brandenburg, VIZ 2004, 525.

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Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren mit den Wiederaufnahmegründen der ZPO übereinstimmen. Es konnte also dazu kommen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellte, ohne dass die die Konvention verletzende rechtskräftige deutsche Gerichtsentscheidung beseitigt werden konnte. Der Beschwerdeführer war in diesen Fällen grundsätzlich lediglich auf die Genugtuung der bloßen Feststellung der Rechtsverletzung und auf einen etwaigen Entschädigungsanspruch gemäß Art. 41 EMRK verwiesen. Die Ergänzung des § 580 ZPO hat diese Situation geändert. Durch die Verweise auf die Wiederaufnahmegründe der Zivilprozessordnung wirkt sich diese Ergänzung auch auf eine Reihe anderer Verfahrensordnungen aus. Ursprünglich galt auch § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO für diesen Zusammenhang. Danach war die Restitutionsklage nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tag der Rechtskraft des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an gerechnet, unstatthaft. Gegen diese Befristung hatte sich Widerspruch erhoben, weil zwischen dem Zeitpunkt der anzufechtenden Endentscheidung und einer Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht selten mehr als fünf Jahre liegen und § 580 Nr. 8 ZPO damit in solchen Fällen ins Leere laufen würde. Schon das zur Zulässigkeit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte notwendige Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor den Landesverfassungsgerichten bedarf regelmäßig eines erheblichen Zeitraumes. Nicht selten kommt zuvor ein Anhörungsrügeverfahren hinzu. Hierüber können Jahre vergehen. Mehrere Jahre dauern regelmäßig auch die Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte selbst. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hatte allerdings einer Petition zur Aufhebung der Befristung mit Beschluss vom 16. Dezember 2010 nicht entsprochen9. Nach damaliger Auffassung des Petitionsausschusses löst § 586 ZPO den Zielkonflikt zwischen Rechtsfrieden und Einzelfallgerechtigkeit in zufriedenstellender Weise. Nach Ablauf von fünf Jahren solle der Rechtssicherheit, hier also dem Vertrauen auf den Bestand eines rechtskräftigen Urteils, der Vorrang eingeräumt werden gegenüber der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall. Die Ausschlussfrist berücksichtige, dass nach einer gewissen Zeit auch die mit der Wiederaufnahme bezweckte Wiederholung des Prozesses etwa wegen Verschlechterung der Beweislage nicht mehr in angemessener Form möglich ist, zumal die Beteiligten von einer endgültigen rechtlichen Klärung der Verhältnisse ausgegangen seien. Damit werde den unterschiedlichen Interessen der Beteiligten Rechnung getragen. Für die Fälle, in denen die Interessenlagen der Beteiligten anders zu bewerten sind, bleibe der von der Ausschlussfrist nachteilig Betroffene nicht schutzlos. Nach der Rechtsprechung 9 Vgl. http://www.openpetition.de/petition/online/zivilprozessordnung-ergaenzung-der-zivil prozessordung-zu-klagefristen; vgl. zum weiteren Verlauf auch http://www.gruene-bundestag. de/cms/bundestagsreden/dok/385/385884.aenderung_des_522_zivilprozessordnung_zp.html.

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des Bundesgerichtshofs könne die Rechtskraft des Urteils über § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) durchbrochen werden, wenn eine Partei das objektiv unrichtige Urteil bewusst erschlichen hat oder ein solches Urteil sittenwidrig ausnutzt. Dies gelte sowohl dann, wenn der Betroffene noch Restitutionsklage einlegen könnte, als auch dann, wenn die Frist des § 586 ZPO bereits abgelaufen sei. Danach könne ein zu Unrecht Verurteilter sowohl die weitere Zwangsvollstreckung verhindern als auch Schadensersatz oder Auskehrung des bereits mit einer Zwangsvollstreckung Beigetriebenen verlangen. Habe andererseits ein Beklagter in sittenwidriger Weise die Abweisung einer Klage erreicht, könne er sich in einem Folgeprozess des damaligen Klägers unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf die entgegenstehende Rechtskraft des ersten Urteils berufen10. Für den Wiederaufnahmegrund eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention seien die Interessen des Prozessgegners demgegenüber in besonderem Maße zu berücksichtigen, wenn er zu dem festgestellten Menschenrechtsverstoß nichts beigetragen hat. Im Falle einer Wiederaufnahme werde er nämlich unverschuldet mit den Kosten, Rückabwicklungspflichten und sonstigen Begleiterscheinungen eines erneuten Prozesses belastet. Hinzu komme, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für den Fall, dass das Urteil gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, dem Betroffenen eine Entschädigung zusprechen kann, also bereits dadurch eine gewisse Kompensation erfolge. Insgesamt schaffe die (früher) geltende Rechtslage somit einen gerechten Ausgleich zwischen dem Wunsch nach einer Korrekturmöglichkeit für rechtskräftige Urteile, deren Fehlerhaftigkeit sich erst im Nachhinein zeigt, und der Notwendigkeit, Rechtssicherheit zu gewährleisten. Trotz dieser abschlägigen Entscheidung des Petitionsausschusses hat der Gesetzgeber dem Anliegen letztlich stattgegeben11. Aufgrund des Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung vom 21. Oktober 2011 ist § 586 ZPO mit Wirkung vom 27. Oktober 2011 durch einen Absatz 4 mit dem Wortlaut ergänzt worden12 : „Die Vorschrift des Absatzes 2 Satz 2 ist auf die Restitutionsklage nach § 580 Nummer 8 nicht anzuwenden.“ Die Bestimmung, wonach Restitutionsklagen in Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat, sind deshalb auch nach Ablauf von fünf Jahren nach Rechtskraft des Urteils weiterhin statthaft.

II. Die prozessuale Stellung des Drittintervenienten Nicht die Möglichkeit der Restitutionsklage selbst ist für die Stellung der ursprünglich im deutschen Ausgangsverfahren obsiegenden Partei bedenklich. Auch die Statthaftigkeit einer solchen Klage ohne Bindung an die für andere Restitutions10 11 12

BGH, NJW 1993, 3204, zitiert nach juris. Vgl. http://dejure.org/gesetze/ZPO/586.html. BGBl. 2011 I, S. 2082.

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klagen geltende fünfjährige Ausschlussfrist ist im Interesse gerechter und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang stehender Gerichtsentscheidungen angesichts der faktischen Verfahrensdauer durchaus hinzunehmen. Erst im Zusammenhang mit der eingeschränkten Stellung der ursprünglich obsiegenden Partei im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben sich für diese Partei nicht leicht zu rechtfertigende Nachteile im Blick auf ihr Recht auf ein faires Verfahren. Sie resultieren aus der mangelhaften Abstimmung der Verfahrensregeln vor den deutschen Gerichten einerseits und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte andererseits. Bei der Neuregelung der Restitutionsgründe ist dieser Zusammenhang nur unzureichend berücksichtigt worden. Die Stellung nichtstaatlicher Drittparteien findet sich insbesondere in Art. 44 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgestaltet. Sie ist stark eingeschränkt. Mögliche nichtstaatliche Drittbeteiligte werden vom Gerichtshof nicht über die Anhängigkeit der Beschwerde informiert. Eine solche Mitteilung erfolgt zwar auch nicht gegenüber den betroffenen oder dritten Staaten. Wohl aber werden diese in einem weiteren Stadium des Verfahrens vom Gerichtshof von der Beschwerde in Kenntnis gesetzt: Die beschwerdegegnerische Vertragspartei wird von der Beschwerde gemäß Art. 54 Abs. 2 lit. b (bei Individualbeschwerden) bzw. Art. 51 Abs. 1 (bei Staatenbeschwerden gemäß Art. 33 EMRK) Verfahrensordnung in Kenntnis gesetzt. Geschieht dies, so übermittelt im Falle des Art. 54 Abs. 2 lit. b Verfahrensordnung der Kanzler des Gerichtshofs gleichzeitig eine Kopie der Beschwerde jeder anderen Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit ein Beschwerdeführer besitzt. Ebenso unterrichtet er diese Vertragsparteien über eine Entscheidung, in dieser Rechtssache eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Die gegnerische nichtstaatliche Partei in einem Ausgangsverfahren wird demgegenüber vom Gerichtshof nicht informiert. Dies ist dem Mitgliedstaat überlassen. In Deutschland geschieht dies durch die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz und Verfahrensbevollmächtigte der Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die nach aller Erfahrung in den Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegenüber den Parteien der Ausgangsverfahren unparteiliche Arbeit verrichtet. Ob Entsprechendes für die zuständigen Stellen in allen Vertragsstaaten gesagt werden kann, mag zweifelhaft sein. In Deutschland prüft die Verfahrensbevollmächtigte, wer gegnerische Partei des Ausgangsverfahrens ist und unterrichtet sie über die anhängige Beschwerde. Zugleich informiert sie diese Partei über nächste erforderliche Verfahrensschritte. Insbesondere kann die nichtstaatliche gegnerische Partei des Ausgangsverfahrens versuchen, den Verfahrensstatus eines Drittintervenienten gemäß Art. 36 EMRK zu erlangen. Hierfür bedarf es eines Antrages auf Zulassung. Nach Art. 36 Abs. 2 EMRK kann im Interesse der Rechtspflege der Präsident des Gerichtshofs jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit geben, schriftlich Stellung zu nehmen oder an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen. Im Einzelnen

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richtet sich das Verfahren hierzu nach Art. 44 Abs. 3 bis 5 der Verfahrensordnung: Ist eine Beschwerde der beschwerdegegnerischen Vertragspartei nach Art. 51 Abs. 1 oder Art. 54 Abs. 2 lit. b Verfahrensordnung zur Kenntnis gebracht worden, so kann der Kammerpräsident im Interesse der Rechtspflege, wie in Art. 36 Abs. 2 EMRK vorgesehen, jede Vertragspartei, die in dem Verfahren nicht Partei ist, oder jede betroffene Person, die nicht Beschwerdeführer ist, auffordern oder ermächtigen, schriftlich Stellung zu nehmen oder, falls außergewöhnliche Umstände vorliegen, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Anträge auf eine solche Ermächtigung müssen mit einer gebührenden Begründung versehen und spätestens zwölf Wochen, nachdem die Beschwerde der beschwerdegegnerischen Vertragspartei zur Kenntnis gebracht worden ist, schriftlich nach Art. 34 Abs. 4 in einer der Amtssprachen eingereicht werden. Der Kammerpräsident kann ausnahmsweise eine andere Frist bestimmen. In Rechtssachen, die von der Großen Kammer zu prüfen sind, beginnen die in den Abs. 1 bis 3 bestimmten Fristen mit der Zustellung der Entscheidung der Kammer, die Rechtssache nach Art. 72 Abs. 1 an die Große Kammer abzugeben, oder der Entscheidung des Ausschusses der Großen Kammer nach Art. 73 Abs. 2, den Antrag einer Partei auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer anzunehmen, an die Parteien. Die in diesem Artikel bestimmten Fristen können vom Kammerpräsidenten ausnahmsweise verlängert werden, wenn hinreichende Gründe angeführt werden. Die Aufforderung oder Ermächtigung nach Abs. 3 lit. a ist auch hinsichtlich der Beachtung von Fristen an die vom Kammerpräsidenten festgelegten Bedingungen geknüpft. Werden diese Bedingungen nicht eingehalten, kann der Präsident beschließen, die Stellungnahmen nicht in die Verfahrensakten aufzunehmen oder die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu beschränken, soweit er dies für angebracht hält. Eine erste Hürde, überhaupt den Status eines Drittintervenienten zu erlangen, ist das Erfordernis, einen Antrag zu stellen. Anders als für Beschwerdeführer gibt es kein Merkblatt des Gerichtshofes mit Angaben, wie zu verfahren ist. Der Antrag bedarf jedenfalls einer gebührenden Begründung. Der Antragsteller muss die wesentlichen Punkte seiner beabsichtigten Stellungnahme deutlich machen, seine eigene Betroffenheit darlegen und Ausführungen zum Interesse der Rechtspflege an seiner Intervention machen13. Ein Antrag kann abgelehnt werden. Die betroffene Partei des Ausgangsverfahrens sieht sich damit in der Situation, überlegen zu müssen, wie sie vermeidet, die Annahme des Antrages zu gefährden, und hinnehmen zu müssen, dass das sie faktisch unmittelbar betreffende Verfahren ohne sie weitergeführt wird. Hinzu kommt das Sprachenproblem. Grundsätzlich muss der Antrag auf Zulassung zur Drittintervention in einer der Amtssprachen des Gerichtshofes gestellt werden, das sind gemäß Art. 34 Abs. 1 Verfahrensordnung Englisch oder Französisch. Für nichtstaatliche Parteien des Ausgangsverfahrens kann das schwierig sein oder verhältnismäßig hohe Kosten verursachen, die nicht von jedem leicht zu tragen 13 Vgl. Schubert/Lörcher, Die Drittintervention in Beschwerdeverfahren vor dem EGMR, AuR 2011, 326 (328).

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sein mögen. Der Beschwerdeführer dagegen kann gemäß Art. 34 Abs. 2 Verfahrensordnung seine Beschwerde und seine weiteren Schriftsätze in jeder Amtssprache eines Vertragsstaates der Konvention verfassen. Das gibt dem Beschwerdeführer einen nicht zu unterschätzenden Vorteil gegenüber der gegnerischen Partei im Ausgangsverfahren. Allerdings kann der Gerichtshof von diesem Sprachenerfordernis befreien; aber auch wenn der Gerichtshof Anträge in anderen Sprachen entgegennimmt14, ist dies nicht sicher und sollte bei Bedarf beantragt werden. Die Aussichten auf Stattgabe eines solchen Antrages in entsprechender Anwendung der Art. 34 Abs. 4 lit. d i.V.m. Art. 34 Abs. 4 lit. a bis c Verfahrensordnung mögen unsicher sein. Zudem kann der Drittintervenient gemäß Art. 34 Abs. 4 lit. b Verfahrensordnung zu Übersetzungen verpflichtet und mit Kosten für notwendige Übersetzungen belastet werden. Die betroffene Partei wird deshalb gut daran tun, den Ausgang dieses Antrages auf Sprachenwahl nicht abzuwarten, sondern sogleich mit der Abfassung ihres Antrages in der Fremdsprache zu beginnen. Problematisch ist darüber hinaus die Fristenregelung. Anträge auf eine solche Ermächtigung müssen spätestens zwölf Wochen, nachdem die Beschwerde der beschwerdegegnerischen Vertragspartei zur Kenntnis gebracht worden ist, eingereicht werden. Zwischen dem Eingang der Benachrichtigung beim Vertragsstaat, der Feststellung der gegnerischen Partei im Ausgangsverfahren, dem Finden der korrekten gegenwärtigen Adresse dieser Partei, dem Verschicken und dem Eingang der Benachrichtigung bei der Partei kann erhebliche Zeit vergehen. Der Kammerpräsident kann zwar eine andere Frist bestimmen; dies geschieht aber nur ausnahmsweise, also unter besonderen Umständen. Im Normalfall hat die betroffene Partei des Ausgangsverfahrens regelmäßig nicht unerheblich weniger Zeit als zwölf Wochen für die Abfassung des Antrages und seiner gebührenden Begründung in einer Fremdsprache. Angesichts anderer, sehr viel kürzerer Äußerungs- und Antragsfristen im Prozessrecht mag immerhin regelmäßig genug und angemessene Zeit für diese Handlungen bleiben. Der Beschwerdeführer hat aber demgegenüber regelmäßig erheblich mehr Zeit zur Verfügung und ist insoweit gegenüber seinem ursprünglichen und eigentlichen Prozessgegner im Vorteil. Wird dem Antrag auf Drittintervention stattgegeben, so geschieht dies unter Bedingungen, die der Kammerpräsident festlegt. Ganz regelmäßig wird dabei der Umfang der Stellungnahme auf zehn Seiten beschränkt. Eine solche Begrenzung dient der dringend erforderlichen Entlastung des Gerichtshofs. Der Beschwerdeführer unterliegt allerdings keiner solchen Begrenzung. Wenngleich auf zehn Seiten durchaus substantiell argumentiert und Wesentliches vorgebracht werden kann, mag sich in komplexeren Verfahren hieraus ein weiterer nicht unerheblicher Nachteil für den Drittintervenienten gegenüber seinem Gegner im Ausgangsverfahren ergeben. Regelmäßig wird dem Antrag auf Zulassung zur Drittintervention zudem nur unter der Maßgabe entsprochen, dass der Drittintervenient in seiner Stellungnahme auf bestimmte Fragen eingeht und auf bestimmte andere Fragen nicht eingeht. Das 14

Vgl. den Bericht bei Schubert/Lörcher (Fn. 13), 326 (328).

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schränkt seine Stellung in nicht geringem Umfang ein. So ergeht regelmäßig die Aufforderung, nicht zu den Erfolgsaussichten (merits of the case) der Beschwerde Stellung zu nehmen. Demgegenüber sollen in der Regel Ausführungen darüber gemacht werden, welches spezifische Interesse der Antragsteller an der Drittintervention besitzt. Letzteres kann meist leicht und in ganz knapper Form geschehen. An Äußerungen zu den Erfolgsaussichten der Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird der Drittintervenient allerdings meist ein erhebliches und durchaus berechtigtes Interesse haben, weil diese Frage das weitere Verfahren in Deutschland unmittelbar betrifft. Diese Einschränkungen der Stellung der im deutschen Ausgangsverfahren obsiegenden Partei im Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichthof für Menschenrechte mögen im Einzelnen nicht allzu gravierend erscheinen. Ihre Auswirkungen werden regelmäßig durch die Prozessfürsorge der deutschen Verfahrensbevollmächtigten zusätzlich gemindert. Unter dem Grundsatz der Verfahrensgleichheit und der unglücklichen sog. Waffengleichheit der Parteien erscheinen sie dennoch nur schwer hinnehmbar. Sie beschränken den Betroffenen in seinem Recht auf rechtliches Gehör und sind mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nur schwer zu vereinbaren. Die ursprünglich im deutschen Ausgangsverfahren obsiegende Partei kann sich nach vielen Jahren einer Wiederaufnahme des Verfahrens in Deutschland ausgesetzt sehen, ohne auf dem Weg dorthin der anderen Partei verfahrensrechtlich gleichgestellt zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2004 auf einzelne dieser Fragen allgemein hingewiesen und hat daraus mögliche Einschränkungen für die Anwendung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Deutschland hergeleitet15. Hat der Gerichtshof danach in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen. In Fällen, in denen staatliche Gerichte mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann deshalb zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern „unterlegene“ und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte16. 15 BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, zitiert nach juris; vgl. auch Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., 2011, Art. 36, Rn. 3, Art. 46, Rn. 34. 16 So BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, Rn. 50, zitiert nach juris.

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Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht dabei festgestellt, dass bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch die nationalen Gerichte dem Umstand Rechnung getragen werden könne, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet. Auch das Bundesverfassungsgericht weist darauf hin, dass Verfahrensbeteiligte vor dem Gerichtshof neben dem Beschwerdeführer nur die betroffene Vertragspartei ist; die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter an dem Beschwerdeverfahren gemäß Art. 36 Abs. 2 EMRK sei kein institutionelles Äquivalent für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei oder weiterer Beteiligter im nationalen Ausgangsverfahren. Mit der Ausweitung der Restitutionsklage in Deutschland haben sich die damit verbundenen Probleme verschärft. Von Waffengleichheit im Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens nicht gesprochen werden. Die Verfahrensbevollmächtigte der Bundesrepublik Deutschland muss in der Sache, obwohl Teil der Exekutive, Aufgaben übernehmen, die besser einem Organ der Gerichtsbarkeit obliegen würden. Will man nicht dem ohnehin überlasteten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte etwa weitere Mitteilungsaufgaben innerhalb Deutschlands übertragen, mag man daran denken, eine Stelle der deutschen Gerichtsbarkeit mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärker zu verbinden. Eine annähernde Gleichstellung im Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von Parteien des Ausgangsverfahrens kann nur auf der Ebene des Gerichtshofes selbst erfolgen.

Die Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung Von Meinhard Schröder Das parlamentarische System Deutschlands trifft seit einiger Zeit auf Kritik, die sich schlagwortartig und unvollständig mit dem Vorwurf der „Entparlamentarisierung“ beschreiben lässt.1 Auch der Jubilar hat sich vielfach mit Fragen des Verhältnisses von Regierung und Parlament auseinandergesetzt.2 Beide, Regierung und Parlament, gleichermaßen betreffend ist in jüngerer Zeit verstärkt die Frage aufgetreten, wie intensiv die Einflussnahme von durch ein Gesetz unmittelbar betroffenen Gruppen auf die Entstehung des Gesetzes sein darf. Beispielsfälle sind nicht nur die „vereinbarte“ Gesetzgebung, sondern auch „Gefälligkeitsgesetze“ für bestimmte Gruppen, die offensichtlich auf vorherigen Lobbyismus zurückgehen. Der vorliegende Beitrag soll die Rahmenbedingungen der Beteiligung von unmittelbar vom Gesetz Betroffenen an der Gesetzgebung genauer analysieren. Hierzu werden nach einer Definition des Begriffs der Normbetroffenheit (I.) zunächst kodifizierte und anerkannte Fälle der Beteiligung Betroffener an der Normsetzung untersucht (II.). Sodann sollen die Rahmenbedingungen der Gesetzgebung herausgearbeitet werden, bei der eine Beteiligung Betroffener stattfindet (III.). In der Folge stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Frage ergeben, ob sich allgemeine Aussagen über die Zulässigkeit oder sogar Gebotenheit der Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung entwickeln lassen (IV.) und wo deren Grenzen liegen (V.).

1 Zur „Selbstentmachtung des Parlaments“ siehe etwa Papier, Reform an Haupt und Gliedern, ZFSH/SGB 2003, 67 ff.; zur Gesetzgebung in Folge von Kommissionsempfehlungen vgl. etwa Meßerschmidt, Die Hartz-Kommission und das Verfassungsrecht, ZG 2004, 330; zur Mitwirkung von Anwaltskanzleien vgl. etwa Krüper, lawfirm – legibus solutus?: Legitimität und Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens beim „Outsourcing“ von Gesetzentwürfen, JZ 2010, 655; zur „paktierten“ Gesetzgebung Kloepfer/Bruch, Die Laufzeitverlängerung im Atomrecht zwischen Gesetz und Vertrag, JZ 2011, 377 ff.; vgl. im Übrigen auch Kirchhof, Demokratie ohne parlamentarische Gesetzgebung?, NJW 2001, 1332; Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004. 2 Schröder, Die Institutionalisierung des Nationalen Ethikrates: Ein bedenklicher Regierungsakt, NJW 2001, 2144; ders., Kritische Tendenzen im Umriss von Regierung und Parlament, in: FS für Peter Badura, 2004, S. 513; zum Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente in der EU ders., Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2002, 301.

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I. Normbetroffenheit Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine gesetzliche Normierung in einem bestimmten Bereich, so geht damit häufig einher, dass eine solche Regelung zumindest unmittelbar nicht jedermann betrifft, sondern nur oder vor allem bestimmte „Teilgruppen“. So sind etwa die Regelungen über die Laufzeiten von Atomkraftwerken3 unmittelbar vor allem für deren Betreiber von Bedeutung, die Vorschriften über das Mindest-Eigenkapital von Kreditinstituten4 unmittelbar nur für diese. Der Gesetzgeber verfolgt mit solchen Regelungen jedoch bestimmte Ziele, die eine weit größere Zahl von Bürgern bis hin zur gesamten Bevölkerung betreffen können, etwa eine preisgünstige und CO2-neutrale Energieversorgung (unter Inkaufnahme eines gewissen Restrisikos) oder die Stabilität der Finanzmärkte. Auch wenn eine Bedeutung vieler Normierungen für den Gesamtstaat also nicht zu leugnen sein wird, besteht regelmäßig eine besondere Betroffenheit einzelner, bestimmbarer Gruppen.5 Diese besondere Betroffenheit von einer Regelung wird in der Rechtsordnung teilweise auch explizit anerkannt und zieht prozedurale Konsequenzen nach sich, wenn auch nicht im Grundgesetz und nicht im Bereich der Gesetzgebung. So differenzieren das Völkerrecht6 und in der Folge das Europarecht in der Richtlinie 2003/ 35/EG7 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme zwischen den Begriffen „Öffentlichkeit“ und „betroffene Öffentlichkeit“. Letztere ist nur die von umweltbezogenen Entscheidungsverfahren betroffene oder wahrscheinlich betroffene Öffentlichkeit oder die Öffentlichkeit mit einem Interesse daran – Konsequenz sind besondere Rechte sowohl im Verwaltungsverfahren als auch in einem eventuellen späteren Gerichtsverfahren.

II. Kodifizierte und anerkannte Formen der Beteiligung unmittelbar Normbetroffener an der Normsetzung Elemente einer Beteiligung an der Normsetzung sind punktuell im Verfassungsrecht, Europarecht und sogar Verwaltungsrecht kodifiziert und auch darüber hinaus anerkannt. 3

Siehe § 7 Abs. 1a sowie die Anlage 3 zum AtG. Siehe hierzu etwa die Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG sowie die sie umsetzende Solvabilitätsverordnung vom 14. 12. 2006. 5 Zu trennen von der Normbetroffenheit ist die Frage des Normadressaten. Sie spielt für die Betroffenheit grundsätzlich keine Rolle. So sind gerade im Verwaltungsrecht regelmäßig Träger öffentlicher Gewalt die Normadressaten; betroffen hingegen sind primär nicht diese, sondern die an den Verwaltungsverfahren Beteiligten, insbesondere Antragsteller. 6 So die Aarhus-Konvention vom 25. 06. 1998 in ihrem Art. 2 Nr. 4 und 5. 7 Art. 3 RL 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 05. 2003, ABl.EG 2003 Nr. L 156/17. 4

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Das Grundgesetz überlässt das Gesetzgebungsverfahren weitgehend der parlamentarischen Selbstorganisation und enthält selbst keine Vorschriften über Beteiligung an der Normsetzung. In der Geschäftsordnung des Bundestags sind Anhörungen indessen durchaus vorgesehen. Nach § 70 GOBT kann ein Ausschuss zur Information über einen Gegenstand seiner Beratung öffentliche Anhörungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen vornehmen. Hierzu kann auch der Normbetroffene zählen. Ungeachtet bestimmter Möglichkeiten der Ausschussminderheit, eine Anhörung durchzusetzen,8 bleibt jedoch festzustellen, dass diese Bestimmung nur ein Ermessen des Ausschusses begründet, Anhörungen durchzuführen; ein individueller Anspruch des Gesetzesbetroffenen auf Anhörung besteht aber in keinem Fall. Seine Position ist häufig auch schon vorab bekannt; Sinn der Anhörung ist es daher eher, gesellschaftlich relevante und fachliche Unterstützung für ein Vorhaben zu gewinnen und die Öffentlichkeit auf dieses aufmerksam zu machen.9 Weiterhin ist es gängige Staatspraxis, schon im Rahmen der Erstellung eines Gesetzentwurfes auf Ebene der Ministerien Anhörungen durchzuführen, um die Positionen der Betroffenen (und vor allem der Verbände) zu ermitteln.10 Geregelt ist dies im Hinblick auf Zentral- und Gesamtverbände sowie Fachkreise, die auf Bundesebene bestehen, in § 47 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO); etwaige abweichende Meinungen solcher Beteiligter sind nach § 51 Nr. 4 GGO der Beschlussvorlage für das Kabinett beizulegen.11 Anders als das Grundgesetz sieht das europäische Vertragswerk eine Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren explizit vor. Art. 11 Abs. 1 bis 3 EUV etablieren in abstrakter Form einige Verfahren des Dialogs zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgern. Die Regelungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu Art. 10 Abs. 1 EUV, nach dem die EU auf der repräsentativen Demokratie beruht. Die repräsentative Demokratie soll aber offenbar nicht ausschließen, dass die Organe der EU den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit geben, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen (Art. 11 Abs. 1 EUV), einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen (Art. 11 Abs. 2 EUV) und die Europäische Kommission umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durchführt, um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten (Art. 11 Abs. 3 EUV). Ergänzt wird dies durch Art. 2 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Lis8

Vgl. § 70 Abs. 1 Satz 2 GOBT. Vgl. Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 53, Rn. 64; siehe hierzu auch Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 114 ff. 10 Siehe hierzu etwa Zeh, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 9), Rn. 64. 11 Siehe hierzu Becker (Fn. 9), S. 112 ff.; Battis, Outsourcing von Gesetzentwürfen?, ZRP 2009, 201 (202). 9

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sabon, nach dem die Kommission umfangreiche Anhörungen durchführt, bevor sie einen Gesetzgebungsakt vorschlägt. Der wesentliche Unterschied zwischen Art. 11 Abs. 1 und 2 und Art. 11 Abs. 3 EUV liegt wohl darin, dass die Beteiligung der repräsentativen Verbände und der Zivilgesellschaft (was auch immer genau unter diesen Begriffen zu verstehen ist12) eher oder zumindest auch dazu dient, das öffentliche Interesse zu ermitteln, während die Betroffenenbeteiligung eher dem Bereich der Wahrung von Individualinteressen zuzurechnen ist. Wer Betroffener ist, bleibt freilich unklar.13 Jedenfalls wird man aus Art. 11 Abs. 3 EUV, der letztlich nur die bestehende Kommissionspraxis14 kodifiziert, kein Recht auf eine Anhörung ableiten können.15 Gleiches gilt auch für die Regelung des Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll. Dieser begründet zwar eine echte Rechtspflicht zur Durchführung von Anhörungen,16 jedoch keinen Anspruch bestimmter Personen oder Gruppen auf Angehörtwerden. Dass es bei den genannten Formen der Beteiligung lediglich um eine Verbreiterung der Informationsbasis der europäischen Rechtssetzungsorgane geht, erscheint auch im Hinblick auf Art. 11 Abs. 1 und 2 EUV utopisch; einen interessenlosen Diskurs gibt es – jedenfalls im Bereich der Gesetzgebung – nicht.17 Diejenigen, denen die Gelegenheit der Einflussnahme gegeben wird, werden diese zu nutzen versuchen.18 Dieses Risiko besteht allerdings ungeachtet der Kodifikation der Beteiligung, so dass die nunmehrige Fassung des Art. 11 EUV, mag sie auch keine großen Wirkungen haben, zumindest ehrlicher ist als die Verbannung der Beteiligung in die rechtliche Grauzone der „Unionspraxis“. Beteiligung an der Normsetzung findet auch im Verwaltungsrecht bei der Schaffung untergesetzlicher Normen statt. Dies gilt vor allem im Bereich der Bauleitplanung. Neben den allgemeinen Beteiligungsvorschriften des § 3 BauGB ist hier vor allem § 12 BauGB zu erwähnen, der den Beschluss eines weitgehend von einem (privaten) Investor vorgeschlagenen vorhabenbezogenen Bebauungsplans durch die Ge12 Vgl. etwa Mross, Bürgerbeteiligung am Rechtsetzungsprozess in der Europäischen Union, 2010, S. 193, 204; Arnaud, Die Mitwirkung privater Interessengruppen an der europäischen Gesetzgebung, 2009, S. 42 ff., 291 f. 13 Vgl. Arnaud (Fn. 12), S. 48. 14 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV (Juli 2010), Rn. 11. 15 Siehe hierzu etwa Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 11 EUV, Rn. 8; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 14), Art. 11 EUV, Rn. 11. 16 So auch Arnaud (Fn. 12), S. 293. 17 Vgl. Ruffert, in: Calliess/ders. (Fn. 15), Art. 11 EUV, Rn. 12. Insofern lässt sich auch nur bedingt von einem Element deliberativer Demokratie sprechen, so aber etwa Peters, European Democracy after the 2003 Convention, CMRL 41 (2004), 37 (44); für den Partizipationscharakter der Vorschrift dagegen Stein, Demokratische Legitimierung auf supranationaler und internationaler Ebene, ZaöRV 64 (2004), 563 (569). 18 Zum damit einhergehenden Korporatismusverdacht vgl. Ruffert, in: Calliess/ders. (Fn. 15), Art. 11 EUV, Rn. 12.

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meinde ermöglicht. Auch wenn der Satzungsbeschluss eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans im Ergebnis eher einem auf die Realisierung eines konkreten Projekts gerichteten Planfeststellungsverfahren ähneln mag, darf der formale Charakter des Bebauungsplans als Rechtsnorm nicht unberücksichtigt bleiben. Die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinde sind allerdings begrenzt: Schon das Vorschlagsrecht des Investors begründet die Möglichkeit, letztlich die „Formulierung“ der Norm zu beeinflussen, mögen auch im Vorfeld der Plangestaltung Konsultationen mit der Gemeinde erfolgen19. Dem eigentlichen Bebauungsplanverfahren kommt letztlich nur noch eine formal-rechtsstaatliche Bedeutung der Legalisierung zu; die Gemeinde wird – freiwillig – in eine bloße Kontrollposition zurückgedrängt. Unter dem hier interessierenden Aspekt der Beteiligung der Normbetroffenen an der Normsetzung rechtfertigt sich eine solche Regelung daraus, dass (sieht man von § 12 Abs. 4 BauGB ab) ausschließlich der Vorhabenträger selbst in den Genuss des Baurechts, das der Bebauungsplan schafft, kommt. Rechtsstaatlichen Anforderungen wird dadurch Rechnung getragen, dass die Gemeinde für den Plan letztlich verantwortlich zeichnet,20 im Verfahren nach § 3 BauGB und in der Abwägung nach §§ 2 Abs. 3 und 1 Abs. 7 BauGB die Belange Dritter berücksichtigt werden und Rechtsschutz nach § 47 VwGO gewährt wird. Schließlich wurde auch in den Fällen der Planung durch Gesetz, die vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erachtet wurde, wenn unter anderem „der Gesetzgeber sich davon hat leiten lassen, den für die Regelung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, anhand dieses Sachverhalts alle sachlich beteiligten Belange und Interessen der Entscheidung zugrunde zu legen sowie umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegeneinander abzuwägen,“21 positiv vermerkt, dass der gesetzlichen Entscheidung die „Beteiligung der betroffenen Bürger und Gemeinden“22 vorgelagert war. Auch dies zeigt, dass eine Beteiligung Betroffener am Gesetzgebungsverfahren nicht per se negativ ist und in bestimmten Fällen sogar zwingend erforderlich sein kann.

III. Rahmenbedingungen der Gesetzgebung und Beteiligung Entgegen einem verbreiteten Trend zur Begrüßung von Öffentlichkeitsbeteiligung im weitesten Sinne, dessen deutlichste Symptome wohl die Verabschiedung der Aarhus-Konvention und ihre Umsetzung sind,23 evoziert die Beteiligung Privater 19

Busse, in: BeckÏscher Online-Kommentar zum BauGB, § 12 (1/2011), Rn. 21. Krautzberger, in: Battis/ders./Löhr (Hrsg.), BauGB, 11. Aufl., 2009, § 12, Rn. 3. 21 BVerfGE 95, 1 (23). 22 BVerfGE 95, 1 (24). 23 Vgl. hierzu etwa Schlacke, Aarhus-Konvention – Quo vadis?, ZUR 2004, 129; Röckinghausen, Mehr Legitimation durch mehr Verfahren?, EurUP 2008, 210; Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010; Müller, Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht der Europäischen Union und ihre Einwir20

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am Gesetzgebungsverfahren häufig verfassungsrechtliche Zweifel.24 Es stehen die Vorwürfe des Lobbyismus und – bei Absprachen mit den initiativberechtigten Organen (insbesondere der Regierung) – der Missachtung des Parlaments im Raum. Eine Beurteilung der Berechtigung dieser Vorwürfe verlangt zunächst nach einer Analyse der Rahmenbedingungen, unter denen die genannten Formen der Beeinflussung stattfinden. 1. Gesetzgebung als Interessenrealisierung a) Das Gesetz als politisches Instrument Gesetzgebung erfolgt im sozialen Rechtsstaat nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert als Setzung einer bloßen Rahmenordnung, innerhalb derer die gesellschaftlichen Kräfte ihre Interessen wahrnehmen können. Der Staat schaltet sich vielmehr steuernd, regulierend und gestaltend in nahezu alle Lebensbereiche ein. Die Expansion selbstgewählter, aber auch von den Bürgern geforderter staatlicher Aufgaben und staatlicher Tätigkeit25 bringt es mit sich, dass gesellschaftliche Autonomie mehr und mehr durch staatliche und insbesondere gesetzliche Determinierung ersetzt wird. Es gibt in heutiger Zeit kaum mehr Gesetze, die „neutral“ sind in dem Sinne, dass sie gesellschaftliche Positionen ignorieren, durch Gesetze wird vielmehr Politik gemacht.26 Das Gesetz stellt im Zeitalter des verteilenden Sozialstaats einen „Akt politischer Gestaltung“ dar, der „kurzfristige, oft im Widerstreit entgegengesetzter Gruppeninteressen ausgehandelte Maßnahmen“ durchsetzen soll.27 Damit einher geht notwendigerweise ein Verlust an Allgemeinheit des Gesetzes. Das Gesetz ist nicht allgemein im Sinne von allen dienend,28 es spiegelt stattdessen bestimmte Interessen wider, die sich im politischen Diskurs durchgesetzt haben und von der parlamentarischen Mehrheit für „gesetzeswürdig“ erachtet wurden. Eine den demokratietheoretischen Erwägungen Rousseaus noch zugrunde liegende volont¦ g¦n¦rale ist in der heutigen pluralistischen Gesellschaft kaum mehr feststellbar; abgesehen von wenigen Grundsatzfragen, in denen möglicherweise ein Konsens anzunehmen ist (die aber kaum neu geregelt werden müssen), bestehen vor allem Partikularinkungen auf das deutsche Verwaltungsrecht am Beispiel des Immissionsschutzrechts, 2010; Laskowski, Demokratisierung des Umweltrechts, ZUR 2010, 171; Shirvani, Öffentlichkeitsbeteiligung bei integrierten Vorhabengenehmigungen nach der IVU-RL, NuR 2010, 383. 24 Vgl. etwa Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), 37 (76 ff.); Schoch, Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 9), § 37, Rn. 150; Waldhoff/ von Aswege, Kernenergie als „goldene Brücke“, 2010, S. 82. 25 Kritisch zur Aufgabenexplosion des Staates etwa Papier, Sozialstaatlichkeit unter dem Grundgesetz, in: FS für Renate Jäger, 2011, S. 285 (288 f.). 26 Vgl. Becker (Fn. 9), S. 92; Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1952, S. 23 (30). Siehe zu dieser Entwicklung auch Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 69 f. 27 Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 29. 28 Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 78 ff.

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teressen. Eine wesentliche Aufgabe des Gesetzgebers ist daher eine Auswahlaufgabe. Er muss entscheiden, welche dieser Partikularinteressen einer gesellschaftlichen Selbstregulierung vorbehalten bleiben sollen und welche einer gesetzlichen Regelung bedürfen. Dabei wird der Gesetzgeber nur teilweise durch Handlungsaufträge der Verfassung determiniert; im Übrigen gilt das Prinzip der offenen Staatsaufgaben.29 Dies führt unausweichlich zu lobbyistischen Aktivitäten, wenn eine gesellschaftliche Gruppe eine (bestimmte) gesetzliche Regelung wünscht. b) Der Transfer von Interessen in das Gesetz Zwischen denjenigen, die bestimmte Interessen haben, und denjenigen, die die Gesetze machen, besteht keine Identität. Daher versuchen die ersteren, die letzteren in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Politik sieht sich einer ständigen Beeinflussung von Bürgern und „Interessengruppen“ im weitesten Sinne ausgesetzt, die ihre Vorstellungen in den Gesetzen realisiert oder zumindest berücksichtigt wissen wollen. Grundsätzlich ist gegen eine solche Einwirkung auch nichts einzuwenden. Es kann nicht von der Politik erwartet werden, von sich aus alle Regelungsnotwendigkeiten zu bedenken; sie ist insofern auf die Mithilfe der potentiellen Regelungsbetroffenen angewiesen. Wer aber ist „die Politik“, die das Objekt solcher Beeinflussung ist? Idealtypisch sind vor allem die politischen Parteien für den Interessentransfer zuständig, da sie eine Scharnierfunktion zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung wahrnehmen.30 Die träge Transferkette Gesellschaft – Partei – Regierung/Parlament genügt allerdings häufig nicht dem Wunsch nach schnellen Entscheidungen. Objekt der Beeinflussung sind daher alle Akteure des politischen Betriebs vom einzelnen Abgeordneten über die Ministerialbürokratie bis hin zur Regierung. Aus Sicht der Interessenvertreter wirft das die Frage auf, wer der „beste“ Ansprechpartner ist, um Interessen durchzusetzen, aus Sicht der Rechtswissenschaft, inwieweit dessen Beeinflussung zulässig ist. 2. Die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren Die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren ist geprägt von einer Asymmetrie zwischen formellen Befugnissen und materiellen Einflussmöglichkeiten. Formell kommt dem Gesetzgebungsverfahren herausragende Bedeutung zu, materiell hingegen bestimmt meist die Regierung über ihr Initiativrecht die Agenda.

29

Vgl. hierzu etwa Papier (Fn. 25), S. 288 f. Hierzu etwa Dederer (Fn. 1), S. 382; Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, S. 163 ff. 30

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a) Das Parlament als Ratifikationsorgan Wohl bei keinem Staatsorgan besteht eine so augenfällige Diskrepanz zwischen idealtypisch-theoretischer Funktion und öffentlicher Wahrnehmung und Praxis wie beim Bundestag: Er soll das „Forum der Nation“31 sein, das Zentrum der politischen Meinungsbildung und des Diskurses, das nach öffentlichen Verhandlungen (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) die Gesetze beschließt.32 Durch das Recht der Regierung zur Gesetzesinitiative, das in Art. 76 Abs. 1 GG nicht umsonst an erster Stelle genannt ist,33 wird allerdings zunächst der besondere ministerielle Sachverstand in die Gesetzgebung eingebracht. Um die Zustimmung der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit zu Gesetzentwürfen der Regierung zu sichern, werden bereits im Vorfeld in informellen Gremien wie Koalitionsausschüssen oder Kanzlerrunden die Details abgestimmt, unter Beteiligung von Vertretern von Regierung, Fraktionen und gegebenenfalls auch Parteien.34 Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren wird dabei – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – zu einer Showveranstaltung zwischen Regierung und Opposition mit selten überraschenden Ergebnissen. Nicht umsonst konzentriert sich die mediale Berichterstattung heutzutage fast mehr auf die Vorlage von Gesetzentwürfen oder deren Beschluss im Kabinett als auf die spätere Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag, die offenbar als Formsache angesehen wird. Die starke Position der Regierung tritt in besonderem Maße zutage, wenn von Öffentlichkeit und/oder Medien aufgrund eines akuten Ereignisses gesetzgeberisches Handeln gefordert wird: Hier ist der „Ruf nach dem Staat“ in aller Regel der nach der Exekutive, deren Stunde nicht nur die Krise ist, sondern vielmehr jede Situation, in der in der Mediendemokratie eine schnelle Stellungnahme verlangt wird. Dem Bundestag kommt im Staatsgefüge daher zumeist eine Rolle zu, die man weitgehend als ratifizierend35 bezeichnen kann: Er beschließt zwar formell, die wesentliche inhaltliche Entscheidung ist regelmäßig aber bereits vorher getroffen worden, auch wenn regelmäßig noch Änderungen im Detail erfolgen.36 Es besteht letztlich nur ein gradueller Unterschied zu „Zustimmungsgesetzen“ zur Ratifikation völ31 Kloepfer, Möglichkeiten und Grenzen paktierter Gesetzgebung am Beispiel des Atomrechts, ZG 2010, 346 (357). 32 Vgl. BVerfGE 10, 4 (12); 70, 324 (355); zur Diskursfunktion des Gesetzgebungsverfahrens auch Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, 2006, S. 415 ff. 33 Die meisten Gesetzentwürfe stammen ohnehin von der Bundesregierung. Hinzugerechnet werden müssen aber auch die Entwürfe, die zur Beschleunigung des Verfahrens und Umgehung der vorherigen Bundesratsbeteiligung im Auftrag der Regierung aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden. Siehe zur Bedeutung des Initiativrechts schon Schröder, Das parlamentarische Regierungssystem, Jura 1982, 449 (452). 34 Kritisch zur Beteiligung der Fraktionsvorsitzenden an Kabinettssitzungen Schröder, in: FS für Peter Badura (Fn. 2), 519. 35 Siehe zur Ratifikationsrolle des Parlaments Papier (Fn. 1), 67 (70). 36 Vgl. Kloepfer/Bruch (Fn. 1), 377 (380); zur Gefahr des „Abnickens“ auch Schoch (Fn. 24), § 37, Rn. 145, 147.

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kerrechtlicher Verträge nach Art. 59 Abs. 2 GG, bei denen ebenfalls der Inhalt vorherbestimmt ist. Das Parlament übernimmt die Letztverantwortung für etwas, das es inhaltlich nicht oder kaum selbst gestaltet hat. Ob es dies tun will, ist aber nur eine Frage der politischen Opportunität und beeinflusst nicht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Die „Ratifikationslage“ beruht weitgehend auf der dem Grundgesetz zugrunde liegenden Konzeption der parlamentarischen Demokratie, die auf starke Parteien angewiesen ist und in der Regierung und Parlamentsmehrheit politisch identisch sind. „Politikverflechtung“37 und „Parteienstaat“38 sind die wahrscheinliche, wenn nicht gar notwendige Folge. Gewaltenteilung und selbst Gewaltenverschränkung mögen nach ihrem Idealbild zwar anders aussehen; blickt man jedoch auf die letzten Jahrzehnte zurück, so lässt sich eine gewisse Balance und Hemmung der Staatsgewalt in der Praxis durchaus feststellen, mag sie auch durch eher ungewöhnliche und mitunter dysfunktionale Mittel wie Blockaden der Opposition im Bundesrat erfolgt sein. b) Das Parlament als Hüter des „öffentlichen Interesses“ Inhaltlich ist es nicht nur die Aufgabe des Parlaments, die abstrakte, verfahrensbasierte demokratische Legitimation von Gesetzen herzustellen. Es ist zugleich Hüter des öffentlichen Interesses.39 Man muss dabei nicht so weit gehen wie Rousseau, der nichts für gefährlicher erachtete als den Einfluss privater Interessen auf die öffentlichen Angelegenheiten und die „Korruption des Gesetzgebers“ als notwendige Folge eines solchen Einflusses.40 Der Gesetzgeber darf richtigerweise Individualinteressen aber nur dann zur Durchsetzung verhelfen, wenn sie mit anderen Individualinteressen in Ausgleich gebracht sind und kein „öffentliches“ Interesse entgegensteht. Letztlich werden nämlich Einzelinteressen dadurch, dass sie sich der Staat zu eigen macht und in Gesetze gießt, auch von Individualinteressen zu öffentlichen Interessen.41 Die Verpflichtung des Parlaments zur Wahrung des Gemeinwohls ergibt sich, obwohl sie – anders als etwa im Amtseid des Bundespräsidenten (Art. 56 GG) – nicht explizit kodifiziert ist, aus der Funktion des Parlaments. Sie lässt sich auch aus der Beschreibung des Status der Abgeordneten in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ableiten: Die Abgeordneten sind „Vertreter des ganzen Volkes“, also 37

Vgl. zum Begriff etwa Bauer, Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschland, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl., 2003, § 14, Rn. 105; kritisch zu dem Phänomen Papier (Fn. 1), 67 (69). 38 Siehe hierzu etwa Bauer (Fn. 37), § 14, Rn. 73 ff.; Shirvani (Fn. 30), S. 240 f. 39 Der Begriff ist seit jeher umstritten und kann hier nicht erläutert werden, vgl. hierzu etwa Dürig, Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs „Öffentliches Interesse“, 1949; Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999; Viotto, Das öffentliche Interesse 2009. 40 Rousseau, Du Contrat Social, 1762, Buch III, Kap. IV. 41 Kloepfer, Gesetzgebungsoutsourcing – Die Erstellung von Gesetzentwürfen durch Rechtsanwälte, NJW 2011, 131 (132), spricht insofern von „normative[r] Gemeinwohlbestimmung und Gemeinwohlverwirklichung“.

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nicht irgendwelcher Wahlkreise, Parteien oder Individualinteressen.42 Punktuell ist auch die Verpflichtung, dem Gemeinwohl dienende Gesetze zu verabschieden, kodifiziert, so in Art. 14 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG, falls der Gesetzgeber eine Legalenteignung vornehmen will. Die Frage der Beachtung des öffentlichen Interesses wirft allerdings Folgeprobleme auf. Zum einen ist das öffentliche Interesse keine feststehende, rational ermittelbare „Wahrheit“, sondern ein situationsabhängiger, auch im politischen und öffentlichen Diskurs zu ermittelnder Maßstab.43 Zum anderen verhindert die unüberschaubare Komplexität vor allem wirtschaftlicher Zusammenhänge monokausale Erklärungen schon für vergangene Geschehnisse und erst recht sichere Zukunftsprognosen. Insofern besteht nicht nur, aber auch auf Seiten des Gesetzgebers ein Wissensdefizit, das nicht nur mangelndem Sachverstand, sondern auch der Unmöglichkeit besserer Erkenntnis geschuldet ist. In dieser Situation kann der Gesetzgeber bis zu einem gewissen Grad nur nach Versuch und Irrtum vorgehen, um eine Annäherung an das öffentliche Interesse und das Gemeinwohl, wie es von der parlamentarischen Mehrheit verstanden wird, zu erreichen. Unabdingbar ist dabei allerdings eine prozedurale Vorgehensweise, die zumindest alle Interessen und Positionen gründlich und ausführlich diskutiert und gegebenenfalls ihre Nichtberücksichtigung rechtfertigt, was keinesfalls durch die pauschale Berufung auf „Alternativlosigkeit“ geschehen kann. Die Diskussion darüber, ob ein Gesetz dem öffentlichen Interesse entspricht, ist die wesentliche Funktion der Verhandlungen im Bundestag. Das Gesetz muss nicht dort „entstehen“, sondern sich argumentativ behaupten, vor allem gegenüber den Zweifeln der Opposition, und zwar im Angesicht des Bürgers.

IV. Grundsätzliche Gebotenheit der Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung Im Gesetzgebungsverfahren stellt die Demokratie, und zwar nicht nur die repräsentative, einer besonderen Betroffenheit Einzelner von einem Gesetz kein adäquates prozedurales Instrument gegenüber, das die Berücksichtigung ihrer Interessen im Verfahren der Gesetzgebung sicherstellt. Materiell wird zwar über die Verpflichtung der Staatsgewalt zur Beachtung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien ein beachtlicher Schutz gewährt, dieser wird jedoch beispielsweise durch Einschätzungs- und Prognosespielräume des Gesetzgebers relativiert. Daher spricht einiges dafür, dass eine besondere Betroffenheit von einem Gesetz auch nach einem besonderem Verfahren verlangt, um den materiellen grundrechtli42

Vgl. hierzu bereits Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 103; Badura, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 38 (Februar 2008), Rn. 13. 43 Badura (Fn. 42), Art. 38, Rn. 16, spricht insofern von „praktischer Wahrheit“; Kloepfer (Fn. 41), 131 (132), von „normative[r] Gemeinwohlbestimmung“.

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chen Schutz durch Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren prozedural zu ergänzen. Dies führt nicht etwa zu einer demokratisch bedenklichen Doppelpartizipation bestimmter Personenkreise, nämlich einmal über den Wahlakt und sodann über die spätere besondere Einflussmöglichkeit,44 sondern ist Ausfluss eines allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzips,45 das nur punktuell etwa in § 28 VwVfG kodifiziert ist.

V. Grenzen der Beteiligung Damit ist indessen noch nichts darüber ausgesagt, in welcher Form eine Beteiligung erfolgen darf. Festzuhalten ist zunächst, dass eine Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung unter Beachtung der grundgesetzlichen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, also der Art. 76 ff. GG, zu erfolgen hat. 1. Beteiligungsformen Bei der Beteiligung Betroffener an der Gesetzesentstehung lassen sich zwei Problemkreise identifizieren: Zum einen ist demokratietheoretisch ihre Mitwirkung an der Entstehung von Gesetzentwürfen problematisch, zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit die Regierung sich vorab „binden“ darf, einen bestimmten Gesetzentwurf durchzusetzen. Im Anschluss stellt sich die Frage, inwieweit eine Beteiligung im eigentlichen Gesetzgebungsverfahren angezeigt ist. a) Mitwirkung an der Gesetzesentstehung Das Grundgesetz nennt in Art. 76 nur solche Stellen als initiativberechtigt, die auch über eine gewisse demokratische Legitimation verfügen. Wie bereits ausgeführt sind die Politik und damit auch die initiativberechtigen Staatsorgane aber bis zu einem gewissen Grad darauf angewiesen, dass ihnen tatsächlicher oder vermeintlicher Gesetzgebungsbedarf von den daran Interessierten aufgezeigt wird. In der Folge wäre es wenig hilfreich, nur aus Gründen von Unkenntnis, aus prinzipieller Ablehnung der Mitwirkung Privater oder aus Angst davor, von Interessenvertretern „über den Tisch gezogen“ zu werden, unmittelbar Betroffene durch bestimmte Gesetzesinhalte oder -techniken zu belasten, obwohl dies objektiv vermeidbar wäre. Gerade in Anbetracht der Schwierigkeiten des Gesetzgebers, die Auswirkungen seines Handelns genau zu prognostizieren, kann die Übernahme eines von Interessenvertretern vorgeschlagenen Entwurfs gegenüber einem vom Gesetzgeber selbst entwickelten Entwurf vorzugswürdig sein. Es spricht also grundsätzlich nichts dagegen, die Gesetze zur Verfügung zu stellen, die von bestimmten gesellschaftlichen Grup44

So aber Kloepfer/Bruch (Fn. 1), 377 (381); Waldhoff/von Aswege (Fn. 24), S. 76. Zur Anhörung als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 196. 45

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pen gewünscht werden. Die demokratische Legitimation und die Bestätigung, dass der Vergesetzlichung der Interessen kein öffentliches Interesse entgegensteht, erfolgt auf mehreren Stufen, zunächst dadurch, dass sich ein Initiativberechtigter einen „Privatentwurf“ zu eigen macht, sodann durch die Verabschiedung im Parlament. Auf beiden Stufen besteht die Möglichkeit, das Vorhaben abzulehnen. Richtigerweise ist Art. 76 GG daher als rein formelle Vorschrift zu verstehen, die es nicht ausschließt, dass sich einer der dort genannten Initiativberechtigten einen Entwurf, der von einer Stelle ohne demokratische Legitimation stammt, zu eigen macht46 und damit dann auch die politische Verantwortung dafür übernimmt. b) Selbstbindung der Regierung Eine weitere Frage ist, ob sich die Regierung gegenüber den Betroffenen „zu einer bestimmten Gesetzgebung“ verpflichten darf. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Bindung immer nur auf die Einbringung eines bestimmten Gesetzesentwurfs und Einflussnahme auf das Parlament gerichtet sein kann, denn weiter reicht der Einflussbereich der Regierung nicht.47 Der Bundestag hat es in der Hand, einen Gesetzentwurf auch scheitern zu lassen. Zu berücksichtigen ist allerdings die bereits dargestellte, „ratifizierende“ Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren. Diese stellt die „Normalität im System der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie“ dar.48 Aufgrund der faktischen Zwänge, die in der heutigen, unter ständiger medialer und demoskopischer Beobachtung stehenden Demokratie herrschen, sind eine Abstimmungsniederlage der Regierung oder auch nur eine nolens volens zurückgezogene Vorlage nicht lediglich kleine Zwischenfälle, die bei der nächsten gewonnenen Abstimmung wieder vergessen wären. Dies gilt umso mehr angesichts der politischen Identität von Parlamentsmehrheit und Regierung, die eine „Zerstrittenheit“ umso negativer erscheinen lässt.49 Diese Umstände muss die Regierung berücksichtigen, wenn sie eine „Selbstverpflichtung“ gegenüber Dritten eingeht. Aufgrund des Prinzips der Verfassungsorgantreue darf sie das Parlament nicht in eine Situation nur noch theoretischer Entscheidungsfreiheit bringen.50 Soweit freilich nur die generelle „Ratifikationslage“ besteht, ist an die Macht des Parlaments zu appellieren, der Regierung – gegebenenfalls auch schon vor dem Einbringen eines Gesetzentwurfs – mit mehr Selbstbewusstsein gegenüberzutreten.51 46 So auch Battis (Fn. 11), 201 (202). Siehe zu diesem Legitimationsaspekt auch Krüper (Fn. 1), 655 (661). 47 Vgl. hierzu statt vieler Kloepfer/Bruch (Fn. 1), 377 (380 f.). 48 Schoch (Fn. 24), § 37, Rn. 132. 49 Siehe zu diesem Druck auf die Regierung, die „politisch im Wort“ steht, BVerfGE 104, 249 (277 – Sondervotum Di Fabio/Mellinghoff). 50 Vgl. hierzu Becker (Fn. 9), S. 280 ff. 51 Papier (Fn. 1), 67 ff.; Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), 7 (18 f.). Zur

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Ein generelles Recht des Parlaments auf Beteiligung an Absprachen wird man indessen nicht annehmen können.52 Für eine solche Beteiligung besteht kein Grund, wenn keine Schmälerung der Rolle des Parlaments verursacht wird, da es auch sonst nicht zwingend an der Erstellung der Gesetzentwürfe durch die Regierung zu beteiligen ist. Eine generelle Beteiligung würde daher nur die Informalisierung des Gesetzgebungsverfahrens verstärken53 und zur Entparlamentarisierung54 beitragen. Absprachen und Konsultationen im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren, wie sie etwa in den Koalitionsrunden stattfinden, können aber nützlich sein, um von vornherein einen zustimmungsfähigen Entwurf vorzubereiten – nichts anderes geschieht in Kabinettssitzungen, an denen dazu regelmäßig auch die Vorsitzenden der die Regierung im Bundestag tragenden Fraktionen teilnehmen.55 c) Beteiligung an der Gesetzesverabschiedung Eine Beteiligung Betroffener an der Gesetzesverabschiedung im Parlament erscheint demgegenüber wenig opportun.56 Die Funktion des parlamentarischen Verfahrens, dass sich das Gesetz im Angesicht des Wählers argumentativ gegenüber den Zweifeln der Opposition behaupten muss, wird ohne die (erneute) Beteiligung der Betroffenen sogar besser erfüllt. Nicht der Betroffene soll seine Individualinteressen rechtfertigen, sondern die Parlamentsmehrheit deren „Hochzonung“ zu öffentlichen Interessen mit Gesetzesrang. Ausschussanhörungen, wie sie die Geschäftsordnung des Bundestags vorsieht, dienen daher weniger der Durchführung rechtsstaatlich gebotener Beteiligung der Betroffenen als vielmehr der Informationsbeschaffung der Opposition, die möglicherweise unter einem Wissensdefizit gegenüber der Regierung und der Parlamentsmehrheit leidet. 2. Sicherung des Gemeinwohls Erscheint nach dem Gesagten eine Beteiligung Betroffener an der Gesetzgebung auch grundsätzlich zulässig, so gilt es doch, gewisse Punkte zu beachten, damit das Gesetzgebungsverfahren seine verfassungsrechtlich vorgesehene Aufgabe erfüllen kann. Dies gilt bei jeder Form der Beteiligung, mag sie in Form der „vereinbarten“ Gesetzgebung oder durch bloße Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren erfolgen. früher durchaus gängigen Ausübung dieser Macht vgl. Schröder (Fn. 42) S. 223; ders. (Fn. 33), 449 (451). 52 Anders etwa Schoch (Fn. 24), § 37, Rn. 150 m.w.N., um Überraschungen des Parlaments zu vermeiden. 53 Herdegen (Fn. 51), 7 (18). 54 Kirchhof (Fn. 1), 1332; Schoch (Fn. 24), § 37, Rn. 18. 55 Vgl. Gabriel/Holtmann, Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., 2005, S. 186. 56 So auch Herdegen (Fn. 51), 7 (18).

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Es handelt sich dabei letztlich um Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. a) Gebot der Transparenz Über Erfolg oder Misserfolg der gesetzgeberischen Bemühungen, das öffentliche Interesse zu realisieren und den „richtigen“ privaten Interessen den Vorzug zu geben, hat in der Demokratie der Wähler zu entscheiden, der die Regierungsparteien gegebenenfalls für die Verfolgung der „falschen“ Interessen zur Verantwortung ziehen und abwählen kann. Damit der Bürger die Bewertung vornehmen kann, ob der Gesetzgeber den Interessenausgleich und die Wahrung des öffentlichen Interesses zutreffend vorgenommen hat, ist allerdings eine besondere Transparenz der Entscheidungsfindung erforderlich, die klar zutage treten lässt, welchen Individualinteressen aus welchem Grund Rechnung getragen worden ist, und was sie zugleich zu öffentlichen Interessen macht. Hinreichend, aber auch erforderlich für diese Meinungsbildung ist in zeitlicher Hinsicht eine Transparenz im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Sie wird allerdings durch Art. 42 Abs. 1 GG nicht in ausreichendem Maße hergestellt, weil die öffentliche Verhandlung im Bundestag nicht erkennen lässt, wie der Entwurf entstanden ist. Auch § 51 Nr. 4 GGO57 verpflichtet hier nicht zu einer ausreichenden Transparenz über externe Einflüsse bei der Entwurfserstellung. Es müssen darüber hinaus auch in einem Entwurf berücksichtigte, also nicht abweichende Stellungnahmen von Betroffenen erkennbar gemacht werden, und zwar über den Kabinettsbeschluss hinausgehend auch im parlamentarischen Verfahren. Eine weitergehende, zeitlich vorgelagerte, prozessbegleitende Transparenz erscheint demgegenüber nicht erforderlich. Sie würde zum einen den Effekt verstärken, dass sich die Diskussion über das öffentliche Interesse aus dem Parlament weg auf andere Ebenen wie etwa Polit-Talkshows verlagert. Zum anderen können Gebote von zuviel Transparenz oder Transparenz zur Unzeit Entscheidungsprozesse auch behindern oder durch Umgehung verhindert werden. Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens muss allerdings erkennbar werden, in welchem Bereich und Umfang sich die Individualinteressen durchgesetzt haben, sofern dies nicht offensichtlich ist. Zwar wird die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens im Parlament kritisiert, weil die praktisch bedeutsamen58 Ausschusssitzungen nach § 69 Abs. 1 Satz 1 GOBT regelmäßig nicht öffentlich sind.59 Die Transparenz über die denkbaren inhaltlichen Positionen zu einer Sachfrage und über die Beteiligung Betroffener im Vorfeld des parlamentarischen Verfahrens kann ungeachtet dessen in der Parlamentsdebatte hergestellt werden. Es obliegt den Abgeordneten, 57

Siehe dazu oben II. Vgl. Schröder (Fn. 33), 449 (453). 59 Kritisch hierzu etwa Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 42, Rn. 24. Vgl. auch Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 104 ff. 58

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hierfür zu sorgen, und insbesondere der Opposition, die Regierung und die sie tragenden Fraktion(en) zu einer ausreichenden Rechtfertigung ihrer Gesetzgebung vor den Augen der Öffentlichkeit zu zwingen. Wie gut dieser Vorgang für den Bürger wahrnehmbar wird, ist eine Frage seiner medialen Begleitung.60 Auf europäischer Ebene ist mit der Schaffung des Transparenzregisters,61 in dem sich Lobbyisten eintragen müssen und das (im Gegensatz zur „Akkreditierungsliste“ beim Bundestag62) auch ihre Beteiligung an der Erstellung von Legislativakten offenlegt, bereits ein erster Schritt zur Herstellung der erforderlichen Transparenz getan worden. Noch wichtiger als diese akteursbezogene Auflistung erscheint freilich eine rechtsaktsbezogene Transparenz, die auch bei Lektüre der Begründung eines Rechtsakts die Beteiligung von Interessengruppen erkennen lässt. b) Begründungslast des Gesetzgebers Angesichts der Schwierigkeit der Durchsetzung der Transparenz muss ergänzend nicht nur bei intensiver Beteiligung Betroffener an der Gesetzesentstehung, sondern auch schon bei objektiver und offensichtlicher Förderung eines Individualinteresses die Vermutung, dass die Gesetzgebung grundsätzlich im öffentlichen Interesse erfolgt, als erschüttert gelten.63 Daher muss, soweit ein Gesetz offensichtlich primär einem Individualinteresse dient oder eine intensive Beteiligung Betroffener stattgefunden hat, eine besondere Begründungslast dafür verlangt werden, dass das Gesetz auch dem Allgemeinwohl dient beziehungsweise diesem zumindest nicht zuwiderläuft.64 Die Rettung einer finanziell angeschlagenen Bank mit Steuermitteln dient beispielsweise primär dieser selbst sowie ihren Aktionären und Gläubigern. Daher muss in einem solchen Fall genau begründet werden, ob und warum damit möglicherweise zugleich der Allgemeinheit gedient ist; eine pauschale Begründung des Gesetzgebers, dass das Gesetz auch im öffentlichen Interesse sei, reicht in einer solchen Situation nicht aus. Dies schließt ein, dass besondere (auch steuerliche) Begünstigungen Einzelner zulasten der Allgemeinheit besonders rechtfertigungsbedürftig sind, und damit eine Gefälligkeitsgesetzgebung erschwert wird. Die Konstruktion einer besonderen Begründungslast für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses ist dem Verfassungsrecht nicht fremd: Sie findet sich beispiels60 Siehe zur Rolle der Medien in der Parteiendemokratie Shirvani (Fn. 30), S. 182. Kritisch zur medialen Begleitung des Parlamentsgeschehens wiederholt Lammert, vgl. etwa Plenarprotokoll 17/1 vom 27. 10. 2009, S. 6 f. 61 Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Parlament und Kommission über ein gemeinsames Transparenzregister vom 11. 05. 2011. 62 Vgl. Anlage 2 zur GOBT; krit. hierzu Bröhmer (Fn. 59), S. 110. 63 In diese Richtung auch Dederer (Fn. 1), S. 349; Kloepfer/Bruch (Fn. 1), 377 (382). 64 Siehe zu besonderen Begründungspflichten Schoch (Fn. 24), § 37, Rn. 156. Zweifelnd demgegenüber Schwarz/Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011, 653 (658 ff.), allerdings wohl eher bezogen auf die Steuerung durch das Gesetz und nicht auf seine Rechtfertigung.

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weise im Bereich der Enteignung. Eine solche darf nach Art. 14 Abs. 3 GG nur zum Wohle der Allgemeinheit erfolgen. Darunter ist ein besonders schwerwiegendes, dringendes öffentliches Interesse zu verstehen.65 Im öffentlichen Interesse in diesem Sinne kann aber – zumindest nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – auch eine Enteignung zugunsten Privater liegen, wenn sie mittelbar dem Wohle der Allgemeinheit dient.66 Das besondere öffentliche Interesse, das mit der „Bevorzugung“ des Privaten realisiert werden soll, muss sich also begründen lassen. Auch wenn die Entziehung einer grundrechtlich geschützten Eigentumsposition gewiss schwerwiegender und begründungsbedürftiger ist als andere, nicht unmittelbar in Grundrechte eingreifende Maßnahmen des Gesetzgebers, liegt die Gemeinsamkeit beider Konstellationen darin, dass der Gesetzgeber zumindest prima facie nicht, wie es seinem Auftrag entspricht, im Interesse des Allgemeinwohls handelt, sondern einem Privatinteresse zur Durchsetzung verhilft. c) Besondere Sicherungspflicht Die Parallele zur nur mittelbar dem Gemeinwohl dienenden Enteignung zugunsten Privater lässt sich auch im Hinblick auf eine weitere Forderung des Bundesverfassungsgerichts ziehen: Die Rechtsprechung verlangt bei der privatnützigen Enteignung nämlich besondere Vorkehrungen zur Wahrung und Sicherung des Gemeinwohlzwecks.67 Dieser Gedanke lässt sich auch auf die nur mittelbar dem Gemeinwohl dienende Gesetzgebung zugunsten Privater, die bei deren Involvierung in das Verfahren nach dem Gesagten vermutet werden muss, übertragen. Das öffentliche Interesse muss nicht nur vom Gesetzgeber begründet werden, sondern seine Verwirklichung auch gesichert werden, damit der verfassungsrechtliche Auftrag an den Gesetzgeber, dem Gemeinwohl zu dienen, erfüllt wird. Eine solche Sicherung kann unter Umständen auch gerade durch „Gegenleistungen“ geschehen, die der Private im Anschluss an die Gesetzgebung erbringt, ohne dass in einem solchen Fall ein unzulässiger „Verkauf von Hoheitsrechten“ vorläge.

VI. Fazit Es ist nicht per se als Übel für die parlamentarische Demokratie zu sehen, wenn Betroffene an der Gesetzgebung beteiligt werden, sondern erscheint vielmehr in bestimmten Fällen rechtsstaatlich geboten und sinnvoll, um einen verfahrensmäßigen 65

BVerfGE 74, 264 (289); vgl. auch BVerfG, NVwZ 2009, 1283 (1284). Vgl. bereits BVerfGE 66, 248 (257); grundlegend auch BVerfGE 74, 264 (286); jüngst bestätigt durch BVerfG, WM 2009, 422. Vgl. auch Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, 1996; Muckel, Die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG als Recht zur Abwehr missbräuchlicher Enteignungen zugunsten Privater, in: FS für Friedrich E. Schnapp, 2008, S. 181 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (Juli 2010), Rn. 577 ff. 67 BVerfGE 74, 264 (285 f.). 66

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Schutz ihrer Interessen sicherzustellen. Der Politik kommt die Aufgabe zu, aus der Vielzahl von Interessen diejenigen auszuwählen und in Gesetzesform zu gießen, die der Realisierung des Gemeinwohls dienen, wobei das Parlament die Letztverantwortung für diese Auswahl trägt. Es muss daher eine Transparenz gewährleistet sein, die es dem Wähler ermöglicht, die Richtigkeit der vom Parlament getroffenen Auswahlentscheidung zu überprüfen, denn das Gemeinwohl ist kein rational feststellbarer, sondern ein im Diskurs zu ermittelnder Begriff. Dient eine bestimmte Gesetzgebung offensichtlich Individualinteressen, ist ihre Gemeinwohlverträglichkeit besonders zu begründen und gegebenenfalls auch mit bestimmten Mitteln zu sichern.

Was schuldet der Gesetzgeber? Parlamentarische Gesetzgebung zwischen Dezision und Systemrationalität Von Maximilian Wallerath

I. Problemstellung „Der Gesetzgeber schuldet gar nichts anderes als das Gesetz“. Mit dieser vielzitierten These hat Klaus Schlaich1 auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 eine Stellungnahme von Willi Geiger2 aufgegriffen und auf den Punkt gebracht, die vollständig wie folgt lautet: „Der Gesetzgeber schuldet den Verfassungsorganen und Organen im Staat, auch den Verfassungsgerichten, nichts als das Gesetz. Er schuldet ihnen weder eine Begründung noch gar die Darlegung aller seiner Motive, Erwägungen und Abwägungen. Eine Begründung zum Entwurf des Gesetzes ist üblich, auch nützlich; Protokolle über die Beratungen der Ausschüsse können Erklärungen der Abgeordneten festgehalten haben. All dies geschieht aber nicht, weil irgendjemand einen Anspruch darauf hätte, weil es etwa Gerichte fordern könnten oder weil es objektiv rechtlich geboten wäre. Das ist alles aus gutem Grund anders als bei einem einen Bürger belastenden Verwaltungsakt.“ Mit ihren Stellungnahmen wandten sich Geiger und Schlaich namentlich gegen die kurz zuvor von Gunther Schwerdtfeger3 entwickelten Vorstellungen von einer

1 Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), 99 (103). Dem folgend: Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 320; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 817 f., 875; Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, DVBl. 2004, 986 (994); Groß, Von der Kontrolle der Polizei zur Kontrolle des Gesetzgebers, DÖV 2008, 856 (860 f.); Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, 291 ff.; Schuppert, Gute Gesetzgebung – Bausteine einer kritischen Gesetzgebungslehre, Sonderheft zu ZG 18 (2003), 1 (8). 2 Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich/Holl/Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141). 3 Schwerdtfeger, Optimale Methode der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 173. In die gleiche Richtung Benda, BVerfG und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, DÖV 1979, 467; Breuer, Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), 40 ff.; Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungslehre, VerwArch 93 (2002), 1 (14 ff.); Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, 2081 (2086); Smeddinck, Optimale Gesetzgebung im Zeit-

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„Optimale(n) Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht“. Der parlamentarische Gesetzgeber habe „die einschlägigen Fakten, Interessen“ und „Gesichtspunkte“ möglichst vollständig und mit richtigem Inhalt heranzuziehen, aufzubereiten und gegeneinander abzuwägen. Eine Verpflichtung zu methodischem Vorgehen ergebe sich namentlich aus den grundrechtlichen Abwägungsgeboten. Die Pflicht zu möglichst rationaler Gesetzgebung präge das demokratische Regierungssystem, das sich so „von der emotionsgeladenen unmittelbaren Demokratie“ abhebe. Nicht zuletzt die Pointierung der Gegenthese durch Schlaich sicherte dieser nachhaltige Aufmerksamkeit. Von Geiger vor allem im Hinblick auf eine mögliche Begründungspflicht des Gesetzgebers eingeführt, wurde sie lange Zeit vornehmlich unter diesem Aspekt diskutiert4. In jüngeren Stellungnahmen5 wird sie in den größeren Rahmen der Rationalitätsanforderungen an den parlamentarischen Gesetzgeber und deren Maßstäblichkeit für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung gestellt. Neben Begründungspflichten geht es dabei um Ermittlungs- und Abwägungspflichten des Gesetzgebers sowie die Einhaltung eines Konsistenzgebots durch ihn. An dieser Stelle sollen vor allem etwaige – dem vorgelagerte – legislatorische Tatsachenfeststellungs- und Abwägungspflichten, also das sog. „innere Gesetzgebungsverfahren“6, näher in den Blick genommen werden: Darlegungs- und Begründungspflichten bauen hierauf auf und flankieren Erstere. Konsistenzgebote wie das Gebot der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit markieren trotz gewisser Überschneidungen mit den vorgenannten Pflichten einen eigenen Problemkreis und finden in Überlegungen zur Reichweite des Gleichheitssatzes und/oder der Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einen eigenen dogmatischen Anknüpfungspunkt; sie sollen deshalb hier zurückgestellt bleiben7.

alter des Mandelkern-Berichts, DVBl. 2003, 641 ff.; wohl auch Badura, Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, ZG 2 (1987), 300 (310). 4 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 299 ff.; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987; Haratsch, in: Sodan (Hrsg.), GG, 2009, Art. 76, Rn. 8; Masing, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 5. Aufl., 2005, Art. 76, Rn. 62; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“ – Zu alten und neuen Begründungspflichten des parlamentarischen Gesetzgebers, in: FS für Josef Isensee, 2007, S. 325 ff.; Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, 754 ff. 5 Referate von Lienbacher und Crzedzick zum 2. Beratungsgegenstand der Jahrestagung 2011 der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer „Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat“; vgl. auch den Begleitaufsatz hierzu von Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, 1053 ff. sowie Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 29 (2010), 77 ff. und Mengel, Die verfahrensrechtlichen Pflichten des Gesetzgebers und ihre verfassungsgerichtliche Kontrolle, ZG 3 (1990), 193 (207 ff.). 6 Zur Begrifflichkeit: Schwerdtfeger (Fn. 3), S. 173 (177); Hoffmann, Das verfassungsrechtliche Gebot der Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 5 (1990), 97 (98). 7 Hierzu namentlich die in Fn. 5 genannten Beiträge; vgl. aber auch unten VII.2.b).

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II. Das „gute Gesetz“ zwischen politischer Dezision und Systemrationalität Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Streit um das, was der Gesetzgeber schuldet, lebe von einer künstlichen Gegenüberstellung: Angesichts des Fehlens von expliziten grundgesetzlichen Regelungen zum inneren Gesetzgebungsverfahren sei dieses ausschließlich Gegenstand von politischen Klugheitsregeln, nicht aber von verfassungsrechtlichen Erwartungen: Während sich die „Gesetzgebungslehre“ mit Regeln für ein gutes Gesetz und dessen Zustandekommen befasse, beschränke sich das Verfassungsrecht auf das äußere Gesetzgebungsverfahren wie auch auf die inhaltliche Vereinbarkeit des Gesetzes mit den materiellen grundgesetzlichen Anforderungen; letztere unterlägen aber einer reinen Ergebniskontrolle. Im Übrigen folge Gesetzgebung als Ausdruck politischer Programmsetzung politischer Dezision. Eine solche Sicht erweist sich jedoch als verkürzt. Sie lebt von der Segregation eines bestimmten Ausschnittes der Lebenswirklichkeit durch einzelne (Teil-)Fachdisziplinen und nimmt auf diese Weise vorschnell deren Perspektive ein, wo es doch zunächst und vor allem um die der Handlungseinheit „Parlament“ vom Grundgesetz zugedachte Rolle geht, eine zentrale Aufgabe im Rahmen des staatlichen Gesamtsystems aufgabenteilend wahrzunehmen. Zur Debatte steht der Auftrag des parlamentarischen Gesetzgebers innerhalb des Systems. Dieser lässt sich nicht durch den isolierten Zugriff auf gewachsene Fachdisziplinen fassen. Vielmehr ist zunächst danach zu fragen, wie sich die Funktion parlamentarischer Gesetzgebung in die Verfassungsordnung einfügt und woraus sie ihre Maßstäbe erfährt. Die aktuelle Diskussion sucht die Problematik über den Begriff der Rationalität auf einen Nenner zu bringen und auf diese Weise verschiedene Einzelaspekte einzufangen. Das hat insofern seine Berechtigung, als damit zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich nicht ausschließlich oder auch nur primär um die Wahrung eines wie auch immer gearteten Begründungserfordernisses von Gesetzen handelt: Die Begründung kann – wenn überhaupt – nur wiedergeben, was den legislatorischen Entscheidungsprozesses geleitet hat. Allerdings ist die Verwendung des Rationalitätsbegriffs aus einem anderen Grunde verfänglich, gibt es doch unterschiedliche Ausprägungen von Rationalität. Die Vorstellung, es gebe nur eine Rationalität – nämlich die landläufig in den Blick genommene „Zweckrationalität“ –, ist durchaus naiv. Die Sozialwissenschaften lehren uns, dass es unterschiedliche Rationalitäten gibt, etwa die technisch-instrumentale oder die von Grundüberzeugungen oder Normen geleitete Rationalität – in der Sprache Max Webers: „Zweckrationalität“ und „Wertrationalität“ (Normrationalität)8.

8 Näher Wallerath, Verwaltungsreform in der Rationalitätenfalle?, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungserneuerung. Eine Zwischenbilanz der Modernisierung öffentlicher Verwaltungen, 2001, S. 41 (44 ff.).

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Rationalitätsvorstellungen sind zunächst an der Entscheidungssituation von Individuen ausgerichtet. Folgt man der Theorie des methodischen Individualismus, gilt gar die Annahme, dass Kollektive (wie Parlamente) grundsätzlich nicht selbst als Handlungseinheiten aufgefasst werden können; vielmehr werden ihr Wesen und ihr Verhalten aus den Einstellungen und Haltungen der jeweiligen Mitglieder erklärt9. Das ist nur im Ansatz richtig: Willensbildung setzt Willensfähigkeit voraus. Diese kommt nur natürlichen Rechtssubjekten zu, die auch in körperschaftlich strukturierten Handlungseinheiten den maßgeblichen Willen bilden. Bekanntlich kann das Recht aber auch Handlungs- und Wirkeinheiten wie Kollegialorganen die Fähigkeit zu rechtlich erheblichem Verhalten beimessen und so das Handeln von Individuen der jeweiligen Handlungseinheit in ihrer Gesamtheit zurechnen. Im Übrigen macht es gerade das Wesen von Institutionen aus, dass sie individuelles Verhalten beeinflussen. Deren institutionelle Umrahmungen durch Außenrecht (wie das Grundgesetz, das Abgeordneten- und das Parteiengesetz) und Binnenrecht (wie die Geschäftsordnung des Bundestages) sowie durch sonstige Wertmuster und Erwartungen führen regelmäßig dazu, dass sich das Verhalten ihrer Mitglieder an den maßgeblichen Handlungs- und Entscheidungsbedingungen ausrichtet. Als jeweils individuelle Orientierung in der Organisation führt dies zugleich zu einem für die Organisation charakteristischen Verhalten10. Dieses Phänomen lässt sich auch als Systemrationalität verstehen. Das meint die durch bestimmte Strukturen vorgeformte, rollengerechte Entscheidungs- und Verhaltensorientierung der Akteure. Eine rationale Entscheidung in diesem Sinne ist eine vernünftige, der Werteordnung des Handlungssystems entsprechende Entscheidung11. In der systembezogenen Entscheidung verbindet sich so idealtypisch Zweckrationalität mit einer spezifischen Wertrationalität. Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Mitglieder der Logik des Systems stets folgen: Jedes Mitglied kann in seine Entscheidung auch persönliche Interessen einfließen lassen, die sich gerade nicht mit den institutionellen Interessen decken12 ; insofern unterscheidet sich der Abgeordnete nicht von anderen Individuen. – Das ändert jedoch nichts an dem grundsätzlichen Befund: Das System entfaltet bestimmte Verhaltenserwartungen, die sich an die darin eingebundenen Akteure richten.

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Siehe nur Feldmann, Eine institutionalistische Revolution?, 1995, S. 44. Anders der von Luhmann formulierte Ansatz der Systemtheorie; näher: Scherzberg, Systemtheorie als sozialtheoretische Grundlage der Verwaltungslehre, in: FS für Hans Peter Bull, 2011, S. 767 (769 f.). 10 Wallerath (Fn. 8), S. 41 (45). 11 Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, § 26 m.w.N. 12 Das ist durch die sog. „Ultimatum-Experimente“ empirisch gut abgesichert; siehe nur Güth, Spieltheorie und ökonomische (Bei)Spiele, 1992, passim; Wurmnest, Marktmacht und Verdrängungsmissbrauch, 2010, S. 209 m.w.N.

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III. Koordinaten der Systemrationalität parlamentarischer Gesetzgebung Als Teilsysteme des Gesamtsystems „Staat“ sind die gesetzgeberischen Organe grundsätzlich auf die Rationalität des Gesamtsystems verpflichtet. Möglicherweise ist diese bereits ambivalent; das würde eine einseitige Maximierung ausschließen. Auch kann die Funktion der Gesetzgebung oder das Gesetzgebungsorgan „Parlament“ Besonderheiten aufweisen, die eine spezielle Rationalität zum Ausdruck bringen. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Fälle parlamentarischer Rechtsetzung besonderen Anforderungen unterliegen, die wiederum einer hiervon abweichenden Rationalität folgen. 1. Rechtsstaatliche Normrationalität Die für alle staatlichen Organe maßgebliche Rationalität des Gesamtstaates bildet sich vor allem im Grundgesetz ab: Das Verfassungsrecht hält aufgrund seines konstitutionellen „Mehrwerts“ (Art. 20 Abs. 3 GG) die entscheidenden Orientierungspunkte für jedes staatliche Handeln bereit. Zu den unverzichtbaren, hieraus abzuleitenden Wertmaßstäben zählen, wie sich aus Art. 79 Abs. 3 GG erschließt, u. a. die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Sie schlagen die Brücke zu einer Annäherung an die spezifische Systemrationalität des parlamentarischen Gesetzgebers. Indem sie – neben den anderen verfassungsrechtlichen Leitentscheidungen – die konkrete Staatsform konstituieren, bilden sie den normativen Rahmen für die institutionelle und funktionelle Ausformung der politischen Entscheidungsebene. Namentlich im Rechtsstaatsprinzip bündeln sich bestimmte Erwartungen an die parlamentarische Rechtsetzung: Die Ausrichtung staatlichen Verhaltens an den Maßstäben der Vernunft bildet eine Grundforderung an jede Rechtsordnung und eine wesentliche Legitimationsgrundlage für die Normsetzung13. Erst intersubjektiv vermittelbare Entscheidungskriterien erzeugen Einsehbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts, erst die nachvollziehbare empirische Erfassung des zu regelnden Lebensbereichs14 sowie die Einsicht in erfahrungsgestützte oder wissenschaftlich begründete Wirkungszusammenhänge schützen individuelle Freiheit vor überschießenden Eingriffen des Gesetzgebers15, nur die Einhaltung eines vor der Öffentlichkeit zu verantwortenden, transparentes Verfahrens sichert Akzeptanz und Wirksamkeit des Ge-

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Bumke (Fn. 5), 77 (78, 93). Hierzu gehört auch das sog. Konsistenzgebot; s. a. zu Fn. 7. Zur Tatsachenfeststellungs- und -berücksichtigungspflicht BVerfGE 39, 210 (226); 50, 290 (334); 86, 90 (109); Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, Bd. I, 1976, S. 458 ff.; Brenner, Das innere Gesetzgebungsverfahren im Lichte der Hartz IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ZfG 26 (2011), 394 (401 f.). 15 Vgl. nur Hoffmann (Fn. 6), 97 (109). 14

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setzes. Andererseits ist Gesetzgebung nicht Verwaltung16. Insofern geht es typischerweise nicht um „Subsumtion“, sondern um die zukunftsgerichtete Gestaltung von Lebenswirklichkeit unter Beachtung der grundgesetzlichen Rahmenbedingungen und Zielvorgaben für eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten und Personen unter dynamischen Verhältnissen17. Das begründet eine unterschiedliche Funktionslogik und sollte zur Vorsicht mahnen, wenn es um die Frage geht, ob rechtliche Rationalitätsmuster, die im Hinblick auf Einzelfallentscheidungen entwickelt wurden, auf gesetzliche Regelungen übertragen werden können18. 2. Parlamentarische Willensbildung Parlamentarische Rechtsetzung ist eingebettet in ein Modell funktionsteilender und zugleich gewaltenhemmender staatlicher Aufgabenwahrnehmung. Überdies ist sie Ausdruck eines spezifischen – dem demokratischen Prinzip verbundenen – Koordinationsmechanismus zur Erzeugung von Gemeinwohl durch die staatliche Gemeinschaft. Hinter der Idee legislatorischer Programmsteuerung steht – wie das BVerfG19 dies im Zusammenhang mit der Wesentlichkeitstheorie formuliert hat – der Gedanke, vor allem das Parlament sei dazu berufen, „im öffentlichen Willensbildungsprozess unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden.“ Der Staat erfülle hier „durch seine gesetzgebende Gewalt die Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen zu sein.“ Die Besonderheit dabei ist, dass das „Gemeinwohl“ zugleich Richtziel, Gegenstand und Ergebnis des Prozesses politischer Entscheidungsfindung ist. Nur so kann das allgemeine Gesetz den Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk als Souverän und staatlicher Herrschaft herstellen20. In der staatspolitischen Realität kann dies freilich nur heißen, dass Gesetze die entscheidenden Instrumente sind, die Richtigkeitsvorstellungen der jeweiligen Mehrheit im Hinblick auf eine Konkretisierung und Verdichtung des Gemeinwohls (im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung) durchzusetzen21. Indes stößt der Versuch, Zweck- und Wertrationalität auf der Ebene politischer Entscheidungsprozesse herzustellen, auf ein strukturelles Dilemma: Wenn es um 16 Schlaich (Fn. 1), 99 (109); krit. hierzu Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, 2011, S. 177. 17 Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (333 f.). 18 Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, S. 120; Cornils (Fn. 5), 1053 ff.; Smeddinck (Fn. 3), 641 (645). 19 BVerfGE 33, 125 (159). 20 s. a. Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123; Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (333). 21 Ennuschat (Fn. 1), 986 (987); s. a. Wallerath (Fn. 8), S. 41 (47).

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kollektive Entscheidungsprozesse22 geht, die den Erfolgsmaßstäben des politischen Wettbewerbs unterliegen, sind entsprechende Entscheidungen immer auch „konfliktäre“ und nicht nur „Sachgesetzlichkeiten nachvollziehende“ Festlegungen. Dem entspricht die Beobachtung, dass die Politik scheinbare oder auch tatsächliche Sachgesetzlichkeiten nicht einfach hinzunehmen bereit ist – liefe sie doch sonst Gefahr, die Gestaltungsfreiheit, die sie selbst besitzt, und eigene Profilierungsmöglichkeiten zu verspielen23. Tatsächlich spielt bei staatlichen Entscheidungsprozessen nicht nur das Allokationsziel der optimalen Nutzung vorhandener Ressourcen, sondern auch das Ziel der Distribution der erzeugten Güter24 eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Zum politischen Tagesgeschäft gehört auch, wie Koalitionsverhandlungen beispielhaft belegen, dass Leistungen mit Gegenleistungen gekoppelt werden: Was aus Bürgersicht als Form des „Kuhhandels“ gewertet werden mag, hat umgekehrt in der politischen Ökonomie mit der Figur des „Stimmentauschs“ seine wissenschaftlichen Weihen erfahren. Dessen systemisch außerordentlich bedeutsame Funktion besteht in der Ersetzung von „Werten“ durch wechselseitig tauschbare Interessen25: Die Koalitionspartner setzen eine von ihnen jeweils favorisierte Idee zurück. Das kann von den eigenen Anhängern je nach Umfang der Zugeständnisse auch als Preisgabe „heiliger Prinzipien“ empfunden werden. Indes ist nicht selten nur so eine aktive Politik des Kompromisses mit gegenseitigem Geben und Nehmen möglich. Inkonsistenzen lassen sich dabei nicht ausschließen26; die juristische Methodenlehre findet gerade hier ein reiches Arbeitsfeld. Auch schließen, wie die Erfahrung lehrt, Konkurrenz der Ideen und öffentlicher Diskurs „Programmfehler“ und „verschlungene Pfade“ im Prozess parlamentarischer Willensbildung nicht aus27. Hierzu gehört namentlich die praktische Dominanz des Zeitfaktors: Sie führt tendenziell zur Präferenz von Aktionismus und Maßnahmeorientierung und folgt mit Vorliebe dem Gesetz der „Minderschätzung künftiger Bedürfnisse“28; zugleich verleitet sie, paradox genug, zur Abbürdung von politischen Zielkonflikten29: Angesichts wachsender Umweltkomplexität wird es zunehmend schwieriger, dem Bürger vermittelbare Problemlösungen zu finden. Kryptisierung und Theatralisierung begleiten Entschei22 König, Unternehmerisches oder exekutives Verwaltungsmanagement, VerwArch 1996, 19 (27); s. a. Kirchgässner, Homo oeconomicus, 1991, S. 25 f., 187 ff., 195 ff. 23 Wallerath (Fn. 8), S. 41 (47). 24 Statt vieler Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, 1986, S. 84. 25 Informativ Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), 23 (27); s. a. Wallerath, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 62 (2003), 99 (100). 26 Vgl. Schlaich (Fn. 1), 99 (110); Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 29 (2010), 640. 27 Schuppert, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, 1993, S. 65 (82); Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (338). 28 Oberender/Volk, Soziale Sicherung zwischen staatlicher Vorsorge und Eigenverantwortung, in: Sarcinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur, 1990, S. 311. 29 Schuppert (Fn. 27), S. 65 (82).

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dungsprozesse und wechseln sich ab – beides Phänomene, die schon immer Begleiterscheinungen von „Herrschaft“ waren; auch demokratische Herrschaftsform ist hiervon nicht frei. 3. Mandat und Repräsentation Die Zielkonflikte zwischen den Anforderungen rechtsstaatlicher Gesetzgebung und den Eigengesetzlichkeiten demokratischer Willensbildung bündeln sich in dem einzelnen Abgeordneten. Er ist derjenige, der sich als Entscheidungsträger der Ambivalenz der spezifischen Systemrationalität parlamentarischer Rechtsetzung unmittelbar ausgesetzt sieht und diese zu verarbeiten hat. Die verfassungsrechtliche Klammer zwischen den systemischen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren und den Eigenheiten parlamentarischer Willensbildung bildet das Mandat des Abgeordneten, der als Mitglied des Parlaments den Willen des Gesetzgebers ausformt und so staatliche Willensbildung möglich macht. Mit dem „Amt“ hat das Mandat gemeinsam, dass es als Zurechnungsfigur die Brücke zwischen handelnder Person und der Institution schlägt30 und zugleich „fremdnützig“ (treuhänderisch) ist31. Als Mandatar agiert der Abgeordnete nicht mehr als Privater, sondern als Repräsentant, der einer bestimmten Aufgabe, nämlich der Erzeugung von „Gemeinwohl“ nach eigener bester Überzeugung, verpflichtet ist32. Anders als das Amt weist das Mandat des Abgeordneten als „freies“ Mandat allerdings eine geringeres Maß an rechtlicher Bindung und einen größeren Umfang gestalterischer Freiheit auf, als dies bei einem exekutiven oder richterlichen Amt der Fall ist33. Die sich aus der Fremdnützigkeit des Mandats ergebende Verantwortung für das „gemeinsame Ganze“ liegt mit in der Systemrationalität der Funktion „Gesetzgebung“ begründet, auch wenn sie die „Unfertigkeit demokratischer Ordnung“34 und die Eigenheit eines Prozesses der Herstellung von „Gemeinwohl“ mitzudenken hat. Dieser Prozess ist offen für taktische und strategische Überlegungen, für Kompromisse und die Inkaufnahme von Risiken. Hierbei handelt es sich nicht nur um Betriebsunfälle, sondern um systemimmanente Elemente eines demokratisch organisierten Entscheidungsverfahrens. In diesem Zusammenhang steht auch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Dieser stellt zugleich in Rechnung, dass unsere Wahrnehmung selektiv ist, dass der individuelle Erfahrungshintergrund die eigene Werthierarchie beeinflusst und die in der Parteienfreiheit gründende Zugehö30 Von daher stößt das Argument, bei der parlamentarischen Normsetzung gehe es um ein Zusammenspiel vieler, nicht um die Entscheidung eines Individuums, ins Leere; s. a. Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (331); Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, 2010, S. 131; abw. Cornils (Fn. 5), 1053 (1059). 31 Krause, Freies Mandat und Kontrolle der Abgeordnetentätigkeit, DÖV 1974, 325 (327); Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts – Zur Übertragbarkeit parlamentsrechtlicher Grundsätze auf Selbstverwaltungsorgane, insbesondere in der Kommunal- und Hochschulverwaltung, 1979, S. 104 f., 280 ff. m.w.N. 32 Ausführlich Schröder (Fn. 31), S. 103 f., 288 m.w.N. 33 Siehe Schröder (Fn. 31), S. 280 ff., 288 f., 296 f. 34 Bumke (Fn. 5), 77 (95).

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rigkeit des Abgeordneten zu einer bestimmten politischen Gruppierung die eigene Entscheidung beeinflussen kann. Von daher mag sich die mit dem Mandat verbundene Verantwortung vor allem als „politische“ äußern35. Aber sie hat doch in der funktionalen und institutionellen Einbettung des Abgeordneten in das rechtlich verfasste Gesamtsystem36 ihre Grundlage und findet von daher ihren Maßstab. Das betrifft nicht nur die inhaltliche Vereinbarkeit einer Gesetzgebungsentscheidung mit dem Grundgesetz, sondern auch die grundsätzliche Orientierung an den selbst erkannten und zu verfolgenden Gemeinwohlzielen als der Summe aller so identifizierten „öffentlichen Interessen“, die eben nicht mit bestimmten, isoliert betrachteten Partikularinteressen identisch sind. Die damit geforderte Reflexivität der Entscheidung37 widersetzt sich der Annahme schlichter Dezision, auch wenn das Willenselement38 deshalb keineswegs ausgeschlossen ist. Es bleibt der rechtsstaatlich imprägnierte Auftrag, Problemlösungen am Ziel des gemeinen Wohls zu messen und an diesem auszurichten. Dass sich dieser Vorgang regelmäßig einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzieht, steht dem nicht entgegen39 und kann nur irritieren, wenn man ausschließlich am Maßstab justizförmiger Überprüfbarkeit misst. Die Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollebene ist ja nicht neu40. Sie hat nicht zuletzt in diesem Kontext einen tiefen Sinn.

IV. Verfassungsrechtliche Anleitungen parlamentarischer Rechtsetzung 1. Das Grundgesetz als unterschiedlich offene Rahmenordnung Gesetzgebungsorgane bewegen sich im politischen Raum – aber sie befinden sich deshalb nicht in einem rechtsfreien Raum41. Wohl sind Gesetze ein Produkt der Politik; indes bildet Verfassungsrecht „die Ordnung, in deren Bahnen sich Staatsfüh35 Daneben kann sie als Anknüpfungspunkt für Regelungen im Abgeordneten- und im Parlamentsrecht gesehen werden; näher: Krause (Fn. 31), 325 (331 ff.); Schröder (Fn. 31) S. 124 ff., 217 f. m.w.N. 36 Zur (begrenzten) Reichweite des Art. 46 Abs. 2 GG: Krause (Fn. 31), 325 (331). 37 Siehe Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 65. DJT, Bd. I: Gutachten, 2004, I 3, S. 115; Windoffer (Fn. 16), S. 174. s. a. Hoffmann (Fn. 6), 97 (109), der im Anschluss an Gebauer, Nachdenken als Verfassungsauftrag. Über Notwendigkeit und Not staatlicher Planung, in: FS für Wolfgang Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1139 ff., die scheinbare Trivialität formuliert, der Gesetzgeber sei „zum „Nachdenken“ verpflichtet. 38 Hierzu namentlich Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (333) m.w.N. 39 Abweichend Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 659. 40 Hierzu namentlich Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 183; Windoffer (Fn. 16), S. 173 m.w.N. 41 Vgl. nur Krause (Fn. 31), 325 (327) m.w.N.

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rung und Rechtsetzung … zu bewegen haben.“42 Nicht zu übersehen ist allerdings, dass das Grundgesetz gerade im Hinblick auf das innere Gesetzgebungsverfahren von einer erstaunlichen Abstinenz geprägt ist43. Geregelt wird in Art. 76 ff. GG lediglich das „äußere“ Gesetzgebungsgebungsverfahren, das durch die förmliche Gesetzesinitiative eingeleitet wird. Das für die politische Willensbildung wichtige Stadium der Sondierung und Bündelung der politischen Kräfte, der Sammlung von Daten, der Hinzuziehung von Verbänden und Sachverständigen, der Abschätzung von Folgen sowie der Ausformulierung der Entwurfsfassung finden insoweit keine Beachtung. Aber auch die materiellen grundgesetzlichen Vorgaben für den Gesetzgeber sind von unterschiedlicher Dichte. Grundsätzlich ist dem Gesetzgeber die Wahl seiner legislatorischen Ziele und der dafür erforderlichen Mittel freigestellt44. Begrenzungen seines Spielraumes halten – neben den ausfüllungsbedürftigen Staatszielbestimmungen und institutionellen Garantien – namentlich die Freiheits- und Gleichheitsrechte bereit. Sie finden in unterschiedlich ausgeformten Gesetzes- und Regelungsvorbehalten ihren Ausdruck, die ihrerseits mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abzugleichen sind. Zwar folgt dieser der Idee des Maßes und ist deshalb nach gängiger Ansicht als „das rationalitätssichernde Instrument für staatliche Eingriffe schlechthin“ anzusehen45. Indes ist seine Steuerungskraft gerade bei der parlamentarischen Rechtsetzung eher begrenzt: Die Anforderungen an die Legitimität der Ziele sind in der Regel – Ausdruck gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit – weit gesteckt. Die Geeignetheit ist bereits bei einer Teileignung und damit einem „Schritt in die richtige Richtung“ zu bejahen. Die „Erforderlichkeit“ einer gesetzlichen Regelung bedeutet angesichts nicht auszuschließender komplexer Zielsetzungen („Zielbündel“) ein leicht zu überwindendes Hindernis: Ihre Prüfung läuft auf ein Denken in Alternativen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten hinaus. Sie beschreibt ein komplexes Optimierungsproblem, bei dem gleichzeitig divergierende, mitunter auch konträre Zielsetzungen, unterschiedliche Instrumente zu ihrer Durchsetzung sowie die sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen für verschiedene Betroffene und die ihnen zugeordneten Rechtsgüter zu verarbeiten sind – eine Anforderung, die in einem politischen Entscheidungsprozess kaum zu leisten ist und selbst unter Laborbedingungen kaum zu leisten wäre46. Sieht man von den einschlägigen geschäftsordnungsmäßigen Bestimmungen47 ab, bedarf all dies wie auch die „Ange42 Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht – Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 49. 43 Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 102, Rn. 6 f.; s. a. Schulze-Fielitz, Gesetzgebung als materiales Verfassungsverfahren, NVwZ 1983, 709 (712). 44 Bumke (Fn. 5), 77 (95). 45 Herdegen, Staat und Rationalität, 2010, S. 59. 46 Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, 1988, S. 465 f., 470. 47 § 76 Abs. 2 GO BT, §§ 24, 26 GO BR sowie §§ 40 ff. GGO II.

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messenheit“ einer gesetzlichen Regelung keiner Begründung des Gesetzgebers, es reicht deren „Begründbarkeit“48. Der Raum des „Begründbaren“ aber „ist so gut wie immer größer als derjenige des tatsächlich und im Vorhinein Begründeten, derjenige des vertretbar Prognostizierbaren weiter als derjenige des tatsächlich Prognostizierten“49. Immerhin zeigen die geschäftsordnungsmäßigen Bestimmungen wie auch eine rechtsvergleichende Betrachtung, dass eine allgemeine gesetzliche Begründungspflicht rechtstechnisch durchaus möglich wäre50. Misst man den so bestimmten legislatorischen Handlungsrahmen am Maßstab „guter Gesetzgebung“, so ist der Befund auf den ersten Blick überaus ernüchternd: Maßgeblich abgestellt wird auf das Ergebnis des Verfahrens, nicht auf dieses selbst51. Zwar wird gerade das parlamentarische Verfahren als „öffentliche(r) Willensbildungsprozess“, der unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens“ entscheidet, vom BVerfG52 zur Begründung seiner Wesentlichkeitsrechtsprechung angeführt. Die Legitimation des Gesetzes selbst wird aber auf der Basis einer eigenartigen Amalgierung von hoch formalisierter Input-Legitimation und einer ergebnisorientierten „Output-Legitimation“ gedeutet. Der Verfahrensaspekt wird vor allem als politische Größe betrachtet: Die Rechenschaft des Parlaments folge den politischen Mechanismen öffentlicher Meinungsbildung, nicht dem Nachweis nachprüfbarer Feststellungen und gerichtsverwertbarer Begründungen53. Seine Legitimation liege in der Mehrheit der dem Gesetz zustimmenden Abgeordneten, nicht in dessen Sachrichtigkeit54, während zugleich allein das Ergebnis entscheidend sein soll55. Dieser Ansatz hat eine bemerkenswerte Verteilung der Ermittlungs- und Abwägungslast zur Folge: Kommt es zu einer gerichtlichen Überprüfung des Gesetzes, ist von den Rechtsprechungsorganen, namentlich den Verfassungsgerichten, nachzuzeichnen, was der Gesetzgeber an Feststellungen hätte treffen und an Begründungen hätte liefern können. Man kann dies als wenig befriedigend empfinden. Auch mag man hierin vordergründig die Absicht erkennen, den Gesetzgeber zu schonen, mit 48

Herdegen (Fn. 45), S. 13; Kischel (Fn. 4), S. 299; Cornils (Fn. 5), 1053 (1058). So zu Recht Cornils (Fn. 5), 1053 (1059). Schorkopf, Die prozessuale Steuerung des Verfassungsrechtsschutzes, AöR 130 (2005), 465 (472), bemerkt hierzu, auf diese Weise setze das Gericht „Möglichkeiten an die Stelle von Handlungsverpflichtungen“. 50 Vgl. Kischel (Fn. 4), S. 263, 290, 294 f.; Ennuschat (Fn. 1), 986 (991); s. a. aber auch BVerfGE 1, 144 (158); Masing, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 4), Art. 76, Rn. 62 zu möglichen Einschränkungen unter dem Aspekt der „Gleichwertigkeit des Initiativrechts“. 51 Vgl. Schlaich (Fn. 1), 99 (113) zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle. 52 BVerfGE 33, 125 (159); s. a. oben zu Fn. 19. 53 Groß (Fn. 1), 856 (861); Kischel (Fn. 4), S. 299 ff. 54 Gusy (Fn. 1), 291 (298). Smeddinck (Fn. 3), 641, moniert, damit werde „in aller Unschuld“ die Frage nach Funktion und Nutzen des Gesetzes in einem modernen Staats- und Rechtssystem „ausgeblendet“. 55 Siehe vorstehend Fn. 48. 49

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der Folge, dass dadurch das Gericht in die Rolle eines fiktiven (Nachtrags-)Gesetzgebers gedrängt wird, der nach Gründen und Kriterien sucht, welche die Inhalte des Gesetzes zu legitimieren imstande sind, die aber möglicherweise zuvor überhaupt keine Rolle gespielt haben. Das provoziert einerseits Grenzüberschreitungen der Gerichte auf Kosten des Gesetzgebers, andererseits eine Funktionsüberlastung der Verfassungsgerichte, die sich auf diese Weise in einer Rolle wiederfinden, die ihnen schon von der Ausstattung her nicht „auf den Leib geschnitten“ ist56. 2. Handlungs- und Kontrollebene Und dennoch: Das Ideal guter Gesetzgebung ist etwas anderes als das Austarieren der Funktionen von Gesetzgebung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle in der konkreten Verfassungsordnung, die grundgesetzliche Erwartung an die gesetzgebenden Organe ist nicht zwangsläufig identisch mit dem Gegenstand, der den Verfassungsgerichten zur Überprüfung anvertraut ist, und dem Maßstab, den sie bei einer Überprüfung anzulegen haben. Der Grund hierfür klingt in der Abschichtung dieser Funktionen in Art. 20 Abs. 1 Satz 2 sowie Abs. 2 GG und deren näheren Ausgestaltung im Grundgesetz an: Indem die Staatsgewalt besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung überantwortet wird, wird eine spezifische Funktionenteilung zum Ausdruck gebracht, die dem durch unmittelbare Volkswahl unmittelbar legimitierten und damit in eine politische Verantwortung gestellten Parlament das Zugriffsrecht für die Normsetzung eröffnet. Dieses ist Gestalter und Erstinterpret57. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen eine Kontrollfunktion, die mit einem Letztentscheidungsrecht in verfassungsrechtlichen Fragen verbunden ist. Sieht man einmal von den Staatszielen ab, betrachtet sich der Gesetzgeber, wie Grimm58 zutreffend bemerkt, „nicht primär als verfassungsdeterminiert“, sondern in erster Linie in der Rolle des politischen Gestalters von Wirklichkeit, die er mit Blick auf strategische Ziele, auf Zweckmäßigkeit und auf Akzeptanz sowie Finanzierbarkeit und dadurch zu setzende Prioritäten ausfüllt, „um schließlich noch zu fragen, ob die Verfassung nicht entgegensteht“. Dagegen bedeutet die Verfassung für die Verfassungsgerichte nicht Restriktion, sondern „Primärdatum: Keinem Aktionsprogramm verpflichtet und Wahlen nicht unterworfen“, können sie „ihren Sinn sozusagen unabgelenkt ermitteln. Die Chance für eine rationale Verfassungsinterpretation sind daher beim Verfassungsgericht höher als bei den gesetzgebenden Instanzen“. Andererseits unterliegen dessen Entscheidungen weder demselben Transparenzgrad noch denselben Partizipationschancen wie das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren59. 56

Nach Meyer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), 180, macht das zugleich das Gesetz zum „Spielobjekt des juristischen Standes“. 57 Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl., 2010, § 181, Rn. 158. 58 Grimm, Diskussionsbeitrag, VVDSTRL 39 (1981), 185. 59 Grimm (Fn. 58), 185 (186).

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Bei der parlamentarischen Gesetzgebung besteht denn auch im Unterschied zu den anderen Staatsgewalten (regelmäßig) kein „Ableitungszusammenhang“ zwischen (verfassungsgesetzlicher) Ermächtigung und gesetzgeberischer Entscheidung60. Das deckt sich ganz mit der verbreiteten Vorstellung von der Verfassung als „Rahmenordnung“. In der begrenzten Detailsteuerung parlamentarischer Rechtsetzung zeigen sich die immanenten Grenzen des Rationalitätsgedankens, der insoweit die „Vorstellungswelt des demokratischen Verfassungsstaates“ als „Teilgehalt“ in sich aufnimmt61. Eben dies sichert seine Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche Veränderungen und die Fähigkeit zur Zukunftsgestaltung durch einen für Intuition und Kreativität offenen Rechtserzeugungsprozess, der auch im politischen Ringen um unterschiedliche Lösungen bestehen kann62. Irrtum und fehlerhafte Tatsachenermittlung ändern nichts an dem Bestand der gesetzgeberischen Entscheidung63. Fehlerhafte Prognosen stoßen unter Umständen auf Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten, begründen jedoch als solche noch nicht die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung64. Die das Vorfeld des äußeren Gesetzgebungsverfahrens betreffende Pflicht zu einer problemangemessenen, an der Gesamtheit der Volkes orientierten Entscheidungsfindung entzieht sich regelmäßig verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Sie erweist sich insoweit als „Naturalobligation“65. Aus gutem Grund hält sich das Grundgesetz mit ausdrücklichen Verfahrensanforderungen im Hinblick auf die parlamentarische Gesetzgebung, namentlich im Hinblick auf das „innere“ Gesetzgebungsverfahren, zurück. Diese Entscheidung ist ernst zu nehmen. Sie berücksichtigt nicht nur die Eigengesetzlichkeit des politisch-parlamentarischen Willensbildungsprozesses, sondern dient auch der Rechtssicherheit. Das Bundesverfassungsgericht betont deshalb mit Recht regelmäßig die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers, der eine eingeschränkte verfassungsgerichtliche Überprüfungsbefugnis und ein begrenzter Prüfungsumfang entsprechen.

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Kischel (Fn. 4), S. 262; s. a. Hebeler (Fn. 4), 754 (761). Bumke (Fn. 5), 77 (79). 62 BVerfGE 29, 221 (225); Ossenbühl (Fn. 14), S. 458 (472); Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (333 f.). 63 BVerfGE 16, 82 (88); 18, 38 (45). 64 BVerfGE 50, 290 (335); 107, 286 (294 f.); 120, 82 (108); Brenner (Fn. 14), 394 (401 f.); Hoffmann (Fn. 6), 97 (108). 65 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 37, III 3 (S. 616 f.). Das steht ihrer punktuellen Vergesetzlichung nicht entgegen; siehe Fn. 35. Allgemein zur „Naturalobligation“ im öffentlichen Recht: Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 2009, Rn. 1033. 61

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V. Die Bedeutung des materiellen Verfassungsrechts für das innere Gesetzgebungsverfahren 1. Entscheidungsleitende Maßstäbe: Unterscheidung tut not All dies gilt freilich nur in der Regel und aus einer allgemeinen prozeduralen Perspektive. Der zweite bestimmende Faktor ist das materielle Verfassungsrecht, aus dem sich für bestimmte Regelungsbereiche zusätzliche, unter Umständen auch verfahrensrechtliche Anforderungen ergeben können66. In der Rechtsprechung finden sich verschiedene Beispiele für solche Konstellationen, die von unterschiedlichen Erwägungen getragen werden. Gemeinsam ist ihnen, dass das Grundgesetz in diesen Fällen nicht nur allgemeine Grenzen für die legislatorische Entscheidung setzt, sondern diese umgekehrt an die Bedingung knüpft, dass gewisse Voraussetzungen für eine bestimmte gesetzliche Regelung erfüllt sind. Anders als bei sonstigen Gesetzgebungsakten gibt es hier einen „Ableitungszusammenhang“67, der durch „Subsumtion“ auszufüllen ist, oder ein sonstiges zusätzliches Legitimationserfordernis. Damit liefert die Steuerungsstruktur der einschlägigen Verfassungsnorm den entscheidungsleitenden Maßstab. Zugleich erweist sich der Satz, der Gesetzgeber schulde nichts als Gesetz, als verkürzt; sich am materiellen Verfassungsrecht ausrichtende Differenzierungen sind unumgänglich. Normstrukturen, die unter diesem Gesichtspunkt besondere Aufmerksamkeit verdienen, weisen Verfassungsbestimmunen auf, die einfach-gesetzliche Entscheidungen an besondere Maßgaben binden, etwa durch Formulierung bestimmter tatbestandlicher Voraussetzungen oder die Verschärfung von Rechtfertigungselementen gegenüber sonstigen einfach-gesetzlichen Regelungen, aber auch selbstvollziehende legislatorische Entscheidungen mit Planungscharakter. Die entsprechenden Erscheinungsformen haben fließende Grenzen, auch können sie sich überschneiden und damit gleich in mehrfacher Hinsicht Probleme aufwerfen.

2. Entscheidungssteuerung durch die Formulierung von Tatbestandsanforderungen Die bedeutsamste Fallgruppe bilden grundgesetzliche Regelungen, die ein gesetzgeberisches Handeln an tatbestandliche Voraussetzungen binden, die mit eigenen Wertungen des Gesetzgebers auszufüllen sind. Auf diese Weise wird der Vorgang der Willensbildung des einfachen Gesetzgebers besonderen Anforderungen unterworfen. Insoweit ist er zugleich Erkenntnis- wie Willensakt68 : Der Gesetzgeber selbst 66 Badura (Fn. 3), 300 (310); s. a. Schröder (Fn. 31), S. 90 ff. Vgl. auch Schulze-Fielitz (Fn. 43), 709 (711 ff.) m.w.N. zur allgemeinen Diskussion um Grundrechtsschutz durch Verfahren. 67 Siehe vorstehend Fn. 60. 68 Offen bleiben kann, ob die These (Lepsius (Fn. 20), S. 123), es handele sich bei der Gesetzgebung um „keinen Erkenntnisakt“, im Übrigen Zustimmung verdient.

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hat in geeigneter Weise zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine entsprechende Regelung erfüllt sind. Das hat einen guten Grund: Gerade weil sich dieser – durch eine besondere Verfassungsnorm geleitete – Verdichtungsprozess auf Wertungen des Gesetzgebers stützt, ist er mit Tatsachenermittlungs- und Abwägungspflichten des Gesetzgebers verbunden. Dieser der Prozess der Willensbildung kann nicht auf das Verfassungsgericht verlagert werden. Wohl hat dieses zu prüfen, ob der Gesetzgeber das Gesetz auf einer Entscheidungsbasis beschlossen hat, die ihm möglich macht, die Übereinstimmung der gesetzlichen Regelung mit den verfassungsrechtlich formulierten tatbestandlichen Voraussetzungen selbst zu beurteilen. Die Beachtung dieser Anforderung ist nicht nur von indizieller Bedeutung, sondern weist einen Selbstwert auf, der die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unmittelbar berührt69. Dafür ist das Ergebnis der gesetzgeberischen Entscheidung nur einer eingeschränkten Kontrolle durch das Verfassungsgericht unterworfen. a) Beispielhaft für eine solche Konstellation steht die einfach-gesetzliche Ausformung der grundgesetzlichen Gewährleistung des Existenzminimums im SGB II. Das Bundesverfassungsgericht70 leitet das Grundrecht auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ab. Dieses sichere jedem Hilfebedürftigen „diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ Zwar sei der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG „dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben“, indessen könne der Umfang des Anspruchs „im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel“ nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hänge von den „gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten“ ab71 und sei danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen72. Das Sozialstaatsgebot halte den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kämen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliege es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. In welcher Form er das Existenzminimum sichere, bleibe grundsätzlich ihm überlassen; auch komme ihm ein Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zu. Dieser umfasse ebenso die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse wie die wertende Einschätzung des notwen69

Köck (Fn. 3), 1 (19 f.). BVerfGE 125, 175 (224 ff.). 71 So bereits BVerfGE 82, 60 (91). Das Gericht teilt damit den vom Bundesverwaltungsgericht (E 35, 178 (180 f.); BVerwG, NJW 1994, 155) zugrundegelegten „relativen Armutsbegriff“. 72 BVerfGE 125, 175 (226); s. a. BVerfGE 115, 118 (153). 70

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digen Bedarfs und sei zudem von unterschiedlicher Weite: Er sei enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere, weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe gehe. Hierbei habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen73. Zunächst habe er die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln; auf dieser Basis habe er sodann die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibe ihm dafür keine bestimmte Methode vor; Abweichungen von der gewählten Methode bedürften allerdings der sachlichen Rechtfertigung74. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspreche eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaube, beschränke sich – bezogen auf das Ergebnis – die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche eine Evidenzkontrolle belasse, könne das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern. Es erfordere aber eine Kontrolle von Grundlagen und Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht würden. Hiernach weiche die Bemessung der Basisregelleistung von dem vom Gesetzgeber selbst gewählten, grundsätzlich tauglichen Berechnungsverfahren des Statistikmodells in verschiedener Hinsicht ohne sachliche Rechtfertigung ab. Die gebotene Anpassung des Basisregelsatzes nach Maßgabe des jeweiligen Rentenwerts stelle einen sachwidrigen Maßstabswechsel dar, die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs beruhe auf freihändiger Setzung ohne empirische und methodische Fundierung. b) Eine ähnliche Konstellation besteht, soweit es sich um die Einhaltung der Haushaltsdisziplin durch den Haushaltsgesetzgeber handelt. Während die Kreditaufnahme nach der früheren Fassung des Art. 109 Abs. 2, Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG an den Umfang der Investitionen gebunden war und eine Überschreitung nur bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zugestanden wurde, hat die Föderalismusreform II inzwischen die Weichen neu gestellt und hoch differenziertes und voraussetzungsvolles Regelwerk zur Begrenzung der Schuldenaufnahme durch Bund und Länder geschaffen. In seiner noch von der früheren Rechtslage bestimmten Entscheidung vom 18. April 1989 hatte das Bundesverfassungsgericht75 einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers aus der Unbestimmtheit der Begriffe „Störung“ des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ und den möglichen Ungewissheiten über die tatsächlichen Voraussetzungen für die Eignung einer erhöhten Kre73 74 75

So bereits BVerfGE 66, 214 (223); 82, 60 (88); 120 (125, 155). BVerfGE 125, 175 (226 ff) – Verstoß gegen das Gebot der Folgerichtigkeit. BVerfGE 79, 311 (343 f.).

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ditaufnahme zur Störungsabwehr hergeleitet. Insofern komme es maßgeblich auf die eigene Beurteilung und Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers an. Dies entspreche dem Charakter des Haushaltsplans als einem „konkreten Regierungsprogramm in Gesetzesform“. Für die Inanspruchnahme der Befugnis nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG könne nicht schon genügen, dass unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen ihrer tatsächlichen Voraussetzungen oder die Wirkungen einer erhöhten Kreditaufnahme beständen. Der Haushaltsgesetzgeber müsse vielmehr eine eigene Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage vornehmen und die Eignung einer erhöhten Kreditaufnahme zur Störungsabwehr selbst einschätzen. Beides müsse frei von Willkür sein und aufgrund der vorliegenden wirtschaftlichen Daten sowie vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung und der Auffassungen in Wirtschafts- und Finanzwissenschaft nachvollziehbar und vertretbar erscheinen. Dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum entspreche in formeller Hinsicht die „Darlegungslast“ des Haushaltsgesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren, aus welchen Gründen und in welcher Weise er von der Befugnis des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG Gebrauch macht. Diese Obliegenheit finde im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Befugnis ihre normative Grundlage in der verfassungsrechtlich gewährleisteten Publizitätspflicht für den Haushalt, welche die Kontroll- und Legitimationsfunktion von Haushaltsberatung und -verabschiedung erst erfüllbar mache. Sie trage dazu bei, die Inanspruchnahme der Ausnahmebefugnis zu erhöhter Kreditaufnahme trotz des Fehlens eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben auf Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern. Die Unbestimmtheit des materiellen Maßstabs finde damit ein Stück weit ihren Ausgleich in formell-verfahrensmäßigen Anforderungen76. Darzulegen seien „die Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist, die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Störung abzuwehren, und die begründete Prognose, dass und wie durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden könne“. Hierfür sei „von Verfassungs wegen keine bestimmte Form vorgeschrieben“. Die Darlegungen könnten – solange keine gesetzliche Regelung erfolge – „durch jegliche Stellungnahmen und Erklärungen der an der Haushaltsgesetzgebung beteiligten Organe im Gesetzgebungsverfahren, auch in den Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates erfolgen“. Sie müssten allerdings erkennbar machen, dass „die parlamentarische Mehrheit mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes die Verantwortung auch für die Begründung der erhöhten Kreditaufnahme übernimmt“77.

76 77

BVerfG 79, 311 (344); s. a. BVerfGE 61, 210 (252). BVerfG 79, 311 (345).

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In seiner Entscheidung vom 9. Juli 2007 betonte das Bundesverfassungsgericht78 erneut, Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG weise die Aufgabe der Konkretisierung des in der Normallage entscheidenden Begriff der „Investitionen“ in erster Linie dem Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, nicht dem des Bundesverfassungsgerichts zu. Auch zum Tatbestand einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bleibe der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren. Nehme dieser die Befugnis des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG in Anspruch, so treffe ihn im Gesetzgebungsverfahren eine Darlegungslast für die Erfüllung der Voraussetzungen der Vorschrift. Nach der Senatsmehrheit spricht vieles „dafür, die gegenwärtige Fassung des Art. 115 GG in ihrer Funktion als Konkretisierung der allgemeinen Verfassungsprinzipien des demokratischen Rechtsstaats für den speziellen Bereich der Kreditfinanzierung … nicht mehr als angemessen zu werten.“ Die Auswahl und Institutionalisierung von wirksamen Instrumenten „zum Schutz gegen eine Erosion gegenwärtiger und künftiger Leistungsfähigkeit des demokratischen Rechtsund Sozialstaats“, sei indes eine „komplexe Aufgabe, für deren Lösung das geltende Verfassungsrecht keine ausreichend konkreten Direktiven“ liefere; sie sei dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten und aufgegeben79. 3. Erhöhte Anforderungen an Rechtfertigungselemente – Maßstabsverschärfung a) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Haushalt steht in einer Reihe von Entscheidungen zur Finanzverfassung, in der auf die Regel-Ausnahme Struktur der entscheidungsleitenden Norm abgestellt und daraus ein besonderes Rechtfertigungselement abgeleitet wird, das eine entsprechende Darlegungslast des Gesetzgebers auslöst. Entschließe sich der Gesetzgeber im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs80 zur Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich von Sonderlasten einzelner Länder, sei zu berücksichtigen, dass diese auch solchen Ländern zugutekommen könnten, deren Finanzkraft nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs den Länderdurchschnitt erreicht oder überschritten habe81; demzufolge könnten Bundesergänzungszuweisungen, die der Berücksichtigung von Sonderbedarfen dienen, zeitweise zu Veränderungen der Finanzkraftreihenfolge führen. Deshalb müssten für die Berücksichtigung von Sonderlasten „außergewöhnliche Gegebenheiten vorliegen, die einer besonderen, den Ausnahmecha78

BVerfGE 119, 96 ff. mit Sondervoten der Richter Di Fabio und Mellinghoff (S. 155 ff.) sowie Landau (S. 174 ff.); s. a. StGH Bremen, Urteil vom 24. 08. 2011 – St 1/11. 79 BVerfGE 119, 96 (140 f.). Demgegenüber geht BVerfGE 116, 327 ff. für Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Zwecke der Haushaltssanierung des Landes Berlin gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG von einer engeren verfassungsrechtlichen Konditionierung aus. 80 Vgl. auch ThürVerfGH, Urteil vom 02. 11. 2011 – VerfGH 13/10 – http://www. thverfgh.thueringen.de (zum kommunalen Finanzausgleich), Rn. 72 ff. 81 BVerfGE 72, 330 (404 f.); 101, 158 (234).

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rakter ausweisenden Begründungspflicht unterliegen.“ Im Regelfall dürfe die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen auch bei der Berücksichtigung von Sonderlasten nicht dazu führen, dass die Finanzkraft des begünstigten Landes die durchschnittliche Finanzkraft der Länder nach dem horizontalen Finanzausgleich übersteigt. Darüber hinaus sei „der Gesetzgeber aus dem föderativen Gleichbehandlungsgebot auch verpflichtet, die Sonderlasten zu benennen und zu begründen.“82 b) Erhöhte Rechtfertigungsanforderungen stellt auch die Wahlrechtsgleichheit. Hier sind es namentlich die Entscheidungen zur 5 %-Klausel im Kommunalwahlrecht83, in denen diese Anforderungen zum Tragen kamen. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl spiegelt die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger wider. Im Hinblick auf die sich zur Wahl stellenden politischen Parteien verlangt der Grundsatz der Chancengleichheit, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Deshalb ist auch in diesem Bereich – ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn das Wahlrecht in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihm daher besonders enge Grenzen gezogen. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, geht das Bundesverfassungsgericht84 von dem Erfordernis eines „zwingenden Grundes“ aus, ohne dass sich dieser freilich als von der Verfassung geboten darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht seien auch durch Gründe gerechtfertigt, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann. Insofern genügten auch „zureichende“ oder „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“. Hierzu zähle die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung85. Der Einsatz der Sperrklausel basiere auf der Einschätzung des Gesetzgebers von der Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, durch sie künftig zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewichts für die Aufgabenerfüllung der Vertretungsorgane. Bei dieser Prognoseentscheidung dürfe sich der Gesetzgeber nicht 82

BVerfGE 72, 330 (405 f.); 101, 158 (235); s. a. Waldhoff (Fn. 4), S. 325 (327 f.). BVerfGE 120, 82 (KWG Schleswig-Holstein); VerfGH NW, DVBl. 1999, 1271 ff.; NVwZ 2009, 449; LVerfG MV, LVerfGE 11, 306 ff. = NordÖR 2001, 64 ff.; s. a. BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10 mit abweichender Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff (Wahlen zum Europäischen Parlament) sowie BVerfGE 95, 335 ff.; 97, 317 ff. (jeweils zu Überhangmandaten); 121, 266 (Landeslisten). 84 Seit BVerfGE 1, 208 (248 f.); vgl. auch BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (105, 107). 85 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (112). 83

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auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane zur Rechtfertigung des Eingriffs beschränken. Gerade bei der Wahlgesetzgebung bestehe die Gefahr, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lasse86. Aus diesem Grund unterliege die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Der Gesetzgeber dürfe nicht frei darüber befinden, von welchem Wahrscheinlichkeitsgrad an er Funktionsstörungen in Betracht ziehen will. Andernfalls würde eine gerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Prognoseentscheidungen, einschließlich deren tatsächlicher Grundlagen, unmöglich gemacht. Von daher könne jedenfalls die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die kommunalen Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit könne eine Sperrklausel legitimieren. Es sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das mit der Wahl verfolgte Ziel der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung mit dem Gebot der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit politischer Parteien zum Ausgleich zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht habe diesen Spielraum zu achten; es könne „insbesondere nicht die Aufgabe des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren übernehmen und alle zur Überprüfung der Fünf-Prozent-Sperrklausel relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen“87. 4. Selbstvollziehende Entscheidungen mit Planungscharakter und Organisationsakte Ein besonderes Augenmerk im Hinblick auf die Entscheidungsaufbereitung beanspruchen schließlich gesetzgeberische Maßnahmen, die einzelne, staatsfern organisierte, grundgesetzlich besonders geschützte Institutionen näher ausformen, wie auch solche, in denen sich ein planerischer Gehalt mit selbstvollziehenden Elementen verbindet. Beide Konstellationen heben sich von der normalen Gesetzgebung nicht zuletzt durch die Konkretheit der Regelung ab. Insoweit geht es um gesetzgeberische Entscheidungen, welche auf die Lösung von konkret-situativen Einzelfällen anhand spezieller Maßstäbe gerichtet sind88. Als Beispiele hierfür mögen kommunale Gebietsreformen sowie das Gesetz zur Südumfahrung Stendals stehen89. 86 BVerfGE 120, 82 (113); Becht, Die 5 %-Klausel im Wahlrecht, 1990, S. 120 f.; Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 46, Rn. 30. 87 BVerfGE 120, 82 (113) m.w.N. Abweichend ThürVerfGH, NVWZ-RR 2009, 1 ff. 88 Krit. hierzu Hebeler (Fn. 4), 754 (762). 89 Weiterhin nennen ließe sich die Auflösung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin; siehe BVerfGE 85, 360 ff. Hierzu Isensee, Rechtsgutachten zum Entwurf eines Gesetzes über

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a) Kommunale Gebietsreformen erfolgen regelmäßig durch Gesetz, das neben generell-abstrakten Regelungen (z. B. zu Zuständigkeitsänderungen oder zur Rechtsnachfolge) zugleich individualisierende Regelungen im Hinblick auf Bestand und Zuschnitt einzelner Gebietskörperschaften aufweisen kann. Mit Organisationsgesetzen über eine Gebietsänderung von Gemeinden strebt der Gesetzgeber regelmäßig an, die Voraussetzungen für eine funktionstüchtige kommunale Selbstverwaltung zu verbessern. Dieser finale Charakter der Regelung eines komplexen Sachverhalts verleiht ihr, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Papenburg Urteil90 anmerkt, einen deutlichen planerischen Einschlag. Das wirkt sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus, denen die Entscheidung des Gesetzgebers zu genügen hat. Tatsächlich ist die Neuordnung der territorialen Organisation auf kommunaler Ebene schon immer von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht worden. Bereits früh haben die Kommunalgesetze91 die Auflösung von Gemeinden und die Änderung des Gemeindegebietes an formelle und materielle Rechtfertigungserfordernisse gebunden. In materieller Hinsicht wird verlangt, dass die Maßnahme im „öffentlichen Wohl“ liegt, formell wird eine Anhörung der betroffenen Kommunen vorausgesetzt, welche die konkrete Situation der von einer Neuordnung betroffenen Selbstverwaltungseinheit erfassen soll. Die Verfassungsgerichte92 haben beide Voraussetzungen zu verfassungsunmittelbaren Erfordernissen erhoben. Das trägt dem Umstand Rechnung, dass bei der Neubestimmung des „Gebiets“ um etwas Essentielles, gleichsam um die „Hardware“ der Kommune in Form ihrer territorialen Substanz als Grundlage aller kommunalen Hoheiten geht. Danach sind sowohl die Anhörung wie die Gründe des öffentlichen Wohls voraussetzungsvoll. Zwar kann der Gesetzgeber über die Ausrichtung einer gemeindlichen Gebietsänderung an Gründen des öffentlichen Wohls nach Zielen, Leitbildern und Maßstäben, die er selbst gesetzt hat, grundsätzlich frei entscheiden. Indes muss die in den Gebietsbestand einer Gemeinde eingreifende gesetzliche Regelung, um dem Gemeinwohl zu entsprechen, „schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen genügen“. Überdies muss sich die gesetzgeberische Problemlösung „im Ergebnis an gewissen unverzichtbaren, aus dem Grundgesetz abzuleitenden Wertmaßstäben orientieren“. Hierzu zählen namentlich die Staatszielbestimmungen des Art. 20 Abs. 1 GG, speziell die Grundsätze der Demokratie und des sozialen (Rechts-)Staates, sowie die institutionelle Garantie kommunaler Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG. Auf diese Weise wird zugleich die institutionelle Komponente der Selbstverwaltungsgarantie und – mit dieser – die angemessene Bedie Auflösung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Wissenschaftsrecht, Beiheft 12, 1994, S. 56. 90 BVerfGE 86, 90 (108). 91 Siehe Wallerath, Aufgaben – Raum – Struktur, in: Mecking/Oebbecke (Hrsg.), Zwischen Effizienz und Legitimität, 2009, S. 916 f. m.w.N. 92 BVerfGE 50, 50 ff.; 86, 90 ff.; NdsStGH, OVGE 33, 497 (498); LVerfG MV, DVBl. 2007, 1102 (1105 ff.); VerfGH NW, OVGE 26, 270 (273); SächsVerfGH, LVerfGE 10, 375 (394).

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rücksichtigung der strukturellen Anforderungen an kommunale Gebietskörperschaften zur Geltung gebracht93. Vor diesem Hintergrund prüft das Bundesverfassungsgericht94, „ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrundegelegt hat und ob er die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage eines in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen – oft gegenläufigen – Belange“ sei „der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden“. Insoweit habe sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Prüfung zu beschränken, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand einer einzelnen Gemeinde offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht und ob das Gesetz frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers in Rede ständen, habe das Verfassungsgericht darauf zu achten, ob diese offensichtlich oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen95. Maßgeblicher Grund für die Rück-Neugliederungsmaßnahme des Gesetzgebers war nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts die fehlende Akzeptanz des Gebietszuschnitts bei erheblichen Teilen der Einwohnerschaft. Um zu einer hieran gemessenen tragfähigen, dem öffentlichen Wohl entsprechenden Abwägung zu gelangen, verlangte das Gericht, der Gesetzgeber müsse den für das konkrete Gesetzesvorhaben „maßgeblichen Sachverhalt entsprechend ermitteln“. Bei dieser Sachlage dürfe „er nicht von vornherein auf den Versuch verzichten, selbst den Sachverhalt festzustellen“, etwa „indem er sich in ihm geeignet erscheinender Weise ein aktuelles eigenes Bild über die tatsächlichen Umstände verschaffte, die für seine auf Befriedung ausgerichtete Entscheidung erheblich waren“. Damit mangele es für die gesetzgeberische Abwägung bereits an einer auf eigener Vergewisserung des Gesetzgebers beruhenden verlässlichen Tatsachengrundlage.96 b) Eine ähnliche Problematik verbindet sich mit Gesetzen, die sich mit selbstvollziehenden Elementen verbinden. Exemplarisch hierfür steht die die Planung der „Südumfahrung Stendal“, die im Rahmen der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ als Teil der Gesamtplanung der Schnellbahnstrecke zwischen Hannover und Berlin eine eigene gesetzliche Regelung fand. Der Gesetzgeber maß den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ eine Schlüsselfunktion für den wirtschaftlichen Aufschwung wie auch das Zusammenwachsen der alten und der neuen Länder bei. Dem Neubau der 93 94 95 96

BVerfGE 86, 90 (108); s. a. BayVerfGH, DVBl. 1975, 33. BVerfGE 86, 90 (109). BVerfGE 86, 90 (109). BVerfGE 86, 90 (112, 116, 120).

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Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Berlin sollte eine zentrale Rolle im internationalen Ost-West-Verkehr zukommen. Zur zeitlichen Beschleunigung des Vorhabens wurde die Regelungsform des Gesetzes gewählt. Das Bundesverfassungsgericht97 erhob weder unter dem Gesichtspunkt der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierten Gewaltenteilung noch unter grundrechtlichen Aspekten Einwände gegen die gewählte Lösung. Auch Detailpläne im Bereich der anlagenbezogenen Fachplanung, die konkrete Regelungen hinsichtlich eines einzelnen Vorhabens treffen, seien einer gesetzlichen Regelung zugänglich. Zwar sei eine Legalenteignung ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig, weil sie den durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG und durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten effektiven Rechtsschutz schmälere. Dies gelte auch für eine „Legalplanung“ mit enteignungsrechtlichen Vorwirkungen, da sie den betroffenen Grundstückseigentümern den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen eine behördliche Planfeststellungsentscheidung entziehe. Dennoch habe eine Legalplanung jedenfalls dann vor der Verfassung Bestand, wenn eine mit ihr verbundene Enteignung nicht nur im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG zum Wohle der Allgemeinheit erforderlich sei, sondern auch triftige Gründe für die Annahme beständen, dass die Durchführung einer behördlichen Planfeststellung mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre, denen nur durch gesetzliche Regelung begegnet werden könne. Die hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe entsprechen weitgehend denjenigen, die das Gericht zuvor in der Papenburg Entscheidung entfaltet hat. Deren Formulierungen werden stellenweise wörtlich in der Stendal Entscheidung übernommen: Maßgeblich sei, „dass der Gesetzgeber sich davon habe leiten lassen, den für die Regelung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, anhand dieses Sachverhalts alle sachlich beteiligten Belange und Interessen der Entscheidung zugrunde zu legen sowie umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegeneinander abzuwägen.“ Das Gebot, den für die beabsichtigte Planung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, umfasse insbesondere die Pflicht des Gesetzgebers, die individuell betroffenen Grundstückseigentümer und Gemeinden anzuhören98. Das sei vorliegend geschehen. Soweit Wertungen und Prognosen in Rede ständen, habe das Verfassungsgericht „seine Nachprüfungen darauf zu beschränken, ob diese Einschätzungen und Entscheidungen offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung“ widersprächen99. Insoweit stütze sich das Gesetz auf eine umfassende und nachvollziehbare Abwägung aller in Rede stehenden Belange.

97 98 99

BVerfGE 95, 1 (65 ff.). BVerfGE 50, 195 (202 f.); 56, 298 (319 ff.); 95, 1 (23). BVerfGE 95, 1 (23) im Anschluss an BVerfGE 76, 107 (121 f.); 86, 90 (108 f.).

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VI. Unterschiedliche Rationalitätserwartungen Zieht man eine Bilanz, so zeigt sich, dass „Großformeln“ zur Beantwortung der Frage nach dem, was der Gesetzgeber schuldet, untauglich sind. Das gilt in beide Richtungen: Der Versuch einer allgemeinen, rechtsstaatliche Rationalität maximierenden Ausrichtung des legislatorischen Entscheidungsprozesses und eines darauf abgestimmten, uneingeschränkten Prüfungsrechts der Verfassungsgerichte greift ebenso zu kurz wie die umgekehrte These, der Gesetzgeber schulde nichts anderes als das Gesetz. Während ersterer den demokratischen Prozess des Gesetzgebung als institutionalisierte Form der Rechtserzeugung durch politische Entscheidungsfindung und Kompromiss, der erst im Ausgleich verschiedener Positionen möglich wird, überspielt, zielt letztere in ihrer Schneidigkeit an der unterschiedlichen Steuerungsdichte der Verfassung im Hinblick auf legislative Entscheidungsprozesse vorbei. Beide Vorstellungen leben von gegensätzlichen Bildern: Die Vorstellung von einer umfänglichen verfassungsrechtlichen Bindung des Gesetzgebers lebt von der Parallelisierung von Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren. Die These, der Gesetzgeber schulde nichts anderes als ein Gesetz, das frei von jeglichen Anforderungen an die innere Willensbildung des Gesetzgebers ist, lehnt sich – vermittelt über das Repräsentationsprinzip – an den Souveränitätsgedanken an und schafft diesem in neuem Kontext wieder Geltung: Zunächst mit dem Monarchen verbunden, wurde der Souveränitätsgedanke später dem Staat als solchem und schließlich dem Volk zugeschrieben. In der Vorstellung einer von der Erfassung der Wirklichkeit und von Abwägungen befreiten, allein auf das Ergebnis setzenden legislatorischen Entscheidung lebt dieser Gedanke wieder auf und nähert sich so dem britischen Verständnis von Parlamentarismus an. Demgegenüber hat die kontinentaleuropäische Entwicklung einen eigenen Weg genommen: Während das Bürgertum zunächst seine Rechte und Interessen bei den gesetzgebenden Körperschaften, in denen es sich repräsentiert sah, aufgehoben wusste, setzte sich unter der Weimarer Reichsverfassung die Erkenntnis durch, dass Gleichheits- und Freiheitsgefährdungen nicht nur von der rechtsanwendenden Verwaltung, sondern auch vom Gesetzgeber selbst ausgehen konnten100. Schon von daher ist das Sprechen von einer „Parlamentssouveränität“ durchaus irritierend. Man mag das Parlament mit diesem Attribut versehen, solange er sich innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben bewegt. Tatsächlich verbindet sich die institutionelle Vorrangstellung des Parlaments jedoch mit vielfach gestuften verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gesetzgebung101. Diese stellen sich auch kei100 Triepel, Goldbilanzen-Verordnung und Vorzugsaktien, 1924; Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927), 2 ff. Hierzu Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung, 1987, S. 31 ff.; Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung, 1968, S. 21 m.w.N. 101 Führ, Rationale Gesetzgebung – Systematisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen, Sofia-Diskussionsbeiträge zur Institutionenanalyse, Nr. 92-2, Darmstadt 1998, S. 4.

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neswegs als singulär dar: Die Tendenz des pouvoir constituant constitu¦, zusätzliche Anforderungen an den einfachen Gesetzgeber zu formulieren, ist unübersehbar102. Damit erweist sich denn auch jeder eindimensionale Versuch einer Problemlösung als unterkomplex. Ein solcher ist nicht imstande, der Differenziertheit der Fragestellung Rechnung zu tragen. Diese beruht darauf, dass der einfache Gesetzgeber nicht auf eine einheitliche verfassungsrechtliche Steuerungsdichte stößt, sondern sich unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rationalitätserwartungen ausgesetzt sieht, die nicht nur das Entscheidungsergebnis, sondern auch den legislatorischen Entscheidungsprozess anleiten können. Das mag als Einbruch in die Vorstellung von einem einheitlichen formellen Gesetzesbegriff bedauert werden103. Indes kann dogmatische Begrifflichkeit nicht einem vom Grundgesetz selbst vorgezeichneten, nach Regelungsbereichen und -typik differenzierten Lösungsweg entgegengesetzt werden, sondern hat sich umgekehrt an diesem auszurichten. Richtig ist allerdings, dass das Grundgesetz auch in den Fällen, in denen es besondere Anforderungen an die Willensbildung des Gesetzgebers formuliert, regelmäßig104 nicht die „Art und Weise des Ermittelns und des Abschätzens der legislative facts selbständigen Regeln der Sachverhaltsaufklärung“ bestimmt105. Was die formale Seite anbetrifft, begnügt sich die Verfassung im Wesentlichen mit der Regelung des äußeren Gesetzgebungsverfahrens in Art. 76 ff. GG. Insofern kann der Gesetzgeber frei entscheiden, wie er den gesteigerten verfassungsrechtlichen Rationalitätserwartungen in den hier aufgezeigten Lebensbereichen nachkommt. Maßgeblich ist, dass diese besondere Anforderungen an die Informationsgewinnung und -verarbeitung stellen und damit regelmäßig den Nachweis von empirischen Grundlagen für eine den Anforderungen entsprechende, rationale Entscheidung des Gesetzgebers verlangen. Der Nachweis kann freilich, wie das BVerfG mit Recht herausstellt106, auf unterschiedliche Weise erbracht werden; er ist an dem konkreten gesetzlichen Regelungsauftrag und den darin zum Ausdruck gebrachten Maßstäben auszurichten. Insoweit geht es nicht um Motive und Vorstellungen einzelner Akteure – auch wenn diese eine indizielle Rolle spielen können, sondern um die Einbeziehung und Aufbereitung der erforderlichen Entscheidungsgrundlagen für die legislatorische Gesamtwillensbildung, die durch gesteigerte Rationalitätserwartungen an den Gesetzgeber verfassungsrechtlich in spezifischer Weise konditioniert ist.

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Beispielhaft neben den bereits Genannten: Art. 13 GG (hierzu BVerfGE 109, 279 (325 ff. – Lauschangriff) sowie Art. 16a GG (hierzu BVerfG 94, 115 mit Sondervoten der Richterin Limbach (S. 157 ff.) und des Richters Sommer (S. 164 ff.)). Darüber hinaus können bestimmten Verbänden einfachgesetzliche Beteiligungsrechte (z. B. § 118 BBG, § 6 Abs. 2 KV MV) eingeräumt sein, denen jedoch eine eigene, hier nicht näher zu verfolgende, Bedeutung zukommt. 103 Cornils (Fn. 5), 1053 (1060). 104 Vgl. aber auch oben zu Fn. 92, 98. 105 Badura (Fn. 3), 300 (310). 106 BVerfG 79, 311 (345). s. a. Schulze-Fielitz (Fn. 43), 709 (711).

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VII. Folgen der Verfehlung von qualifizierten Anforderungen an den Gesetzgeber Ist das materielle Verfassungsrecht der bestimmende Faktor, aus dem sich für bestimmte Regelungsbereiche zusätzliche Anforderungen an die Gesetzgebung ergeben, so sind die Konsequenzen bei der Verfehlung der darin formulierten Erwartungen an eine Einbeziehung und Aufbereitung der erforderlichen Entscheidungsgrundlagen zunächst aus diesem heraus zu entwickeln. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht107 in seiner Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz 1976 im Zusammenhang mit der Beurteilung des Gesetzgebers von Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft ein dreifach gestuftes Raster von Kontrollmaßstäben von der Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven inhaltlichen Kontrolle entwickelt, ohne dass dieses freilich in der Folge seiner eigene Prüfung von Sachverhaltsannahmen und Prognoseentscheidungen durchgehend bestimmt hätte. Mehr als ein heuristisches Modell für den Problemzugang lässt sich dem kaum abgewinnen. Es bleibt deshalb auch kein anderer Weg, als auf die jeweils einschlägigen Verfassungsbestimmungen abzustellen, „die eine gerichtliche Kontrolle in verschiedenem Maße ermöglichen und erzwingen“108. Damit kann der Umfang der dem einfachen Gesetzgeber abverlangten Anforderungen nur anhand der jeweiligen Verfassungsnorm, welche die gesetzgeberische Entscheidung leitet, d. h. tatbestands- und problembezogen, bestimmt werden109 ; diese Anforderungen können auch auf das interne Gesetzgebungsverfahren Einfluss gewinnen. Die verfassungsgesetzliche Steuerungstypik bestimmt zugleich das Maß der vom Bundesverfassungsgericht zugrundezulegenden Kontrolldichte. Sie kann, wie sich namentlich an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherung des Existenzminiums und zur Überschreitung der Schuldengrenze zeigt, nach einzelnen Tatbestandsmerkmalen und gesetzgeberischen Entscheidungselementen unterschiedlich ausfallen – dies ist der Preis einer an die Erfüllung von bestimmten Tatbeständen geknüpften, verfassungsrechtlichen Steuerungstechnik in den hier einschlägigen Lebensbereichen. Im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Überprüfung eines möglichen Verfehlens qualifizierter Anforderungen durch den Gesetzgeber wird man zwei grundsätzliche Möglichkeiten in Betracht zu ziehen haben, Die Überprüfung kann sich auf eine verschärfte Inhaltskontrolle am Maßstab der erhöhten Legitimationsanforderungen richten, gegebenenfalls unter Berücksichtigung einer Darlegungslast des Gesetzgebers (a), oder auf eine Kontrolle der Einhaltung der vom Grundgesetz vorausgesetzten besonderen Entstehensanforderungen des Gesetzes bei eingeschränkter Inhaltskontrolle (b). Beide können in ein und derselben Norm im Hinblick auf unterschiedliche tatbestandliche Merkmale in Betracht kommen. 107 108 109

(165).

BVerfGE 50, 290 (333); s. a. Bumke (Fn. 5), 77 (93). Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., 2010, Rn. 537. s. a. Höfling, Haushalts- und Finanzverfassung in der Krise, Der Staat 46 (2007), 163

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1. Verschärfte Anforderungen im Hinblick auf die Inhaltskontrolle Eine verschärfte Inhaltskontrolle am Maßstab erhöhter Legitimationsanforderungen ist namentlich angezeigt bei einer verfassungsrechtlichen Steuerung des einfachen Gesetzgebers, die einer Regel-Ausnahme-Struktur folgt. Paradigmatisch hierfür stehen die verfassungsrechtlichen Schuldengrenzen und Mindestquoren im Wahlrecht. a) Schuldengrenzen haben eine das Budgetrecht des Parlaments begrenzende Funktion. Sie wollen die Nachhaltigkeit der Haushaltswirtschaft im Interesse künftiger Generationen und politischer Gestaltungsmöglichkeiten sichern. Das schließt es aus, das Haushalts- und Finanzverfassungsrecht als „Recht von minderer Geltungskraft anzusehen“110 und rechtfertigt eine restriktive Auslegung der schuldenlimitierenden Bestimmungen, die dieses Ziel unter Wahrung der parlamentarischen Budgetfreiheit im Übrigen im Rahmen teleologischer Auslegung umzusetzen sucht. Dem Ausnahmecharakter einer erhöhten Schuldenaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG entsprachen erhöhte Rechtfertigungsanforderungen, welche die konkrete wirtschaftliche Situation sowie den finalen Nexus zwischen Investitionen und Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts umfassten. Das Bundesverfassungsgericht suchte dem bereits in seiner Entscheidung vom 18. April 1989111 unter Hinweis auf den bisher insbesondere „hinsichtlich der wichtigen näheren Festlegung des Investitionsbegriffs“ unausgeführt gebliebenen „Auftrag an den Gesetzgeber“ in Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG a.F., „ein die weithin unbestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben konkretisierendes Gesetz zu erlassen“, auszuweichen. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein nachhaltiges Versäumnis des Gesetzgebers nicht dazu führen kann, die verfassungsgerichtliche Kontrolle gleichsam nach dem Muster einer juristischen Unmöglichkeitstheorie zu unterlaufen – so schwierig die Grenzziehung im Einzelnen sich auch gestalten mag. Wenn das Gericht stattdessen bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung eines Haushaltsgesetzes „von dem vorfindlichen“ Regelungsgehalt der Art. 109 Abs. 2, 115 Abs. 1 Satz 2 GG“ im Sinne eines weiten Investitionsbegriffs ausgeht, legt es – trotz der Betonung von Darlegungspflichten – den Grundstein zur Ineffektivierung der Schuldenbremse. Im Nachhinein erwies sich denn auch gerade dies als Falle: Vor dem Hintergrund eines nur vordergründig erfüllten Gesetzgebungsauftrags (Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG) entschied sich der Senat in seiner Entscheidung vom 9. Juli 2007112 mehrheitlich für einen neuerlichen Apell an den Gesetzgeber. Konsequent wäre gewesen, sich jedenfalls nun – wie die Sondervoten113 anmahnten – inhaltlich für einen 110

So treffend BVerfGE 72, 330 (388). BVerfGE 79, 311 (336). 112 BVerfGE 119, 96 ff. 113 Vgl. Sondervoten Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 119, 96 (159, 162) und Landau, ebda. 174 (unter Hinweis auf Nds.StGH, NVwZ 1998, 1288 ff. und Berl.VerfGH, NVwZ 2004, 210 ff.). 111

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der Systematik des Grundgesetzes entsprechenden, restriktiven Investitionsbegriff zu entscheiden114. Die Sondervoten machen deutlich, wie das grundgesetzliche Bemühen, Schranken des Budgetrechts gegenüber den unübersehbaren, systemimmanenten Anreizen zu einem großzügigen Umgang mit der Schuldenlast in der politischen Wirklichkeit aufzurichten, in sein Gegenteil verkehrt wird: Mit der Regel-Ausnahme-Struktur der einschlägigen Bestimmungen verbindet sich eine absichtsvolle Disziplinierung des Haushaltsgesetzgebers durch das Grundgesetz; sie sollte nicht durch eine Auslegung überspielt werden, die dies wieder preisgibt115. Wirft man einen Blick auf Systematik und Begrifflichkeit der einschlägigen Bestimmungen nach der Föderalismusreform II, so kann die Aufgabe nur lauten, die nunmehr in Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG n.F. gewählte normative Struktur unter genauer Erfassung der einzelnen Tatbestandselemente (wie konjunkturelle Symmetrie, Schuldenrückführungspflicht, Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen) einerseits unter Beachtung einer etwaigen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers andererseits zu effektuieren116. Nur so lässt zu verhindern, dass sich die alte Problematik in neuem Gewande fortsetzen wird117. b) Einer Regel-Ausnahme-Struktur folgen auch Mindestquoren im Wahlrecht. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung spielen vor allem 5 %-Klauseln im Kommunalwahlrecht eine Rolle. Als Einschränkungen der Wahlgleichheit und Chancengleichheit der Parteien stoßen sie auf erhöhte Rechtfertigungsanforderungen. Zwar wird das formelhafte Abstellen auf einen „zwingenden Grund“ für die Durchbrechung des formal verstandenen Grundsatzes der Wahlgleichheit zunächst wieder durch ein Abstellen auf zureichende Gründe relativiert. Auch wird im Zusammenhang mit einer drohenden Gefährdung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung von einer Prognoseentscheidung des Gesetzgebers gesprochen118. Dennoch fällt auf, dass die Verfassungsgerichte insoweit „durchentscheiden“. Während der Thüringische Verfassungsgerichtshof119 sich explizit hierzu bekennt, wird

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Hierzu besteht aus vielfach beschriebenen Gründen Anlass; vgl. nur StGH der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 24. 08. 2011 – St 1/11; LVerfG MV, DVBl. 2005, 1042 ff. (1578 ff.); VerfGH NW, NWVBl. 2011, 218 ff.; Höfling (Fn. 109), 163 (165) sowie vorstehend Fn. 113. 115 s. a. Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60 Jahren, JZ 2011, 861 (863) gegen BVerfGE 119, 96 (147). 116 Ausführlich hierzu Mayer, Greift die neue Schuldenbremse?, AöR 136 (2011), 266 ff. 117 s. a. Kube, Schattenhaushalt im Verfassungsstaat, ZG 2010, 105 ff.; Lenz/Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, 2561 ff.; Mayer (Fn. 116), 266 ff.; Scholl, Die Neuregelung der Verschuldungsregeln von Bund und Ländern in den Art. 109 und 115 GG, DÖV 2010, 160. 118 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (112). 119 ThürVerfGH, NVwZ-RR 1999, 55 (60): Unterbleibe eine Begründung, so sei eine Überprüfung zwar erschwert; der VerfGH sei gleichwohl gehalten zu prüfen, ob konkret Gemeinwohlgründe vorliegen, die den Gesetzgeber berechtigten, sich für die Neugliederung zu entscheiden.

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von den anderen Verfassungsgerichten120 die Argumentationslinie des Gesetzgebers aufgegriffen und als nicht tragend zurückgewiesen: Dieser Ansatz liegt nahe, wenn man es auf eine Beobachtungs- und Prüfungspflicht des Gesetzgebers abstellt, die auf eine wesentliche Änderung des kommunalen Institutionengefüges stößt und diese aufzugreifen und zu verarbeiten hat. Eben dies ist die typische Fallgestaltung nach Einführung der unmittelbaren Bürgermeisterwahl. Hier wechselt die sonst übliche „ex-ante“ Betrachtung zu einer „ex-post“ Betrachtung: Stellen die Verfassungsgerichte fest, dass die neue rechtliche Umrahmung wie auch die politische Wirklichkeit einen Eingriff in die Wahlgleichheit nicht mehr rechtfertigen, weil eine konkrete Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit nicht auszumachen ist, bleibt für eine andere Entscheidung des Gesetzgebers nur Raum, wenn dieser sonstige Gründe geltend macht, die eine Ausnahme von der Wahlgleichheit rechtfertigen können. Hiervon konnte in keinem der entschiedenen Fälle die Rede sein. 2. Die Einhaltung von Entstehungsanforderungen als Wirksamkeitsbedingung a) In den verschiedenen Entscheidungen zur Einhaltung der Schuldengrenze spielte nicht nur der Bedeutungsgehalt des Investitionsbegriffs eine Rolle, sondern auch der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers im Hinblick auf die in Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG vorausgesetzte „Störung“ des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ und die möglichen Ungewissheiten über die tatsächlichen Voraussetzungen für die Eignung einer erhöhten Kreditaufnahme zur Störungsabwehr. Wenn es – wie das Bundesverfassungsgericht121 betont – insoweit maßgeblich auf die eigene Beurteilung und Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers ankommt, ist die Annahme einer „Darlegungslast“ des Haushaltsgesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren konsequent. Sie muss deutlich machen, aus welchen Gründen und in welcher Weise der Gesetzgeber von der Ausnahmebefugnis nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GG Gebrauch macht. Demgegenüber entschärft das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9. Juli 2007122 wieder die Darlegungslast, wo ein Bestehen auf den im Urteil vom 18. April 1989 aufgestellten Anforderungen angezeigt gewesen wäre. Angesichts der Bedeutung des auf dem Spiele stehenden Rechtsguts – Sicherung der Haushaltswirtschaft trotz einer das Regelkreditvolumen übersteigenden Kreditaufnahme – war deshalb seitens des Haushaltsgesetzgebers deutlich zu machen, auf welche Umstände sich die angenommene Störungslage gründet, die eine Ausnahme von dem grundsätzlich Vorrang beanspruchenden Grundsatz einer ausgeglichenen Haushaltswirtschaft rechtfertigen sollte. Hierzu gehörte auch die Prüfung, ob und inwieweit die erhöhte Kreditaufnahme zur Erreichung 120

BVerGE 120, 82 (113); VerfGH Berl, LKV 1998, 142 (143); StGH Bremen, NordÖR 2009, 251 ff.; VerfGH NW, OVGE 44, 301 (312); NVwZ 2009, 449 ff.; LVerfG MV, LVerfGE 11, 306 ff. 121 BVerfGE 79, 311 (343 f.). 122 BVerfGE 119, 96 ff.

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des Ziels der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geeignet ist und welche kurz- und langfristigen Folgen aus der erhöhten Kreditaufnahme auswachsen; dies hat bereits im politischen Prozess zu erfolgen. Fehlt es hieran, so ist die erhöhte Kreditaufnahme schon aus diesem Grunde verfassungswidrig123. b) In seiner Entscheidung zur Sicherung des Existenzminimums konstatiert das Bundesverfassungsgericht124 zunächst, dass eine evidente Verfehlung des Ziels der gebotenen Mindestausstattung durch die Höhe der Regelleistungen im Ergebnis nicht festgestellt werden kann, moniert aber die konkrete Berechnung des Basisregelsatzes als fehlerhaft, weil sie auf einem methodisch verkürzten Vorgehen bei der Zugrundlegung der Verbrauchs- und Einkommensstichproben beruhe. Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bestehe für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen; komme er dem nicht hinreichend nach, stehe „die Ermittlung des Existenzsicherungsminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.“ Tatsächlich lässt sich der zu berücksichtigende Bedarf weder gegenständlich noch funktional ohne Rückgriff auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Einschätzungen eindeutig bestimmen125. Überdies bedarf es eines umfänglichen Rückgriffs auf die Empirie; schließlich steht keine in jeder Hinsicht unanfechtbare Methode zur Ermittlung der anzusetzenden Kosten bereit126. Andererseits ist eine Quantifizierung des typischen Bedarfs schon aus gleichheits- wie aus verwaltungspraktischen Gründen unumgänglich. Dessen Bestimmung vollinhaltlich wie verfahrensmäßig dem Bundesverfassungsgericht überantworten zu wollen, überstiege Auftrag und Möglichkeiten des Gerichts127. Dass das Bundesverfassungsgericht dabei dem Aspekt methodischer Konsistenz besondere Bedeutung zumisst, ist nicht zuletzt dem Auftrag des Gesetzgebers zur gleichheitssichernden Ausgestaltung des Rechts geschuldet. Auch wer Zweifel anmelden möchte gegenüber einzelnen Begründungselementen wie der dogmatischen Ableitung eines Anspruchs auf Sicherung des Existenzminimums oder einigen konkretisierenden Aussagen zu diesem128, wird dem gewählten methodischen Ansatz Respekt zollen. Wenn demgegenüber geltend gemacht 123

Siehe auch Mayer (Fn. 116), 266 (280 m.w.N.). BVerfGE 125, 175 (225). 125 Siehe Luthe, Optimierende Sozialgestaltung, 2001, S. 202; Wallerath, Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, JZ 2008, 165; vgl. auch BVerwGE 106, 99 (104 f.). 126 Ausführlich Luthe (Fn. 125) S. 201 f., 206, 211 ff.; vgl. aber auch BVerfGE 99, 246 (265). 127 s. a. oben Fn. 87. Nicht zufällig hatte sich denn auch das BVerwG (E 102, 366 (368 ff.)) auf den Verfahrensgedanken zurückgezogen und von hierher Anforderungen zu formulieren gesucht. 128 Das gilt etwa zur These der freien Wahl der Hilfearten; näher Wallerath, Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, JZ 2008, 157 (168). 124

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wird, das „neue Grundrecht als Verfahrensrecht“ verschiebe „die Zuständigkeit von der Legislative/Parlament auf die Justiz“ und „sei damit demokratietheoretisch bedenklich“129, so trifft genau das Gegenteil zu: Das Urteil schlägt gerade einen Weg ein, der vermeidet, dass sich das Gericht an die Stelle des Gesetzgebers setzt130. c) Als ähnlich voraussetzungsvoll erweisen sich kommunale Gebietsreformen. Die in diesen Fällen von Verfassungs wegen gebotene Anhörung der betroffenen Verwaltungseinheiten belegt, dass die in den Gebietsbestand einer Gemeinde oder eines Kreises eingreifende gesetzliche Regelung „schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen“ zu entsprechen hat131. Das hat seinen Grund darin, dass es bei kommunalen Gebietsreformen um den konkreten Zuschnitt des Gebiets geht, das die räumliche Basis für die Ausübung bestimmter Hoheiten kommunaler Gebietskörperschaften bildet, oder auch um die Zuordnung von bisher selbständigen Hoheitsträgern zu bestimmten anderen Selbstverwaltungsträgern. Es handelt also nicht um die typisch generell-abstrakte Regelung eines Gesetzes im materiellen Sinne132, sondern um einen verfassungsrechtlich durch Art. 28 Abs. 2 GG gebundenen Organisationsakt mit einem bestimmte Selbstverwaltungsträger treffenden, individuellen Regelungsgehalt133. Dieser fordert namentlich die Angabe der tragenden Reformziele und Zuordnungsmaßstäbe sowie die Einführung des notwendigen Materials in den parlamentarischen Entscheidungsprozess und deren Verarbeitung anhand dieser Maßstäbe. Nur die „auf eigener Vergewisserung des Gesetzgebers beruhende verlässlichen Tatsachengrundlage“ ist geeignete Grundlage für die notwendige gesetzgeberische Abwägung; nur sie liefert die Basis „für eine verantwortliche Entscheidung der Abgeordneten des Landtages im Gesetzgebungsverfahren“134. Von daher prüft das BVerfG135 mit Recht, „ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrundegelegt hat“ und ob er die im konkreten Fall angeführten Gemeinwohlgründe und die Vor- und Nachteile der zur Zielerreichung in Betracht kommenden Lösungen in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat.

129 Spellbrink, Zur Bedeutung der Menschenwürde für das Recht der Sozialleistungen, DVBl. 2011, 661 ff. 130 Wie hier Brenner (Fn. 14), 394 (404). 131 BVerfGE 86, 90 (108). 132 Das teilen kommunale Gebietsreformen mit Fallgestaltungen, wie sie der Auflösung der Berliner Akademie der Wissenschaften (vgl. oben Fn. 89) und der Stendal Entscheidung zugrunde liegen; deshalb sind beide von einem ähnlichen methodischen Vorgehen bestimmt. 133 s. a. Kisker, Diskussionsbeitragbeitrag, VVDStRL 39 (1981), 180; Meyer, ebda., S. 179 (180). 134 BVerfGE 86, 90 (116, 120); LVerfG MV, LKV 2007, 457 (465 f.). 135 BVerfGE 86, 90 (109).

Sperrklauseln im Wahlrecht? Von Rudolf Wendt*

I. Einführung Das Grundgesetz legt in Art. 20 Abs. 1 und 2 und Art. 79 Abs. 3 die Demokratie als die für die Bundesrepublik Deutschland geltende Staatsform und Regierungsform fest. Es bekennt sich zum System der repräsentativen Demokratie, in dem die Parlamentswahl den entscheidenden Akt der Willensbildung des Volkes darstellt. In ihr tritt der sonst kaum erkennbare Volkswille unmittelbar zutage, weshalb jegliche staatliche Legitimation von ihr abzuleiten ist. Die Durchführung des Wahlvorganges ist eine öffentliche Aufgabe, die den verfassten Staatsorganen obliegt. Das bedeutet, dass sie die Voraussetzungen für den Wahlvorgang zu schaffen und die für ihn erforderlichen Einrichtungen und Mittel zur Verfügung zu stellen haben.1 Normativ wurde man dieser Aufgabe durch den Erlass des Bundeswahlgesetzes sowie der Landeswahlgesetze gerecht. Diese Gesetze hielten die Verfassungsgerichte seit dem Beginn von deren Rechtsprechungstätigkeit in Atem. Dies mag angesichts der überragenden Bedeutung des Wahlrechts als vornehmsten Rechts des Bürgers im demokratischen Rechtsstaat zunächst verwundern, doch wird bei näherer Betrachtung alsbald deutlich, dass die Parlamentsmehrheit wohl bei keiner anderen Regelungsaufgabe so sehr der Gefahr ausgesetzt ist, voreingenommen zu Werke zu gehen.2 Die Versuchung, kraft Gesetzes die parteipolitischen eigenen Interessen an Einflussnahme und Machterhalt im Staate zu sichern, erscheint zu groß, als dass man dem Gesetzgeber fraglos eine allein am Gemeinwohl und an den in der Verfassung normierten Wahlgrundsätzen orientierte Ausgestaltung des Wahlrechts zutrauen mag. Besonders umstritten ist seit Jahrzehnten die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verwendung wahlrechtlicher Sperrklauseln: Sichern solche Regeln ihrer Inten* Der Verfasser dankt seinem Mitarbeiter Mathias Schmidt für wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. 1 BVerfGE 20, 56 (113). 2 Sehr weit gehend: Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 45, Rn. 37: „Wohl bei keiner Gesetzgebung ist die jeweilige Parlamentsmehrheit notwendig so sehr im Eigeninteresse befangen wie bei der Wahlgesetzgebung, da es um die Basis ihrer eigenen Existenz als Mehrheit geht. Daher lässt sich die Wahlgesetzgebung in Bund und Ländern auch als immerwährender Versuch verstehen, den eigenen Vorteil bis zur Grenze des gerade noch für verfassungsrechtlich zulässig Gehaltenen gesetzlich abzusichern. Dass man dabei zum eigenen Nutzen großzügig in der Annahme der Verfassungsmäßigkeit ist, liegt auf der Hand.“

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tion und Wirkung nach tatsächlich wesentlich die Handlungsfähigkeit der gesetzgebenden Organe, wie allenthalben betont wird? Sieht man sich bei ihrem Erlass und ihrer Überprüfung wirklich maßgeblich dem Gemeinwohl verpflichtet, weil man bei ihrem Fehlen sogar die Funktionsfähigkeit des Staates selbst gefährdet sieht? Oder handelt es sich bei den Sperrklauseln des Wahlrechts nicht vielmehr um ein besonders wirkungsvolles Instrument der etablierten Parteien, mit dem sie sich unliebsame Konkurrenz im Wettbewerb um die begehrten Parlamentssitze vom Halse halten? So oder so, eine abschließende Antwort auf die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung derartiger Quoren ist noch nicht gefunden und kann womöglich auch schwerlich allgemeingültig formuliert werden. Zwar ist ihre Normierung für Wahlen auf allen staatlichen Ebenen denkbar, doch ist ihre Zulässigkeit aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse und Kompetenzen der jeweiligen Volksvertretungen möglicherweise differenziert zu sehen.

II. Verfassungsrechtliche Konfliktlage Der Bundesgesetzgeber hat sich mit Erlass des Bundeswahlgesetzes auf den Modus der personalisierten Verhältniswahl festgelegt.3 Danach stehen jedem Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl zwei Stimmen zur Verfügung: Mit der Erststimme wird ein Direktkandidat je Wahlkreis unmittelbar im Wege der Mehrheitswahl gewählt. Die Zweitstimme ist für die Landesliste der Parteien abzugeben. Dabei vollzieht sich die Ermittlung der Anzahl der errungenen Parlamentssitze aufgrund der Zweitstimmen nach dem System der Verhältniswahl.4 Allerdings enthält § 6 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 BWahlG eine Einschränkung: Die Vorschrift bestimmt, dass bei der Sitzverteilung auf die Landeslisten nur Parteien zu berücksichtigen sind, die mindestens 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen auf sich vereinigen konnten. Die Umsetzung des Verhältniswahlsystems wird folglich durchbrochen. Dies berührt sowohl den Grundsatz der Gleichbehandlung der politischen Parteien als auch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, denn Wahlrechtsgleichheit bedeutet nicht nur, dass die Stimmen aller Wahlbürger ungeachtet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede im Sinne einer Zählwertgleichheit gleich zu gewichten sind. Die Gleichheit der Wahl verlangt auch grundsätzlich den gleichen Erfolgswert einer jeden Stimme, mithin den gleichen Einfluss der Stimmen auf das Wahlergebnis.5 3 Anders als noch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 trifft das Grundgesetz selbst keine Entscheidung über das Wahlsystem, sondern überlässt diese gemäß Art. 38 Abs. 3 GG dem einfachen Gesetzgeber. 4 Ausführlich zum Wahlverfahren Lampert, Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze, JuS 2011, 884 (885). 5 BVerfGE 1, 208 (244 f.); 6, 84 (111); 82, 322 (337); 95, 408 (417); 120, 82 (102); zuletzt BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 82 ff.

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Die Sperrklausel führt also dazu, dass der Zweitstimmenanteil, der auf Parteien mit einer Gesamtzweitstimmenzahl von weniger als 5 % entfällt, bei der Besetzung des Parlaments nicht berücksichtigt wird. Sie nimmt diesen Stimmen ihren Erfolgswert. Den an der 5 %-Hürde scheiternden Parteien wird die Mitwirkung am parlamentarischen Willensbildungsprozess versagt, da keine Abgeordneten dieser Parteien (über die Landesliste) ins Parlament einziehen. Im Ergebnis verfügen die in den Bundestag einziehenden politischen Parteien anteilsmäßig über mehr Sitze, als dies ihrem Zweitstimmenanteil entsprechen würde, während Parteien, die an der 5 %Hürde scheitern, trotz eines gewissen Rückhalts in der Bevölkerung keine Sitze erlangen. Folge der Sperrklausel ist damit, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht das exakte Abbild des mit der Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillens ist.6 Dieser Eingriff in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl sowie den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien ist verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig.

III. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Sperrklauseln In seinen frühen Entscheidungen zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Wahlrechtsgleichheit und den Grundsatz der Gleichbehandlung der politischen Parteien zog das Bundesverfassungsgericht noch die zu Verstößen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz entwickelte Dogmatik des Willkürverbots heran.7 Mittlerweile ist allerdings anerkannt und durch die Rechtsprechung bestätigt, dass diese Grundsätze im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen sind,8 weshalb an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen erhöhte Anforderungen zu stellen sind.9 Gleichwohl erwächst aus diesen Grundsätzen kein absolutes Differenzierungsverbot. Eine Differenzierung bedarf allerdings zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, „zwingenden“ Grundes,10 der durch die Verfassung legitimiert ist und ein 6

Vgl. statt vieler Ehlers, Sperrklauseln im Wahlrecht, Jura 1999, 660 (661 f.). BVerfGE 1, 208 (249); 6, 84 (90). 8 BVerfGE 51, 222 (234); 78, 350 (357); 82, 322 (337); 95, 408 (417); 120, 82 (106 f.); zuletzt BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 87. 9 Ein Beispiel dafür, dass diese Anforderungen unterschiedlich bestimmt werden, liefert das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff zum Urteil des BVerfG vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10. Die Richter werfen der Senatsmehrheit eine nicht überzeugende Gewichtung des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit politischer Parteien durch die 5 %-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, eine unzutreffende Bestimmung des Maßstabs für die Rechtfertigung des Eingriffs und eine zu enge Bestimmung des Gestaltungsspielraumes des Wahlrechtsgesetzgebers vor (Rn. 147 ff.). 10 BVerfGE 1, 208, (249, 255); 24, 300 (341); 51, 222 (235); 59, 36 (49); 60, 162 (168 f.); 71, 81 (96); 82, 322 (338); 95, 408 (418); 120, 82 (107); zuletzt BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 87; ferner SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/11, Umdruck S. 57. 7

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solches Gewicht besitzt, dass er der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann.11 Nicht erforderlich ist indes, dass die Verfassung die Verwirklichung dieser Zwecke gebietet oder Differenzierungen von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind,12 wie dies etwa in Fällen der Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten der Fall sein kann.13 In diesem Zusammenhang rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht Differenzierungen auch durch zureichende, aus der Natur des Sachbereichs „Wahl der Volksvertretung“ sich ergebende Gründe.14 So einig man sich über diese allgemeinen Formeln ist, so sehr streitet man über die tatsächliche Anerkennung der zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe. Dies mag angesichts der Bedeutung des Wahlrechts verständlich sein. Bemerkenswert ist dennoch, dass trotz einer Vielzahl von Entscheidungen der Verfassungsgerichte kein Ende der Diskussion in Sicht ist. Dies ist einerseits auf die durch die Sperrklausel naturgemäß verursachte Unzufriedenheit der im Parlament nicht berücksichtigten Parteien samt deren Wählerschaft zurückzuführen, die im Anschluss an die „verlorene“ Wahl vor den Gerichten auf sich aufmerksam machen, indem sie die Quoren in Frage stellen. Andererseits war es gerade das Bundesverfassungsgericht selbst, welches allen Kritikern augenscheinlich ein weit offenes Tor für immer wieder neue Angriffe aufgestoßen hat: So erklärten die Karlsruher Richter, dass die Zulässigkeit von Sperrklauseln nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden könne.15 Vielmehr seien stets die besonderen Umstände des Einzelfalles zu beachten, welche durchaus die Unzulässigkeit von Sperrklauseln begründen könnten, wobei insbesondere die aktuellen Verhältnisse innerhalb des jeweiligen Staates zu berücksichtigen seien. So sei es durchaus denkbar, dass eine Regelung in einem Staat zu einer bestimmten Zeit zulässig sei, während sie in einem anderen Staat oder zu einer anderen Zeit gerade nicht mehr zu rechtfertigen sei.16 Eine pauschale Rechtfertigung der Sperrklauseln ist nach dieser Rechtsprechung17 ausgeschlossen. Für die erste gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages nach der Wiedervereinigung befand das Bundesverfassungsgericht, dass sie unter besonderen, nicht wiederkehrenden Umständen stattfinde, die eine unveränderte Aufrechterhaltung der herkömmlichen wahlgebietsbezogenen Sperrklausel von 5 % nicht erlaube. Den Unterschied gegenüber anderen Wahlen sah es darin, dass die politischen Parteien sich 11 BVerfGE 59, 36 (49); 71, 81 (96); 95, 408 (418); 120, 82 (107); zuletzt BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 87. 12 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 87. 13 Vgl. BVerfGE 14, 121 (133, 136 f.); 59, 119 (125); ebenso SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/11, Umdruck S. 69. 14 Vgl. BVerfGE 1, 208 (248); 6, 84 (92). 15 BVerfGE 82, 322 (338) sowie Ls. 2 lit. a. 16 So ausführlich: BVerfGE 82, 322 (338 f.); BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/ 10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 90; ferner BVerfGE 1, 208 (259); 120, 82 (108). 17 So jetzt auch SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/11, Umdruck S. 72 ff.

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kurzfristig auf ein erweitertes Wahlgebiet einstellen mussten und ein Teil von ihnen sich erst seit wenigen Monaten organisieren und politisch betätigen konnte.18 Auch wenn eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung, die die Verfassungsmäßigkeit der 5 %-Sperrklausel in ständiger Rechtsprechung bejaht hatte,19 angesichts dieser in der Tat besonderen Lage geboten war, öffnete das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung zugleich Tür und Tor für all jene, die seither, nachvollziehbar oder nicht, für unterschiedliche Konstellationen solche besonderen Umstände für eine Verwerfung der Sperrklauseln zu begründen versuchen.20 Nur zu gerne wird in diesen Fällen der Anlass für die Abweichung des Bundesverfassungsgerichts von seiner traditionellen Rechtsprechung verschwiegen. Es sind aber nicht nur die Verfassungsgerichte mit der Frage der verfassungsrechtlichen Bewertung der Sperrklauseln immer wieder konfrontiert. Auch und vor allem der Gesetzgeber ist gehalten, sich mit dem Thema in regelmäßigen Abständen zu beschäftigen. Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner neueren Rechtsprechung allgemein von einer grundsätzlichen Evaluierungs- und Kontrollpflicht des Gesetzgebers im Hinblick auf ein von ihm geschaffenes Regelwerk aus: Normen müssen auf die Gegenwart bezogen sein. Die Anforderungen an die gesetzgeberische Verarbeitung maßgebender Faktoren werden von der Eigenart des Sachbereichs und der Möglichkeit beeinflusst, sich ein sicheres Urteil zu bilden, aber auch von der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter.21 Die Einschätzung, ob veränderte Verhältnisse eine Gesetzesänderung erforderlich machen, obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber.22 Haben sich die Verhältnisse offensichtlich geändert, ist der Gesetzgeber zumindest zur Prüfung verpflichtet, ob Bedarf zur Novellierung älterer Normen besteht.23 Demgemäß begründete das Bundesverfassungsgericht die allgemeine Pflicht der Legislative, die statuierten Sperrklauseln in absehbaren Zeiträumen zu überprüfen und unter Umständen nach eigener Einschätzung Nachbesserungen und Änderungen

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BVerfGE 82, 322 (339 ff.). Vgl. etwa BVerfGE 1, 208 (248, 256 ff.); 4, 31 (40); 14, 121 (134 f.); 47, 198 (227); 71, 81 (97). 20 Zwar weist das BVerfG bereits in früheren Entscheidungen (vgl. insbesondere BVerfGE 1, 208 (259)) darauf hin, dass die Einschätzungen zur Verfassungsmäßigkeit von Sperrklauseln keine abschließende Gültigkeit beanspruchen. Die Entscheidung vom 29. 09. 1990 (BVerfGE 82, 322) wird jedoch gemeinhin zur Begründung der Notwendigkeit einer erneuten Überprüfung und eventuellen Neubewertung der Sperrklauseln herangezogen, so auch von Heinig/Morlok, Konkurrenz belebt das Geschäft!, ZG 2000, 371 (377), und Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 5. Aufl., 2001, Art. 38, Rn. 58. 21 Vgl. BVerfGE 50, 73 (290, 332 f.). 22 Vgl. BVerfGE 77, 263 (273). 23 Vgl. BVerfGE 56, 54 (78 f.); 59, 119 (127); 88, 203 (309 f.); zusammenfassend BVerfGE 103, 44 (75 – abw. Meinung), sowie SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/ 11, Umdruck S. 72 f. 19

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vorzunehmen.24 Bereits der Gesetzgeber selbst soll also gewissermaßen „als erste Instanz“ die einmal erlassenen Sperrklauseln unter Kontrolle halten. Dass diese Beurteilung durch die parlamentarische Mehrheit nur zu oft der Kritik ausgesetzt ist, man trete nicht objektiv an die Aufgabe der Überprüfung heran, liegt auf der Hand. Bei der Überprüfung der Sperrklauseln hat sich im Laufe der Jahre ein Kanon von Rechtfertigungsansätzen herausgebildet, der vom Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen regelmäßig „abgearbeitet“ wird. Auch die nachfolgende Untersuchung folgt dieser Linie und zeigt mögliche Rechtfertigungsgründe auf. Im gleichen Zug soll die neuere Rechtsprechung der Verfassungsgerichte kritisch analysiert werden, durch die so mancher das Ende des Instituts der Sperrklauseln eingeläutet sehen will.25 1. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Parlamente a) Die Sperrklausel auf Bundesebene, § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG Das wohl populärste Argument für die Rechtfertigung von Sperrklauseln ist nach wie vor die Notwendigkeit der Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung durch die Gewähr stabiler Mehrheitsverhältnisse im Plenum.26 Dabei ist Ausgangspunkt der Argumentation, dass das Verhältniswahlsystem naturgemäß das Aufkommen kleiner Parteien begünstige, wodurch eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zu befürchten sei.27 Ein möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild des durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillens berge damit die Gefahr, dass die gesetzgebenden Körperschaften aufgrund der Vielzahl der im Parlament vertretenen Meinungen funktionsunfähig würden. Folge dessen wären Schwierigkeiten bei der Gesetzgebung wie auch bei der Regierungsbildung. Die umfangreiche Gesetzgebungsarbeit im sozialen Rechtsstaat erfordere aber in besonderem Maße ein Zusammenwirken von Regierung und Parlament.28 24

BVerfGE 73, 40 (94); 82, 322 (338 f.); 107, 286 (294 f.); 120, 82 (108); ferner VerfGH NW, NWVBl. 1994, 453 ff.; NWVBl. 1999, 382 (384); ausführlich SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/11, Umdruck S. 72 ff.; siehe auch Schreiber, BWahlG, 8. Aufl., 2009, § 6, Rn. 36. 25 So etwa die Partei DIE LINKE, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. 11. 2011 auch eine Klage gegen die 5 %-Hürde auf Bundesebene als erfolgversprechend ansieht und deshalb eine solche bereits angekündigt hat, vgl. die Meldung vom 10. 11. 2011 (http://www.sueddeutsche.de): „Linke will gegen Fünf-Prozent-Hürde im Bund klagen“. 26 BVerfGE 4, 31 (40); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 95, 408 (418); Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 3), § 46, Rn. 40, bezeichnet das Argument der Funktionsfähigkeit des Parlaments als einziges seriöses Argument, ihm folgend: Krajewski, Kommunalwahlrechtliche Sperrklauseln im föderativen System, DÖV 2008, 345 (351); Trute, in: v. Münch/Kunig (Fn. 21), Art. 38, Rn. 59. 27 BVerfGE 1, 208 (248); 6, 104 (112); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 95, 408 (419). 28 BVerfGE 6, 84 (94).

Sperrklauseln im Wahlrecht?

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Die Regierung müsse möglichst fortlaufend durch das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments gestützt werden, denn nur so könne sie bei der Verabschiedung von dringlichen Gesetzen sicher sein, die erforderlichen Maßnahmen auch effektiv ergreifen zu können. Laufe die Regierung ständig Gefahr, ihre Gefolgschaft zu verlieren, könne sie mangels sicherer Mehrheitsverhältnisse keine stringente politische Führung verfolgen.29 Sinn und Zweck der Wahl als solcher könne daher nicht allein die Wiedergabe des Volkswillens sein, sondern sie müsse notwendigerweise auch zur Konstituierung eines handlungsfähigen Verfassungsorgans führen.30 Um dies zu gewährleisten bewirke die 5 %-Hürde eine Art Parteienkonzentration, die die Gewähr der Handlungsfähigkeit des Parlaments und der dauerhaften Regierungsbildung biete, indem sie sog. Splitterparteien31 von der parlamentarischen Willensbildung ausschließe. Durch Erlass der Sperrklausel findet der Gesetzgeber folglich einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Sicherstellung der Aktionsfähigkeit des Parlaments und den Verfassungsgeboten der Wahlrechtsgleichheit sowie der Gleichbehandlung politischer Parteien.32 Untermauert wird diese Argumentation regelmäßig durch einen Verweis auf die Endzeit der Weimarer Republik, in der sich gezeigt habe, dass die Regierungsbildung unmöglich werden könne, wenn auch kleine Gruppen oder reine Interessenorganisationen im Parlament vertreten seien. Doch wird heute bezweifelt, ob die Parteienzersplitterung in jener Zeit und das Fehlen einer Sperrklausel Weimar zu Fall gebracht haben.33 Die Gegner der Sperrklausel fordern daher einen Abschied vom „Weimarer Trauma“34 und die Abschaffung der Klauseln. Jahrzehnte politisch stabiler Verhältnisse hätten gezeigt, dass eine Parteienzersplitterung gerade nicht zu befürchten sei.35 Doch werden bei dieser Argumentation vorschnell Ursache und Wirkung in ein Missverhältnis gebracht. Die Erfahrung der Weimarer Zeit mag zwar die Einführung einer Sperrklausel nicht ohne Weiteres rechtfertigen. Aber auch wenn das Fehlen einer Sperrklausel nicht existenziell auf den Bestand der Weimarer Republik gewirkt hat, kann eine Sperrklausel auch nicht umgekehrt unbesehen für verfassungswidrig erklärt werden. Weimar hin oder her, die Gefahr, dass ein Parlament, das mit vielen kleinen Parteien besetzt ist, die effektive Entscheidungsfindung sowie die stabile Regierungsbildung behindert, wenn nicht gar unmöglich macht, besteht nach wie vor. Gerade zum Schutze vor diesen Gefahren besteht die Sperrklausel. Sie ist damit je29

BVerfGE 6, 84 (94). BVerfGE 1, 208 (247 f.); 24, 300 (341); 51, 222 (236 f.); 82, 322 (338); 95, 335 (366); Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 35 m.w.N.; Hösch, Anmerkungen zur 5 %-Klausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG, ThürVBl. 1996, 265 (265). 31 Vgl. zum Begriff der Splitterpartei erläuternd: BVerfGE 1, 208 (252). 32 Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 35. 33 Vgl. Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 3), § 46, Rn. 38 Fn. 136; Frotscher, Die parteienstaatliche Demokratie – Krisenzeichen und Zukunftsperspektiven, DVBl. 1985, 917 (927). 34 Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 3), § 46, Rn. 38. 35 Frotscher (Fn. 34), 917 (927); skeptisch auch: Achterberg/Schulte, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 38, Rn. 137. 30

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denfalls mitursächlich für die stabilen politischen Verhältnisse der vergangenen Jahrzehnte.36 Dementsprechend ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, wenn es die bundesgesetzliche Regelung zur 5 %-Hürde und die damit bewirkte Stabilisierung der politischen Ordnung in ständiger Rechtsprechung als verfassungsgemäß ansieht,37 zumal sie das Aufkommen neuer Parteien, die „gewichtige Anliegen im Volke“ vertreten, nicht verhindert.38 Auch die derzeitige Höhe der Sperre ist hinzunehmen, da es diesbezüglich an eindeutigen Vorgaben der Verfassung fehlt und die aktuelle Regelung noch im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers liegt.39 Wenngleich es also grundsätzlich möglich wäre, auf eine Sperrklausel zu verzichten oder deren Höhe herabzusetzen,40 genügt die Regelung des § 6 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 BWahlG doch den Vorgaben der Verfassung, da sie zweckentsprechend die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Legislativorgans Bundestag sichert. b) Sperrklauseln bei den Landtagswahlen Diese Erwägungen lassen sich in ihren Grundzügen auf die jeweiligen Regelungen der Länder hinsichtlich der Besetzung ihrer Landtage übertragen.41 Auch hier soll durch gesicherte Mehrheitsverhältnisse Gesetzgebung und Regierungsbildung gewährleistet werden. Kritiker lehnen demgegenüber die Erforderlichkeit von Sperrklauseln bei der Wahl der Landtage mit der Begründung ab, die Länder seien, anders als der Bund, nicht so sehr auf ein aktionsfähiges Parlament angewiesen, da ihnen faktisch kaum Kompetenzen zur Gesetzgebung zustünden. Außerdem seien die typischen Materien der Landesgesetzgebung (Polizeirecht, Kultur, Bildung und Kommunalrecht) bereits weitgehend geregelt, so dass hier kaum noch Handlungsbedarf bestehe.42

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So auch Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 38; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38 (Stand: Oktober 2010), Rn. 127. 37 Vgl. insbesondere: BVerfGE 1, 208; dem BVerfG folgend beispielsweise Klein, in: Maunz/Dürig (Fn. 37), Art. 38, Rn. 126 f.; Ehlers (Fn. 7), 660 (665); Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 35 ff. 38 Klein, in: Maunz/Dürig (Fn. 37), Art. 38, Rn. 38. 39 So auch: BVerfGE 51, 222 (237); 71, 81 (97); 82, 322 (338); 95, 408 (419). 40 BVerfGE 51, 222 (237); 71, 81 (97); 82, 322 (338); 95, 408 (419). 41 Vgl. die landesrechtlichen Sperrklauseln in § 2 Abs. 1 LWG Baden-Württemberg, § 2 Abs. 1 LWG Bayern, § 18 LWG Berlin, § 3 Abs. 1 BbgLWahlG, § 7 Abs. 7 BremWahlG, § 5 Abs. 2 BüWG Hamburg, § 10 Abs. 1 LWG Hessen, § 58 Abs. 1 LKWG M-V, § 33 Abs. 3 LWG Niedersachsen, § 33 Abs. 2 LWG Nordrhein-Westfalen, § 29 Abs. 1 LWahlG Rheinland-Pfalz, § 38 Abs. 1 SLWahlG, § 6 Abs. 1 SächsWahlG, § 35 Abs. 3 LWG Sachsen-Anhalt, § 3 Abs. 1 LWahlG Schleswig-Holstein, § 5 Abs. 1 ThürLWG. 42 So etwa: Heinig/Morlok (Fn. 21), 371 (384); tendenziell auch Ehlers (Fn. 7), 660 (665).

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Doch richtet sich diese Argumentation wirklich allein gegen die Zulässigkeit der Sperrklausel? Müsste man, wenn man ihr tatsächlich folgen wollte, nicht vielmehr die Landtage in ihrer Funktion als gesetzgebende Organe an sich in Frage stellen? Der zur Begründung der Verfassungswidrigkeit von landesrechtlichen Sperrklauseln vorgetragenen Argumentation muss bereits im Ansatz entgegengetreten werden: Wo staatliche Aufgaben wahrzunehmen sind, muss dies den hierfür konstituierten Organen in effektiver Weise möglich sein. Allein ein vergleichsweise geringer Arbeitsanfall rechtfertigt es demgegenüber nicht, ein funktionsunfähiges oder kaum funktionsfähiges Organ zu statuieren. Mangelt es einem Organ an Kompetenzen, so ist allein das Bedürfnis nach einem solchen Organ an sich zu diskutieren. Die Mechanismen, die dessen Funktionsfähigkeit gewährleisten sollen, können mit dieser Überlegung indes nicht in Frage gestellt werden. Selbst wenn man dies anders sehen will, kann obiger Argumentation spätestens seit der Föderalismusreform 2006 nicht mehr zugestimmt werden, denn diese brachte gerade die Stärkung der Länder hinsichtlich ihrer Gesetzgebungsbefugnisse mit sich. Dabei ist nicht nur die ausdrückliche Übertragung von Kompetenztiteln erwähnenswert, auch der nunmehr restriktive Umgang mit der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht43 sowie die Abweichungsmöglichkeit nach Art. 72 Abs. 3 GG bzw. Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG eröffnen dem Landesgesetzgeber einen über den gemeinhin vorgebrachten Kompetenzkanon hinausgehenden Handlungsspielraum, welchem er durch aktive Gestaltung gerecht werden muss. Des Weiteren ist zu beachten, dass Landtagswahlen oft zur „Denkzettelwahl“ werden. So ist zu beobachten, dass die Wähler ihren Unmut über die Politik der Parteien auf Bundesebene gerade in Landtagswahlen zum Ausdruck bringen, indem die (auf Bundesebene regierenden) Volksparteien förmlich abgestraft werden. Es sind gerade die kleinen Parteien, die auf Landesebene von dieser Situation profitieren und einen im Vergleich zur Bundesebene überproportionalen Stimmenanteil verzeichnen. Die Gefahr der Parteienzersplitterung besteht damit gerade auf Landesebene umso mehr, da zu befürchten ist, dass bei einer Abschaffung der Sperrklauseln eine Vielzahl kleiner Parteien gestärkt in die Parlamente einzieht. Die pauschale Kritik an den Sperrklauseln bei Landtagswahlen ist daher zurückzuweisen. Dies soll allerdings nicht per se deren Verfassungsmäßigkeit bedeuten. Vielmehr gilt es, bei der Beurteilung die im Einzelfall bestehenden landesrechtlichen Spezifika sowie die jeweils vorherrschenden tatsächlichen Verhältnisse im Rahmen einer sog. Realanalyse zu beachten. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass ein Land andere Abwehrmechanismen statuiert hat, wodurch eine Sperrklausel entbehrlich werden kann und somit auch deren Rechtfertigung in Frage steht. Dies soll am Beispiel des Saarlandes erörtert werden, wobei bereits an dieser Stelle darauf hinzuwei-

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BVerfGE 106, 62 (135 ff.) sowie Ls. 2.

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sen ist, dass gerade das Saarland einige Besonderheiten in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht aufzuweisen vermag. Für die Landtagswahlen im Saarland gelten kraft Landesverfassung ausschließlich die Grundsätze des Verhältniswahlrechts,44 eine Wahl von Direktkandidaten im Wege der Mehrheitswahl kennt das saarländische Wahlsystem nicht. Demgemäß steht den Wahlberechtigten im Saarland „nur“ eine Stimme zu, mit welcher sie sich für die Kandidatenliste einer Partei aussprechen können. Die Sitzverteilung im Landtag erfolgt sodann gemäß § 38 Abs. 2, 3 SLWG nach dem Höchstzahlverfahren nach dÏHondt, wobei auch hierbei nur solche Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigen konnten, § 38 Abs. 1 SLWG. Ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit45 sowie das Gebot der Gleichbehandlung politischer Parteien46 ist also auch bei der Landtagswahl im Saarland zu verzeichnen. Allerdings ist zugleich die grundsätzliche Erwägung, dass das Verhältniswahlsystem das Aufkommen kleiner Parteien begünstigt, für das Saarland in gleicher Weise virulent, da sich das gesamte Parlament nach diesem Verfahren zusammensetzt. Abweichend zur Situation auf Bundesebene gilt jedoch zu beachten, dass im Saarland auch ohne das Statut der Sperrklausel ein hoher Stimmenanteil erreicht werden muss, um ins Parlament einzuziehen (sog. faktische Sperrklausel). Diese rein rechnerisch zu ermittelnde Grenze ist gerade im Saarland besonders hoch, denn der saarländische Landtag besteht gemäß Art. 66 Abs. 1 Satz 1 SVerf. lediglich aus 51 Abgeordneten. Folge dessen ist, dass man bereits ohne die Normierung einer Sperrklausel zur Besetzung auch nur eines Sitzes im Parlament einen hohen Prozentsatz an Wählerstimmen erreichen muss und damit unter rein tatsächlichen Gesichtspunkten die Gefahr eines uferlosen Einzugs von Kleinstparteien in den Landtag gemindert ist. Dementsprechend ist zu erwägen, ob für das Saarland die Rechtfertigung einer Sperrklausel bereits mangels Gefährdungslage abzulehnen ist. Hierbei ist indes zu beachten, dass es in erster Linie Sache des Gesetzgebers ist, das mit der Wahl verfolgte Ziel der Konstituierung einer handlungsfähigen Volksvertretung mit den Verfassungsgeboten der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen.47 Der Gesetzgeber verfügt dabei über einen gewissen Prognosespielraum. So ist er grundsätzlich frei in seiner Entscheidung, ob er auf eine Sperrklausel verzichtet, deren Höhe herauf- oder herabsetzt oder andere Maßnahmen gleicher Wirkung normiert. Empfindet folglich der saarländische Gesetzgeber die – aufgrund der Zahl der Abgeordneten vergleichsweise hohe – faktische Sperre zum Schutze der Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht als ausreichend, so ist er 44 Vgl. Art. 66 Abs. 1 SVerf.: Der Landtag besteht aus 51 Abgeordneten. Diese werden nach Grundsätzen eines Verhältniswahlrechts gewählt. 45 Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ist in der saarländischen Verfassung in den Art. 63 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 SVerf. verankert. 46 Abzuleiten aus den Art. 63 Abs. 1 SVerf. i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG. 47 SaarlVerfGH, Urteil vom 29. 09. 2011 – Lv 4/11, Umdruck S. 72 f.; Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 35.

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nicht gehindert, diesem Schutz durch Erlass einer höheren Sperrklausel gerecht zu werden, solange sich diese wiederum innerhalb des anerkannten Gestaltungsspielraums bewegt. Fürchtet der Gesetzgeber bei einem faktischen Quorum von etwa 1 – 2 % eine Parteienzersplitterung und nicht hinnehmbare Auswirkungen auf den Bestand der Regierung, so ist er jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht gehindert, einen effizienteren Schutz zu schaffen, wenn dieser seinerseits der Verfassung gerecht wird.48 In Anlehnung an die bundesgesetzliche Regelung kann eine Sperrklausel auf Landesebene in Höhe von 5 % als angemessen angesehen werden.49 Mithin bewegt sich der saarländische Gesetzgeber noch im Bereich zulässiger Wahlrechtsgestaltung. Letztlich zeigt sich hier die Frage nach der angemessenen Höhe einer Sperrklausel in etwas anderer Gestalt als auf Bundesebene, allerdings mit dem gleichen Ergebnis. Dieses Ergebnis bestätigt sich, wenn man die besondere rechtliche Ausgestaltung der Regierungsbildung nach der saarländischen Verfassung in den Blick nimmt. Auch diese hat Auswirkungen auf die Rechtfertigung des § 38 Abs. 1 SLWG. So normiert Art. 87 Abs. 1 SVerf., dass der Ministerpräsident mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl vom Landtag gewählt wird. Findet eine solche Wahl nicht statt, was gerade dann zu erwarten ist, wenn keine verlässliche Koalitionsmehrheit im Parlament besteht, so ist nach Art. 87 Abs. 4 SVerf. der neu gewählte Landtag nach Ablauf von drei Monaten nach seinem Zusammentritt aufgelöst. In der Folge ist eine Neuwahl des Landtags erforderlich. Danach besteht im Saarland gerade nicht die Möglichkeit, eine Minderheitsregierung zu bilden, was letztlich Ausdruck der negativen Erfahrungen mit dieser Regierungskonstellation zur Zeit der Weimarer Republik ist.50 Dieser Umstand spricht für die Gebotenheit einer Sperrklausel. Allerdings ist das Land in dieser Phase bis zur Neuwahl des Landtags und einer sodann erfolgenden Regierungsbildung nicht führungslos gestellt. Art. 87 Abs. 5 SVerf. regelt hierzu explizit, dass der bisherige Ministerpräsident in dieser Übergangszeit geschäftsführend im Amt bleibt und damit eine kontinuierliche Staatsleitung gesichert ist. Bedarf es also wirklich einer Sperrklausel zur Vermeidung einer Regierungskrise? Ist eine solche Krise angesichts der Gewährleistung jedenfalls einer geschäftsführenden Regierung durch Art. 87 Abs. 5 SVerf., ferner angesichts des Umstandes, dass die oft beschworene Gefahr, immer wiederholte vergebliche Versuche der Wahl einer Regierung würden dazu führen, dass man „sich zu Tode wähle“, nicht überschätzt werden darf, weil sich schon nach einer zweiten Wahl der Zwang zu Kompromissen bei der Regierungsbildung deutlich erhöhen 48 Nicht anders wäre die Lage zu beurteilen, wenn sich der Gesetzgeber zunächst auf eine niedrige gesetzliche Sperrklausel festgelegt hätte, diese jedoch aus obigen Gesichtspunkten zum Schutze der Funktionsfähigkeit des Parlaments nun nicht mehr als ausreichend ansähe. 49 Vgl. zur Höhe der bundesgesetzlichen Sperrklausel BVerfGE 51, 222 (237); 71, 81 (97); 82, 322 (338); 95, 408 (419). 50 Stelkens, in: Wendt/Rixecker, Verfassung des Saarlandes, Kommentar, 2009, Art. 87, Rn. 5.

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würde,51 und schließlich angesichts der automatischen Auflösung des Landtags bei Uneinigkeit der Parteien über die politische Führung nach Art. 87 Abs. 4 SVerf. oder der Auflösung durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss oder nach gescheiterter Vertrauensfrage gemäß Art. 69 SVerf. überhaupt denkbar? Diese möglichen Einwände gegen die Sinnhaftigkeit einer Sperrklausel vermögen aber nicht zu überzeugen. Eine Auflösung des Landtags ist lediglich ultima ratio und beweist gerade die fehlende Funktionsfähigkeit des Parlaments, und die Regierungsführung durch eine bloß geschäftsführende Regierung ist lediglich eine Notlösung, die eine einigermaßen funktionsfähige Staatsleitung allenfalls vorübergehend sichert. Dazu kommt, dass eine Regierungskrise nicht nur bei der Nichtwahl eines Ministerpräsidenten nach erfolgten Landtagswahlen möglich ist, sondern, wie die politische Wirklichkeit zeigt, auch gerade während der Legislaturperiode entstehen kann. Sind die Parteien unmittelbar nach der Wahl noch eher zu Kompromissen zwecks Eingehung einer regierungsfähigen Koalition bereit, nimmt im Laufe der Legislaturperiode der Druck zu, die parteieigenen Wahlversprechen umzusetzen. Stehen dabei die anderen Koalitionspartner im Wege, so kann das Bündnis nachhaltig geschädigt werden, was letztlich zu einer erheblichen Regierungskrise führen kann. Das Szenario lässt sich weiter ausmalen: Würde sich eine solche Konstellation, in der eine Koalitionspartei nicht mehr bereit ist, die Regierungspolitik mit zu tragen, zuspitzen, könnte die Regierung in ihrer Handlungsfähigkeit dadurch wesentlich beeinträchtigt werden, dass Art. 87 Abs. 1 Satz 2 SVerf. dem Ministerpräsidenten zwar erlaubt, die von der betreffenden Partei gestellten Minister (einseitig) zu entlassen, er hierfür jedoch die Zustimmung des Landtages benötigt. Verweigert dieser die Zustimmung – was bei einem generellen Boykott seitens einer bisherigen Koalitionspartei durchaus denkbar ist, da ja gerade keine Regierungsmehrheit mehr besteht –, so verbleibt das Regierungsmitglied auch zukünftig in seiner Position. Der Landtag des Saarlandes ist damit in der Lage, dem Ministerpräsidenten den Verbleib auch unerwünschter Regierungsmitglieder aufzuzwingen, was die Fortführung der Regierung massiv erschweren kann.52 Zugegebenermaßen wäre ein solcher Lauf der Dinge nicht alltäglich, allerdings ist nicht zuletzt seine Möglichkeit Beweis genug dafür, dass trotz der beschriebenen verfassungsrechtlichen Vorkehrungen Regierungskrisen auch im Saarland jederzeit möglich sind. Die Sperrklausel ist also in ihrer Funktion als Sicherungsinstrument für die Bildung einer aktionsfähigen Landesregierung nicht entbehrlich, denn beim Einzug vieler kleiner Parteien muss auch eine Koalitionsmehrheit aus vielen (kleinen) Parteien geknüpft werden. Die Gefahr einer Regierungskrise wäre aufgrund eines höheren Konfliktpotentials zwischen den Partnern deutlich erhöht. Abschließend ist auf einen weiteren Umstand hinzuweisen: Der einzelne Abgeordnete besitzt im saarländischen Landtag eine besonders starke Stellung. So steht 51 52

Stelkens, in: Wendt/Rixecker (Fn. 51), Art. 87, Rn. 8. Stelkens, in: Wendt/Rixecker (Fn. 51), Art. 87, Rn. 17.

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jedem der 51 Abgeordneten neben dem Rede-, Stimm- und Fragerecht nach Art. 98 SVerf. ein eigenes Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren zu, welches in dieser Art weder im Grundgesetz noch in den anderen Landesverfassungen vorgesehen ist.53 Es ist damit jedem Abgeordneten möglich, im Plenum unbeschränkt Gesetzesvorlagen einzubringen. Der Landtag seinerseits ist in der Folge verpflichtet, diese Vorlagen innerhalb angemessener Zeit auf die Tagesordnung zu nehmen und in allgemeiner Aussprache in öffentlicher Sitzung darüber zu beraten und zu beschließen. Jede Gesetzesvorlage genießt nämlich unabhängig vom Initiator den gleichen Rang, hat also grundsätzlich die gleiche Aufmerksamkeit des Plenums verdient.54 Dieses einflussreiche und vor allem öffentlichkeitswirksame Initiativrecht birgt jedoch zugleich die Gefahr des Missbrauchs, denn die Arbeit des Landtags kann auf diese Weise gezielt gestört werden, indem eine Vielzahl von politisch offensichtlich aussichtslosen bzw. rein populistischen Initiativen ins Plenum eingebracht werden.55 Je mehr Parteien folglich bei einem Fehlen der 5 %-Hürde Abgeordnete – und sei es auch nur einen einzigen Abgeordneten – in den Landtag entsenden würden, desto mehr wäre die Arbeit des Parlaments durch solche Gesetzesinitiativen gefährdet. Dabei darf nicht verkannt werden, dass gerade die besondere Öffentlichkeitswirksamkeit solcher Vorlagen motivierend auf die Kleinstparteien wirken dürfte. Auch angesichts dieser Analyse ist daran festzuhalten, dass die in § 38 Abs. 1 SLWG normierte Sperrklausel wegen des Erfordernisses der Sicherung der Funktionsfähigkeit von Parlament und Regierung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Daran vermag auch die spezifische Verfassungssituation im Saarland nichts zu ändern. Vielmehr gebietet diese gerade die Beibehaltung des 5 %-Quorums, da die Arbeit des saarländischen Landtags aufgrund der besonders ausgestalteten Rechtsposition der einzelnen Abgeordneten besonders störungsanfällig ist. Für andere Bundesländer mögen die spezifischen aus der jeweiligen Landesverfassung abzuleitenden Gründe für eine Rechtfertigung der Sperrklauseln in gewissem Maße differieren und sich in ihrem Gewicht unterscheiden. Die oben entwickelten allgemeinen Rechtfertigungsgründe gelten aber auch dort. c) Die Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments Dass die Problematik um die Sperrklauseln weiterhin aktueller denn je ist, zeigte sich am 9. November 2011, als das Bundesverfassungsgericht in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung56 das Quorum bei der Wahl zum Europäischen Parlament 53

Die Gesetzesvorlagen werden vom Ministerpräsidenten namens der Landesregierung, von einem Mitglied des Landtages oder einer Fraktion eingebracht; hierzu ausführlich: Gröpl, in: Wendt/Rixecker (Fn. 51), Art. 98, Rn. 1 ff. 54 Gröpl, in: Wendt/Rixecker (Fn. 51), Art. 98, Rn. 8. 55 So auch: Gröpl, in: Wendt/Rixecker (Fn. 51), Art. 98, Rn. 7. 56 Zuvor noch die Verfassungsmäßigkeit des Quorums bejahend BVerfGE 51, 222.

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für verfassungswidrig erklärte.57 Gemäß § 2 Abs. 7 EuWG werden bei der Besetzung des Europäischen Parlaments bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge nur solche Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben. Diesen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien sah das Gericht nicht als gerechtfertigt an. Entsprechend seiner in der Vergangenheit entwickelten Rechtsprechung nimmt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung (erneut) eine an den Besonderheiten des Wahlverfahrens ausgerichtete Realanalyse vor. Auf diese Weise soll ermittelt werden, ob § 2 Abs. 7 EuWG durch den zwingenden Grund der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung gerechtfertigt werden kann. Es gilt daher zu untersuchen, ob Splitterparteien auch auf europäischer Ebene der Aktionsfähigkeit der Volksvertretung schaden können. Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, dessen Kompetenzen sowie dessen Stellung im Gefüge der europäischen Organe in den Blick genommen werden: Gemäß Art. 1 des Direktwahlaktes sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments in jedem Mitgliedstaat nach dem Verhältniswahlsystem zu wählen,58 wobei diese Wahl allgemein, unmittelbar, frei und geheim erfolgen muss. Nach Art. 3 können die Mitgliedstaaten für die Sitzvergabe eine Mindestschwelle festlegen, die jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen darf.59 Im Übrigen bestimmt sich das Wahlverfahren nach den innerstaatlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates. Auf diese Weise wurden bei der Wahl 2009 insgesamt 736 Sitze im Europäischen Parlament verteilt, wovon 99 Sitze durch Parlamentarier aus Deutschland besetzt werden. Einschließlich der sechs deutschen Parteien (CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, Die Linke) zogen insgesamt 162 nationale Parteien in das Europäische Parlament ein, die sich zu sieben Fraktionen zusammengeschlossen haben.60 Bei Wegfall der deutschen Sperrklausel wären seit der Wahl 2009 indes 57

BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10. So auch § 2 Abs. 1 EuWG. 59 Zu Recht verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass die verfassungsrechtliche Prüfung der deutschen Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG nicht durch verbindliche europäische Vorgaben eingeschränkt ist. Die Regelung des Art. 3 des Direktwahlaktes eröffnet den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten lediglich einen Gestaltungsrahmen für den Erlass nationaler Wahlrechtsvorschriften. Die jeweiligen Vorschriften sind jedoch an den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Mitgliedstaaten zu messen; vgl. BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 76 f. 60 Bereits die geringe Zahl von Fraktionen im Verhältnis zu der Zahl verschiedener Parteien macht deutlich, dass die Fraktionen innerhalb des Europäischen Parlaments über eine gewisse Integrationskraft verfügen. Sie waren bisher in der Lage, die vielen verschiedenen politischen Zielsetzungen der Vielzahl von Parteien aus unterschiedlichsten Mitgliedstaaten miteinander in Einklang zu bringen und ein gemeinsames Ziel zu formulieren. So auch das Bundesverfassungsgericht, das den Fraktionen deshalb auch die Integration der in Zukunft aus Deutschland stammenden Klein- und Kleinstparteien zutraut, vgl. BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 102 ff. 58

Sperrklauseln im Wahlrecht?

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169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Das Quorum führte mithin zum Ausschluss von sieben deutschen Parteien. Zur Frage einer Funktionsbeeinträchtigung der Arbeit des Europäischen Parlaments durch die Zunahme von Parteien weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass kennzeichnend für die Arbeit des Europäischen Parlaments sei, dass sich – mangels dauerhafter Koalitionen der Fraktionen – bei den unterschiedlichen Abstimmungsgegenständen immer wieder neue Mehrheiten bilden. Hierzu würden unmittelbar zwischen den Koalitionären Kompromisse zur Mehrheitsbildung vereinbart. Das in Deutschland typische dauerhafte antagonistische Auftreten von Regierungsmehrheit und Opposition sei dem Europäischen Parlament fremd. Die Koalitionen fänden sich vielmehr von Entscheidung zu Entscheidung in unterschiedlicher Konstellation zusammen, indem sie einen Kompromiss vereinbarten, der die Mehrheitsbildung im Parlament gewährleiste. Dies sei auf europäischer Ebene insofern hinnehmbar, als das Parlament keine „Unionsregierung“ wähle, die zur Verfolgung einer stringenten Politik auf die fortwehrende Unterstützung des Parlaments angewiesen wäre.61 Zwar wähle das Europäische Parlament gemäß Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 2 EUV auf Vorschlag des Europäischen Rates mit der Mehrheit seiner Mitglieder den Kommissionspräsidenten und gebe auch hinsichtlich des Gesamtkollegiums der Kommission ein Zustimmungsvotum ab (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV), doch seien diese Organe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf die fortlaufende Unterstützung des Parlaments angewiesen. Dem Parlament verbleibe einzig die Möglichkeit, der Kommission bzw. dem Kommissionspräsidenten das Vertrauen zu entziehen, wofür allerdings die hohe Stimmenzahl des Art. 234 Abs. 2 AEUV erforderlich sei.62 Das Bundesverfassungsgericht zieht aus alledem den Schluss, dass die auf nationaler Ebene bestehende Gefährdungslage, dass eine Zersplitterung des Parlaments zu einer Regierungskrise führen könne, auf europäischer Ebene nicht bestehe.63 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts beweist auch der Blick auf die Gesetzgebung der Union, dass es auf der europäischen Ebene an zwingenden Gründen dafür fehle, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen. Die Gesetzgebung der Union sei nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde.64 Das Gericht führt aus,65 dass die europäischen Gesetze seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon überwiegend im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1 AEUV) zustande kämen. Nach Zuleitung des Vorschlags der Kommission erfolge die erste Lesung im Europäischen Parlament, die zur Festlegung des in Art. 294 Abs. 3 AEUV 61

118. 62 63

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BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 102 ff., BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 119. BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 102 ff., BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 118. BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 120 f.

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vorgesehenen Standpunkts des Europäischen Parlaments führen solle. Der Vorschlag werde zunächst an den zuständigen Ausschuss überwiesen, wo in der Regel ein Berichterstatter den Kommissionsvorschlag prüfe und einen Bericht erstelle. Diesen müsse der Ausschuss vor der Vorlage an das Plenum mit einfacher Mehrheit annehmen. Das Plenum stimme sowohl über den Rechtsetzungsvorschlag im Ganzen ab als auch über alle Änderungsanträge, die durch die Ausschussarbeit entstanden seien. Erforderlich sei jeweils (nur) die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 231 AEUV). In der folgenden ersten Lesung im Rat könne dieser den Rechtsakt in der vom Parlament beschlossenen Form annehmen, was den erfolgreichen Abschluss des Rechtsetzungsprozesses zur Folge habe. Schlage der Rat Änderungen vor, folge die zweite Lesung im Parlament (Art. 294 Abs. 7 AEUV). Reagiere das Parlament binnen einer Dreimonatsfrist nicht oder billige es den Standpunkt des Rates, so gelte der Rechtsakt als erlassen (Art. 294 Abs. 7 lit. a AEUV). Eine – dann endgültig wirkende – Ablehnung oder der Vorschlag einer Änderung des Standpunktes des Rates erfordere im Parlament die Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 294 Abs. 7 lit. b und c AEUV). Schließe sich der Rat mit qualifizierter Mehrheit dem geänderten Vorschlag des Europäischen Parlaments an, komme der Rechtsakt zustande (Art. 294 Abs. 8 lit. a AEUV). Anderenfalls werde ein Vermittlungsausschuss angerufen, dem Vertreter des Parlaments und des Rates angehörten (Art. 294 Abs. 8 lit. b, Abs. 10 AEUV). Der aus diesem Vermittlungsverfahren resultierende Vorschlag („gemeinsamer Entwurf“) müsse schließlich binnen sechs Wochen sowohl vom Parlament als auch vom Rat in dritter Lesung gebilligt werden (Art. 294 Abs. 13 AEUV), wobei im Parlament wiederum die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genüge. Das Bundesverfassungsgericht folgert hieraus, dass die Zustimmung des Europäischen Parlaments für das Zustandekommen eines Rechtsaktes im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nicht zwingend sei, da der Rechtsakt, den der Rat nach Art. 294 Abs. 5 AEUV festlege und dem Parlament übermittele, auch dann als erlassen gelte, wenn sich das Parlament in der zweiten Lesung zum Standpunkt des Rates nicht äußere oder den Ratsvorschlag nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder ablehne (Art. 294 Abs. 7 lit. a Alt. 2, lit. b AEUV). Demnach sei die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhänge. Damit entfalle ein zentraler Grund für die Rechtfertigung einer Sperrklausel.66 Die hiermit vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Einschätzung der Stellung des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren dürfte aber den Normalfall der Gesetzgebung nicht treffen und wird daher nicht jedem einleuchten. Die Notwendigkeit einer stabilen Parlamentsmehrheit mit Konsequenzen für eine Sperrklausel ergibt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht aus dem Umstand, dass bestimmte, in den Verträgen ausdrücklich aufgeführte Rechtsetzungsakte nur mit Zustimmung des Parlaments nach besonderen Gesetzgebungs-

66

BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 122.

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verfahren erlassen werden können. Das Gericht erklärt hierzu,67 dass wechselnde Mehrheiten die Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission zwar erschweren mögen, dem stünden aber vermehrte Chancen der Mehrheitsfindung gegenüber. Vor allem aber sähen die Verträge die Zustimmung des Europäischen Parlaments im besonderen Gesetzgebungsverfahren für gänzlich unterschiedliche Fallgestaltungen wie etwa die Antidiskriminierungsgesetzgebung (Art. 19 Abs. 1 AEUV) oder die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 Abs. 1 AEUV) vor, so dass eine generelle Blockade parlamentarischer Tätigkeit nicht drohe, wenn in einzelnen Fällen eine Mehrheit für die Zustimmung nicht zustande komme. Hiervon sei auch im Hinblick auf die Zustimmungsvorbehalte vor allem bei den sogenannten konstitutionellen Rechtsakten auszugehen, die die Europäische Union langfristig prägten, wie die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (vgl. Art. 49 Abs. 1 Satz 3 EUV), die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung von Werten der Union durch einen Mitgliedstaat (Art. 7 Abs. 2 EUV) oder die Beschlussfassung bezüglich bestimmter völkerrechtlicher Übereinkünfte (Art. 218 Abs. 6 lit. a AEUV). Nicht jeden wird diese Argumentation überzeugen. Wenn auf einem bestimmten Themengebiet kein Konsens hergestellt werden kann, kann dies sehr wohl die Mehrheitsfindung in anderen Sachbereichen berühren. Selbst wenn damit noch nicht die Handlungsfähigkeit des Parlaments zur Gänze zur Debatte steht, kann sie doch durch den Dissens in einem zentralen Themenbereich erheblich beeinträchtigt werden. Insgesamt verbleiben erhebliche Zweifel, ob die Notwendigkeit der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht schon bei der gegenwärtigen Ausgestaltung der unionsrechtlichen Grundlagen mit dem Beweggrund der Gewährleistung einer effektiven „Regierungs“- und Gesetzgebungsarbeit begründet werden kann. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage kann das Quorum des § 2 Abs. 7 EuWG bisheriger Fassung aber entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bereits heute gerechtfertigt werden. Gerade das Gericht selbst hat in der Vergangenheit wiederholt betont, dass bei der Beurteilung der Rechtfertigung von Sperrklauseln nicht formelhaft und rein schematisch vorgegangen werden dürfe, sondern ein an der politischen Wirklichkeit orientierter Maßstab anzulegen sei.68 Dabei sind nicht nur die rechtlichen, sondern auch die tatsächlichen Umstände des Einzelfalles zu beachten. Es muss daher berücksichtigt werden, dass sich die Europäische Union, so wie sie sich derzeit darstellt, in einer rechtlichen wie politischen Entwicklung befindet. Bewertet man, wie es das Bundesverfassungsgericht tut, die Rolle des Europäischen Parlaments im Gefüge der Organe der Europäischen Union nach der derzeit gegebenen Lage, mag man angesichts des begrenzten Einflusses dieser Volksvertretung in der Tat versucht sein, die Bedeutung der Funktionsfähigkeit des Organs in Frage zu stellen. Doch ist auch hier wieder darauf hinzuweisen, dass die begrenzte Bedeutung eines Organs es nicht rechtfertigt, dessen Funktions67 68

BVerfG, Urteil vom 09. 11. 2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 124. BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107).

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fähigkeit a limine nur geringe Bedeutung zuzuschreiben. Vor allem aber greift eine rein gegenwartsbezogene Bewertung der Rolle und Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments und des Erfordernisses stabiler Mehrheiten zu kurz. Ziel eines vereinten Europas muss es sein, ein vom Volk legitimiertes Repräsentativorgan zu konstituieren, welches jene Akzeptanz erfährt, die am heutigen Tage den nationalen Parlamenten zukommt. Soll allerdings ein Parlament auf europäischer Ebene in Zukunft die umfassenden Kompetenzen einer europäischen Volksvertretung wahrnehmen, so muss bereits heute dessen Funktionsfähigkeit gewährleistet werden. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt trägt jeder Mitgliedstaat ein Stück Verantwortung für den Erfolg des dahin führenden Prozesses. Dieser Verantwortung kann er insbesondere dadurch gerecht werden, dass er das im nationalen Recht statuierte Wahlverfahren so ausgestaltet, dass ein handlungsfähiges Europäisches Parlament zustande kommen kann. Eine hierfür geeignete Maßnahme ist sicherlich der Erlass einer Sperrklausel, die zur Gewähr stabiler Mehrheitsverhältnisse im Plenum beiträgt. Dass der eine oder andere Mitgliedstaat dieser Verantwortung nicht nachkommt und das Europäische Parlament deshalb eine kaum überschaubare Vielzahl von Parteien umfasst, darf bei der Bewertung einer Klausel wie des bisherigen § 2 Abs. 7 EuWG gerade nicht berücksichtigt werden. Es wäre verfehlt, sich aufgrund der Versäumnisse anderer Staaten von der eigenen Verantwortung loszusagen. Es bleibt festzuhalten, dass ein starkes Europäisches Parlament jedenfalls in der Zukunft auf stabile Mehrheitsverhältnisse angewiesen sein wird, um die vielfältigen Aufgaben eines vereinten Europas in angemessener Weise erfüllen zu können. Es ist zum heutigen Zeitpunkt (noch) Aufgabe der Mitgliedstaaten selbst, den Weg dahin zu ebnen. In dieser Hinsicht lässt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur den nötigen Weitblick vermissen. Das Gericht verkennt vielmehr die europäischen Realitäten, die Strukturen und Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung des Parlaments der Europäischen Union. Es erkennt nicht die Notwendigkeiten eines in der Entwicklung steckenden Europas.69 Das Urteil vom 9. November 2011 muss insofern nicht als Urteil gegen die Sperrklausel, sondern als „Urteil gegen das Europaparlament“ verstanden werden.70 Dies kann jedoch weder das Europäische Parlament akzeptieren, noch kann der Bundestag dies reaktionslos hinnehmen.71 Das deutsche Parlament wird folglich erneut tätig werden müssen. Nicht nur aus eigenem Interesse an einem starken Europa, sondern auch aus Achtung vor den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.72

69 Vgl. Prantl, Ist eh schon wurst, Kommentar vom 09. 11. 2011, abzurufen unter: http:// www.sueddeutsche.de. 70 Prantl (Fn. 70). 71 Vgl. Hefty, Absichtliche Atomisierung, FAZ, 11. 11. 2011, S. 1. 72 So auch Hefty (Fn. 72), S. 1.

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d) Die Abkehr von den Sperrklauseln auf kommunaler Ebene Auch auf kommunaler Ebene fand vor nicht allzu langer Zeit ein Wandel der Rechtsprechung statt.73 Mitte der 1990er Jahre leitete der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen eine Wende hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bewertung kommunaler Sperrklauseln ein, als die dort zu dieser Zeit geltende 5 %Hürde bei Kommunalwahlen für verfassungswidrig erklärt wurde.74 Ebenso urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2008, als es, dem Vorbild weiterer Landesverfassungsgerichte folgend,75 die Sperrklausel bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein verwarf.76 Man wird anerkennen müssen, dass diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auch wenn das Gericht in seiner Funktion als Landesverfassungsgericht für das Land Schleswig-Holstein zusammentrat, für das gesamte Bundesgebiet prägend war, denn seither sind solche Quoren auf kommunaler Ebene jedenfalls in den Flächenländern völlig verschwunden. Dabei stellte das Gericht in seiner Entscheidung nicht generell den Rechtfertigungsgrund der Sicherung funktionsfähiger Volksvertretungen für Sperrklauseln in Frage. Vielmehr verwies es auf die bei Kommunalwahlen bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Besonderheiten, die eine Sperrklausel entbehrlich werden ließen. So sei zu berücksichtigen, dass Gemeindevertretungen und Kreistage nicht Parlamente im staatsrechtlichen Sinne darstellten, sondern Organe der Verwaltung seien, denen in erster Linie verwaltende Tätigkeiten anvertraut seien. Als solche übten die Gemeindevertretungen und Kreistage, anders als staatliche Parlamente, keine Gesetzgebungstätigkeit aus. Hieran ändere auch die kollegiale Struktur der Vertretungsorgane sowie die Befugnis zur Satzungsgebung nichts. Außerdem unterlägen die Entscheidungen der kommunalen Vertretungsorgane der Rechtsaufsicht.77 Das zentrale Argument war für das Bundesverfassungsgericht jedoch die Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in hauptamtlich verwalteten Gemeinden sowie der Landräte. Die unmittelbare Wahl durch das Volk, erklärt das Gericht,78 sichere dem (hauptamtlichen) Bürgermeister und dem Landrat eine besondere institutionelle Unabhängigkeit und nehme zugleich der kommunalen Vertretungskörperschaft ihre Kreationsfunktion hinsichtlich dieser Ämter. Damit bestehe für die kommunale Ebene insofern kein Bedürfnis für verlässliche Mehrheiten in der Vertretungskörperschaft, als die Vertretungskörperschaft kein der Regierung vergleichbares Gremium mehr stützen müsse. Insgesamt garantiere die Direktwahl des Bürgermeisters und des Landrats bereits weitgehend eine funktionierende Gemeinde- oder Kreisverwaltung 73 Vgl. beispielhaft für die frühere Rechtsprechung insbesondere das Urteil des BVerfG vom 23. 01. 1957 – 2 BvF 3/56, BVerfGE 6, 104 ff. 74 VerfGH NW, NWVBl. 1994, 453 ff., und NWVBl. 1999, 382 ff. 75 Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung aufgrund der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte der Länder bieten Heinig/Morlok (Fn. 21), 371 (376 ff.). 76 BVerfGE 120, 82. 77 BVerfGE 120, 82 (113). 78 BVerfGE 120, 82 (115 ff.).

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unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in den Kommunalvertretungen. Auf kommunaler Ebene könnten erforderlichenfalls der Bürgermeister oder Landrat allein (jedenfalls notdürftig) den Geschäftsgang aufrecht erhalten, während auf Bundes- und Landesebene eine entsprechende Absicherung nicht bestehe. Im Übrigen stellten in der Gemeinde- und Kreisordnung enthaltene Sonderregelungen die Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen auch dann sicher, wenn das übliche Quorum der Beschlussfähigkeit nicht zu erreichen sei. Zur Begründung der besonderen Lage auf kommunaler Ebene verweist das Bundesverfassungsgericht weiter auf die unterschiedliche Dauer der Wahlperioden der kommunalen Vertretungsorgane und der Ämter des Bürgermeisters bzw. des Landrates. Somit sei bereits im Kommunalrecht vorgesehen, dass der hauptamtliche Bürgermeister und der Landrat auch mit einem kommunalen Vertretungsorgan zusammenarbeiten könnten und müssten, in dem die parteipolitische Mehrheit nicht notwendigerweise der eigenen Parteizugehörigkeit entspreche. Durch die Abkopplung und Verselbständigung seiner eigenen Position werde ihm das aber auch ermöglicht.79 Es mag an dieser Stelle offen bleiben, ob dem Bundesverfassungsgericht in der Beurteilung zu folgen ist, kommunale Sperrklauseln ließen sich mit der Aufgabe der Sicherung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaft nicht rechtfertigen. Zweifel bleiben, nicht zuletzt angesichts der entgegengesetzten Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes.80 Dieser hebt hervor, dass den Räten in den Gemeinden und Kreisen auch nach den jüngeren Änderungen des Kommunalverfassungsrechts eine Vielzahl wesentlicher, für die umfassende Erfüllung der öffentlichen Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft notwendiger Zuständigkeiten verbleibt. So obliegen in der Regel ausschließlich der kommunalen Vertretungskörperschaft die gemeindliche Rechtsetzung, nämlich das Satzungsrecht, die Erhebung gemeindlicher Abgaben, der Erlass der Haushaltssatzung und damit die Festlegung der Schwerpunkte gemeindlicher Politik, die Regelungen über den Anschluss- und Benutzungszwang, die gemeindliche Wirtschaftsförderung oder die Aufstellung von Bauleitplänen.81 Kommunale Selbstverwaltung ist nicht dadurch definiert, dass die Verwaltung der Gemeinden und Landkreise sich für die Beschlussfassung über notwendige, ausschließlich dem Rat vorbehaltene Angelegenheiten wechselnde Mehrheiten zusammensucht. Kommt es mithin darauf an, dass wesentliche, für die Verwaltung des allseitigen örtlichen Wirkungskreises überaus wichtige, ausschließlich dem Rat vorbehaltene Angelegenheiten geregelt werden, so kann die Funktionsfähigkeit dieser Art gemeindlicher Selbstverwaltung durch eine übermäßige Zersplitterung des Vertretungsorgans gefährdet werden.82 Jedenfalls zeigen die

79 80 81 82

BVerfGE 120, 82 (117). SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97. Vgl. SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97, Rn. 28. Vgl. SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97, Rn. 29.

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folgenden Überlegungen, dass Sperrklauseln auch auf kommunaler Ebene zu rechtfertigen sind. 2. Die Integrationskraft der Parteien, oder: Die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes Neben der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretungen ist an einen weiteren „zwingenden Grund“ für den vom Wahlrechtsgesetzgeber durch den mit einer Sperrklausel bewirkten Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit politischer Parteien zu denken: die Integrationskraft großer Parteien oder, gleichbedeutend, die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes.83 Bevor auf diesen Gesichtspunkt eingegangen wird, ist zunächst ein verbreitetes Missverständnis auszuräumen. Integration bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die Aufnahme und konsequente Abbildung aller im Volke vertretenen Meinungen im Parlament.84 Dementsprechend ist die Kritik, die Sperrklausel wirke gerade einer Integration der Anhänger kleiner Parteien entgegen, da sie deren Interessen bei der Besetzung des Parlaments unberücksichtigt lasse, im hier zu erörternden Zusammenhang zurückzuweisen. Es geht bei diesem Rechtfertigungsgrund nicht um die Repräsentanz der Wähler kleiner Parteien, sondern um die Integration verschiedener Interessen innerhalb der großen Parteien. Durch diesen Vorgang wird die Zusammenarbeit innerhalb des Parlaments erleichtert, da die Parteien bereits in sich Kompromisse zwischen den verschiedenen Anliegen im Volke vollziehen.85 Dies resultiert daraus, dass sich eine Partei, die eine große Unterstützung erreichen will, von partikularen Interessen lösen muss, um möglichst eine Vielzahl von (potentiellen) Wählern anzusprechen. Das wird dadurch erreicht, dass deren Interessen aufgenommen und bereits intern zum Ausgleich gebracht werden. Folgerichtig sind es die großen Parteien, die in der Lage sind, aufgrund der Pluralität der von ihnen rezipierten Sachfragen dem Wähler ein Gesamtkonzept vorzustellen, welches letztlich Ausdruck der zuvor getroffenen Kompromisse zwischen den Belangen der Bürger ist. Dies wiederum ist wesentliche Aufgabe der Parteien, denn diese sollen nicht verschiedene (Teil-)Interessen gleich, sondern dasselbe (Ge83

A.A. Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 3), § 46, Rn. 40, der die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments als einziges seriöses Argument anerkennt; ebenso Krajewski (Fn. 27), 345 (351); Trute, in: v. Münch/Kunig (Fn. 21), Art. 38, Rn. 59. 84 So ist etwa die Integrationsfunktion der Grundmandatsklausel zu verstehen. Diese soll gewährleisten, dass verschiedene Anliegen des Volkes auch dann bei der Parlamentsbesetzung berücksichtigt werden, wenn die diese Anliegen vertretende Partei lediglich drei Direktmandate erreicht hat, jedoch nicht 5 % der Zweitstimmen. Die Grundmandatsklausel hat also ebenfalls die Funktion, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang zu sichern; vgl. dazu ausführlich Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 42. 85 BVerfGE 6, 84 (92); Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 370.

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samt-)Interesse verschieden verfechten.86 Was die Parteien unterscheiden soll, ist nicht eine Besonderheit, die sie allein vertreten, sondern es muss die Art und Weise sein, in der sie die sich stellenden Probleme zu lösen gewillt sind. Damit wird jedoch beinahe zwangsläufig die Orientierung der großen Parteien am Gemeinwohl einhergehen, denn eine Politik des Gemeinwohls ist schlechterdings eine unentbehrliche Voraussetzung für die innerparteiliche Aufnahme und die Ausgleichung sehr vieler und sehr verschiedener Anliegen des Volkes.87 Zwecks Erreichung ihres Zieles, möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen, sind die großen Parteien gehalten, auf die Bedürfnisse des Volkes einzugehen und ihre Politik an diesen Fragen zu orientieren, mithin dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Anders gesprochen: Die Parteien werden durch die Pluralität der Anliegen der Wählerschaft zur Orientierung am Gemeinwohl genötigt.88 Ein unbegrenzter Proporz würde demgegenüber die Möglichkeit schaffen, dass auch kleine Gruppen, die lediglich einseitige und partikulare Interessen verfolgen, eine parlamentarische Vertretung erlangten.89 Solchen reinen Interessenparteien fehlt in der Regel die Bereitschaft zu internen Kompromissen sowie der Integration abweichender Meinungen. Ihr Fokus liegt vielmehr in der Verfolgung der eigenen, oftmals auf einzelne Sachgebiete beschränkten Ziele, mit deren Durchsetzung sie nur einen vergleichsweise geringen Teil des Wahlvolkes ansprechen wollen. Zu einem schonenden Interessenausgleich ist man gerade nicht bereit, da man der eigenen Klientel hinsichtlich der Durchsetzung der Einzelinteressen verpflichtet ist. Findet nun aber ein interner Ausgleich nicht statt, da man auf weitergehende Bedürfnisse der Wählerschaft nicht einzugehen bereit ist, wird sich das Parteiprogramm auch nicht zwangsläufig am Gemeinwohl zu orientieren haben und dies auch nicht tun. Die konsequente Verfolgung partikularer und singulärer Interessen ist dem Gemeinwohl gerade nicht zuträglich.90 Zu den Verfassungserwartungen gehört allerdings, dass die Mitglieder der Volksvertretungen gemeinwohlorientiert handeln. Dementsprechend darf der Gesetzgeber – typisierend – Vorkehrungen treffen, die die Gewähr dafür bieten, dass eben nicht nur eng begrenzte – singuläre, partikuläre oder temporäre – Eigeninteressen vertreten werden.91 Eine Anknüpfung am Rückhalt der Partei in der Bevölkerung, wie sie die 5 % -Sperrklausel zugegebenermaßen typisierend vornimmt, ist insofern gerade ein sachgerechter Weg, da eben die Parteien, die nur einseitige und partikulare Interessen verfolgen, bei der Besetzung des Parlaments nicht berücksichtigt werden. Wenn der Gesetzgeber also annimmt, eine Partei oder Wählervereinigung, der es – auch über mehrere Wahlperioden hinweg – nicht gelingt, eine gewisse Mindestzahl an Wähler86 87 88 89 90 91

Krüger (Fn. 86), S. 373. Krüger (Fn. 86), S. 376. Krüger (Fn. 86), S. 376. BVerfGE 6, 84 (92); 51, 222 (236). Vgl. BVerfGE 6, 84 (92). SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97, Rn. 32; BVerfGE 6, 84 (92).

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stimmen auf sich zu vereinigen, werde von der Wählerschaft offenbar nicht als Repräsentant einer Pluralität von Interessen betrachtet und ihr Programm werde von der Wählerschaft offenbar nicht dahin gedeutet, dass es auf Dauer verschiedene, miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Bedürfnisse der Wählerschaft aufgreift und sie gemeinwohlorientiert ausgleicht, handelt er nicht lebensfern oder gar willkürlich.92 Überdies ist zu beachten, dass die Nichtberücksichtigung derart einseitig ausgerichteter Parteien bei der Besetzung der Parlamente vielfach kaum Einfluss auf den parlamentarischen Willensbildungsprozess haben dürfte, ist es doch gerade eine der charakteristischen Schwächen der reinen Interessenparteien, dass sie über die von ihr verfolgten Partikularinteressen hinaus zu weiteren Themen im Parlament mangels Interesse und Kompetenz nicht in angemessener Weise Stellung nehmen können.93 Es erscheint kaum denkbar, dass eine kleine Gruppe mit marginaler Anerkennung in der Bevölkerung im Parlament zu teilweise hochkomplexen Sachfragen verantwortungsvoll Stellung nehmen könnte, obwohl sie sich mit diesen Fragen bis dato noch nie beschäftigt hat. Zugleich wird sich für die Vertreter derartiger Kleinstgruppen hinsichtlich solcher ihr fremden Themen die Frage stellen, auf welchem Wege sie ihrer Wählerschaft am ehesten gerecht werden sollte. Es wäre eine effektive und dauerhafte Rückbindung an die „Basis“ erforderlich, die wohl auch eine internetaffine Partei nicht zu leisten imstande ist. Hinsichtlich der Quoren auf Bundes- und Landesebene liefern diese Überlegungen neben dem bereits durchgreifenden Rechtfertigungsgrund der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Parlamente „nur“ ein weiteres Argument zur Legitimation von Sperrklauseln. Derjenige, der für die kommunale Ebene hingegen die Sicherungswirkung der Sperrklausel für die Funktionsfähigkeit der Volksvertretung nicht anzuerkennen vermag, wird vielleicht eher den Gesichtspunkt der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges als Rechtfertigung einer Sperrklausel (auch) auf kommunaler Ebene akzeptieren können. Einige Überlegungen mögen die Validität dieses Gesichtspunktes noch unterstreichen: Eine kommunalwahlrechtliche Regelung, die dazu führen kann, dass die Wählerschaft eines Straßenzuges oder der Siedlung eines Ortsteils Sitz und Stimme in den über die Belange dieses Straßenzuges oder dieser Siedlung entscheidenden Gremien erhält, trägt die Gefahr in sich, dass Gruppen eine parlamentarische Vertretung erlangen, die nicht ein am Gemeinwohl orientiertes politisches Programm vertreten, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen verfechten.94 Vertreter solcher Gruppen werden regelmäßig allein an der Durchsetzung der speziellen Bedürfnisse ihres 92

SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97, Rn. 32. Geradezu beispielhaft kann hierfür die Piratenpartei angeführt werden, die unumwunden zugibt, auf verschiedenste politische Fragen keine Antwort geben zu können. So erklärte der Parteivorsitzende Sebastian Nerz gegenüber dem Deutschlandradio Kultur, noch keine offizielle Meinung zur Eurokrise, Wirtschaftspolitik und Außenpolitik zu haben, vgl. den Bericht vom 22. 10. 2011, „Wir haben kein Konzept“, abzurufen unter: http://www.dradio.de. 94 SaarlVerfGH, Urteil vom 14. 07. 1998 – Lv 4/97, Rn. 32; anders jedoch BVerfGE 120, 82 (109 f.). 93

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begrenzten Teils der Gemeinde interessiert sein. Eine umfassende politische Arbeit in der Vertretungskörperschaft wollen sie gerade nicht erbringen, was letztlich nicht mit den von der Verfassung statuierten Anforderungen an eine Volksvertretung zu vereinbaren ist. Damit nicht genug: Über das reine Desinteresse hinaus birgt diese gleichgültige Haltung gegenüber sonstigen Sachfragen noch weitere Gefahren. So liegt es auf der Hand, dass Vertreter anderer, eigene Ziele verfolgender Parteien in diesen für die Interessenparteien unbedeutenden Dingen gerade auf deren Vertreter einwirken werden, um die erforderlichen Mehrheiten ohne Kompromisse innerhalb des Organs durchsetzen zu können. Gerade ihre gleichgültige Haltung zu den ihre Interessen nicht tangierenden Sachthemen macht diese Abgeordneten also zum Spielball der anderen Parteien, was letztlich dazu führen kann, dass die erforderlichen Stimmen mit Hilfe politischer Konzessionen erkauft werden. Dabei liegt auf der Hand, dass solche Beschlüsse, die aufgrund „zusammengekaufter“ Mehrheiten gefasst werden, dem Gemeinwohl durchaus schaden können.95 Daher ist auch das 5 %-Quorum auf kommunaler Ebene verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Gewähr für eine am Gemeinwohl orientierte Volksvertretung ist ein „zwingender Grund“, der dem Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit politischer Parteien die Waage zu halten vermag.

IV. Die Alternativstimme: Wirklich eine Alternative? Wie auch immer man nun letztlich zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Sperrklauseln stehen mag, an einem Thema kommt man bei der Untersuchung von deren Problematik nicht vorbei, nämlich der Frage der Modifikation des geltenden Wahlrechts durch die Einführung einer sog. Eventual- oder Alternativstimme. Es wird zunehmend die Auffassung vertreten, dem Wähler solle oder müsse gar zusätzlich zur ihm bisher zugebilligten Listenstimme eine weitere, alternative Stimmabgabe auf die Listen der Parteien offen stehen.96 Es wäre damit jedem Bürger möglich, neben der Abgabe der „Hauptstimme“ für die favorisierte Parteiliste einen alternativen Willen zu äußern und eine zweite Partei, sozusagen „ersatzweise“, zu unterstützen. Die Auszählung müsste anschließend auf die Reihenfolge dieser Stimmvergabe Rücksicht nehmen, indem zunächst das Ergebnis der „Hauptstimmen“ ermittelt würde und sodann festzustellen wäre, welche Parteien an der 5 %Hürde gescheitert wären. Alle jene Wählerstimmen, die in ihrem Hauptvotum auf Parteien entfielen, die aufgrund der 5 %-Hürde nicht ins Parlament einzögen, wären sodann erneut unter Berücksichtigung der Alternativstimme auszuwerten 95

So insbesondere das Sondervotum der Richter Finkelnburg, Driehaus und Töpfer zur Entscheidung des VerfGH Berlin vom 17. 03. 1997 – VerfGH 90/95 –, JR 1998, 140 (145). 96 Vgl. zur Möglichkeit einer alternativen Stimmabgabe insbesondere Linck, Zur verfassungsnäheren Gestaltung der 5-%-Klausel, DÖV 1984, 884 ff.

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und dem zuvor ermittelten Endergebnis hinzuzurechnen. Auf diese Weise wäre zwar nach wie vor das Votum der Hauptstimme verloren, der Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit würde jedoch signifikant gemindert, denn der Wähler hätte die Möglichkeit, zumindest über die Eventualstimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments zu nehmen. Der Gang zur Urne wäre damit nicht völlig vergebens gewesen. Trotz dieses versöhnlich anmutenden Ergebnisses wurde eine solche Modifikation des Wahlrechts von der Praxis bis dato zu Recht nicht umgesetzt. So muss man sich bereits unabhängig von jeder verfassungsrechtlichen Bewertung die Frage stellen, ob bei einer Parlamentswahl als entscheidendem Akt der demokratischen Willensbildung ein Eventualvotum der Bürger angemessen ist. Der sonst nicht zutage tretende Volkswille soll gerade durch die Wahl manifestiert werden, Vorbehalte und Rückfallpositionen sind hierbei unangebracht.97 Normativ untermauern lässt sich diese Einschätzung durch den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, denn hiernach muss eine Stimmabgabe vorbehaltlos und bedingungsfrei erfolgen, weshalb der skizzierte Wahlmodus auch verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist.98 Überdies ist zu bezweifeln, dass der Berücksichtigung eines hilfsweise geäußerten Willens die gleiche Integrationskraft zukäme wie der Hauptstimme. Man würde auf diese Weise ein „Votum zweiter Klasse“ einführen. Was er davon zu halten hätte, wüsste der Wähler wohl selbst nicht so recht, denn seine politische Überzeugung würde er mit der Hauptstimme ausdrücken. Die Abgabe der Eventualstimme wäre zumeist lediglich die Benennung des geringeren Übels, seine Interessen sähe der Bürger im Parlament aufgrund des Scheiterns der Partei der Hauptstimme nach wie vor nicht vertreten. Betrachtet man das geschilderte Wahlverfahren näher, wird außerdem deutlich, dass die Ermittlung des Endergebnisses durch die zusätzliche Auswertung der Eventualstimme wesentlich verzögert würde. Könnte man dies noch mit der Erwägung rechtfertigen, zur Durchsetzung der Wahlgleichheit als elementaren Grundsatzes des Wahlrechts dürften Kosten und Mühen nicht gescheut werden, stünde man darüber hinaus auch technischen Fragen gegenüber. So dürften die Eventualstimmen wohl nicht unabhängig von den Hauptstimmen ausgezählt werden, sondern es müsste eine Kombination beider Stimmen ermittelt werden, was bei der Vielfalt möglicher Verbindungen die Wahlvorstände vor schier unlösbare Aufgaben stellen dürfte.99 Weiterhin wäre bei einem solchen Wahlmodell zu befürchten, dass der Wahlvorgang zur Abrechnung mit den großen (regierenden) Parteien instrumentalisiert würde, indem der Bürger seine Hauptstimme zunächst vermeintlich hoffnungslosen Parteien gäbe, um seinen Unmut bei der Auszählung der Hauptstimmen zum Ausdruck zu bringen. Bestärkt durch die Gewissheit, mit der Eventualstimme einen 97 98 99

Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 37. Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 37. Hierzu ausführlich: Schreiber (Fn. 25), § 6, Rn. 37.

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Trumpf in der Hinterhand zu haben, würden die Bürger letztlich mit ihrer Hauptstimme Parteien unterstützen, die bei der Zubilligung nur einer Stimme einen solchen Zuspruch nie erhalten hätten. Der Wahlvorgang würde zur persönlichen Abrechnung oder, schlimmer noch, zum Spiel mit der Macht. Auch wenn daher die Einführung einer zusätzlichen Alternativstimme eine Abmilderung des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit durch die Sperrklauseln bedeutete, brächte dieser Wahlmodus neue, schwerwiegende Probleme mit sich. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Sperrklauseln im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind, ist kein Grund ersichtlich, das derzeit bestehende Wahlverfahren um ein solches höchst zweifelhaftes Ersatzvotum anzureichern. Es besteht in dieser Hinsicht schlechterdings kein Handlungsbedarf.

V. Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Gesetzgeber mit der Verwendung von Sperrklauseln einen angemessenen Ausgleich zwischen den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien auf der einen Seite und dem Erfordernis der Sicherstellung einer aktionsfähigen Volksvertretung auf der anderen Seite gefunden hat. Die 5 %-Hürden verhindern, dass Parteien oder Wählervereinigungen, die nur wenige Anhänger haben, zum Sand im Parlamentsgetriebe werden.100 Außerdem spornen sie Kleinstparteien zum Ausbau ihrer Anziehungskraft und zu nachhaltigem Bemühen um die Wählerschaft an.101 Dass das Bundesverfassungsgericht sie gleichwohl auf europäischer als auch auf kommunaler Ebene für verfassungswidrig erklärt hat, muss bedenklich stimmen, bieten diese Regelungen doch seit Jahrzehnten die Gewähr für stabile politische Verhältnisse in unserem Land. Eines darf jedoch nicht verkannt werden: Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet nicht die Abkehr vom Institut der Sperrklausel an sich, denn es waren weniger oder sogar nicht die etablierten Rechtfertigungsansätze für die Klausel, die vom Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt wurden. Vielmehr sind es die vermeintlich besonderen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse auf europäischer und kommunaler Ebene, die das Gericht zu jener Rechtsprechung bewogen. Eine Abkehr von den Quoren auf Bundes- und Landesebene ist indes nicht zu erwarten, denn gerade hier besteht der Bedarf nach diesem Korrektiv nach wie vor in besonderem Maße.

100 101

Vgl. Hefty (Fn. 72), S. 1. Hefty (Fn. 72), S. 1.

IV. Nachhaltigkeit und Umweltschutz

Hauptsache wir haben einen guten Plan! Effektiver Rechtsschutz zur Einhaltung von Immissionsgrenzwerten? Von Chris Backes

I. Einleitung Meinhard Schröder hat Völkerrecht, Europarecht, Umweltrecht und nationales Staats- und Verwaltungsrecht gelehrt. Es gibt etliche Themen und Fragestellungen, bei deren Behandlung alle diese Diziplinen vonnöten sind. Manchmal prallen Völker- und Europarecht einerseits und nationales Staats- und Verwaltungsrecht andererseits aufeinander. Dann muss man einen solch breiten fachlichen Horizont haben wie der Jubilar, um den Hintergrund des Problems überhaupt zu verstehen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Hier soll eine Fragestellung behandelt werden, bei der das nationale Umweltrecht und das allgemeine Verwaltungsrecht immer noch keine ausreichenden Antworten auf europarechtliche Fragen (mit teilweise internationalrechtlichem Hintergrund) gefunden zu haben scheinen. Seit jeher kennt das internationale, europäische und nationale Umweltrecht einen quellenbezogenen und einen qualitätsbezogenen, planerischen Ansatz.1 Neben dem verfahrensbezogenen Ansatz als dritter Säule umweltrechtlicher Regulierung (z. B. Umweltverträglichkeitsprüfung, Konsultationspflichten), der auf allen Ebenen ausgearbeitet wurde, hat das deutsche Umweltrecht sich lange auf den emissionsbezogenen, also den quellenbezogenen Ansatz konzentriert. Zwar kennt auch das deutsche Umweltrecht schon seit Jahrzehnten qualitätsbezogene Instrumente, wie z. B. Umweltqualitätsstandards, Pläne und Programme. Bis vor einigen Jahren wurde die Steuerungswirkung dieser Instrumente jedoch eher als gering angesehen.2 Vielfach wurde sogar, meines Erachtens zu Unrecht, ein Gegensatz zwischen deutscher emissionsbezogener und europäisch immissionsbezogener Regulierung angenommen.3 Ein wichtiger Grund dafür mag (gewesen) sein, dass den Plänen und Programmen, die zur Sicherung und Verbesserung der Umweltqualität erstellt werden mussten, in der Regel keine bindende Außenwirkung zukam und Rechtsschutzmöglichkeiten aufgrund des Erfordernisses einer subjektiven Rechtsverletzung nicht bestanden. 1

s. z. B. Kloepfer, Umweltrecht, 1. Aufl, 1989, S. 97 ff. Z. B. Jarass, Luftqualitätsrichtlinien der EU und die Novellierung des Immissionsschutzrechts, NVwZ 2003, 257 (258). 3 Z. B. Jarass (Fn. 2), 257 (258). Durner/Ludwig, Paradigmenwechsel in der europäischen Umweltrechtsetzung?, NuR 2008, 457. 2

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Im europäischen Umweltrecht kommt den qualitätsbezogenen Instrumenten als gleichwertige zweite Schiene umweltrechtlicher Regulierung jedoch eine größere Bedeutung zu. Spätestens seit den „TA Luft-Urteilen“ des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 1991 ist deutlich, dass das deutsche Rechtsschutzsystem Schwierigkeiten hat, den Anforderungen des europäischen Umweltrechts an die Instrumentierung der Umweltqualitätsziele gerecht zu werden. Im Janecek-Urteil hat der EuGH sich zum zweiten4 Mal zur Frage des Rechtsschutzes des Bürgers bei der Umsetzung und Operationalisierung von Umweltqualitätszielen geäußert. Wieder betraf das Verfahren das deutsche Recht und wieder zeigte sich, dass die Instrumente des europäischen Umweltrechts, vor allem die Anforderungen an eine effiziente Umsetzung und Anwendung und einen effektiven Rechtsschutz, dabei nur schwer in die deutsche Rechtsdogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts und Verwaltungsprozessrechts einzufügen sind. Die Instrumentierung des qualitätsbezogenen Ansatzes des europäischen Umweltrechts ist keineswegs ein typisch deutsches oder überwiegend deutsch geprägtes Problem. Auch viele andere EU-Länder tun sich schwer, zu einer Umsetzung und Anwendung zu kommen, die die Einhaltung der Grenzwerte sichert und den europarechtlichen Erfordernissen effektiven Rechtsschutzes Genüge tut. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob mit dem Janacek-Urteil und den darin benannten Ansprüchen des Bürgers gegenüber der Verwaltung und den Gerichten befriedigende Lösungen gefunden worden sind und ob der gewährte Rechtsschutz in der Lage ist, die ihm zugedachten Funktionen zu erfüllen. Dabei werde ich mich vor allem auf die Operationalisierung der Grenzwerte für die Luftqualität konzentrieren.

II. Die TA Luft-Urteile und ihre Folgen 1. Die TA Luft-Urteile In seinen Urteilen C-361/885 und C-59/896 vom 30. Mai 1991 entschied der EuGH, dass die Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen. Dies bedeute, dass „die Betroffenen in allen Fällen, in denen die Überschreitung der Grenzwerte die menschliche Gesundheit gefährden könnte, in der Lage sein müssen, sich auf zwingende Vorschriften zu berufen, um ihre Rechte geltend machen zu können.“ Die Betroffenen müssten ihre Rechte gegebenenfalls auch vor den Gerichten geltend machen können. „Im übrigen ist die Festlegung von Grenzwerten in einer Vorschrift, deren Verbindlichkeit unbestreitbar ist, auch deshalb geboten, damit all jene, deren Tätigkeiten Immissionen zur Folge haben kön4 Die beiden Entscheidungen zur TA Luft werden hier wegen ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit als ein Moment der Einflubnahme durch den EuGH gerechnet. 5 EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567. 6 EuGH, Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607.

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nen, genau wissen, welche Verpflichtungen sie haben.“, so befand der Gerichtshof.7 Die TA Luft-Urteile enthalten damit einerseits weitreichende Forderungen an die Umsetzung und den Rechtsschutz vor nationalen Gerichten. Andererseits wird nicht deutlich, wie die Grenzwerte in den nationalen Rechtsordnungen so umgesetzt werden sollen, dass „all jene, deren Tätigkeiten Immissionen zur Folge haben können, genau wissen, welche Verpflichtungen sie haben.“ Da der Adressat der Grenzwerte der Staat und nicht der einzelne Emittent ist, wird diesem Gebot nicht schon genügt, wenn die Grenzwerte in einer Rechtsverordnung mit gesetzlicher Bindungswirkung festgelegt werden. Naheliegend scheint dann, die Grenzwerte als verbindliche Normen für Entscheidungen über konkrete Vorhaben anzusehen. Ein solches Gebot lässt sich jedoch den Urteilen wohl nicht direkt entnehmen. 2. Unterschiedliche Umsetzung der TA Luft-Urteile Die weitgehenden Forderungen des Gerichtshofs sind in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich umgesetzt worden. In einzelnen Ländern, wie z. B. Schweden und den Niederlanden, hat man daraus gefolgert, dass Aktivitäten, die Luftverschmutzung verursachen und zur (drohenden) Überschreitung der Werte beitragen, nicht zugelassen werden können.8 Als 2005 die strengen Grenzwerte für Feinstaub in Kraft traten, hat dies zum (zeitweiligen) Stopp zahlreicher Vorhaben geführt und „viel Staub aufgewirbelt“. Mittlerweile ist die strikte Bindungswirkung der Grenzwerte als Entscheidungskriterien für die Zulassung von Vorhaben abgeschafft worden. In anderen Mitgliedsstaaten spielten die Grenzwerte keine Rolle bei der Zulassung von Vorhaben. In Deutschland gilt eine beschränkte Bindungswirkung für nach dem BImSchG genehmigungsbedürftige Anlagen. Für andere Vorhaben, die negative Auswirkungen auf die Luftqualität haben, hat das Bundesverwaltungsgericht eine Bedeutung der Grenzwerte für Zulassungsentscheidungen zwar grundsätzlich nicht abgelehnt, aber durch seine Rechtsprechung zum Vorrang der planerischen Konfliktbewältigung praktisch so gut wie ausgeschlossen. Demnach muss die Einhaltung der Grenzwerte grundsätzlich nicht vorhabenbezogen, sondern durch einen Plan gewährleistet werden.9 Insbesondere in Situationen, in denen noch kein ausreichender Luftreinhalte- oder Aktionsplan erstellt worden ist, können Vorhaben trotz (drohender) Grenzwertüberschreitung zugelassen werden, solange der Konflikt mit den Grenzwerten durch den später noch aufzustellenden Plan noch gelöst werden kann.10 Dies hat das BVerwG dahingehend konkretisiert, dass nur dann dem Gebot der Konfliktbe7

Leitsatz 2 beider Urteile. Siehe Backes/Van Nieuwerburgh/Koelemeijer, Transformation of the first daughter directive on air quality in several EU Member States and its application in practice, EELR 2005, 157 ff., und Backes, Umsetzung, Anwendung und Vollzug Europäischer Umweltqualitätsnormen, in: FS für Eckard Rehbinder, 2007, S. 669 ff. 9 Jarass hingegen ging 2003 noch von einer strikten Bindungswirkung der Grenzwerte für Entscheidungen über Anlagen und Verkehrswege aus, Jarass (Fn. 2), 257 (265). 10 BVerwG, NVwZ 2004, 1237; BVerwG, Rs. 9 A 20.08, Rn. 116 ff. 8

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wältigung nicht nachgekommen wird, wenn ein Vorhaben für sich alleine schon zu einer Grenzwertüberschreitung führt.11 Dies dürfte jedoch nie, oder so gut wie nie, der Fall sein. Wenn ich dies richtig beobachtet habe, haben in der rechtswissenschaftlichen Literatur nur einige wenige Stimmen eine weitergehende Bindung von Entscheidungen über konkrete Vorhaben an Luftqualitätsgrenzwerte verlangt, zumindest in Fällen, in denen gleichzeitig mit der Zulassungsentscheidung keine Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Kompensation der zusätzlichen Emissionen führen.12 Ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch des Bürgers auf Einhaltung der Luftqualitätsgrenzwerte in Form einer Abwehrklage gegen luftverschmutzende Vorhaben, die zur Grenzwertüberschreitung beitragen, besteht also weder in Deutschland noch (mittlerweile) in den meisten anderen Mitgliedsstaaten. Daher muss näher betrachtet werden, ob ein Anspruch auf Planerstellung besteht und ob ein solcher Anspruch die Einhaltung der Grenzwerte sichern kann.

III. Das Janecek-Urteil 1. Der Anspruch auf Planerstellung Im Janecek-Urteil hat der Gerichtshof hierzu Stellung genommen und wichtige Fragen des Luftqualitätsrechts geklärt, andere aber offen gelassen oder sogar erst aufgeworfen. Wie bekannt entschied der EuGH, dass die „betroffenen Personen“ aufgrund von Art. 7 Abs. 3 der damaligen Richtlinie 96/62/EG einen gerichtlich einklagbaren Anspruch haben auf Aufstellung eines Aktionsplans, wenn eine Gefahr einer Überschreitung der Grenzwerte oder der Alarmschwellen aus der Richtlinie besteht.13 Dabei ist es unbedeutend, ob die Betroffenen neben dem Anspruch auf Aufstellung eines Aktionsplanes noch andere rechtliche Möglichkeiten haben, auf die Einhaltung der Grenzwerte hinzuwirken. Was den Inhalt der Aktionspläne betrifft, stellte der Gerichtshof fest, dass die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen, die garantieren, dass es zu keinerlei Überschreitung kommt. Vielmehr besteht ein Anspruch auf Maßnahmen, „die geeignet sind, die Gefahr einer Überschreitung und ihre Dauer unter Berücksichtigung aller zur gegebenen Zeit vorliegenden Umstände und der betroffenen Interessen auf ein Minimum zu reduzieren.“ Dabei kommt den Behörden ein, freilich nicht unbegrenzter, Ermessenspielraum zu. Zum einen besteht also ein gerichtlich einklagbarer Anspruch auf Planerstellung, zum anderen besteht in einer solchen Situation kein unbedingter Anspruch auf Einhaltung der Grenzwerte. 11

BVerwG, NVwZ 2005, 803. So Sparwasser/Stammann, Anforderungen an die Planung durch Luftqualitätsvorgaben der EU?, ZUR 2006, 169 (174), noch weitergehend SRU, Sondergutachten Umwelt und Straßenverkehr, 2005, Rn. 450 ff. 13 EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008. I-6221, Rn. 35 ff. (Janecek). 12

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2. Relativierung des Anspruchs auf Einhaltung der Grenzwerte? Letzteres scheint auf den ersten Blick eine Relativierung des Rechtsschutzanspruches zur Durchsetzung der Grenzwerte und möglicherweise auch eine Relativierung des materiellen Normgehaltes der Grenzwerte zu sein. Obwohl der Gerichtshof in den TA Luft-Urteilen befunden hatte, dass die Grenzwerte zumindest auch dem Schutz der Gesundheit dienen und Betroffenen daher einklagbare Rechte verleihen, werden diese einklagbaren Rechte, so scheint aus dem Janecek-Urteil zu folgen, möglicherweise nur konditional gewährt. Der Bürger kann vor Gericht lediglich die Erstellung eines Planes verlangen, und auch nur eines Planes, der zum Ziel hat, die Grenzwertüberschreitungen, unter Abwägung aller Umstände, soweit wie möglich zu beschränken. Wenn nun selbst der Plan nicht die Einhaltung der Grenzwerte garantieren muss und die in den Plan aufzunehmenden Maßnahmen auch noch mit allen anderen Belangen abgewogen werden müssen, dann scheint ein gerichtlich durch betroffene Bürger einklagbarer Anspruch auf unbedingte Einhaltung der zum Schutz der Gesundheit festgelegten Grenzwerte nicht (mehr) zu bestehen. Hiergegen könnte eingewandt werden, dass der EuGH im Janecek-Verfahren lediglich zu urteilen hatte über die in Art. 7 Abs. 3 der damaligen Rahmenrichtlinie Luftqualität festgelegte Pflicht zur Erstellung von Aktionsplänen14 und bedauerlicherweise nicht eingegangen ist auf die Verpflichtung zur Einhaltung der Grenzwerte selbst. So verpflichteten Art. 2 Richtlinie 96/62/EG und Art. 5 der ersten Tochterrichtlinie (Richtlinie 1999/30/EG) und verpflichten jetzt Art. 12 und 13 der Richtlinie 2008/50/EG primär zur Einhaltung der Grenzwerte. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 96/62/EG beinhaltete lediglich eine weitergehende Verpflichtung, die additionell eintritt, wenn die Grenzwerte, in Verletzung der Verpflichtung aus Art. 2, nun doch nicht eingehalten werden. Es könnte also sein, dass der Gerichtshof, wenn er denn gefragt würde, urteilen würde, dass der Bürger seine aus Art. 12 und 13 Richtlinie 2008/50/EG sich ergebenden Rechte ebenfalls vor Gericht einklagen können muss. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass einerseits ein sich aus Art. 12 und 13 Richtlinie 2008/50/ EG15 ergebender gerichtlich einklagbarer Anspruch auf unbedingte Einhaltung der Grenzwerte bestehen soll und andererseits gleichzeitig die Aktionspläne, deren Aufstellung Betroffene bei Überschreitung der Grenzwerte verlangen können, nur mit anderen Belangen abwägbare Maßnahmen zu einer möglichst zügigen Beendung der Grenzwertüberschreitung beinhalten brauchen. Außerdem enthält die Begründung des Gerichtshofs die Erwägung, dass der Anspruch auf Planerstellung unabhängig davon besteht, ob dem Bürger in einem Mitgliedsstaat auch noch andere Instrumente zur Durchsetzung der Grenzwerte zur Verfügung stehen. Man könnte aus dieser Erwägung ableiten, dass solche anderen Ansprüche, also z. B. ein gerichtlich einklagbarer Anspruch auf unbedingte Einhaltung der Grenzwerte, EU-rechtlich jedenfalls nicht vorgeschrieben sind. Was den Rechtsschutz betrifft, so scheinen Art. 2 und 14 Diese Vorschrift ist mittlerweile ersetzt durch Art. 23 der Richtlinie 2008/50/EG. Inhaltlich hat sich damit aber, soweit hier relevant, nichts wesentlich geändert. 15 Bzw. vormals Art. 2 Richtlinie 96/62/EG und Art. 5 Richtlinie 1999/30/EG.

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Art. 7 der Richtlinie 1996/62/EG (und derzeit einerseits Art. 12, 13 und andererseits Art. 23 und 24 der Richtlinie 2008/50/EG) immer im Zusammenhang gelesen werden zu müssen. Ein gerichtlich einklagbarer Anspruch auf Einhaltung der Grenzwerte besteht demnach nicht. Daher kann man das Janecek-Urteil als eine Einschränkung der Rechtsschutzgewährung gegenüber den TA Luft-Urteilen auffassen. Hinzu kommt, dass, was Feinstaub betrifft, die Verpflichtung zur Aufstellung von Aktionsplänen bei (drohender) Grenzwertüberschreitung, und damit auch die Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers, durch das Inkrafttreten der neuen Rahmenrichtlinie zur Luftqualität (Richtlinie 2008/50EG) abgeschwächt worden ist. Eine unbedingte Pflicht zur Aufstellung von „Plänen mit kurzfristigen Maßnahmen“ (in anderen Sprachen immer noch „Aktionspläne“ genannt) gibt es nur noch bei einer (drohenden) Überschreitung der Alarmschwellen für Ozon, Schwefeldioxid und Stickstoffdioxid. Werden die Grenzwerte für Feinstaub überschritten, ist das Aufstellen von Aktionsplänen in das Ermessen der Mitgliedsstaaten gestellt. Da es im deutschen Recht keinen gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Aufstellung eines Planes gebe und die europäische Planverpflichtung nicht unbedingt sei, folgern Sparwasser und Engel hieraus, dass Bürger in Deutschland auch aus dem Europarecht keinen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung hinsichtlich der Erstellung von Aktionsplänen für Feinstaub ableiten können.16 Diese Schlussfolgerung mag bezweifelt werden. Auch bei Richtlinienverpflichtungen mit Ermessensspielraum erkennt der Gerichtshof seit der Kraaijeveld-Entscheidung ein auf dem EU-Recht beruhendes Klagerecht des Bürgers an, wenn die Grenzen des Ermessensspielraums überschritten werden.17 Obwohl dies dogmatisch vielleicht nicht genau dasselbe ist wie eine Ermessensreduzierung auf Null, läuft die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs praktisch genau hierauf hinaus. Auch im Falle der Aktionspläne kann es Situationen geben, in denen die rasche Beendigung der Überschreitung von Grenzwerten nur mit Hilfe von Aktionsplänen gewährleistet werden kann. Art. 23 Richtlinie 2008/50/EG verpflichtet bei einer Überschreitung der Grenzwerte für Feinstaub wohl unbedingt zur Erstellung von Luftreinhalteplänen, die „geeignete Maßnahmen“ enthalten müssen, „damit der Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich gehalten werden kann.“ Die Aufstellung solcher Pläne kann der Bürger also auch einklagen. Der Ermessensspielraum, den die Gerichte den Behörden für den Inhalt solcher Luftreinhaltepläne einräumen müssen, ist wahrscheinlich (etwas) weiter als für den Inhalt eines Aktionsplanes.18 16 Sparwasser/Engel, Aktionspläne des Luftreinhalte- und Lärmschutzrechts im Spannungsfeld zwischen deutschem und europäischem Recht, NVwZ 2010, 1513 (1519). 17 EuGH, Rs. C-72/95, Slg. 1996, I-5403 (Kraaijeveld), bestätigt z. B. durch EuGH, Rs. C-127/02, Slg. 2004 I-7405 (Landelijke Vereniging tot behoud van de Waddenzee). s. hierzu z. B. Jans e.a., Europeanisation of Public Law, 2007, S. 70 f. 18 Zum Unterschied zwischen Aktions- und Luftreinhalteplänen s. Kugler, Sind die bundesdeutschen Aktionspläne nach § 47 II BImSchG mit dem Europarecht vereinbar?, NVwZ 2010, 279 (282).

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Insgesamt hat also das Janecek-Urteil den Anspruch auf gerichtliche Einklagbarkeit der Einhaltung der Grenzwerte deutlich reduziert auf einen Anspruch auf Planerstellung. In Verbindung mit den Art. 23 und 24 Richtlinie 2008/50/EG besteht nunmehr, was Feinstaub betrifft, in der Regel nicht einmal mehr ein unbedingter Anspruch auf die Aufstellung eines Aktionsplanes mit kurzfristig wirksamen Maßnahmen. Vom Recht der „Betroffenen in allen Fällen, in denen die Überschreitung der Grenzwerte die menschliche Gesundheit gefährden könnte, … sich auf zwingende Vorschriften zu berufen, um ihre Rechte geltend machen zu können.“19 ist anscheinend nicht so viel mehr übrig geblieben. 3. Relativierung der Grenzwerte selbst? Eine weitergehende Frage ist dann, ob das Janecek-Urteil nicht nur eine Verdeutlichung und Beschränkung der sich aus der Richtlinie ergebenden Rechtsschutzansprüche bedeutet, sondern auch den materiellen Normgehalt der Grenzwerte relativiert. Bis vor dem Janecek-Urteil hatte der Gerichtshof immer wieder betont, dass Grenzwerte strikt einzuhalten sind und hatte, meist in Vertragsverletzungsverfahren, alle Argumente der Mitgliedsstaaten, die darlegen wollten, warum eine hundertprozentige Erfüllung von Umweltqualitätsgrenzwerten nicht möglich oder nicht verhältnismäßig sei, nachdrücklich zurückgewiesen.20 Jetzt scheint die Einhaltung der Grenzwerte möglicherweise unter den Verhältnismäßigkeits- und Abwägungsvorbehalt gestellt worden zu sein. Eine solche Interpretation würde jedoch außer Acht lassen, dass der EuGH in seinem Urteil, bedauerlicherweise, ausschließlich auf Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 1996/62/EG eingeht, und nicht auf die aus Art. 2 sich ergebenden Rechtspflichten. Wenn geltende Grenzwerte überschritten werden, bedeutet dies nach wie vor eine Verletzung der entsprechenden Richtlinienbestimmungen. Eine solche Überschreitung kann z. B. Inhalt eines Vertragsverletzungsverfahrens sein. Anders als hinsichtlich der Rechtsschutzgewährung, schließen sich die Verpflichtungen auf Einhaltung der Grenzwerte und auf Aufstellung und Durchführung von Aktionsplänen im Falle einer Grenzwertüberschreitung nicht aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich. Zumindest rechtlich bedeutet das Janecek-Urteil daher keine Relativierung des materiellen Normgehaltes der Grenzwerte. Faktisch könnte dies jedoch gleichwohl der Fall sein. Wenn der Bürger keinen gerichtlich einklagbaren Anspruch auf Einhaltung der Grenzwerte hat und auch keinen Anspruch auf Abwehr von staatlichen Maßnahmen, die zu einer Grenzwertüberschreitung beitragen oder die Dauer der Grenzwertüberschreitung verlängern,21 so kann nur noch die Kommission durch Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens auf die Einhaltung der Verpflichtungen zur Beachtung der Grenzwerte dringen. Genau dazu scheint die Kommission aber in der Praxis nicht bereit zu sein. Die Kommission hat ab Januar 2009 Vertrags19

EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (TA Luft). So z. B. EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (TA Luft); Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825 (Grundwasser) und Rs. C-298/95, Slg. 1996, I-6747 (Süßwasser). 21 Darauf wird später noch eingegangen werden. 20

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verletzungsverfahren gegen insgesamt 15 Mitgliedsstaaten eingeleitet. Ende 2011, also gut sechs Jahre, nachdem die Grenzwerte in Kraft getreten sind, waren Verfahren gegen einige Mitgliedsstaaten anhängig beim EuGH. Die Kommission hat jedoch nur Klage erhoben gegen Mitgliedsstaaten, die keinen Antrag auf Verlängerung der Fristen für die Geltung Grenzwerte (Derogation) gestellt oder keinen hierzu notwendigen Plan vorgelegt haben. Damit bleiben Überschreitungen der Grenzwerte zwischen 2005 und 2008 grundsätzlich ohne Folgen. Gleiches gilt für Überschreitungen nach 2008, wenn die Mitgliedsstaaten einen plausiblen, den Anforderungen von Art. 22 und 23 Richtlinie 2008/50/EG genügenden Plan vorlegen. Faktisch ist damit die Verpflichtung zur Einhaltung der Grenzwerte selbst zumindest zurzeit deutlich relativiert. Eine Verletzung dieser Pflicht bleibt folgenlos, solange die Mitgliedsstaaten ihren Verpflichtungen zur Aufstellung adequater Qualitätspläne nachkommen. Die Pläne müssen Maßnahmen enthalten, die, auf dem Papier, plausibel machen, dass die Grenzwerte irgendwann eingehalten werden und die Dauer der Grenzwertüberschreitung so weit wie möglich begrenzt ist. Dabei gelten ein Abwägungsgebot und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Misslingt dies, werden die Grenzwerte also auch nach Ablauf der Planperiode noch überschritten oder wird dies schon währende der Planperiode deutlich, kann die Kommission mittels eines Vertragsverletzungsverfahrens reagieren und dabei auch finanzielle Sanktionen beantragen (Art. 260 Abs. 3 AEUV). Dies ist derzeit auch in einem „ersten“ Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV möglich und nicht mehr nur, wie unter Art. 228 EGV, als Konsequenz der Nichtbefolgung eines Urteils des EuGH. Insoweit hat der Lissabon-Vertrag die Vollzugsinstrumente der Kommission merklich erweitert, zumindest theoretisch. In den derzeit laufenden Verfahren gegen die Mitgliedsstaaten, die keine zeitliche Aufschiebung der Grenzwerte beantragt oder keinen dafür ausreichenden Plan vorgelegt haben, sind übrigens keine Zwangsgelder oder Pauschalbeträge von der Kommission beantragt worden. Wohl aber hat die Kommission gegen Polen ein Zwangsgeld von täglich 71.512,00 Euro beantragt wegen Verletzung der Rahmenrichtlinie für Luftqualität. Dies betrifft jedoch nicht eine Überschreitung der Grenzwerte, sondern die Nichtumsetzung der Richtlinie in nationales Recht. Festzustellen ist also, dass der Bürger aufgrund von EU-Recht weder einen mit Hilfe der Gerichte durchsetzbaren Anspruch auf Einhaltung der Grenzwerte hat, noch einen Anspruch auf Abwehr von staatlichen Maßnahmen, die, für sich betrachtet, für eine Grenzwertüberschreitung mitursächlich sind oder eine bestehende Grenzwertüberschreitung verschlimmern oder verlängern. Er hat lediglich einen Anspruch auf Erstellung eines Planes, der geeignet ist, eine drohende Grenzwertüberschreitung zu verhindern oder die Dauer einer eingetretenen Überschreitung zu begrenzen. Die Kommission könnte mit Hilfe von Vertragsverletzungsverfahren, einschließlich der Auferlegung finanzieller Sanktionen, die Mitgliedsstaaten zur Einhaltung der Grenzwerte anhalten. Sie tut dies derzeit aber nicht, sondern beschränkt ihre Maßnahmen auf die Durchsetzung der Aktionspläne als Folge der Grenzwertüberschreitungen. Das in den TA Luft-Urteilen postulierte, vor den Gerichten durchsetzbare Recht der Betroffenen auf Einhaltung der Grenzwerte für gesundheitsge-

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fährdende Stoffe ist damit erheblich relativiert. Für eine politische und rechtspolitische Bewertung ist es hier noch zu früh. Dazu soll erst analysiert werden, wie die hiervor behandelten europarechtlich begründeten Ansprüche auf planerische Bewältigung der mit den Immissionsgrenzwerten aufgeworfenen Fragen in der Praxis einiger ausgewählter Mitgliedsländer umgesetzt worden sind. 4. Umsetzung des Janecek-Urteils in einigen Mitgliedsstaaten a) Deutschland Die Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte zum Anspruch auf Aufstellung von Plänen zur Luftreinhaltung ist in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur ausführlich dargestellt und kommentiert worden.22 Dies soll hier nicht alles wiederholt, sondern nur kurz zusammengefasst und durch einige eigene Erwägungen ergänzt werden. aa) Anspruch auf Planerstellung Während unter der neuen Rahmenrichtlinie ein einklagbarer Anspruch auf Erstellung von Aktionsplänen (Art. 24 Richtlinie 2008/50/EG) abgelehnt wird, wird ein Anspruch auf Erstellung eines Luftreinhalteplanes (Art. 23 Richtlinie 2008/50/ EG), wenn ich dies richtig wahrnehme, überwiegend anerkannt. Da auch die Luftreinhaltepläne dem Schutz der Gesundheit dienen, bestehen wenig Zweifel daran, dass der vom EuGH anerkannte Anspruch auf Planerstellung auch bezüglich der Luftreinhaltepläne nach Art. 23 der Richtlinie bzw. § 47 Abs. 1 BImSchG gilt. Auffallend genug gibt es nach Bekanntwerden des Janecek-Urteiles kaum veröffentlichte Gerichtsurteile, in denen eine Klage eines Bürgers auf Erlass eines Luftreinhalteplanes (oder unter der alten Richtlinie eines Aktionsplanes) entschieden wird. Cancik, die für ihre Publikation bis Ende 2010 recherchiert hat, erwähnt kein einziges Beispiel. Zahlreich dagegen sind die Klagen gegen Maßnahmen, die aufgrund eines Luftreinhalteplanes oder Aktionsplanes erlassen wurden, insbesondere gegen Fahrverbote. Hieraus könnte man schlussfolgern, dass die Behörden das Janecek-Urteil sehr ernst genommen und ganz überwiegend Pläne mit effektiven Maßnahmen erlassen haben. Obwohl dies sicherlich teilweise der Fall ist, ist diese Schlussfolgerung doch wohl etwas zu optimistisch. Zwar zählt z. B. Kugler bis Juni 2009 110 Luftreinhalte- und Aktionspläne. Dass die europarechtlichen Pflichten jedoch nicht immer ausreichend ernst genommen oder manchmal sogar negiert werden, beweist z. B. die „Argumentationshilfe“ des niedersächsischen Umweltministeriums vom 14. Mai 2009, mit der Kommunen sehr zweifelhafte Argumente an die Hand gegeben werden wurden, um trotz Überschreitung der Grenzwerte auch

22 Zur Rechtsprechung nach dem Janecek-Urteil z. B. Cancik, Europäische Luftreinhalteplanung – zur zweiten Phase der Implementation, ZUR 2011, 283.

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unter dem Regime der alten Richtlinie von der Aufstellung eines Aktionsplans abzusehen.23 Aus den zahlreicheren Entscheidungen über Klagen gegen verkehrsbeschränkende Maßnahmen, die auf einem Luftreinhalteplan oder einem Aktionsplan beruhen und die damit inzident auch gegen den zu Grunde liegenden Plan gerichtet sind, geht hervor, dass die Gerichte die Pflicht zur Aufstellung der Pläne nunmehr bejahen. Im Beschluss des VG Stuttgart vom 15. Juli 2010 wird das Regierungspräsidium Stuttgart sogar zu einem Zwangsgeld verurteilt, weil es dem in einem früheren Urteil aus dem Jahre 2005 festgestellten Auftrag zur Aufstellung eines Aktionsplanes mit ausreichenden Maßnahmen nicht hinreichend nachgekommen ist. Zudem entwickelt sich, in Fortführung der vor allem in der Raumordnung und Städteplanung entwickelten Abwägungsfehlerlehre, ein Kriterienkatalog für die Beurteilung von Maßnahmen aus Aktionsplänen. Ausgangspunkt dabei ist, dass den Behörden ein weites Ermessen zukommt bei der Auswahl der geeigneten Maßnahmen. Innerhalb dieses Ermessens sind vor allem die Verursachergerechtigkeit und das Verhältnismäßigkeitsgebot zu berücksichtigen. Im Prinzip sind Maßnahmen nur gerechtfertigt, wenn der Umfang ihrer Auswirkungen dem Umfang des Anteils an der Verursachung der Verschmutzung entspricht.24 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kann jedoch ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigen oder gar erfordern. Gerade bei den Luftschadstoffemissionen sind Maßnahmen, die die Industrie betreffen, oft nur mit sehr hohem finanziellem Aufwand möglich. Daher kann auch ein Plan gerechtfertigt sein, der ausschließlich Maßnahmen für den Straßenverkehr vorsieht.25 Zudem gilt für Aktionspläne das Erfordernis, kurzfristig wirksame Maßnahmen zu enthalten. Das VG Stuttgart folgert hieraus, dass die Maßnahmen wenigstens im selben Kalenderjahr Wirkungen zeigen müssen.26 Zu berücksichtigen ist, dass die bisher veröffentlichten Urteile Abwehrklagen gegen bestimmte Maßnahmen, meist Fahrverbote, betrafen. bb) Anspruch auf planunabhängige Maßnahmen In seiner Verweisungsentscheidung in der Janecek-Sache hat das BVerwG einen Anspruch auf planunabhängige Maßnahmen bejaht für den Fall einer (drohenden) Grenzwertüberschreitung, wenn kein ausreichender Aktionsplan vorliegt. Einen solchen Ansprch leitet das BVerwG aus § 45 Abs. 1 BImSchG ab. Allerdings sei dieser Anspruch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. Bemerkenswert ist dabei der folgende Satz: „Da unverhältnismäßige Anordnungen nach nationalem Recht unzulässig sind, ergibt sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts-

23 24 25 26

s. ausführlich. Cancik (Fn. 22), 283 (292 f.). Sparwasser/Engel (Fn. 16), 1513 (1516). OVG Münster, ZUR 2011, 199 (200). VG Stuttgart, ZUR 2009, 507. Zustimmend Sparwasser/Engel (Fn. 16), 1513 (1517).

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hofs aus dem Europarecht nichts Weiteres …“.27 Obwohl das BVerwG das Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht hier zumindest missverständlich umschreibt, ist im Ergebnis richtig, dass keine unverhältnismäßigen Maßnahmen gefordert werden können. Der Grund dafür scheint mir aber zu sein, dass auch das Europarecht keine unverhältnismäßigen Maßnahmen fordert.28 Für die nähere Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips scheint mir dann auch, falls sich Interpretationsunterschiede ergeben, das europäische Recht maßgeblich zu sein. Wie auch immer, das Bundesverwaltungsgericht prüft in seiner Entscheidung ziemlich detailliert sowohl straßenverkehrsrechtliche als auch andere Maßnahmen, wie z. B. nachträgliche Anordnungen für genehmigte und nicht genehmigungspflichtige Anlagen. Obwohl der Behörde insoweit ein erhebliches Auswahlermessen zukommt, wird sie, wenn ein Bürger Grenzwertüberschreitungen ausgesetzt ist, begründen müssen, warum bestimmte, technisch mögliche, Maßnahmen nicht ergriffen werden. Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes insbesondere auf planunabhängige Maßnahmen wird man jedoch vorsichtig sein. Wie verschiedentlich bemerkt, wird die Verpflichtung zur Einhaltung der Grenzwerte nicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz relativiert.29 Ist ein Aktions- oder Luftreinhalteplan aufgestellt, dann entfällt der Anspruch auf planunabhängige Maßnahmen. Sollte ein Plan unzureichend sein, besteht ein Planergänzungsanspruch.30 b) Einige rechtsvergleichende Bemerkungen In den Niederlanden und in Schweden ist die rechtliche Diskussion um die Umsetzung und Anwendung des Luftqualitätsrechts anders verlaufen als in Deutschland. Wie oben schon erwähnt, konzentrierte sich die Auseinandersetzung in beiden Ländern lange Zeit vor allem auf Abwehrmaßnahmen gegen Zulassungsentscheidungen für Vorhaben, die zu einer Verschlimmerung einer Grenzwertüberschreitung beitragen. In Schweden betraf dies nur einige wenige Projekte vor allem in den Regionen Stockholm und Göteborg, da Grenzwertüberschreitungen nur in einigen wenigen Zonen vorkommen. In den Niederlanden dagegen wurden die Grenzwerte sowohl für Feinstaub als auch für Stickstoff in vielen Gegenden überschritten oder war eine Überschreitung prognostiziert. Das führte dazu, dass hunderte von verschiedenen Projekten, wie der Neubau oder die Erweiterung von Autobahnen, Planung von Gewerbegebieten, aber auch von Wohngebieten, Bau oder Erweiterung von Thea27

BVerwGE 129, 296 (301 f.). So auch der EuGH in der Entscheidung in dieser Sache, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221, Rn. 46 (Janecek). 29 Z. B. Streppel, Subjektive Rechte im Luftqualitätsrecht – Grundsatzentscheidungen des BVerwG, ZUR 2008, 23 (26); Wöckel, Der Feinstaubschleier lichtet sich – rechtlich II, NuR 2008, 32 (33). 30 OVG Münster, ZUR 2011, 199 (202). 28

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tern, Kinos oder Stadien nicht oder nur mit großem finanziellen Aufwand für Maßnahmen zur Emissionsminderung möglich waren. In Schweden31 gab es in den letzten Jahren mehrere Verfahren gegen Genehmigungen von Vorhaben, die mitursächlich waren für eine erwartete oder schon eingetretene Überschreitung der Grenzwerte. In zwei Entscheidungen hat das oberste Verwaltungsgericht jedoch solche Klagen abgewiesen, da die Behörden glaubhaft gemacht hätten, dass ausreichende Maßnahmen zur Emissionsminderung ergriffen werden, die die zukünftige Einhaltung der Grenzwerte ermöglichen würden. Über Klagen, die Luftqualitätspläne fordern oder sich gegen erlassene Pläne wenden, gibt es noch keine höchstrichterlichen Entscheidungen. Wohl sind bei den unterinstanzlichen Gerichten in den Jahren 2010 und 2011 einige solcher Klagen anhängig gemacht worden. Im Gegensatz zu Deutschland und den Niederlanden (s. u.) überprüfen die schwedischen Verwaltungsgerichte Entscheidungen der Behörden in vollem Umfang. Wenn sie dies sachlich für notwendig erachten, um materielle Rechte der Kläger effektiv zu schützen, können die Gerichte nicht nur Verwaltungsentscheidungen aufheben, sondern ihre eigene Entscheidung an die Stelle der Verwaltungsentscheidung setzen. Sie überprüfen Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit einer Entscheidung und können selbst bestimmte zu ergreifende Maßnahmen vorschreiben, auch wenn die Behörden nach deutschem Rechtsverständnis einen Ermessensspielraum haben.32 Dadurch erscheint der Rechtsschutz durch schwedische Gerichte für Betroffene, die auf Einhaltung von Immissionsgrenzwerten klagen, effektiver als z. B. in Deutschland. Stellen die Behörden keine Luftreinhalte- oder Aktionspläne mit effektiven Maßnahmen auf, können Betroffene die Gerichte ersuchen, solche Maßnahmen vorzuschreiben. Ob die schwedischen Gerichte tatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, müssen die derzeit anhängigen Verfahren zeigen. In Belgien (Flandern) hat es in den letzten zehn Jahren eine Klage gegen ein Vorhaben gegeben, das wesentlich mit zu einer Grenzwertüberschreitung beitrug. Dabei ging es um den städtebaulichen Plan für die Bahnhofsregion in Gent. Die Klage wurde abgewiesen, da die Grenzwerte nicht bindend seien für Projektentscheidungen und die Behörden ausschließlich die Verpflichtung hätten, die Grenzwertüberschreitungen im Wege der Luftreinhalteplanung zu bekämpfen.33 Auch hat es eine einzige Klage auf Erlass eines Luftqualitätsplanes gegeben. Diese Klage wurde jedoch abgewiesen. Die Behörden hatten keine Messungen oder Berechnungen der Feinstaubbelastung durchgeführt. Zwar zeigten die von den Klägern durchgeführten Berechnungen, dass die Grenzwerte für Feinstaub vor ihrer Wohnung in Leuven zu häufig überschritten wurden. Die Berechnungsergebnisse waren jedoch zu ungenau, um zu beweisen, dass auch 2015 noch Überschreitungen zu erwarten seien. Dies hielt das 31 Dieser Abschnitt beruht zu einem groben Teil auf telefonischen Informationen oder Informationen durch Mails von Prof. J. Darpö, Uppsala University. 32 Darpö, Justice through Environmental Courts?, http://www.jandarpo.se/upload/ EJ%20thru%20the%20courts_final.doc, 8. 33 Raad van State, Urteil Nr. 209.867 vom 20. 10. 2010, Rn. 6.38. (http://www.raadvan state.be).

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Gericht für ausreichend, um die Klage auf Aufstellung eines Aktionsplanes abzuweisen.34 Der Rechtsschutz für Betroffene, deren Gesundheit durch die Überschreitung von Grenzwerten für die Luftqualität leidet, ist also in Flandern von vornherein auf die Aufstellung von Luftqualitäts- und Aktionspläne beschränkt. Gerichtsurteile zu diesem Anspruch fehlen weitgehend. Das einzige vorhandene erstinstanzliche Urteil deutet darauf hin, dass hohe Anforderungen an die Beweislast für die klagenden Bürger gestellt werden. In den Niederlanden hat es, wie oben angedeutet, in der Vergangenheit eine Vielzahl von (oft erfolgreichen) Klagen gegeben gegen die Genehmigung von Projekten, die zu einer Überschreitung der Grenzwerte beitragen. Am 15. November 2007 trat jedoch eine Änderung des Umweltschutzgesetzes (Wet milieubeheer, Wm) in Kraft, die zur Folge hat, dass die Bedeutung der Grenzwerte für konkrete Zulassungsentscheidungen sehr stark abgenommen hat. Art. 5.12 ff. Wm verpflichten die Regierung, ein nationales Programm zur Luftqualität zu erstellen, in dem die erwarteten Emissionen größerer Investitionsvorhaben und Maßnahmen zur Senkung der Immissionen beschrieben und ihre Wirkung prognostiziert werden müssen. Das Programm muss eine zukünftige Einhaltung der Grenzwerte gewährleisten. Neben dem nationalen Programm müssen Gemeinden bei Grenzwertüberschreitungen lokale Aktionspläne erstellen. Das „nationale Programm zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Luftreinhaltung“ (nationaal samenwerkingsprogramma luchtkwaliteit, NSL) ist am 1. September 2009 in Kraft getreten. Es hat auch gemäß Art. 22 Abs. 1 Richtlinie 2008/50 gedient als Untermauerung des positiv beschiedenen niederländischen Antrags auf Fristverlängerung der Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoff. Die Genehmigung von Projekten, die im NSL berücksichtigt worden sind, darf nicht mehr aus Gründen des Schutzes der Luftqualität verweigert werden. Eine Klage gegen das NSL ist vor den Verwaltungsgerichten ausgeschlossen. Auch können Bürger vor den Verwaltungsgerichten nicht auf Erlass oder gegen die Feststellung eines lokalen Aktionsplans klagen. Im niederländischen Rechtsschutzsystem gewährt jedoch der Zivilrichter immer ergänzenden Rechtsschutz, wenn ein Kläger behauptet, durch ein Handeln oder Nichthandeln des Antragsgegners in seinen Rechten verletzt zu sein. Daher kann vor den Zivilgerichten auf Erlass eines Aktionsplanes oder auf Änderung des NSL geklagt werden. Das ist noch nicht geschehen. Da Zivilklagen derzeit35 deutlich teurer sind und die Beweislastverteilung für den Kläger ungünstiger ist als dies bei Klagen vor den Verwaltungsgerichten der Fall ist, funktioniert der Ausschluss der Klagemöglichkeit vor den Verwaltungsgerichten faktisch als deutliche Hemmschwelle für Rechtsschutzersuchen Betroffener. Wohl aber ist das NSL anlässlich einer Klage gegen die Genehmigung eines Vorhabens durch das oberste niederländische Verwaltungsgericht inzident überprüft und für rechtens erachtet worden.36 34

Rechtbank van eerste aanleg Leuven, Urteil vom 10. 03. 2010, Nr. 09/1045/A. Die niederländische Regierung plant derzeit eine drastische Erhöhung der Gerichtsgebühren. 36 Raad van State, Afdeling bestuursrechtspraak, Urteil vom 31. 03. 2010, 2009000883/1 (http://www.raadvanstate.nl). 35

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Außerdem hat es bisher eine Klage auf planunabhängige Maßnahmen gegeben. Da die Verwaltungsgerichte nur Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte gewähren und die Klage gerichtet war auf die Ergreifung tatsächlicher Maßnahmen, war auch für diese Klage ein Zivilgericht zuständig. Dieses Verfahren ist ein gutes Beispiel für die Ineffektivität des Rechtsschutzes bei Überschreitungen der Grenzwerte in den Niederlanden. Sowohl in erster Instanz als in zweiter Instanz hatten die Richter festgestellt, dass Grenzwerte für die Luftqualität am Wohnort des Klägers überschritten würden. Erstinstanzlich hatten die Richter die Stadt Utrecht verurteilt, da die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität unzureichend waren.37 Im Berufungsverfahren hatte das Gericht zweiter Instanz jedoch erklärt, dass es die Wirksamkeit der Nachbesserungsmaßnahmen der Stadt Utrecht nicht beurteilen könne. Die Beweislast für deren Unwirksamkeit läge beim Kläger. Da der Kläger ein neues Sachverständigengutachten jedoch nicht bezahlen konnte, wurde seine Klage abgewiesen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Grenzwerte am Wohnort des Klägers noch immer überschritten wurden, hatte seine Klage daher insgesamt keinen Erfolg und musste der Kläger die Kosten des gesamten Rechtsstreits tragen.38

IV. Weiterentwicklung der qualitätsbezogenen Instrumente 1. Notwendigkeit Insgesamt zeigen die deutsche Rechtslage und die (sehr sporadischen) rechtsvergleichenden Bemerkungen, wie unterschiedlich, jedoch generell schwierig die Durchsetzung des „Rechts auf saubere Luft“ ist. In Deutschland besteht Rechtsschutz hinsichtlich der Aktionspläne seit Inkrafttreten der neuen Richtlinie zumindest in aller Regel nicht mehr. Klagen auf die Überprüfung der Effektivität von Luftreinhalteplänen und auf Aufnahme ergänzender Maßnahmen darin werden wegen des weiten Ermessensspielraums der Verwaltung wohl sehr selten Erfolg haben können, auch wenn es tatsächlich noch zu Grenzwertüberschreitungen kommt. Die Abwehr von Projekten, die zu einer Grenzwertüberschreitung beitragen, mit Hilfe einer Klage ist faktisch nicht möglich und Klagen auf Erlass planunabhängiger Maßnahmen schließlich sind wohl nur dann zulässig, wenn ein Plan nicht aufgestellt wurde. In Belgien und den Niederlanden besteht (mittlerweile) ebenfalls in aller Regel kein Abwehranspruch mehr gegen Projekte, die zu einer Überschreitung der Grenzwerte beitragen. Gleiches gilt für planunabhängige Maßnahmen. Klagen auf Erlass eines Planes oder die gerichtliche Überprüfung der Effektivität von festgestellten Plänen begegnen, aus unterschiedlichen Gründen, hohen Anforderungen an die Beweislast. In der Praxis gab es daher auch nur jeweils eine einzige, trotz festgestellter Überschreitungen nicht erfolgreiche Klage dieser Art. Lediglich in Schweden scheint 37 Rechtbank Utrecht, Urteil vom 22. 11. 2006, Administratiefrechtelijke Beslissingen 2007, 171. 38 Gerechtshof Amsterdam, Urteil vom 19. 07. 2011, 104.003.312.

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es für Bürger etwas einfacher zu sein, sich mit Hilfe der Gerichte gegen gesundheitliche Gefahren durch zu hohe Luftverschmutzung zu wehren. Die Praxis muss jedoch noch beweisen, ob sich diese Annahme bewahrheitet. Von dem in den TA Luft-Entscheidungen durch den Gerichtshof erhobenen Postulat, dass die Betroffenen in der Lage sein müssen, ihre Rechte auf Einhaltung der Grenzwerte für Luftverschmutzungen vor den Gerichten durchzusetzen, ist nicht viel übrig geblieben. Berücksichtigt man zudem, dass die europäische Kommission zumindest bisher nur zurückhaltend Gebrauch macht von ihren Befugnissen, durch Vertragsverletzungsverfahren die Einhaltung der Grenzwerte durchzusetzen, dann stellt sich die Frage, ob der Rechtsschutz bei der qualitätsbezogenen Regulierung mit Hilfe von Grenzwerten ausreicht. Bei Überlegungen, ob die Instrumente zur Durchsetzung von Umweltqualitätszielen ausreichen, sollte man berücksichtigen, dass Grenzwertüberschreitungen zumindest von einigen Luftschadstoffen konkrete Gesundheitsgefahren zur Folge haben. Nach einem Bericht des Helmholtz Instituts München sind in Deutschland etwa 9 % der Sterblichkeit auf die Feinstaubbelastung zurückzuführen und sinkt die Lebenserwartung in Deutschland durch die Feinstaubbelastung im Durchschnitt um zehn Monate.39 Die WHO hat auch die wirtschaftlichen Schäden dieser Gesundheitsfolgen errechnet. Nach Angaben der WHO lassen sich durch Maßnahmen zur Feinstaubbekämpfung in der EU jährlich zwischen 58 Milliarden und 161 Milliarden Euro einsparen, die entsprechenden Zahlen für Deutschland gibt die WHO mit 13 Milliarden bis 34 Milliarden Euro für eine geringere Sterblichkeit und sechs Milliarden Euro für Einsparungen bei den Krankheitskosten an.40 Es geht also nicht nur um die Realisierung einer wünschenswerten Umweltqualität oder um die Verhinderung jeglicher negativer Effekte, sondern um ein sehr wesentliches Gesundheitsproblem mit erheblichen finanziellen Konsequenzen. Daher sollte das rechtliche Instrumentarium so beschaffen sein, dass die Einhaltung der Grenzwerte in der Regel gesichert und betroffene Bürger effektive Rechtsmittel haben, dies durchzusetzen. Das scheint mir derzeit nicht der Fall zu sein. 2. Grenzwerte als Kriterien für Zulassungsentscheidungen? Will man die Durchsetzungskraft der Grenzwerte für die Umweltqualität stärken, könnte man zunächst daran denken, die Mitgliedsstaaten ausdrücklich zu verpflichten, Qualitätsziele (wieder) als bindende Kriterien für die Zulassung von Projekten vorzuschreiben. Damit würde dem zitierten Postulat des Gerichtshofs in den TA Luft-Urteilen vollständig Genüge getan. Die Praxis in den Niederlanden hat bewiesen, dass der Druck auf die am Wirtschaftsleben Beteiligten, eine den Grenzwerten genügende Umweltqualität zu gewährleisten, sehr hoch wird, wenn Projekte wegen 39 Helmholtz Institut, Risiko Feinstaub – Bewertung und Folgen für die Bevölkerung, http://www.helmholtz-muenchen.de/Partikelforschung/pdf/58 – 63_B12.pdf. 40 WHO, Exposure to Air Pollution (Particulate Matter) in Outdoor Air, Factsheet 3.3, July 2011, http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0018/97002/ENHIS_Factsheet_3.3 _July_2011.pdf.

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einer Grenzwertüberschreitung nicht genehmigungsfähig sind. Gezeigt hat sich aber auch, dass diese Form der Regulierung ökonomisch wenig effizient und damit auch ökologisch fragwürdig ist. Beschränkungen der Emissionen konzentrieren sich auf neue Aktivitäten, die einer Genehmigung oder sonstigen Zulassungsentscheidung bedürfen. Nicht genehmigungspflichtige und bestehende Anlagen oder andere Aktivitäten, die keiner gesonderten Zustimmung unterliegen, bleiben ausgenommen. Der Verursacheranteil wird bei der Belastung mit Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen nicht berücksichtigt. Die Einhaltung der Grenzwerte erfordert planerische Instrumente. Nur ein planerisches Vorgehen ermöglicht die Belastungen dort zu reduzieren, wo dies am einfachsten und kostengünstigsten möglich ist.41 Nicht umsonst verpflichten die Richtlinien direkt nur zum Gebrauch planerischer Instrumente. Es muss daher darum gehen, die Durchsetzbarkeit der Pläne zur erhöhen, nicht darum, die Luftreinhalteplanung durch eine einzelfallbezogene Regulierung und Sanktionierung zu konterkarieren. Geht man hiervon aus, sehe ich vor allem zwei denkbare Ansätze, die Effektivität des qualitativen Instrumentariums im Umweltschutz zu erhöhen. 3. Finanzielle Sanktionen? Zum einen könnte nachgedacht werden über effektivere finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten, in denen die Grenzwerte mehr als gelegentlich und kurzfristig überschritten werden. Denkbar wäre, in den Richtlinien, in denen die Einhaltung von Grenzwerten für die Umweltqualität vorgeschrieben wird, die Kommission zu ermächtigen, bei manifesten Überschreitungen finanzielle Sanktionen aufzuerlegen. Die Befugnis der Kommission, bei Verletzungen des EU-Rechts direkt, also ohne ein Verfahren vor dem Gerichtshof, finanzielle Sanktionen festzulegen, ist keineswegs neu und z. B. bei der Regulierung des Agrarmarktes höchst gebräuchlich. Dort werden solche Sanktionsmöglichkeiten gegen Marktteilnehmer sogar als „implied powers“ ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung durch den Rat anerkannt.42 Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass finanzielle Sanktionen gegen Marktteilnehmer qualitativ etwas anderes sind als Sanktionen gegen die Mitgliedsstaaten und dass letztere nur aufgrund von Art. 260 Abs. 3 AEUV auferlegt werden können. Zudem macht die Kommission von ihren nach Art. 260 Abs. 3 AEUV schon jetzt bestehenden Möglichkeiten, finanzielle Sanktionen zu beantragen, keinen oder kaum Gebrauch. Fraglich ist, ob sich dies ändern würde, wenn der Gerichtshof nicht vor Auferlegung über eine finanzielle Sanktion urteilen müsste, sondern erst auf Ersuchen des Mitgliedsstaates nach Auferlegung einer solchen Sanktion angerufen werden könnte.

41

Jarass (Fn. 2), 257 (258). Couzinet, Die Schutznormtheorie in Zeiten des Feinstaubs, DVBl. 2008, 754 (756). 42 s. z. B. EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383, Rn. 35 ff. (Deutschland vs. Kommission).

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Noch weitergehender würde die Möglichkeit sein von „halbautomatischen“ finanziellen Sanktionen, wie sie derzeit diskutiert werden für Staaten, die die Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts (mehrfach oder langfristig) überschreiten. Dies würde wohl eine Änderung des AEUV erfordern. Ein solch weitgehender Vorschlag scheint zunächst vielleicht wenig naheliegend und wäre politisch derzeit wohl kaum durchsetzbar. Langfristig sollte man jedoch auch eine solche Möglichkeit angesichts der gesundheitlich und ökonomisch ernsthaften Folgen manifester Überschreitung bestimmter Grenzwerte nicht von vornherein ausschließen. 4. Schadensersatz Zum zweiten kann gedacht werden an Schadensersatzansprüche von betroffenen Bürgern. Bürger, die dauerhaft zu hohen Belastungen mit Luftschadstoffen ausgesetzt werden, haben nachweislich ein höheres Krankheitsrisiko und statistisch eine kürzere Lebenserwartung. Vor allem letzteres lässt sich (auch) in einen finanziellen Schaden umrechnen. Schadensersatzforderungen nach herkömmlichem Staatshaftungsrecht auf Grundlage der Kriterien des EuGH43 begegnen jedoch wahrscheinlich mehreren Hindernissen. So ist fraglich, ob und wann ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliegt und ob den Anforderungen an einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen Rechtsverletzung und Schaden Genüge getan ist. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es hier in erster Linie nicht um Fehler der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von EU-Richtlinien geht, sondern um die inkorrekte Anwendung korrekt umgesetzter Richtlinien. Um die Durchsetzung der Umweltqualitätsziele in allen Mitgliedsstaaten der Union zu fördern und nationale Unterschiede, z. B. durch verschiedenes nationales Prozessrecht, zumindest zum Teil auszuschließen, müssten daher die Bedingungen für eine Begründung und für den Umfang der Haftung des Staates im EU-Recht geregelt werden. Dies könnte in den entsprechenden sektoralen Richtlinien geschehen, wie z. B. der Rahmenrichtlinie für Luftqualität oder durch eine Ergänzung der Umwelthaftungsrichtlinie. Eine solche Haftungsregelung hätte den Vorteil, dass sie gleichzeitig die Durchsetzung der Grenzwerte für Umweltqualität wesentlich verstärkt und den Rechtsschutz für Betroffene effektiver macht. Zwar verstärkt diese Lösung nicht direkt das Recht der Bürger auf saubere Luft und dessen gerichtliche Durchsetzbarkeit. Die finanziellen Folgen einer manifesten Grenzwertüberschreitung würden faktisch aber wahrscheinlich die Behörden anspornen, die Grenzwerte nicht oder nur kurzfristig zu überschreiten.

43

EuGH, Rs. C-178/94, Slg. 1996, I-4845, Rn. 25 ff. (Dillenkofer).

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V. Fazit Qualitätsbezogene Regulierung ist eine notwendige Ergänzung der quellenbezogenen Regulierung und nicht ihr Gegenteil. Die rechtliche Konzeption qualitätsbezogener Grenzwerte ist jedoch noch immer nicht gut durchdacht. Das gilt insbesondere für den Rechtsschutz des Bürgers. Die in den TA Luft-Urteilen postulierte Forderung, dass „die Betroffenen in allen Fällen, in denen die Überschreitung der Grenzwerte die menschliche Gesundheit gefährden könnte, in der Lage sein müssen, sich auf zwingende Vorschriften zu berufen, um ihre Rechte geltend machen zu können.“, ist in den Mitgliedsstaaten auf unterschiedliche, jedoch insgesamt nicht befriedigende Weise erfüllt worden. Das Janecek-Urteil hat zwar zu einer klaren Anerkennung eines Anspruchs der von Grenzwertüberschreitungen Betroffenen auf Aufstellung eines Aktionsplanes mit effektiven Maßnahmen geführt. In der Praxis ist eine effektive Durchsetzung dieses Anspruchs, die eine ausreichende Luftqualität sichert, jedoch schwierig oder gar unmöglich. Will man ernsthaft Umweltqualitätsziele anwenden und die Überschreitung von Grenzwerten verhindern, wird man den Rechtsschutz unter Beibehaltung der planerischen Steuerung verstärken müssen. Zu einem Regelungskonzept, bei dem die Mitgliedsstaaten weite planerische Ermessenspielräume haben, passt eine ergebnisorientierte Kontrolle und Sanktionierung. Werden die Grenzwerte im Ergebnis manifest nicht eingehalten, muss dies Konsequenzen haben. Dazu bietet sich vor allem eine EU-rechtliche Haftungsregelung an, die manifeste Grenzwertüberschreitungen als hinreichend qualifizierten Verstoß gegen EU-Recht qualifiziert und auch andere Bedingungen für eine Staatshaftung definiert.

Flussgebietsgemeinschaften aus europa-, verfassungsund verwaltungsrechtlicher Sicht Von Rüdiger Breuer

I. Einleitung In einer zunehmend parzellierten Rechtsordnung mögen Querbezüge zwischen europa-, verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Fragestellungen häufig zurücktreten. Gerade solche übergreifenden Fragestellungen haben indessen stets das besondere Interesse Meinhard Schröders gefunden. So sei an dieser Stelle die Institution der Flussgebietsgemeinschaften beleuchtet, die vor allem aus europarechtlicher, aber auch aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Sicht Aufmerksamkeit verdient und – wie zu zeigen ist – auch völkerrechtliche Ursprünge hat. Der Umstand, dass sie ihre aktuelle Bedeutung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie1 verdankt und somit eine umweltrechtliche Prägung aufweist, trifft sich mit Schröders Forschungsschwerpunkten im Institut für Umwelt- und Technikrecht der Universität Trier. Die nachfolgende Problemskizze geht zunächst dem rechtlichen Rahmen der Flussgebietsgemeinschaften auf europäischer und deutscher Ebene nach (unten II.). Danach sollen die funktionalen Grundlagen der Flussgebietsgemeinschaften freigelegt werden. Im Lichte ihrer Aufgabenstellung bilden sie korporative Solidargemeinschaften (unten III.). Wo die realen Probleme dieser Aufgabenstellung und ihrer solidarischen Wahrnehmung liegen, soll anschließend anhand historischer und aktueller Beispiele aufgezeigt werden (unten IV.), bevor schließlich die juristische Institution der Flussgebietsgemeinschaften durch Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder konkretisiert werden kann (unten V.).

II. Rechtlicher Rahmen der Flussgebietsgemeinschaften 1. Das naturräumliche Organisationsprinzip der Verwaltung in Flussgebietseinheiten gemäß Art. 3 WRRL Ein grundlegendes, im deutschen Recht zuvor unbekanntes Leitprinzip der WRRL ist die vorgeschriebene Ordnung und Koordinierung der Verwaltung in Fluss1 Richtlinie 2000/60/EG vom 23. 10. 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl.EG 2000 Nr. L 327/1.

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gebietseinheiten und den dazu gehörigen Einzugsgebieten (Art. 3 WRRL). Die EUMitgliedstaaten bestimmen hiernach die einzelnen Einzugsgebiete (i.S.d. Art. 2 Nr. 13 WRRL) innerhalb ihres jeweiligen Hoheitsgebiets und ordnen sie für die Zwecke der WRRL jeweils einer Flussgebietseinheit (i.S.d. Art. 2 Nr. 15 WRRL) zu (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 WRRL). Auf dieser territorialen Basis müssen die Mitgliedstaaten die Gewässerverwaltung nach dem naturräumlichen Gliederungsprinzip der Flussgebietseinheiten in geeigneter Weise organisieren und koordinieren. Sie sorgen nach dem deutschen Text der WRRL „für geeignete Verwaltungsvereinbarungen, einschließlich der Bestimmung der geeigneten zuständigen Behörde, damit diese Richtlinie innerhalb jeder Flussgebietseinheit ihres Hoheitsgebiets angewandt wird“ (Art. 3 Abs. 2 WRRL). Des Weiteren haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die Anforderungen der Richtlinie zur Erreichung der Umweltziele nach Art. 4 WRRL und insbesondere alle Maßnahmenprogramme für die gesamte Flussgebietseinheit koordiniert werden (Art. 3 Abs. 4 Satz 1 WRRL). Dies gilt auch für internationale Flussgebietseinheiten mit der Maßgabe, dass die betroffenen Mitgliedstaaten gemeinsam für die Koordinierung sorgen und zu diesem Zweck bestehende Strukturen nutzen können, die auf internationale Übereinkommen zurückgehen (Art. 3 Abs. 4 Satz 2 WRRL). Solche Strukturen bietet für die Flussgebietseinheit Rhein die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR).2 Entsprechende, in der Praxis genutzte Strukturen hält die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe (IKSE) vor.3 Die Mitgliedstaaten sind hiernach nicht verpflichtet, die Flussgebiete als Verwaltungseinheit zu organisieren und nach zentralstaatlichen Vorbildern einer einzigen Behörde zu unterstellen, die den britischen River Basin Authorities oder den französischen Agences de lÏeau nachgebildet werden müsste.4 Falsch wäre jedoch die Vorstellung, die Verwaltungen der deutschen Bundesländer könnten innerhalb ihres jeweiligen Territoriums über Programme und Pläne der Gewässerbewirtschaftung oder über Einzelvorhaben der Benutzung, der Unterhaltung oder des Ausbaus von Gewässern weiterhin in autonomer und selbstgenügsamer Isolation entscheiden. Zwar mögen die Wasserbehörden der Länder dazu neigen, sich allzu vordergründig auf das kompetenzrechtliche Axiom zu berufen, dass jedes Bundesland auf seinem Territorium gerade im Bereich des Wasserhaushalts die Verwaltungsautonomie innehabe. Zudem verführt der deutsche Text des Art. 3 WRRL zu derartigen Fehlvorstellungen, da dort nur die „Koordinierung von Verwaltungsvereinbarungen innerhalb einer Flussgebietseinheit“ sowie die Sorge für „geeignete Verwaltungsvereinbarungen“ erwähnt sind. Dies klingt wie eine Beschränkung auf bloße Absprachen und gelegentliche Verträge, die im allgemeinen Verwaltungsrecht unter dem Vorzeichen 2 Rechtsgrundlage: Vereinbarung über die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins gegen Verunreinigungen vom 29. 04. 1963, BGBl. 1965 II, S. 1432; geändert durch die Zusatzvereinbarung vom 03. 12. 1976, BGBl. 1979 II, S. 86. 3 Rechtsgrundlage: Vereinbarung über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe vom 08. 10. 1990, BGBl. 1992 II, S. 943. 4 Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl., 2004, Rn. 82 ff., insbes. Rn. 88.

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des kooperativen Verwaltungshandelns gesetzlich geregelt und vertraut sind (§§ 54 ff. VwVfG). Die Neigung, das naturräumliche Flussgebietsmanagement herunterzuspielen und zugleich die Verwaltungsautonomie der einzelnen Bundesländer zu überhöhen, erweist sich bei näherer Betrachtung als verfehlt. Die WRRL verträgt keine Marginalisierung des naturräumlichen Organisationsprinzips. Wie die englische Fassung der WRRL mit der Verpflichtung zu „appropriate administrative arrangements“ und die korrespondierende französische Fassung mit geforderten „dispositions administratives appropri¦es“ zeigen, sind die Mitgliedstaaten in einem umfassenden und institutionellen Sinne verpflichtet, geeignete Vorkehrungen und Maßnahmen zu treffen, damit die integrative und ganzheitliche Anwendung der WRRL innerhalb jeder Flussgebietseinheit sichergestellt ist. Eben dies entspricht – unabhängig von der Frage nach der Leitung durch eine „einzige Behörde“ – dem Modell der britischen River Basin Districts wie auch der französischen Bassins hydrographiques mit den Agences de lÏeau.5 Der EU-Kommission kommt die Kontrolle darüber zu, ob die Mitgliedstaaten in diesem Sinne geeignete administrative Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen haben, damit die WRRL in jeder Flussgebietseinheit angewandt wird. Diese Kontrolle muss sich am Prinzip des effet utile6 orientieren, also die „praktische Wirksamkeit“ der mitgliedstaatlichen Umsetzung und Anwendung der WRRL einfordern. Die EU-Kommission hat somit zu prüfen, ob die Mitgliedstaaten – ihrer Koordinierungspflicht entsprechend – administrative Vorkehrungen und Maßnahmen für ein geeignetes, d. h. praktisch effektives Flussgebietsmanagement getroffen haben. Soweit die Mitgliedstaaten eine bundesstaatliche Struktur haben, bezieht sich die Koordinierungspflicht auch auf die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Gliedstaaten.7 In der Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies, dass die für den wasserwirtschaftlichen Vollzug zuständigen Bundesländer zur Koordinierung ihrer Bewirtschaftungsplanung sowie ihrer planausführenden Bewirtschaftungsmaßnahmen verpflichtet sind, soweit an einer Flussgebietseinheit mehrere Länder räumlich teilhaben. Insoweit ist ein gemeinsamer Vollzug der beteiligten Landesbehörden bei ihren wasserwirtschaftlichen Planungen und Maßnahmen geboten. Zutreffend ist dazu angemerkt worden, dass die bloße und unveränderte Fortsetzung der schon vor der Umsetzung der WRRL praktizierten Zusammenarbeit der 5

Breuer (Fn. 4), Rn. 80; zur Rechtsvergleichung: Barraqu¦/Berland/Cambon, in: Correia/ Kraemer (Hrsg.), Institutionen der Wasserwirtschaft in Europa, Bd. 1, 1997, S. 189 (208 ff.): Frankreich, Agences de lÏeau; Zabel/Rees, ebda., S. 583 (622 ff.): Vereinigtes Königreich, System der staatlichen Flussbehörden, River Basin Authorities. 6 Grundlegend zum Prinzip des effet utile EuGH, Rs. 48/75, Slg. 1976, 497 (517); auch EuGH, Rs. C-381/98, Slg. 2000, I-9305, Rn. 24 f.; vgl. mit Blick auf das Wasserrecht Breuer (Fn. 4), Rn. 41, 44 f., 47, 91. 7 Eingehend und rechtsvergleichend dazu: Embid Irujo/Kölling (Hrsg.), Gestiýn del Agua y Descentralizacion Pol†tica, 2009, mit Beiträgen von Lugaresi (S. 214 ff., für Italien), Embid Irujo (S. 248 ff., für Spanien) und Breuer (S. 287 ff., für Deutschland).

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Länder zur Erfüllung der flussgebietsbezogenen Koordinierungspflicht nicht ausreicht.8 Den europarechtlichen Anforderungen genügt es jedenfalls nicht, wenn die Wasserbehörden eines Bundeslandes ein Maßnahmenprogramm, einen Bewirtschaftungsplan oder wasserwirtschaftliche Einzelmaßnahmen an bestimmten Gewässern in isolierter, auf das jeweilige Landesgebiet beschränkter Manier beschließen und ausführen. Es reicht auch nicht aus, wenn die an einem Flussgebiet teilhabenden Länder sich untereinander wegen ihrer wasserwirtschaftlichen Planungen und Maßnahmen lediglich ins Benehmen setzen. Ebenso wenig reicht es aus, wenn ein Bundesland anderen Ländern im Rahmen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts die bloße Gelegenheit zur passiven Behörden- oder Betroffenenbeteiligung9 einräumt. Der gemeinsame Vollzug im Rahmen der flussgebietsbezogenen Koordinierung fordert mehr als solche Formen schlichter Konsultation oder Anhörung. Gefordert ist eine Verwaltungsstruktur, die den gemeinsamen Vollzug trägt, indem sie den kooperativ zu treffenden Entscheidungen über wasserwirtschaftliche Planungen und Maßnahmen einen organisatorischen und prozeduralen Rahmen aktiver und gesamthänderischer Verantwortung gibt.10 2. Die Organisationsstruktur der Flussgebietsgemeinschaften nach deutschem Recht Die organisationsrechtlichen Vorgaben des Art. 3 WRRL sind in Deutschland zunächst durch § 1b WHG a.F. und nunmehr durch den geltenden § 7 WHG (n.F.) in Bundesrecht umgesetzt worden.11 Demgemäß sind die Gewässer nach Flussgebietseinheiten zu bewirtschaften (§ 7 Abs. 1 WHG). Die zehn gesetzlich bestimmten Flussgebietseinheiten (Donau, Rhein, Maas, Ems, Weser, Elbe, Eider, Oder, Schlei/Trave und Warnow/Peene) sind in der Anlage 2 zum WHG in Kartenform dargestellt. Die zuständigen Behörden der Länder koordinieren untereinander ihre wasserwirtschaftlichen Planungen und Maßnahmen, soweit die Belange der flussgebietsbezogenen Gewässerbewirtschaftung dies erfordern (§ 7 Abs. 2 WHG). Spezielle Koordinierungspflichten der zuständigen Landesbehörden betreffen innerhalb der Europäischen Union die Maßnahmenprogramme und Bewirtschaftungspläne (Art. 11, 13 WRRL, §§ 82, 83 WHG) und das Bemühen um eine entsprechende Abstimmung mit Nicht-EU-Staaten (§ 7 Abs. 3 WHG). Besonders geregelt ist die Ko8

So Czychowski/Reinhardt, WHG, 10. Aufl., 2010, § 7, Rn. 8. Allgemein dazu für das Planfeststellungsrecht z. B. Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 73, Rn. 32 ff., 45 ff. m.w.N. 10 Näher dazu Solf, Europäisches Flussgebietsmanagement und deutsche Wasserwirtschaftsverwaltung, 2006, S. 131 ff.; für die Flussgebietseinheit Elbe: Albrecht, Umweltqualitätsziele im Gewässerschutzrecht, 2007, S. 446 ff.; dies., Rechtliche und organisatorische Aspekte grenzübergreifender Flussgebietsverwaltung, dargestellt am Beispiel des Elbeeinzugsgebiets, DVBl. 2008, 1027 (1030); auch Czychowski/Reinhardt (Fn. 8). 11 Czychowski/Reinhardt (Fn. 8), § 6, Rn. 1 ff.; Drost, Das neue Wasserrecht in Bayern, § 7 WHG (Stand: März 2010), Rn. 2 ff. 9

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ordinierung mit den Bundesbehörden hinsichtlich der Bundeswasserstraßen und bei der Berührung gesamtstaatlicher Belange (§ 7 Abs. 4 WHG). Die zuständigen Behörden der Länder ordnen innerhalb der Landesgrenzen die Einzugsgebiete oberirdischer Gewässer sowie Küstengewässer und das Grundwasser einer Flussgebietseinheit zu (§ 7 Abs. 5 WHG). Die nähere verwaltungsorganisatorische Umsetzung hat das deutsche Gesetzesrecht der Exekutive überlassen. Hierauf beruhen gesonderte Verwaltungsvereinbarungen für die einzelnen Flussgebietseinheiten. Diese Vereinbarungen folgen dem von der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) favorisierten Modell eines bloßen Koordinierungsverbundes.12 Die so geschaffenen Flussgebietsgemeinschaften sind keine Körperschaften des öffentlichen Rechts und insbesondere keine Planungsverbände mit eigenen Kompetenzen und Hoheitsrechten.13 Damit bleiben die Kompetenzen und Befugnisse der beteiligten Länder für die Wasserwirtschaftsverwaltung gewahrt. Für die wasserwirtschaftlichen Verwaltungsentscheidungen bleiben mithin die Länder verantwortlich. Die einschlägigen Planungs- und Planvollzugsentscheidungen müssen daher in der Verfassungs- und Verwaltungsstruktur eines jeden Bundeslandes verantwortet werden.14 Damit gleichwohl die sachnotwendigen und nach europäischem wie nach deutschem Recht vorgegebenen Koordinierungspflichten in der gebotenen Weise zielführend und effektiv erfüllt werden, muss der Koordinierungsverbund in Gestalt der Flussgebietsgemeinschaften in der Verwaltungspraxis ernstgenommen werden. Gefordert sind Selbstdisziplin und freiwillige Kooperation sowie die Bereitschaft zu konstruktiven Kompromissen zur Verwirklichung der normativen Umweltziele (Art. 4 i.V.m. Anhang V WRRL) sowie der inhaltsgleichen Bewirtschaftungsziele nach den §§ 27 – 31 WHG. Die dahingehenden Koordinierungspflichten namentlich der Länder (§ 7 Abs. 2 und 3 WHG), aber auch des Bundes (§ 7 Abs. 4 WHG) sind im gesamten Einzugsgebiet in ganzheitlicher (integrierter) Weise wahrzunehmen. Dabei unterliegen alle wasserwirtschaftlichen Fragen, die für die Erreichung der normativen, flussgebietsspezifisch zu konkretisierenden Zielvorgaben relevant sind, der obligatorischen Koordinierung.15 Die gebotene Wahrung der Bundesstaatlichkeit sowie der Verfassungs- und Verwaltungsstruktur der beteiligten Länder hat mithin einen Preis: Nur dadurch, dass die selbstständig und eigenverantwortlich handelnden Länder in die Pflicht zur Selbstdisziplinierung sowie zur freiwilligen Kooperation und Koordinierung genommen sind, wird die zielorientierte Funktionsfähigkeit der Flussgebietsgemeinschaften sichergestellt. Die Länder dürfen sich der Wahrneh12

Vgl. Solf (Fn. 10), S. 148 ff. Vgl. Solf (Fn. 10), S. 150 f., 155 ff., 165 ff. 14 Vgl. zu den Anforderungen und Problemen des föderalistischen Staatsaufbaus Breuer, Gewässerschutz und Föderalismus aus Sicht der Wissenschaft, in: Kloepfer (Hrsg.), Umweltföderalismus, 2002, S. 403 (426 ff.). 15 Allgemein dazu Stratenwerth, Bewirtschaftung nationaler und internationaler Flussgebiete, in: Rumm/von Keitz/Schmalholz (Hrsg.), Handbuch der EU-Wasserrahmenrichtlinie, 2. Aufl., 2006, S. 59 ff. 13

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mung dieser Pflicht nicht entziehen. Anderenfalls unterlaufen sie das europarechtlich gebotene System einer kohärenten, zielführenden und effektiven Flussgebietsverwaltung (Art. 3 WRRL). Eine solchermaßen europarechtswidrige Systemverfehlung würde die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 263 AEUV heraufbeschwören. Nach dem Organisationsmodell des bloßen Koordinierungsverbundes ist z. B. die Flussgemeinschaft Elbe durch Verwaltungsvereinbarung vom 7. März 2004 gegründet worden.16 Partner der Vereinbarung sind die zehn Bundesländer, die über einen territorialen Anteil am Einzugsgebiet der Elbe verfügen (Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) sowie der Bund. Ähnlich wie bei anderen Flussgebietseinheiten folgt der rechtlich schwache Gründungsmodus (in Gestalt der bloßen Verwaltungsvereinbarung) wie auch die lockere Organisationsstruktur (nämlich der bloße Koordinierungsverbund mit der Elbe-Ministerkonferenz, dem ElbeRat aus den Abteilungsleitern der zuständigen Ministerien und dem Koordinierungsrat als Fachgremium) dem von der LAWA favorisierten Modell. Diese Organisationsstruktur entspricht nicht nur verfassungs- und verwaltungspolitischen Forderungen der deutschen Bundesländer, sondern auch verfassungsrechtlichen Vorgaben. Es stellt sicher, dass die europarechtlich gebotene Koordination innerhalb der jeweiligen Flussgebietseinheit (Art. 3 WRRL) konsultativ und konsensual bleibt. Damit ist der demokratische Legitimations- und Verantwortungszusammenhang für jedes der beteiligten Bundesländer17 gewahrt.

III. Funktionale Grundlagen: Flussgebietsgemeinschaften als korporative Solidargemeinschaften Die Flussgebietsgemeinschaften sind dazu bestimmt, die den Mitgliedstaaten obliegende Koordinierungspflicht innerhalb der jeweiligen Flussgebietseinheit zu erfüllen. Gegenüber der Europäischen Union sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass die Anforderungen der WRRL zur Erreichung der Umweltziele (Art. 4 i.V.m. Anhang V WRRL) und die Maßnahmenprogramme für die gesamte Flussgebietseinheit koordiniert werden (Art. 3 Abs. 4 WRRL). Die mitgliedstaatliche Koordinierungspflicht bezieht sich bei einer internationalen, vollständig im Unionsgebiet liegenden Flussgebietseinheit auch auf die Erstellung eines internationalen Bewirtschaftungsplans (Art. 13 Abs. 2 WRRL). Allgemein gilt, dass die Bewirtschaftungspläne eine Zusammenfassung des Maßnahmenprogramms oder der Maßnahmenprogramme gem. Art. 11 WRRL enthalten müssen (Art. 13 Abs. 4 i.V.m. Anhang VII, Teil A, Ziffer 7 WRRL). Die Mitgliedstaaten stehen somit bei der Aufstellung der Maßnah16 Vgl. Solf (Fn. 10), S. 175 f.; näher zur Organisationsstruktur Albrecht, Umweltqualitätsziele (Fn. 10), S. 450 ff.; Breuer, Sedimentmanagement für die Elbe, 2010, S. 159 ff. 17 Vgl. dazu Breuer (Fn. 14).

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menprogramme und Bewirtschaftungspläne sowie beim zielführenden Verwaltungsvollzug innerhalb der jeweiligen Flussgebietseinheit in einer supranationalen Solidargemeinschaft.18 Da in Deutschland die Bundesländer für den Verwaltungsvollzug im Bereich der Wasserwirtschaft zuständig sind (Art. 30, 83 GG), obliegt den Ländern die „Koordinierung von Verwaltungsvereinbarungen“ innerhalb der jeweiligen Flussgebietseinheit. Hierunter ist richtigerweise die Koordinierung des gesamten wasserwirtschaftlichen Verwaltungsvollzuges zu verstehen. Aus bundesstaatlichen wie aus wasserwirtschaftlichen Gründen bilden hierbei die beteiligten Länder und der mitbeteiligte Bund eine nationale Solidargemeinschaft; diese ist notwendige Voraussetzung für eine funktionsfähige Flussgebietsverwaltung. Eine solidarische Kooperation unter den Bundesländern und dem Bund wird zusätzlich durch den supranationalen Zwang des europarechtlichen effet utile gefordert. Somit setzt sich die supranationale, unter den EU-Mitgliedstaaten bestehende Solidargemeinschaft in der bundesstaatlichen Innensphäre fort.19

IV. Historische und aktuelle Beispiele für solidarische Aufgabenstellungen in Flussgebietseinheiten 1. Der historische Beispielsfall der Donauversinkung Für das Flussgebiet der Donau hat der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich am 17./18. Juni 192720 in der verfassungsrechtlichen Streitsache der Länder Württemberg und Preußen gegen das Land Baden eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen, die unter dem Stichwort „Donauversinkung“ bekannt ist und bereits alle Merkmale der Solidargemeinschaft zwischen den streitenden Ländern erkennen ließ. Die Grundursache des Streitfalls bestand in der Tatsache, dass die Flussufer des Oberlaufs der Donau auf einer zunächst auf badischem, danach auf württembergischem Gebiet verlaufenden Strecke von zerklüftetem, durchlässigem Kalkgestein gebildet werden, in dessen Poren, Rissen und Spalten das Flusswasser versickert. Das versickerte Wasser fließt unterirdisch nach Süden ab und tritt zum größten Teil als Quelle der Aach wieder zutage, die auf badischem Gebiet fließt und in den Bodensee mündet. Der Rechtsstreit betraf drei Versinkungsgebiete, von denen die beiden oberen auf badischem Gebiet lagen, während das untere sich auf württembergischem Ge18

Breuer (Fn. 16), S. 161. Breuer (Fn. 16), S. 162. 20 In: RGZ 116, Anh. S. 18 ff.; den Hinweis auf diese Entscheidung verdankt der Verf. Herrn RA Johannes Bohl durch dessen Impulsvortrag vom 20. 01. 2011 im Rahmen des Rechtsworkshops „Oberlieger-Unterlieger-Probleme – Das Verhältnis von Oberliegern und Unterliegern bei Maßnahmen des vorbeugenden Hochwasserschutzes an (internationalen) Flussläufen“ am 20./21. 01. 2011 in Dresden, abrufbar auf der Homepage des INTERREG IV B CENTRAL EUROPE Projektes LABEL, http://www.label-eu.eu/de/veranstaltungen/pastevents/rechtsworkshop-dresden.html. 19

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biet befand. Seit der Zeit um 1900 waren die Folgen der Donauversinkung in Gestalt lange währender Vollversinkungen in verstärktem Maße aufgetreten. Das Land Württemberg warf dem Land Baden vor, durch bestimmte Wasserbaumaßnahmen die verstärkte Versinkung zu verursachen, und stellte beim Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich den Antrag, die badische Landesregierung für verpflichtet zu erklären, dafür zu sorgen, dass bestimmte Sicherungsmaßnahmen gegen die Donauversinkungen getroffen wurden. Das Land Baden bestritt die behauptete Kausalität und machte im Übrigen – erfolglos – geltend, dass eine Gabelung der Donau in zwei Flussläufe, nämlich die eigentliche Donau und die Aach, vorliege. Überdies stellte das Land Baden den Gegenantrag, die württembergische Regierung für verpflichtet zu erklären, die Wasserverhältnisse in der Donau im württembergischen Versinkungsgebiet so wiederherzustellen und zu erhalten, wie sie vor den näher bezeichneten Bau- und Eingriffsmaßnahmen bestanden hatten. Auch Württemberg bestritt die ihm vorgeworfene Kausalität. Da die Donau, nachdem sie badisches und württembergisches Gebiet durchflossen hat, auf hohenzollernsches, seinerzeit preußisches Gebiet übertrat, beteiligte sich das Land Preußen an dem Rechtsstreit, indem es dem Land Württemberg beitrat und sich dessen Anträgen anschloss. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat durch die Zwischenentscheidung vom 17./18. Juni 1927 die Verpflichtung des Landes Baden festgestellt, die durch die umstrittenen Maßnahmen verursachte Vermehrung der natürlichen Versinkung des Donauwassers zu beseitigen, und zugleich ausgesprochen, dass Baden zur Verbesserung des Donaubetts durch Schaffung einer regelmäßigen Flusssohle nicht verpflichtet war. Hiermit korrespondierend, hat der Gerichtshof auch das Land Württemberg für verpflichtet erklärt, die durch bestimmte Maßnahmen verursachte Verminderung der natürlichen Versinkung des Donauwassers auf württembergischem Gebiet zu beseitigen. Beachtenswert ist auch aus heutiger Sicht die Begründung des Gerichtshofs. Überzeugend bejahte dieser den öffentlich-rechtlichen Charakter der Streitigkeit und seine Zuständigkeit nach Art. 19 WRV. Schwer tat der Gerichtshof sich jedoch damit, die maßgebende materielle Rechtsgrundlage für die Entscheidung ausfindig zu machen. Nach der Feststellung, dass die Entscheidung weder dem Reichsrecht (Gewerbeordnung) noch dem Landesrecht (Landeswasserrecht) entnommen werden konnte, sah der Gerichtshof nur noch Völkerrecht in Frage kommen. Dessen Anwendbarkeit im Verhältnis der deutschen Länder zueinander sei aufgrund ihrer historischen Stellung als selbstständiger Staaten anzuerkennen, wenngleich nur in beschränktem Maße. Aus den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts (Art. 4 WRV, nunmehr Art. 25 GG) folgerte der Gerichtshof eine Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Achtung und Rücksichtnahme, nämlich die Pflicht, einander nicht zu verletzen. Aus heutiger Sicht überrascht zunächst der Rückgriff auf das Völkerrecht. Ein moderneres Bundesstaatsverständnis klingt an, wenn es in den Entscheidungsgründen des Staatsgerichtshofes heißt, noch enger als die allgemeine Völkergemeinschaft

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sei die Gemeinschaft, in der die deutschen Länder als Glieder des Deutschen Reichs zueinander stünden. Aus ihrem engeren Verhältnis ergäben sich unter ihnen Verpflichtungen, die sich, wenigstens im gleichen Maße, aus dem für alle Staaten geltenden Völkerrecht nicht herleiten ließen. Dennoch griff der Gerichtshof danach nochmals auf die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts über internationale Wasserläufe zurück: Die an einem Wasserlauf beteiligten Staaten müssten untereinander „die durch die Verhältnisse gebotene Rücksicht nehmen“. Kein Staat dürfe den anderen in der diesem durch die Natur ermöglichten Verwertung eines Wasserlaufs erheblich beeinträchtigen. Verboten seien dadurch indessen nur Eingriffe in die Wasserverhältnisse durch Menschenhand. Umgekehrt folge aus dem Völkerrecht, dass jeder Staat sich den natürlichen Wasserverhältnissen und ihrer Entwicklung beugen müsse. Grundsätzlich sei kein Staat verpflichtet, zu Gunsten eines anderen Staates in den durch die Natur geschaffenen Abfluss des Wassers einzugreifen. Demzufolge erkannte der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich in dem Baden zuzurechnenden Aufstau des Wassers mit der Nebenwirkung der Mehrversinkung einen unzulässigen Eingriff in die Wasserverhältnisse anderer Länder. Darin sah der Gerichtshof einen völkerrechtswidrigen Zustand, den die Unterliegerstaaten nicht zu dulden brauchten. Zu beseitigen brauche Baden aber nicht die natürliche Versinkung, sondern nur die durch den Stau bewirkte Mehrversinkung. Auf die Gewässerunterhaltung und die Unterlassung notwendiger Unterhaltungsmaßnahmen bezogen, sah der Gerichtshof „ein gewisses Mindestmaß der Flußunterhaltung“ als geschuldet an. Da ein Staat einen Fluss, der ihm mit anderen Staaten gemeinsam sei, nicht einseitig in seinem Interesse ausnutzen dürfe, sei die Folgerung geboten, dass er auch die Vorkehrungen nicht unterlassen dürfe, „die heute ein Kulturstaat üblicherweise bei seinen Flüssen trifft“. Wenn ein Staat solche Maßnahmen versäumt oder gar untersagt, liegt nach der Erkenntnis des Gerichtshofs kein bloßes Gewährenlassen natürlicher Vorgänge, sondern „ihre unrechtmäßige Förderung durch das Unterlassen eines nach allgemeiner Auffassung gebotenen Tuns“ vor. Nach diesen Grundsätzen muss gerade in den wasserrechtlichen Beziehungen zwischen deutschen Staaten – so der Gerichtshof – „die Gemeinschaft berücksichtigt werden, in der sie als Glieder des Reiches stehen“. Das Unterlassen jeder geordneten Flussunterhaltung auf der fraglichen Strecke sei deshalb im Verhältnis zu den anderen deutschen Donaustaaten rechtswidrig. Baden sei daher zur Beseitigung der durch seine Untätigkeit verursachten Mehrversinkung verpflichtet. Den zuerkannten Gegenanspruch Badens stützte der Gerichtshof auf dieselben Grundsätze. So müsse auch an dem Donauwasser der württembergischen Versinkungsstrecke eine zwischen den Ländern bestehende Gemeinschaft anerkannt werden. Diese Gemeinschaft verpflichte das Land Württemberg, „sich solcher Eingriffe in die natürliche Wasserverteilung zu enthalten, die badische Interessen erheblich schädigen“. Da Württemberg hiernach nur verpflichtet war, die natürliche Donauversinkung auf seinem Gebiet nicht zu vermindern, durfte es aus der Sicht des Gerichtshofs bestehende künstliche Vorrichtungen und Anlagen beseitigen, welche die Ver-

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sinkung beförderten. Einen unzulässigen Eingriff in die Rechte Badens sah der Gerichtshof jedoch in der Gestattung des Betriebs eines Kraftwerks, welches das Donauwasser zu großen Teilen verbrauchte und so eine die badischen Interessen verletzende Verminderung des Versinkungswassers verursachte. Blickt man aus heutiger Sicht auf die Entscheidung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich zur Donauversinkung zurück, so erscheint der Rückgriff auf völkerrechtliche Grundsätze eher umständlich und fernliegend. Der Sache nach kommen die wiedergegebenen Entscheidungsgründe den verfassungsrechtlichen, heute geläufigen Grundsätzen des Bundesstaates nahe. Insbesondere lässt die geforderte Rücksichtnahme unter den Mitgliedstaaten bereits das heute anerkannte Prinzip der Bundestreue21 anklingen.

2. Aktuelle Beispiele ganzheitlicher Aufgabenstellungen in Flussgebietseinheiten Aktuelle Beispiele, in denen ganzheitliche Aufgabenstellungen in Flussgebietseinheiten hervortreten, stellen Bewährungsproben für das Prinzip der einheitlichen Flussgebietsverwaltung dar. Solche Beispiele finden sich auch auf deutschem Gebiet. a) Ein Beispiel dieser Art stellt das Sedimentmanagement für die Elbe dar. Hierfür haben die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und die Hamburg Port Authority (als Anstalt des öffentlichen Rechts) das Strombau- und Sedimentmanagementkonzept für die Tideelbe vom 1. Juni 2008 vorgelegt.22 Diesem Konzept liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die in jüngerer Zeit erheblich angestiegenen Mengen und die stoffliche Beschaffenheit des Baggerguts im Hamburger Raum, die daraus resultierenden Anforderungen und verschärfte rechtliche Rahmenbedingungen die Entwicklung eines übergreifenden Strombau- und Sedimentmanagements erforderlich machen. Übereinstimmung besteht darüber, dass den flussgebietsbezogenen Herausforderungen „nur dann wirksam begegnet werden kann, wenn die an der Elbe tätigen Institutionen auf der Basis einer übergreifenden Analyse zu einer gemeinsamen Strategie finden“.23 Das vorgelegte Strombau- und Sedimentmanagementkonzept hat als fachbehördliche Grundlage weder rechtsförmlichen noch abschließenden Charakter. Es enthält keine rechtsverbindlichen Festlegungen wasserbaulicher oder wasserwirtschaftlicher Maßnahmen. Künftig soll es indessen als Maßnahmenteil in die „Managementpläne“ nach der WRRL eingehen und in die Pläne nach der FFH-Richtlinie überführt werden.24 21

Vgl. einstweilen statt vieler: Jestaedt, Bundesstaat und Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 29, Rn. 29; Näheres unten V.3. 22 Vgl. Breuer (Fn. 16), mit Abdruck des Konzepts im Anhang. 23 HPA/WSV (Hrsg.), abgedruckt bei Breuer (Fn. 16), S. I (Kurzfassung). 24 HPA/WSV (Hrsg.), ebda.

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Die Gewährleistungspflicht der EU-Mitgliedstaaten für eine geeignete, kooperative und effektive Flussgebietsverwaltung ist im Zusammenhang mit der Erkenntnis zu sehen, dass das vorliegende Strombau- und Sedimentmanagementkonzept sich unter den gegebenen Umständen als alternativloser und erfolgversprechender Weg zur Bewältigung der komplexen Sedimentprobleme in der Elbe wie im Hamburger Hafen darstellt. Deshalb sollte jedenfalls der deutsche Teil des Bewirtschaftungsplans für das Elbeeinzugsgebiet durch entsprechend konkretisierte Angaben über dieses Konzept und die darin vorgesehenen Maßnahmen ergänzt werden. Das Konzept sollte damit ausdrücklich in den Bewirtschaftungsplan eingehen.25 Darüber hinaus erscheint es wegen des Sachzusammenhangs empfehlenswert, auch das Maßnahmenprogramm für die Flussgebietseinheit Elbe durch entsprechende, auf die grundsätzlichen Angaben konzentrierte Inhalte zu vervollständigen.26 b) Ein weiteres Beispiel für eine drängende wasserwirtschaftliche Aufgabenstellung, die sich nur ganzheitlich lösen lässt, findet sich in der (rein deutschen) Flussgebietseinheit Weser. Dort ist der Quellfluss Werra in überaus hohem Maße mit Einleitungen und diffusen Einträgen von Salzlaugen und anderen Schadstoffen aus der Kali-Industrie belastet. Die hohe Salzlast wirkt in der Weser fort. Der schlechte Wasserzustand im Werra- und Weser-Flusssystem steht im krassen Gegensatz zu den Umweltzielen nach Art. 4 und Anhang V WRRL. Die beteiligten Bundesländer, insbesondere Hessen, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, sind darüber uneinig, wie diese Situation zu behandeln ist.27 Der Dissens betrifft sowohl die Beurteilung des gegenwärtigen Zustands als auch die künftige Entwicklung der Flüsse Werra und Weser. Erstaunlicherweise fehlt hier bisher eine institutionalisierte Abstimmung zwischen den beteiligten Bundesländern. Das europarechtliche, durch § 7 WHG in deutsches Recht umgesetzte Organisationsprinzip der kohärenten, zielführenden und effektiven Flussgebietsverwaltung verlangt indessen eine aktive und gleichberechtigte Mitwirkung unter den beteiligten Bundesländern in der Flussgebietseinheit. Eine passive Betroffenenbeteiligung der gebietszugehörigen Länder reicht nicht aus.28 Wo es an einer aktiven Mitwirkung der beteiligten Länder fehlt, kann weder mit einer kohärenten, zielführenden und effektiven Flussgebietsverwaltung noch mit konsistenten Maßnahmenprogrammen und Bewirtschaftungsplänen gerechnet werden. Das hieraus resultierende Strukturdefizit liegt im Falle der Flussgebietseinheit Weser offen zutage; denn dort erlauben die Länder Hessen und Thüringen als Oberlieger weiterhin, jedenfalls vorerst, die 25

Breuer (Fn. 16), S. 127 ff., 131, 185. Breuer (Fn. 16), S. 131, 185. 27 Dazu bereits Breuer, in: Embid Irujo/Kölling (Fn. 7), S. 302; bemerkenswerterweise ist jüngst im Niedesächsischen Landtag ein Antrag der SPD-Fraktion eingebracht worden, der voraussichtlich zu einer fraktionenübergreifenden Entschließung des Landtags führen wird und die Beteiligung Niedersachsens an „Genehmigungsverfahren“ wegen der Werra-WeserVersalzung sowie zur Erreichung dieses Ziels die Einschaltung der EU-Kommission und des EuGH fordert. 28 Vgl. oben II.1. mit Fn. 8 – 10. 26

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überkommenen Salzeinleitungen, während demgegenüber insbesondere das Land Niedersachsen seine aktive und gleichberechtigte Beteiligung an den Planungsund Bewirtschaftungsentscheidungen fordert und unter Bezugnahme auf den Stand der Technik (im Sinne des deutschen Rechts) und die beste verfügbare Technik (i.S. des europäischen Rechts) Protest gegen die fortdauernde Einleitungspraxis artikuliert.29 Von der Sache her stehen weitere dauerhafte Einleitungen in die Werra, eine alternativ propagierte Einleitung von Salzlaugen in die Nordsee (mittels einer Rohrleitung) und die Befürwortung technischer Alternativen gemäß dem Stand der Technik (i.S.d. § 57 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Nr. 11 WHG und der Anlage 1 zum WHG) einander gegenüber. Dieser offene Dissens wird in den Maßnahmenprogrammen und Bewirtschaftungsplänen der beteiligten Länder weder bewältigt noch zielführend behandelt. Bloße „Referate“ über die Problematik und alternativ erwogene Vorgehensweisen30 vermögen den finalen und organisatorischen Anforderungen der WRRL an die ganzheitliche, naturräumlich ausgerichtete Flussgebietsverwaltung nicht zu genügen. c) Ein weiterer Bereich ganzheitlicher Aufgabenstellungen in Flussgebietseinheiten besteht im vorbeugenden Hochwasserschutz. Dieser hat durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2007/60/EG über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken31 aktuelle Bedeutung erhalten. Hiernach sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, für die Zwecke des Hochwasserschutzes die nach Art. 3 Abs. 1, 2, 3, 5 und 6 WRRL „getroffenen Vereinbarungen“ zu nutzen. Dieser in der deutschen Fassung der beiden Richtlinien verwendete Begriff ist sprachlich verfehlt und sachlich zu eng. Entsprechend den statt seiner verwendeten Begriffen der „arrangements“ (so die englische Fassung) und der „dispositions“ (so die französische Fassung) ist er im weiten Sinne von „Vorkehrungen und Maßnahmen“ zu lesen.32 Demgemäß müssen die Mitgliedstaaten für das Hochwasser – ebenso wie für das Flussgebietsmanagement – nicht nur „Vereinbarungen“, sondern auch sonstige Vorkehrungen und Maßnahmen einsetzen. Dies gilt insbesondere auch für Maßnahmen der Unterhaltung und des Ausbaus oberirdischer Gewässer. Durch die Hochwasserereignisse der jüngeren Zeit haben sich die „OberliegerUnterlieger-Probleme“ in den Flussgebietseinheiten als besondere Herausforderung erwiesen. In nationalen und – mehr noch – in internationalen Flussgebietseinheiten wird es in Zukunft darauf ankommen, dass der vorsorgende Hochwasserschutz kooperativ, grenzüberschreitend und ganzheitlich erfolgt. Dabei muss nicht nur die gesamte wasserwirtschaftliche Aufgabenwahrnehmung, sondern auch die räumliche 29

Vgl. oben Fn. 27. So aber FGG Weser (Hrsg.), EG-Wasserrahmenrichtlinie, Maßnahmenprogramm 2009 für die Flussgebietseinheit Weser, Ziff. 3.1.1; Bewirtschaftungsplan 2009 für die Flussgebietseinheit Weser, Ziff. 2.1.1 und 5.1.1. 31 Richtlinie vom 23. 10. 2007, ABl.EU 2007, Nr. L 288/27. 32 Breuer (Fn. 4), Rn. 80, 82 ff.; ders., Der Entwurf einer EG-Wasserrahmenrichtlinie, NVwZ 1998, 1001 (1003 ff.); Reinhardt, Deutsches Verfassungsrecht und Europäische Flußgebietsverwaltung, ZUR Sonderheft 2001, 124 (126 ff.). 30

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Gesamt- und Fachplanung einbezogen werden. Vor allem gilt es, die Festsetzung von Überschwemmungsgebieten sowie das hiermit verbundene Verbot der Ausweisung neuer Baugebiete (§§ 76 – 78 WHG) im flussgebietsweiten Zusammenhang zu begreifen.33 Ein Beispiel für dahingehende, durchaus begrüßenswerte Bemühungen ist das internationale Projekt LABEL – Anpassung an Hochwasserrisiken im Elbeeinzugsgebiet.34

V. Juristische Grundlagen: Rechte und Pflichten unter den Mitgliedern der Flussgebietsgemeinschaft 1. Das funktionale Erfordernis durchsetzbarer Rechtsansprüche Weil die Flussgebietsgemeinschaften einen zwar organisationsrechtlich lockeren, aber wasserwirtschaftlich tragenden Koordinierungsverbund bilden, sind sachnotwendige Kooperations- und Koordinierungspflichten unter den Mitgliedern der jeweiligen Flussgebietsgemeinschaft anzuerkennen. Dabei geht es nicht allein um die kooperative Aufstellung des Maßnahmenprogramms und der Bewirtschaftungspläne, sondern auch um den praktischen Verwaltungsvollzug durch die planmäßige und zielführende Bewirtschaftung der Gewässer in der jeweiligen Flussgebietseinheit. Wenn in wasserwirtschaftlichen Konzepten (wie z. B. in dem Strombau- und Sedimentmanagementkonzept für die Elbe35), in einem Maßnahmenprogramm (gemäß Art. 11 WRRL und § 82 WHG) oder in Bewirtschaftungsplänen (gemäß den Art. 13, 14 WRRL und § 83 WHG) Maßnahmen innerhalb der Flussgebietsgemeinschaft abgestimmt und festgelegt sind, kommt es von Rechts wegen entscheidend darauf an, inwieweit eines der beteiligten Bundesländer von den anderen Mitgliedern die solidarische Ausführung dieser Maßnahmen oder zumindest die Unterlassung von Handlungen verlangen kann, welche den abgestimmten Konzepten, Programmen oder Bewirtschaftungsplänen zuwiderlaufen. Damit die Flussgebietsgemeinschaft ihre Aufgaben zielführend und effektiv erfüllen kann, müssen unter den Mitgliedern, insbesondere unter den beteiligten Bundesländern, durchsetzbare Rechtsansprüche bestehen. Diesem funktionalen Erfordernis kann nur genügt werden, wenn die Flussgebietsgemeinschaft als organisierte Solidargemeinschaft eine rechtlich verfasste Korporation ist, deren Mitglieder untereinander in Rechtsverhältnissen stehen. Nur hieraus können unter den Mitgliedern subjektive Rechte und korrespondierende Pflichten erwachsen. 33

Vgl. statt vieler: Köck (Hrsg.), Rechtliche Aspekte des vorbeugenden Hochwasserschutzes, 2005; Kloepfer (Hrsg.), Hochwasserschutz, Herausforderungen an Recht und Politik, 2009. 34 Dazu oben Fn. 20. 35 Dazu oben IV.2.a).

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2. Grundlagen der Rechtsverhältnisse innerhalb der Flussgebietsgemeinschaften Während auf der europarechtlichen Ebene Art. 3 WRRL durch das Gebot der Koordinierung in der jeweiligen Flussgebietseinheit die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet und in einer supranationalen Solidargemeinschaft aneinander bindet, obliegt es dem nationalen (deutschen) Recht, den Koordinierungsverbund unter den Bundesländern eines Flussgebiets und dem mitbeteiligten Bund rechtlich auszugestalten. Dies ist bundesrahmenrechtlich zunächst durch § 1b Abs. 2 WHG a.F. und nunmehr durch § 7 Abs. 2 – 4 WHG n.F. geschehen.36 Hierdurch sind die Kooperations- und Koordinierungspflichten unter den Mitgliedern rechtlich formalisiert und positiviert worden. Damit sind zwischen den Mitgliedern konkrete Rechtsverhältnisse begründet worden, die als verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse zu qualifizieren sind.37 In diesen Rechtsbeziehungen muss sich die gesamte Bewirtschaftung der Gewässer in der jeweiligen Flussgebietseinheit vollziehen. Die einander derart verbundenen Mitglieder haben demgemäß untereinander Rechtsansprüche und korrespondierende Handlungspflichten. 3. Der anspruchsbegründende Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens Die Frage, auf welcher rechtsförmlichen Anspruchsgrundlage die Mitglieder der Flussgebietsgemeinschaft untereinander bestimmte Unterlassungen, Schutzvorkehrungen oder Sanierungsmaßnahmen fordern können, lässt sich nicht allein aufgrund der einfachgesetzlichen Vorschriften und der nach dem LAWA-Modell geschlossenen Verwaltungsvereinbarungen beantworten. Die positivrechtlichen Grundlagen des Koordinierungsverbundes geben insofern nur einen juristischen Rahmen vor, ohne spezifizierte Rechtsansprüche und Handlungspflichten zu normieren. Zur Ausfüllung dieses Rahmens bietet sich der generalklauselartige, in Rechtsprechung38 und Literatur39 anerkannte Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens an. Dieser prägt das Verhältnis zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern und wird treffend als Grundsatz der Bundestreue bezeichnet. Danach haben die Länder ebenso wie der Bund die Pflicht, dem Wesen ihres verfassungsrechtlichen „Bündnisses“ entsprechend zusammenzuwirken und „zu seiner Festigung und zur Wahrung der wohlverstandenen Belange des Bundes und der Glie36

Oben II.2. Breuer (Fn. 16), S. 165. 38 BVerfGE 1, 299 (316 ff.); 6, 309 (361 f.); 12, 205 (254 ff.); 21, 312 (326); 42, 103 (117); 43, 291 (348 ff.); 103, 81 (88 f.); st.Rspr. 39 Bayer, Die Bundestreue, 1961; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; Bauer, Die Bundestreue, 1992; im neueren Schrifttum: Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 21), § 29, Rn. 29. 37

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der beizutragen“.40 Deshalb darf „im Bundesstaat nichts geschehen …, was das Ganze oder eines der Glieder schädigt“.41 Daher erfordert die Bundestreue „die Rücksichtnahme jedes Gliedes auf Interessen und Spannungslagen, die im Bund auftreten“.42 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die „nach außen gerichteten Interessen des Bundes“. Daraus hat das BVerfG frühzeitig gefolgert, dass insbesondere auf dem Gebiet der auswärtigen Beziehungen die Treupflicht der Länder gegenüber dem Bund besonders ernst zu nehmen ist.43 In Fällen, in denen das Gesetz eine Verständigung zwischen dem Bund und den Ländern fordert, hat das BVerfG eine gesteigerte Mitwirkungspflicht aller Beteiligten angenommen. Hieraus folgt, dass „der einer allseitigen Verständigung entgegenstehende unsachliche Widerspruch eines der Beteiligten rechtlich unbeachtlich wird“.44 Des Weiteren hat das BVerfG klargestellt, dass sich aus dem Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens „sowohl konkrete, über die in der bundesstaatlichen Verfassung ausdrücklich normierten verfassungsrechtlichen Pflichten hinausgehende, zusätzliche Pflichten der Länder gegenüber dem Bund und zusätzliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern entwickeln lassen als auch konkrete Beschränkungen in der Ausübung der dem Bund und den Ländern im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen ergeben“.45 Wesentliche Bedeutung hat indessen eine einschränkende, vom BVerfG hervorgehobene Voraussetzung: Die verfassungsrechtliche Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten kommt nur in Betracht, wenn zwischen dem Bund und dem Land (oder den miteinander streitenden Ländern) ein konkretes Rechtsverhältnis besteht.46 Nach dieser Erkenntnis schafft das verfassungsrechtliche Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens als solches kein materielles Verfassungsrechtsverhältnis zwischen Bund und Land (oder zwischen verschiedenen Ländern). Es ist vielmehr akzessorischer Natur.47 Deshalb kann es für sich allein keine selbstständigen Handlungs-, Unterlassungs- oder Duldungspflichten des Bundes oder eines Landes begründen. Nur innerhalb eines anderweitig begründeten, sei es gesetzlichen oder vertraglichen Rechtsverhältnisses oder einer anderweitig begründeten Rechtspflicht „kann die Regel vom bundesfreundlichen Verhalten Bedeutung gewinnen, indem sie diese anderen Rechte und Pflichten moderiert, variiert oder durch Nebenpflichten ergänzt“.48 Zwischen den Mitgliedern einer Flussgebietsgemeinschaft besteht, wie dargelegt, ein konkretes Rechtsverhältnis, aus dem Kooperations- und Koordinierungspflichten 40 41 42 43 44 45 46 47 48

BVerfGE 6, 309 (361). BVerfGE 6, 309 (361). BVerfGE 6, 309 (361 f.). BVerfGE 6, 309 (362). BVerfGE 12, 205 (254). BVerfGE 12, 205 (255). BVerfGE 21, 312 (326); 42, 103 (117); 103, 81 (88). BVerfGE 42, 103 (117); 103, 81 (88). BVerfGE 42, 103 (117); 103, 81 (88).

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erwachsen.49 Mithin haben die Mitglieder untereinander Rechtsansprüche und korrespondierende Handlungspflichten aus dem Gesetz (§ 7 Abs. 7-4 WHG) und den gesetzeskonkretisierenden Verwaltungsvereinbarungen zur Konstituierung der Flussgebietsgemeinschaft. Diese Kooperations- und Koordinierungspflichten beziehen sich keineswegs nur auf die Aufstellung des Maßnahmenprogramms (gemäß Art. 11 WRRL und § 82 WHG) und der Bewirtschaftungspläne (gemäß den Art. 13, 14 WRRL und § 83 WHG), sondern auf die gesamte Bewirtschaftung der Gewässer in der jeweiligen Flussgebietseinheit. Hiervon ist auch der einzelfallbezogene Verwaltungsvollzug der zuständigen Landesexekutive umfasst. Auf der Grundlage und im Rahmen dieser Rechtsverhältnisse zwischen den jeweils beteiligten Ländern und dem bei Bundeswasserstraßen mitbeteiligten Bund entfaltet das verfassungsrechtliche Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens seine dirigierende Rechtswirkung. Daraus folgt, dass kein Bundesland sich innerhalb der Flussgebietsgemeinschaft in einer Weise verhalten darf, welche „das Ganze oder eines der Glieder schädigt“.50 Anders ausgedrückt: Jedes Bundesland muss Rücksichtnahme auf die „Interessen und Spannungslagen“ innerhalb der bündischen Gemeinschaft walten lassen.51 Kein Land darf eine der allseitigen Verständigung entgegenstehende und unsachliche Verweigerung praktizieren.52 Demgemäß sind alle beteiligten Länder innerhalb einer Flussgebietsgemeinschaft kraft des verfassungsrechtlichen Gebots bundesfreundlichen Verhaltens verpflichtet, die in einem gemeinsamen Konzept, Maßnahmenprogramm oder Bewirtschaftungsplan abgestimmten und festgelegten Maßnahmen solidarisch auszuführen und dadurch die koordinierte Bewirtschaftung zielführend und effektiv zu betreiben. Jedenfalls verstoßen gewässerbezogene Handlungen oder Unterlassungen eines beteiligten Landes, welche den abgestimmten Konzepten, Programmen oder Bewirtschaftungsplänen zuwiderlaufen, gegen das verfassungsrechtliche Gebot bundesfreundlichen Verhaltens, weil insoweit die Zielerreichung und somit der Bewirtschaftungserfolg im kooperativ zu verwaltenden Flussgebiet verhindert oder gefährdet würde. Eine Bestätigung dieses Ergebnisses folgt aus dem Prinzip der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Verfassungs- und Gesetzesrechts53 sowie aus dem Auslegungsargument des europarechtlichen effet utile, d. h. der praktischen Wirksamkeit des supranationalen europäischen Rechts.54 Dabei ist zu beachten, dass der Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens Mitwirkungspflichten 49

Vgl. oben V.2. BVerfGE 6, 309 (361). 51 BVerfGE 6, 309 (361 f.). 52 BVerfGE 12, 205 (254). 53 Allgemein dazu EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, Rn. 26 (von Colson und Kamann); Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8 (Marleasing); Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 31 ff. 54 Oben Fn. 6. 50

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der Länder bei der Erfüllung inter- oder supranationaler Verpflichtungen des Bundes begründet. Die Integrationsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG hat mittels des Grundsatzes der Bundestreue zur Folge, dass die Bundesländer verpflichtet sind, die aus der europäischen Integration resultierenden Pflichten zu erfüllen und im Rahmen ihrer Verwaltungskompetenzen das verbindliche Europarecht zu vollziehen.55 Da Art. 3 WRRL die EU-Mitgliedstaaten zur koordinierten und effektiven Flussgebietsverwaltung verpflichtet, „damit diese Richtlinie innerhalb jeder Flussgebietseinheit ihres Hoheitsgebiets angewandt wird“ (Art. 3 Abs. 2 WRRL), sind die Länder gegenüber dem Bund kraft des Grundsatzes bundesfreundlichen Verhaltens (d. h. der Bundestreue) verpflichtet, ihre Kooperations- und Koordinierungspflichten innerhalb der nationalen Flussgebietsgemeinschaften zielführend und effektiv zu erfüllen, damit die Bundesrepublik nicht Gefahr läuft, ihre Pflichten aus Art. 3 WRRL sowie ihre Zielverpflichtungen aus Art. 4 i.V.m. Anhang V WRRL zu verletzen. 4. Rechtspraktische Konsequenzen Aus den juristischen Grundlagen der Flussgebietsgemeinschaften gilt es rechtspraktische Konsequenzen zu ziehen. Daraus lassen sich Lösungen für die historischen wie für die aktuellen Anwendungsbeispiele ableiten. So zeigt sich, dass die bemerkenswerte Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich im Fall der Donauversinkung56 aus dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens, d. h. aus dem Gebot der Bundestreue, auch heute noch gut begründet erscheint. Ihr materiell-rechtliches Ergebnis und ihre tragenden Gründe vermögen nach wie vor zu überzeugen, wobei indessen die verfassungsrechtliche Begründungsebene anstelle der völkerrechtlichen den Vorzug verdient. Rechtssystematisch geht es hierbei um die klassische Konstellation eines verursachungsbezogenen Störungsbeseitigungs- und Unterlassungsanspruchs. Darüber hinaus wird man im Fall der Flussgebietsgemeinschaft Elbe und des Sedimentmanagements kraft der Bundestreue der Freien und Hansestadt Hamburg gegenüber den Oberlieger-Ländern (namentlich Sachsen und Sachsen-Anhalt) grundsätzlich einen Anspruch auf Durchführung von Wasserbau- und Sanierungsmaßnahmen zuerkennen müssen, die – entsprechend dem Sedimentmanagementkonzept für die Elbe – zur Eliminierung und Reduzierung bestimmter Schadstoffeinträge aus den oberstromseitigen Risikogebieten führen.57 Entscheidend hierfür ist zum einen die flussgebietsbezogene Kohärenz: Nur durch derartige, am Oberstrom notwendige Maßnahmen kann sichergestellt werden, dass die an der unteren Elbe ergriffenen Maßnahmen gemäß dem vorliegenden Konzept den angestrebten Erfolg erreichen können. Zum anderen wirkt die Störungsverursachung auch hier innerhalb der Fluss55 Puttler, Die deutschen Länder in der Europäischen Union, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl., 2008, § 142, Rn. 1 m.w.N. 56 In: RGZ 116, Anh. S. 18 ff.; dazu oben IV.1. 57 Vgl. Breuer (Fn. 16), S. 168 f.

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gebietsgemeinschaft anspruchsauslösend, soweit in den Oberlieger-Ländern Risikogebiete (in Gestalt alter Bergbau- und Industriestandorte) liegen, die Schadstoffe dort in die Gewässer eingetragen werden und Unterlieger-Länder hierdurch geschädigt werden. Die Unterlassung geeigneter und möglicher Gegenmaßnahmen, also die Fortsetzung der Störung, seitens der Oberlieger-Länder verstieße gegen das verfassungsrechtliche Gebot bundesfreundlichen Verhaltens. Im Hinblick auf den Rechtsschutz bleibt klarzustellen, dass der Verfassungsgrundsatz bundesfreundlichen Verhaltens (d. h. der Bundestreue) nicht jedes Rechtsverhältnis, in dem er sich auswirkt, in ein verfassungsrechtliches Verhältnis umwandelt.58 Vielmehr ist heute anerkannt, dass dieser Verfassungsgrundsatz auch nichtverfassungsrechtliche Beziehungen, Ansprüche und Pflichten zwischen Bund und Ländern durchwirken kann.59 Das Gebot bundesfreundlichen Verhaltens kann zwar in einem Bund-Länder-Streit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG geltend gemacht werden; dies setzt jedoch voraus, dass ein verfassungsrechtliches Verhältnis zwischen den Beteiligten zugrunde liegt.60 Dagegen ist ein öffentlich-rechtlicher Streit über nicht-verfassungsrechtliche Beziehungen, Ansprüche und Pflichten zwischen Bund und Ländern oder zwischen verschiedenen Ländern im Verwaltungsrechtsweg auszutragen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ein solcher Streit fällt in die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des BVerwG (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies gilt auch für einen Rechtsstreit zwischen Bund und Ländern oder zwischen verschiedenen Ländern über die Kooperations- und Koordinierungspflichten innerhalb einer Flussgebietsgemeinschaft; denn die Rechtsbeziehungen innerhalb der Flussgebietsgemeinschaft haben als solche keinen verfassungs-, sondern verwaltungsrechtlichen Charakter.61 Dies gilt auch für den in der Flussgemeinschaft Weser schwelenden, bisher unter den Ländern nicht offen ausgetragenen Streit über die Werra- und WeserVersalzung.62 Auch der vorbeugende Hochwasserschutz gewinnt durch die Anerkennung subjektiver Rechte und korrespondierender Handlungspflichten unter den Mitgliedern der jeweiligen Flussgebietsgemeinschaft an Durchsetzungskraft und rechtspraktischer Bedeutung. In nationalen wie in internationalen Flussgebietsgemeinschaften kann hiervon ein verstärkter Druck zu korporativer Solidarität ausgehen.

58 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 1991, Rn. 991; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 1991, § 9, Rn. 7; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 2. Aufl., 1998, § 56, Rn. 34. 59 BVerfGE 42, 103 (117 f.); 103, 81 (88). 60 Vgl. z. B. BVerfGE 103, 81 (88). 61 Breuer (Fn. 16), S. 170; anders im Erg. noch StGH für das Deutsche Reich, in: RGZ 116, Anh. S. 18 (26). 62 Vgl. oben IV.2.b).

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VI. Schlussbemerkung Als korporative Solidargemeinschaften verstanden, enthalten die Flussgebietsgemeinschaften ein beachtenswertes, bisher nicht ausgeschöpftes Potential. Seine Entfaltung stellt eine Herausforderung für Wissenschaft und Praxis dar. Leitmaxime sollte dabei die Erkenntnis sein, dass die europarechtlich initiierten Kooperationsund Koordinierungspflichten innerhalb der Flussgebietsgemeinschaften kein Phänomen „bundesstaatlicher Erosionen im Prozess der europäischen Integration“,63 sondern ein bundesstaats- und umweltadäquates Instrumentarium der korporativen Solidarität bilden.

63 Vgl. dazu die grundsätzliche Analyse von Schröder, Bundesstaatliche Erosionen im Prozeß der Europäischen Integration, JöR 35 (1986), 83 ff.

Das Emissionshandelsrecht als unterschätzter Kontrollgegenstand im europäischen Verfassungsgerichtsverbund Von Martin Burgi Würde man die deutschen Staatsrechtslehrer nach der Breite ihres wissenschaftlichen Zugriffs klassifizieren, dann gehörte Meinhard Schröder zweifelsohne in die Spitzengruppe derer, die vom Völker- bis zum Kommunalrecht arbeiten. Es erscheint daher angemessen, ihm einen Beitrag zu widmen, der zumindest zwei große Themenkomplexe berührt und diese in eine Verbindung zu bringen versucht: das Emissionshandelsrecht, mit dem sich das Trierer Institut für Umwelt- und Technikrecht im Rahmen von zwei Trierer Kolloquien beschäftigt hat,1 und die weit gespannte Thematik der Zuordnung verfassungsgerichtlicher Kompetenzen und Konzeptionen in der Europäischen Union, zu der der Jubilar ebenfalls wiederholt publiziert hat.2

I. Themenstellung Ziel dieses Beitrages ist es, nach knapp einem Jahrzehnt Emissionshandelsrecht in Europa3 eine Bilanz der bisherigen Rechtsprechungstätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu ziehen, und diese in ein Verhältnis zur einschlägigen Judikatur des EuGH zu setzen. Damit soll zugleich Anschauungsmaterial geliefert werden für die allgemeinere, typischerweise in den Foren des Europaverfassungs- bzw. Staatsrechts geführten Diskussion über Kompetenzabgrenzung und Kooperation im Verhältnis jener beiden Gerichte. Diese Diskussion leidet meines Erachtens durchaus darunter, dass sie auf einem sehr abstrakten Niveau geführt wird und zumeist die immer gleichen Standard-Entscheidungen (deren Bezeichnungen von 1 Im Jahr 2003 unter dem Titel „Emissionszertifikate und Umweltrecht“ (darin enthalten ein Beitrag des Jubilars mit dem Titel „Der Handel mit Emissionsrechten als völker- und europarechtliches Problem“, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), UTR, Bd. 74, 2004, S. 35 ff.) sowie im Jahr 2009 unter dem Titel „Energieversorgung und Umweltschutz“, UTR, Bd. 102, 2010, und einem Vortrag des Verf. („Kostenlose Zuteilung oder Versteigerung von Emissionsberechtigungen (Emissionszertifikaten)?“, S. 183 ff.). 2 Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozess der europäischen Integration – Bemerkungen zum Maastricht-Urteil, DVBl. 1994, 316; ders., Das Karlsruher Konzept der Europäischen Integration, in: FS für Wilfried Fiedler, 2011, S. 576. 3 Wenn man anknüpft an die Verabschiedung der Richtlinie 2003/87/EG am 13. 10. 2003 (ABl.EU 2003 Nr. L 275/32). Die erste Handelsperiode begann am 01. 01. 2005.

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„Bananenmarktordnung“ über „Solange I und II“ bis hin zu „Honeywell“ bzw. „Mangold“ mittlerweile jedem Studierenden geläufig sind) herangezogen werden. Kompetenzabgrenzung wie Kooperation vollziehen sich aber in der kontinuierlichen Beschäftigung mit einzelnen, ganz konkreten Rechtsmaterien, unter denen das Emissionshandelsrecht ein (wie nachfolgend zu zeigen sein wird) höchst aufschlussreiches Anschauungsobjekt bildet. Der herkömmlich auf das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen Verwaltungsrecht und dem Fachverwaltungsrecht bezogene Begriff des „Referenzgebiets“4 bringt diese Einigung zum Ausdruck, und das Emissionshandelsrecht ist bislang in seiner Eigenschaft als Referenzgebiet für die Rolle des Bundesverfassungsgerichts angesichts der fortschreitenden europäischen Integration unterschätzt worden.5 Bei der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechungsentwicklung innerhalb eines konkreten Rechtsgebiets sieht man auch, dass einiges von Zufällen abhängt, etwa davon, welcher Kläger sich zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Anliegen an welche Gerichtsbarkeit gewandt hat; auch die obersten Verfassungsgerichte sind in erster Linie nicht Gestalter der Rechtsordnung, sondern primär zur Entscheidung des ihnen jeweils vorgelegten Einzelfalls berufen.

II. Stand der Entwicklung des Emissionshandelsrechts Der europäische Emissionshandel, von dem allein hier die Rede ist, versucht, durch ökonomische Anreize das eigene Interesse der Emittenten von Treibhausgasen für das allgemeinpolitische Ziel des Klimaschutzes zu nutzen, um durch eine sog. Internalisierung externer Effekte Emissionsminderungen größeren Umfangs zu erreichen als durch staatliche Ge- und Verbote. Am Anfang steht die Festsetzung einer absoluten Menge („cap“), d. h. eine Höchstgrenze, für die Emission bestimmter erfasster Stoffe nach Maßgabe politisch definierter Klimaschutzziele. Im Anschluss an die Konferenz von Cancun hatte die EU sich einseitig auf ein 30 %-Minderungsziel für Treibhausgasemissionen festgelegt (bis 2020), und bis 2050 sogar auf 80 – 95 %. Nach Art. 9 der Emissionshandelsrichtlinie für die Zeit ab 2013 (2009/29/ EG)6 soll die absolute gemeinschaftsweite Menge der Emissionsberechtigungen jährlich linear um 1,74 % gemindert werden und im Jahr 2020 EU-weit noch maximal 1 720 Milliarden Berechtigungen umfassen. Den Ausgangswert für das Jahr 2013 hat die Kommission zwischenzeitlich festgesetzt auf 2,04 Milliarden Berech4 Vgl. hier nur Burgi, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, § 18, Rn. 115 f. 5 Ausnahmen bestätigen die Regel: So beschäftigt sich Holz, Grundrechtsimmunes Gesetzesrecht, NVwZ 2007, 1153, mit der Anwendbarkeit der sog. Solange II-Grundsätze (BVerfGE 73, 339) auf das Emissionshandelsrecht und Möller, Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof unter den Präsidenten Papier und Skouris, NVwZ 2010, 225 (227), führt den Beschluss des BVerfG vom 13. 03. 2007 (BVerfGE 118, 79; dazu noch IV.1.) explizit als Beispiel für die „Kooperation“ der beiden Gerichte an. 6 ABl.EU 2009 Nr. L 140/63.

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tigungen.7 Dabei ist das System insoweit flexibel, als jederzeit durch neue politische Entscheidungen weitere Treibhausgase (als das ursprünglich allein umfasste CO2), weitere Sektoren (gegenüber den ursprünglich allein umfassten Sektoren Industrieund Stromerzeugung) und weitere einzelne Typen von Anlagen einbezogen werden können. Die betroffenen Emittenten dürfen seit Inkrafttreten des Systems nur noch emittieren, wenn sie über sog. Emissionsberechtigungen (Emissionszertifikate) im erforderlichen Umfang verfügen. Die ordnungsrechtliche Genehmigung der emittierenden Anlage (beispielsweise die immissionsschutzrechtliche Genehmigung für ein Kraftwerk) reicht seither nicht mehr aus.8 Emissionsberechtigungen werden zu Beginn einer jeden Handelsperiode zentral zugeteilt; während der Periode können Emissionsberechtigungen durch Zukauf (d. h. durch Handel), durch technische Veränderungen an der Anlage, die die Notwendigkeit von Berechtigungen reduzieren, sowie durch Beteiligung an internationalen Klimaschutzprojekten erworben werden. Emissionen ohne Emissionsberechtigungen müssen unterlassen werden; im Falle des Zuwiderhandelns sind verschiedene Sanktionen vorgesehen. Neben der Entscheidung für die Einführung des Systems als solches sind aus öffentlich-rechtlicher Sicht die Kriterien für die Erstzuteilung der Emissionsberechtigungen am Anfang einer jeden neuen Periode von entscheidender Bedeutung, ferner die Methode der Zuteilung (unentgeltlich oder nicht). Hier wird ab dem Jahr 2013 eine deutliche Zäsur entstehen. Bis einschließlich 2012 waren bzw. sind die Zuteilungskriterien im Wesentlichen auf der Ebene des nationalen Rechts festgelegt. Die Zuteilung durfte von Europarechts wegen allenfalls im Umfang von 10 % der Zertifikate entgeltlich erfolgen (Art. 10 der RL 2003/87). Deutschland hat innerhalb somit sehr weiter Spielräume sämtliche Einzelheiten in einer Kombination von Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) und von auf die jeweilige Zuteilungsperiode bezogenen Zuteilungsgesetzen9 geregelt. Für die Anlagen der Energiewirtschaft wurde durch §§ 19 – 21 ZUG 2012 die Methode der Veräußerung bzw. (ab 7

Über www.ec.europa.eu/clima/policies/ets/cap/indes_en.htm. Die Zahl der juristischen Abhandlungen zu übergreifenden Fragen des Emissionshandelssystems ist mittlerweile unüberschaubar geworden. Aus der monographischen Literatur seien (jenseits von Kommentierungen und Handbüchern) nur die neueren Dissertationsschriften von Horichs, Funktionaler Vergleich der Emissions-Zuteilungsregeln in Deutschland, Großbritannien und Italien, 2010, und Greb, Der Emissionshandel ab 2013, 2011, sowie aus der Aufsatzliteratur Epiney, Zur Entwicklung des Emissionshandels in der EU, ZUR 2010, 236; Kobes/Engel, Der Emissionshandel im Lichte der Rechtsprechung (Teil 1 und 2), NVwZ 2011, 207 ff. und 268 ff.; Spieth/Harmer, Die neuen Zuteilungsregeln für Industrieanlagen in der dritten Phase des europäischen Emissionshandelssystems, NVwZ 2011, 920; Zenke, Die Zuteilung in der dritten Handelsperiode des Emissionshandels (2013 – 2020), IR 2010, 338, sowie Ehrmann, Klimaschutz nach Kopenhagen – Konsequenzen für die europäische Energiepolitik, in: Gundel/Lange (Hrsg.), Klimaschutz nach Kopenhagen – Internationale Instrumente und nationale Umsetzung, 2011, S. 17 ff.; Hartmann, Zuteilung, Auktionierung und Transfer von Emissionszertifikaten – Entwicklungsperspektiven des EU-Emissionshandels in Phase III (2013 – 2020), ZUR 2011, 246, genannt. 9 Vgl. zuletzt das ZUG 2012 vom 07. 08. 2007 (BGBl. I, S. 1788). 8

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2010) die der Versteigerung im Umfang von 40 Millionen Berechtigungen gewählt. Rechnet man mit einem Preis von 20,00 Euro pro Zertifikat, so müssen die betroffenen Unternehmen 800 Millionen Euro pro Jahr aufbringen, bei einem Zertifikatspreis von 30,00 Euro 1,2 Milliarden Euro. Insgesamt betrifft dies annähernd 10 % der Gesamtmenge, und von den zehn eine Veräußerung überhaupt vorsehenden EU-Mitgliedstaaten versteigern nur zwei mehr als 5 % der Gesamtmenge (Italien mit 5,47 % und England mit 7 %). Die Kombination von immer weiter verringerter Gesamtmenge, teilweise verschärften Zuteilungsregeln (etwa unter Anknüpfung an bestimmte technische Werte statt an den Bestand) und Versteigerung führt dazu, dass in immer höherem Maße und mit wachsenden finanziellen Aufwendungen entweder Emissionsberechtigungen hinzugekauft oder aber Anlagen (mit wiederum erheblichem finanziellen Aufwand) technisch verändert bzw. ganz aufgegeben werden müssen. Dass es im Gefolge dessen zu erheblichen Verwerfungen innerhalb des jeweiligen Marktes und in Abhängigkeit von der jeweils bestehenden Ausgangslage kommt, und zwar europaweit, liegt auf der Hand. Der bloße Hinweis auf den Vergleich zwischen einem Stromerzeugungsunternehmen, dessen Kraftwerkspark (wie in Frankreich) überwiegend aus CO2-freien Atomkraftwerken besteht einerseits, und einem Unternehmen mit einem hohen Anteil an Kohlekraftwerken, dürfte dies illustrieren. Neben den Emittenten selbst sind deren Kunden auf nachfolgenden Wertschöpfungsstufen (beispielsweise Industrieunternehmen mit sehr stromintensiver Produktion) und natürlich auch die Endverbraucher betroffen. Die schon bislang enorme, in anderen Bereichen der Wirtschafts- und Umweltpolitik kaum einmal in dieser Dimension anzutreffende Änderungskraft und -wirkung des Emissionshandelssystems wird durch die zum 1. Januar 2013 bewirkten gesetzgeberischen Maßnahmen noch einmal verstärkt. Die wichtigsten belastenden Entscheidungen entstammen dann unmittelbar der EU-Ebene, während im nationalen Recht Maßnahmen ausführenden und konkretisierenden Charakters erfolgen werden. So wird nicht nur die Mengenobergrenze EU-weit festgelegt sein, sondern auch die Zuteilungsregeln und die Zuteilungsmethode werden unmittelbar durch die Richtlinie 2009/29/EG10 nebst mehrerer konkretisierend-flankierender Rechtsakte festgelegt. Ab 2013 wird für alle stromproduzierenden Anlagen die Versteigerung der Regelfall sein, d. h., die kostenfreie Zuteilung ist im Hinblick auf diese Anlagen (seien es Bestands- oder Neuanlagen) nur noch ausnahmsweise für einige neue Mitgliedstaaten vorgesehen. Die Einzelheiten sind in der Auktions-Verordnung der EU vom 12. November 201011 geregelt. Das Volumen, in dem die betroffenen Unternehmen künftig von Anfang an entgeltlich Emissionsberechtigungen erwerben müssen, wird sich dadurch in Deutschland gegenüber der bisherigen Rechtslage verzehnfachen; die Erlöse aus der Versteigerung stehen dem Bund zu (§ 8 Abs. 3 Satz 2 TEHG). Europarechtlich vorgegeben sind auch die Grundstrukturen der Verwen10 11

ABl.EU 2009 Nr. L 140/63. VO 1031/2010, ABl.EU 2010 Nr. L 302/1.

Das Emissionshandelsrecht im europäischen Verfassungsgerichtsverbund

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dung. Danach sollen 50 % der erzielten Einnahmen für Zwecke der Klimaschutzpolitik verwendet werden.12 Der Bundestag hat sodann entschieden, dass alle Einnahmen des Bundes aus der Versteigerung der Emissionszertifikate unmittelbar in den „Energie- und Klimafonds“13 fließen sollen. Bei Anlagen der Industrie findet weiterhin in ganz überwiegendem Umfang eine Zuteilung statt; sie soll bis 2020 auf 30 % und erst bis 2027 auf 0 % abgeschmolzen werden; eine gänzlich kostenfreie Zuteilung ist vorgesehen für Unternehmen, bei denen die Gefahr einer Verlagerung von Emissionen in Staaten, die nicht am EU-Emissionshandel teilnehmen, besteht (sog. carbon leakage). Die Zuteilungsregeln sind in verschiedenen Rechtsakten der EU sowie in weiteren Dokumenten (insbesondere in den Guidancepapers Nr. 1 – 9 der Kommission aufgrund Beschluss vom 27. April 201114) niedergelegt. Wichtigstes Zuteilungskriterium ist dabei die Orientierung an unionsweiten, einheitlich produktbezogenen Emissionswerten (sog. benchmarks). Diese sollen nicht mehr nach dem Prinzip der besten verfügbaren Technik festgelegt werden, sondern nach einem Ausgangspunkt in Gestalt der Durchschnittsleistung der 10 % effizientesten Anlagen eines Sektors in den Jahren 2007 – 2008. Auf nationaler Ebene ist daraufhin das TEHG durch Gesetz vom 21. Juli 201115 grundlegend angepasst worden. Ihm zur Seite tritt die Zuteilungsverordnung 2020 vom 26. September 201116 und (um nur die Wichtigsten zu nennen) die Datenerhebungsverordnung 2020 vom 22. Juli 2009.17 Es liegt auf der Hand, dass allein die Abgrenzung zwischen Anlagen der Energiewirtschaft und der übrigen Industrie zahlreiche Abgrenzungsprobleme aufwerfen wird, am deutlichsten im Hinblick auf sog. Industriekraftwerke, also Anlagen, die ausschließlich Strom und Wärme zur Versorgung eines Industriebetriebs als integraler Bestandteil in dessen Produktionsprozess erzeugen. Angesichts des mittlerweile erreichten Grades der normativen Verfestigung und Vertiefung und vor allem im Hinblick auf das hierdurch buchstäblich bewegte wirtschaftliche Potenzial, kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Emissionshandel auf lange Sicht das bedeutendste, in sich geschlossenste Instrument der europäischen Klimaschutzpolitik bildet, auch wenn ihm in den vergangenen Monaten sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene weitere Bausteine zur Seite gestellt worden sind.18 Einleitend wurde bereits festgestellt, dass in der Diskussion um das Kom12

Art. 10 Abs. 3 der RL 2003/87/EG i. d. F. d. Änderungsrichtlinie 2009/29/EG. § 4 des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ (EKFG) vom 08. 12. 2010 (BGBl. I, S. 1807). 14 ABl.EU 2011 Nr. L 130/1. 15 BGBl. 2011 I, S. 1475. 16 BGBl. 2011 I, S. 1921. 17 BGBl. 2009 I, S. 2118. 18 Zum unverändert herausragenden Stellenwert des Emissionshandelsrechts innerhalb der neuen Rechtsgebiete Klimaschutzrecht und Umweltenergierecht vgl. nur Sailer, Klimaschutz 13

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petenz- und Kooperationsgefüge zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH die einzelnen betroffenen Rechtsgebiete vielfach unterschätzt werden. Eine weitere Gefahr der Unterschätzung tritt nun konkret im Hinblick auf das Emissionshandelsrecht als ein solches Referenzgebiet hinzu. Infolge der hochkomplizierten, teilweise im Monatsrhythmus veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen und des intensiven Zusammenhangs mit technischen und ökonomischen Realitäten droht das Gebiet zu einer „Insiderwissenschaft“19 zu werden, die in den allgemeineren Foren entweder gar nicht mehr oder nur höchst oberflächlich (und teilweise unzutreffend) wahrgenommen wird. Dies gilt weniger auf der Ebene des Verwaltungsrechts, wo die emissionshandelsrechtlichen Verfahren teilweise sogar als Paradigma eines neuen Verteilungsverfahrens gesehen werden20 bzw. der Versteigerungsmechanismus als Erscheinungsform eines „instrumentellen“, d. h. vom Staat planmäßig zur Initiierung von Gemeinwohleffekten in Gang gebrachten Wettbewerbs identifiziert wird,21 und auch nicht für die ökonomische Analyse des Rechts, die den Emissionshandel als neues Forschungsobjekt entdeckt hat,22 wohl aber im Hinblick auf das nationale und auf das europäische Verfassungsrecht. Hier ist bereits in den vergangenen Jahren m. E. eine größer werdende Wahrnehmungskluft entstanden, die angesichts der unabweisbaren Intensität der Betroffenheit eindeutig grundrechtlich geschützter Interessen (konkret in Gestalt der Berufs- und Eigentumsfreiheit) identifiziert und nach Möglichkeit verringert werden muss. Dies gilt umso mehr, als sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der EuGH in absehbarer Zeit mit weiteren emissionsrechtlichen Kontrollgegenständen konfrontiert sein werden. Dies betrifft sowohl die möglicherweise den Weg zum Bundesverfassungsgericht (vielleicht über eine Richtervorlage nach Art. 100 GG?) findende Teil-Versteigerung von Emissionsberechtigungen in der bis 2012 laufenden Handelsperiode als auch die primär an den EuGH zu adressierende künftig im Bereich der Energiewirtschaft stattfindende 100 %-Versteigerung, ferner die Abgrenzung zwischen Energiewirtschaft und Industrie und sodann vor allem die Gestaltung und Anwendung der einzelnen Zuteilungskriterien im Hinblick auf die Industrieanlagen. Einen weiteren Bedeutungsschub erlangt das Emissionshan-

und Umweltenergierecht – Zur Systematisierung beider Rechtsgebiete, NVwZ 2011, 718; daran dürften auch die teilweise zu verzeichnenden Rufe nach einer Wiederertüchtigung des Ordnungsrechts (vgl. Beckmann/Fisahn, Probleme des Handels mit Verschmutzungsrechten – eine Bewertung ordnungsrechtlicher und marktgesteuerter Instrumente in der Umweltpolitik, ZUR 2009, 299) nichts ändern. 19 Begriff nach Spieth/Hamer (Fn. 8), 920 (923). 20 Vgl. insoweit Röhl, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2008, § 30 Rn. 10 ff. 21 Vgl. Kersten, Die Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, VVDStRL 69 (2010), 288 (308 ff.). 22 Vgl. unter diesem Aspekt Magen, Rechtliche und ökonomische Rationalität im Emissionshandelsrecht, in: Towfigh u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, 2009, S. 9 (19 ff.).

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delsrecht durch die ab 2012 bzw. 2013 erfolgende Einbeziehung weiterer Tätigkeiten und Treibhausgase sowie zusätzlicher Sektoren, insbesondere den Luftverkehr.23

III. Der europäische Verfassungsgerichtsverbund 1. Analyserahmen Mit dem Begriff des „europäischen Verfassungsgerichtsverbundes“ hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle,24 meines Erachtens in nutzbringender Weise versucht, „das Phänomen einer sich verstärkenden Relationierung der nationalen Verfassungsgerichte“ zu erfassen.25 Der Verbundbegriff würde helfen, „Funktionsweisen eines komplexen Mehrebenensystems“ zu beschreiben, ohne dass damit schon die genauen Techniken des Zusammenspiels festgelegt wären. Damit ermöglicht er einen Verzicht auf räumliche, stark vereinfachende Bilder wie „Gleichordnung, Über- und Unterordnung“. Stattdessen eröffnet er die differenzierte Bewältigung anhand unterschiedlicher Ordnungsgesichtspunkte wie Einheit, Differenz und Vielfalt, Homogenität und Pluralität, Abgrenzung, Zusammenspiel und Verschränkung. Im Gedanken des Verbundes sind Eigenständigkeit, Rücksichtnahme und Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln gleichermaßen angelegt.26 Es handelt sich mithin nicht um einen dogmatischen Begriff, sondern um die Bezeichnung eines Analyserahmens, innerhalb dessen die einzelnen Funktionsweisen und Strukturen betrachtet und weiterentwickelt werden können, und zwar jenseits des vielfach aufgeregten Nachzeichnens einzelner spektakulärer Entscheidungen des einen oder des anderen Gerichts (im vorliegenden Zusammenhang muss der zutreffender Weise in den Verbund einbezogene EGMR außer Betracht bleiben). Innerhalb dieses Analyserahmens sollen nachfolgend entfaltet werden die jeweils maßgeblichen Prüfungsmaßstäbe (III.2.) und der Umgang mit einzelnen Kontrollgegenständen. Dabei wird primär die Perspektive der Betroffenen eingenommen, denen es naheliegender Weise weniger um eine möglichst effektive, funktionsadäquate Zuordnung der Kompetenzen verschiedener Gerichte im europäischen Mehrebenensystem, sondern primär darum geht, effektiven Verfassungsrechtsschutz zu erlangen.

23 Vgl. dazu Hobe/Boewe/Geisler (Hrsg.), Luftverkehr und Klimawandel, 2009; der Schlussantrag der Generalanwältin Kokott vom 06. 10. 2011 in der Rs. C-366/10 (The Air Transport Association of America u. a.) befasst sich mit völkerrechtlichen Aspekten; zur Einbeziehbarkeit des Schiffsverkehrs in das Emissionshandelssystem Lassen, Einbeziehung des Schiffsverkehrs in das Emissionshandelssystem, ZUR 2010, 570. 24 Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1. 25 So die unmittelbar daran anknüpfende Einschätzung von Jestaedt, Der „Europäische Verfassungsgerichtsverbund“ in (Verfahrenskenn-)Zahlen. Die Arbeitslast von BVerfG, EuGH und EGMR im Vergleich, JZ 2011, 872. 26 Voßkuhle (Fn. 24), 1 (3).

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2. Relevante Prüfungsmaßstäbe Das Bundesverfassungsgericht hatte es im Emissionshandelsrecht bisher zum einen mit den Grundrechten27 und zum anderen mit den Bestimmungen über die Verteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern nach Art. 83 ff. GG zu tun.28 Dabei bescheinigte das Bundesverfassungsgericht, dass der durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG veränderte grundrechtliche Standard zwecks Verwirklichung eines vereinten Europa (wonach „nur“ ein „im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet“ sein muss), durch die Richtlinie 2003/87/EG bzw. mit der insoweit ohne jeglichen Spielraum erfolgten nationalen Umsetzung durch das TEHG nicht missachtet worden sei.29 Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Entscheidung seine bereits im sog. Solange II-Beschluss30 in Bezug auf EG-Verordnungen getroffene Einschätzung auf innerstaatliches Recht, das zwingende Vorgaben von EG-Richtlinien umsetzt, übertragen. Der EuGH hatte es bislang zu tun mit dem ganz allgemein ja erst in den vergangenen Jahren stärker entfalteten Maßstab der europäischen Grundrechte,31 und zwar konkret mit dem Gleichheitssatz (mittlerweile: Art. 20 GRCh). Zuvor hatte das Gericht entschieden,32 dass Entscheidungen über die Zuteilungskriterien, die auf nationaler Ebene getroffen worden sind (konkret im ZUG 2007), vor den nationalen Gerichten angefochten werden müssen. Im Mittelpunkt des Urteils vom 8. September 201133 ging es um den Maßstab des Beihilferechts nach Art. 87 Abs. 1 EG. Weder die Grundfreiheiten des EG bzw. des AEUV noch die ja gerade in Deutschland immer sehr intensiv diskutierten kompetenziellen Grundlagen haben bislang eine Rolle gespielt, ebenso wenig Fragen der europäischen Haushaltsordnung. Daneben gibt es mehrere Entscheidungen (vor allem des EuG), die sich nicht mit der Vereinbarkeit einzelner Richtlinienbestimmungen mit höherrangigem Recht, sondern mit deren Interpretation und ihrer konkreten Bedeutung für den Einzelfall beschäftigen.34 27 BVerfGE 118, 79 = NVwZ 2007, 937; BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942; Beschluss vom 10. 12. 2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435. In einem weiteren Beschluss vom 03. 05. 2007, GewArch 2007, 333, wurde die Verfassungsbeschwerde eines Aluminiumproduzenten wegen Verfristung nicht angenommen. 28 BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942. 29 BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942. 30 BVerfGE 73, 339 (387). 31 EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895 (Arcelor) = JZ 2009, 627 mit Anm. Frenz. 32 EuGH, Rs. C-503/07, Slg. 2008, I-166 (Combescot/Kommission). 33 EuGH, Rs. C-279/08, ABl.EU 2011 Nr. C-311/6 (Kommission/Königreich der Niederlande). 34 Zu nennen sind das Urteil des EuG vom 23. 11. 2005, Rs. T-178/05, Slg. 2005, II-4807 (Vereinigtes Königreich/Kommission) = NVwZ 2006, 75; das Urteil vom 23. 09. 2009, Rs. T-183/07, Slg. 2009, II-3395 (Polen/Kommission) = ZUR 2009, 610; das Urteil vom07. 11. 2007, Rs. T-374/04, Slg. 2007, II-4431 (Deutschland/Kommission) = ZUR 2008, 200 (das zu Rn. 153 aber auch Ausführungen zum allgemeinen Gleichheitssatz enthält). Die Interpretation von Richtlinienrecht betreffen sodann die Urteile vom 23. 09. 2009, Rs. T-183/07,

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IV. Einzelne Kontrollgegenstände Nachfolgend beleuchtet werden die Kontrollgegenstände Systementscheidung, Anwendungsbereich und Zuteilungskriterien. Hinsichtlich der ebenfalls höchst bedeutsamen Thematik der Zuteilungsmethode (Vereinbarkeit von Versteigerungslösungen mit dem nationalen bzw. europäischen Verfassungsrecht) kann hier nur auf den letzten Trierer Vortrag des Verf.35 sowie auf eine weitere neuere Stellungnahme verwiesen werden.36 Ebenfalls nur hingewiesen sei ferner auf die sich im europäischen Verfassungsgerichtsverbund natürlich auch im Emissionshandelsrecht stellenden Rechtsschutzfragen. So hatten es die europäischen Gerichte wiederholt mit der beschränkten Möglichkeit zur Erhebung von Nichtigkeitsklagen nach Art. 230 Abs. 4 EG bzw. Art. 263 Abs. 4 AEUV zu tun,37 und das Bundesverfassungsgericht hatte es im Beschluss vom 14. Mai 200738 als mit dem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar gehalten, dass das zuständige deutsche Fachgericht keine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) eingeholt hat. In dem vergleichsweise grundsätzlichen Beschluss vom 10. Dezember 200939 hat es einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG in Gestalt einer Überschreitung der behördlichen Letztentscheidungsbefugnis erblickt (vgl. noch 3.). 1. Systementscheidung Die europäischen Gerichte hatten bislang keine Gelegenheit, die durch Richtlinie(n) getroffene Systementscheidung, d. h. den Übergang von einem ordnungsrechtlichen zu einem ökonomischen Steuerungsinstrument zwecks Verbesserung des KliSlg. 2009, II-3395 (Polen/Kommission) = ZUR 2009, 610, und Rs. T-263/07, Slg. 2007, II-3463 (Estland/Kommission). In seinem Urteil vom 02. 03. 2010, Rs. T-16/04, Slg. 2010, II-211 (Arcelor/Parlament und Rat), Anm. Lengauer, ZfRV 2010, 100, stellte das EuG fest, dass man dem Unionsgesetzgeber nicht vorwerfen könne, dass er den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinien einen Ermessensspielraum belassen hat, weil ihnen bei dessen Ausschöpfung umfassend die Beachtung der Prüfungsmaßstäbe des primären Gemeinschaftsrechts (genannt werden die Grundrechte, die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und die Grundfreiheiten des Vertrages) aufgegeben sei (Rn. 18 ff.). Ausschließlich um Interpretationsfragen ging es sodann im Urteil des EuGH vom 22. 12. 2010, Rs. C-524/09 (Ville de Lyon gegen Caisse des d¦püts et consignations) = NVwZ 2011, 352, betreffend die Übermittlung von Transaktionsdaten im Zusammenhang mit dem Emissionshandel. 35 Vgl. Fn. 1. 36 Desens, Finanzierung des Emissionshandels, DVBl. 2010, 228. 37 EuG, Urteil vom 11. 09. 2007, Rs. T-28/07, Slg. II-98 (Fels-Werke u. a./Kommission (Individualklage gegen Kommissionsentscheidung zu einem nationalen Allokationsplan ist unzulässig)); EuGH, Beschluss vom 08. 04. 2008, Rs. C-503/07 P, Slg. 2008, I-2217 (SaintGobain Glass Deutschland GmbH/Kommission), Rechtsschutz gegen die Abkehr von langjährigen Garantien muss vor den nationalen Gerichten gesucht werden. 38 BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942. 39 BVerfG, Beschluss vom 10. 12. 2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435.

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maschutzes, am Maßstab des primären Unionsrechts zu überprüfen. Dies liegt daran, dass keiner der Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat und den betroffenen Unternehmen als privaten Institutionen bekanntlich kein Rechtsschutz gegen Normativakte zur Verfügung steht (vgl. Art. 263 Abs. 4 AEUV). Das EuG hat in seinem Urteil vom 2. März 201040 aber festgestellt, dass die Richtlinie 2003/87 den Mitgliedstaaten zahlreiche Ermessensspielräume belasse (und zwar im Hinblick auf die Formulierung der Zuteilungskriterien), was bedeute, dass gegen Festlegung und Umsetzung der Zuteilungskriterien Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten zu suchen sei und diese dabei die Grundrechte, die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sowie die Grundfreiheiten des Vertrages zu beachten hätten. Wie nachfolgend (3.) näher zu zeigen sein wird, ist es angesichts dieser Ausgangslage bemerkenswert, dass weder die deutschen Fachgerichte noch das Bundesverfassungsgericht den hierdurch in ihr Feld gespielten „Ball“ aufgenommen und das Zuteilungsregime in den verschiedenen Handelsperioden in Deutschland einer konsequenten grundrechtlichen Überprüfung unterzogen hätten. Eine erste Gelegenheit hierzu hätte sich in dem per abstrakter Normenkontrolle eingeleiteten Verfahren ergeben, das zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. März 200741 geführt hat. Das Gericht beschränkte sich aber im emissionshandelsrechtlichen Teil seiner Ausführungen (zu den den Allgemeinen Teil des Kompetenz- und Kooperationsverhältnisses zum EuGH betreffenden Abschnitt vgl. bereits III.2.) ebenso wie in der ausführlicheren Folgeentscheidung vom 14. Mai 2007,42 welche wiederum ein entsprechendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts43 bestätigt hat, darauf, die getroffene Systementscheidung als solche für mit den grundrechtlichen Maßstäben für vereinbar zu erklären. Zwar stellt das Gericht fest, dass jenseits der in der Tat von Europarechts wegen zwingenden Systementscheidung bei der Festlegung der Zuteilungskriterien „grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen sei“, es geht aber selbst diesen Erfordernissen nicht nach. Gleichsam zur Entschuldigung des Bundesverfassungsgerichts muss allerdings gesagt werden, dass es in beiden Verfahren mit einem von den Antragstellern mit wenig strategischem Weitblick gewähltem Antragsgegenstand konfrontiert war: Im Mittelpunkt des ersten Verfahrens stand die sog. early-bird-Vorschrift des § 12 ZUG 2007, also eine Vergünstigung zugunsten von Anlagenbetreibern, die frühzeitige Maßnahmen zur Emissionsminderung durchgeführt hatten, und im zweiten Verfahren hatten sich die Beschwerdeführer in erster Linie auf das die immissionsschutzrechtliche Genehmigung künftig ergänzende zusätzliche Erfordernis einer Emissionsgenehmigung konzentriert, anstatt in den Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Kritik die sukzessive Minderung der Emissions40 41 42 43

EuG, Rs. T-16/04, ABl.EU 2010 Nr. C 100/35, Rn. 181 ff. BVerfGE 118, 79. BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942. BVerwGE 124, 47 = NVwZ 2005, 1178.

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berechtigungen und deren Verlust infolge ungünstig gestalteter Zuteilungskriterien zu stellen. Nichtsdestoweniger: Der EuGH konnte nicht und das Bundesverfassungsgericht wollte in diesen beiden ersten Entscheidungen nicht auf das eigentliche, erst durch nationales Gesetz im Rahmen sehr weiter europäischer Spielräume geschaffene Zuteilungsregime eingehen; die durch dieses begründete Gefahr einer „verfassungsrechtlich unverzeihlichen Pflichtvergessenheit“ des zuvor (bei seinem ordnungsrechtlichen Handeln) an die Grundrechte gebundenen Staates44 löst so die Gefahr des Vergessens verfassungsgerichtlicher Kontrollnotwendigkeiten aus. 2. Anwendungsbereich a) Von Anbeginn stellte sich aus verfassungsrechtlicher Sicht die Frage nach der Vereinbarkeit der Nichteinbeziehung bestimmter Sektoren bzw. Tätigkeiten in das Emissionshandelssystem mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 GRCh). Diese Frage zielt wiederum auf die eigentliche Systementscheidung und ist daher von der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu beantworten. Insoweit ist dem EuGH zu bescheinigen, dass er die ihm gestellte Herausforderung einer Anwendung des EU-Gleichheitsgrundechts auf die Neueinführung eines hochkomplexen Systems der Umwelt- und Wirtschaftspolitik eindrucksvoll bewältigt hat, und zwar mit dem Urteil vom 16. Dezember 2008.45 Dieses Urteil kann als Auftakt einer die europäischen Grundrechte verdichtenden und die Kontrolldichte intensivierenden Grundrechte-Rechtsprechung des Gerichts angesehen werden (vgl. zu einer wichtigen Nachfolgeentscheidung in Bezug auf die Freiheitsgrundrechte noch 3.). Danach trägt der Gesetzgeber die Beweislast für die Objektivität und Angemessenheit der gewählten Differenzierungskriterien.46 Zwar sei dem EU-Gesetzgeber ein „weites Ermessen“ zugebilligt, wenn seine Tätigkeit politische und wirtschaftliche Entscheidungen beinhalte und komplexe Beurteilungen erforderlich seien. Insbesondere müsse es ihm erlaubt sein, „einen schrittweisen Lösungsansatz zugrunde zu legen“.47 Ungeachtet dessen sei er aber verpflichtet, seine Entscheidungen auf Kriterien zu stützen, die objektiv sind und im angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen. Dabei müssen alle sachlichen Umstände sowie sämtliche verfügbare technische und wissenschaftliche Daten berücksichtigt werden.48 Neben dem betroffenen Hauptzweck (hier: Klimaschutz) müsse den „betroffenen“ Interessen (der Grundrechtsträger) in vollem Umfang Rechnung getragen werden. Es dürfe nicht durchgehend zu Ergebnissen kommen, die offenkundig weniger angemessen sind 44 Formulierung nach Dorf, Der Emissionshandel: Eine grundrechtsdogmatische Analyse, DÖV 2005, 950 (955, dies in weiterführenden Überlegungen von Burgi, Die Rechtsstellung der Unternehmen im Emissionshandelssystem, NJW 2003, 2486 ff., zur künftigen Rolle des Staates als bloßem „Systemadministrator“). 45 EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895 (Arcelor). 46 EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Rn. 48 und 61 ff. (Arcelor). 47 EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Rn. 57 (Arcelor). 48 EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Rn. 57 f. (Arcelor).

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als die Ergebnisse aufgrund anderer für diese Ziele ebenfalls geeigneter Maßnahmen.49 Obgleich der EuGH mit diesem Urteil die seinerzeit zu beurteilende Nichteinbeziehung des Chemie- und des Nichteisenmetallsektors als noch mit dem Gleichheitssatz vereinbar angesehen hat, verpflichtete er den EU-Gesetzgeber, die eingeführten Maßnahmen „in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen“. b) Diese verfassungsgerichtlichen Obersätze des EuGH dürften im Mittelpunkt stehen, wenn es um die Beurteilung der Differenzierungen innerhalb des Emissionshandelssystems in der Handelsperiode ab 2013 geht. Dann nämlich werden zum einen die Stromerzeuger deutlich schlechter gestellt als die Betreiber von Industrieanlagen (vgl. II.), und zum anderen ergeben sich verschiedene Ungleichheiten innerhalb der Stromerzeuger, die infolge geographischer Gegebenheiten und mitgliedstaatlicher Vor-Entscheidungen (etwa über den Atomausstieg) wirtschaftlich sehr unterschiedlich betroffen sein werden.50 Hinsichtlich der erstgenannten Ungleichbehandlung verweist die Kommission lediglich auf die angebliche Abwälzbarkeit der Kosten, was den Gegebenheiten auf den liberalisierten, in verschiedenen Mitgliedstaaten (nach Fukushima) grundlegend veränderten Strommärkten nicht mehr ohne weiteres entsprechen dürfte, zumal jene Annahme ökonomisch nicht recht belegbar ist. Hinsichtlich der Ungleichbehandlung innerhalb der verschiedenen Stromerzeuger sind, soweit ersichtlich, bislang überhaupt keine „Kriterien“, „sachlichen Umstände“ oder gar „technische und wissenschaftliche Daten“ benannt worden. Auch von einer Berücksichtigung der „Interessen“ der hiervon Betroffenen kann keine Rede sein. Vor allem dürfte es auf der Skala zwischen 10 %- und 100 %-Entgeltlichkeit sicherlich Spielräume des EU-Gesetzgebers geben. In dem nun vorgenommenen übergangslosen Sprung ist jedenfalls kein „schrittweiser Lösungsansatz“ i.S.d. Entscheidung des EuGH vom 16. Dezember 2008 zu sehen. 3. Zuteilungskriterien Auf der Ebene der Zuteilungskriterien fällt im Hinblick auf jede einzelne betroffene Anlage und Tätigkeit die Entscheidung darüber, ob die betreffende Tätigkeit unverändert fortgesetzt werden kann, ob ein kostspieliger Ersterwerb von Emissionsberechtigungen (im Rahmen der Versteigerung oder auf dem Handelswege) erforderlich ist, oder ob kostspielige technische Maßnahmen bis hin zur Einstellung des Anlagenbetriebs vonnöten sind. Auf dieser Ebene findet mithin die eigentliche freiheitsgrundrechtliche Beeinträchtigung statt, nicht auf der Ebene der bislang vor allem verfassungsgerichtlich geprüften Ebene der Systementscheidung (1.). Hier sind ferner die soeben bereits gleichheitsrechtlich betrachteten Binnendifferenzierungen und die Regeln über das Vorgehen bei Knappheit (Kürzungsfaktoren etc.) angesiedelt. Beachtenswert ist ferner der Umstand, dass bei jedem Wechsel auf eine 49

EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Rn. 59 (Arcelor). Die nachfolgenden Überlegungen sind teilweise bereits angestellt worden bei Burgi (Fn. 1), S. 183 (209 ff.). 50

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neue Handelsperiode (sowohl beim Wechsel auf die Handelsperiode 2008 – 2012 als auch, und vor allem, beim Wechsel auf die Handelsperiode ab 2013), erhebliche Änderungen an den Zuteilungskriterien vorgenommen worden sind, die unter Umständen als solche eine beeinträchtigende Wirkung (Stichwort Vertrauensschutz; vgl. noch nachfolgend) entfalten können. Wie sich sogleich zeigen wird, sind nahezu alle sich hierbei stellenden freiheitsgrundrechtlichen Fragen bislang im europäischen Verfassungsgerichtsverbund nicht erörtert worden, weder durch das Bundesverfassungsgericht noch durch die europäischen Gerichte. Die Zahl der denkbaren Kontrollgegenstände wäre hier so groß und mannigfaltig wie das Reservoir der bislang geschaffenen Zuteilungsregeln: Orientierung an Bestandsanlagen oder am Stand der „besten verfügbaren Techniken“ bzw. an einem anders bestimmten Benchmark? Relevanz des jeweils verwendeten Brennstoffs? Berechnung der zuzuteilenden Berechtigungen anhand (welcher) historischer Emissionen der Anlage? Anlastung einer Überschreitung des Gesamtbudgets je Handelsperiode bei einzelnen (welchen) Anlagen und falls ja, unter welchen Voraussetzungen? Umgang mit emissionsgünstigeren Ersatzanlagen etc.? a) Bis 2012 Da die Zuteilungskriterien bis 2012 weitgehend, insbesondere hinsichtlich der soeben skizzierten problematischen Einzelheiten, nicht von der EU vorgegeben, sondern der Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten überlassen wurden, konnte sich der EuGH mit ihrer Verfassungskonformität bislang nicht befassen. Wie bereits erwähnt, hat aber das EuG in seinem Beschluss vom 2. März 201051 nicht nur erkannt, sondern auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedstaaten innerhalb des ihnen überlassenen Spielraums selbstverständlich „zur umfassenden Beachtung der Vorschriften des Vertrags und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ verpflichtet sind, dass also die grundsätzlich positive Beurteilung der Systementscheidung kein Präjudiz zugunsten der Zuteilungskriterien beinhaltet. Für die mitgliedstaatlichen Gerichte (und damit auch für das Bundesverfassungsgericht) bedeutet dies, dass sie die Beeinträchtigung der betroffenen Grundrechtsträger am Maßstab der europäischen Grundrechte zu messen haben, allerdings nicht ausschließlich, vielmehr tritt selbstverständlich der Maßstab der nationalen Grundrechte, der ja innerhalb der mitgliedstaatlichen Entscheidungsspielräume weder verdrängt noch durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG modifiziert ist, hinzu. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings diesen Ball (wie bereits zu 2. erwähnt) bislang nicht aufgenommen, d. h., es hat bislang weder eine Prüfung der Zuteilungskriterien am Maßstab der europäischen Grundrechte noch (was bemerkenswerter ist) am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vorgenommen. Die Beschäftigung mit den Zuteilungskriterien nach den Zuteilungsgesetzen 2007 und 2012 hat bislang in Deutschland ausschließlich in den Händen des VG Berlin und des OVG 51

EuG, Rs. T-16/04, ABl.EU 2010 Nr. C 100/35, Rn. 7.

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Berlin-Brandenburg gelegen; auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seinen bisherigen Entscheidungen zum Emissionshandelsrecht52 nicht schwerpunktmäßig mit der freiheitsgrundrechtlichen Vereinbarkeit des Zuteilungsregimes i.w.S. auseinandergesetzt. Die nähere Betrachtung der verschiedenen Judikate des Bundesverfassungsgerichts erweist folgendes: Im Mittelpunkt des ersten Beschlusses (vom 13. März 2007)53 standen nicht die Zuteilungskriterien als solche, mit § 12 ZUG 2007 aber immerhin eine Vorschrift im Kontext des Zuteilungsregimes, nämlich die Begünstigung von Emittenten, die frühzeitige Maßnahmen der Emissionsminderung (sog. early actions) durchgeführt hatten. Verständlicherweise konnte das Bundesverfassungsgericht diesen Kontrollgegenstand nicht zum Anlass für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem gesamten Zuteilungskonzept nehmen. Vielmehr begnügte es sich mit der (in der Tat auf der Hand liegenden) Feststellung, dass mit diesen Regelungen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen worden sei. Hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Freiheitsgrundrechten heißt es knapp und zutreffend, dass sich die „angegriffene Norm … schon nicht als Eingriff in Freiheitsgrundrechte begreifen“ lasse; dies hätten die Verantwortlichen des Verfahrens auch selbst bedenken können. Wurde somit die Chance vertan, in den Mittelpunkt der ersten Befassung des Bundesverfassungsgerichts sogleich die eigentlichen verfassungsrechtlichen Zentralfragen, nämlich die Vereinbarkeit mit den Freiheitsgrundrechten, zu stellen, so bot leider auch der Beschluss vom 14. Mai 200754 wenig Gelegenheit, dies zu ändern. Hier verneinte das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen der Beschwerdebefugnis, weil die beschwerdeführenden Unternehmen noch nicht „gegenwärtig und unmittelbar“ in eigenen verfassungsrechtlich geschützten Rechten betroffen seien. Auch hier wurde das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen verfassungsgerichtlichen Prüfung der Vereinbarkeit der Emissionshandels-Zuteilungskriterien mit den Freiheitsgrundrechten des Grundgesetzes wiederum Opfer einer unvorteilhaften verfahrensrechtlichen Weichenstellung. Die Beschwerdeführer dieses Verfahrens hatten sich in erster Linie gegen die Verfahrensregeln über die Erstellung des nationalen Zuteilungsplans und den Erlass des Zuteilungsgesetzes gewendet, weswegen ihnen das Bundesverfassungsgericht vorhalten konnte (und musste), dass es erst noch der Umsetzung durch eine einzelne Zuteilungsentscheidung bedürfe; erst diese hätte unmittelbar Gelegenheit geboten, die Zuteilungskriterien als solche auf den Prüfstand zu stellen. Immerhin stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass durch die Vorgaben des Europarechts und durch die Rechtsprechung des EuGH (d. h. infolge der allgemeinen Grundsätze innerhalb des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds) den nationalen Gerichten hinreichend Raum für eine „detaillierte Verhältnismäßigkeitsprüfung“ 52 BVerwGE 124, 47; BVerwG, Urteil vom 16. 10. 2007 – 7 C-28.07; BVerwGE 135, 34; BVerwG, Urteil vom 28. 02. 2010 – 7 C 10.09; Urteil vom 21. 12. 2010 – 7 C 23.09. 53 BVerfGE 118, 79. 54 BVerfG, Beschluss vom 14. 05. 2007 – 1 BvR 2036/05, NVwZ 2007, 942.

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als „Teil des Dialogs der Gerichte in der Gemeinschaft“ eröffnet worden sei (ohne allerdings diesen Raum dann selbst betreten zu wollen). Im Mittelpunkt des Beschlusses vom 10. Dezember 2009 stand mit den Regelungen über die anteilige Kürzung der Zuteilung von Emissionsberechtigungen bei Überschreiten der Gesamtmenge nach Ende der Handelsperiode (gemäß § 4 Abs. 4 ZUG 2007) schließlich wiederum ein vergleichsweise randständiger Bestandteil des Zuteilungsregimes auf dem verfassungsgerichtlichen Kontrollstand. Das Bundesverfassungsgericht konnte sich (abgesehen von seinen sehr grundsätzlichen Ausführungen zur Reichweite des Prognosespielraums des nationalen Gesetzgebers und zur teilweise festgestellten Unvereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 GG)55 daher mit der Feststellung begnügen, dass der allein hierdurch bewirkte Eingriff in die Grundrechte des Art. 14 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG „nicht schwer“ wirke, vielmehr konkretisiere sich hier „die weitere Belastung eines unter das Emissionshandelssystem fallenden Anlagenbetreibers in der ihn betreffenden Zuteilungsentscheidung“.56 An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich die Problematik des bisherigen verfassungsgerichtlichen Umgangs mit dem Emissionshandelsrecht: Die Lücke zwischen der verfassungsrechtlich unproblematischen Prüfung der Systementscheidung einerseits, und den bislang näher geprüften, relativ unproblematischen Einzelelementen des Zuteilungsregimes wollte das Bundesverfassungsgericht bislang nicht schließen; so konnte es geschehen, dass knapp zehn Jahre nach Start des Emissionshandels und mittlerweile bereits in der zweiten Handelsperiode die verfassungsgerichtliche Prüfung der Verfassungskonformität der eigentlichen Zuteilungskriterien immer noch aussteht. Dies betrifft die grundrechtsdogmatische Frage nach der Qualifizierung belastender Zuteilungsentscheidungen als Grundrechtseingriff oder als Verweigerung einer grundrechtlich geschützten Teilhabe57 ebenso wie die Frage, ob die einzelnen gesetzgeberischen Entscheidungen innerhalb des Zuteilungsregimes in verhältnismäßiger Weise auf den ja außerordentlich abstrakten Gemeinwohlbelang des Klimaschutzes bezogen worden sind; der dem Bundesverfassungsgericht jüngst aus Anlass seines 60. Jubiläums gemachte Vorwurf, dass es gerade beim Umgang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seine Kontrollkompetenz immer wieder überschreite, teilweise verfassungsgerichtliche Ersatzgesetzgebung betreibe und sogar neue Grundrechte erfinde,58 geht in Anbetracht des verfassungsgerichtlichen Umgangs mit einem der (wirtschaftlich betrachtet) intensivsten Umwälzungsprogramme der Nachkriegszeit jedenfalls ins Leere. Es verwundert nicht, dass auch die den verfas55

Vgl. bereits vor 1. BVerfG, Beschluss vom 10. 12. 2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435. 57 Dazu Burgi (Fn. 44), 2486 f.; ders., Die künftige Bedeutung der Freiheitsgrundrechte für staatliche Verteilungsentscheidungen, WiVerw 2007, 173; Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010, S. 55 f., jeweils m.w.N.; aus der fachgerichtlichen Judikatur: VG Berlin, Urteil vom 13. 04. 2010, 10 K 27.09, S. 16 ff., 30 ff. des Umdrucks = BeckRS 2010, 51665. 58 Zuletzt und bündig erhoben von Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach 60 Jahren, JZ 2011, 861 ff. 56

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sungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes59 herausfordernde Frage nach dem Fortbestand bestimmter Garantien aus einer vorherigen Zuteilungsperiode bislang nicht verfassungsgerichtlich geklärt worden ist, obwohl wiederum der EuGH60 ausdrücklich festgestellt hat, dass in dieser Frage Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten gesucht werden müsse. b) Ab 2012 Ab 2013 wird es keine nationalen Zuteilungskriterien mehr geben (vgl. II.). Auf EU-Ebene spielen sie weiterhin dort die zentrale Rolle, wo keine Versteigerung von Emissionsberechtigungen stattfindet, d. h. für viele Jahre noch im Hinblick auf die Industrieanlagen. Damit rücken als Prüfungsmaßstab die europäischen Grundrechte61 in den Mittelpunkt und die Jurisdiktionsgewalt wechselt zum EuGH. Das betrifft das EU-Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRCh und das Eigentumsrecht nach Art. 17 GRCh. In beiden Fällen dürfte im Zentrum der Rechtfertigungsprüfung die Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Maßstäben Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit nach Art. 52 GRCh stehen. Spannend zu beobachten wird sein, welche Kontrolldichte der EuGH hier praktizieren wird. Lange Zeit hat er seine Kontrolldichte zurückgenommen, weswegen Grundrechtsbeschwerden nur Erfolg hatten, wenn die betroffene Maßnahme sich als „offensichtlich ungeeignet“ oder die Beurteilung der Erforderlichkeit als „offensichtlich unzutreffend“ erwiesen hatte.62 Die bereits geschilderte Entscheidung zur Vereinbarkeit der Nichteinbeziehung bestimmter Sektoren in den Emissionshandel mit dem allgemeinen Gleichheitssatz gibt aber ebenso Anlass zur Hoffnung wie das seit langem wieder einmal zugunsten der Grundrechtsträger votierende Urteil vom 9. November 201063 zur Internetveröffentlichung aller Empfänger landwirtschaftlicher Subventionen; darin wurde die Einschränkung der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte als in einem nicht angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten berechtigten Zweck stehend, qualifiziert.64 Es sei nicht ersichtlich, dass die Organe der Union eine ausgewogene Gewichtung der

59 Grundlegend dazu Maurer, Die vorzeitige Aufhebung befristeter Gesetze – Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 2 Satz 3 des (emissionshandelsrechtlichen) Zuteilungsgesetzes 2012, in: Hendler/Marburger/Reiff/Schröder (Hrsg.), Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2010, Bd. 104, 2010, S. 73 ff. 60 EuGH, Rs. C-503/07, Slg. 2008, I-2217 (Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH/ Kommission). 61 Erste Überlegungen hierzu bei Küll, Grundrechtliche Probleme der Allokation von CO2Zertifikaten, 2009, 39 f.; Greb (Fn. 8). 62 Näher hierzu Jarass, EU-Grundrechte, 2005, Rn. 45 ff., insbes. 52. 63 EuGH, Rs. C-92/09 und C-93/09 = EuZW 2010, 939. 64 EuGH, Rs. C-92/09 und C-93/09, Rn. 65 ff.; vgl. hierzu auch Frenz, Annäherung von europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, NVwZ 2011, 961 (963).

Das Emissionshandelsrecht im europäischen Verfassungsgerichtsverbund

513

Ziele der zu beurteilenden Verordnung einerseits und der den Grundrechtsträgern zuerkannten Rechte andererseits vorgenommen hätten.65

V. Fazit Das Emissionshandelsrecht bildet mithin ein unterschätztes, aber durchaus lohnendes Referenzgebiet für mehrere der allgemeinen Fragen im Analyserahmen des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes. Die dort entwickelten allgemeinen Grundsätze erweisen sich im Hinblick auf das Referenzgebiet als richtig und leistungsfähig. Es hat sich aber auch gezeigt, dass bestimmte Sachprobleme im permanenten Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Prüfungsmaßstabsebenen und den verschiedenen Verfassungsgerichten in den Hintergrund bzw. in Vergessenheit zu geraten drohen. Dies hat sich im Hinblick auf das Emissionshandelsrecht deswegen als besonders problematisch erwiesen, weil dessen Belastungswirkungen und insbesondere die freiheitsgrundrechtliche Bedeutung der Zuteilungskriterien bis heute unterschätzt werden. Gelegenheiten, dem entgegenzuwirken, dürften sich sowohl für das Bundesverfassungsgericht als auch für den EuGH freilich noch ergeben.

65 Interessanterweise ist gerade im deutschen Schrifttum teilweise die Angemessenheit zuvor bejaht worden; vgl. Wollenschläger, Budgetöffentlichkeit im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Die Offenlegung von Zuwendungsempfängern im Spannungsfeld von Haushaltstransparenz und Datenschutz, AöR 135 (2010), 363 (388 ff.).

Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung: Zur Konkretisierung eines politischen Konsensbegriffs durch Recht Von Christian Calliess

I. Nachhaltigkeit als Herausforderung an das Recht Bereits 1996 hat sich Meinhard Schröder mit dem Thema der Nachhaltigkeit1 respektive des Sustainable Development2 befasst. Diese Festschrift ist ein schöner Anlass, der Frage nachzugehen, inwieweit der Begriff im Recht seither Fuß gefasst hat und auf diesem Wege im politischen Prozess zur Anwendung gebracht worden ist. Aus der deutschen Forstwirtschaft kommend geht der Begriff der Nachhaltigkeit auf den Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1987 unter dem Vorsitz von Gro Harlem Brundtland zurück, die Sustainable Development etwas umständlich als eine „Entwicklung, die den gegenwärtigen Bedarf zu decken vermag, ohne gleichzeitig späteren Generationen die Möglichkeit zur Deckung des ihren zu verbauen“3 definiert.4 Die rechtliche Karriere des Begriffs beginnt mit den UN-Konferenzen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro.5 Nachhaltigkeit wurde hier zu einer integrativen Konzeption mit dem Ziel, ökonomische, soziale und ökologische Belange im Hinblick auf künftige Generationen zu harmonisieren, fortentwickelt.6 Gut 1 Schröder, Sustainable Development – Ausgleich zwischen Umwelt und Entwicklung als Gestaltungsaufgabe der Staaten, AVR 34 (1996), 251 ff. 2 Schröder, Sustainable Development and Law, Zwolle 1996. 3 Die englische Fassung lautet: Eine Entwicklung „that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“, WCED, 1987, Chapter 2, S. 1. 4 Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, in: ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 1 (16 f.). 5 Schröder (Fn. 2), S. 1; Ruffert, Zu den Ergebnissen der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, UTR 21 (1993), 397 (403); Beyerlin, Rio-Konferenz 1992: Beginn einer neuen globalen Umweltrechtsordnung?, ZaöRV 54 (1994), 124 (134); Carius/ Sandhövel, Umweltpolitikplanung auf nationaler und internationaler Ebene, APuZ B 50/98, 11. 6 Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 44; Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, DÖV 2009, 2 (6).

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veranschaulichend wird diese Konzeption als „magisches Dreieck“7 bzw. „Drei-Säulen-Konzept“8 bezeichnet. Dabei sollen alle drei Aspekte grundsätzlich gleichwertig nebeneinander stehen.9 Nachhaltigkeit soll sicherstellen, dass Belange des Umweltschutzes mit ökonomischen und sozialen Entwicklungsinteressen der Gegenwart in Einklang gebracht werden, ohne dass künftigen Generationen die Fähigkeit zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse genommen wird, so dass im Ergebnis ein dauerhafter Erhalt der menschlichen Lebensgrundlagen gewährleistet wird.10 In dieser Komplexität stellt der Begriff der Nachhaltigkeit eine Herausforderung für das Recht dar.11 Denn um anwendbar und vollzugsfähig zu sein, bedarf das Recht gerade der Reduktion von Komplexität. Das ist Schwäche und Stärke des Rechts zugleich. Aus der Komplexität des Begriffs lässt sich jedoch nicht per se auf seine Ungeeignetheit für das Recht schließen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass im Recht unbestimmte Begriffe verwendet werden, die im Laufe der Zeit durch Auslegung konkretisiert werden.

II. Ausprägungen von Nachhaltigkeit in verschiedenen Rechtsgebieten 1. Nachhaltigkeit im Völkerrecht So offen und unbestimmt die diskutierten Konzeptionen von „Nachhaltigkeit“ bzw. „nachhaltiger Entwicklung“ sind, so umstritten das Konzept der Drei-Säulen-Konzeption ist, so hat der Begriff im Völkerrecht doch eine Relevanz erhalten12, die freilich zwischen Politik und Recht changiert.13 Maßgebliche Konkretisierungen des Begriffs lassen sich vor allem den Grundsätzen der Rio-Deklaration entnehmen14. Unstreitig kann zwar die Rio-Deklaration an 7

Beaucamp, Das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung im Recht, 2002, S. 20. So bereits der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1994, BTDrucks. 12/6995. 9 Rehbinder, Das deutsche Umweltrecht auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, NVwZ 2002, 657; Martini, Nachhaltigkeit – Was ist das?, in: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Speyerer Vorträge, Heft 60, 2000, S. 12; Glaser (Fn. 6), S. 47. 10 Vgl. Kahl (Fn. 4), S. 1 (7); Beyerlin (Fn. 5), 124 (139); Ruffert, Das Umweltvölkerrecht im Spiegel der Erklärung von Rio und der Agenda 21, ZUR 1993, 208 (214). 11 Ausführlich Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 377 ff. und 490 ff. 12 Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. II, 5. Aufl., 2007, Art. 20a, Rn. 99. 13 Vgl. dazu ausführlich Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien des Umweltrechts, 1998, S. 76 ff., 160 ff. und 171 ff.; Feist, Von Rio nach Berlin – Die Aktivitäten der Vereinten Nationen auf den Gebieten des Umwelt- und Klimaschutzes, JuS 1997, 490 (493). 14 International Law Association, Helsinki Conference (1996), International Committee on Legal Aspects of Sustainable Development, Second Report, S. 5. 8

Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung

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und für sich keine völkerrechtliche Verbindlichkeit in Anspruch nehmen.15 Jedoch darf ihre Einordnung als politische Erklärung nicht zu dem fälschlichen Schluss führen, dass ihr keine juristische Bedeutung beizumessen wäre.16 Denn im Völkerrecht besteht eine komplizierte Wechselwirkung zwischen politischer Entwicklung und Rechtsentstehung, in der sich zunächst politisch motivierte Verhaltensweisen zu Rechtsprinzipien verdichten können. Dies wird im Völkerrecht nicht nur anhand der bedeutenden Rolle des Gewohnheitsrechts, sondern auch an der Herausbildung einer besonderen Kategorie rechtlich unverbindlicher Vorschriften, dem sogenannten Soft Law, deutlich.17 So gesehen spiegelt die Rio-Deklaration „die schon bekannte Normierungspraxis der Staaten wider, globale Umweltschutzziele nicht uno actu, sondern unter Einsatz von rechtlichen und außerrechtlichen Instrumenten schrittweise zu verwirklichen“18. Im Rahmen dieser gestuften Vertragsregelungstechnik folgen lediglich anbahnenden, unverbindlichen Übereinkommen inhaltlich noch relativ vage völkerrechtliche Rahmenkonventionen, die erst nachträglich durch völkerrechtlich bindende Durchführungsprotokolle, die den Staaten einzelne konkrete Handlungsziele vorgeben, verbindlich konkretisiert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass die Vorgaben der Rio-Deklaration Grundlage und Kristallisationspunkt für künftige Völkerrechtssätze sein werden19, ja vielleicht sogar einer über den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung vermittelten „Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung“20. Trotz seines zunächst relativ vagen Verpflichtungsgehalts wird sich das Umweltschutzverhalten der Staaten zumindest politisch an dem die Rio-Deklaration tragenden Fundamentalgrundsatz der nachhaltigen Entwicklung ausrichten müssen. Zum einen resultieren aus dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung Impulse, die zur Fortentwicklung des Völkerrechts beitragen.21 Zum anderen entstehen durch ihn Impulse, die die nationalen Rechtsordnungen verändern und zur Anpassung zwingen.22 Der Grundsatz wird das staatliche (wie auch das europäische) Umweltrecht zunehmend prägen, indem seine Inkorporierung in die nationalen Rechtssysteme zu einer Aufgabe gemacht wurde, die die Staaten – wenngleich auch in unterschiedlich konsequenter Weise – angenommen haben. Im deutschen Umweltrecht finden sich dementsprechend zahlreiche Vorschriften, die Nachhaltigkeit entweder 15

Feist (Fn. 13), 490 (494); Ruffert (Fn. 5), 397 (399); Beyerlin (Fn. 5), 124 (135). Erste Überlegungen bereits bei Schröder (Fn. 1), 251 (268 ff.). 17 Streinz, Vorgaben des Völkerrechts für das deutsche Umweltrecht, UTR 49 (1999), 319 (323 ff.). 18 Ausführlich dazu Beyerlin (Fn. 5), 124 (141). 19 Beyerlin (Fn. 5), 124 (134); Ruffert (Fn. 10), 208 (214); ähnlich Wolf, Die Haftung der Staaten, S. 582 f. 20 Epiney/Scheyli (Fn. 13), S. 173 ff. 21 IGH, Gabcˇ†kovo-Nagymaros Project (Hungary/Slovakia), Urteil vom 25. 09. 1997, ICJ Rep 1997, Tz. 140; Schröder (Fn. 1), 251 (252 ff.). 22 Beyerlin (Fn. 5), 124 (140); Ruffert (Fn. 10), 208 (214). 16

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positivrechtlich fixieren oder auf dem Gedanken der Nachhaltigkeit basieren. Genannt seien an dieser Stelle nur die §§ 1 Nr. 1, 11 BWaldG; §§ 1 Abs. 2, 22 BJagdG; §§ 1, 5 Abs. 1 Nr. 2 WHG; §§ 1 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3, 5 BNatSchG; ferner § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB sowie § 1 Abs. 2 ROG. Die Bedeutung des Grundsatzes der Nachhaltigkeit liegt so gesehen zunächst einmal gerade in der kaum begrenzten, thematisch wenig festgelegten Inanspruchnahme des staatlichen Gesetzgebungs- und Verwaltungsapparats samt Gerichten. Innerstaatlich gibt es damit keinen Politikbereich mehr, der sich den abstrakten Vorgaben der nachhaltigen Entwicklung entziehen könnte.23 Nicht zuletzt bewirkt der Grundsatz eine Art Internationalisierung der Staatszielbestimmung Umweltschutz in Art. 20a GG. Mag diese – im Unterschied zu den Wirkungen des europäischen Unionsrechts – auch indirekter Natur sein, ihre konkretisierenden Wirkungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden.24 Insbesondere unter Rückgriff auf die in Art. 25 GG angelegte Entscheidung des Grundgesetzes für die „Harmonie zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht“ wird das Gebot begründet, bei einem Spielraum möglicher Deutungen einer Rechtsregel diejenige zu bevorzugen, die gleichzeitig den Anforderungen des Völkerrechts gerecht wird (Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung).25 Vor diesem Hintergrund, aber auch mit Blick auf die zunehmende Anzahl entsprechender völkerrechtlicher Vertragsregeln spricht zwischenzeitlich vieles dafür, dass zumindest die in der Rio-Deklaration enthaltenen Grundsätze der intergenerationellen Verantwortung sowie der nachhaltigen Entwicklung als Prinzipien und samt der sie konkretisierenden Grundsätze in Form des Vorsorgeprinzips und des Gebots der Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen als neues Umweltvölkergewohnheitsrecht anerkannt sind.26 Ungeachtet dessen sind in der völkerrechtlichen Praxis vielfältige Defizite im Bereich der Rechtssetzung und vor allem der Rechtsdurchsetzung zu beobachten.27

23

Ausführlich Appel (Fn. 11), S. 377 ff. Wolf (Fn. 19), S. 582 f. sieht hierin eine „Neuprogrammierung des Umweltvölkerrechts“; Epiney/Scheyli (Fn. 13), S. 173 ff. sehen hierin einen „Paradigmenwechsel“ des Umweltvölkerrechts. 24 Ausführlich Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 252 ff. und S. 406 ff. 25 Vgl. dazu Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1996, 137 (137, 142); Frenz, Nachhaltige Entwicklungen nach dem Grundgesetz, UTR 49 (1999), 37 (40 ff.). 26 Epiney/Scheyli (Fn. 13), S. 76 ff., 98 ff. und 171 ff.; Appel (Fn. 11), S. 217 ff. und 328 ff. 27 Beyerlin/Marauhn, Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung im Umweltvölkerrecht, 1997, S. 17 ff. und 73 ff.

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2. Nachhaltigkeit im Europarecht Anknüpfend an die vorstehend geschilderten völkerrechtlichen Vorgaben wurde der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung im EU-Recht, insbesondere in der Präambel des EU-Vertrages, in Art. 3 EUV sowie den Art. 11 und 191 AEUV verankert. Im Wege der Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV sollen die Verpflichtung der EU auf eine wirksame Umweltvorsorge aus Art. 191 Abs. 2 AEUVeinerseits und die mit dem Binnenmarktziel vorgegebene wirtschaftliche und soziale Entwicklung andererseits in rechtlich verbindlicher Weise zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Norm formuliert somit das Erfordernis, die Belange des Umweltschutzes bei der normativen Ausgestaltung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken, wie z. B. Verkehr, Landwirtschaft, Energie, zu berücksichtigen. Mit Art. 11 AEUV wird auf diese Weise in geradezu idealer Weise den Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen, indem die Umweltpolitik mit wirtschaftlichen oder sozialen Belangen verzahnt wird.28 3. Nachhaltigkeit im deutschen Recht a) Umweltrecht Im deutschen Verfassungsrecht steht im Hinblick auf das Ziel der Nachhaltigkeit die Staatszielbestimmung Umweltschutz des Art. 20a GG im Zentrum, der zufolge den staatlichen Institutionen ausdrücklich aufgegeben ist, „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“ zu schützen.29 Unter den „künftigen Generationen“ sind die zur Zeit des jeweiligen Handelns noch ungeborenen Generationen zu verstehen. Zu Adressaten und damit Verpflichteten der Verantwortung werden die jeweils lebenden, handelnden und entscheidenden Generationen. Unabhängig von aller ethischen Begründung, sei sie philosophisch oder religiös entwickelt, impliziert der Begriff der „Verantwortung“, dass diejenigen, die aktuell zu handeln und zu entscheiden haben, die zukünftigen Generationen im Hinblick auf deren Lebensmöglichkeiten in Form einer Selbstbindung mitzuberücksichtigen haben: Auch deren natürliche Lebensgrundlagen dürfen nicht zerstört oder erheblich beeinträchtigt werden. Zwar ist es den gegenwärtig lebenden Generationen nicht generell verwehrt, bestimmte Entscheidungen mit Langzeitwirkungen zu treffen. Jedoch kann die belastende Gestaltung der Umwelt grundsätzlich nur dann legitimiert sein, wenn die zukünftigen Generationen die von ihren Vorgängern getroffenen Entscheidungen revidieren und die entsprechenden Wirkungen beseitigen können.30 Aktuelle Entscheidungen erhalten damit eine speziell zu berücksichtigende, langfristig orientierte Zukunftsdimension, die auf intergeneratio28 Calliess, Die neue Querschnittsklausel des Art. 6 ex 3c EGV als Instrument zur Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung, DVBl. 1998, 559 ff. 29 Kahl (Fn. 4), S. 1 (11). 30 Gethmann/Kloepfer/Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, 1993, S. 22 f.

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nelle Gerechtigkeit gerichtet ist.31 In zutreffender Weise wird daher die Bezugnahme auf künftige Generationen auch als Ausdruck des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung interpretiert. Denn der Gedanke der Verantwortung für die nachfolgenden Generationen deckt sich mit den theoretischen Ansätzen zur Begründung des Nachhaltigkeitsgedankens.32 So gesehen koppelt die aus Art. 20a GG fließende staatliche Verantwortung für künftige Generationen das Nachhaltigkeitsprinzip mit dem deutschen Umweltverfassungsrecht. Denn im offenen Verfassungsstaat des Grundgesetzes können Staatzielbestimmungen dort, wo sich Interpretationsspielräume eröffnen, im Wege einer völkerrechtskonformen Auslegung33 konkretisierende Impulse aus dem internationalen Recht empfangen.34 In noch größerem Umfang gilt dies für die Vorgaben des vorrangigen Europarechts, die im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund über die unionsrechtskonforme Auslegung35 auf Art. 20a GG einwirken. In der Folge sind die aus dem Umweltunionsrecht sowie aus dem Umweltvölkerrecht fließenden Vorgaben zur Konkretisierung des Inhalts von Art. 20a GG heranzuziehen. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die staatliche Verantwortung für künftige Generationen gemäß Art. 20a GG dazu verpflichtet, bei Entscheidungen, die umweltbelastende bzw. gefährdende Entwicklungen einleiten, deren Interessen mit zu berücksichtigen und im Zweifel diejenige Vorgehensform zu wählen, die die Zukunft am offensten hält.36 Da die Interessen der künftigen Generationen im System der Wahlperioden- und Parteiendemokratie einen vergleichsweise schwachen Stand haben, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die staatliche Langzeitverantwortung durch geregelte Verfahren und Organisationsformen zu institutionalisieren.37

31 Vgl. hierzu Höffe, Sittlich-politische Diskurse, 1981, S. 148 f.; Sommermann (Fn. 24), S. 190 ff. m.w.N. 32 Appel (Fn. 11), S. 295 ff. und 329 ff. 33 Vgl. etwa BVerfGE 74, 358 (370) zur EMRK; 82, 106 (120); 83, 119 (128), 88, 103 (112); Bleckmann (Fn. 25), 137 (140 f.); Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, § 172, Rn. 27 ff. 34 Sommermann (Fn. 24), S. 252 ff. 35 Vgl. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261 ff.; Sommermann (Fn. 24), S. 280 ff. (insbesondere S. 293 ff.). 36 Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 23; Brönneke, Umweltverfassungsrecht, 1999, S. 199 ff. 37 Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 35 ff.; Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 216 ff.

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b) Sozialstaatsprinzip Von Vertretern des rechtswissenschaftlichen Schrifttums wird vereinzelt die Auffassung vertreten, dass über die soziale Komponente der Drei-Säulen-Konzeption38 auch dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 GG) eine staatszielartige Verpflichtung der Staatsorgane auf Nachhaltigkeit zu entnehmen sei: Die sozialstaatliche Verpflichtung zur Daseinsvorsorge schließe die Aufgabe mit ein, durch weitsichtige Entscheidungen in der Gegenwart für das Dasein in der Zukunft zu sorgen.39 Sie fordere, die materiellen Lebensverhältnisse künftiger Generationen ebenso zu bedenken wie diejenigen der heute Lebenden.40 Demgegenüber ist zu bedenken, dass die besondere Unbestimmtheit der Formulierung „sozialer Bundesstaat“ in Art. 20 Abs. 1 GG einer Ableitung konkreter staatlicher Verpflichtungen und Berücksichtigungsgebote widerspricht. Nicht zuletzt deshalb kann das Sozialstaatsprinzip nicht als Anknüpfungspunkt für Nachhaltigkeit im Grundgesetz angesehen werden.41 c) Finanzverfassung Im Hinblick auf Aspekte der Nachhaltigkeit aussagekräftiger ist da schon die Finanzverfassung.42 Im Rahmen der Einnahmen- und Ausgabenpolitik spielen insoweit die grundsätzliche Finanzierung von Ausgaben der öffentlichen Hand durch die nutznießende Generation und ein Verbot ungerechtfertigter Rückgriffe auf Leistungen und Ressourcen nachrückender Generationen eine Rolle.43 Verfassungsrechtliche Eckpfeiler für den ökonomischen Aspekt der Nachhaltigkeit sind die novellierten Art. 109 und 115 GG, mit denen die nationalen Verschuldungsregeln reformiert wurden.44 Die maßgebliche Bestimmung findet sich in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG, wonach die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Neben der Bindung an die auf Basis von Art. 126 AEUV in einem Protokoll festgehaltenen Referenzwerte für laufendes Defizit und Schuldenstand („Maastricht-Kriterien“) sind die Regelungen in 38 Lux-Wesener, Generationengerechtigkeit im Grundgesetz? – Eine Untersuchung des Grundgesetzes auf Gewährleistungen von intergenerationeller Gerechtigkeit, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.), Handbuch Generationengerechtigkeit, 2. Aufl., 2003, S. 405 (417). 39 Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983), 489 (499); Glaser (Fn. 6), S. 242. 40 Benda, Der Soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 17, Rn. 187; Beaucamp (Fn. 7), S. 186. 41 Glaser (Fn. 6), S. 244 f. 42 Becker, Generationengerechte Finanzpolitik, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Fn. 38), S. 243 (244). 43 Becker (Fn. 42), S. 243 (244). 44 Zur Notwendigkeit dessen vgl. BVerfGE 119, 96 (137 ff.).

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den Art. 109 und 115 GG Kernstück der finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Staatsschuldenrecht. Mit der neuen „Schuldenbremse“45 ist eine strukturelle Neuverschuldung nur noch dem Bund in Höhe von 0,35 % des BIP gestattet (Art. 109 Abs. 3 Satz 4, 115 Abs. 2 GG), nicht aber den Ländern: Für sie gilt der Grundsatz eines ausgeglichenen Haushalts absolut, Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG. Allerdings erlaubt Satz 2 einerseits Abweichungen zum Ausgleich konjunkturbedingter Defizite in Phasen des Abschwungs, verbunden mit der Verpflichtung zum symmetrischen Abbau in Hochphasen, andererseits zur Abwehr von außergewöhnlichen, der Kontrolle des Staates entzogenen Notsituationen, die den Haushalt erheblich beeinträchtigen.46 Eine sich darauf stützende erhöhte Nettokreditaufnahme muss gemäß Satz 3 zwingend mit einem Tilgungsplan verbunden werden. Mit dieser prozeduralen Regelung soll verhindert werden, dass die (auch aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten) positiven Aspekte einer vorübergehenden Aufnahme von Staatsschulden sich durch Nichtrückzahlung auch nach Beendigung des Konjunkturzyklus ins Negative kehren. Ein kooperatives System von Bund und Ländern zur frühzeitigen Erkennung von Haushaltskrisen wird durch einen in Art. 109a GG vorgesehenen Stabilitätsrat etabliert. Das solchermaßen formulierte Staatsziel eines ausgeglichenen Haushalts korrespondiert dem zentralen Aspekt ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit. Der Bezug der Finanzpolitik zu Nachhaltigkeit und intergenerationeller Gerechtigkeit kristallisiert sich damit insbesondere in der Frage nach dem zulässigen Ausmaß der Staatsverschuldung heraus.47 Manche Stimmen halten diese zwar in dem Maße für gerechtfertigt, wie nachrückende Generationen davon profitieren, also insbesondere über die Finanzierung von Investitionsleistungen.48 Jedoch schränken auch dann finanzielle Belastungen in Gestalt von Zins- und Kreditrückzahlungen die zukünftigen Handlungsspielräume der öffentlichen Hand ein und verhindern damit, dass spätere Generationen ungebunden ihre eigenen gestalterischen Prioritäten umsetzen können. 4. Schlussfolgerungen Was aber lässt sich nach alledem nun rechtsgebietsübergreifend aus dem Nachhaltigkeitsprinzip folgern? Die Verfassung enthält zur Beantwortung dieser Frage über die genannten Aspekte hinaus keine ausdrücklichen Hinweise. In systematischer Auslegung lassen sich insoweit jedoch den Art. 109, 115 Abs. 2 GG und

45 Beschluss des Bundestags vom 29. 05. 2009, BT-Drucks. 510/09; Beschluss des Bundesrats vom 12. 06. 2009, BR-Drucks. 510/09. 46 Seiler, Konsolidierung der Staatsfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, 721 ff. 47 Möstl, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Kahl (Fn. 4), S. 569. 48 Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 123, Rn. 3 ff.

Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung

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Art. 20a GG jeweils in Verbindung mit den völker- und europarechtlichen Vorgaben Auslegungshinweise entnehmen.49 Aus rechtlicher Sicht geht es zunächst darum, die Umweltbelange, die – anders als die ökonomischen und sozialen Belange – keine „Lobby“ haben, mit den korrespondierenden Politiken zu verzahnen. Dies bedeutet konkret, dass Nachhaltigkeit im Sinne des Drei-Säulen-Ansatzes nur hergestellt werden kann, wenn die ökologische Nachhaltigkeit durch verfahrensrechtliche Vorgaben an die Wirtschafts- und Sozialpolitik herangetragen und in diese inhaltlich integriert wird.50 Rechtlich geschieht dies über das Staatsziel Umweltschutz in Art. 20a GG. Mit der dort explizit auf künftige Generationen erstreckten Schutzverpflichtung wird nicht nur das Vorsorgeprinzip, sondern auch der Aspekt einer ökologischen Generationengerechtigkeit in die tradierte Verantwortung des Staates für Wirtschaftswachstum und Sozialstaat integriert. In der Folge sind die staatlichen Institutionen gehalten, ihre gegenwärtige Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik integriert und unter Berücksichtigung der Belange künftiger Generationen zu gestalten. Damit entsteht eine besondere Form der Zukunfts- bzw. Langzeitverantwortung, die sich in Politik und Recht – freilich erst in Ansätzen – zu spiegeln beginnt.51 Auch wenn im Rahmen der rechtlichen Nachhaltigkeitsdebatte bislang die ökologische Perspektive im Vordergrund stand, so gibt es zunehmend auch Überlegungen, wie man die Wirtschafts- und Sozialpolitik auch an und für sich nachhaltig gestalten kann. Insoweit tritt der Gedanke der Generationengerechtigkeit in den Vordergrund. Rechtliche Ansätze finden sich insoweit im Rahmen der Finanz- und Haushaltspolitik. Seit geraumer Zeit schon wird die Staatsverschuldung als staatliche Vorausverfügung über die Zukunft gekennzeichnet und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen als Problem zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen diskutiert. Vereinfacht gesagt, besteht der Grundgedanke daher zu Recht darin, die Entscheidungsfreiheit für nachfolgende Generationen dadurch zu wahren, dass höchstens so viel an Schulden gemacht wird, wie auch an Werten in Form von Investitionen hinterlassen wird. Es ist also die Zukunftsbezogenheit, die Kredite und Investitionen miteinander verbindet. Hierdurch kann gewährleistet werden, dass künftige Generationen – zumindest theoretisch – immer von einem gleichen Wertbestand ausgehen können, so dass sie in ihrer demokratischen Entscheidungsfreiheit nicht durch finanzielle Altlasten beschränkt werden.52 Nicht von ungefähr ist daher der Begriff des Haushaltens seit jeher mit dem Gedanken der Vorsorge verbunden und steht in Zusammenhang mit dem Begriff des Haushaltskreislaufs. Der hierin enthaltene Grundgedanke lässt sich auch auf 49

Waechter, Umweltschutz als Staatsziel, NuR 1996, 321 (326 f.). Ebenso und vertiefend Appel (Fn. 11), S. 339 ff.; Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 2002, Für eine neue Vorreiterrolle, Kapitel 1.3, S. 58 ff. 51 Ausführlich Appel (Fn. 11), S. 42 ff. und 328 ff.; Krings, Die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung, ZG 2009, 237 ff. 52 Ausführlich Henseler (Fn. 39), 489 (497 ff.). 50

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Art. 20a GG, der den Naturhaushalt schützen soll, übertragen. Zwar lassen sich Defizite im Staatshaushalt leichter als Defizite im Naturhaushalt berechnen. Denn hinsichtlich des Umweltverbrauchs hat sich ein allseits akzeptiertes Berechnungskonzept noch nicht durchsetzen können. Vorliegend geht es jedoch um die verfassungssystematische Ermittlung von Auslegungsansätzen für Art. 20a GG, für die der Rekurs auf Kerngedanken staatlichen Haushaltsrechts hinreichend ist. Insoweit lässt sich folgern, dass auch im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen den künftigen Generationen grundsätzlich keine Gesamtverschlechterung der ökologischen Gesamtsituation hinterlassen werden darf. Infolgedessen besteht eine verfassungsrechtliche Pflicht zum sparsamen Umgang mit Ressourcen, mithin zur Ressourcenvorsorge. Grundsätzlich darf nur so wenig an Ressourcen verbraucht werden, wie sich aus eigener Kraft regenerieren kann. Bei nicht erneuerbaren Ressourcen besteht eine Pflicht zur größtmöglichen Schonung. Wo immer möglich, ist für funktional adäquaten Ersatz zu sorgen, so dass der Bestand an Ressourcen insgesamt betrachtet stabil bleibt. Entsprechend dem Prinzip eines ausgeglichenen Haushalts müssen Ressourcenverbrauch und Ressourcenerneuerung grundsätzlich ausgeglichen sein.53 Im Ergebnis ist eine „ressourcenschonende“ politische Gestaltung mit dem Ziel der Generationengerechtigkeit nicht nur in Bezug auf den Erhalt von Ressourcen in ökologischer, sondern auch in fiskalischer Hinsicht denkbar. Darüber hinausgehende inhaltliche Vorgaben konkreter Art sind aus rechtlicher Perspektive jedoch kaum zu ermitteln. Diese relative Unbestimmtheit ist andererseits aber auch gerade typisch für Staatszielbestimmungen. Denn diese erlegen dem Staat verfassungsrechtliche Handlungspflichten „nur“ hinsichtlich der Verwirklichung eines bestimmten politischen Ziels auf. Sie enthalten programmatische Direktiven, die der Staat „nach Kräften anzustreben“ und an denen er „sein Handeln … auszurichten“54 hat. Staatszielbestimmungen werden daher zutreffend als „Finalprogramme“ und „Prinzipien“ bezeichnet.55 Als Prinzipien sind Staatsziele rechtlich betrachtet Optimierungsgebote, also Normen, die „gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“. Zielkonflikte werden dabei über die Grundsätze der Prinzipienkollision gelöst, wobei die Instrumente der Gewichtung und Abwägung eine entscheidende Rolle spielen.56 Dabei ist der vorstehend ermittelte inhaltliche Zielkern sowie das im Hinblick darauf bestehende Untermaßverbot zu beachten. Dies erfordert zumindest, dass die verantwortlichen staatlichen Institutionen ein Handlungs- und Schutz-

53

Waechter (Fn. 49), 321 (326). So Art. 3 Abs. 3 der Verfassung von Sachsen-Anhalt; ähnlich Art. 13 der Verfassung von Sachsen. 55 Sommermann (Fn. 24), S. 358. 56 Grundlegend zum Begriff des Rechtsprinzips: Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 177 ff. 54

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konzept entwickeln.57 Dies kann in Form einer Nachhaltigkeitsstrategie geschehen, wie sie die Bundesregierung verabschiedet und fortentwickelt hat.58 Um jedoch dort, wo verschiedene Staatsziele im Einzelfall divergierende Entscheidungen fordern können, zu einer ausgewogenen Konfliktlösung zu kommen, müssen besondere Verfahren und Institutionen vorgesehen werden, im Rahmen derer die verschiedenen Belange umfassend gegeneinander abgewogen werden können. Diese Verpflichtung zur verfahrensmäßigen Umsetzung, die darauf gerichtet ist, dem materiellen Kern des Art. 20a GG zur Wirksamkeit zu verhelfen, gilt insbesondere im Hinblick auf Normen, die nur begrenzt einer materiellen Konkretisierung zugänglich ist.59 Das Verfahren kompensiert so gesehen die inhaltliche Unbestimmtheit einer rechtlichen Norm. Ein rechtliches Instrument der Konkretisierung stellt insoweit die erwähnte Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV dar. Indem sie in Übereinstimmung mit Grundsatz 4 und Kapitel 8 der Agenda 21 der Rio-Deklaration60 einfordert, dass die Belange des Umweltschutzes bei der normativen Ausgestaltung und Durchführung anderer Unionspolitiken zu berücksichtigen und zur Förderung einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung einzubeziehen sind, ermöglicht sie Nachhaltigkeit im Sinne des Drei-Säulen-Ansatzes.61 Denn Nachhaltigkeit benötigt immer einen Fokus, der durch Verzahnung und Integration zu einer Internalisierung von Politiken beiträgt.

III. Rahmenbedingungen für Nachhaltigkeitsprüfungen in Gesetzgebungsverfahren 1. Gegenwärtige Nachhaltigkeitsprüfungen und ihre Defizite Gemäß § 44 Abs. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) ist im Rahmen der Gesetzesbegründung darzustellen, ob die Wirkungen eines Vorhabens der nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesondere, ob langfristige Wirkungen mit Nachhaltigkeitsrelevanz bestehen. In der Praxis bestehen insoweit freilich Defizite. Nur einige wenige Gesetzesbegründungen weisen eine intensive 57 Zu dessen Inhalt Calliess, Die Leistung des Untermaßverbots als Kontrollmaßstab grundrechtlicher Schutzpflichten, in: FS für Christian Starck, 2007, S. 201 ff. 58 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/nachhaltigkeit/DE/Nationale-Nachhaltig keitsstrategie/Nationale-Nachhaltigkeitsstrategie.html?__site=Nachhaltigkeit. 59 Brönneke (Fn. 36), S. 368 ff.; Steinberg (Fn. 37), S. 216 ff. 60 Vgl. Schröder (Fn. 1), 251 (257 und 262); Carius/Sandhövel (Fn. 5), 11. 61 Zu den Vorgaben der Umsetzung Epiney/Scheyli (Fn. 13), S. 98 ff.; Frenz, Deutsche Umweltgesetzgebung und Sustainable Development. Perspektiven nach der Festschreibung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung im Europarecht, ZG 1999, 143 ff.; ders. (Fn. 25), 37 ff.; Calliess (Fn. 28), S. 559 ff.; Frenz/Unnerstall, Nachhaltige Entwicklung im Europarecht, 1999, S. 153 ff.

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Auseinandersetzung am Maßstab der Indikatoren und Managementregeln der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie auf. Die meisten Begründungen setzen sich mit den Gesetzesfolgen für die Nachhaltigkeit allenfalls knapp und selektiv auseinander. An einer substantiellen Gesetzesfolgenabschätzung am Maßstab der Nachhaltigkeit fehlt es in aller Regel. Das entscheidende Problem liegt insoweit im Maßstab der Nachhaltigkeitsbewertung: In § 44 Abs. 1 GGO wird der Begriff der Nachhaltigkeit nicht näher definiert. So nennt die nach § 44 Abs. 1 Satz 5 GGO herausgegebene Arbeitshilfe des Bundesministeriums des Inneren als Bewertungsmaßstab – ohne jede Begründung – die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie von 200262. Jene bestimmt den Begriff der nachhaltigen Entwicklung zwar ausgehend von der eingangs erwähnten Definition der Brundtland-Kommission. Sodann wird jedoch auf über 300 Seiten eine umfassende Politik zur Nachhaltigkeit entworfen. Umfasst ist die Entwicklung eines übergreifenden Leitbildes nachhaltiger Regierungspolitik für vier Felder: Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, Sozialer Zusammenhalt und Internationale Verantwortung. Zur Konkretisierung werden zehn Managementregeln aufgestellt. Die Erfolgskontrolle erfolgt am Maßstab von 21 Indikatorenbereichen, die mit 35 Indikatoren bzw. Zielen unterlegt sind. Dieser Komplexität des Regel-, Indikatoren- und Zielkonzepts korrespondiert die Breite des Nachhaltigkeitsbegriffs der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Sie umfasst die mit dem Nachhaltigkeitsbegriff verbundenen Ziele vom Umwelt- und Ressourcenschutz bis hin zur Verringerung der Kriminalität, der Steigerung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bis hin zur Förderung der Integration. In der Folge beschreibt der Nachhaltigkeitsbegriff letztlich alles das, was eine Mehrheit der Bevölkerung für „gute Politik“ hält. Dies überfordert die mit der Nachhaltigkeitsprüfung betrauten Stellen, so dass Nachhaltigkeitsbegründungen zwangsläufig oftmals nur Alibicharakter haben können. Wenn die Nachhaltigkeitsprüfung zu einem effektiven Instrument umgestaltet werden soll, so dass eine substantielle Auseinandersetzung mit den Nachhaltigkeitsfolgen eines Gesetzes ermöglicht wird, dann ist zunächst eine Präzisierung des Bewertungsmaßstabes erforderlich, die im Gesetzgebungsverfahren umsetzbar ist. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, die Nachhaltigkeitsprüfung nicht am Maßstab der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in ihrer Gesamtheit mit allen ihren Managementregeln, Zielen und Indikatoren auszurichten. Vielmehr sollte ein klar verständliches abstrakt-generelles Indikatorenraster zugrundegelegt werden, das sich auf die ökologische Nachhaltigkeit konzentriert und diese sodann in die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinne der Querschnittsklausel integriert. Denn letztlich bleibt das Nachhaltigkeitsprinzip ein Relationsbegriff, der einzelfallbezogener und – mit Blick auf seine materielle Unbestimmtheit – auch prozeduraler Umsetzung bedarf.63 62 63

BMI, Arbeitshilfe zur Gesetzesfolgenabschätzung 2009, S. 12. Ausführlich dazu Calliess (Fn. 28), 559 ff.

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2. Reformansätze: Nachhaltigkeit durch Verfahren a) Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung Ein verbessertes Instrument für die Einbeziehung von Nachhaltigkeitsbelangen in die Entscheidungsprozesse von Gesetzgebung und Verwaltung könnte zunächst eine Art „Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung“ bilden.64 Angelehnt an die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV könnte eine solche (verfassungs-)rechtliche Verpflichtung in einem neuen Art. 20b GG wie folgt formuliert werden: Die Erfordernisse des Nachhaltigkeitsprinzips müssen bei der Festlegung und Durchführung aller staatlichen Politiken und Maßnahmen, insbesondere im Interesse künftiger Generationen, berücksichtigt werden. Insoweit haben der Bund und die Länder geeignete institutionelle und organisatorische Vorkehrungen zu treffen.

Aus dieser Norm würde die verfassungsrechtliche Verpflichtung von Gesetzgeber und Verwaltung folgen, der komplexen Aufgabe der Nachhaltigkeit durch deren Verständnis als problembezogene Querschnittsaufgabe Rechnung zu tragen und alle Politiken und Maßnahmen so frühzeitig wie möglich auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Nachhaltigkeitsprinzips zu überprüfen. Dies verlangt, dass Entscheidungen und Maßnahmen in sämtlichen Politikbereichen, insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Finanzpolitik, nicht ausschließlich an deren spezifischen Gegebenheiten ausgerichtet werden, sondern mit Rücksicht auf ihre Auswirkungen auf künftige Generationen anders oder im Extremfall sogar überhaupt nicht getroffen werden. Mit dieser Norm würde in geradezu idealer Weise den vorstehend herausgearbeiteten Vorgaben von Nachhaltigkeit (Ressourcenschonung, Generationengerechtigkeit, Langzeitverantwortung etc.) Rechnung getragen. b) Mögliche Ansätze in der Verwaltungsorganisation Aus der vorstehend vorgeschlagenen Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung in einem neuen Art. 20b GG folgen Vorgaben für die Organisation der Exekutive. Insoweit ist zunächst bei der staatlichen Verwaltungsorganisation anzusetzen.65 Dort sind entweder bestehende administrative Entscheidungsstrukturen im Interesse der Langzeitverantwortung zu nutzen oder aber neu einzurichtende administrative Sondergliederungen mit der Wahrung spezifischer Langzeitinteressen zu betrauen. So könnte auf der staatlichen Ebene in jedem Ministerium und in jeder Verwaltungsbehörde eine kompetente Stelle eingerichtet werden, die alle sektoralen Maßnahmen politikübergreifend auf ihre Nachhaltigkeitsrelevanz – definiert durch Verwaltungsvorschriften – überprüft, diese bewertet und bei einem möglichen Verstoß gegen die Vorgaben des Nachhaltigkeitsprinzips ihr suspensives Veto einlegen kann. 64

Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 37 f. Ausführlich hierzu Ruffert, Interessenausgleich im Verwaltungsorganisationsrecht, DÖV 1998, 897 ff. 65

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Dementsprechend könnte den für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie relevanten Ministerien (Wirtschaft, Finanzen, Umwelt, Arbeit und Soziales) ein suspensives Vetorecht im Kabinett zukommen, wenn es um Fragen mit erheblicher Bedeutung für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie geht. Nach § 26 der Geschäftsordnung der Bundesregierung hat bereits das Bundesfinanzministerium das Recht, in Fragen von finanzieller Bedeutung Widerspruch gegen einen Beschluss der Bundesregierung einzulegen. Es kann allerdings in einer weiteren Sitzung überstimmt werden (Abs. 1). Für das Umweltministerium wird ein solches suspensives Veto seit längerem diskutiert.66 Ergänzend könnte den relevanten Ministerien auch ein Initiativrecht außerhalb des eigenen Geschäftsbereiches zugestanden werden, um in anderen Politikbereichen Maßnahmen im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie anzustoßen. Nach § 15a der Geschäftsordnung der Bundesregierung besitzt bereits das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein solches Initiativrecht in Angelegenheiten von frauenpolitischer Bedeutung. Sowohl das Initiativ- als auch das suspensive Vetorecht könnten durch einfachen Regierungsbeschluss innerhalb der Geschäftsordnungsautonomie der Bundesregierung eingeführt werden. Zur Vermeidung von Ressortkonflikten, die im Kabinett entschieden werden müssten, werden frühzeitige Abstimmungsprozesse erforderlich. Um eine intensivere und frühzeitigere Koordination zwischen den Ressorts und vor allem einen Abgleich mit übergreifenden Nachhaltigkeitszielen herzustellen, könnte eine interministerielle Arbeitsgruppe „Nachhaltigkeit“ unter Federführung des Kanzleramts ins Leben gerufen werden. Beteiligt sein sollten alle Ministerien, deren Aktivitäten unmittelbar oder mittelbar einen erheblichen Einfluss auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie haben. Aufgabe der interministeriellen Arbeitsgruppe wäre es, die Verwirklichung der prioritären Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung – wie sie in der Nachhaltigkeitsstrategie Niederschlag gefunden haben – in den entsprechenden Ressorts zu begleiten. Die Arbeitsgruppe sollte dem Kabinett regelmäßig darüber berichten, ob die Ziele eingehalten werden. Unabhängig davon käme als neu zu schaffende Institution ein von Bundestag und Bundesregierung einzusetzendes Gremium zur Prüfung von Gesetzesfolgen am Maßstab der Nachhaltigkeitsstrategie in Betracht. Das Verfahren der Gesetzesfolgenabschätzung67 an sich dient der Erkundung und vergleichenden Bewertung der Konsequenzen beabsichtigter und bereits in Kraft getretener Vorschriften. Es basiert auf einer nach bestimmten Kriterien – vornehmlich Kosten, Wirksamkeit und Ver-

66

Vgl. auch Kuratorium, Verfassungsentwurf, S. 45, 128, wonach dem Bundesumweltminister gemäß Art. 65 Abs. 3 bei ökologisch bedeutsamen Vorhaben ein Vetorecht zustehen soll. 67 Dazu Meßerschmidt, Gesetzgebungslehre zwischen Wissenschaft und Politik, ZJS 2008, 111; ferner Ennuschat, Wege zur besseren Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle, DVBl. 2004, 986 (992).

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ständlichkeit – erfolgenden Evaluierung der erwarteten oder tatsächlich eingetretenen Folgen eines Gesetzes. Die Gesetzesfolgenabschätzung korrespondiert im Ansatz einer Tätigkeit, die – wenn auch mit begrenzterem Auftrag – derzeit vom Normenkontrollrat wahrgenommen wird. Dieser befasst sich auf Bundesebene zuvorderst mit der Erfassung und Beseitigung von Bürokratiekosten bzw. seit 2011 mit dem „Erfüllungsaufwand neuer Regelungen“.68 Soweit dem Normenkontrollrat die entstehenden Kosten zu hoch erscheinen, kann er beim Normgeber intervenieren, ohne dass damit verbindliche Rechtsfolgen ausgelöst werden. Nachhaltigkeitsaspekte spielen in der Arbeit des Normenkontrollrats bislang freilich keine Rolle, auch wenn dies immer wieder diskutiert worden ist.69 Hinzu kommt, dass die Arbeit des Normenkontrollrats unverbindlich ist.70 Ihm steht kein Vetorecht zu, das ein Überdenken der Regelung durch den Gesetzgeber erforderlich machen würde. Würden diese Defizite beseitigt, wäre der Normenkontrollrat eine interessante Institution, an deren Vorbild eines Nachhaltigkeitskontrollrats mit entsprechenden Zuständigkeiten die Gesetzesfolgenabschätzung angelehnt werden könnte. Ende 2010 wurde jedoch dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, einem Gremium des Bundestages, die Aufgabe übertragen, die Nachhaltigkeitsbewertungen in Gesetzesentwürfen der Bundesregierung und des Bundesrates zu überprüfen. Überdies soll es Aufgabe des Beirats sein, dem Bundestag über Möglichkeiten Bericht zu erstatten, die Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung weiter zu optimieren.71 Eine Ergänzung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages will den Parlamentarischen Beirat in einem neuen § 93c darüber hinaus hinsichtlich „der parlamentarischen Beratung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie mit der Federführung der Ausschussberatungen“ beauftragen. Zur effektiven Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips ist jedoch auch an institutionelle Neuerungen zu denken.72 In Betracht käme insoweit die Institutionalisierung

68 Vgl. Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrats vom 14. 08. 2006, BGBl. I, S. 1866, geändert durch Gesetz vom 16. 03. 2011, BGBl. I, S. 420; hierzu Röttgen, Normenkontrollrat: Der Koalitionsvertrag als Wegweiser zu besserer Rechtsetzung und weniger Bürokratie, ZRP 2006, 47 (48 f.); Schultze, Über die Verantwortung von Regierung und Verwaltung für die Gesetzgebung, DÖV 2007, 401 (409 f.). 69 Dazu Jacob/Veit/Hertin, Gestaltung einer Nachhaltigkeitsprüfung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung, 2009, S. 7, 104, http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/ systeme/ffu/publikationen/2009/jacob_klaus_veit_sylvia_hertin_julia_2009/09_nhp_gutachten. pdf (Stand: März 2009). 70 Schröder, Der nationale Normenkontrollrat. Ein neuer Schritt zum Abbau von Bürokratiekosten, DÖV 2007, 45 (48). 71 Dazu Krings (Fn. 51), 237 ff. 72 Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 35 ff.; Appel (Fn. 11), S. 85 ff.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 515 ff.; Steinberg (Fn. 37), S. 335 ff.; kritisch zu sol-

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eines Nachhaltigkeitsbeauftragten des Bundestages73, der jeweils als Vertreter der Interessen zukünftiger Generationen in die Entscheidungsprozesse einzubinden wäre.74 Vorstellbar wäre auch ein mit verfassungsrechtlicher Autorität ausgestatteter Rat für nachhaltige Entwicklung (Nachhaltigkeitsrat), der als eine aus unabhängigen Sachverständigen zusammengesetzte und mit einem aufschiebendem Vetorecht ausgestattete Institution ein öffentlichkeitswirksames Überdenken von politischen Entscheidungen im Hinblick auf die Vorgaben des Nachhaltigkeitsprinzips anregen könnte.75 Eine solche Institution vermag das Dilemma, wonach aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen sachverständige Empfehlungen für die Entscheidungsträger einerseits keine rechtliche Bindungswirkung entfalten dürfen76, andererseits jedoch der verfassungsrechtlich gebotenen staatlichen Zukunftsverantwortung primär prozedural Rechnung getragen werden muss, zu lösen.

chen Institutionen der Langzeitverantwortung Vierhaus, Sachverstand als Vierte Gewalt?, NVwZ 1993, 36 (41). 73 Dazu Schomerus, Ein Ombudsmann mit Klagebefugnis statt Verbandsklage im Naturschutzrecht?, NuR 1989, 171 ff.; Steinberg (Fn. 37), S. 347 f.; Ruffert (Fn. 65), 897 (903) nennt dies „Interessenrepräsentanz durch Beauftragte“. 74 Ähnliche Überlegungen bei Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 39 f.; Saladin/ Zenger, Rechte zukünftiger Generationen, 1988, S. 111 ff.; Boehler, Gebt der Zukunft ein Recht!, ZRP 1993, 389 (392 f.); Calliess (Fn. 72), S. 520 ff.; Steinberg (Fn. 37), S. 344 ff. 75 In diese Richtung Überlegungen auch bei Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht – Zum neuen Art. 20a GG, DVBl. 1996, 73 (78); Calliess (Fn. 72), S. 515 ff.; Appel (Fn. 11), S. 89 ff.; Gethmann/Kloepfer/Nutzinger (Fn. 30), S. 35 ff.; sehr weitgehend Rux, Intertemporale Strukturprobleme der Demokratie – Die Öko-Diktatur als Ausweg?, in: Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, S. 301 (308 ff.). 76 Dafür aber Rux (Fn. 75), S. 301 (323 f. und 325); dagegen mit ausführlicher Begründung zu Recht Appel (Fn. 11), S. 89 ff.; Calliess (Fn. 72), S. 515 ff.

Die Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts (§ 330d Abs. 2 StGB n.F.) Von Bernd Hecker

I. Problemstellung Ob und inwieweit bei der Ausfüllung von Straftatbeständen des 29. Abschnitts des StGB, welche die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten bzw. das Handeln ohne Genehmigung, Planfeststellung oder sonstige Zulassung voraussetzen, auf ausländisches Verwaltungsrecht abgestellt werden kann, gilt bislang als nicht abschließend geklärtes Problem.1 Wenn beispielsweise der Tatbestand der Luftverunreinigung (§ 325 Abs. 1 StGB) so auszulegen ist, dass nur der Verstoß gegen deutsches Umweltrecht eine tatbestandsmäßige „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ begründet2, lässt sich aus dieser Vorschrift von vornherein kein Strafanspruch gegen einen im Ausland handelnden Anlagenbetreiber herleiten, mag die von ihm verursachte Veränderung der Luft auch geeignet sein, die in § 325 Abs. 1 StGB genannten Rechtsgüter zu schädigen. Demgegenüber wird die Ansicht vertreten, bei der strafrechtlichen Würdigung extraterritorial betriebener Anlagen sei die strafrechtsrelevante Konkretisierung der „verwaltungsrechtlichen Pflichten“ nach dem Verwaltungsrecht des Staates vorzunehmen, auf dessen Hoheitsgebiet sich die Emissionsquelle befindet.3 Auf der Basis dieses Ansatzes ist ein tatbestandsmäßiger Pflichtenverstoß anzunehmen, wenn der Anlagenbetreiber gegen einschlägiges ausländisches Umweltrecht verstößt bzw. wenn er einer ausländischen behördlichen Verfügung – etwa einer Betriebsuntersagung oder Auflage – zuwiderhandelt. Straflos bleibt der Anlagenbetreiber hingegen, wenn der Betrieb nach dem Recht des Handlungsstaates generell erlaubt bzw.

1 Vgl. hierzu nur Dannecker/Streinz, Umweltpolitik und Umweltrecht: Strafrecht, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Aufl., 2003, § 8, Rn. 50; Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., 2010, § 330d, Rn. 19a; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, Vor § 324, Rn. 14 jeweils m.w.N. 2 So Wimmer, Die Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, ZfW 1991, 140 (146 ff.). 3 Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, 1989, S. 308; ders., Grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen im deutschen Strafrecht, ZRP 1992, 19 (22); ihm zustimmend Namini, Grenzüberschreitende Umweltverschmutzung und ihre Bekämpfung mit Hilfe des Vollzugs „Internationalen Strafrechts“, in: Uwer (Hrsg.), Der Einfluss des EG-Umweltrechts auf das Umweltrecht der Mitgliedstaaten, 1996, S. 45 (63).

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behördlich genehmigt ist.4 Einige grundsätzliche Befürworter dieses Ansatzes schränken die Auslandsrechtsakzessorietät des Umweltstrafrechts dahingehend ein, dass der Betrieb einer nach ausländischem Recht erlaubten bzw. behördlich konzessionierten Anlage als tatbestandsmäßige Handlung zu werten sei, wenn der Anlagenbetrieb von der Bundesrepublik völkerrechtlich nicht hinzunehmen sei.5 Die zuletzt genannte Ansicht ist jedoch schon deshalb zu verwerfen, weil sie zu einer Tatbestandsinterpretation führt, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz „nulla poena sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht vereinbar ist.6 Selbst wenn man die Anwendung ausländischen öffentlichen Rechts innerhalb deutscher Straftatbestände grundsätzlich für zulässig hält7, darf dies keinesfalls zu einer Beeinträchtigung der Garantiefunktion des Tatbestandes führen. Der Wortlaut „Verletzung“ verwaltungsrechtlicher Pflichten lässt es nicht zu, hierunter auch Fälle zu subsumieren, in denen der Anlagenbetrieb bzw. eine sonstige umweltrelevante Handlung in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsrecht des Handlungsstaates erfolgt bzw. von einer wirksamen Genehmigung gedeckt wird. Selbst wenn der Staat, auf dessen Gebiet die Anlage betrieben bzw. sonstige umweltrelevante Handlung vorgenommen wird, durch deren Gestattung gegen Völkerrecht verstößt, ändert sich an diesem strafrechtlichen Auslegungsergebnis nichts. Denn die aus dem Völkerrecht bzw. Völkervertragsrecht resultierenden Gebote verpflichten nur die beteiligten Vertragsparteien. Demgegenüber wird die verwaltungsrechtliche Pflichtenstellung des potentiellen Umweltstraftäters (z. B. eines Anlagenbetreibers) ausschließlich von dem nationalen Verwaltungsrecht konstituiert. Stellt sich also der Betrieb einer Anlage nach dem Umweltrecht des Handlungsstaates als legale Handlung dar, bleibt der Anlagenbetreiber zwingend straflos. Dies gilt nach herrschender und zutreffender Auffassung in dem von § 330 d Nr. 5 StGB gezogenen Rahmen sogar dann, wenn die behördliche Betriebserlaubnis materiell rechtswidrig, aber wirksam ist8. Das soeben skizzierte Auslegungsproblem hat sich durch den berühmten „Federstrich des Gesetzgebers“9 erledigt. Das 45. Strafrechtsänderungsgesetz zur Umset4

Vgl. nur Martin, Strafbarkeit (Fn. 3), S. 315 f. Fröhler/Zehetner, Rechtsschutzprobleme bei grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen, Bd. III, 1979, S. 138, 156 ff.; so auch Wegscheider, Probleme grenzüberschreitender Umweltkriminalität, DRiZ 1983, 56 (61). Martin, Strafbarkeit (Fn. 3), S. 309, dort Fn. 15 stimmt diesem Ansatz nur mit dem Vorbehalt zu, dass die Völkerrechtswidrigkeit der ausländischen Genehmigung nach dem Recht des Handlungsortes deren materielle Rechtswidrigkeit zur Folge hat. 6 Zutreffend gesehen von Martin, Strafbarkeit (Fn. 3), S. 308 und Wimmer (Fn. 2), 141 (146). 7 Vgl. hierzu grundlegend Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht, 1978, S. 92 ff. 8 Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 1), Vor §§ 324 ff., Rn. 16 a; Lackner/Kühl (Fn. 1), § 325, Rn. 8. 9 In Anlehnung an das berühmte Zitat von Kirchmanns: „Ein Federstrich des Gesetzgebers (im Original: ,Drei berichtigende Worte des GesetzgebersÐ) und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur“, in: Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 23. 5

Die Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts

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zung der Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt10 [vgl. hierzu II.3.d)] v. 6. November 2011 sieht in der Legaldefinition des § 330d Abs. 2 StGB n.F. erstmals eine ausdrückliche Anbindung des deutschen Umweltstrafrechts an ausländisches Verwaltungsrecht vor, soweit damit Unionsrecht umgesetzt oder angewendet wird. § 330d StGB wurde wie folgt geändert: a) Der bisherige Wortlaut wird Absatz 1. b) Folgender Absatz 2 wird angefügt „(2) Für die Anwendung der §§ 311, 324a, 325, 326, 327 und 328 stehen in Fällen, in denen die Tat in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begangen worden ist, 1. einer verwaltungsrechtlichen Pflicht, 2. einem vorgeschriebenen oder zugelassenen Verfahren, 3. einer Untersagung, 4. einem Verbot, 5. einer zugelassenen Anlage, 6. einer Genehmigung und 7. einer Planfeststellung entsprechende Pflichten, Verfahren, Untersagungen, Verbote, zugelassene Anlagen, Genehmigungen und Planfeststellungen auf Grund einer Rechtsvorschrift des anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder auf Grund eines Hoheitsakts des anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union gleich. Dies gilt nur, soweit damit ein Rechtsakt der Europäischen Union oder ein Rechtsakt der Europäischen Atomgemeinschaft umgesetzt oder angewendet wird, der dem Schutz vor Gefahren oder schädlichen Einwirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf Menschen, Tiere oder Pflanzen, Gewässer, die Luft oder den Boden, dient.“

In ersten Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes (DRB)11 und des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins (DAV)12 wurde die von § 330d Abs. 2 StGB n.F. akzeptierte Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts übereinstimmend abgelehnt. So führte der DRB aus: „Aus Sicht des DRB hätte die Rechtsharmonisierung zum Anlass genommen werden müssen, die internationale Zuständigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden für Umweltdelikte auf Handlungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik einzuschränken. Dies ist notwendig, um Ermittlungskapazität bei den Strafverfolgungsbehörden zu schonen und Beschuldigte nicht unnötigen Parallelverfahren in mehreren Mitgliedstaaten auszusetzen. Da bisher weder auf europäischer Ebene noch im deutschen Strafprozessrecht befriedigende Normen zur Regelung von Konflikten bei doppelter Strafverfolgungszuständigkeit mit 10 11

2520.

BGBl. I, S. 2557. DRB-Stellungnahme Nr. 48/2010, http://www.drb.de/cms/index.php?id=681&L=0%

12 DAV-Stellungnahme Nr. 71/2010, http://anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/SN -10/71-2010-SN-Umweltschutz.pdf.

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einem anderen Mitgliedstaat existieren, muss zumindest bei der hier erfolgenden Umsetzung harmonisierten Strafrechts ein erster Schritt zu einer Begrenzung der ausufernden Zuständigkeiten getan werden. Allein die Schranke des ne bis in idem des Art 54 SDÜ reicht nicht, um in einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum Strafverfolgungszuständigkeiten zu ordnen.“

In der Stellungnahme des DAV heißt es: „Unverständlich und nicht akzeptabel ist gerade vor dem Hintergrund, dass die Harmonisierung des Umweltstrafrechts bereits qua Umsetzung der Richtlinie durch die einzelnen Mitgliedstaaten selbst erfolgen wird, der im Referentenentwurf des BMJ vorgesehene § 330d Abs. 2 StGB n.F. … Dies bedeutet beispielhaft, dass die Strafbarkeit eines Deutschen nach deutschem Umweltstrafrecht für eine in einem Mitgliedstaat, etwa Frankreich oder Rumänien, begangene, umweltrelevante Handlung, mit der gegen französisches bzw. rumänisches Verwaltungsrecht verstoßen wird, strafbar sein kann. Dies ist, zumindest mit der Schlichtheit der Begründung des Referentenentwurfs, aus namentlich zwei Gründen nicht hinnehmbar: – Das Umweltstrafrecht ist verwaltungsakzessorisch. Mit Blick auf die Ausgestaltung des deutschen Verwaltungsrechts ist dies überzeugend, weil das öffentliche Recht hierzulande auf dem, stark grundrechtlich motivierten, Verständnis (auch) von subjektiven Rechten beruht, die der einzelne gegebenenfalls gegen öffentliche Interessen ins Feld führen kann. Darüber hinaus sind die Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsschutzmöglichkeiten (etwa Widerspruchsverfahren, Anfechtungsklage etc.) im deutschen Verwaltungsrecht stark und zufriedenstellend ausgeprägt. Der betroffene Bürger hat daher, ehe er sich möglicherweise wegen einer Umweltstraftat nach deutschem Strafrecht verantworten muss, die Möglichkeit, die ihm verwaltungsrechtlich zustehenden subjektiven Rechte (gegebenenfalls gerichtlich) geltend zu machen. Das System der Verwaltungsrechtsakzessorietät des Umweltstrafrechts bedingt daher einen „doppelten“ Rechtsschutz, bevor es zu einer strafrechtlichen Verurteilung wegen eines Umweltstrafdeliktes kommt; die verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs-/Rechtsschutzmöglichkeiten und den innerstrafrechtlichen Schutz. Solange der deutsche Gesetzgeber nicht klärt, ob in den Mitgliedstaaten ein dem deutschen Verwaltungsrecht vergleichbarer Rechtsschutz bzw. vergleichbare subjektive Rechte bestehen, kann das deutsche Umweltstrafrecht nicht – wie dies jedoch der im Referentenentwurf vorgesehene § 330d Abs. 2 StGB n.F. vorsieht – mit jedem beliebigen Verwaltungsrecht dieser Mitgliedstaaten kombiniert werden. Die angestrebte „Harmonisierung des Umweltstrafrechts“ setzt – spekulativ – ein voll harmonisiertes Verwaltungsrecht voraus. – Im Übrigen besteht – und daran ändert auch die europäische Gewährleistung des ne bis in idem (Art. 54 SDÜ) nichts – die Gefahr doppelter Strafverfolgung in Deutschland und dem jeweiligen Mitgliedstaat, in welchem die fragliche Handlung begangen wurde. Dies folgt gerade aus der durch die Richtlinie herzustellenden Harmonisierung des Umweltstrafrechts. Vor dem aufgezeigten Hintergrund ist die Regelung des geplanten § 330d Abs. 2 StGB n.F. abzulehnen.“

Auf diese – im Ergebnis unbegründeten – Kritikpunkte wird noch im Einzelnen einzugehen sein (vgl. unten III.). Die nunmehr von § 330d Abs. 2 StGB n.F. aus-

Die Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts

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drücklich anerkannte Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts lässt sich nur vor dem Hintergrund der europäischen Rechtsentwicklung nachvollziehen, die auf die Herausbildung eines harmonisierten Umwelt(straf)rechts abzielt.

II. Europäisches Umwelt(straf)recht 1. Grenzüberschreitende Umweltverschmutzung als nationale, europäische und globale Herausforderung Umweltverschmutzung ist schon ihrem Wesen nach ein grenzüberschreitendes Phänomen. Spektakuläre Umweltkatastrophen wie das Reaktorunglück in Tschernobyl (1986), die Rheinverseuchung durch Löschwasser beim Brand im Chemiewerk der Basler Sandoz AG (1986), die Havarien der Öltanker „Erika“ (1999) und „Prestige“ (2002) vor der französischen bzw. spanischen Atlantikküste, die illegale Verbringung von Giftmüll in die Elfenbeinküste (2006), die Ölpest im Golf von Mexiko (2010) sowie die Kernschmelze havarierter Atomreaktoren in Fukushima (2011) verdeutlichen schlaglichtartig die potentiell grenzüberschreitende Dimension von Umweltbeeinträchtigungen.13 Globale ökologische Untersuchungen haben aufgedeckt, dass sich Luftverunreinigungen oft über hunderte von Kilometern auswirken. Beispielsweise sind Wälder in Schweden durch Schadstoffemissionen aus englischen und deutschen Kraftwerken geschädigt worden. Die transnationale Dimension industrieller Umweltbelastungen ist jedenfalls dann augenscheinlich, wenn es um den Betrieb von Kernkraft- und Braunkohlekraftwerken, Müllverbrennungs- oder sonstigen Industrieanlagen geht, die räumlich in unmittelbarer Grenznähe angesiedelt sind. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass bestimmte emissionsträchtige Anlagen sogar bevorzugt in Grenzgebieten angesiedelt werden.14 Auf die Gründe soll hier nicht weiter eingegangen werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle nur, dass die Bundesrepublik Deutschland schon aufgrund ihrer zentralen geographischen Lage mit neun unmittelbaren Nachbarstaaten und als Anrainer der Nordund Ostsee ein vitales Interesse an einem funktionierenden Umweltschutz in Europa hat. Unerlässliche Voraussetzung für einen funktionierenden Umweltschutz ist ein effektives und praktikables Rechtsinstrumentarium. Grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen bergen ein vielfältiges und kompliziertes juristisches Konfliktpotential, das praktisch alle Rechtsgebiete betrifft. Hervorzuheben ist zunächst die Rolle des Umweltvölkerrechts, dem die Aufgabe zu13 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Hach, Völkerrechtliche Pflichten zur Verminderung grenzüberschreitender Luftverschmutzung in Europa, 1993, S. 83 ff.; Hecker, Die Strafbarkeit grenzüberschreitender Luftverunreinigungen im deutschen und europäischen Umweltstrafrecht, ZStW 115 (2003), 880 ff.; Seidl-Hohenveldern, Grenzüberschreitender Umweltschutz und Strafrecht, in: FS für Richard Lange, 1976, S. 489 ff. 14 Fröhler/Zehetner, Rechtsschutzprobleme bei grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen, Bd. I, 1979, S. 23.

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kommt, die Umweltnutzungskonflikte zwischen den Völkerrechtssubjekten zu regeln15. Vor dem Hintergrund regionaler und globaler Umweltprobleme, die hier nur mit den Schlagworten Waldsterben, Treibhauseffekt, Ozonloch und Meeresverschmutzung angedeutet werden sollen, hat sich in vielen Staaten der Welt die Einsicht durchgesetzt, dass die Umwelt nicht allein durch den Einsatz des Privat- und Verwaltungsrechts, sondern auch mit dem Instrument strafrechtlicher Repression zu schützen ist.16 Dem kriminalstrafrechtlichen Instrumentarium wird hierbei zu Recht eine für die effektive Durchsetzung der Umweltgesetze und präventiv-administrativen Maßnahmen unverzichtbare flankierende Funktion zugeschrieben, durch welche die vorrangige Zuständigkeit des Umweltverwaltungsrechts für die Regelung von Umwelteingriffen und Umweltnutzungskonflikten nicht in Frage gestellt wird. In dem Europa des Europarates mit derzeit 47 Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union mit derzeit 27 Mitgliedsstaaten gibt es heute keine Rechtsordnung mehr, die auf das Strafrecht als Mittel des Umweltschutzes gänzlich verzichtet.17 Von einem einheitlichen europäischen Umweltschutzstandard kann allerdings nicht die Rede sein. Angesichts der erheblichen juristischen Probleme, vor die sich die nationalen Strafverfolgungsbehörden vor allem in Fällen grenzüberschreitender Umweltkriminalität gestellt sehen, erscheint die kriminalpolitische Forderung unabweisbar, einheitliche umweltstrafrechtliche Mindeststandards in den europäischen Staaten zu schaffen.18 Nur ein vereinheitlichtes europäisches Umweltstrafrecht vermag der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass die Bewahrung einer intakten Umwelt im Sinne der Erhaltung und des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ein universelles Anliegen darstellt.19 Hinzu kommt, dass divergierende umweltstrafrechtliche Regelungen in den EU-Mitgliedstaaten ein Strafrechtsgefälle schaffen, das zu Wettbewerbsverzerrungen führt und damit das Binnenmarktziel der Union konterkariert.20

15

Hach (Fn. 13), S. 15 ff.; Odendahl, Die Umweltpflichtigkeit der Souveränität, 1998, S. 26 ff., 74. 16 Hecker, Umweltstrafrecht, in: Sieber/Brüner/Satzger/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 28, Rn. 5; Heine, Erkennung und Verfolgung von Umweltstraftaten im europäischen Rechtsraum, UPR 1987, 281; ders., Zur Rolle des strafrechtlichen Umweltschutzes, ZStW 101 (1989), 722 (724 ff.). 17 Hecker (Fn. 16), § 28, Rn. 6; Knaut, Die Europäisierung des Umweltstrafrechts, 2005, S. 145 – 242. 18 Fromm, Bekämpfung schwerer Umweltkriminalität in der EG durch einheitliche strafrechtliche Sanktionen, ZfW 2009, 157. 19 Dannecker/Streinz (Fn. 1), § 8, Rn. 53; Eisele, Harmonisierung des Umweltstrafrechts in der Europäischen Union, in: Pache/Kreuzer (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005, S. 134 (140 f.); Höpfel, Die internationale Dimension des Umweltstrafrechts, in: Festschrift für Otto Triffterer, 1996, S. 425 (426 f.). 20 Dannecker/Streinz (Fn. 1), § 8, Rn. 51 ff.; Knaut (Fn. 17), S. 306; krit. hierzu Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009, S. 93 ff.

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2. Umweltschutzpolitik auf europäischer Ebene Vor dem soeben skizzierten Hintergrund verdient es Anerkennung, dass die frühere Europäische Gemeinschaft (EG) als Rechtsvorgängerin der heutigen Europäischen Union (EU) bereits seit Beginn der 1970er Jahre eine aktive Umweltschutzpolitik auf europäischer Ebene betreibt.21 Die frühere EG setzte europäisches Umweltrecht anfänglich noch auf der Grundlage einer dynamischen Handhabung des Vertrages, insbesondere einer extensiven Interpretation der in ex-Art. 94 EGV und ex-Art. 308 EGVenthaltenen Harmonisierungskompetenzen. Eine bedeutsame Aufwertung erfuhr der gemeinschaftliche Umweltschutz mit dem Inkrafttreten der EEA im Jahre 1987 durch die Einfügung eines besonderen Umweltkapitels in den EGV (ex-Art. 174 – 176 EGV), welches später durch die Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) weiterentwickelt wurde. Fortan stellte der Umweltschutz nicht mehr ein bloßes Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes, sondern ein eigenständiges Vertragsziel dar. Heute schreiben Art. 3 Abs. 3 EUV (ex-Art. 2 EGV) und Art. 191 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 174 Abs. 2 EGV) ein hohes Maß an Umweltschutz und an Verbesserung der Qualität der Umwelt als Aufgabe der Union ausdrücklich fest. Schwerpunkte der europäischen Umweltpolitik bilden bis heute die Bereiche Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung, Abfallwirtschaft, Chemikaliensicherheit, Gewässer-, Natur- und Klimaschutz. 3. Auf dem Weg zu einem europäischen Umweltstrafrecht a) Vorschlag einer Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom 13. März 2001 Eine effektive Umweltpolitik erfordert nach berechtigter Auffassung der Kommission auch die Schaffung umweltstrafrechtlicher Mindeststandards in den EUMitgliedstaaten, um die vollständige Einhaltung des umweltschutzbezogenen Unionsrechts zu gewährleisten. Am 13. März 2001 legte sie erstmals einen auf exArt. 175 EGV gestützten Richtlinienvorschlag über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vor.22 Dieser sah Sanktionsverpflichtungen vor, die sicherstellen sollten, dass vorsätzlich oder grob fahrlässig begangene Verstöße gegen bestimmte Umweltschutzvorschriften der Gemeinschaft oder gegen harmonisiertes Umweltrecht von den mitgliedstaatlichen Justizbehörden mit hinreichend wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen geahndet werden.

21

Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Hecker (Fn. 16), § 28, Rn. 3 ff.; Schröder, Umweltschutz als Gemeinschaftsziel und Grundsätze des Umweltschutzes, sowie Beachtung gemeinschaftlicher Grundsätze für den Umweltschutz bei nationalen Maßnahmen, in: Rengeling (Fn. 1), § 9 bzw. § 31, jeweils m.w.N. 22 KOM(2001) 139 endg. (ABl.EG 2001 Nr. C 180 E/238); vgl. hierzu Schmalenberg, Ein europäisches Umweltstrafrecht, 2004, passim.

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b) Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht vom 27. Januar 2003 Bereits in der Vergangenheit haben die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten unter Berufung auf ihre nationale Souveränität Richtlinienvorschläge mit kriminalstrafrechtlichen Anweisungen zurückgewiesen.23 Es vermochte daher nicht zu überraschen, dass der Rat aufgrund von Kompetenzvorbehalten mit überwältigender Mehrheit die Annahme der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie ablehnte. Am 27. Januar 2003 verabschiedete er stattdessen auf der Grundlage der ex-Art. 29, 31 lit. e, 34 Abs. 2 lit. b EUVeinen Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, der am 6. Februar 2003 in Kraft getreten ist.24 Die Kommission stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Besitzstand bei Umweltkriminalität nur durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden könne und müsse. Ihre am 15. April 2003 eingereichte Klage25 führte zur Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses durch das Aufsehen erregende Urteil des EuGH vom 13. September 200526. Nach den überzeugenden Darlegungen des Gerichtshofes greift der Rahmenbeschluss unter Verstoß gegen ex-Art. 47 EUV in die aus ex-Art. 175 EGV abzuleitende Harmonisierungskompetenz der EG ein. Grundsätzlich falle das Strafrecht zwar ebenso wie das Strafprozessrecht nicht in die Zuständigkeit der EG. Dies könne den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die erforderlich seien, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstelle.27 23

Vgl. hierzu Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl., 2010, § 8, Rn. 9 f. m.w.N. ABl.EU 2003 Nr. L 29/55; vgl. hierzu Knaut (Fn. 17), S. 333 ff.; Mansdörfer, Einführung in das Europäische Umweltstrafrecht, Jura 2004, 297 ff. 25 ABl.EU 2003 Nr. C 135/21. 26 EuGH, Rs. C-176/03, Slg. 2005, I-7879 (Kommission/Rat); vgl. hierzu Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, GA 2006, 211; Hefendehl, Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsseler Putsch, ZIS 2006, 161; Heger, Europäisches Umweltstrafrecht, JZ 2006, 310; Kubiciel, Grund und Grenzen strafrechtlicher Anweisungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft, NStZ 2007, 136; Pohl, Verfassungsvertrag durch Richterspruch – Die Entscheidung des EuGH zu Kompetenzen der Gemeinschaft im Umweltstrafrecht, ZIS 2006, 213; Schäfer, Verhältnis EU- zu EG-Recht: EU-Rahmenbeschluss zum Umweltstrafrecht und vorrangige Gemeinschaftskompetenz nach Art. 175 EG, JA 2006, 342. 27 Bestätigt durch EuGH, Rs. C-440/05, Slg. 2007, I-9097; vgl. hierzu Eisele, Oberste Rechtsprechung zum Tätigwerden der Gemeinschaftsgesetzgeber auf dem Gebiet des Strafrechts, JZ 2008, 251 ff.; Fromm, Der Entwurf der EG-Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ZUR 2008, 301 ff.; Kubiciel (Fn. 26), 136 ff.; Satzger, Das Strafrecht als Gegenstand europäischer Gesetzgebungstätigkeit, KritV 2008, 17 (22 ff.); Zimmermann, Mehr Fragen als Antworten: Die 2. EuGH-Entscheidung zur Strafrechtsharmonisierung mit24

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c) Vorschlag einer Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom 9. Februar 2007 Die Kommission zog daraufhin ihren ursprünglichen Richtlinienvorschlag zurück und legte am 9. Februar 2007 einen neuen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vor.28 Die in diesem Vorschlag enthaltenen Anweisungen entsprachen inhaltlich weitgehend den Regelungsvorgaben des für nichtig erklärten Rahmenbeschlusses. Am 21. Mai 2008 nahm das Europäische Parlament die legislative Entschließung zu dem Richtlinienvorschlag an.29 d) Richtlinie 2008/99/EG vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt Nach jahrelangen Kompetenzstreitigkeiten trat schließlich am 26. Dezember 2008 die Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt30 in Kraft. Die auf ex-Art. 175 EGV gestützte Richtlinie legt strafrechtliche Maßnahmen fest, die einem wirksameren Umweltschutz dienen sollen. Sie statuiert eine Pflicht der Mitgliedstaaten, in ihren nationalen Rechtsvorschriften strafrechtliche Sanktionen für schwere Verstöße gegen das gemeinschaftliche Umweltschutzrecht vorzusehen. Zu diesem Zweck normiert Art. 3 einen Katalog umweltschädlicher rechtswidriger Handlungen, die unter Strafe gestellt werden müssen, wenn sie vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig begangen werden: (a) die Einleitung, Abgabe oder Einbringung einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht oder verursachen kann; (b) die Sammlung, Beförderung, Verwertung und Beseitigung von Abfällen, einschließlich der betrieblichen Überwachung dieser Verfahren und der Nachsorge von Beseitigungsanlagen sowie der Handlungen, die von Händlern oder Maklern übernommen werden (Bewirtschaftung von Abfall), die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht oder verursachen kann; (c) die Verbringung von Abfällen, sofern diese Tätigkeit unter Artikel 2 Nummer 35 der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom tels EG-Richtlinien (Rs. C-440/05), NStZ 2008, 662 ff.; Zöller, Europäische Strafgesetzgebung, ZIS 2009, 340 (345 f.). 28 KOM(2007), 51 endg.; vgl. hierzu Heger (Fn. 20), S. 275 ff. 29 Vgl. hierzu Philipp, Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, EuZW 2008, 388 f. 30 ABl.EU 2008 Nr. L 328/28; vgl. hierzu Fromm (Fn. 18), 157 ff.; Hecker (Fn. 16), § 28, Rn. 12 ff.; Zimmermann, Wann ist der Einsatz von Strafrecht auf europäischer Ebene sinnvoll?, ZRP 2009, 74 ff.

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14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen31 fällt und in nicht unerheblicher Menge erfolgt, unabhängig davon, ob es sich bei der Verbringung um eine einzige Verbringung oder um mehrere, offensichtlich zusammenhängende Verbringungen handelt; (d) der Betrieb einer Anlage, in der eine gefährliche Tätigkeit ausgeübt wird oder in der gefährliche Stoffe oder Zubereitungen gelagert oder verwendet werden, wodurch außerhalb dieser Anlage der Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht werden oder verursacht werden können; (e) die Herstellung, Bearbeitung, Handhabung, Verwendung, der Besitz, die Lagerung, der Transport, die Einfuhr, Ausfuhr oder Beseitigung von Kernmaterial oder anderen gefährlichen radioaktiven Stoffen, die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht oder verursachen kann; (f) die Tötung, die Zerstörung, der Besitz oder die Entnahme von Exemplaren geschützter, wildlebender Tier- oder Pflanzenarten, mit Ausnahme der Fälle, in denen die Handlung eine unerhebliche Menge dieser Exemplare betrifft und unerhebliche Auswirkungen auf den Erhaltungszustand der Art hat; (g) der Handel mit geschützten wildlebenden Tier- oder Pflanzenarten, Teilen oder Erzeugnissen davon, mit Ausnahme der Fälle, in denen die Handlung eine unerhebliche Menge dieser Exemplare betrifft und unerhebliche Auswirkungen auf den Erhaltungszustand der Art hat; (h) jedes Verhalten, das eine erhebliche Schädigung eines Lebensraums innerhalb eines geschützten Gebiets verursacht; (i) die Produktion, Einfuhr, Ausfuhr, das Inverkehrbringen oder die Verwendung von Stoffen, die zum Abbau der Ozonschicht beitragen.

Als „rechtswidrig“ definiert Art. 2 lit. a Verstöße gegen die in Anhang A aufgeführten Rechtsakte der Gemeinschaft32 oder gegen nationale Gesetze, verwaltungsrechtliche Vorschriften oder Entscheidungen einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats, die der Umsetzung der vorgenannten Rechtsakte dienen. Die Richtlinie bringt damit die unionsrechtsakzessorische Tatbestandsstruktur des europäischen Umweltstrafrechts zum Ausdruck.33 Art. 4 ordnet an, dass Anstiftung und Beihilfe zu den in Art. 3 genannten vorsätzlichen Handlungen unter Strafandrohung gestellt werden. Art. 5 verlangt den Mitgliedstaaten die Einführung wirksamer, angemessener und abschreckender Sanktionen ab. Hierdurch werden lediglich die nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten anwendbaren Strafen einander angenähert, nicht aber die tatsächlich zu ver31 ABl.EU 2006 Nr. L 190/1. Die neue VVA ersetzt mit Wirkung ab dem 12. 07. 2007 die VO (EWG) Nr. 259/93 (ABl.EG 1993 Nr. L 30/1); vgl. hierzu Klafki, Novellierung der Regeln über die gemeinschaftsweite Verbringung von Abfällen, DVBl. 2007, 870. 32 Diese betreffen namentlich die Bereiche Gewässer-, Luft- und Bodenreinhaltung, Abfallbeseitigung, Artenschutz, Schutz der Ozonschicht und umweltrelevanter Anlagenbetrieb; vgl. ABl.EU 2008 Nr. 328/32 ff. 33 Hecker (Fn. 16), § 28, Rn. 13; Heger (Fn. 20), S. 296 ff.; Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 1), § 330d, Rn. 12, 19a.

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hängenden Strafen. Insoweit sind der Rechtsangleichung durch das Prinzip der Tatund Schuldangemessenheit der Strafe und aufgrund der Unabhängigkeit der Gerichte von vornherein Grenzen gesetzt. Anordnungen über die Haftung juristischer Personen (Art. 2 lit. d) ergeben sich aus Art. 6 und 7, wobei auch die Androhung nichtkriminalstrafrechtlicher Sanktionen als ausreichend erachtet wird. Mitgliedstaaten, die in ihrer Rechtsordnung die strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen nicht anerkennen, sind also nicht verpflichtet, ihr nationales System zu ändern.34 Ihrem Wortlaut nach sind die im Katalog des Art. 3 aufgeführten Taten als von jedermann begehbare Allgemeindelikte ausgestaltet. Dies beinhaltet jedoch keinen nennenswerte Divergenz zu den deutschen Sonderdelikten (z. B. §§ 325, 325a, 327 StGB), denn die zu pönalisierenden Handlungen sind regelmäßig solche, die von Anlagenbetreibern und ihren Mitarbeitern vorgenommen werden. Die Katalogtaten sind – mit Ausnahme von Art. 3 lit. f – als schlichte Tätigkeitsdelikte konzipiert, die grundsätzlich keinen Taterfolg – z. B. eine Gewässer-, Boden- oder Luftverunreinigung wie in §§ 324 Abs. 1, 324a, 325 StGB – voraussetzen. Soweit sie in ihrer Tatbestandsumschreibung darauf abstellen, dass eine erhebliche Schädigung bestimmter Rechtsgüter „verursacht werden kann“ (Art. 3 lit. a, b, d, e), handelt es sich um potentielle Gefährdungsdelikte, die als Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte wie diese nicht einmal den Eintritt eines konkreten Gefährdungserfolgs erfordern. Der Richtliniengeber geht davon aus, dass das Unterlassen einer gesetzlich vorgeschriebenen Handlung dieselbe Wirkung entfalten kann wie aktives Handeln und deswegen ebenfalls mit entsprechenden Sanktionen belegt werden sollte (Erwägungsgrund 6). Die der Richtlinie zugrunde liegenden Formen subjektiver Zurechnung – Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit – entsprechen grundsätzlich dem deutschen Rechtskreis.35 Eine über die Richtlinienvorgaben hinausgehende strict-liability-Haftung wird hierdurch nicht ausgeschlossen, da die Richtlinie lediglich Mindestvorschriften vorgibt, die es den Mitgliedstaaten überlässt, strengere Maßnahmen für den wirksamen strafrechtlichen Schutz der Umwelt zu erlassen oder aufrechtzuerhalten (12. Erwägungsgrund).

III. Beurteilung des § 330d Abs. 2 StGB n.F. im Lichte des Unionsrechts 1. Verwaltungsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts Die nunmehr in § 330d Abs. 2 StGB n.F. zum Ausdruck gelangende Auslandsrechtsakzessorietät wird als systemwidrig kritisiert, weil nationales Umweltstrafrecht ausschließlich an die Wertungsvorgaben des deutschen Verwaltungsrechts anknüpfen dürfe. Diese Sichtweise einer ausschließlich auf das innerstaatliche Um34 35

Fromm (Fn. 18), 157 (161); Zimmermann (Fn. 30), 74 (75). Heger (Fn. 20), S. 286 ff.

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weltrecht bezogenen Verwaltungs(rechts)akzessorietät entspricht in der Tat der ursprünglichen gesetzgeberischen Konzeption der seit dem Jahre 1980 im StGB (Kernstrafrecht) zusammengefassten Umweltdelikte. Bei diesen handelt es sich um Nachfolgeregelungen von Straftatbeständen, die zuvor in umweltrechtlichen Spezialgesetzen normiert waren. Der territoriale Anwendungsbereich der Umweltdelikte sollte nicht über den des deutschen Verwaltungsrechts ausgedehnt werden.36 Bei den Anlagendelikten des § 327 StGB n.F. gelangt ihre strikte Anbindung an deutsche Verwaltungsgesetze sogar im Wortlaut explizit zum Ausdruck. Auch lassen sich teleologische Aspekte gegen die Konstruktion einer Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts anführen37: Umweltstraf- und Verwaltungsrecht bilden ein aufeinander bezogenes Gefüge, das erst im Zusammenspiel ein sinnvolles Regelwerk ergibt. Die verwaltungs(rechts)akzessorische Ausgestaltung der Umweltdelikte gewährleistet die Vermeidung von Wertungswidersprüchen zwischen Straf- und Verwaltungsrecht. Sie dient somit letztlich der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung.38 Wie nachfolgend zu zeigen ist, hat sich inzwischen jedoch schon längst eine Unionsrechtsakzessorietät des Umweltstrafrechts herausgebildet. 2. Unionsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts Spätestens seit dem Urteil des EuGH im sog. „griechischen Mais-Fall“39 aus dem Jahre 1989 lässt sich die Verwaltungs(rechts)akzessorietät des nationalen Umweltstrafrechts nicht mehr als strikte Anbindung der Umweltdelikte an das deutsche Verwaltungsrecht begreifen.40 Der EuGH postuliert unter Berufung auf das in Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-10 EGV) verankerte Loyalitätsgebot in ständiger Rechtsprechung die Pflicht der Mitgliedstaaten, ihre Strafrechtssysteme zum Schutze und zur Durchsetzung von Unionsinteressen zu funktionalisieren („Assimilierungsgebot“).41 Die Mitgliedstaaten müssen demnach alle geeigneten Maßnahmen treffen, um Verstöße gegen Unionsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie gleichartige Verstöße gegen nationales Recht. Den Mitgliedstaaten verbleibt zwar die Wahl der Sanktionen. Diese müssen aber wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Vor dem oben (II.3.) skizzierten Hintergrund der Entwick36 Vgl. zu diesem Aspekt Forkel, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen und deutsches Strafrecht, 1988, S. 67. 37 Vgl. hierzu Wimmer (Fn. 2), 141 (147). 38 Heine, Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, NJW 1990, 2425 (2426); Winkelbauer, Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, 1985, S. 40 ff.; kritisch zu dem Topos der Einheit der Rechtsordnung Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivilund Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), 196 (205). 39 EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 (Kommission/Griechenland) mit Anm. Tiedemann, EuZW 1990, 100 und Bleckmann, WUR 1991, 285; vgl. hierzu Hecker, Harmonisierung, in: Sieber/Brüner/Satzger/Heintschel von Heinegg (Fn. 16), § 10, Rn. 4 ff. m.w.N. 40 Hecker (Fn. 13), 880 (896 ff.). 41 EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 (Kommission/Frankreich); Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger). NJW 2003, 3185 = EuZW 2003, 592.

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lung des europäischen Umweltrechts kann es keinem Zweifel unterliegen, dass den Mitgliedstaaten auch die Verpflichtung obliegt, ihr nationales Sanktionensystem in den Dienst der effektiven Durchsetzung unionsrechtlicher Umweltschutzziele zu stellen. Dies bedeutet, dass die Anwendbarkeit von Tatbeständen des deutschen Umweltstrafrechts auch in den Fällen sichergestellt sein muss, in denen der Täter unionsrechtlich geformte Umweltrechtsgüter angreift. Die Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt legt insoweit strafrechtliche Mindeststandards für alle EU-Mitgliedstaaten fest [vgl. o. II.3.d)]. Dem durch das unionsrechtliche Assimilierungs- und Harmonisierungsgebot begründeten Schutzauftrag musste und konnte bereits vor Inkrafttreten des deutschen Umsetzungsgesetzes durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der Umweltdelikte42 Rechnung getragen werden. Zu den nach der Legaldefinition des § 330d Nr. 4 lit. a StGB n.F. tatbestandsrelevanten „Rechtsvorschriften“ gehörten demnach nicht nur die deutschen Umweltgesetze, sondern auch alle umweltrelevanten Verordnungen der Union sowie das gesamte harmonisierte Umweltrecht des Mitgliedstaates, auf dessen Gebiet die tatbestandsmäßige Handlung vorgenommen wird. „Unbefugt“ war und ist nicht nur ein Verhalten, das gegen nationales Umweltrecht verstößt, sondern auch jede Zuwiderhandlung gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht oder harmonisiertes Umweltrecht. Die deutschen Umweltdelikte verwandeln sich auf der Basis dieser unionsrechtskonformen Interpretation in unionsrechtsakzessorische Tatbestände.43 Die in § 330d Abs. 2 StGB n.F. geschaffene Gleichstellungsvorschrift dient somit lediglich der Klarstellung, dass auch dem Verstoß gegen Umweltrecht der Union – hierzu gehört auch das harmonisierte Umweltrecht eines Mitgliedstaates – Tatbestandsrelevanz zukommt.44 Entgegen der Befürchtung des DAV (vgl. o. I.), kann das deutsche Umweltstrafrecht gerade nicht mit „jedem beliebigen Verwaltungsrecht“ ausländischer Mitgliedstaaten kombiniert werden. Das Postulat der Einheit der Rechtsordnung (vgl. oben III.1.), steht der unionsrechtsakzessorischen Konzeption der Umweltdelikte, wie sie auch § 330d Abs. 2 StGB n.F. zugrunde liegt, nicht entgegen. Denn soweit die verwaltungsrechtliche Pflichtenstellung des strafrechtlichen Normadressaten durch unionsrechtliche Vorgaben verbindlich festgelegt wird, bewegt sich dieser nicht mehr ausschließlich im nationalen, sondern in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum. So müssen sich z. B. die Betreiber von umweltrelevanten Anlagen als Adressaten unionsrechtlich begründeter Pflichten darauf einstellen, dass alle Mitgliedstaaten dazu berufen sind, die Einhaltung des EU-Umweltrechts durchzusetzen und zu schützen, und zwar auch mit dem Mittel des harmonisierten Umweltstrafrechts. Dass die verwaltungs42 BGHSt 37, 333; Hecker (Fn. 16), § 28, Rn. 18; Heger (Fn. 20), S. 38 ff., Heine, Schutz von Gewässer und Meer durch Strafrecht: Neue europäische und nationale Entwicklungen, in: Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 1015 (1018 ff.). 43 Hecker (Fn. 13), 880 (898 ff.); Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 1), § 330d, Rn. 12, 19a. 44 Vgl. hierzu BT-Drucks. 17/5391, S. 11.

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rechtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen behördliche Maßnahmen der Umweltbehörden in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgeprägt sind, ist kein durchschlagendes Argument gegen die Auslandrechtsakzessorietät des Umweltstrafrechts. Ausländisches Umweltrecht ist schließlich nur insoweit tatbestandsrelevant, als hierdurch Unionsrecht umgesetzt oder angewendet wird. Durch das vor allem durch Art. 267 AEUV abgesicherte Auslegungsmonopol des EuGH wird – ungeachtet der Unterschiedlichkeit des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsschutzes in den einzelnen Mitgliedstaaten – letztlich eine einheitliche Auslegung des strafrechtsrelevanten Umweltrechts gewährleistet. 3. Gefahr der Doppelbestrafung/Jurisdiktionskonflikte Die Entwicklung eines europäischen Umweltstrafrechts schließt die Möglichkeit ein, dass mehrere Mitgliedstaaten kraft ihres nationalen Strafanwendungsrechts für die Verfolgung derselben Tat zuständig sind. Zu denken ist aus deutscher Sicht vor allem an Umweltdelikte mit grenzüberschreitender Dimension (§§ 3, 9 StGB)45 bzw. an Umweltstraftaten, die von einem deutschen Staatsangehörigen in einem anderen EU-Mitgliedstaat begangen werden (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Die hierdurch begründete Gefahr der Mehrfachverfolgung desselben Täters wegen derselben Tat ist aber letztlich kein durchgreifendes Argument gegen den Einsatz des Umweltstrafrechts auf grenzüberschreitende Fallkonstellationen. Dass auf transnationale Fallgestaltungen sowie auf solche, an denen Täter bzw. Opfer mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit beteiligt sind, regelmäßig die Strafgesetze mehrerer nationaler Rechtsordnungen zur Anwendung gelangen, ist eine zwangsläufige Folge völkerrechtlich anerkannter Grundsätze des Strafanwendungsrechts (Territorialprinzip, aktives bzw. passives Personalitätsprinzip). Die hieraus resultierenden Jurisdiktionskonflikte sind keine Besonderheit des Umweltstrafrechts, sondern können in allen Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität auftreten. Der Europäische Rat ist sich der damit einhergehenden Problematik durchaus bewusst. Gemäß dem von ihm auf seiner Tagung vom 4. und 5. November 2004 angenommenen Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union46 soll im Hinblick auf eine effizientere Strafverfolgung bei gleichzeitiger Gewährleistung einer adäquaten Rechtspflege den Möglichkeiten der Konzentration der Strafverfolgung in grenzüberschreitenden multilateralen Fällen in einem Mitgliedstaat besondere Aufmerksamkeit gelten und zusätzlichen Vorschlägen in diesem Zusammenhang weitere Beachtung geschenkt werden, unter anderem auch Kompetenzkonflikten, damit das umfassende Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen abgeschlossen wird. Der am 27. April 2009 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregis45 46

Vgl. hierzu Hecker (Fn. 23), § 2, Rn. 37 ff. m.w.N. ABl.EU 2005 Nr. C 53/1 (12).

Die Auslandsrechtsakzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts

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ter zwischen den Mitgliedstaaten vom 26. Februar 200947 legt u. a. die Modalitäten fest, nach denen ein Mitgliedstaat, in dem eine Verurteilung gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats („Urteilsmitgliedstaat“) ergangen ist, die diesbezüglichen Informationen dem Mitgliedstaat übermittelt, dessen Staatsangehörigkeit die verurteilte Person besitzt („Herkunftsmitgliedstaat“). Die Pflicht zum Informationsaustausch setzt jedoch erst nach der Verurteilung einer verfolgten Person ein. Auch steht das in Art. 54 SDÜ normierte transnationale Verbot der Doppelbestrafung der Durchführung paralleler Strafverfahren in mehreren Mitgliedstaaten gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat nicht entgegen, solange im Erstverfolgerstaat keine Verfahrenserledigung erfolgt ist, die einen transnationalen Strafklageverbrauch bewirkt. Insoweit ist zu konstatieren, dass Art. 54 SDÜ für die individualrechtliche Problematik der Jurisdiktionskonflikte keine adäquate Lösung bietet.48 Jedoch wurde mit dem am 15. Dezember 2009 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss 2009/948/JI zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren49 erstmals ein Konfliktlösungsmechanismus auf Unionsebene installiert, der bei allen in den Mitgliedstaaten parallel geführten Strafverfahren, unabhängig von dem jeweils verfolgten Delikt, eingreift. Der Rahmenbeschluss sieht im Hinblick auf die angestrebte Vermeidung von Mehrfachverfolgungen den Weg über direkte Konsultationen und Informationsaustausch der betroffenen Strafverfolgungsbehörden vor, um Einvernehmen über eine „effiziente Lösung“ herbeizuführen, bei der die nachteiligen Folgen von parallel geführten Verfahren vermieden werden (Art. 1 Abs. 2 lit. b, 2 Abs. 1 lit. b). Für die Behörde eines Mitgliedstaates wird eine Pflicht zur Kontaktaufnahme mit der Behörde eines anderen Mitgliedstaates statuiert, wenn hinreichender Grund zu der Annahme besteht, dass in dem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat ein paralleles Verfahren geführt wird (Art. 5 Abs. 1). Hinreichende Gründe für das Vorliegen eines Parallelverfahrens können sich daraus ergeben, dass eine verdächtige oder beschuldigte Person unter Angaben von Einzelheiten angibt, dass gegen sie in einem anderen Mitgliedstaat ein Verfahren wegen derselben Tat geführt wird. Entsprechende Anhaltspunkte können sich aber auch aus dem Rechtshilfeersuchen eines anderen Mitgliedstaats oder aus Erkenntnissen der Polizei ergeben. Des Weiteren begründet der Rahmenbeschluss im Falle, dass parallele Verfahren anhängig sind, eine Pflicht zur Aufnahme direkter Konsultationen (Art. 10 Abs. 1). Diese Konsultationen können ggf. „zu einer Konzentration der Strafverfahren in einem einzigen Mitgliedstaat“ führen (Art. 10 Abs. 1). Wenn kein Einvernehmen über eine effiziente Lösung erzielt werden konnte, besteht die Pflicht zur Einschaltung von Eurojust im Rahmen seiner Zuständigkeit (Art. 12 47

ABl.EU 2009 Nr. L 93/23. Anagnostopoulos, Ne bis in idem in der Europäischen Union: Offene Fragen, in: Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 1121 (1138); Lagodny, Viele Strafgewalten und nur ein transnationales ne-bis-in-idem?, in: Festschrift für Stefan Trechsel, 2002, S. 253 (260 ff.); Vander Beken/Vermeulen/ders., Kriterien für die jeweils beste Strafgewalt in Europa, NStZ 2002, 624 ff. 49 ABl.EU 2009 Nr. L 328/42. 48

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Abs. 2). Der Rahmenbeschluss stellt gegenüber der früheren Rechtslage insofern einen Fortschritt dar, als er erstmals einen generell anwendbaren (deliktsübergreifenden) Konfliktlösungsmechanismus bei parallel geführten Strafverfahren wegen derselben Tat einführt. Über die Einhaltung der in dem Rahmenbeschluss statuierten Informations- und Konsultationspflichten wacht die Kommission. Falls die Behörde eines Mitgliedstaates die ihr auferlegten Pflichten nicht erfüllt, kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat wegen Verletzung der Pflicht zu unionstreuem Verhalten anstrengen. Der Rahmenbeschluss ist spätestens bis zum 15. Juni 2012 in das nationale Recht der Mitgliedstaaten zu transferieren. Mit seiner Umsetzung dürfte die Gefahr mehrfacher Strafverfolgung wegen derselben Tat innerhalb der EU weitgehend gebannt sein.

IV. Zusammenfassende Schlussbemerkung Die wesentlichen Ergebnisse meiner Betrachtung, die ich dem hochverehrten Jubilar Meinhard Schröder50 mit herzlichen Glück- und Wohlergehenswünschen widme, sind wie folgt zusammenzufassen: Durch die in § 330d Abs. 2 StGB n.F. vorgesehene Anbindung des deutschen Umweltstrafrechts an harmonisiertes Umweltrecht anderer EU-Mitgliedstaaten wird dem durch die „Mais-Judikatur“ des EUGH ausgeformten unionsrechtlichen Assimilierungsgebot sowie den Vorgaben der Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vollumfänglich Rechnung getragen. Es handelt sich bei dieser Legaldefinition um eine rein deklaratorische Regelung, welche die schon bisher durch unionsrechtskonforme Interpretation der Umweltdelikte zu erzielenden Auslegungsergebnisse festschreibt. Die Verwaltungs(rechts)akzessorietät des deutschen Umweltstrafrechts bezieht sich im Zuge der europäischen Rechtsentwicklung nicht mehr ausschließlich auf die Abhängigkeit des Strafrechts von rein innerstaatlichem Verwaltungsrecht, sondern schließt die Tatbestandsrelevanz von harmonisiertem Umweltrecht anderer EU-Mitgliedstaaten ein. Bei transnationalen Fallgestaltungen gelangen deutsche Umweltdelikte freilich auch weiterhin nur zur Anwendung, wenn ein internationalstrafrechtlicher Anknüpfungspunkt (§§ 3 – 7, 9 StGB) gegeben ist. Die Gefahr doppelter Strafverfolgung wegen derselben Tat dürfte spätestens nach der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2009/948/JI zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren weitgehend gebannt sein.

50 Der Jubilar hat zu der rechtswissenschaftlichen Aufarbeitung sowohl der Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts als auch der Europäisierung des Umweltrechts in maßstabsetzender Weise beigetragen. Vgl. hierzu nur die Nachweise in Fn. 21, 38.

Promoting Equity, Safeguarding Ecological Sustainability, and Building Energy Resilience A Case for Reorienting ÐSustainable DevelopmentÏ in View of New and Emerging Challenges By Christian Heitsch At the 2012 United Nations Conference on Sustainable Development, the international community intends among other things Ðto address new and emerging challengesÏ in the context of implementing Ðsustainable developmentÏ.1 Given the possible severity of some of these new and emerging challenges, this article will try to make the case for reorienting Ðsustainable developmentÏ to improve equity, take account of imminent ecological constraints and build energy resilience in view of a possible near-term energy supply crunch. To this end, it will firstly retrace Meinhard SchröderÏs careful exegesis of the ÐSustainable DevelopmentÏ paradigm as set forth in the Rio Declaration; it will also consider the extent to which his views effectively are reflected in the development of treaty law or, where appropriate, in the judgments of international tribunals. Secondly, it will consider some of the new and emerging challenges humanity is facing. Building on previous proposals for a reorientation of the prevailing paradigm, it will thirdly advocate an increased emphasis on promoting equity, on recognizing the foundational importance of ecological sustainability, and on building energy resilience.

I. Meinhard SchröderÏs Exegesis of the Rio DeclarationÏs Definition of ÐSustainable DevelopmentÏ As is well-known, the 1992 Rio Declaration2 officially established Ðsustainable developmentÏ as the foundational paradigm in international environmental and development policy. Soon after the Declaration had been adopted, Meinhard Schröder 1 United Nations General Assembly Resolution 64/236, http://daccess-dds-ny.un.org/doc/ UNDOC/GEN/N09/475/99/PDF/N0947599.pdf?OpenElement (accessed 30 November 2011), cl. 20(a). 2 Rio Declaration on Environment and Development, Annex I to the Report of the United Nations Conference on Environment and Development, UNGA Doc. A/CONF.151/26 (Vol. I), http://www.un.org/documents/ga/conf151/aconf15126-1annex1.htm (accessed 30 November 2011).

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presented a thorough analysis of the DeclarationÏs provisions which delineate its understanding of Ðsustainable developmentÏ.3 1. Integration of Environmental Protection and Socio-economic Development Meinhard Schröder firstly emphasized that for development policy to be sustainable, decision-making needs to consider ecological, social, and economic aspects in an integrated manner: Ð[I]t must be emphasized that the goal of sustainable development is neither related solely, nor primarily, to the concerns of environmental protection. According to the Rio Declaration at least, it not only includes the environmentprotecting principles of sustainability, but also the guarantee of individual and collective development for mankind, peoples, states […]. Principles 4 and 5 of the Rio Declaration clarify what is meant by this more closely: According to principle 4, sustainable development demands that environmental protection be part of the development process and that it should not be viewed separately from the latter. It would thus appear sensible […] to demand schemes of action and decisions which regard economic, social and ecological development as an inner unity rather than regarding the individual factors in isolation or playing them of against each other.Ï4 Ultimately, Ð[t]his should bring about a state where the development and environmental needs of present and future generations are met in a just way.Ï5 This is what frequently has been called ÐweakÏ sustainability.6 The conclusions of the Arbitral Tribunal in the Iron Rhine Case7 are effectively in accordance with these views. Specifically, the Tribunal points out that emerging principles of international law require the integration of environmental protection into the economic development process. In the TribunalÏs view, environmental law and the law of development stand not as alternatives, but as mutually reinforcing, integral concepts. The Tribunal emphasises that where development may cause significant harm to the environment, there is a duty to prevent or at least mitigate such harm. Importantly, the Tribunal believes that this duty has meanwhile become a principle of international law which can influence treaty interpretation.

3 Schröder, Sustainable Development: A Principle for Action and an Instrument to Secure the Conditions for Survival for Future Generations, 51 Law and State (1995) 101; for a modified version of this article in German see Schröder, Sustainable Development – Ausgleich zwischen Umwelt und Entwicklung als Gestaltungsaufgabe der Staaten, 34 Archiv des Völkerrechts (1996), 251. 4 Schröder, Principle for Action (supra, n. 3), 103. 5 Schröder, Principle for Action (supra, n. 3), 102-3. 6 See, e. g., Bell/McGillivray, Environmental Law, 7th ed., 2008, 61; Bosselmann, From Reductionist Environmental Law to Sustainability Law, in: Burdon (ed.), Exploring Wild Law: The Philosophy of Earth Jurisprudence, 2011, 208. 7 PCA (2005) at paras 59, 221 – 223.

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2. Intra-generational Equity Secondly, Meinhard Schröder noted that the Declaration calls on decision-makers to give due regard to the special needs of developing countries when adopting international schemes for sustainable development: ÐIn the developing countriesÏ view […] the South must be allowed a reasonable amount of freedom to pollute the environment ÐlegallyÏ if it is to be able to develop. This claim is justified by technological backwardness and the argument that the North, with less than 20 % of the worldÏs population, is responsible for 80 % of the emissions affecting the climate and ozone layer and has in this way already exhausted the environmental room for manoeuvre the South needs to be able to develop, without the developing countries having been allotted their share of permissible pollution. The persuasive power is particularly striking in Principles 5 to 7 of the Rio Declaration: environmental protection is subject to the proviso that economic and social disparities be removed. The special situation and special needs of developing countries are to be given prime consideration in international schemes. Government responsibility for the deterioration of the global environment is seen to vary. The effects of these views on the implementation of sustainable development, particularly by means of international regulations for the protection of threatened global resources, are obvious: the industrialized nations will put more emphasis on sustainability and, accordingly, will want to take action to create a ÐjustÏ balance between the needs of the present generation and those of future generations. The developing countries, by contrast, citing intra-generational justice, will demand that a balance between their present and future needs and those of the more affluent countries be sought for and found first. ÐMediatingÏ interpretations of sustainable development will scarcely be able to overcome this difference of opinion, which is crucial for environmental concerns. Rather, it will be important to reduce considerably the economic and social disparities between North and South by means of technological and financial aid. If this does not succeed, the prospects for the sustainable stewardship of resources will, in a global context at least, be bleak.8 Legal developments under the Convention for the Protection of the Ozone Layer,9 the Convention on Biological Diversity,10 and the Framework Convention on Climate Change11 reflect the Ðcommon but differentiated responsibilityÏ of developed and developing states which Meinhard Schröder rightly considered a foundational element of the Rio DeclarationÏs concept of sustainable development. As has been observed frequently,12 these conventions establish a process for reaching further agree8

Schröder, Principle for Action (supra, n. 3), 108 (emphasis in original). 26 ILM (1987) 1529. 10 31 ILM (1992) 818. 11 31 ILM (1992) 851. 12 See, e. g., Birnie/Boyle/Redgwell, International Law and the Environment, 3rd ed., 2009, 132; Sands, Principles of International Environmental Law, 2nd ed., 2003, 285 et seq.; Bowman/Davies/Redgwell, LysterÏs International Wildlife Law, 2nd ed., 2010, 58. 9

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ment on policies and specific measures. State parties have committed to negotiating subsequent protocols such as those concluded at Montreal in 1987,13 Kyoto in 1993,14 at Cartagena in 200015 and at Nagoya in 2010.16 The very widespread ratification of the three conventions, as well as the terms on which subsequent negotiations have been concluded point to near universal acceptance of the principle of common but differentiated responsibility for addressing global environmental change. In particular the Kyoto and Montreal Protocols create differentiated obligations for developed and developing countries. Significantly, both the Climate Change Convention17 and the Biodiversity Convention18 expressly make Ðthe extent to which developing country parties will effectively implement their commitments under the Convention [dependent] on the effective implementation by developed country Parties of their commitmentsÏ, i. e. those relating to developed countries providing technical and financial assistance. 3. Lack of a Legal Obligation to Develop ÐSustainablyÏ Thirdly, Meinhard Schröder persuasively argued against the Rio Declaration supporting a substantive legal requirement for development activities to be sustainable: ÐIn the literature […] sustainable development is instrumentalized as an aim with whose help individuals, organizations and governments are to assess the effects of human action on the natural environment and resource stocks. If the assessed project corresponds with the aim of sustainable development, then nothing more should stand in its way. If the project does not correspond with this aim, then the aim becomes an avoidance imperative, forbidding the planned project. It is also seen as a fundamental criterion against which international or cross-border environmental initiatives and, to an increasing extent, national projects must be measured, as a Ðcardinal principleÏ of international decision-making in the environmental sector, and as an international standard by which to judge any government action relating to the environment. There is evidence to support these ideas in the Rio Declaration. Principle 3, for example, calls for a development that corresponds in a just way to protection across the generations. According to Principle 8, governments should phase out non-sustainable production and consumption structures. Their legislation must be effective: Principle 11. In the case of projects that are likely to have considerable detrimental effects on the environment, environmental impact assessments are to be carried out under national jurisdiction: Principle 17. If one considers that, depending on how they are designed, liability and compensatory regulations for environmental 13

Protocol on Substances that Deplete the Ozone Layer, 26 ILM (1987) 1550. Protocol to the Framework Convention on Climate Change, 37 ILM (1998) 22. 15 Protocol on Biosafety, 39 ILM (2000) 1027. 16 Protocol on Access to Genetic Resources and the Fair and Equitable Sharing of Benefits Arising from their Utilization, 50 ILM (2011), http://www.cbd.int/abs/ (accessed 30/11/2011). 17 Supra (n. 11), Art. 4(7). 18 Supra (n. 10), Art. 20(4). 14

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pollution have a preventative effect, then Principle 13 can also be cited here, which calls for the development of these regulations at a national and international level. One would however have to disagree with any interpretation which used sustainable development as a strict avoidance ban to be observed at all costs for the sake of protecting the environment. For one thing, sustainable development is not only a criterion for action in matters of environmental protection, but equally in matters of development. ÐEnvironmental impactÏ can therefore not be the one and only criterion for action. This is especially true if one considers the priority of development needs set down in Principle 5 of the Rio Declaration, which works particularly, though probably not solely, to the advantage of developing countries. For another, experience with project-oriented environmental impact assessments should have taught that, while this assessment requires extensive studies and appraisals involving all the environmental media, and sets itself holistic and integrated objectives, it restricts itself solely, and for good reason, to weighing up the pros and contras of the data it has gathered. The maximum assessment framework cannot be squeezed into a deductive Ðif-thenÏ evaluation scheme. This applies all the more to the assessment of consequences in a sustainable development context: this is not solely concerned with individual projects and a total assessment of environmental impact, but at the same time with economic and social effects on a national and international scale. One-dimensional avoidance decrees cannot therefore do justice to the complexity of the decisions to be made within the context of sustainable development.19 Once again, there is a striking degree of agreement between Meinhard SchröderÏs understanding of sustainable development and the views of international tribunals. It is only in extreme cases that international tribunals have been willing to question the merits of specific development activities. A notorious though exceptional example of review for substantive sustainability is the Ogoniland case.20 The complainants had alleged that oil reserves in Ogoniland had been exploited with no regard for the health or environment of the local communities, that toxic wastes had been discharged into the environment and local waterways in violation of applicable international environmental standards, and that there had been many avoidable oil spills near villages. As a result, Ðcontamination of water, soil and air has had serious short and long-term health impacts, including skin infections, gastrointestinal and respiratory ailments, and increased risk of cancers, and neurological and reproductive problems.Ï The African Charter on Human and PeoplesÏ Rights is special in that it expressly sets forth a right of peoples to the Ðbest attainable standard of healthÏ (Art. 16), a right to a Ðgenerally satisfactory environment suitable for their developmentÏ (Art. 24), and a right of peoples to dispose freely of their own natural resources (Art. 21). Having noted Ðthe destructive and selfish role played by oil development in Ogoniland, closely tied with repressive tactics of the Nigerian Government, and the lack of material be19

Schröder, Principle for Action (supra, n. 3), 104 et seq. The Social and Economic Rights Action Center and the Center for Economic and Social Rights v Nigeria, ACHPR, Commuication 155/96 (2002). 20

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nefits accruing to the local populationÏ, the African Commission on Human and PeoplesÏ Rights found that the rights set forth in Art. 16, 21 and 24 had been violated.21 In general, however, international tribunals will not review the merits of development activities for compliance with a substantive standard of sustainability. Thus, in the Gabcikovo-Nagymaros Dam Case22 the International Court of Justice did not assess whether the dam project was compatible with a substantive standard of ÐsustainabilityÏ. Rather, the Court, after noting the new concept of sustainable development, required the parties to Ðlook afreshÏ at the environmental consequences and to carry out monitoring and abatement measures pursuant to contemporary standards set by international law.23 Similarly, in the Pulp Mills Provisional Measures Case (No. 1)24 the ICJ indicated that, in permitting development activities, due account must be taken of both Ðthe need to safeguard the continued conservation of the river environment and the rights of economic development of the riparian states.Ï Thus the only thing the state which intends to permit development activities is required to do is to comply with the requirements of international law in respect of environmental impact assessment. In the absence of specific treaty clauses setting forth substantive environmental standards, the stateÏs decision to allow development to proceed will as a rule not be reviewed for compliance with a substantive standard of sustainability.25 As it stands, the paradigm of sustainable development set forth in the Rio Declaration recognizes the common but differentiated responsibility of developed and developing countries for addressing global environmental concerns. In terms of substance, it at best26 encourages states to consider in an integrated manner the social, economic, and environmental implications of their development activities, in particular through environmental impact assessment. What it does not do is provide a substantive standard for international tribunals to review the merits of specific development decisions. With this limited content, Ðsustainable developmentÏ may have been an appropriate paradigm for the early 1990s, when the controversial relationship of 21

ACHPR (supra, n. 20), paras 50 et seq. Hungary v Chechoslovakia, ICJ Reports (1997), 7. 23 ICJ Reports (1997), 78 at para 140. 24 Argentina v Uruguay, ICJ Reports (2006) para 80. 25 Thus, the ICJ in the Pulp Mills (Decision on the Merits) Case applied specific treaty clauses about mutual consultation, environmental impact assessment and effluent limits, Argentina v Uruguay, ICJ Reports (2010) paras 75 et seq. 26 As has frequently been observed, in practice the Ðsustainable developmentÏ paradigm suffers from quite inflationary use and consequent lack of content or further dilution, see, e. g., Krämer, Sustainable Development in EU Law, in: Bugge/Voigt (eds.), Sustainable Development in International and National Law, 2008, 377, at 391 et seq.; Ross-Robertson, Is the Environment Getting Squeezed Out of Sustainable Development? (2003) P.L. 249, at 252 et seq.; Hendry, Worth the Paper that itÏs Written on? An Analysis of Statutory Duty in Modern Environmental Law, (2005) J.P.L. 1145, at 1151-2. Indeed, Ðsustainable developmentÏ has occasionally been conflated with Ðsustainable [i.e. continuous] economic growthÏ, see, e. g., the UK GovernmentÏs recent Draft National Planning Policy Framework, http://www.commu nities.gov.uk/publications/planningandbuilding/draftframework (accessed 30 November 2011). 22

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development and environmental protection dominated the international agenda. However, as will be demonstrated in the subsequent sections, it does not quite manage to address the challenges humankind currently faces.

II. New and Emerging Challenges 1. Inequitable Development at the Cost of Environmental Degradation Drawing heavily from the two most recent Human Development Reports prepared for the United Nations Development Programme, this section will first recap the prevailing, suitably multidimensional definition of Ðhuman developmentÏ and take note of the enormous progress human development has made in recent decades. It then will highlight that, despite the progress made, human development continues to be inequitable, and that further progress is increasingly under threat from continuing environmental degradation. A suitable definition of Ðhuman developmentÏ should be multidimensional rather than conflate development with economic growth measured by way of Gross Domestic Product per capita.27 In a nutshell, this is because quite obviously there is more to human well-being than just the availability of a sufficient income. Gross Domestic Product cannot account for problematic concentrations of economic power within society, and for demonstrable harmful side-effects policies promoting growth have had on public health, family and community life.28 An adequate definition of development therefore should take account of income distribution, progress in human health, gender equality, education, peoplesÏ opportunities to participate in shaping society, and other factors that contribute to Ðbasic capability equalityÏ.29 Thus, human development can and should properly be defined as Ðthe expansion of peoplesÏ freedom to live long, healthy and creative lives, to advance other goals they have reason to value; and to engage actively in shaping development equitably and sustainably on a shared planet. People are both the beneficiaries and drivers of human development, as individuals and in groups.Ï30 The Human Development Reports have used various versions of the Human Development Index (HDI) to assess development progress. The HDI is an aggregate measure of change in three dimen27 For the opposite view, see, however, Norberg, GDP and its Enemies: The Questionable Search for a Happiness Index, 2010, http://www.thinkingeurope.eu/publications_policy briefs_bytopic.asp (accessed 30 November 2011), who claims that GDP is Ðnarrow in scope and value freeÏ and therefore continues to be the most appropriate indicator to measure human well-being. 28 Douthwaite, The Growth Illusion, 2nd ed., 1999, 81 et seq., 101 et seq. 123 et seq. 29 Sen, Equality of What? in: The Tanner Lectures on Human Values, Vol. I, 1980, 197, 217 et seq. 30 UNDP, Human Development Report 2010, http://hdr.undp.org/en/reports/global/ hdr2010/chapters/ (accessed 30 November 2011), 22 et seq.

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sions – health, education and standard of living. In its most recent form it uses gross national income per person to measure standard of living, life expectancy at birth for ascertaining health, and expected as well as mean years of schooling to evaluate a populationÏs level of education.31 While there has been enormous progress in human development in recent decades, economic development continues to be inequitable. The past decades have seen substantial and wide-spread improvements in many aspects of human development. Most people today are healthier and live longer, are better educated and have more access to goods and services. Even in countries facing adverse economic conditions, peoplesÏ health and education have greatly improved. In addition, people overall have more power to appoint their leaders and hold them accountable. Overall, poor countries are catching up with rich countries in the HDI, despite ever increasing divergence in income.32 While income growth continues to be important for peoplesÏ access to goods and services, there interestingly is a lack of significant correlation between economic growth and improvements in health and education, in particular with regard to low and medium HDI countries. This is probably due to an unprecedented increase in the cross-border flow of ideas – ideas ranging from health-saving technologies to democratic political ideals, innovations in education and efficient production practices. It is these easily available new ideas which probably have enabled countries to improve health and education at low cost. Differences in the extent to which countries were able to exploit access to these ideas are in part traceable to variations in institutions and the underlying social contract.33 Notably, some of the progress in human development has come at the cost of regional and global environmental degradation.34 On the one hand, environmental risk factors with an immediate impact on households – such as indoor air pollution, poor water and sanitation – are more severe at lower HDI levels (and concentrated among the multidimensional poor35 within countries) and decline as the HDI rises. On the other hand, environmental risks with community effects – such as urban air pollution 31 UNDP, Human Development Report 2010 (supra, n. 30), 13 et seq. and Technical Note 1; for further background, see Anand/Sen, Human Development Index: Methodology and Measurement, HDRO Occasional Papers, 1994, http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr1994/ papers/oc12.pdf (accessed 30 November 2011); Anand/Sen, The Income Component of the Human Development Index, 1 Jorunal of Human Development 1 (2000), 83 et seq.; Anand/ Sen, Human Development and Economic Sustainability, 28 World Development 12 (2000), 2029 et seq. 32 UNDP, Human Development Report 2010 (supra, n. 30), 25 et seq. 33 UNDP, ibid., 47 et seq. 34 UNDP, Human Development Report 2011, http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr 2011/download/ (accessed 30 November 2011), 23 et seq. 35 I.e. people who suffer overlapping deprivations in health, education and living standards, as indicated by the ÐMultidimensional Poverty IndexÏ, see UNDP, Human Development Report 2010 (supra, n. 30), 94 et seq., for some ackground, see, e. g., Kanbur/Squire, The Evolution of Thinking about Poverty, 1999, http://kanbur.dyson.cornell.edu/papers/evoluti on_of_thinking_about_poverty.pdf (accessed 30 November 2011), 3 et seq., 10 et seq.

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– seem to worsen as the HDI rises and then begin to improve beyond a certain point. In addition, environmental risk factors with global effects – such as greenhouse gas emissions – tend to increase with the HDI, with countriesÏ public policies to some extent driving these transitions. Strikingly, there appears to be a causal relationship between poor sustainability performance and inequality in the HDI, as well as between high levels of gender inequality and lower levels of sustainability. Trends in the Inequality-adjusted Human Development Index (IHDI)36 since 1990 indicate that worsening income inequality has offset large decreases in health and education inequality; that global trends conceal widening educational inequality in South Asia, and deep health inequality in Africa; that Latin America remains the most unequal region in income but not in health and education; and that Sub-Saharan Africa has the greatest inequality in the HDI.37 Of great concern is that the poorest countries experience the most serious consequences of environmental degradation, a pattern which also holds within countries.38 Environmental trends over recent decades show deterioration on several fronts, with adverse repercussions for human development, especially for people depending directly on natural resources for their livelihoods. Globally, nearly 40 percent of land is degraded due to soil erosion, reduced fertility and overgrazing. Land productivity is declining, with estimated yield loss as high as 50 percent in the most adverse scenarios. Agriculture accounts for 70 – 85 percent of water use, and an estimated 20 percent of global grain production uses water unsustainably, imperilling future agricultural growth. Deforestation is a major challenge, in particular in Latin America, the Caribbean, Sub-Saharan Africa and the Arab States. Desertification, exacerbated by climate change, threatens the dry lands that are home to about a third of the worlds people. Global fish stocks, and people depending on them for their subsistence, are threatened by overfishing and climate change.39 Greater equality – both across and within countries – is consistent with better environmental performance. This finding points to potential pay-offs from development models which both promote equity and less lopsidedly favour economic growth.40 Such models would include expansion of electricity access, in particular by means of decentralized renewable energy systems; better access to safe water and sanitation, expanding reproductive choice to address population pressure, and support for community management of natural resources.41

36 This discounts human development achievements by the inequality in health, education and income, with the effect that the IHDI falls farther below the HDI as inequality increases; see UNDP, Human Development Report 2010 (supra n. 30), 86 et seq.; for some background, see, e. g., Pirrtilä/Uusitalo. A ÐLeaky BucketÏ in the Real World: Measuring Inequality Aversion using Survey Data, Economica (2010) 77, 60 et seq. 37 UNDP, Human Development Report 2011 (supra n. 34), 28 et seq. 38 UNDP, ibid., 31-2. 39 UNDP, ibid., 32 et seq. 40 UNDP, ibid., 41 et seq. 41 UNDP, ibid., 67 et seq.

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Bringing together ecological economics, earth system science, and enquiry into the resilience and self-regulation of living systems, quite recently published research42 has made a first attempt to define a set of Ðplanetary boundariesÏ. In the authorsÏ view, these boundaries represent the dynamic biophysical space of the Earth System within which humanity has evolved and thrived. The boundaries, as it were, attempt to define the Ðplanetary playing fieldÏ for the human enterprise. The authors emphasize that the thresholds in key Earth systems exist irrespective of peoplesÏ preferences, values, assumptions or policies, such as expectations of technological breakthroughs or the continued promotion of economic growth. The authors have proposed nine boundaries and, drawing on current scientific research, suggested provisional quantifications for seven of them, i. e. for climate change; for ocean acidification which can affect marine biodiversity and the oceansÏ role as carbon sinks; for stratospheric ozone which filters potentially dangerous UV radiation; for human interference with the biochemical nitrogen and phosphorus cycles which can lead to sudden changes in marine, aquatic and terrestrial ecosystems; for global freshwater use; for land system change; and for the rate at which biological diversity is lost. The two additional planetary boundaries for which the authors believe quantifications have not yet been possible are chemical pollution and atmospheric aerosol loading. Significantly, the authors estimate that humanity has already transgressed three planetary boundaries, namely for climate change, rate of biodiversity loss, and changes to the global nitrogen cycle. The concept of planetary boundaries builds on a long tradition of research and thinking on ecological limits, such as the 1972 Ðlimits to growthÏ proposition43 as well as more recent developments like the Millennium Ecosystem Assessment.44 The recent planetary boundary proposal may ultimately help link governance of national and global economies with governance of the environment and natural resources. However, there is much work to be done before the concept can be used practically to develop specific instructions to policymakers. In addition, some of the 42 Rockström/Steffen/Noone/Persson/Chapin/Lambin/Lenton/Scheffer/Folke/Schellnhuber/Nykvist/de Wit/Hughes/van der Leeuw/Rodhe/Sörlin/Snyder/Costanza/Svedin/Falkenmark/Karlberg/Corell/Fabry/Hansen/Walker/Liverman/Richardson/Crutzen/Foley, Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity, 14 Ecology and Society 2 (2009), 32 et seq., http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ (accessed 30 November 2011). 43 Meadows/Randers/Meadows, Limits to Growth – The 30-Year Update, 2004, 203 et seq. 44 Among the key messages emerging from the Assessment is that, for the sake of improving the lives of billions of people, humans have made unprecedented changes to ecosystems to meet growing demands for food, clothing, fresh water and energy. These changes have weakened natureÏs ability to deliver other key services such as purification of air and water, protection from disasters and supply of medicines. The loss of services derived from ecosystems is a significant barrier to achieving the Millennium Development Goals to reduce poverty, hunger and disease. Measures to conserve natural resources are more likely to succeed if local communities are given ownership of them, share the benefits and are involved in decisions. See the summary at Millennium Ecosystem Assessment Board (ed.), Living beyond Our Means: Natural Assets and Human Well-being, http://www.maweb.org/documents/document. 429.aspx.pdf (accessed 30 November 2011), 3.

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boundaries proposed need further quantitative elaboration and refinement. What the proposal does accomplish, though, is reinforce the proposition that human impacts on the earth system have come uncomfortably close to a range of different geophysical limits.45 2. Possible Near-Term ÐPeak OilÏ Like the persistent inequity of development and the possible ecological constraints just discussed, the possibility of an energy crunch resulting from nearterm Ðpeak oilÏ may present a major challenge to citizens and governments alike in the 21st century. ÐPeak oilÏ is the proposition that there is a finite supply of oil in the earth, and that at some it will no longer be possible to increase production in response to rising demand. Indeed the production of oil will plateau and begin to fall.46 Peak production refers to flow rates of oil which is what is relevant for meeting contemporary oil demand. Promises of oil fields or of substitute energy sources yet to be found, yet to be developed, or yet to be brought on-line on a sufficiently large scale therefore cannot solve the problem of oil supply Ðhere and nowÏ not meeting demand. It is important to recognize that oil production peaking is not the same as Ðoil running outÏ. Peaking is an oil reservoirÏs maximum production rate which typically occurs after roughly half of the recoverable oil in a reservoir has been produced. The concept of peak oil is primarily associated with the U.S. geologist M King Hubbert who in the 1950s – as it turned out, correctly – predicted that U.S. oil production would peak in about 1970.47 However, he believed that the world peak would happen between 1995 and 2000. These estimates were clearly early and well below actual production. The fact that oil is a finite resource and production will peak at some point is not in dispute. There is much controversy, though, about the timing of the peak. Some believe that the peak of conventional, i. e. cheap to produce, crude oil has already occurred,48 whereas others believe that new discoveries, higher prices, and technological progress will postpone the peak far into the future.49 45 This is the gist of the Commentary series by Schlesinger et al., Nature Reports, Climate Change, Vol. 3 (2009), http://www.nature.com/news/specials/planetaryboundaries/index.html (accessed 30 November 2011), 112 et seq. 46 For a brief introduction to the peak oil concept, see, e. g., Ingles/Denniss, Running on empty? The peak oil debate, 2010, https://www.tai.org.au/index.php?q=node%2F19 &pubid=788&act=display (accessed 30 November 2011), , 3 et seq., and Hirsch/Bezdek/ Wendling, Peaking of World Oil Production: Impacts, Mitigation, and Risk Management, 2005, http://www.netl.doe.gov/energy-analyses/pubs/ Oil_Peaking_NETL.pdf (accessed 30 November 2011), 11 et seq.; for a recent study in German see Rost, Peak Oil – Herausforderung für Sachsen, Studie im Auftrag der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im sächsischen Landtag, 2001, http://www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user _upload/Publika tionen/Peak_Oil-Reader.pdf (accessed 30/11/2011). 47 Hubbert, Nuclear Energy and the Fossil Fuels, 1956, 23 – 4, available at http://www. oilcrisis.com/hubbert/1956/1956.pdf (accessed 30 November 2011). 48 See, e. g., Energy Watch Group, Crude oil – the supply outlook, revised edition, Berlin, 2008, available at http://www.energywatchgroup.org/fileadmin/global/pdf/2008-02_EWG _Oil_Report_updated.pdf (accessed 30 November 2011).

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Most official government pronouncements tend to downplay the risks of Ðpeak oilÏ.50 However, a recent report of the UK Energy Research Centre (UKERC)51 should provide some cause for concern, given that the necessary lead-time for adapting industrial societies to a possible peak or for mitigating its effects may be as long as twenty years.52 The UKERC report highlights that forecasts which delay the peak of conventional oil production until after 2035 rest upon several assumptions that are at best optimistic and at worst implausible.53 It concludes that Ða peak of conventional oil production before 2030 appears likely, and there is a significant risk of a peak before 2020Ï. Significantly, even the International Energy Agency (IEA) has modified its views on peak oil and on how high oil production will rise. As recently as in 2005, the IEA saw global crude oil demand rising to 115 million barrels a day by 2030, and assumed that supply would rise to meet demand.54 The IEAÏs subsequent annual reviews have revised these projections downwards and highlighted the risk of shortterm supply constraints leading to rapidly increasing oil prices. In the view of the IEA, these constraints may arise because of the significant decline in investment and the deferral of new oil exploration projects which followed the global financial crisis.55 New projects necessary to offset decline in existing oilfields and to achieve supply growth will require very significant investment.56 The IEA has repeatedly warned that there is no guarantee that this will be forthcoming.57 49 See, e. g., IHS Cambridge Energy Research Associates, The future of global oil supply: Understanding the building blocks, Cambridge, Mass., 2009, http://www.ihs.com/products/ cera/energy-report.aspx?id=106592470 (accessed 30 November 2011). 50 See, e. g., Written answer to parliamentary question on the UK governmentÏs plans for Ðpeak oilÏ, Hansard, 16 June 2011, Coll. 885W, http://www.publications.parliament.uk/pa/ cm201011/cmhansrd/cm110616/text/110616w0001.htm (accessed 30 November 2011), where the Secretary of State emphasises that the Government do not subscribe to a particular view on when oil production is likely to peak; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 17/4007 (Government Response to Parliamentary Questions from Bündnis 90/Die Grünen, German Parliamentary Document 17/ 4007), 5, where the Government assumes that there will be no short or mid-term shortage of crude oil supply, and that under optimum conditions and with sufficient investment supply will likely increase until 2035. 51 UKERC (ed.), Global Oil Depletion: An assessment of the evidence for a near-term peak in global oil production, 2009, http://www.ukerc.ac.uk/support/tiki-download_file.php?fi leId=283 (accessed 30 November 2011), 64; see also Sorrell/Speirs/Bentley/Brandt/Miller, Global oil depletion: A review of the evidence, Energy Policy 38 (2010) 5290 et seq. 52 Hirsch/Bezdek/Wendling (supra n. 46), 50 et seq. 53 For an in-depth discussion of the plausibility for forecasting a post-2030 peak of conventional oil production, see Sorell/Miller/Bentley/Speirs, Oil Futures: A comparison of global supply forecasts, Energy Policy 38 (2010) 4990 et seq. 54 IEA, World Energy Outlook 2005, http://www.iea.org/weo/docs/weo2005/WEO2005. pdf (accessed 30 November 2011), 79 et seq. 55 IEA, World Energy Outlook 2009, http://www.iea.org/textbase/npsum/weo2009sum.pdf (accessed 30 November 2011), Executive Summary, 5. 56 To illustrate the magnitude of efforts needed to compensate for declining production from existing fields, 47 million barrels per day of gross capacity additions will required by

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A near-term Ðpeak oilÏ could have serious effects all over the global economy. This is because the availability of inexpensive crude oil has been critical for economic development. Agriculture and food supply is heavily dependent on cheap oil for fuel and fertilizers. Oil is the basis of most land, sea and air transport systems. Oil is also a crucial source material for much of the drugs and chemical industry.58 A peak of crude oil supply and subsequently declining production will likely lead to large spikes in oil prices, which in turn could cause deep recessions.59 The costs of private car use would increase; this would probably have repercussions on the viability of the current suburban life-style prevalent in industrialized societies, with people living far from their place of work and commuting by private car. Increasing prices for all systems of freight transport would have immediate effects on the global division of labour and Ðjust-in-timeÏ component supply, and on trade and price structures for industrially manufactured goods. Perhaps the globalization of the economy would shift into reverse.60 Modern food production is utterly dependent on cheap oil to power machinery, produce fertilizers and pesticides, and for irrigation, transport and refrigeration. Therefore the impact of peak oil on security of food supplies is likely to be profound. Since oil is needed for the production of more than ninety percent of all industrially manufactured goods, effects of peak oil would encompass almost the entire economy. 2035, i. e. twice the current total production of all OPEC countries in the Middle East. See International Energy Ageny (ed.), World Energy Outlook 2011, http://www.iea.org/weo/docs/ weo2011/executive_summary.pdf (accessed 30 November 2011), Executive Summary, 4. 57 IEA, World Energy Outlook 2009 (supra, n. 55), 5; see also Stevens, The Coming Oil Supply Crunch, Chatham House Report, 2008 with 2009 update, http://www.chathamhouse. org/sites/default/files/public/Research/Energy,%20Environment%20and%20Development/ 0808oilcrunch.pdf (accessed 30 November 2011) who argues that, unless there is a collapse of demand within the next five to ten years, there will be a serious supply crunch due to lack of investment. 58 For the dependence of the global economy on access to cheap oil and possible consequences of crude oil production peaking see, e. g., Hirsch/Bezdek/Wendling (supra, n. 46), 20 et seq., 26 et seq.; Bundeswehr Transformation Centre, Future Analysis Branch (ed.), Peak Oil: Security policy implications of scarce resources, November 2010, available at http://www. energybulletin.net/sites/default/files/Peak%20Oil_Study%20EN.pdf (accessed 30 November 2011), 12 et seq., 49 et seq.; House of Commons All Party Parliamentary Group on Peak Oil/ Reset (eds.), The Impact of Peak Oil on International Development, June 2008, http://www. appgopo.org.uk/index.php?option=com_content& task=view&id=34 (accessed 30 November 2011), 9 et seq.; Oil Depletion Analysis Centre/Post Carbon Institute (eds.), Preparing for Peak Oil: Local Authorities and the Energy Crisis, 2088, http://www.odac-info.org/sites/odac. postcarbon.org/files/Preparing_for_Peak_Oil.pdf (accessed 30 November 2011), 6 et seq. 59 Notably, the post-2008 recession and ensuing global financial crisis likely was triggered by the 2007/08 oil price spike, which in turn may have been the result of stagnating crude oil production being unable to meet rising demand, see Hamilton, Causes and Consequences of the Oil Shok of 2007 – 08, 2009, http://www.brookings.edu/~/media/Files/Programs/ES/BPEA/ 2009_spring_bpea_papers/2009_spring_bpea_hamilton.pdf (accessed 30 November 2011), 9 et seq., 16 et seq., 33 et seq. 60 This is the proposition of Rubin, Why your World is About to Get a Whole Lot Smaller: Oil and the End of Globalization, 2009, 111 et seq., 141 et seq.

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In a worst-case scenario,61 the energy withdrawal resulting from near-term Ðpeak oilÏ may initiate a series of positive feedback processes that may in turn lead to a major systemic collapse in our highly complex civilization. Once economic entities realise that, due to peak oil, the global economy may continue to shrink for a long time, the collapse process could develop along the following lines: – The decline in energy flows resulting from oil production having peaked will reduce global economic production; reduced global production will undermine humanityÏs ability to produce, trade, and use substitute sources of energy. This in turn will further decrease economic production. – Credit forms the basis of the present-day monetary system, and is the unifying embedded structure of the global economy. In a growing economy debt and interest can be repaid, in a declining economy not even the principal can be paid back. In other words, reduced energy flows may not be able to maintain the increase in economic production necessary to service debt. Real debt outstanding in the world likely will be not repayable, new credit may almost vanish. – HumanityÏs localized needs and welfare have become ever-more dependent upon hyper-integrated globalised supply-chains. One pillar of their system-wide functioning is monetary confidence and bank intermediation. Money in present-day economies is backed by debt and holds no intrinsic value; deflation and hyper-inflation risks may make monetary stability impossible to maintain. In addition, the banking system as a whole may become insolvent as their assets (loans) cannot be realised; these assets are also at risk from failing infrastructure. – A failure of monetary confidence and bank intermediation may seriously disrupt world trade. Our ÐlocalÏ globalised economies may fracture, for there is virtually nothing produced in developed countries that can be considered truly indigenous. The more complex the systems and inputs modern economies rely upon, the more globalised they are, and the higher may be their exposure to risk from a complete systemic collapse. – Another pillar of current civilization is the operation of critical infrastructure (telecommunications / electricity generation / financial system / transport / water and sewage) which has become increasingly co-dependent. This means that a systemic failure in one infrastructure system may cause cascading failure in others. This infrastructure depends upon continual re-supply; embodies short lifetime components as well as complex, highly resource intensive and specialized supply-chains, and large economies of scale. The continued availability of infrastructure systems also depends on the operation of the monetary and financial system. These mutual dependencies may induce a rapid increase in the risk of systemic failure. 61 Korowicz, Tipping Point: Near-Term Systemic Implications of a Peak in Global Oil Production. An Outline Review, 2010 http://www.feasta.org/documents/risk_resilience/Tip ping_Point.pdf (accessed 30 November 2011), 30 et seq.; Bundeswehr Transformation Centre (supra, n. 58), 56 et seq. draws heavily from the Korowicz paper.

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– The high dependence of food on fossil fuel inputs, the delocalisation of food sourcing, and lean just-in-time inventories could lead to quickly evolving food security risks even in the most developed countries. At issue is not just food production, but the food supply systemÏs ability to link surpluses to deficits, buyersÏ collapsed purchasing power, and market participantsÏ reduced ability to monetize transactions resulting from a possible failure of the financial and monetary systems. – Peak oil may force peak energy in general. Due to a possible failure of the financial and monetary system, the ability to bring on new energy production and maintain existing energy infrastructure is likely to be severely compromised. Humanity may have to face massive demand and supply collapses with limited ability to re-shape the energy system. – The above mechanisms are non-linear, mutually re-enforcing, and not exclusive. – One of the principal initial drivers of the collapse process will be growing visible action about peak oil. It is expected that investors will attempt to extract themselves from ÐvirtualÏ assets – such as bonds, equities, and cash – and convert them into ÐrealÏ assets before the system collapses. But the nominal value of virtual assets vastly exceeds the real assets likely to be available. Confirmation of the peak oil idea (by official action), fear, and market decline will drive a self-reinforcing feedback process leading to collapse of financial markets. – The implications of peak oil for climate change are twofold: A major collapse in greenhouse gas emissions is expected though may be impossible to model quantitatively. This may reduce the risks of severe climate change impacts. However, the relative ability to cope with the impacts of climate change will be much reduced, as people will be much poorer with much lower resilience. It is worth repeating that this systemic collapse scenario is a speculative Ðworst caseÏ assumption. However, it appears reasonable to conclude that near-term Ðpeak oilÏ may pose a major challenge for humanityÏs future ability to develop sustainably.

III. The Need for a Reorientation As the preceding sections have demonstrated, in practice ostensibly ÐsustainableÏ development continues to be quite manifestly inequitable, has come uncomfortably close to some geophysical limits, and may soon be at risk from significant energy constraints. For these reasons, it is proposed to reorient the Ðsustainable developmentÏ paradigm towards greater emphasis on promoting equity, due regard for ecological limits and building energy resilience.

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1. Greater Emphasis on Equity As is well-known, both intra- and intergenerational equity have roots in the Rio Declaration.62 The reference to equity in Principle 3 should be read together with the DeclarationÏs preamble63 and Principles 6 and 7.64 The latter principles strongly reflect the controversy between developed and developing countries about the appropriate framework for international development, which dominated the agenda of the 1992 Summit. Thus the reference to meeting developmental and environmental needs ÐequitablyÏ in Principle 3 primarily addresses iniquity across nations, i. e. in the relations of the global ÐNorthÏ and the global ÐSouthÏ. This even today continues to be a legitimate concern. What the Rio Declaration does not do is call for equity within nations. Given that income inequality within nations the world over has worsened, and health and education inequality persists in many areas of the world,65 there is an arguable need for greater emphasis on equity within nations in addition to the continued insistence on equity across nations. In regard to gender equality, the Rio Declaration has a notably strong reference to it, which, however, is in one of the final and therefore presumably less prominent principles.66 There is an established correlation between high levels of gender inequality, including lack of reproductive choice, and poor ecological sustainability performance.67 For this reason, it is proposed that a reoriented version of the Ðsustainable developmentÏ paradigm should highlight the need for increased efforts to promote gender equality.

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Rio Declaration (supra n. 2), Principle 3: ÐThe right to development must be fulfilled so as to equitably meet the developmental and environmental needs of present and future generations.Ï 63 Rio Declaration (supra n. 2), Preamble, cl. 2, sets Ðthe goal of establishing a new and equitable global partnership through the creation of new levels of co-operation among States, key sectors of societies and people.Ï 64 Rio Declaration (supra n. 2), Principle 6: ÐThe special situation and needs of developing countries, particularly the least developed and those most environmentally vulnerable, shall be given special priority. International actions in the field of environment and development should also address the interests and needs of all countries.Ï Principle 7: ÐStates shall cooperate in a spirit of global partnership to conserve, protect and restore the health and integrity of the EarthÏs ecosystem. In view of the different contributions to global environmental degradation, States have common but differentiated responsibilities. The developed countries acknowledge the responsibility that they bear in the international pursuit of sustainable development in view of the pressures their societies place on the global environment and of the technologies and financial resources they command.Ï 65 Supra, at n. 36. 66 Rio Declaration (supra n. 2), Principle 20: ÐWomen have a vital role in environmental management and development. Their full participation is therefore essential to achieve sustainable development.Ï 67 Supra, after n. 35.

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2. Recognizing Ecological Sustainability as the Basis for Socio-Economic Development As Meinhard Schröder argued, the Rio Declaration incorporates the prevailing ÐweakÏ understanding of sustainable development.68 What it encourages decision makers to do is to consider the ecological, economic and social dimension of development simultaneously. In view of the ecological constraints on development having become ever more serious, it is once again proposed that the international community recognize ecological sustainability as the basis for development. To avoid collapse and decline, development must be shaped in a manner that respects the earthÏs ecological integrity. This admittedly is not a completely novel idea.69 Rather, it is well reflected in history,70 science,71 environmental ethics,72 and international statements of principles. For instance, in the preamble to the 1982 World Charter for Nature,73 the international community acknowledged that Ð[m]ankind is a part of nature and life depends on the uninterrupted functioning of natural systems which ensure the supply of energy and nutrientsÏ; that Ðcivilization is rooted in nature, which has shaped human culture and influenced all artistic and scientific achievement, and living in harmony with nature gives man the best opportunities for the development of his creativity and for rest and recreationÏ; that Ð[e]very form of life is unique, warranting respect regardless of its worth to man, and, to accord other organisms such recognition, man must be guided by a moral code of actionÏ; and that Ð[m]an can alter nature and exhaust natural resources by his action or its consequences, and, therefore, must fully recognize the urgency of maintaining the stability and quality of nature and of conserving its resources.Ï The World CharterÏs operative principles encourage respect for every form of life, efforts to ensure that genetic viability on earth is not compromised, that habitats necessary for the survival of species are protected, and that humansÏ ÐutilizationÏ of ecosystems and organisms should not compromise the overall integrity of life on earth.74 Similarly, the Earth Charter, which was drafted by global Ðcivil societyÏ in an elaborate consultation process, encourages the acknowledg68

Supra, at n. 3 – 5. Indeed, it dates back at least to the Brundtland report. For previous scholarly argument in favour of development respecting ecological boundaries, see, e. g., Winter, A Fundament and Two Pillars: the Concept of Sustainable Development 20 Years After the Brundtland Report, in: Bugge/Voigt (eds.), Sustainable Development in International and National Law, 2008, 25 et seq.; Bosselmann (supra, n. 6), 206, 209 et seq. 70 For the idea of Ðliving from the yield, not from the substanceÏ, its roots in European medieval Commons laws, and its importance in modern European forestry management, see, e. g. Bosselmann, ibid., 207. 71 Supra, at n. 42 et seq. 72 For a summary, see, e. g., Westra, Governance for Integrity: A Distant but Necessary Goal? In: Burdon (supra, n. 6), 324. 73 UN General Assembly Resolution 37/7 on the World Charter for Nature, http://www.un. org/documents/ga/res/37/a37r007.htm (accessed 30/11/2011). 74 Ibid., cl. 1 – 4. 69

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ment that Ðall beings are interdependent and every form of life has value regardless of its worth to human beingsÏ, and calls on humanity to protect and restore the integrity of EarthÏs ecological systems.Ï75 International efforts to recognize ecological sustainability as the basis of development should have received additional impetus from the ÐDraft Universal Declaration of Rights of Mother Earth.Ï76 This document was adopted at the 2010 ÐWorld PeoplesÏ Conference on Climate Change and Rights of Mother EarthÏ which had been organized by the Bolivian government in reaction to the arguable failure of the Copenhagen Climate Summit. Meanwhile, it has made its way into the deliberations of various UN bodies77 and the Conference of the Parties to the UN Framework Convention on Climate Change. Its title is an allusion to the 1948 Universal Declaration of Human Rights. As has been observed elsewhere,78 the document is heavily influenced by a resurgent indigenous Andean spiritual world view that considers nature, symbolized by the earth deity Pachamama, as the foundational basis of all life. In addition, its preamble includes rhetoric which may perhaps be considered overly radical.79 It is probably these two factors which have contributed to the document not having received proper attention outside Latin America. Looking past its seemingly exotic roots and Ðanti-capitalistÏ stance, though, one cannot help acknowledging that the principles it sets forth are sound. In particular, the Draft Universal Declaration arguably reflects state-of-the-art ecology in its recognition that the earth system is an indivisible, self-regulating community of interrelated ecosystems, species, and natural communities.80 This is true also for its affirmation that to guarantee human 75 Earth Charter, Principle 1(a), 5, http://www.earthcharterinaction.org/content/pages/ Downloads%20For%2001%20The%20Earth%20Charter%20Text (accessed 30 November 2011); for the Earth CharterÏs significance as a global statement of principles, which arguably results from the inclusive and participatory process leading to its proclamation, see, e. g., Engel/Mackey, The Earth Charter, Covenants, and Earth Jurisprudence, in: Burdon (supra, n. 6), 313, 317 et seq., and Bosselmann (supra, n. 6), 209. 76 Reprinted in the Submission by the Plurinational State of Bolivia to the Ad-Hoc Working Group on Long-Term Cooperative Action at the 16th Conference of the Parties to the UNFCCC, http://unfccc.int/files/meetings/ad_hoc_working_groups/lca/application/pdf/boli via_awglca10.pdf (accessed 30 November 2011), 36 et seq. 77 UN Economic and Social Council, Study on the need to recognize and respect the rights of Mother Earth, 15th January 2010, http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/E.C.19. 2010.4%20EN.pdf (accessed 30 November 2011); UN General Assembly Resolution 65/164 on Harmony with Nature, http://www.un.org/en/ga/president/65/initiatives/Harmony%20 with%20Nature/A-RES-65-164.pdf (accessed 30 November 2011). 78 UNDP (supra n. 34), 87; for more on Ðearth jurisprudenceÏ, its roots in both Western and indigenous thought, and its links to the Draft Universal Declaration, see Cullinan, Wild Law: A Manifesto for Earth Justice, 2nd edition, 2011, 77 et seq., 121 et seq., 187 et seq. 79 Draft Universal Declaration of the Rights of Mother Earth (supra, n. 76), Preamble, cl. 3: Ðrecognizing that the capitalist system and all forms of depredation, exploitation, abuse and contamination have caused great destruction, degradation and disruption of Mother Earth, putting life as we know it today at risk through phenomena such as climate change.Ï 80 Ibid., Art. 1(2), translated into Westernized language.

Promoting Equity, Safeguarding Sustainability, Building Energy Resilience

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rights it is necessary to defend the ecological integrity of the earth system and of the ecosystems forming it.81 The Draft Universal Declaration furthermore calls on humanity to recognize the rights of rights of all ecosystems and species: to life, health, habitat and fulfilment of their ecological role. Potential conflicts between human rights and the rights of ecosystems and species should be resolved in a way that maintains the integrity, balance and long term health of all beings involved.82 What this would probably imply in terms of Ðblack letter lawÏ is a generally applicable and strengthened version of the assessments which the Habitats Directive83 currently requires in specific circumstances. To ensure that development respects ecological boundaries, the international community should sign up to the principles reflected in the Draft Universal Declaration. 3. Building Energy Resilience Principle 3 of the Rio Declaration encourages states to shape development in a manner that keeps options open for future generations. In view of the possible serious challenge resulting from near-term Ðpeak oilÏ,84 there is an arguable need to ensure that – some – socio-economic development remains possible in the future despite a foreseeable severe energy shortage. It should be noted that even the Brundtland report went to great lengths discussing the future energy challenge.85 This is what building energy resilience is about.86 More specifically, the food production and supply system should be redesigned to reduce dependence on high inputs of energy. Appropriate measures to this end include ÐorganicÏ techniques which increase organic soil matter, and agro-forestry. Cuba provides a living example of the potential small-scale organic agriculture has even in urban areas for securing food supply in times of massive energy shortage. After the collapse of the Soviet Union and the resulting end of subsidized oil supplies to Cuba, the countryÏs people managed to avoid malnutrition and starvation through small-scale organic agriculture and a remarkable degree of societal cohesion. It should be noted, though, that the cohesion of Cuban society had been reinforced by the Cuban political system.87 To build resilience, countriesÏ energy, public health and transport systems will have to be redesigned in a similar fashion. Rigorous energy efficiency and conservation, increased use of renewable energy sour81

Ibid., Preamble, cl. 5, once again rendered in Westernized language. Ibid., Arts. 1(7), 2(1) and 2(2), once again in Westernized language. 83 Directive 92/43/EEC, OJ L 206, 7, Art. 6. 84 Supra, at n. 46 et seq., 58 et seq. 85 See Bugge, ÐOur Common FutureÏ Revisited, in: Bugge/Voigt (eds.), Sustainable Development in International and National Law, 2008, 14 et seq. 86 See, e. g., House of Commons All Party Parliamentary Group (supra, n. 58), 12 et seq.; Oil Depletion Analysis Centre et al. (supra, n. 58), 12, 16 et seq., 32. 87 For a summary of the Cuban ÐSpecial PeriodÏ, see Friedrichs, Global energy crunch: How different parts of the world would react to a peak oil scenario, 38 Energy Policy (2010), 4562, 4564 et seq. 82

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Christian Heitsch

ces, where appropriate in off-grid and decentralized supply systems, stronger emphasis on preventive health-care, shift from private to public transport, encouragement of telecommuting, shift of goods transport from road to rail, possible revival of transocean sail transport using modern rig designs – these are some appropriate policy responses with a view to building energy resilience.

IV. Concluding Remarks This article has advocated that in response to new and emerging challenges the international community should put greater emphasis on equity of development across and within countries, recognize ecological sustainability as the foundational basis of socio-economic development, and highlight the need for increased energy resilience of human societies. It should go without saying that, by itself, this reorientation will do little to address the challenges humanity currently faces. What Meinhard Schröder noted in regard to Ðsustainable developmentÏ as set forth in the Rio Declaration certainly is true also for the proposals this article has made: Ð[W]hithout social and international consensus, and without the willingness to accept more radical changes in the economic system and social behaviour, it might remain an empty phrase.Ï88 What the reorientation this article has proposed can accomplish, though, is send out a strong signal that states, corporations and individuals urgently need to address challenges resulting from continued lack of equity in development, and from possible near-term ecological and energy constraints.

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Schröder (supra, n. 3), 112.

Raumordnungsplanerische Mengenziele zur Windkraftnutzung Von Reinhard Hendler

I. Problemlage Die gegenwärtig allseits propagierte Energiewende stellt eine veritable nationale Herausforderung dar. In den Ländern wird derzeit verbreitet geprüft, welchen Beitrag sie zur Bewältigung dieser Herausforderung zu erbringen vermögen. Hierbei fällt der Blick nicht zuletzt auf die Raumordnungsplanung. Insoweit gehen die Bestrebungen unter anderem dahin, die Regionalplanung durch textliche Ziele der Raumordnung im landesweiten (hochstufigen) Raumordnungsplan zu verpflichten, verstärkt Vorrang- bzw. Eignungsgebiete (§ 8 Abs. 7 ROG) für die Windkraftnutzung auszuweisen. Dies führt zu der Frage, ob es zulässig ist, eine derartige zielförmige Verpflichtung mit quantitativen Vorgaben zu verbinden, die sich auf den prozentualen Anteil der auszuweisenden Gebiete an der Gesamtfläche der Planungsregion (z. B. 2 %) oder auf die in den Gebieten zu ermöglichende Gesamtnennleistung der Anlagen beziehen. Und für den Fall, dass diese Frage zu bejahen ist, erweist sich des Weiteren als klärungsbedürftig, ob bei den quantitativen Vorgaben neben einem Mindestwert auch ein Höchstwert bestimmt werden darf oder ob die Festlegung eines starren Werts erforderlich ist, der weder eine Unter- noch eine Überschreitung gestattet.

II. Begriff und Bindungswirkung von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung Für die Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen ist es unerlässlich, sich zunächst über die rechtliche Eigenart von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung zu vergewissern. Soweit es um die Raumordnungsziele geht, ist eine Begriffsbestimmung in § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG enthalten. Danach handelt es sich hierbei um verbindliche, räumlich und sachlich bestimmte oder bestimmbare Festlegungen in Raumordnungsplänen. Die Festlegungen können sowohl textlicher als auch zeichnerischer Art sein. Sie dienen der Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raumes. Ihr besonderes Kennzeichen besteht darin, dass sie auf einer abschließenden Abwägung des Trägers der Raumordnungsplanung für das Landesgebiet oder die Region beruhen. Das Merkmal der abschließenden Abwägung stellt ein wesentliches Kriterium zur Unterscheidung von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung dar. Denn für die

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Reinhard Hendler

Raumordnungsgrundsätze ist gerade kennzeichnend, dass sie lediglich Vorgaben (Belange) für nachfolgende Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen bilden (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 ROG). Raumordnungsziele sind demgegenüber der Abwägung oder Ermessensausübung vorgelagert. Sie tragen Letztentscheidungscharakter und sind auf die Entfaltung strikter Bindungswirkung angelegt.1

III. Planungsaufträge an die Regionalplanung in Form von Raumordnungszielen Bevor den eingangs dargelegten Rechtsfragen näher nachgegangen wird, sei noch ein kurzer Blick auf die Frage geworfen, ob der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung rechtlich überhaupt in der Lage ist, der Regionalplanung mithilfe von Zielen der Raumordnung Planungsaufträge zu erteilen. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat dem Landesgesetzgeber die Befugnis abgesprochen, die Bindungswirkung der Ziele der Raumordnung abweichend von der bundesrechtlichen Regelung (§ 5 Abs. 4 i.V.m. § 4 Abs. 5 ROG a.F., jetzt § 4 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 5 ROG) auf bestimmte öffentliche Stellen zu beschränken.2 Hieraus könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Raumordnungsziele, die sich lediglich an die Regionalplanungsträger richten, jedenfalls so lange unzulässig sind, wie der Landesgesetzgeber nicht von seiner Abweichungsbefugnis nach Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GG Gebrauch gemacht hat. Allerdings kann dahinstehen, ob die zitierte Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs zutreffend ist.3 Denn inzwischen hat sich das Gericht mit zielförmigen landesentwicklungsplanerischen Aufträgen an die Regionalplanung besonders befasst und diese – wenngleich ohne vertiefende rechtsdogmatische Begründung – gebilligt.4 Doch lässt sich im Hinblick auf die dogmatische Konsistenz der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs anführen, dass es bei derartigen Planungsaufträgen nicht um die Frage der Bindungswirkung nach § 4 ROG, sondern um einen Fall des § 8 Abs. 2 Satz 1 ROG geht, wonach die Regionalpläne aus dem Raumordnungsplan für das Landesgebiet zu entwickeln sind.5 1 Näher zu den Zielen und Grundsätzen der Raumordnung Hendler, in: Koch/ders., Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl., 2009, § 3, Rn. 3 ff. m.w.N. aus Rechtsprechung und Schrifttum. 2 Hess.VGH, NVwZ 2003, 119 (120, 121). 3 Runkel, in: Spannowsky/ders./Goppel, ROG, 2010, § 3, Rn. 38, macht beispielsweise geltend, dass dieselbe Festlegung in einem Raumordnungsplan gegenüber dem einen Adressaten Zielqualität, gegenüber einem anderen Planungsträger oder in einem Genehmigungsverfahren aber lediglich die Qualität eines Grundsatzes der Raumordnung haben könne. Ablehnend zu einer derartigen Doppelnatur raumordnerischer Aussagen Hendler, in: Cholewa/ Dyong/von der Heide/Arenz, Raumordnung in Bund und Ländern, § 3 (Stand: Okt. 2010), Rn. 47. 4 Hess.VGH, Urt. vom 21. 08. 2009 – 11 C 227.08 T u. a., Umdruck, S. 99 ff. 5 Vgl. dazu Hendler, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 39.

Raumordnungsplanerische Mengenziele zur Windkraftnutzung

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IV. Zum Stand der raumordnungsrechtlichen Erörterungen über die Zulässigkeit von Mengenzielen Bei dem von der landesweiten Raumordnungsplanung an die Regionalplanung gerichteten zielförmigen Auftrag, die Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung mit quantitativen Vorgaben zu verbinden, geht es um die Thematik der raumordnungsrechtlichen Zulässigkeit von Mengenzielen. Hierzu wurde vor etwa einem Jahrzehnt konstatiert, dass „eine vertiefte wissenschaftliche Durchdringung dieser Thematik … noch nicht stattgefunden“ hat.6 Diese Einschätzung kann nach wie vor Geltung beanspruchen. Zwar haben sich Rechtsprechung und Fachliteratur zwischenzeitlich mehrfach mit Mengenzielen befasst. Doch ist erst jüngst bilanziert worden, es sei „noch nicht abschließend geklärt …, ob und inwieweit textlich beschriebene Quoten und Mengenangaben zulässige Ziele der Raumordnung sein können.“7 1. Mengenziele in der Rechtsprechung In der Rechtsprechung sind Mengenziele bisher nur gelegentlich Gegenstand rechtlicher Betrachtung gewesen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 – wie aus deren Leitsatz hervorgeht – „zur Abwägung zwischen der raumordnerischen Zielsetzung, den bestehenden Eigenversorgungsgrad von 70 % durch die Ausweisung schutzbedürftiger Bereiche für Rohstoffsicherung langfristig abzusichern, und der örtlichen Bauleitplanung“ Stellung genommen.8 Da die mit einer numerischen Vorgabe verbundene „raumordnerische Zielsetzung“ vom Gericht nicht beanstandet worden ist, wird die Entscheidung in der Fachliteratur häufig als Beleg für die Zulässigkeit zielförmiger Mengenfestlegungen zitiert.9 Es erweist sich jedoch als zweifelhaft, ob es in der Gerichtsentscheidung um ein Raumordnungsziel im technischen Sinne (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG) geht. Dagegen spricht jedenfalls der gewichtige Umstand, dass die betreffende Aussage lediglich als Abwägungsgesichtspunkt betrachtet worden ist. Eine eindeutige raumordnungsrechtliche Klassifizierung lässt die Gerichtsentscheidung nicht zu. Denn dort ist ohne nähere Präzisierungen jeweils nur vom „Planungsziel“ bzw. von der „obersten raumordnerischen Zielsetzung“ die Rede.10 6 Einig/Spiecker, Die rechtliche Zulässigkeit regionalplanerischer Mengenziele zur Begrenzung des Siedlungs- und Verkehrsflächenwachstums, ZUR Sonderheft 2002, 150 (153). 7 Beckmann, Klimaschutz durch Landesplanung – Anmerkungen zum Entwurf eines Klimaschutzgesetzes NRW, NWVBl. 2011, 249 (253). 8 VGH BW, Urteil vom 04. 04. 2003 – 4 S 548/01, juris = BauR 2003, 1444 f. (nur Leitsatz-Abdruck). 9 Vgl. z. B. Runkel, in: Bielenberg/ders./Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, L § 3 ((Stand: Febr. 2011), Rn. 36; Beckmann (Fn. 7), 249 (253); Rojahn, Umweltschutz in der raumordnerischen Standortplanung von Infrastrukturvorhaben, NVwZ 2011, 654 (660 Fn. 45). 10 VGH BW, Urteil vom 04. 04. 2003 – 5 S 548/01, juris Rn. 16, 24, 35.

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Wesentlich deutlicher und für die Klärung der hier zu erörternden Fragen ergiebiger ist demgegenüber die Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts. In zwei aufschlussreichen Entscheidungen hat sich das Gericht mit zielförmigen raumordnungsplanerischen Standortausweisungen für Windkraftanlagen einschließlich quantitativer Leistungsvorgaben (Megawatt) befasst. Der erste Fall betraf ein Regionales Raumordnungsprogramm, das „Vorrangstandorte für die Windenergiegewinnung mit einer Mindestnennleistung von 9 MW“ für eine Gemeinde vorsah.11 Das Gericht hat diese regionalplanerische Festlegung nicht beanstandet. Und zum zweiten, ähnlich gelagerten Fall eines Regionalen Raumordnungsprogramms führt es aus: „Der Träger der Raumordnungsplanung kann seine Entscheidung für eine substanzielle Nutzung der Windenergie auch mit Blick auf den zu erzielenden Ertrag aus dieser Nutzung treffen. Hier hat der Beklagte die Festlegung der Vorrangstandorte für Windenergiegewinnung in der zeichnerischen Darstellung mit der Angabe der Kapazität in MW für die jeweiligen Vorranggebiete verbunden.“12 Auch insoweit hat das Gericht keinen Anlass für eine rechtliche Beanstandung oder auch nur eine kritische Anmerkung gesehen. 2. Mengenziele in der Fachliteratur Was die Fachliteratur anbelangt, so sind Mengenziele in Raumordnungsplänen nach weit überwiegender Auffassung grundsätzlich zulässig.13 Dies gilt sowohl für Mindest- als auch für Höchstmengenfestlegungen.14 Welche Festlegungsvariante zum Zuge kommt, hängt von der raumordnungsplanerischen Steuerungsabsicht ab, für die ausschlaggebend ist, ob bestimmte räumliche Nutzungen bzw. Entwicklungen eher unterstützt oder gebremst werden sollen. Fraglich ist allerdings, inwieweit bei der raumordnungsplanerischen Mengensteuerung zugleich Mindest- und Höchstwerte zielförmig vorgegeben werden dürfen. Hinsichtlich dieser Frage erweist sich die Literaturlage als wenig aussagekräftig. Zudem beziehen sich die zitierten fachliterarischen Stellungnahmen15 nicht alle auf raumordnungsplanerische Mengenziele im Bereich der Windkraftnutzung, son11

Nds.OVG, NuR 2004, 609 (610). Nds.OVG, BauR 2008, 2005 (2006). 13 Vgl. z. B. Runkel, in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 27; ders., in: Bielenberg/ders./Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 36; Beckmann (Fn. 7), 249 (253); Hendler, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 39; Einig/Spiecker (Fn. 6), 150 (153 ff.); Einig, Kapazität der Regionalplanung zur Steuerung der Produktion und Nutzung von Biomasse, IzR 2011, 369 (384); Ludwig, Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung der Biomasseproduktion durch die Regionalplanung, DVBl. 2010, 944 (948); von Seht, Eine neue Raumordnung: erforderlich für den Klimaschutz, RaumPlanung 2010, 277 (279); Bovet, Handelbare Flächenausweisungsrechte als Steuerungsinstrument zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme, NuR 2006, 473 (475); Köck, Flächensicherung für erneuerbare Energien durch die Raumordnung, DVBl. 2012, 3 (9). 14 So ausdrücklich Einig (Fn. 13), 369 (384). 15 Vgl. oben Fn. 13. 12

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dern z. B. auf die Steuerung des Flächenverbrauchs für Siedlungs- und Verkehrszwecke. Soweit es speziell um den Windkraftbereich geht, wird zudem ein abweichender Standpunkt vertreten und geltend gemacht, die Raumordnungsplanung könne den Gemeinden nicht als Ziel der Raumordnung vorschreiben, dass die von ihnen zu planenden Konzentrationsflächen für die Nutzung der Windenergie einen bestimmten Anteil der Gesamtfläche des jeweiligen Gemeindegebiets ausmachen oder mit hinreichender Sicherheit eine bestimmte Gesamtnennleistung bzw. eine Energiemenge über dem Bundesdurchschnitt ermöglichen müssen. Ein derartiges Ziel sei räumlich weder bestimmt noch bestimmbar abschließend abgewogen. Entsprechende Vorgaben könnten daher lediglich als Grundsätze der Raumordnung ergehen.16 Die Auswertung der Fachliteratur ergibt hiernach kein klares und vollständiges Bild zu den einschlägigen Rechtsfragen.

V. Zielförmige Vorgaben im landesweiten Raumordnungsplan zur regionalplanerischen Ausweisung eines prozentualen Anteils der Regionsfläche als Vorrang- bzw. Eignungsgebiete für Windkraftnutzung Vorgaben im landesweiten Raumordnungsplan können nur dann als Ziele der Raumordnung qualifiziert werden, wenn sie die Merkmale des in § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG definierten Zielbegriffs erfüllen. Das gilt auch für Vorgaben, welche die Träger der Regionalplanung zur Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung verpflichten und hierbei zugleich eine Quote festlegen, indem sie den prozentualen Anteil dieser Gebiete an der Gesamtfläche der Planungsregion bestimmen. Doch ist nicht jede raumordnungsplanerische Aussage, die den Zielbegriff erfüllt, bereits zulässig. Hinzu kommen muss nicht zuletzt, dass sie dem Gebot der Erforderlichkeit gerecht wird. 1. Raumbezug Als Ziele der Raumordnung kommen nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG nur solche planerischen Festlegungen in Betracht, die sich durch einen Raumbezug auszeichnen, der darin zum Ausdruck kommt, dass sie auf die Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raumes gerichtet sind. Dies entspricht der Aufgabe der Raumordnung, den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. Typische Zielfestlegungen, die den erforderlichen Raumbezug aufweisen, ergeben sich aus dem (nicht abschließenden) Katalog des § 8 Abs. 5 ROG. Der Katalog umfasst unter anderem Festlegungen zur Nutzung im Freiraum einschließlich der Ausweisung von Vorrang- und Eignungsgebieten (§ 8 Abs. 5 Nr. 2 lit. b, Abs. 7 Nr. 1 und 3 ROG). Zu dieser Kataloggruppe gehört die Auswei16

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sung von Vorrang- und Eignungsgebieten nicht nur für den im Gesetz ausdrücklich angesprochenen Rohstoffabbau, sondern z. B. auch für die Windenergienutzung. Der Raumbezug von Vorrang- und Eignungsgebietsfestlegungen zur Windenergienutzung entfällt nicht dadurch, dass der landesweite Raumordnungsplan diese Festlegungen nicht selbst trifft, sondern der Regionalplanung einen entsprechenden Auftrag erteilt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich am Raumbezug etwas ändert, wenn der Festlegungsauftrag um eine Vorgabe zum prozentualen Anteil der festzulegenden Gebiete an der Gesamtfläche der Region ergänzt wird. Ausschlaggebend ist, dass sich die hier in Rede stehenden Vorgaben im landesweiten Raumordnungsplan auf Art und Maß der Raumnutzung beziehen. 2. Räumliche und sachliche Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit Zielfestlegungen müssen zudem – wie aus der Begriffsbestimmungsnorm des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG hervorgeht – räumlich und sachlich bestimmt oder bestimmbar sein. Sie sind dann bestimmbar, wenn sich ihr Inhalt durch Auslegung unter Heranziehung der hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte (Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck, systematische Stellung im Raumordnungsplan, Anforderungen höherrangigen Rechts etc.) ermitteln lässt.17 Bedarf es zur Bestimmung weiterer Erhebungen oder Untersuchungen tatsächlicher Art, so ist dies unschädlich.18 Das Erfordernis der Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit von Zielfestlegungen hätte insofern keiner ausdrücklichen Erwähnung in § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG bedurft, als es sich bereits aus dem verfassungskräftig fundierten Rechtsstaatsprinzip ergibt. Da die Ziele der Raumordnung nach § 4 ROG und anderen Vorschriften (z. B. § 8 Abs. 2 Satz 1 ROG, § 1 Abs. 4 BauGB) Bindungswirkungen für Dritte entfalten, gilt das dem Rechtsstaatsprinzip innewohnende Bestimmtheitsgebot auch für sie.19 Es entspricht allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen, dass für die zielgebundenen Dritten erkennbar sein muss, was von ihnen erwartet bzw. verlangt wird. Dass eine an die Träger der Regionalplanung gerichtete zielförmige Vorgabe des Inhalts, Vorrang- bzw. Eignungsgebiete für die Windkraftnutzung im Umfang eines näher bezeichneten prozentualen Anteils an der Gesamtfläche der Region auszuweisen, sachlich hinreichend bestimmt ist, liegt auf der Hand und bedarf daher keiner weiteren Ausführungen. Allerdings vertritt Rojahn die Auffassung, dass ein derartiges Ziel in räumlicher Hinsicht an einem Bestimmtheitsmangel leide, wobei jedoch 17 Hendler, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 15. Ähnlich Runkel, in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 21; ders., in: Bielenberg/ders./Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 28. 18 Runkel, in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 21; ders., in: Bielenberg/ders./ Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 28. 19 BVerwG, NuR 2002, 548 (550).

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nicht näher begründet wird, woraus dieser Mangel resultiert.20 Er könnte allenfalls darin bestehen, dass nicht vorgegeben wird, an welcher Stelle des Planungsraums die Vorrang- bzw. Eignungsgebiete auszuweisen sind. Bemerkenswerterweise behandelt Rojahn gerade den Fall, dass sich die zielförmigen Vorgaben an die Gemeinden richten, denen auferlegt wird, Konzentrationsflächen für die Windenergienutzung in einem Umfang zu planen, der einem bestimmten Anteil des jeweiligen Gemeindegebiets entspricht.21 Werden indes unter dem Gesichtspunkt räumlicher Bestimmtheit konkretisierende Angaben zu der Frage gefordert, wo die Konzentrationsflächen in der örtlichen Gemarkung auszuweisen sind, so ergeben sich erhebliche rechtliche Bedenken. Diese beruhen darauf, dass Raumordnungsziele, die sich nicht auf übergemeindliche und gemeindescharfe Aussagen beschränken, sondern sich auf gemeindliche Gebietsteile beziehen, auf Kollisionskurs zur kommunalen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG liegen, zu deren Bestandteilen insbesondere auch die gemeindliche Planungshoheit gehört.22 Derartige Raumordnungsziele sind zwar nach inzwischen gefestigter Rechtsauffassung nicht von vornherein unzulässig, doch setzt die Zulässigkeit voraus, dass sie sich auf ein qualifiziertes überörtliches Interesse stützen lassen.23 Es kann allerdings nicht angenommen werden, dass die Träger der Raumordnungsplanung aufgrund des Bestimmtheitsgebots gezwungen sind, besonders tief in die verfassungskräftig verbürgte gemeindliche Planungshoheit einzugreifen, indem sie es nicht dabei bewenden lassen dürfen, den Gemeinden die Ausweisung von Konzentrationsflächen für die Windkraftnutzung in einer näher bezeichneten Größenordnung vorzuschreiben, sondern darüber hinaus anzuordnen haben, wo die betreffenden Flächen innerhalb der örtlichen Gemarkung zu platzieren sind. Dies wird in den grundlegenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Bestimmtheit von Raumordnungszielen bestätigt.24 Das Gericht erklärt, dass Raumordnung und Landesplanung nicht auf einen Normvollzug im sonst üblichen Sinne angelegt seien, sondern Rahmenbedingungen schafften, die Raum für eine weitere Konkretisierung ließen. Diese Zweckbestimmung verbiete es, aus dem Gebot der Normklarheit ein Höchstmaß an Aussageschärfe und Detailtreue abzuleiten. Zeichneten sich Ziele durch eine gewisse Grobmaschigkeit aus, so sei dies kein verfassungsrechtlicher Mangel, sondern eher im Gegenteil Ausdruck der Zurückhaltung, die das Grundgesetz im Interesse der Wahrung der gemeindlichen Planungshoheit gebiete.25 20

Rojahn (Fn. 9), 654 (660). Vgl. den Nachweis oben in Fn. 20. 22 Zum verfassungsrechtlichen Schutz der gemeindlichen Planungshoheit vgl. beispielsweise Koch, in: ders./Hendler (Fn. 1), § 12, Rn. 2 m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 23 BVerfGE 76, 107 (108 f., 117 ff.); BVerwG, NVwZ 2006, 1055 (1056 Rn. 174); Hendler, in: Koch/ders. (Fn. 1), § 8, Rn. 12 m.w.N. auch zu früher vertretenen abweichenden Standpunkten. 24 BVerwG, NuR 2002, 548 (550). 25 Vgl. oben den Nachweis in Fn. 24. 21

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Zwar verfügen die Träger der Regionalplanung – im Unterschied zu den Gemeinden – nicht über eine verfassungsrechtlich geschützte Planungshoheit. Dem Träger der landesweiten Raumordnungsplanung obliegt daher nicht die verfassungsrechtliche Pflicht, die regionalplanerischen Gestaltungsmöglichkeiten in gleichem Maße zu schonen wie die bauleitplanerischen Entscheidungsspielräume der Gemeinden. Doch ist er keineswegs daran gehindert, auch gegenüber den Trägern der Regionalplanung Zurückhaltung zu üben und ihnen ein erhöhtes Maß an Dispositionsfreiheit über die inhaltliche Ausgestaltung der Regionalpläne zu gewähren. Dies umso mehr, als die Aufstellung der Regionalpläne eine – je nach Landesrecht unterschiedlich starke – kommunale Prägung aufweist. Durch Zurückhaltung der landesweiten Raumordnungsplanung gegenüber der regionalen Planungsebene wird folglich zugleich der kommunale Einfluss auf dieser Ebene gestärkt, was im Sinne der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG liegt. Konsequenterweise wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass es nicht erforderlich sei, eine zielförmige raumordnerische Sachaussage stets mit einem konkreten Gebiet innerhalb des Planungsraums des Zieladressaten zu verknüpfen.26 In der Kommentarliteratur zum Raumordnungsgesetz heißt es ausdrücklich: „So ist eine Festlegung z. B. in räumlicher Hinsicht hinreichend bestimmt, wenn sie sich auf den gesamten Planungsraum der nachfolgenden Planungsstufe bezieht. Eine Festlegung in einem landesweiten Plan dahingehend, dass in der Planungsregion X ein bestimmter Prozentsatz der Gesamtfläche einer bestimmten Funktion (z. B. Vorrang für Natur und Landschaft) zuzuweisen ist, ist räumlich hinreichend bestimmt, verbunden mit einem großen Konkretisierungsraum für den Träger der Regionalplanung.“27 In jedem Fall genügt es, wenn bei einer sachlichen Zielfestlegung beispielsweise des Inhalts, in einer näher bezeichneten Größenordnung Vorrang- bzw. Eignungsgebiete für die Windkraftnutzung auszuweisen, die Kriterien angegeben werden, die für die Gebietsauswahl maßgeblich sind (Windhöffigkeit, Abstände etc.). Denn in diesem Fall sind die Gebiete ohne weiteres räumlich bestimmbar.28 Da der Zieladressat

26 Runkel, in: Bielenberg/ders./Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 31, 49; Runkel, in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 23, 33; Hendler, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/ Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 23; ders., Raumordnungsziele als landesplanerische Letztentscheidungen, UPR 2003, 256 (259 f.); Heemeyer, Flexibilisierung der Erfordernisse der Raumordnung, 2006, S. 194 f. 27 Runkel, in: Bielenberg/ders./Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 49 (Zitat); ders., in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 33. Der Sache nach ebenso Hendler, in: Cholewa/ Dyong/von der Heide/Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 39. 28 Vgl. dazu Runkel, in: Bielenberg/ders./Spannowsky (Fn. 9), L § 3, Rn. 31; ders., in: Spannowsky/ders./Goppel (Fn. 3), § 3, Rn. 23; Hendler, in: Cholewa/Dyong/von der Heide/ Arenz (Fn. 3), § 3, Rn. 23; Hentschel, Umweltschutz bei Errichtung und Betrieb von Windkraftanlagen, 2010, S. 215 f. Im Ergebnis ebenso Appold, Freiraumschutz – Möglichkeiten der zielförmigen Ausgestaltung durch die Landesplanung, DVBl. 1989, 178 (183 f.). Ablehnend Spiecker, Raumordnung und Private, 1999, S. 75, mit der Begründung, bei Zugrundelegung

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selbst über deren Lage und Zuschnitt näher entscheiden kann, bleiben insoweit seine planerischen Gestaltungsspielräume erhalten, und zwar ohne dass rechtliche Unklarheit oder Unsicherheit über seine Verpflichtungen besteht. Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot scheidet daher aus. 3. Abschließende Abwägung Zu den Begriffsmerkmalen eines Ziels der Raumordnung gehört ferner die abschließende Abwägung durch den Träger der Raumordnungsplanung (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG). Wie § 7 Abs. 2 ROG präzisierend bestimmt, sind bei der Aufstellung von Raumordnungsplänen die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander abzuwägen, soweit sie auf der jeweiligen Planungsebene erkennbar und von Bedeutung sind. Die abschließende Abwägung im Sinne des Zielbegriffs ist daher ebenenspezifisch zu verstehen. Sie kann auf der Ebene der hochstufigen Raumordnungsplanung nicht stets in der Weise abschließend sein, dass es auf der Ebene der Regionalplanung nichts mehr abzuwägen gibt. Eine bis in alle Details vordringende Abwägung beim landesweiten Raumordnungsplan stünde im Widerspruch zu der gesetzlichen Differenzierung zwischen diesem Plan und den Regionalplänen (§ 8 Abs. 1 Satz 1 ROG). Anders ausgedrückt: Einem Ziel der Raumordnung im landesweiten Raumordnungsplan mangelt es nicht schon deshalb am abschließenden Charakter der zugrunde liegenden Abwägung, weil noch regionalplanerische Abwägungsspielräume bestehen. Allerdings ist der Träger der hochstufigen Raumordnungsplanung verpflichtet, die auf seiner Ebene erkennbaren bedeutsamen Belange zusammenzustellen und sich damit abwägend auseinanderzusetzen. Soweit es um die Windkraftnutzung geht, kann die Abwägung der für und gegen diese Nutzung sprechenden öffentlichen und privaten Belange beispielsweise ergeben, dass für die Ausweisung von entsprechenden Vorrang- bzw. Eignungsgebieten mindestens 2 % der Fläche einer bestimmten Planungsregion in Betracht kommen. Wird dieser Mindestwert im landesweiten Raumordnungsplan als Ziel der Raumordnung festgelegt, steht er nicht mehr zur Disposition des Zieladressaten. Der Regionalplanungsträger ist daran insofern strikt gebunden, als die Gesamtfläche der von ihm auszuweisenden Vorrang- bzw. Eignungsgebiete das vorgegebene Minimum nicht unterschreiten darf (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 8 Abs. 2 Satz 1 ROG). Es liegt demnach eine abschließende Abwägung auf der Ebene der hochstufigen Raumordnungsplanung vor. Hieran ändert sich auch in dem Fall nichts, dass der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung neben einem Mindestwert zugleich einen Höchstwert festlegt (z. B. 2 % bis 2,5 % der Regionsfläche). Die Festlegung eines derartigen Zielkorridors bietet sich an, wenn nach seiner Einschätzung die regionalplanerische Abwägung zwar fehlerfrei zu dem Ergebnis gelangen könnte, mehr als z. B. 2 % der Reder von ihr verworfenen Auffassung hätte der Gesetzgeber auch auf das Merkmal der räumlichen Konkretheit verzichten können (was jedoch nicht der Fall ist).

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gionsfläche als Vorrang- bzw. Eignungsgebiete auszuweisen, er selbst aber in seiner eigenen Abwägung den Belangen, die mit der Windenergienutzung konkurrieren, ein höheres Gewicht beimisst und ihm daran gelegen ist, dass dies in der Regionalplanung zur Geltung kommt. Zu den konkurrierenden Belangen gehören z. B. Naturschutz und Landschaftspflege, Denkmalschutz, Siedlungserweiterungen, großflächiger Kies- und Sandabbau etc. Durch die Festlegung eines Höchstwerts wird verhindert, dass der Regionalplanungsträger die Möglichkeiten der Windkraftnutzung bis an die Grenze des rechtlich Zulässigen vollständig ausschöpft und damit andere Belange weitgehend zurücksetzt sowie die Gestaltungsoptionen hinsichtlich künftiger Entwicklungen im Freiraum erheblich einengt. Allerdings erfordert die Festlegung eines Höchstwerts im landesweiten Raumordnungsplan verstärkte Anstrengungen hinsichtlich der Abwägung. Denn eine derartige Festlegung bedeutet, dass für die Windkraftnutzung geeignete Standorte durch die Regionalplanung nicht mehr als Vorrang- bzw. Eignungsgebiete ausgewiesen werden dürfen, sobald der Höchstwert erreicht ist. Dies lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn die betreffende Planungsregion in hinreichendem Umfang Belange aufweist, die der Windkraftnutzung entgegenstehen. Ob das der Fall ist, hat der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung zu prüfen. Ihm obliegt es, in der gesamten Region die für und gegen die Windkraftnutzung sprechenden Belange, soweit sie auf seiner Planungsebene erkennbar und von Bedeutung sind (§ 7 Abs. 2 Satz 1 ROG), zusammenzustellen, zu gewichten und abzuwägen. Hierbei muss er zudem rechtlich, d. h. unter Einhaltung der Grenzen seines Abwägungsspielraums, imstande sein, den mit der Windkraftnutzung konkurrierenden Belangen ein derart hohes Gewicht beizumessen, dass sich darauf die Untersagung der über den Höchstwert hinausgehenden regionalplanerischen Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung stützen lässt. Bei der Festlegung eines Mindestwerts genügt es demgegenüber, wenn der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung die regionalen Verhältnisse nur insoweit prüft, als er festzustellen vermag, dass der entsprechende Wert erreichbar ist. Gelangt er nach der Prüfung eines Teils der Region zu dem Ergebnis, dass bereits dieser Teil die Verwirklichung des Mindestwerts ermöglicht, kann er von weiteren Prüfungen absehen und die etwaige Ausweisung zusätzlicher Vorrang- bzw. Eignungsgebiete der Regionalplanung überlassen. Eine Abwägung auf der Ebene der landesweiten Raumordnungsplanung mit dem Ergebnis, der Regionalplanung die Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung in einem durch Mindest- und Höchstwerte bezeichneten Umfang vorzugeben, erweist sich im Hinblick darauf, dass der Regionalplanungsträger über die Vorgabe nicht mehr disponieren kann, als abschließend. Der Regionalplanungsträger darf weder den Mindestwert unterschreiten noch den Höchstwert überschreiten, sondern hat beide Werte strikt einzuhalten (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 8 Abs. 2 Satz 1 ROG). Es ist ihm verwehrt, sie abwägend zu überwinden. Dass er die Möglichkeit besitzt, im Rahmen seiner Abwägung eine (begrenzte) ziel-

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interne Konkretisierung vorzunehmen, steht dem Zielbegriff nicht entgegen. Denn es gehört zu den Besonderheiten der Raumordnungsplanung, dass sie „tendenziell … auf weitere Konkretisierung angelegt“ ist,29 und zwar auch insoweit, als es um ihre praktisch bedeutsamsten Inhalte, die Zielfestlegungen, geht. 4. Gebot der Erforderlichkeit Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Ziele der Raumordnung wegen Verstoßes gegen das Gebot der Erforderlichkeit rechtswidrig, wenn ihrer Verwirklichung auf unabsehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse entgegenstehen.30 Wird diese Rechtsprechung zugrunde gelegt, so muss der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung zur Erfüllung des Erforderlichkeitsgebots – wie es das Bundesverwaltungsgericht ausgedrückt hat – „vorausschauend prüfen“,31 ob sich das der Regionalplanung vorgegebene Ziel umsetzen lässt, auf einem näher bezeichneten prozentualen Anteil der Regionsfläche Vorrang- bzw. Eignungsgebiete für die Windkraftnutzung auszuweisen. Dem Träger der landesweiten Raumordnungsplanung obliegt demzufolge die Pflicht, die Verhältnisse in der betreffenden Region (Windhöffigkeit, Artenschutz- und Landschaftsbildbelange, Siedlungserweiterungsbestrebungen etc.) so weit aufzuklären und sich damit auseinanderzusetzen, dass kein vernünftiger Zweifel an der Umsetzbarkeit der Zielvorgabe besteht.32 Er ist dagegen nicht verpflichtet, bereits alle Details selbst zu ermitteln und zu würdigen, sondern kann dies der nachfolgenden Regionalplanung überlassen. Die dargelegte Aufgabenteilung entspricht der ebenenspezifischen Abwägung (§ 7 Abs. 2 ROG). Hiernach beschränkt sich die Abwägung des Trägers der hochstufigen Raumordnungsplanung auf diejenigen öffentlichen und privaten Belange, die auf seiner Planungsebene erkennbar und von Bedeutung sind. Auf dieser Ebene ist indes im hier behandelten Zusammenhang allein bedeutsam, dass sich das an die Regionalplanung gerichtete Raumordnungsziel rechtskonform umsetzen lässt. Die vorausschauende Prüfung, ob die erforderliche Umsetzbarkeit vorliegt, kann freilich ergeben, dass den verschiedenen Regionen aufgrund differierender tatsächlicher Gegebenheiten keine einheitlichen Mindest- bzw. Höchstquoten für die Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten vorgegeben werden können. Sollte sich erst später bei der regionalplanerischen Detailbetrachtung herausstellen, dass sich die vorgegebenen Quoten nicht einhalten lassen (was auf der Ebene der landesweiten Raumordnungsplanung nicht zu erkennen war), so kommt eine Zielabweichung nach § 6 Abs. 2 ROG in Betracht. Hierbei geht es darum, dass dem Träger der Regional29

BVerwGE 90, 329 (334). BVerwG, NVwZ 2005, 584 (586); NVwZ 2006, Beilage Nr. I 8/2006, Rn. 154; ZfBR 2006, 468 (468 f.). 31 BVerwG, NVwZ 2006, Beilage Nr. I 8/2006, Rn. 155. 32 von Seht (Fn. 13), 277 (279), spricht in diesem Zusammenhang von einer „belastbaren Potenzial- und Restriktionsanalyse“. 30

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planung gestattet wird, in bestimmtem Maße die Mindestquote zu unterschreiten oder über die Höchstquote hinauszugehen.

VI. Zielförmige Vorgaben im landesweiten Raumordnungsplan zur regionalplanerischen Ausweisung von Vorrangbzw. Eignungsgebieten für Windkraftnutzung mit einer Gesamtnennleistung 1. Praxisbeispiel Die nunmehr zu behandelnden Mengenziele im landesweiten Raumordnungsplan beziehen sich auf die Gesamtnennleistung der Windkraftanlagen, die in den von der Regionalplanung auszuweisenden Vorrang- bzw. Eignungsgebieten zu ermöglichen ist. Diese Mengenziele sind daher nicht – wie die soeben erörterten – flächenbezogen, sondern leistungsbezogen. Bemerkenswerterweise gibt es hierfür bereits ein Beispiel aus der Praxis hochstufiger Raumordnungsplanung. Im Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen (Gliederungsnr. 4.2.04)33 wird der Regionalplanung, die – was eine niedersächsische Besonderheit darstellt – von den Landkreisen und kreisfreien Städten als Angelegenheit des eigenen Wirkungskreises wahrzunehmen ist (§ 26 Abs. 1 NdsROG), folgendes Ziel der Raumordnung vorgegeben: „Für die Nutzung von Windenergie geeignete raumbedeutsame Standorte sind zu sichern und unter Berücksichtigung der Repowering-Möglichkeiten in den Regionalen Raumordnungsprogrammen als Vorranggebiete oder Eignungsgebiete Windenergienutzung festzulegen. In den besonders windhöffigen Landesteilen muss dabei der Umfang der Festlegungen als Vorranggebiete Windenergienutzung mindestens folgende Leistung ermöglichen: – Landkreis Aurich, 250 MW, – Landkreis Cuxhaven, 300 MW, – Landkreis Friesland, 100 MW, – …“ Hinsichtlich der Klärung der Frage, ob derartige bzw. ähnliche Zielfestlegungen zulässig sind, kann weitgehend auf das zuvor Dargelegte34 verwiesen werden.

33 Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 der Verordnung über das Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen (LROP) i. d. F. vom 08. 05. 2008 (Nds.GVBl., S. 133). 34 Vgl. den vorhergehenden Gliederungsabschnitt V.

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2. Raumbezug Wie bereits ausgeführt,35 liegt der nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG erforderliche Raumbezug bei einem Ziel der Raumordnung vor, das die Träger der Regionalplanung verpflichtet, einen näher bezeichneten prozentualen Anteil der Gesamtfläche der jeweiligen Planungsregion als Vorrang- bzw. Eignungsgebiete für die Windkraftnutzung auszuweisen. Der Raumbezug wird indes nicht dadurch in Frage gestellt, dass anstatt eines flächenbezogenen ein leistungsbezogenes Mengenziel festgelegt und für die in den Vorrang- bzw. Eignungsgebieten jeder Region insgesamt zu ermöglichende Nennleistung des Anlagenbestandes ein Mindestwert bestimmt wird. Denn auch bei einer derartigen Zielvorgabe geht es um Art und Maß der Raumnutzung und damit um einen typischen Fall des Raumbezugs. 3. Räumliche und sachliche Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit An der räumlichen und sachlichen Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit von Zielvorgaben im landesweiten Raumordnungsplan ändert sich ebenfalls nichts, wenn bei dem der Regionalplanung erteilten Auftrag zur Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung an die Stelle eines flächenbezogenen ein leistungsbezogenes Mengenziel tritt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn bei der Zielfestlegung die Kriterien angegeben werden, die für die Auswahl der Gebiete maßgeblich sind (Windhöffigkeit, Abstände etc.), da in diesem Fall für die Regionalplanungsträger erkennbar ist, in welchen räumlichen Bereichen der jeweiligen Region die Gebietsausweisung erfolgen kann.36 4. Abschließende Abwägung Was die Anforderungen der abschließenden Abwägung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG anbelangt, so sind diese nach dem vorstehend Dargelegten37 (auch) in dem Fall erfüllt, dass im landesweiten Raumordnungsplan ein zielförmiger Auftrag an die Regionalplanung zur Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung mit einer flächenbezogenen Mengenvorgabe kombiniert wird, die nicht nur einen Mindestwert, sondern zugleich einen Höchstwert bestimmt. Wird bei der Bestimmung eines derartigen Zielkorridors anstatt eines flächenbezogenen ein leistungsbezogener Maßstab zugrunde gelegt, so erweist sich dies als unschädlich. Denn auch in diesem Fall geht es darum, durch die Festlegung einer Obergrenze regionalplanerische Gebietsausweisungen zu vermeiden, die einen Umfang erreichen, 35

Vgl. oben Gliederungsabschnitt V.1. Zu den Einzelheiten des Erfordernisses der räumlichen und sachlichen Bestimmtheit vgl. oben Gliederungsabschnitt V.2. 37 Vgl. oben Gliederungsabschnitt V.3. 36

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der zwar noch zulässig sein mag, aber nach abwägender Beurteilung des Trägers der hochstufigen Raumordnungsplanung unangemessene Nachteile, insbesondere eine weitreichende Zurücksetzung der mit der Windkraftnutzung konkurrierenden Belange zur Folge hat. Im Übrigen ist hervorzuheben, dass die Regionalplanungsträger weder über den Mindest- noch den Höchstwert disponieren können, sondern beide Werte strikt einzuhalten haben, was den abschließenden Charakter der auf der höheren raumordnungsplanerischen Ebene erfolgten Abwägung verdeutlicht. 5. Gebot der Erforderlichkeit Aus dem Gebot der Erforderlichkeit erwächst für den Träger der landesweiten Raumordnungsplanung die Pflicht zur vorausschauenden Prüfung der Frage, ob sich die an die Regionalplanung gerichtete Zielvorgabe überhaupt realisieren lässt, Vorrang- bzw. Eignungsgebiete in einem Umfang auszuweisen, der die Installation eines Anlagenbestandes mit einer bestimmten Mindestnennleistung ermöglicht. Denn ein Raumordnungsziel, dessen Verwirklichung auf unabsehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, erweist sich – wie oben38 dargelegt – als rechtswidrig. Soweit es um den Umfang der Prüfungspflicht des Trägers der landesweiten Raumordnungsplanung geht, wirkt die Regelung des § 7 Abs. 2 ROG begrenzend. Nach dieser Regelung beschränkt sich die raumordnerische Abwägung auf diejenigen öffentlichen und privaten Belange, die auf der jeweiligen Planungsebene erkennbar und von Bedeutung sind. Der Träger der landesweiten Raumordnungsplanung hat demzufolge die tatsächlichen Gegebenheiten in der betreffenden Region so weit zu untersuchen und zu würdigen, dass kein vernünftiger Zweifel an der regionalplanerischen Realisierbarkeit des leistungsbezogenen Mengenziels besteht. Hierbei kann sich herausstellen, dass im Hinblick auf die disparaten regionalen Gegebenheiten unterschiedliche Werte für die in den Vorrang- bzw. Eignungsgebieten der einzelnen Regionen insgesamt zu ermöglichende Nennleistung des Anlagenbestandes festzulegen sind.

VII. Resümierende Schlussbetrachtung Wie im Rahmen einer resümierenden Schlussbetrachtung festgehalten werden kann, bestehen gegenüber einer Zielfestlegung im landesweiten Raumordnungsplan, die der Regionalplanung die Ausweisung von Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für die Windkraftnutzung mit einer näher bezeichneten Gesamtnennleistung aufgibt, keine rechtlichen Bedenken. Dass derartige Nennleistungen zielförmig bestimmt werden dürfen, ist für die Regionalplanung in der Rechtsprechung bereits anerkannt

38

Gliederungsabschnitt V.4.

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worden.39 Es ist kein Grund ersichtlich, der dafür spricht, dass hinsichtlich der hochstufigen Raumordnungsplanung etwas anderes gelten könnte. Leistungsbezogene Mengenziele im landesweiten Raumordnungsplan sind demnach rechtlich ebenso zulässig wie flächenbezogene Mengenziele. Ob die eine oder andere Mengenzielvariante gewählt wird, stellt eine Frage raumordnungs- und energiepolitischer Zweckmäßigkeit dar. Gegen leistungsbezogene Mengenziele sprechen die rasanten technischen Verbesserungen bei Windkraftanlagen. Da die Leistungsfähigkeit der Anlagen in der Vergangenheit kontinuierlich gesteigert worden ist und diese Entwicklung aller Voraussicht nach auch noch einige Zeit anhalten wird, kann es geschehen, dass sich die Ausweisung eines Vorrang- bzw. Eignungsgebiets für die Windkraftnutzung mit einer – zum heutigen Zeitpunkt – relativ hohen Mindestnennleistung demnächst bereits als wenig ambitioniert erweist. Wird zugleich eine Höchstnennleistung festgelegt, so verschärft sich das Problem, weil diese bereits bei einer verhältnismäßig geringen Anlagenzahl ausgeschöpft sein kann. Zudem hat der Träger der hochstufigen Raumordnungsplanung zumindest dann, wenn die von ihm vorgegebenen leistungsbezogenen Mengenziele anspruchsvoll sein sollen, einen besonderen Aufwand zu erbringen. Er muss der Frage näher nachgehen, wie groß die Vorrang- bzw. Eignungsgebiete aufgrund seiner Abwägung sein können und wie viele Anlagen mit einer bestimmten Nennleistung sie aufzunehmen vermögen. Hierzu ist es erforderlich, sich mit der Leistungsfähigkeit der auf dem Markt befindlichen modernen Anlagen und deren Verbesserungspotential zu befassen sowie zu prüfen, welche Abstände sie untereinander benötigen, um wechselseitige Beeinträchtigungen durch Turbulenzen zu vermeiden. Im Fall eines flächenbezogenen Mengenziels bestehen die dargelegten, vornehmlich aus der technischen Fortentwicklung der Windkraftanlagen resultierenden Nachteile nicht. Hier ergibt sich allerdings die Gefahr, dass die regionalplanerisch ausgewiesenen Standorte „unterwertig“ genutzt werden,40 d. h. für Anlagen, deren Betrieb zwar besonders rentabel ist, die aber möglicherweise nicht zu den leistungsstärksten, technisch am weitesten entwickelten und damit zugleich kostenträchtigsten Modellen gehören. Unabhängig davon, wie hoch diese Gefahr einzuschätzen ist, könnte daran gedacht werden, ihr dadurch zu begegnen, dass im Zusammenhang mit den Festlegungen zu den Vorrang- bzw. Eignungsgebieten für Windkraftnutzung auch eine Mindestnennleistung je Anlage bestimmt wird. Für die Bebauungsplanung ist die Bestimmung einer derartigen, auf die Einzelanlage bezogenen Mindestnennleistung in der Rechtsprechung als zulässig erachtet worden.41 Ob die Zulässigkeit 39 Nds.OVG, NuR 2004, 609 (610); BauR 2008, 2005 (2006 f.). Vgl. zu diesen Entscheidungen auch oben Gliederungsabschnitt IV.1. 40 Zur Thematik der „unterwertigen Nutzung“ vgl. Nds.OVG, BauR 2008, 2005 (2007). 41 Nds.OVG, NuR 2004, 609 (610, 611). Im Ergebnis zustimmend Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 2009, Rn. 120. Anders hinsichtlich einer Höchstnennleistung OVG NRW, BauR 2007, 677 (679).

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auch für die Raumordnungsplanung bejaht werden kann, stellt allerdings eine völlig offene, hier nicht weiter zu vertiefende Frage dar. Auszugehen ist jedenfalls davon, dass die raumordnungsplanerische Festlegung einer Mindestnennleistung für die einzelne Windkraftanlage mit einem erheblichen Rechtsrisiko verbunden ist.

Wandlungen in der lauterkeitsrechtlichen Beurteilung umweltbezogener Werbung Von Walter F. Lindacher Werbung mit dem Umweltargument begegnet in vielfältigen Facetten. Zunächst und vor allem als produktbezogene Werbung: Der Werbende behauptet, ausdrücklich oder über die Weckung von Assoziationen, pauschal oder konkretisierend, eine – zumindest relative – Umweltverträglichkeit des beworbenen Produkts, schreibt diesem Eigenschaften zu, die das Angebot ökologisch nach dem vom Werbenden zu ziehenden Schluss in einem günstigen, jedenfalls weniger ungünstigen Licht erscheinen lassen. Modal geht es um Wort- und/oder Symbolwerbung. Unternehmensbezogene Umweltwerbung präsentiert sich als werbliche Herausstellung eigenen betrieblichen Umweltengagements (jenseits eines konkreten Produktbezugs) sowie als werbliche Herausstellung praktizierten – freilich letztlich eigennützigen – Umweltmäzenatentums. Wie bei der produktbezogenen Umweltwerbung arbeitet der Webende auch bei der betrieblichen Umweltwerbung bald mit global-pauschalen, bald mit sektoralen Aussagen, der Form nach mit verbalen Aussagen und/oder Zeichen. Was die Werbung mit dem sozialen Engagement in Form des Umweltsponsoring betrifft, ist weiter danach zu unterscheiden, ob sich der Werbende auf die schlichte Verlautbarung einer abgeschlossenen oder gegenwärtigen umweltorientierten Sponsortätigkeit beschränkt (Fall des sog. nichtakzessorischen Sozio-Sponsorings) oder vom Werbenden ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Unterstützungsmaßnahme und dem Erwerb seiner Produkte hergestellt wird (Fall des sog. akzessorischen SozioSponsorings). Wer in der werblichen Kommunikation – auch – die Umweltkarte (welcher Couleur auch immer) spielen kann, hat ein starkes Blatt. Werbung mit dem Umweltargument eignet eine signifikante, meist hohe werbliche Relevanz. Einschlägige Attraktivität provoziert freilich nicht von ungefähr auch Missbrauch, jedenfalls objektiven Fehlgebrauch zulasten der Mitbewerber, der Marktgegenseite (insbesondere der Verbraucher) sowie des Wettbewerbs als Institution. Dem zu steuern, ist Aufgabe des Lauterkeitsrechts. Zu schneidiger Einsatz desselben gegenüber produkt- bzw. betriebsbezogener Umweltwerbung tangiert allerdings nicht nur das Kommunikationsinteresse des Anbieters, berührt vielmehr, wo er mit einem Informationsverlust für den wachen Verbraucher einhergeht, gleichzeitig dessen passives Informationsinteresse sowie das Allgemeininteresse an Schonung der natürlichen Lebensbedingungen: Marktentscheidungen in (Mit-)Orientierung an Umweltgesichtspunkten werden unmöglich gemacht, zumindest erschwert. In der Sache nicht indizierte Beschrän-

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kungen von Ökosponsoring lassen willkommene Förderbereitschaft schrumpfen, weil Förderung ohne die Möglichkeit, dieselbe als direktes oder indirektes Mittel der Absatzsteigerung einsetzen zu dürfen, im Wirtschaftsverkehr unattraktiv ist. Die Chance umweltschützender Indienstnahme von Individualinteressen über den Marktmechanismus1 wird hier wie dort vertan. Die Rechtsprechung hat Umweltwerbung, letztlich zulasten des Guts Umwelt, lange Zeit zu kritisch betrachtet. Die neuere Entwicklung des Lauterkeitsrechts (geprägt durch gebührendes In-Blick-Nehmen der Kommunikationsfreiheit des Werbenden und den Abschied von einem eher rechtspaternalistischen Denken) befördert bzw. erleichtert, wie zu zeigen ist, Schrankenziehungen, die legitimen Verbotsinteressen Rechnung tragen, ohne in Bezug auf Umweltbelange kontraproduktiv zu wirken. Noch weithin ungeklärt ist, wie sich die Ergänzung des klassischen lauterkeitsrechtlichen Irreführungsverbots durch das konditionierte Informationsgebot des § 5a UWG auf die Beurteilung umweltbezogener Werbung auswirkt.

I. Relevanter Grundlagenwandel 1. Referenzfigur des normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers Weder zu über-, andererseits keinesfalls zu unterschätzen ist zunächst der mit dem Stichwort Verbraucherleitbildwandel thematisierte Neuansatz. Nach älterer BGH-Rechtsprechung war es für die Bejahung einer Irreführung nach § 3 UWG a.F. erforderlich, grundsätzlich aber auch ausreichend, dass ein „nicht völlig unerheblicher Teil“ des angesprochenen Verkehrs einer geschäftsentscheidungserheblichen Fehlvorstellung erlag.2 Bei der Ermittlung des in einem Korridor zwischen 10 – 15 % angesiedelten Quorums zählten dabei auch fernerliegende Fehlvorstellungen von Verbrauchern eher minderer intellektueller Ausstattung mit. Die Rechtsprechung bekannte sich ausdrücklich zum Schutz von „Bevölkerungskreisen mit weniger Erfahrung und weniger umfassender Kenntnis“,3 erleichterte zudem das Erreichen des Quorums ganz entscheidend dadurch, dass sie den Bedeutungsgehalt der zu beurteilenden Werbeaussage mehr oder weniger generalisierend danach bestimmte, wie sie von den angesprochenen Verkehrskreisen bei „ungezwun-

1

Einlässlich zur Möglichkeit und Notwendigkeit von Umweltschutz via indirekter Verhaltenssteuerung über den Markt Kloepfer, Unlauterkeitsrecht und Umweltschutz, in: FS für Heinrich von Lersner, 1990, S. 181 m.w.N. 2 Repräsentativ: BGHZ 13, 244 (255) = GRUR 1955, 38 (40) – Cupresa-Seide. 3 BGH, GRUR 1983, 512 (514) = WRP 1985, 559 – Heilpraktikerkolleg.

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gener und flüchtiger Wahrnehmung“ verstanden wird.4 Bereits lange vor dem Höhepunkt der durch die EuGH-Rechtsprechung angestoßenen „Leitbilddiskussion“ entschärften die deutschen Gerichte, unter Beibehalt des überkommenen Systemansatzes, freilich ihre einschlägige Rechtsprechung: Man stellte in Rechnung, dass je nach Art der Werbung den Besonderheiten von Angebot und Ware, den Eigenschaften des Werbeadressaten und sonstiger Umstände ausnahmsweise auch ein gesteigerter Grad an Aufmerksamkeit und Verständigkeit in Betracht zu ziehen war.5 Vor allem wurde dem Quorum nur noch der Charakter einer quantitativen Mindestaufgreifschwelle zugesprochen, die Aussage, dass marktentscheidungserhebliche Fehlvorstellungen von 10 – 15 % des angesprochenen Verkehrs den Tatbestand der Irreführung erfüllen, nur noch als Zwischenaussage verstanden, das Zwischenergebnis unter Hinweis auf das Gebot der ergänzenden Interessenabwägung unter Korrekturvorbehalt gestellt.6 Anerkannter Bilanzposten auf der Seite der Verbotsgegeninteressen war dabei auch das Allgemeininteresse an Effektuierung des Umweltschutzes über den Markt.7 Mit dem Austausch des Systemansatzes, dem Bekenntnis zur Referenzfigur des angemessen informierten und verständigen Durchschnittsverbrauchers, vom BGH in der Orient-Teppichmuster-Entscheidung8 bereits vor Inkrafttreten der RL 2005/29/ EG über unlautere Geschäftspraktiken vollzogen, hat das Quorum als Aufgreifschwelle ausgedient. Das quantitative Filter wird durch ein qualitatives ersetzt (nicht lediglich ergänzt9): Die erwünschte und gebotene Ausgrenzung von Fällen im Bagatellgrößenbereich leistet die Exklusion von Vorstellungen, die bei Zugrundelegung des Maßstabs der normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsperson nicht erklärbar sind. Solch Herausschneiden schlicht unverständiger Fehlvorstellungen mit „normativem Skalpell“10 bereits auf der Ebene des Irreführungsmerkmals mindert evidenterweise das Anwendungsfeld und die praktische Bedeutung der Figur der nachgelagerten Interessenabwägung; diese ist nicht länger unerlässliches Widerlager zum weiten Irreführungsbegriff alten Rechts, geprägt durch das Abstellen auf die Vorstellungen 4 BGH, GRUR 1959, 365 (366) – Englisch Lavendel; GRUR 1969, 415 (416) = WRP 1969, 239 – Kaffeerösterei. 5 Beispielhaft: KG, WRP 1985, 558 (559) – Hauserwerb. 6 BGH, GRUR 1966, 445 = WRP 1966, 340 – Glutamal; GRUR 1971, 313 (315) = WRP 1971, 266 (267) – Bocksbeutelflasche; GRUR 1991, 852 (855) = WRP 1993, 95 (98 f.) – Aquavit. 7 Lappe, Die wettbewerbsrechtliche Beurteilung der Umweltwerbung, 1995, S. 129 ff. m.Nachw. 8 BGH, GRUR 2000, 619 (621) = WRP 2000, 517 (519 f.). 9 Näher hierzu: Lindacher, Das lauterkeitsrechtliche Irreführungsverbot – Tatbestandsprägung durch empirische und normative Elemente, in: FS für Günther H. Roth, 2011, S. 461 (467). 10 Reese, Das „6-Korn-Eier“-Urteil des EuGH – Leitentscheidung für ein Leitbild?, WRP 1998, 1035 (1040).

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„nicht unerheblicher Teile“ des angesprochenen Verkehrs. Im verbliebenen Anwendungsbereich11 behält freilich auch die Irreführungsquote (nunmehr als Anteil der gruppenbezogen normal Informierten, angemessen Aufmerksamen und Verständigen zu verstehen) ihre Rolle als variabler Faktor: Konkurriert das Verbotsinteresse mit per se verständigen Verbotsgegeninteressen, mehren hohe Irreführungsquoten das Gewicht der Verbotsinteressen.12 2. Bedeutungsschwund der Fallgruppe „gefühlsbetonte Werbung“ durch Abschied vom sog. Sachlichkeitsgebot Nach lange Zeit einhelliger Praxis wurden kommerziell motivierte Appelle an altruistische Gefühle und soziale Grundhaltungen als unzulässige gefühlsbetonte Werbung im Sinne von § 1 UWG a.F. qualifiziert, wenn und soweit sie nicht dem sog. Sachlichkeitsgebot genügten. Die Grenze zur wettbewerbsrechtlichen Unzulässigkeit wurde als überschritten angesehen, weil solche Werbung geeignet sei, den Adressaten der Werbebotschaft zu veranlassen, sich dem Angebot unter Vernachlässigung der Prüfung von Qualität und Preis zuzuwenden. Als unzulässig erachtete man selbst die produkt- und leistungsunabhängige Werbung mit dem sozialen Engagement, die Sozio-Sponsoring-Werbung. Prägend für die einschlägige Praxis war zum einen eine signifikante Geringschätzung des Kommunikationsinteresses des Werbenden, weiters die überkommene idealistische Vorstellung, dass Gefühle wie Mitleid, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Tierliebe und Verantwortungsbewusstsein für die Natur nicht für kommerzielle Zwecke instrumentalisiert werden dürfen,13 endlich das Nachwirken einer Zeitströmung, die in den Sozialwissenschaften beredten Ausdruck im Consumerismus der 1970er Jahre fand. Für Erhard Kantzenbach14, den seinerzeitigen Vorsitzenden der Monopolkommission, stand 1984 noch außer Frage, dass es „autonome“ (sprich „wahre“) Konsumbedürfnisse gebe und das Ausmaß der Befriedigung dieser Bedürfnisse der Maßstab zur Beurteilung der Effizienz eines Wirtschaftssystems sei. Jede zutreffende Information über die Existenz, die Eigenschaften und den Preis tauschweise angebotener Güter führe zu Effizienzsteigerung des Systems, jede emotionale (=suggestive) Beeinflussung jenseits der bloßen Aufmerksamkeitswerbung über eine Ablenkung von den „wahren“ Bedürfnissen zu einer Effizienzminderung.

11

Zur Nach-wie-vor-Notwendigkeit des Vorhaltens einschlägiger Korrekturmöglichkeit, statt vieler: Reese, in: Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd. 2, 2006, § 5 UWG, Rn. 334; Bornkamm, in: Köhler/ders., UWG, 30. Aufl., 2012, § 5, Rn. 2.200 ff.; Sosnitza, in: Piper/Ohly/ders., UWG, 5. Aufl., 2010, § 5, Rn. 220. 12 Götting, Wettbewerbsrecht, 2005, § 8, Rn. 29; Sosnitza, in: Piper/Ohly/ders. (Fn. 11), § 5, Rn. 152; Lindacher (Fn. 9), S. 461 (466). 13 Paradigmatisch: Bamberger, Mitleid zu Zwecken des Eigennutzes?, in: FS für Henning Piper, 1996, S. 41 (48 f.). 14 Kantzenbach, Zur wirtschaftspolitischen Beurteilung der Werbung, WuW 1984, 297 ff.

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Angestoßen durch die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG15 sowie den EGrechtlich forcierten, aber auch dem veränderten Zeitgeist geschuldeten Neuverständnis des Verbraucherleitbilds hat der BGH mit der bisherigen, im Schrifttum seit längerem16 bekämpften Linie gebrochen, das „Sachlichkeitsgebot“ verabschiedet und die Weithin-Perhorreszierung gefühlsbetonter Werbung aufgehoben.17 Solch Neuansatz macht begrüßenswerterweise18 mit der Erkenntnis ernst, dass eine freie Wirtschafts- und Sozialordnung niemandem vorschreiben darf, welche Bedürfnisse er zu haben hat. Er berücksichtigt, dass es neben Grundnutzen auch emotionalen Zusatznutzen gibt und verleiht diesem rechtliche Wertigkeit. Versuche, durch Beeinflussung der Verbraucherpräferenzstruktur Bedürfnisse jenseits der Elementarbedürfnisse zu bedienen, ja erst zu wecken, werden nicht per se mit einem Unlauterkeitsurteil belegt. Die Entscheidung zugunsten eines bestimmten Produkts unter Berücksichtigung des Zusatznutzens bleibt solange „rational“, als sie bewusste Entscheidung bleibt. Gebotene situativ-differenzierende Beurteilung in Bezug auf den angesprochenen Verkehrskreis bedeutet: Berücksichtigung des Umstands, dass bestimmte Zielgruppen (Heranwachsende, Ältere, ländliche Bevölkerungskreise, Gastarbeiter, Spätaussiedler) gegenüber Verleitungsgefahren strukturell typischerweise weniger resistent sind. Situativ-differenzierende Betrachtung in sachlicher Hinsicht heißt u. a.: Impulswerbung, die auf spontane Geschäftsabschlüsse setzt, ist kritischer zu betrachten als eine Überlegungszeit belassende Werbung. Gefühlsbetonte Werbung, die mit Bedrängungspraktiken verbunden wird, schafft Gefährdungspotential. Die Waage mag sich zum non licet senken, obschon die gefühlsbetonte Werbung und die Bedrängungshandlung je für sich zu tolerieren wäre. Ohne einschlägige Plusfaktoren bleibt es indes für die allgemeine Publikumswerbung – auch und gerade bei umweltbezogener Werbung19 – dabei: Die Regelreferenzfigur des Durchschnittsverbrauchers „europäischer Prägung“, der gegenüber Fehlsteuerung durchschnittlich gefeite Verbraucher, lässt sich durch das Gefühl ansprechende Geschäftspraktiken nicht dazu verleiten, bei seiner Marktentscheidung die Frage des Preis-Leistung-Verhältnisses mehr oder weniger auszublenden.

15 Leitentscheidung: BVerfG, GRUR 2002, 455 ff. = WRP 2002, 430 ff. – Tier- und Artenschutz. 16 Beispielhaft: Sosnitza, Wettbewerbsbeschränkungen durch die Rechtsprechung, 1995, S. 86 ff. 17 BGHZ 164, 153 (157) = GRUR 2006, 75 (76) = WRP 2006, 67 (68 f.) – Artenschutz; GRUR 2007, 247 Tz. 19 = WRP 2007, 303 – Regenwaldprojekt I; GRUR 2007, 251 Tz. 6 = WRP 2007, 308 – Regenwaldprojekt II. 18 Näher bereits Lindacher, Gefühlsbetonte Werbung nach BVerfG GRUR 2002, 455 – Tier- und Artenschutz, in: FS für Winfried Tilmann, 2003, S. 195 (198 ff.). 19 A.A. – gebietsbezogene Leichtgläubigkeit auch und gerade des „allgemeinen Durchschnittsverbrauchers“ – Lettl, Wettbewerbsrecht, 2009, Rn. 95.

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3. Lauterkeitsrechtliche Informationspflichten nach § 5a UWG Das lauterkeitsrechtliche Irreführungsverbot ist Desinformationsverbot, nicht Informationsgebot. Allfällige Aufklärung mag einer ansonsten irreführenden Angabe den Irreführungscharakter zu nehmen, ist indes nicht per se geschuldet.20 Bereits unter altem Recht entwickelte die Rechtsprechung freilich verdeckt echte fehlvorstellungsunabhängige Informationspflichten.21 Das UWG 2008 enthält in § 5a UWG nunmehr ein explizites, konditioniertes und mannigfach gestuftes Informationsgebot:22 Die Vorschrift statuiert in ihren Absätzen 2 (Grundtatbestand) und 3 (Konkretisierung) in Umsetzung von Art. 7 Abs. 1 – 3 sowie Abs. 4 der RL 2005/29/ EG für den Buisiness-to-Consumer-Bereich ein vom Nachweis konkreter Irreführungsgefahr befreites Informationsgebot. § 5a Abs. 1 UWG bestätigt und kodifiziert für den verbleibenden Buisiness-to-Buisiness-Bereich bisheriges – beide Bereiche abdeckendes – Richterrecht. Hier wie dort bestimmt sich das Maß geschuldeter Offenbarung via Abwägung widerstreitender Interessen: Information ist geschuldet, wo ihre Gewährung zur Sicherstellung abwägender Marktentscheidung, auch und gerade ohne Fehlvorstellung des Adressaten, unter Berücksichtigung berechtigter Gegeninteressen unerlässlich ist.23 Richtigerweise wird man dabei bei der Bestimmung des Maßes geschuldeter Information neben dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit für den Werbenden24 auch den Umweltschutzaspekt nicht aus dem Blick lassen dürfen: Wo (zu) hohe Informationsanforderungen ein Umweltengagement zu ersticken drohen, jedenfalls ein Zurückhalten von Informationsobliegenheiten auslösenden Sachaussagen befürchten lassen und damit eine dem Umweltschutz verpflichtete Verhaltenssteuerung verunmöglichen, mahnt (auch) das Allgemeininteresse an effektivem Umweltschutz zur Zurückhaltung.

20

BGH, GRUR 1996, 367 = WRP 1996, 290 (291) – Umweltfreundliches Bauen; Ahrens, Vom stillen Wirken richterlicher Preiskontrolleure – Wettbewerbsverstöße bei Teilzahlungsgeschäften mit Niedrigzinsangebot, GRUR 1991, 500 (504); Lindacher, Funktionsfähiger Wettbewerb als Final- und Beschränkungsgrund des lauterkeitsrechtlichen Irreführungsverbots, in: FS für Rudolf Nirk, 1992, S. 587 (590). 21 Näher hierzu: Lindacher, Allgemeines Irreführungsverbot und konditioniertes Informationsgebot, in: FS für Ulrich Spellenberg, 2010, S. 43 (45 f.). 22 Zum Verhältnis von § 5 und 5a UWG sowie zur Binnenstruktur des letzteren: Lindacher (Fn. 21), S. 43 (47 f.). 23 Zur prinzipiellen Notwendigkeit einschlägiger Interessenabwägung (bei unterschiedlicher tatbestandsmäßiger Verortung derselben): Nordemann, in: Götting/ders. (Hrsg.), UWG, 2010, § 5a, Rn. 117; Dreyer, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig (Hrsg.), UWG, 2. Aufl., 2010, § 5a, Rn. 38. 24 Gängigerweise genannter Aspekt, statt mancher: Sosnitza, in: Piper/Ohly/ders. (Fn. 11), § 5a, Rn. 11.

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II. Produktbezogene Umweltwerbung Produktbezogene Umweltwerbung begegnet, blendet man die werbliche Verwendung sog. Umweltzeichen als Sonderfallgestaltung aus, vor allem in dreierlei Form: als Werbung mit Umweltschlagworten, als Behauptung des Fehlens bestimmter, bekanntermaßen umweltschädlicher Eigenschaften und als Werbung in der Gestalt mehr oder weniger allgemeiner Umweltappelle. 1. Umweltschlagworte Wie unter altem Recht gilt auch unter neuem Recht: Der relevante Verkehr verbindet mit Umweltverträglichkeitsberühmungen bestimmte Mindeststandards. Ob ihrer chemischen Konstitution und/oder Wirkweise nachhaltig schädliche Erzeugnisse sind einer Bewerbung mit Umweltschlagworten gänzlich unzugänglich – mag auch das Vergleichsprodukt noch schädlicher sein.25 Kasuistik: Ein Streumittel aus porösem Blähton und Harnstoff darf nicht unter der Bezeichnung „Ökotau“ als „ökologische sauber, da salzfrei“ vertrieben werden, wenn und weil auch der Einsatz von Harnstoff das Grundwasser nachhaltig gefährdet.26

Im Übrigen sollte heute27 außer Frage stehen, dass Bezeichnungen wie „umweltfreundlich“, „umweltbewusst“, „umweltschonend“ und dergleichen keine absolute, sondern lediglich relative Umweltverträglichkeit verheißen:28 Der angemessen informierte und verständige Durchschnittsverbraucher weiß, dass es den Ausschluss jeglicher Umweltbelastung bei der Herstellung, Distribution, Nutzung und Entsorgung von Waren kaum noch gibt. Abweichende Vorstellungen einer Minderheit bleiben von vornherein irrelevant; es bedarf nicht mehr der „Rettung“ einer den Anspruch relativer Umweltverträglichkeit einlösender Werbung im Wege der Interessenabwägung. Selbst die These, der relevante Verkehr erwarte das nach derzeitigem Erkenntnisstand mögliche Höchstmaß an Umweltverträglichkeit,29 dürfte nicht der 25

Busche, in: Münchener Kommentar (Fn. 11), § 5 UWG, Rn. 404; Weidert, in: HarteBavendamm/Henning-Bodewig (Fn. 23), § 5 C, Rn. 185; Brandner, Beiträge des Wettbewerbsrechts zum Schutz der Umwelt, in: FS für Otto-Friedrich Freiherr von Gamm, 1990, S. 27 (31 f.); Spätgens, Umwelt und Wettbewerb – Stand der Dinge, in: FS für Ralf Vieregge, 1995, S. 813 (820). 26 LG Frankfurt, WRP 1985, 245. 27 Für die Alternative absoluter Umweltverträglichkeit einschließende Mehrdeutigkeit beispielsweise noch LG Köln, GRUR 1988, 53 (54) sowie Köhler, Der gerupfte Umweltengel, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts, 1990, S. 343 (351). 28 Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann, Handbuch des Wettbewerbsrechts, 4. Aufl., 2010, § 59, Rn. 249; Wiebe, in: Fezer (Hrsg.), UWG, Bd. 1, 2. Aufl., 2010, § 4 S 2, Rn. 27 ff.; Weidert, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig (Fn. 23), § 5 C, Rn. 185; Busche, in: Münchener Kommentar (Fn. 11), § 5 UWG, Rn. 403. 29 So noch OLG Stuttgart, NJW-RR 1989, 556; Bornkamm, in: Köhler/ders. (Fn. 11), § 5, Rn. 4.166; Jestaedt, Wettbewerbsrecht, 2008, Rn. 656.

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Regelvorstellung gerecht werden. Allemal erwartet wird freilich ein signifikanter ökologischer Vorteil gegenüber dem herkömmlichen Angebot.30 Soweit eine Minderheit der durchschnittlich informierten, kritischen Verbraucher gleichwohl weitergehenden Vorstellungen anhängen sollte, wäre Salvierung der entsprechenden Werbung im Wege ergänzender Interessenabwägung geboten. Zu den auf der Seite der Verbotsgegeninteressen einzustellenden Interessen zählte auch das durch zu schneidigen Einsatz des Lauterkeitsrechts beeinträchtigte Allgemeininteresse an Effektuierung von Umweltschutz über den Markt.31 Kasuistik: Eine gasbefeuerte Fußbodenheizung darf als „umweltfreundlich“ beworben werden, obschon auch bei Erdgasbefeuerung Kohlenmonoxyde, Schwefeldioxyde und Stickoxyde anfallen; ausreichend und entscheidend ist die im Vergleich zur Erdölbefeuerung insgesamt signifikant niedrigere Umweltbelastung.32 Wer CD-Boxen mit einer Materialersparnis von 28 % bei der Einzel- und von 55 % bei der Doppelbox herstellt, darf sein Produkt auch dann als „Die umweltfreundliche CD-Verpackung“ anbieten, wenn es gleich den üblichen Boxen aus dem umweltbelastenden Stoff Polystyrol hergestellt wird.

Eine andere, ungleich schwerer zu beantwortende Frage geht dahin, ob und wenn ja wie detailliert der mit einschlägigen Schlagworten Werbende den Grund behaupteter relativer Umweltverträglichkeit anzugeben hat: Die Umweltverträglichkeitsfrage stellt sich nicht nur in Bezug auf den Ge- bzw. Verbrauch des beworbenen Produkts, sondern auch hinsichtlich der Rohstoffgewinnung, Herstellung, Distribution und Entsorgung. Unter altem Recht wurde das Problem unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob die Umweltverträglichkeitsberühmung ohne entsprechenden aufklärenden Hinweis als mehrdeutige bzw. unklare Angabe irreführungsgeeignet ist. Heute dürfte es schwerpunktmäßig bei § 5a WG anzusiedeln sein: Der Werbende schuldet die Zusatzinformation, die Benennung des konkreten Umweltbezugs, vorbehaltlich gewichtigerer Gegeninteressen, soweit der Verkehr ihrer für eine abwägende Marktentscheidung bedarf. Aus der Sicht der Referenzfigur des angemessen kundigen und verständigen Durchschnittsverbrauchers fehlt es nicht selten bereits am Informationsbedarf: Aus der Art der Werbung und/oder der jeweiligen Begleitumstände kann sich fallweise durchaus eine Beschränkung der Umweltverträglichkeitsberühmung auf einen bestimmten Bezugspunkt, etwa den bestimmungsgemäßen Ge- bzw. Verbrauch, aber auch die Rohstoffgewinnung und Entsorgung ergeben.33

30

Wiebe, in: Fezer (Fn. 28), § 4 S 2, Rn. 30; Peifer, ebda, Bd. 2, § 5, Rn. 310. A.A. – die Berücksichtigungsfähigkeit metaökonomischer Allgemeininteressen leugnend – Wiebe, in: Fezer (Fn. 28), § 4, S 2, Rn. 46 ff. 32 OLG Stuttgart, WRP 1994, 339 (340 f.). 33 Busche, in: Münchener Kommentar (Fn. 11), § 5 UWG, Rn. 403. 31

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Kasuistik: Für ein Verpackungsmittel aus nachwachsenden, kompostierfähigen Rohstoffen darf durchaus zusatzlos mit der Angabe „Bio-Pack … für eine bessere Umwelt“ geworben werden.34

Wo die Werbung mit dem Umweltschlagwort ohne Spezifizierung auch aus der Sicht des angemessen unterrichteten und verständigen Durchschnittsverbraucher Unsicherheit über den Bedeutungssinn auslöst, kommt hingegen das Informationsgebot ins Spiel, wobei die Anforderungen an die Informationsdichte freilich nicht überzogen werden sollten: Für ein Informationspflichten generierendes besonderes Strengeprinzip, wie es von der Rechtsprechung der 1980er-Jahre35 angemahnt wurde, ist richtigerweise36 kein Raum. Erforderlich, wohl aber auch ausreichend sollten deshalb im Allgemeinen Hinweise nach Art der RAL-Praxis bei der Vergabe des Umweltzeichens sein, also Formulierungen wie „umweltschonend, weil schadstoffarm“, „weil frei von …“. Mehr ist dem Werbenden schwerlich zuzumuten. Im Übrigen dürften Mehranforderungen, weil vom Werbenden als drückend empfunden, das Potential zur Dämpfung umweltpolitisch erwünschten Engagements eignen. Kasuistik: Die Bewerbung einer Kapitalanlage mit den Aussagen „Für den Schutz der Lebensbedingungen der Erde“ und/oder „gut für die Umwelt“ schafft Konkretisierungsbedarf, dem freilich im Zeichnungsvorfeld mit der Erläuterung, es werde in „saubere Energieerzeugung“ und „Umwelttechnik“ investiert, entgegen KG, WRP 1996, 750, Genüge getan sein sollte.

Da es dem umweltbewussten „Durchschnittsverbraucher“ auf die Verbesserung des ökologischen Gesamtergebnisses ankommt, kann endlich starker, auf die Gesamtbilanz durchschlagender Progress in bestimmter Hinsicht die Benennung des konkreten Umweltverträglichkeitsgrunds per se entbehrlich machen: Ist die Verbesserung der Ökobilanz durch sektoralen Fortschritt – nachweislich – gleich derjenigen oder größer als diejenige, die der Referenzverbraucher in einschlägiger Unsicherheit erwartet, wirkt Aufklärung keinem geschäftsentscheidungserheblichen Irrtum entgegen, mangelt einer Information die Wesentlichkeit im Sinne von § 5a UWG. Der Bedeutungssinn des Zusatzes „bio“ changiert je nach Produktgruppe, für die er verwendet wird: Bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln darf der Verkehr Einhaltung der Vorgaben der EG-Öko-BasisVO (VO(EG) Nr. 834/ 2007) erwarten, wird andererseits aber auch nicht hinsichtlich überschießender Erwartungen geschützt.37 Bei industriell hergestellten, zum menschlichen Genuss bestimmten Produkten darf der Verkehr auf natürliche Wirkung, „Chemiefreiheit“ und 34

A.A. noch OLG Düsseldorf, WRP 1992, 209 (210). BGHZ 105, 277 (280) = WRP 1989, 160 (162) – Umweltengel; BGH, WRP 1989, 163 (164) – … aus Altpapier. 36 Explizite Ablehnung einer Sonderbeurteilung etwa bereits durch Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2002, § 25, Rn. 55. 37 Weidert, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig (Fn. 23), § 5 C, Rn. 188. 35

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Absenz gesundheitlicher Risiken setzen.38 Von einschlägig beworbenen Gebrauchsgegenständen darf erwartet werden, dass sie aus natürlichen Stoffen bestehen und von ihnen keine Gefahren für die Gesundheit ausgehen.39 2. „Frei von …“-Werbung Auf das Fehlen bestimmter, bekanntermaßen umweltbelastender Wirkstoffe darf bei der Bewerbung des angebotenen Produkts hingewiesen werden – auch wenn der Surrogatstoff seinerseits alles andere als umweltneutral ist oder das Produkt nach wie vor andere umweltbelastende Komponenten aufweist. Auch das Informationsgebot nach § 5a UWG hält nicht ohne Weiteres zur Benennung verbleibender negativer Eigenschaften an: Der Unternehmer muss sein Produkt nicht schlechtreden, kann zumindest vorrangig die guten Eigenschaften betonen.40 Zu beachten bleibt freilich, dass die einschlägige „Frei von …“-Werbung mittelbar eine relative Umweltverträglichkeitsberühmung enthält und damit einen signifikanten ökologischen Fortschritt verspricht: Die Absenz bestimmter gebräuchlicher Schadstoffe und die Meidung bei Konkurrenzprodukten gängiger Schadstoffwirkungen rechtfertigen kein werbliches Herausstellen dieses Umstands, wenn das Produkt in der Saldierung aufgrund anderer Schadstoffe/Schadstoffwirkungen nicht weniger umweltbelastend ist als die herkömmlicherweise angebotenen und verwendeten Erzeugnisse. Verbliebene hohe Umweltschädlichkeit steht einer – wahrheitsgemäßen – „Frei von …“-Werbung selbst dann entgegen, wenn das beworbene Produkt durchaus weniger umweltschädlich als die Konkurrenzprodukte ist. 3. Umweltappelle Die Aufforderung, mit dem Kauf des beworbenen Produkts etwas für die Umwelt zu tun, beinhaltet im Allgemeinen eine mittelbare, je nach Fall pauschale oder konkrete Umweltverträglichkeitsberühmung. Für die Beurteilung am Maßstab des § 5 UWG gilt insoweit das für die Verwendung von Umweltbegriffen Ausgeführte entsprechend. Unter altem Recht ins Spiel gebrachte Verbotsschranken aus dem Gesichtspunkt gefühlsbetonter Werbung (einschließlich der sog. Angstwerbung) werden allenfalls noch bei exzessiver Gefühlsansprache thematisiert. Im Grundsatz ist es dem Werbenden unbenommen, Informationen über positive ökologische Produkteigenschaften mit einer Ansprache des Umweltbewusstseins zu verbinden. Der „Durchschnittsverbraucher“ wird durch die Ansprache veranlasst, das ökologische Moment in seine 38

Weidert, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig (Fn. 23), § 5 C, Rn. 187. Bornkamm, in: Köhler/ders. (Fn. 11), § 5, Rn. 4.65. 40 Statt mancher: Nordemann, in: Götting/ders. (Fn. 23), § 5a, Rn. 117. Für eine umfassende einschlägige Aufklärungspflicht freilich wohl Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, 8. Aufl., 2009, § 14, Rn. 59. 39

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Marktentscheidungsüberlegungen einzubeziehen, erliegt indes gemeinhin nicht der Versuchung, Qualität und Preis bei seinen Erwägungen gänzlich in den Hintergrund treten zu lassen.41

III. Werbliche Herausstellung des eigenen betrieblichen Umweltengagements Formen und Verbotsschranken der Werbung mit dem allgemeinen betrieblichen Umweltengagement entsprechen im Grundsatz den Formen und Grenzen (einzel-) produktbezogener Werbung. Im Zentrum einschlägiger Überlegung stehen demgemäß auch hier die Frage, ob allgemeine Berühmungen vom relevanten Verkehr als Hinweis dahin verstanden werden, der Geschäftsbetrieb des werbenden Unternehmens sei mit keinerlei nennenswerten Umweltbelastungen verbunden, führe jedenfalls nur zu solchen Umweltbelastungen, die nach derzeitigem Stand der Technik schlechterdings nicht zu vermeiden, oder aber nur als relative Umweltverträglichkeitsberühmung verstanden werden bzw. verstanden werden dürfen, weiters die Frage, ob und inwieweit Umweltverträglichkeitsberühmungen unter dem Gesichtspunkt der Unsicherheit über den Grund der geltend gemachten Umweltverträglichkeit Aufklärungs- bzw. Informationsobliegenheiten begründen. Auch für das Herausstreichen des eigenen betrieblichen Umweltengagements gilt: Dass einschlägige Berühmung mangels den Gegenschluss rechtfertigender Sonderumstände nur die Geltendmachung relativer Umweltverträglichkeit, sollte unter neuem Recht außer Frage stehen. Die Entscheidung KG, GRUR 1993, 766, ist aus heutiger Sicht Spruchgeschichte. Sollte der Slogan „Schützt unsere Umwelt! Wie wir von K.“ bei einem Teil des angesprochenen Verkehrs wirklich den Eindruck erweckt haben, das Unternehmen stehe unter Umweltgesichtspunkten in jeder Hinsicht unangreifbar da, zählte dieser Teil nach neuem Verbraucherleitbild nicht mehr zum relevanten Verkehr. Dass mit der Handelsform des werbenden Unternehmens notwendigerweise bestimmte Umweltbelastungen verbunden sind (das KG nennt u. a. den motorisierten Liefer- und Kundenverkehr, die naturferne Nutzung von Bodenflächen als Parkraum und das Handeln mit Waren in Fertigpackungen), verschlägt nicht.

Unsicherheit über den Grund des ökologischen Fortschritts hat der Werbende durch Konkretisierung entgegenzuwirken, wobei auch hier die Anforderungen freilich nicht zu hoch angesetzt werden sollten. Ist das Gesamtquantum effektiver Umweltförderung gleich oder größer als das vom Verkehr bei Unsicherheit über Art und Breite des Umweltengagements höchstens erwartete, mangelt dem allfälligen Irrtum über den Grund der Umweltberühmung zudem die wettbewerbliche Relevanz, räumt die entsprechende Information keine Unsicherheit zulasten des Werbeadressaten aus. 41

Wiebe, in: Fezer (Fn. 28), § 4 S 2, Rn. 49 f.

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Kasuistik: Der Erhalt von vier Umweltpreisen in den letzten Jahren lässt in Aufsummierung einen erheblichen Umweltschutzbeitrag vermuten. Das ausgezeichnete Unternehmen darf sich wohl auch ohne nähere Spezifizierung als dem Umweltschutz verpflichtet bezeichnen.42

Judikate, die Hinweise auf bestimmte Formen eines betrieblichen Umweltengagements (etwa durch Wahl eines weniger umweltbelastenden Verpackungsmaterials) als unzulässige gefühlsbetonte Werbung und damit als Verstoß gegen § 4 Nr. 1 UWG abqualifizieren, lassen sich aus heutiger Sicht nicht fortschreiben. Kasuistik: Entgegen LG Frankfurt, WRP 1994, 554, einer bereits nach altem Recht fragwürdigen Entscheidung, ist es zumindest aus heutiger Sicht fraglos zulässig, Papiertüten zur Verpackung gekaufter Ware mit dem Aufdruck „Der Natur zuliebe Verpackungen aus Papier“ zu versehen.

IV. Ökosponsoring-Werbung 1. Umweltsponsoring ohne Absatzkopplung Einschlägige Werbung ist im Kern, auch wenn sie äußerlich in eine produktbezogene Werbebotschaft verpackt ist, Imagewerbung, wurde als solche verbreiteter Ansicht nach bereits unter altem Recht43 als zulässig erachtet. Heute steht die lauterkeitsrechtliche Unschädlichkeit der Gefühlsansprache als solcher außer Diskussion. Der Werbende setzt auf den Aufbau einer Sympathiebeziehung. Die Möglichkeit rationaler Marktentscheidung in Orientierung an Qualität, Preis und sonstigen Sachkriterien bleibt unberührt.44 Angaben darüber, wie viel der Werbende, wann, wie lange und für welchen genauen Zweck spendet, sind rechtlich nicht geboten – weder nach § 4 Nr. 1 noch nach § 5a UWG.45 Durch spezifizierende Angaben ausgelöste Erwartungen sind frei-

42

A.A. noch KG, GRUR 1993, 766. Lappe (Fn. 7), S. 194 ff.; Federhoff-Rink, Social Sponsoring in der Werbung, GRUR 1992, 643 (651 f.); Teichmann/van Krüchten, Kriterien gefühlsbetonter Werbung, WRP 1994, 708; Wiebe, Zur „ökologischen Relevanz“ des Wettbewerbsrechts, WRP 1993, 798 (810 f.). A.A. für die Parallelproblematik des Soziosponsorings im Bereich des Artenschutzes freilich noch OLG Stuttgart, WRP 1996, 628 (631 f.). 44 Repräsentativ: BGH, GRUR 2007, 247 Tz. 19 = WRP 2007, 303 – Regenwaldprojekt I; GRUR 2007, 251 Tz. 16 = WRP 2007, 308 – Regenwalprojekt II; Wiebe, in: Fezer (Fn. 28), § 4 S 2, Rn. 88 f.; Seichter, Das Regenwaldprojekt – Zum Abschied von der Fallgruppe der gefühlsbetonten Werbung, WRP 2007, 230 (234). 45 Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann (Fn. 28), § 59, Rn. 477; Seichter (Fn. 44), 230 (235, 237). A.A. freilich Henning-Bodewig, Neuorientierung von § 4 Nr. 1 und 2 UWG?, WRP 2006, 621 (626) sowie Nordemann/Dustmann, Gefühlsbetonte Werbung – Quo Vadis?, in: FS für Winfried Tilmann, 2003, S. 207 (217). 43

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lich allemal einzulösen.46 Ohne Konkretisierung erwartet der Verkehr berechtigterweise, dass das werbende Unternehmen eine zeitnahe Unterstützungsleistung in einer Größenordnung erbringt, die eine werbliche Herausstellung rechtfertigt.47 Hoher werblicher Aufwand lässt auf eine entsprechend hohe Zuwendung schließen.48 Erwartungsenttäuschung spricht durchgängig das Irreführungsverbot nach § 5 UWG an. 2. Umweltsponsoring mit Absatzkopplung Werbliche Ankündigungen, man lasse eine Teil des Erlöses aus dem Verkauf des beworbenen Produkts bestimmten Umweltorganisationen oder -programmen zukommen, wurden unter altem Recht überwiegend als unzulässige gefühlsbetonte Werbung stigmatisiert – auch von Autoren, die Soziosponsoring im Übrigen durchaus als zulässig erachteten.49 Für unzulässig wurden beispielsweise erklärt: Die Werbung eines Kölner Autoherstellers „Ein Wagen von F. – ein Baum für Köln“;50 die Werbeaktion „Grüner Groschen“ eines Pflegemittelherstellers „Für 6 Monate werden wir von jedem verkauften B.-Produkt 10 Pfennig an die Stiftung Wald in Not, Gemeinschaftsaktion zu Rettung des Waldes, abführen, ohne dass wir unsere Produkte auch nur einen Pfennig teurer machen“.51

Der Abschied vom Sachlichkeitsgebot und der Verbraucherleitbildwandel zwangen und zwingen auch insoweit zur Neupositionierung: Darüber, ob akzessorische gefühlsbetonte Werbung bei 10 – 15 % der Gesamtverbraucherschaft die Fähigkeit zu einer abwägenden, Kriterien wie Qualität, Preis und Service mitberücksichtigenden Entscheidung untergräbt, mochte zu Recht diskutiert werden. Aus der Sicht des Referenzverbrauchers europäischer Prägung ist einschlägige Verleitungsgefahr tendenziell eindeutig zu verneinen. Der angemessen informierte und kritische Durchschnittsverbraucher mag sich bei seiner Marktentscheidung von der Vorstellung leiten lassen, mit dem Erwerb des entsprechenden Produkts zugleich etwas für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun; den Hauptnutzen und den Preis des Kopplungsangebots wird er über den ideellen Zusatznutzen nicht aus dem Blick lassen. Ein dem Wahrheitsgebot entsprechender werblicher Hinweis auf das akzessorische Ökosponsoring verstößt daher weder gegen § 5 noch gegen § 4 Nr. 1 UWG.52 46 Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann (Fn. 28), § 59, Rn. 477; Sosnitza, in: Piper/Ohly/ ders. (Fn. 11), § 5, Rn. 308. 47 Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann (Fn. 28), § 59, Rn. 477. 48 Seichter (Fn. 44), 230 (236). 49 Federhoff-Rink (Fn. 43), 643 (651); Wiebe (Fn. 43), WRP 1993, 798 (809 f.); Teichmann/van Krüchten (Fn. 43), 704 (707 f.). 50 KG, GRUR 1984, 605. 51 LG Hamburg, WRP 1986, 59. 52 BGH, GRUR 2007, 247 Tz. 18 ff. = WRP 2007, 303 – Regenwaldprojekt I; GRUR 2007, 251 Tz. 15 ff. = WRP 2007, 308 – Regenwaldprojekt II; Wiebe, in: Fezer (Fn. 28), § 4 S 2, Rn. 85 f.; Seichter (Fn. 44), 230 (235).

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Wie beim nichtakzessorischen müssen auch beim akzessorischen Ökosponsoring Art und Weise der Unterstützung und die Höhe der Spende nicht genannt werden:53 Ohne Konkretisierung geht der relevante Verkehr davon aus, dass das werbende Unternehmen zeitnah überhaupt eine Sponsorleistung erbringt und diese nicht so geringfügig ist, dass sie die werbliche Herausstellung nicht rechtfertigt.54 Detailaussagen sind auch nicht nach § 5a UWG geschuldet:55 Wesentlich im Sinne dieser Vorschrift ist eine Information nur dann, wenn das Ausräumen der Unsicherheit der Gefahr einer negativen Marktentscheidung steuert. Eine solche Gefahr besteht bei einer der Verkehrserwartung entsprechenden Sponsorleistung indes gerade nicht. Konkretisiert das werbende Unternehmen in Nutzung des Erfahrungssatzes, dass Spezifizierung absatzfördernd wirkt, den eigenen Beitrag, müssen die hierdurch geweckten Erwartungen erfüllt werden. In Angaben, die die Förderleistung schlagwortartig kennzeichnen, sind freilich keine überzogenen Verkehrserwartungen hineinzulesen: Wer für die Verkaufseinheit einen Betrag an den WWF abführt, der nach der Kalkulation desselben für eine sinnvolle Bewirtschaftung und Überwachung pro Quadratmeter Regenwald für ein bestimmtes Schutzprojekt jährlich erforderlich ist, darf bildhaft-griffig mit der Aussage werben, dass mit jeder Verkaufseinheit ein Jahr lang 1 qm Regenwald geschützt wird.56

V. Zusammenfassung und Ausblick Betrachtet man die lauterkeitsrechtliche Einschätzung umweltbezogener Werbung auf der Zeitschiene, lassen sich zusammenfassend zwei, mit den Stichworten Liberalisierung und Konsolidierung zu umschreibende, Tendenzen konstatieren. Die einschlägige Liberalisierung spiegelt zunächst die das neuere Lauterkeitsrecht allgemein kennzeichnende Schutzniveausenkung, erhält indes einen zusätzlichen Schub durch den Abschied vom gebietsspezifischen „Strengeprinzip“. Inwieweit das konditionierte, mannigfach gestufte Informationsgebot nach § 5a UWG die Schutzniveausenkung relativiert, ist eine derzeit offene Frage. Inflationäre Statuierung von Informationsobliegenheiten in Konkretisierung der Vorschrift durch die Rechtsprechung ist indes kaum zu befürchten.

53 Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann (Fn. 28), § 59, Rn. 477; Stuckel, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig (Fn. 23), § 4 Nr. 1, Rn. 161; Steinbeck, Übertriebenes Anlocken, psychischer Kaufzwang etc. … gibt es sie doch noch?, GRUR 2005, 540 (547); Seichter (Fn. 44), 230 (235 f.). A.A. Henning-Bodewig (Fn. 45), 621 (626); Götting, in: ders./Nordemann (Fn. 23), § 4 Nr. 1, Rn. 1.75. 54 BGH, GRUR 2007, 247 Tz. 25 = WRP 2007, 303 – Regenwaldprojekt I; GRUR 2007, 251 Tz. 22 – Regenwaldprojekt II; Helm, in: Gloy/Loschelder/Erdmann (Fn. 28), § 59, Rn. 477. 55 A.A. Henning-Bodewig (Fn. 45), 621 (626). 56 A.A. OLG Hamm, WRP 2003, 396 (397 f.).

Lauterkeitsrechtliche Beurteilung umweltbezogener Werbung

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Konsolidierung heißt vor allem: Viele Aussagen, die früher in Streit standen, stehen nunmehr außer Diskussion, lassen sich zumindest begründungsfester treffen. Das Zurückschneiden zu strenger lauterkeitsrechtlicher Zulässigkeitsvoraussetzungen umweltbezogener Werbung und die mit der Konsolidierung einhergehende Zunahme an Rechtssicherheit bei der Einschätzung dessen, was an umweltbezogener Werbung erlaubt ist, mehren die Chancen einer umweltschützenden Indienstnahme von Individualinteressen über den Marktmechanismus. Im Übrigen sollte nicht aus dem Blick geraten, dass das Lauterkeitsrecht bei der Bekämpfung nicht zu tolerierender Umweltwerbung einen ebenso stillen wie mächtigen Verbündeten hat, nämlich ein gewisses Eigeninteresse des Werbenden: Oberstes Prinzip eines nachhaltig erfolgreichen Öko-Marketings ist – in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur nicht von ungefähr betont57 – die Glaubwürdigkeit. Irreführungspraktiken, das Vorenthalten wesentlicher Information und eine die Rationalität ausschaltenden Gefühlsansprache wirken mittel- und langfristig betriebswirtschaftlich kontraproduktiv.

57 Repräsentativ: Töpfer, Öko-Marketing, in: Poth (Hrsg.), Marketing, 2. Aufl., 1993, Kap. 63, Rn. 101.

Zivilrechtliche Aspekte „virtueller Kraftwerke“ Von Peter Marburger

I. Zum Begriff „virtuelles Kraftwerk“ Unter einem virtuellen Kraftwerk versteht man den Zusammenschluss vieler kleiner, dezentraler Stromerzeugungsanlagen, die miteinander verbunden sind, zentral gesteuert werden und zentrale disponible Kraftwerksleistung ersetzen können1. Es handelt sich also um die Zentralisierung dezentraler Stromerzeugung. Der Begriff „virtuelles Kraftwerk“ ist, genau betrachtet, irreführend, weil sowohl die miteinander verbundenen Anlagen als auch deren gekoppelte Kraftwerksleistung sehr wohl physisch vorhanden sind2. Treffendere Bezeichnungen wären etwa Verbundkraftwerk, Sammelkraftwerk oder kumulatives Kraftwerk3. Da sich der Ausdruck „virtuelles Kraftwerk“ in der Literatur aber durchgesetzt hat, soll er auch hier gebraucht werden. Als miteinander zu verbindende Einzelanlagen kommen grundsätzlich viele Arten kleinerer Stromerzeuger in Betracht. Aus technischen und ökonomischen Gründen stehen jedoch Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK), die durch Brennstoffzellen oder durch Gas- bzw. Erdöl gespeiste Verbrennungsmotoren angetrieben werden und denen man die größten Realisierungschancen beimisst, im Mittelpunkt des Interesses. Die sog. „Mikro-KWK-Anlagen“ werden besonders deshalb geschätzt, weil sie außer der benötigten Wärme für die Gebäudeheizung elektrischen Strom erzeugen, der den jeweiligen Eigenbedarf z. B. eines Einfamilienhauses decken und dessen etwaiger Überschuss gegen Entgelt in das öffentliche Stromnetz eingespeist werden kann. Da die „Stromerzeugung nahe am Konsumenten stattfindet und die dabei entstehende Wärme direkt im Gebäude genutzt werden kann“, sind Leitungsverluste deutlich geringer und der Wirkungsgrad wesentlich höher als bei der Produktion von Heizwärme und elektrischer Energie mit herkömmlichen Heizgeräten und Kraftwerken4. Der geringere Verbrauch von Primärenergie dient der

1

Droste-Franke/Berg/Kötter/Krüger/Mause/Pielow/Romey/Ziesemer, Brennstoffzellen und Virtuelle Kraftwerke, in: Gethmann (Hrsg.), Ethics of Science and Technology Assessment, Bd. 36, 2009, S. 81. 2 Ähnlich Wikipedia, Art. Virtuelles Kraftwerk. 3 Bei Wikipedia (Fn. 2) wird „Cluster- oder Schwarmkraftwerk“ vorgeschlagen. 4 Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 128.

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Ressourcenschonung und infolge der niedrigen Schadstoffemissionen zugleich dem Umweltschutz. Während durch Verbrennungsmotoren auf der Basis von Erdgas oder Erdöl angetriebene Mikro-KWK-Geräte in Ein- oder Zweifamilienhäusern in Deutschland bereits tausendfach im Leistungsbetrieb arbeiten, befinden sich BrennstoffzellenKWK-Anlagen wohl noch in der abschließenden Erprobung. Allerdings scheinen die grundlegenden Probleme der Brennstoffzellentechnik inzwischen im Wesentlichen gelöst zu sein. Wegen ihrer ökonomischen und ökologischen Vorteile dürften die Brennstoffzellen-KWK-Anlagen für die dezentrale Energieerzeugung in der Zukunft von besonderer Bedeutung sein5. Im Folgenden sollen weder die naturwissenschaftlich-technischen noch die ökonomischen Aspekte virtueller Kraftwerke näher betrachtet werden6. Auch bleiben die öffentlich-rechtlichen, insbesondere die speziellen umweltrechtlichen und energierechtlichen Regelungen7 außer Ansatz, soweit sie nicht für die zivilrechtliche Bewertung herangezogen werden müssen. Zunächst sollen einige zivilrechtliche Fragen des Betriebs der einzelnen Anlage erörtert werden (unten II.), bevor abschließend der Anlagenverbund des virtuellen Kraftwerks aus zivilrechtlicher Sicht beleuchtet werden soll (unten III.).

II. Zivilrechtliche Aspekte des Betriebs einzelner Anlagen 1. Eigentum an der Anlage Wenn der Eigentümer eines Ein- oder Mehrfamilienhauses die im Keller arbeitende Mikro-KWK-Anlage selbst betreibt, wie dies bei herkömmlichen Gas- oder Ölheizungen die Regel ist, sind die Eigentumsverhältnisse hinsichtlich der Anlage völlig unproblematisch und eindeutig: Die Anlage gehört dem Hauseigentümer. Hat er das Hausgrundstück, z. B. auf der Grundlage eines Kaufvertrages (§ 433 BGB), mitsamt der KWK-Anlage rechtsgeschäftlich erworben, so ist das Eigentum durch Auflassung und Eintragung der Rechtsänderung im Grundbuch nach §§ 925, 873, 93, 94 BGB auf ihn übergegangen, da die Heizanlage in der Regel wesentlicher Bestandteil des Hausgrundstücks ist (§§ 94, 93 BGB). Selbst wenn dies ausnahmsweise nicht zuträfe, wäre die Anlage aber jedenfalls Zubehör gemäß § 97 Abs. 1 BGB und als solches nach §§ 925, 873, 97 Abs. 1, 926 Abs. 1 (311c) BGB auf ihn übertragen worden. Ist die Anlage nachträglich in das Gebäude eingebaut worden, hat der Hauseigentümer das Eigentum an ihr in aller Regel schon vor der endgültigen Installation auf der Grundlage eines schuldrechtlichen Werklieferungsvertrages (§ 651 BGB) 5 Eingehend zur naturwissenschaftlich-technischen Seite der Brennstoffzellen-KWK-Anlagen Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 43 ff. m.w.N. 6 Dazu ausführlich Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 11 ff., 43 ff., 133 ff. m.w.N. 7 Eindringlich dazu Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 191 ff. m.w.N.

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durch Übereignung nach §§ 929, 854 Abs. 1 BGB erworben. Bei fester Verbindung mit dem Hausgrundstück würde im Übrigen gesetzlicher Eigentumserwerb gemäß §§ 946, 93, 94 BGB eingetreten sein. Entsprechend gestaltet sich die Rechtslage, wenn das Gebäude in Eigentumswohnungen aufgeteilt ist. Allerdings ist Eigentümer hier die Wohnungseigentümergemeinschaft, weil Heizungsanlagen nach §§ 1 Abs. 5, 5 Abs. 2 WEG zum gemeinschaftlichen Eigentum zählen8. Jeder Miteigentümer ist entsprechend seinem Anteil am Gesamtobjekt an der KWK-Anlage beteiligt. Komplizierter gestaltet sich die Eigentumslage, wenn der Gebäudeeigentümer die Anlage nicht selbst betreiben, sie auch nicht zu Eigentum erwerben, sondern nur mieten soll. Solche Vertragsgestaltungen sind schon heute im Rahmen von Contracting-Verträgen zu beobachten9. Sie werden zukünftig wohl noch größere Bedeutung erlangen, denn zunehmend interessiert sich die Automobilindustrie für die Vermarktung und den Betrieb von kleinen KWK-Anlagen, zum Beispiel von Blockheizkraftwerken, die von Verbrennungsmotoren angetrieben werden. So kooperiert die Volkswagen AG mit dem Ökostromanbieter „Lichtblick“, wobei die Verbraucher das Minikraftwerk nicht kaufen, sondern nur mieten müssen10. Problematisch ist die Eigentumslage hier deshalb, weil die in ein Gebäude eingebaute Zentralheizungsanlage normalerweise wesentlicher Bestandteil nach §§ 93, 94 BGB wird, also im Eigentum des Grundstückseigentümers steht11. Das gilt jedoch nicht für solche Sachen, die nur zu einem vorübergehenden Zweck mit dem Grund und Boden verbunden (§ 95 Abs. 1 BGB) bzw. in ein Gebäude eingefügt sind (§ 95 Abs. 2 BGB). Dies dürfte bei der von einem Contractor aufgrund eines zeitlich begrenzten Nutzungsrechts eingebauten KWK-Anlage zu bejahen sein12. Allerdings müsste aus dem Vertragstext die zeitliche Begrenzung des Nutzungsrechts und damit der nur vorübergehende Zweck i.S. des § 95 BGB deutlich hervorgehen. Das Eigentum an der Anlage verbleibt dann beim Contractor, eventuell bei einem in die Vertragsabwicklung eingeschalteten Leasinggeber. Dem Gebäudeeigentümer steht nur ein ihm vertraglich eingeräumtes Besitzrecht zu.

8 Str., vgl. Commichau, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6, 5. Aufl., 2009, § 5 WEG, Rn. 27 f.; Rapp, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2005, § 5 WEG, Rn. 34 ff., jeweils m.w.N. 9 Zum Contracting näher unten III.4. 10 Siehe FAZ Nr. 190 vom 17. 08. 2011, S. 14. 11 Zur Heizungsanlage als wesentlicher Bestandteil siehe Jickeli/Stieper, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearb. 2012, § 94, Rn. 31 m.w.N. 12 Schreiber, Eigentumserwerb an Heizungsanlagen bei gewerblicher Wärmelieferung (Contracting), NZM 2002, 320; Schweizer, Das Eigentum an der Energieerzeugungsanlage, WuM 2006, 415; Holch, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1, 5. Aufl., 2006, § 95, Rn. 16; Ellenberger, in: Palandt, BGB, 71. Aufl., 2012, § 95, Rn. 3.

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2. Mietrechtliche Probleme Die Etablierung von Mikro-KWK-Anlagen in der Wohnungswirtschaft stößt auf nicht geringe rechtliche Schwierigkeiten. Üblicherweise liefert der Vermieter mit Hilfe einer Gas- oder Ölzentralheizung dem Mieter nur die für die Raumheizung und die Warmwasserbereitung benötigte Wärme. Den elektrischen Strom bezieht der Mieter dagegen direkt von einem Energieversorgungs- oder Stromhandelsunternehmen. Die Heizkosten legt der Vermieter gewöhnlich gemäß § 556 BGB durch den Mietvertrag nach vorgegebenen rechtlichen Regeln13 als Betriebskosten auf die Mieter um. KWK-Anlagen erzeugen Wärme und Strom. Darauf sind die mietrechtlichen Vorschriften nicht zugeschnitten, was verständlicherweise zu Anwendungsproblemen führt. Keine Schwierigkeiten entstehen bei einem neu errichteten Mietshaus mit ausschließlich nicht preisgebundenem (preisfreiem) Wohnraum, in das von Anfang an eine vom Vermieter zu betreibende KWK-Anlage installiert ist. Hier können die Mietvertragsparteien im Rahmen des § 556 BGB14 vereinbaren, dass der Mieter Wärme und Strom aus der hauseigenen Anlage bezieht, deren Betriebskosten gemeinsam mit den anderen Mietern nach den gesetzlichen Berechnungsvorschriften anteilig trägt und an dem Erlös aus der Einspeisung überschüssigen Strom in das öffentliche Versorgungsnetz15 angemessen beteiligt wird. Rechtliche Probleme treten aber auf, wenn der Vermieter in einem bestehenden Mietshaus die vorhandene, veraltete Zentralheizung durch eine KWK-Anlage ersetzen will. Konkret geht es darum, ob die Mieter diese Maßnahme nach § 554 Abs. 2 BGB dulden müssen und ob der Vermieter nach deren Durchführung die Jahresmiete um 11 % der für die Wohnungen aufgewendeten Kosten erhöhen darf (§ 559 Abs. 1 BGB). Nach § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB hat der Mieter unter anderem „Maßnahmen zur Einsparung von Energie“ zu dulden. Wenn diese Maßnahmen „nachhaltig Einsparungen von Energie … bewirken (Modernisierung)“, kann der Vermieter nach § 559 Abs. 1 BGB in dem genannten Umfang die Miete erhöhen. Die Frage, ob für die energetische Modernisierung und damit für die Duldungspflicht des Mieters (§ 554 Abs. 2 Satz 1 BGB) und die korrespondierende Möglichkeit der Mieter13 Vgl. Betriebskostenverordnung (BetrKV) vom 25. 11. 2003 (BGBl. I, S. 2346); zweite Berechnungsverordnung (BV 2) vom 12. 10. 1990 (BGBl. I, S. 2178), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. 09. 2001 (BGBl. I, S. 2376, 2397) und BetrKV vom 25. 11. 2003 (a.a.O.); Heizkostenverordnung (HeizkostenV) vom 23. 02. 1981 (BGBl. I, S. 261) in der Fassung vom 20. 01. 1989 (BGBl. I, S. 115), novelliert durch Verordnung über Heizkostenabrechnung vom 02. 12. 2008 (BGBl. I, S. 2375); ausführlich zu den Betriebskostenregelungen Weitemeyer, in: Staudinger (Fn. 11), Neubearb. 2011, § 556, Rn. 11 ff.; zur HeizkostenV Weitemeyer, ebda. Anhang zu §§ 556, 556a. 14 Vgl. § 556 Abs. 4 BGB. 15 Zur Anschluss-, Abnahme- und Vergütungspflicht der Netzbetreiber bei KWK-Anlagen siehe § 4 KWKG (Gesetz für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der KraftWärme-Kopplung – Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz) vom 19. 03. 2002 (BGBl. I, S. 1092), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. 07. 2011 (BGBl. I, S. 1634).

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höhung durch den Vermieter (§ 559 Abs. 1 BGB) die Einsparung von Primärenergie genügt oder ob zusätzlich eine Energieeinsparung beim Mieter (Endenergie) eingetreten sein muss, ist lebhaft umstritten16. Der Einsatz von Mikro-KWK-Anlagen verringert infolge der dezentralen Stromerzeugung den Primärenergiebedarf in zentralen, großen Kraftwerken, aber nicht im Mietobjekt. Dort ist sogar ein höherer Energiebedarf denkbar17. Die Streitfrage ist für Mikro-KWK-Anlagen also von erheblicher Bedeutung. Für den Anschluss einer Wohnung an das durch KWK-Anlagen gespeiste Fernwärmenetz hat der Bundesgerichtshof mit ausführlicher, insbesondere auf die Entstehungsgeschichte des § 554 Abs. 2 BGB und die den Umweltschutz und die Ressourcenschonung betonenden Motive des Gesetzgebers abstellenden Begründung entschieden, dass die Einsparung von Primärenergie für die Duldungspflicht nach § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB genüge, auch wenn dadurch beim Mieter keine Energie und somit auch keine Heizkosten eingespart würden18. Dem entspricht auch die herrschende Meinung in der Literatur19. Allerdings hat der BGH die Frage, ob zur Anwendung des § 554 Abs. 2 BGB die bloße Einsparung von Primärenergie genügt, nicht abschließend entschieden, sondern für andere Fälle als den Anschluss an ein Fernwärmenetz ausdrücklich offengelassen20. Aber auch unabhängig davon besteht Anlass zu erneutem Nachdenken über das Problem, weil das einseitige Abstellen auf die Ersparnis von Primärenergie nicht überzeugen kann. Gegen die Auffassung des BGH und der herrschenden Literaturmeinung sprechen vor allem zwei Argumente: Das erste ist dogmatischer Natur und betrifft die Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen gesetzlicher Duldungspflicht des Mieters (§ 554 Abs. 2 BGB) und dem Recht des Vermieters zur Mieterhöhung (§ 559 Abs. 1 BGB). Beide Vorschriften sind ersichtlich aufeinander bezogen, müssen also zur Interpretation gemeinsam in den Blick genommen werden21. Dabei drängt 16 Zum Streitstand siehe BGH, NJW 2008, 3630 (3631, Tz. 22); Emmerich, in: Staudinger (Fn. 11), Neubearb. 2011, § 554, Rn. 18, 19, jeweils m.w.N. 17 Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 215. 18 BGH, NJW 2008, 3630 (3631, Tz. 22); ebenso schon LG Berlin, NJW-RR 2001, 1590; GE 2005, 1193; 2007, 849; LG Hamburg, NZM 2006, 536. In anderem Kontext zu §§ 554, 559 BGB vgl. BGH, NJW 2009, 1736 f.; 2009, 1737 f.; 2011, 3514 f. 19 Siehe u. a. Blank, Mietrecht und Energieeffizienz, WuM 2008, 311 (317 f.); Franke, Modernisierungs- und Erhaltungsmaßnahmen – Duldungspflicht des Mieters (§ 554 BGB), DWW 2009, 138 (143 f.); Mersson, Mieterhöhung bei Modernisierung – Ein Überblick über die Voraussetzungen des § 559 BGB, DWW 2009, 122 (124); Bieber, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 3, 5. Aufl., 2007, § 554, Rn. 18; wohl auch Emmerich, in: Staudinger (Fn. 11), Neubearb. 2011, § 554, Rn. 19; a.A. Eisenschmid, Die Energieeinsparung im Sinne der §§ 554, 559 BGB, WuM 2006,120 f.; Flatow, Die energetischen Anforderungen an das Wohnen heute und morgen, NZM 2008, 785 (792 ff.); Meyer-Harport, Fernwärme statt Gasetagenheizung, NZM 2006, 524 ff.; Sternel, Wohnraummodernisierung nach der Mietrechtsreform, NZM 2001, 1058. 20 BGH, NJW 2008, 3630 (3631, Tz. 22 a.E.). 21 So auch BGH, NJW 2008, 3630 (Tz. 13, 14).

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sich die Erwägung auf, dass der Vermieter zur Mieterhöhung berechtigt sein soll, weil auch der Mieter Vorteile aus der Modernisierungsmaßnahme zieht. Sie bestehen zum Beispiel in einer Erhöhung des Gebrauchswerts oder einer Steigerung des Wohnkomforts. Eine energetische Modernisierung bringt dem Mieter vor allem dann einen Gewinn, wenn sich die Energieeinsparung zumindest auch auf seine Mietwohnung auswirkt, wenn also nicht nur Primärenergie, sondern auch Endenergie eingespart wird. Sein Vorteil liegt dann darin, dass sich seine anteiligen Energiekosten reduzieren oder (bei steigenden Energiepreisen) nicht oder nur in geringerem Ausmaß erhöhen. Es ist schwer vorstellbar, dass der Gesetzgeber diesen naheliegenden Zusammenhang außer Betracht gelassen haben sollte22, auch wenn in seinen Erwägungen Aspekte der Ressourcenschonung und des Umweltschutzes betont werden23. Wenn man mit der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur für das Erfordernis einer Energieeinsparung die Verringerung des Primärenergiebedarfs genügen ließe, ohne zugleich auch eine Reduzierung der Endenergie zu verlangen, wäre die gesetzlich vorgegebene, ausgewogene Balance zwischen § 554 Abs. 2 und § 559 Abs. 1 BGB zerstört. Das zweite Argument ist eher ökonomischer Natur. Bei den stark gestiegenen und auf absehbare Zeit wohl noch weiter steigenden Energiepreisen machen die Energiekosten einen unverhältnismäßig hohen Anteil der auf die Mieter umlegbaren Betriebskosten aus. Das hat zu einem starken Anstieg der Betriebskosten geführt, man spricht von einer „zweiten Miete“. Ein Vermieter wird daher Modernisierungsmaßnahmen zur Energieeinsparung nur dann durchführen, wenn er die Mieterhöhung nicht nur nach § 559 Abs. 1 BGB gegenüber seinem derzeitigen Mieter, sondern auch (fiktiv) im relevanten, allgemeinen Wohnungsmarkt durchsetzen könnte. Anderenfalls liefe er Gefahr, längere Leerstandzeiten zu erleiden. Die wünschenswerte, im allgemeinen Interesse liegende Energieeinsparung lässt sich also schon aus diesem Grund zukünftig wohl nur realisieren, wenn außer dem Primärenergieauch der Endenergieverbrauch reduziert und der Mieter somit spürbar entlastet wird. Beide Argumente sprechen dafür, dass man „im Interesse des gebotenen Mieterschutzes daran festhalten (sollte), dass § 554 Abs. 2 BGB nur anwendbar ist, wenn mit der fraglichen Maßnahme auch eine spürbare Einsparung von Energie für den einzelnen Mieter verbunden ist“24. Für Mikro-KWK-Anlagen entschärft sich das Problem möglicherweise, wenn der Mieter an dem Erlös aus der Einspeisung des erzeugten (Überschuss-)Stroms in das öffentliche Stromnetz25 beteiligt wird und damit einen finanziellen Ausgleich für die erhöhte Miete und die eventuell gestiegenen Heizkosten erhält.

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Ähnlich Meyer-Harport (Fn. 19), 524 (526). Siehe BGH, NJW 2008, 3630 (3631 f., Tz. 22 ff.). 24 Emmerich, in: Staudinger (Fn. 11), Neubearb. 2011, § 554, Rn. 19; im Ergebnis ebenso Eisenschmid, Flatow, Meyer-Harport, Sternel, alle wie Fn. 19. 25 Vgl. §§ 4 ff., 7 KWKG (Fn. 15). 23

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III. Zivilrechtliche Aspekte des Zusammenschlusses von Anlagen zu einem Kraftwerkverbund („virtuellen Kraftwerk“) 1. Vorzüge des virtuellen Kraftwerks Die Vorteile der Energieerzeugung durch Mikro-KWG-Anlagen bestehen im Vergleich zu zentralen Großkraftwerken in der dezentralen, verbrauchsnahen Produktion, die Leitungsverluste weitgehend ausschließt, in dem infolge der Kopplungsproduktion von Strom und Wärme erzielbaren wesentlich höheren Wirkungsgrad von 80 – 90 % und in der Einsparung von Primärenergie26. Diese Vorzüge können durch die zentrale Steuerung der Anlagen in einem virtuellen Kraftwerk und die zentrale Vermarktung der erzeugten Energie noch erheblich gesteigert werden. Die wichtigsten Vorzüge sollen im Folgenden stichwortartig umrissen, aber nicht näher beleuchtet werden27. Der erste besteht in der möglichen Netzstabilisierung. Selbst wenn das virtuelle Kraftwerk den Strom nicht direkt auf dem Strommarkt veräußert, sondern nach § 4 KWKG in das Netz einspeist, kann der Netzbetreiber den abzunehmenden und zu vergütenden Strom als Paket wesentlich leichter kalkulieren. Der zweite Vorteil kann in der Reduktion der Höchstlast bestehen. Auch eine Verzögerung des Netzausbaus erscheint möglich. Außerdem bieten sich virtuelle Kraftwerke zum Ausgleich von Schwankungen im Bereich der erneuerbaren Energien an. Für die Betreiber der Einzelanlagen besteht schließlich ein besonders wichtiger Vorzug der Bündelung darin, dass die zentrale Vermarktung der Stromüberschüsse gewöhnlich wesentlich günstigere Konditionen erzielt als die separate Einspeisung durch den einzelnen Betreiber. Aus diesen und anderen Gründen ist der Betrieb virtueller Kraftwerke für viele Akteure im Strommarkt energiewirtschaftlich interessant. 2. Mögliche Betreiber virtueller Kraftwerke Grundsätzlich kommen viele Teilnehmer am Elektrizitätsmarkt als Betreiber virtueller Kraftwerke in Betracht28, so etwa die Inhaber einzelner Mikro-KWK-Anlagen, Energieversorgungsunternehmen (z. B. Stadtwerke), Stromhändler, Großunternehmen der Wohnungswirtschaft, die Hersteller von KWK-Anlagen oder Anlageteilen (z. B. Verbrennungsmotoren). Problematisch wäre der Betrieb eines virtuellen Kraftwerks durch einen Netzbetreiber, weil dem die Entflechtungsregeln der §§ 6 ff. EnWG entgegenstehen dürften. Von dem im Einzelfall auftretenden Betreiber hängt wesentlich auch die rechtliche Organisation des virtuellen Kraftwerks ab. Zwei Gruppen möglicher Organisationsformen lassen sich unterscheiden: Selbstorganisation und Fremdorganisation. 26

Siehe dazu schon oben I. Dazu ausführlich Droste-Franke et al. (Fn. 1), S. 245 ff. m.w.N. 28 Dazu näher Mitze, Erlöspotential von stationären Brennstoffzellenanlagen im deutschen Strommarkt, Diss. TU Berlin, 2003, S. 50 ff. 27

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3. Selbstorganisation: Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) Eine – in der Praxis wohl eher seltene, aber doch denkbare – Möglichkeit besteht darin, dass sich die Inhaber vieler Mikro-KWK-Anlagen zur gemeinsamen Steuerung ihrer Geräte zusammenschließen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass in einem großen Neubaugebiet zahlreiche Ein- oder Mehrfamilienhäuser mit KWKAnlagen zur Gebäudeheizung und Stromgewinnung ausgestattet worden sind. Hier wäre der Kontakt unter den Hauseigentümern und eine daran anknüpfende gemeinsame Organisation des Betriebs ihrer Anlagen durchaus nicht unwahrscheinlich. Als rechtliche Organisationsform böte sich dafür die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) nach §§ 705 ff. BGB an. Erforderlich ist dazu zunächst der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages, in dem sich die Gesellschafter gegenseitig verpflichten, die Erreichung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern, insbesondere die vereinbarten Beiträge zu leisten (§ 705 BGB). Gesellschafter wären die Inhaber der Mikro-KWK-Anlagen. Der gemeinsame Zweck bestünde in der zentralen Steuerung aller Einzelanlagen, die zu diesem Zweck elektronisch miteinander vernetzt werden müssten, durch eine Leitstelle und die gemeinsame Vermarktung des anfallenden überschüssigen Stroms zu möglichst günstigen Bedingungen. Der Vertrag wäre formfrei gültig. Aus Gründen der Rechtssicherheit, insbesondere zur Vermeidung späterer Zweifel und Streitigkeiten über den Vertragsinhalt, würde sich aber zumindest eine schriftliche Abfassung (§ 126 BGB), wegen der damit verbundenen fachlichen Beratung sogar die notarielle Beurkundung (§ 128 BGB) empfehlen. Zur Erreichung des gemeinsamen Zwecks brauchten die Einzelanlagen nicht an die Gesellschaft übereignet zu werden. Das wäre wegen § 93, 94 BGB nicht nur rechtlich problematisch, sondern würde faktisch den Vertragsschluss vermutlich verhindern, weil die Eigentümer der einzelnen Anlagen dazu wohl nicht bereit wären. Sie müssten sich nur gegenseitig verpflichten, den elektronischen Zugriff auf den Betrieb ihrer Anlagen durch die Zentrale zu gestatten, soweit dies für eine optimale Steuerung und Vermarktung erforderlich wäre. Dabei müsste allerdings gewährleistet sein, dass der jeweils individuelle Bedarf an Wärme und Elektrizität weiterhin befriedigt würde. Eine GbR schiede aber aus, wenn es sich bei der zentralen Steuerung der MikroKWK-Anlagen der Gesellschafter um den Betrieb eines Handelsgewerbes (§ 1 HGB) handelte. Wegen des Rechtsformzwangs der §§ 105 Abs. 1, 161 Abs. 1 HGB läge dann eine OHG oder eine KG vor. Ob die Vertragsschließenden dies gewollt oder wenigstens gewusst hätten, spielt keine Rolle29. Unter einem Gewerbe versteht man eine offene, planmäßige, auf Dauer angelegte und auf Gewinnerzielung gerichtete, selbständige Tätigkeit30. Ein Handelsgewerbe verlangt zusätzlich, dass das Unternehmen einen nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerich29 30

Ulmer, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5, 5. Aufl., 2009, § 705 Rn. 3, 22. Siehe nur BGHZ 63, 32 (33); Brox/Henssler, Handelsrecht, 19. Aufl., 2007, Rn. 25.

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teten Geschäftsbetrieb erfordert (§ 1 Abs. 2 HGB). Ob ein virtuelles Kraftwerk diese Kriterien erfüllt, ist von vornherein zweifelhaft. Vor allem dürfte die Gewinnerzielungsabsicht fehlen. Der Betrieb einer einzelnen Mikro-KWK-Anlage in einem Privathaus ist ganz sicher kein Gewerbe, auch wenn dabei überschüssiger Strom in das öffentliche Netz eingespeist und vergütet (§ 4 KWKG) wird. Die Rechtsnatur des Anlagenbetriebs ändert sich nicht dadurch, dass viele Anlagen zentral gesteuert werden. Denn der möglichst effiziente Einsatz von Primärenergie steht dabei ganz im Vordergrund. Der Betrieb eines virtuellen Kraftwerks durch die Eigentümer der Einzelanlagen ist demnach kein Handelsgewerbe nach § 1 HGB, die §§ 105 Abs. 1, 161 Abs. 1 HGB schließen also eine GbR nicht aus. Der Gesellschaftsvertrag sollte u. a. Regelungen über die Beiträge der Gesellschafter (§ 706 BGB), über die Geschäftsführung und Vertretung (§§ 709 ff. BGB) über die Beteiligung der Gesellschafter an etwaigen Überschüssen aus der Vermarktung von Strom und an einem etwaigen Verlust (vgl. § 722 BGB) sowie eine Fortsetzungsklausel im Falle des Ausscheidens eines Gesellschafters (§ 736 BGB) enthalten. Außerdem müssen sich die Gesellschafter darüber einigen, ob die zentrale Steuerung der Anlagen durch eigene, angestellte Fachleute oder durch externe Experten erfolgen soll. Um die notwendige Flexibilität für spätere abweichende Entscheidungen zu gewährleisten, sollte dies nicht durch den Gesellschaftsvertrag, sondern im Wege eines separaten Gesellschafterbeschlusses festgelegt werden. Für eine externe Lösung böte sich dann die Beauftragung eines Contracting-Unternehmens an31. Aus dem Gesellschaftsvertrag erwachsen den Gesellschaftern mitgliedschaftliche Rechte und Pflichten. Die wichtigsten Pflichten sind zum einen die Pflicht zur Förderung des gemeinsamen Zwecks und die daraus abgeleitete Beitragspflicht (§ 705 BGB), zum anderen die gesellschaftsrechtliche Treupflicht. Letztere besteht sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber den Mitgesellschaftern und verpflichtet unter anderem zur Unterlassung gesellschaftsschädigenden Verhaltens32. Gerade in dieser gesellschaftsvertraglichen Bindung äußert sich ein wichtiger Vorzug des selbst organisierten Zusammenschlusses der Mikro-KWK-Anlagen-Betreiber im Modell der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Die Gesellschafter sehen sich nicht bloß als Partner eines Energieliefervertrages, von dem man sich kurzfristig wieder lösen könnte, sondern als Teilhaber eines gemeinschaftlichen, auf Dauer angelegten Vorhabens, dessen Erfolg in ihrem ureigenen Interesse liegt. Sie begreifen sich, mit anderen Worten, als Mitunternehmer. Das erzeugt eine viel engere Bindung an das gemeinsame Projekt, das virtuelle Kraftwerk, als die von außen, durch Fremdorganisation zum Beispiel durch ein Energieversorgungsunternehmen, etablierte Vernetzung der Anlagen. Vor allem deshalb ist die GbR als rechtlicher Rahmen für den Betrieb eines virtuellen Kraftwerks durch prinzipiell gleichberechtigte und -verpflichtete Partner besonders geeignet. 31

Zum Contracting siehe unten 4. Eingehend zur Treupflicht Ulmer, in: Münchener Kommentar zum BGB (Fn. 29), § 705, Rn. 221 ff. m.w.N. 32

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4. Fremd organisierte Vernetzung der Anlagen Aus den vorangegangenen Erwägungen erhellt zugleich, dass die Rechtsform der GbR für die fremd organisierte Vernetzung von Mikro-KWK-Anlagen zu einem virtuellen Kraftwerk kaum geeignet wäre. Wenn zum Beispiel ein Energieversorgungsunternehmen den Zusammenschluss organisiert, sieht es sich keineswegs als gleichberechtigter Partner, der zusammen mit den anderen Gesellschaftern einen gemeinsamen Zweck i.S. des § 705 BGB verfolgt. Es handelt legitimerweise vielmehr primär im eigenen Interesse, zum Wohle des eigenen Unternehmens, gerichtet insbesondere auf die nachhaltige Erzielung eines angemessenen Unternehmensgewinns. Das virtuelle Kraftwerk dient ihm dann beispielsweise dazu, Strom im Paket möglichst günstig einzukaufen. Deshalb wird es die Inhaber der Einzelanlagen nicht an dem Projekt als Mitgesellschafter beteiligen, sondern mit jedem einzelnen einen separaten Vertrag schließen. Dieser hat die Vernetzung der Einzelanlagen, die zentrale Steuerung des Anlagenparks, den elektronischen Zugriff auf die einzelne Anlage, den Ankauf des anfallenden überschüssigen Stroms, eventuell auch die Erbringung von Wartungs- und Reparaturleistungen zum Inhalt. Es handelt sich also um einen gemischt-typischen Vertrag, der sich aus Elementen des Kaufvertrags (§§ 433 ff. BGB), des Dienstvertrages (§§ 611 ff. BGB) und des Werkvertrages (§§ 631 ff. BGB) zusammensetzt. Ob das EVU das virtuelle Kraftwerk mit eigenem Personal zentral steuert oder ob es diese Aufgabe auf externe Fachleute überträgt, bleibt ihm selbst überlassen. Für eine externe Lösung bietet sich insbesondere die Einschaltung eines Contractors an. Contracting ist kein Gesetzesbegriff, es ist gesetzlich nirgends definiert. Eine unverbindliche Definition findet sich in einer DIN-Norm. Danach ist Contracting die „zeitlich und räumlich abgegrenzte Übertragung von Aufgaben der Energiebereitstellung und Energielieferung auf einen Dritten, der im eigenen Namen und auf eigene Rechnung handelt“33. Tatsächlich findet sich Contracting wohl ausschließlich in der Energiewirtschaft, vornehmlich im Bereich der Wärmelieferung. Angesichts der Spezialkenntnisse des Contractors liegt es für einen kommerziellen Auftraggeber nahe, diesem die Steuerung des Anlagenverbunds mit allen dazu gehörenden Aufgaben zu übertragen. Allerdings wird sich der Auftraggeber im Vertrag mit dem Contractor bestimmte Einflussmöglichkeiten vorbehalten. Im Falle der Fremdorganisation des virtuellen Kraftwerks dürften in der Energiewirtschaftspraxis daher nicht selten Contracting-Modelle anzutreffen sein.

33 DIN 8930 Teil 5 „Contracting“ (Nov. 2003), S. 2 Nr. 3.1. Zum Contracting siehe Kramer, Energieeinsparung im Mietwohnsektor durch Wärme-Contracting, ZUR 2007, 283 (285 ff.); ders., Einführung von Wärme-Contracting in Mietverhältnisse des preisfreien Wohnraums, ZNER 2007, 388 ff.; ders., Wärme-Contracting in preisgebundenen Wohnraummietverhältnissen, ZMR 2007, 508 ff.; Leinenbach, Neue Vertriebskonzepte im Contracting (Teil 1), CuR 2007, 54 ff.; Lippert, in: Danner/Theobald (Hrsg.), Energierecht, Bd. 2, VIII a Einf. Contr. (2008), Rn. 1 ff.

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IV. Fazit Virtuelle Kraftwerke entstehen aus der elektronischen Vernetzung und zentralen Steuerung zahlreicher kleiner Stromerzeuger. Dabei handelt es sich zunehmend um Mikro-KWK-Anlagen. Der hohe Wirkungsgrad solcher Anlagen wird durch eine optimale Steuerung des Anlagenverbunds noch gesteigert, was der Ressourcenschonung und dem Umweltschutz dient. Für den von den Betreibern der Einzelanlagen selbst organisierten Zusammenschluss bietet die Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß §§ 705 ff. BGB einen geeigneten rechtlichen Rahmen. Ihr Vorteil besteht insbesondere in der langfristig angelegten Bindung der Gesellschafter an das gemeinsame Kraftwerksprojekt, der Förderungspflicht aller Gesellschafter im Hinblick auf den gemeinsamen Gesellschaftszweck, den gesellschaftsrechtlichen Treupflichten, und darin, dass sich die Gesellschafter als Teilhaber an dem gemeinsamen Unternehmen, somit als Mitunternehmer sehen. Für den von außen, durch Dritte, zum Beispiel durch ein EVU oder den Hersteller von Mikro-KWK-Anlagen, organisierten Anlagenverbund erscheint dagegen die GbR nicht als naheliegende Organisationsform. Zunehmend dürften hier die Aufgaben der zentralen Steuerung auf Contracting-Unternehmen übertragen werden.

Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Pulp Mills-Fall und seine Bedeutung für die Entwicklung des Umweltvölkerrechts Von Alexander Proelß

I. Einführung Nach dem Urteil im Gabc†kovo-Nagymaros-Fall,1 in welchem sich der Internationale Gerichtshof (IGH) fünf Jahre nach Annahme der Rio Deklaration,2 der „Magna Charta“ des internationalen Umweltrechts,3 erstmals mit dem Verhältnis von Umwelt und Entwicklung unter dem Leitbild der Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen hatte,4 liegt mit der am 20. April 2010 ergangenen Entscheidung im Pulp Mills-Fall5 das zweite für Stand und Entwicklung des Umweltvölkerrechts bedeutsame Judikat aus Den Haag vor. Es betrifft einen „case on international environmental law of an exemplary nature“:6 Dem IGH bot sich Gelegenheit, durch Entwicklung des Zusammenspiels von prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des internationalen Umweltrechts zu leisten. Wie im Folgenden zu zeigen ist, hat der Gerichtshof diese Gelegenheit bedauerlicherweise nicht genutzt. Mit dem Verhältnis von Umwelt und Entwicklung, das letztlich auch den Rahmen der hier im Vordergrund stehenden Entscheidung des IGH bildete,7 hat sich der Ju1

Gabc†kovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), Urteil vom 25. 09. 1997, ICJ Reports 1997, 7. 2 Declaration on Environment and Development vom 13. 06. 1992, ILM 31 (1992) 876. 3 Vgl. Birnie/Boyle/Redgwell, International Law and the Environment, 3. Aufl., 2009, S. 112: „the most significant universally endorsed statement of general rights and obligations of states affecting the environment“. 4 Gabc†kovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), Urteil vom 25. 09. 1997, ICJ Reports 1997, 7 (78). 5 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123. 6 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Joint Dissenting Opinion AlKhasawneh/Simma, § 3, abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/15879.pdf. 7 Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1162) (§ 177): „[…] interconnectedness between equitable and reasonable utilization of a shared resource and the balance between economic development and environmental protection that is the essence of sustainable development.“ Siehe auch De Mulder, Case Note: International Court of Justice Judgment on the Paper Mill Permit Dispute

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bilar frühzeitig in grundlegenden Abhandlungen befasst.8 Ihm, der im Jahre 1989 gemeinsam mit Rüdiger Breuer, Michael Kloepfer und Peter Marburger das Institut für Umwelt- und Technikrecht der Universität Trier (IUTR) mit dem Ziel gründete, sowohl das nationale als auch das internationale Umwelt- und Technikrecht gemeinsam wissenschaftlich zu erforschen und zu lehren, und dessen Nachfolge an der Universität Trier der Verfasser vorliegender Skizze antreten durfte, seien nachfolgende Überlegungen in dankbarer Verbundenheit zugedacht.

II. Hintergrund und Entscheidung des IGH Gegenstand der Entscheidung war ein seit Jahren andauernder Streit zwischen Argentinien und Uruguay um den Bau und Betrieb von zwei Zellstofffabriken („pulp mills“) am R†o Uruguay. Der R†o Uruguay markiert die Grenze der Staatsgebiete von Argentinien und Uruguay. Argentinien machte geltend, dass der von Uruguay genehmigte Bau und Betrieb der beiden Fabriken zu einer Verschmutzung der Umwelt des Flusses führen werde. Er sei daher nicht mit den Vorgaben des im Februar 1975 zwischen den Parteien geschlossenen und am 18. September 1976 in Kraft getretenen Statute of the River Uruguay (im Folgenden: Flussstatut)9 vereinbar. Darüber hinaus habe Uruguay gegen die aus diesem bilateralen Vertrag folgenden Pflichten zur Information, Benachrichtigung – sowohl gegenüber Argentinien als auch gegenüber der mit dem Statut errichteten Gewässerkommission10 – und Konsultation verstoßen. Anträge sowohl von Argentinien als auch Uruguay auf den Erlass einstweiliger Anordnungen waren jeweils erfolglos geblieben.11 Der IGH, dessen Zuständigkeit sich aus Art. 60 Abs. 1 des Flussstatuts ergab,12 entschied, dass Uruguay gegen seine Vertragspflichten zur Information, NotifizieBetween Argentina and Uruguay Recognizes the Requirement of Environmental Impact Assessment in a Transboundary Context, Review of European Community & International Environmental Law (RECIEL) 19 (2010), 263. 8 Schröder, Sustainable Development – Ausgleich zwischen Umwelt und Entwicklung als Gestaltungsaufgabe der Staaten, AVR 34 (1996), 251 ff.; ders., Sustainable Development – Handlungsmaßstab und Instrument zur Sicherung der Überlebensbedingungen künftiger Generationen? in: Kastenholz/Erdmann/Wolff (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung – Zukunftschancen für Mensch und Umwelt, 1996, S. 157 ff. 9 1295 UNTS 340. 10 Bei der Comisiýn Administradora del R†o Uruguay (CARU) handelt es sich um eine Gewässerschutz- und -verwaltungskommission, welche die bilaterale Kommunikation und Konsultation zwischen den Flussanliegern bezüglich aller Angelegenheiten, die die Nutzung und den Schutz des Flusses betreffen, kanalisieren soll. 11 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay) (Provisional Measures), Verfügung vom 13. 07. 2006, ICJ Reports 2006, 113; Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay) (Provisional Measures), Verfügung vom 23. 01. 2007, ICJ Reports 2007, 3. 12 Art. 60 Abs. 1 des Statute of the River Uruguay lautet: „Any dispute concerning the interpretation or application of the Treaty and the Statute which cannot be settled by direct negotiations may be submitted by either Party to the International Court of Justice.“

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rung und Durchführung von Konsultationen verstoßen habe, nicht aber gegen die ebenfalls aus dem Flussstatut folgenden materiell-rechtlichen Pflichten zur Vermeidung von Verschmutzungen und zum Schutz der aquatischen Umwelt. Er lehnte es ab, aus der Verletzung der prozeduralen Pflichten automatisch auf eine Verletzung der materiell-rechtlichen Grundsätze zu schließen. Überdies erblickte er in der bloßen gerichtlichen Feststellung des Verstoßes Uruguays gegen die prozeduralen Pflichten eine ausreichende Wiedergutmachung.13

III. Kritische Analyse der Entscheidungsgründe 1. Beweislastumkehr und Umweltverträglichkeitsprüfung Während vor allem die Feststellung, dass das Erfordernis der Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) vor Implementierung eines potentiell umweltschädlichen Projekts zwischenzeitlich Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts sei,14 auf breite Zustimmung gestoßen ist,15 gilt dies für andere Aspekte des Urteils nicht in gleicher Weise. Mit Enttäuschung wurde u. a. die ausdrückliche Ablehnung einer aus dem Vorsorgeprinzip folgenden Beweislastumkehr zulasten des Staates, der sich auf die Harmlosigkeit eines potentiell umweltschädlichen Verhaltens beruft,16 aufgenommen.17 Bei näherer Betrachtung dürfte diese Kritik freilich primär rechtspolitisch motiviert sein. Denn welche Rechtsfolgen sich aus der Anwendung des Vorsorgeprinzips ergeben, kann schon deshalb nicht allgemein beantwortet werden, weil dieses Prinzip zwar in zahlreiche Verträgen inkorporiert, dabei aber jeweils unterschiedlich ausgestaltet wurde.18 Soweit erkennbar sehen eine Beweislastumkehr lediglich Art. 2 Abs. 2 lit. a und Art. 3 Abs. 3 lit. c Anlage II des OSPAR-Übereinkommens19 vor.20 Von daher ist es rechtlich nicht haltbar, aus dem Vorsorgeprinzip

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Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1177 f.) (§§ 269, 272 ff.). 14 Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1166) (§ 204 f.). 15 Siehe etwa Payne, Case Note on Pulp Mills on the River Uruguay, American Journal of International Law (AJIL) 105 (2011), 94 (99 f.); De Mulder (Fn. 7), 263 (268). 16 Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1160) (§ 164). 17 Kazhdan, Precautionary Pulp: Pulp Mills and the Evolving Dispute between International Tribunals over the Reach of the Precautionary Principle, Ecology Law Quarterly 38 (2011), 527 (544 ff.); Payne (Fn. 15), 94 (101). 18 Siehe Proelß, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, 5. Abschnitt, Rn. 114 m.w.N. 19 Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks vom 22. 09. 1992 (BGBl. 1994 II, S. 1360).

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generell eine Beweislastumkehr zu folgern.21 Nichts anderes gilt für den Bereich des Völkergewohnheitsrechts: Anerkennt man die gewohnheitsrechtliche Geltung des Vorsorgeprinzips mit dem Internationalen Seegerichtshof (ISGH)22 und nunmehr wohl auch mit dem IGH,23 kann sich diese Geltung nur auf den Kernbereich des Prinzips beziehen, hinsichtlich dessen (wenn überhaupt) eine einheitliche Staatenpraxis feststellbar ist. Dieser Kernbereich besagt, dass wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit des Eintritts von Umweltgefährdungen staatliche Untätigkeit nicht zu rechtfertigen vermag.24 Die Staaten sind hiernach zu Risikomanagement verpflichtet, wenn sie Aktivitäten durchführen oder genehmigen, die potentiell zu negativen Auswirkungen auf die Umwelt führen könnten.25 Eine Beweislastumkehr setzt dies nicht voraus. Die Ablehnung einer Beweislastumkehr lässt auch nicht den Schluss zu, dass sich der Gerichtshof indifferent gegenüber dem Vorsorgeprinzip gezeigt hätte.26 Vielmehr ging der IGH, wie gesagt, zwischen den Zeilen von der Möglichkeit einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Vorsorgeprinzips aus.27 Auch spricht die Formulierung 20 Proelß, Meeresschutz im Völker- und Europarecht, 2004, S. 203 f.; Hey, Global Environmental Law, Finnish Yearbook of International Law (FYIL) 19 (2008), 5 (18). 21 So auch Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 3), S. 158 f.; allgemein für eine Beweislastumkehr hingegen Request for Examination of the Situation in Accordance with Paragraph 63 of the CourtÏs Judgment of 20 December 1974 in the Nuclear Tests (New Zealand v. France) Case, Dissenting Opinion Weeramantry, ICJ Reports 1995, 317 (343); ähnlich Verschuuren, Principles of Environmental Law, 2003, S. 87. 22 Responsibilities and Obligations of States Sponsoring Persons and Entities with Respect to Activities in the Area, Gutachten der Kammer für Meeresbodenstreitigkeiten vom 01. 02. 2011, ILM 50 (2011), 455 (§ 135): „The incorporation of the principle into various treaties […] has initiated a trend towards making the [precautionary approach] part of customary international law“; siehe auch ebd., § 131: „[I]t is appropriate to point out that the precautionary approach is also an integral part of the general obligation of due diligence of sponsoring States, which is applicable even outside the scope of the Regulations“. 23 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1160) (§ 164): „[…] while the Court considers that a precautionary approach may be relevant in the interpretation and application of the provisions of the Statute […]“; insoweit kritisch Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Separate Opinion CanÅado Trindade, § 113, abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/15885.pdf. 24 Siehe etwa Kahl, Der Nachhaltigkeitsgrundsatz im System der Prinzipien des Umweltrechts, in: FS für Reiner Schmidt, 2002, S. 111 (113); Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 2000, S. 91 f.; Cameron/Abouchar, The Status of the Precautionary Principle in International Law, in: Freestone/Hey (Hrsg), The Precautionary Principle and International Law, 1996, S. 29 (45). Vgl. auch Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Separate Opinion CanÅado Trindade, § 62, abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/ 15885.pdf. 25 Zur Durchführung von Risikoabwägungen Proelß, Das Umweltvölkerrecht vor den Herausforderungen des Klimawandels – Ansätze zu einer bereichsübergreifenden Operationalisierung des Vorsorgeprinzips, JZ 2011, 495 ff. 26 So auch Kazhdan (Fn. 17), 527 (546). 27 Siehe den Nachweis in Fn. 23. Auch die Kammer für Meeresbodenstreitigkeiten des ISGH bezog sich hinsichtlich der von ihr konstatierten Tendenz in Richtung einer gewohn-

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der Passage, in welcher er die gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Durchführung einer UVP statuierte („undertake an environmental impact assessment where there is a risk that the proposed industrial activity may have a significant adverse impact in a transboundary context“),28 mit ihrer Bezugnahme auf die bloße Möglichkeit von Umweltbeeinträchtigungen („may“) und das Vorliegen eines Risikos dafür, dass der IGH jene Pflicht aus dem Vorsorgeprinzip ableitete.29 Kumulativ („moreover“) stellte er insoweit auf den Präventionsgrundsatz ab, auf den noch zurückzukommen ist. Letztlich ist es vor diesem Hintergrund konsequent, dass der IGH mit Blick auf die im Einzelfall an eine UVP zu stellenden Anforderungen („scope and content“) – und in Übereinstimmung mit Prinzip 17 der Rio Deklaration30 – darauf hinwies, dass diese sich nicht aus dem allgemeinen Völkerrecht ergäben.31 In der Tat können dergleichen konkrete Vorgaben dem Vorsorgeprinzip – vorbehaltlich der Möglichkeit abweichender spezifischer Ausformungen in einzelnen völkerrechtlichen Verträgen – nicht entnommen werden. In seiner allgemeinen Ausprägung verpflichtet es die Staaten zwar dazu, Risikomanagement vorzunehmen („Ob“), beantwortet aber nicht die Frage nach dem „Wie“ dieses Managements. Detaillierte Vorgaben über die Reichweite und den Inhalt der UVP folgen daher erst aus konkretisierendem Völkervertragsrecht, Unionsrecht und/oder nationalem Recht. Das hat weniger mit Respekt vor einzelstaatlicher Souveränität32 als mit der Normstruktur des Vorsorgeprinzips zu tun, das seinen Adressaten nicht allgemein ein nach Inhalt und Umfang jedenfalls bestimmbares Verhalten abverlangt, sondern hinsichtlich seiner Anwendung in einem Maße situationsgebunden ist, welches es ausschließt, seinen Gehalt in einer

heitsrechtlichen Geltung des Vorsorgeprinzips auf die einschlägige Passage der Pulp MillsEntscheidung; vgl. Responsibilities and Obligations of States Sponsoring Persons and Entities with Respect to Activities in the Area, Gutachten der Kammer für Meeresbodenstreitigkeiten vom 01. 02. 2011, ILM 50 (2011), 455 (§ 135). 28 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1166) (§ 204). 29 Siehe auch Kazhdan (Fn. 17), 527 (547). Ähnlich der Vortrag Neuseelands im zweiten Nuclear Tests-Fall; vgl. Request for an Examination of the Situation in Accordance with Paragraph 63 of the CourtÏs Judgment of 20 December 1974 in the Nuclear Tests (New Zealand v. France) Case, Verfügung vom 22. 09. 1995, ICJ Reports 1995, 288 (299) (§ 35). 30 Prinzip 17 der Rio-Deklaration (Fn. 2) lautet: „Environmental impact assessment, as a national instrument, shall be undertaken for proposed activities that are likely to have a significant adverse impact on the environment and are subject to a decision of a competent national authority“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 31 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1167) (§ 205). Insoweit kritisch Anton, Case Note: Case concerning Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Australian International Law Journal (AILJ) 17 (2010), 213 (223); McIntyre, The Proceduralisation and Growing Maturity of International Water Law, Journal of Environmental Law (JEL) 22 (2010), 475 (495); Plakokefalos, Current Legal Developments: The Pulp Mills Case, International Journal for Marine and Coastal Law (IJMCL) 26 (2011), 169 (177). 32 So aber De Mulder (Fn. 7), 263 (268).

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„Alles-oder nichts-Weise“ zu verwirklichen.33 Die strukturelle Unbestimmtheit des Vorsorgeprinzips kommt dabei vor allem im Merkmal der fehlenden wissenschaftlichen Gewissheit zum Ausdruck sowie in der in Prinzip 15 der Rio-Deklaration enthaltenen Beschränkung auf die „jeweils bestehenden Möglichkeiten“.34 Weitere im Schrifttum geäußerte Kritikpunkte beziehen sich auf den Umgang des IGH mit komplexen technischen Sachverhalten,35 der auch auf Ablehnung der Richter Al-Khasawneh und Simma gestoßen ist,36 auf das fehlende Bestehen auf einer Beteiligung der Öffentlichkeit37 sowie auf den unklar bleibenden Status des Artikelentwurfs der International Law Commission (ILC) zu „Prevention of Transboundary Harm from hazardous Activities“.38 Auf diese Aspekte kann vorliegend nicht näher eingegangen werden. 2. Zum Verhältnis von prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten Kaum hinterfragt worden ist bislang hingegen das dem Urteil zugrunde liegende Verhältnis von prozeduralen („procedural“) und materiell-rechtlichen („substantive“) Pflichten,39 welches letztlich dazu führte, dass der IGH – trotz Feststellung eines Verstoßes Uruguays gegen die aus dem Völkergewohnheitsrecht im Allgemeinen und dem Statute of the River Uruguay im Besonderen fließenden prozeduralen Informations- und Benachrichtigungspflichten – entschied, mit der bloßen gerichtlichen Feststellung dieses Verstoßes widerfahre Argentinien in ausreichendem Maße Genugtuung.40 Diesbezüglich wandten die Richter Al-Khasawneh und Simma in ihrer gemeinsamen abweichenden Meinung ein, der Gerichtshof habe dem von ihm selbst betonten funktionalen Zusammenhang zwischen prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten zu wenig Gewicht beigemessen.41 Angesichts 33

Proelß (Fn. 25), 495 (500). Prinzip 15 der Rio-Deklaration (Fn. 2) lautet: „In order to protect the environment, the precautionary approach shall be widely applied by States according to their capabilities. Where there are threats of serious or irreversible damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation.“ 35 Vgl. Sandoval Coustasse/Sweeney-Samuelson, Adjudicating Conflicts Over Resources: The ICJÏs Treatment of Technical Evidence in the Pulp Mills Case, Goettingen Journal of International Law (GoJIL) 3 (2011), 447 ff. 36 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Joint Dissenting Opinion AlKhasawneh/Simma, §§ 3 ff., abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/15879.pdf. 37 Payne (Fn. 15), 94 (100); Anton (Fn. 31), 213 (224); McIntyre (Fn. 31), 475 (496 f.). 38 Payne (Fn. 15), 94 (101). 39 Siehe aber McIntyre (Fn. 31), 475 (488 ff.). 40 Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1177) (§§ 267 ff.). 41 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Joint Dissenting Opinion AlKhasawneh/Simma, § 27, abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/15879.pdf. 34

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der Dehnbarkeit und allgemeinen Natur der materiell-rechtlichen Pflichten komme der Frage nach einem Verstoß gegen prozedurale Pflichten entscheidende Bedeutung zu; sie sei der „essential indicator of whether, in a concrete case, substantive obligations were or were not breached.“42 Hinter dieser Kritik steht letztlich die Befürchtung, dass durch eine auf Ebene der Rechtsfolgen (bloße Feststellung des Rechtsverstoßes ausreichend) zum Ausdruck kommende Relativierung der prozeduralen Pflichten das Umweltvölkerrecht insgesamt an normativer Kraft einbüßen könnte. Sie soll im Folgenden verifiziert werden, indem der – primär an den Vorgaben des Fluss- statuts von 1975 orientierte – Begründungsweg des IGH nachgezeichnet und am Maßstab der allgemeinen Prinzipien des Umweltvölkerrechts auf seine Überzeugungskraft hin analysiert wird. a) Ausgangspunkt des IGH Der IGH stellte bezüglich des Verhältnisses von prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten zunächst darauf ab, dass „it is by co-operating that the States concerned can jointly manage the risks of damage to the environment that might be created by the plans initiated by one or other of them, so as to prevent the damage in question, through the performance of both the procedural and the substantive obligations laid down by the 1975 Statute. However, whereas the substantive obligations are frequently worded in broad terms, the procedural obligations are narrower and more specific, so as to facilitate the implementation of the 1975 Statute through a process of continuous consultation between the parties concerned. […]“43

Hiernach soll im Hinblick auf effektives Risikomanagement, wie es etwa im Statute of the River Uruguay vorgesehen ist, das Zusammenspiel von prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten ausschlaggebend sein, wobei ersteren bei der Umsetzung des Vertrags angesichts ihres engeren Tatbestands und dem höheren Konkretisierungsgrad besondere Bedeutung zukomme. Freilich relativierte der Gerichtshof diese Bedeutung anschließend mit dem alle Optionen vorbehaltenden Argument, der im Hinblick auf die Vorbeugung von Umweltschäden bestehende funktionale Zusammenhang zwischen den beiden Pflichtenkategorien ändere nichts daran, dass im Einzelfall eine isolierte Bestandsaufnahme erforderlich sein könne.44 b) Prozedurale und materiell-rechtliche Pflichten Anschließend widmete sich der IGH zunächst dem von Argentinien geltend gemachten Verstoß Uruguays gegen die in casu anwendbaren prozeduralen Pflichten. Zu ihnen rechnete er vor dem Hintergrund der potentiellen Auswirkungen der ge42

Ebd., § 26. Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1146) (§ 77). 44 Ebd., 1147 (§ 79). 43

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planten Zellstofffabriken auf die Nutzung und den Schutz des Rio Uruguay vor allem die in Art. 7 bis 12 des Flussstatuts normierten Pflichten, die Flusskommission über die betreffenden Projekte zu informieren, diese gegenüber dem Nachbarstaat Argentinien zu notifizieren und mit ihm zu verhandeln („obligations of informing, notifying and negotiating“).45 Damit entspricht der prozedurale Standard des Flussstatuts im Einzelnen Prinzip 19 der Rio Deklaration, wonach „States shall provide prior and timely notification and relevant information to potentially affected States on activities that may have a significant adverse transboundary environmental effect and shall consult with those States at an early stage and in good faith.“

Deshalb sowie angesichts ihrer Aufnahme in Art. 8 und 9 der ILC Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities46 wird heute überwiegend davon ausgegangen, dass die u. a. in Art. 7 ff. des Flussstatuts kodifizierten Pflichten auch völkergewohnheitsrechtlich gelten.47 Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Selbst wenn die für die Anerkennung als Normen des Gewohnheitsrechts erforderliche allgemeine Staatenpraxis nicht unmittelbar aus diesen an sich unverbindlichen Dokumenten abgeleitet werden kann, folgt die gewohnheitsrechtliche Geltung jener Pflichten doch jedenfalls aus dem Umstand, dass sie prozedurale Ausprägungen des Präventionsprinzips bzw. Prinzips der Vorbeugung verkörpern;48 dessen gewohnheitsrechtliche Geltung wiederum steht jedenfalls seit der Pulp Mills-Entscheidung endgültig außer Streit.49 Der IGH unterstrich denn auch den Zusammenhang zwischen Informationspflichten und Präventionsprinzip, indem er feststellte, dass „[i]n the view of the Court, the obligation to inform CARU allows for the initiation of cooperation between the Parties which is necessary in order to fulfill the obligation of prevention.“50

Damit ordnete er den Präventionsgrundsatz jedenfalls auch der Sphäre der prozeduralen Pflichten zu. Zugleich betonte er, dass Letztere die Voraussetzung bildeten für die bereits angesprochene Pflicht zur Durchführung einer UVP, wenn und soweit die Möglichkeit bestehe, dass ein Plan bzw. Projekt zu erheblichen grenzüberschreitenden Beeinträchtigungen der Umwelt führen könne.51 Das Ergebnis der UVP sei 45

Ebd., 1147 ff. (§§ 80 ff.). YBILC 2001/II-2, 148 ff. 47 Zum internationalen Wasserrecht etwa Bourne, Procedure in the Development of International Drainage Basisn, in: Wouters (Hrsg.), International Water Law, 1997, S. 143 (177 ff.); allgemein Odendahl, Die Umweltpflichtigkeit der Souveränität, 1998, S. 139 ff. 48 Vgl. nur Beyerlin/Marauhn, International Environmental Law, 2011, S. 44. 49 Vgl. Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1150) (§ 101): „[…] the principle of prevention, as a customary rule, […]“; Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 08. 07. 1996, ICJ Reports 1996, 226 (241 f.) (§ 29); aus der Literatur etwa Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 3), S. 143 ff. m.w.N. 50 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1151) (§ 102), Hervorhebung hinzugefügt. 51 Ebd., 1152 (§ 115 f.). 46

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dann wiederum gegenüber dem potentiell betroffenen Staat zu notifizieren.52 Der IGH ging somit von einem prozeduralen Wechselspiel von Information, Notifikation, Konsultation und UVP unter dem Leitbild des Präventionsprinzips aus. Im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Pflichten verwies der IGH zunächst auf den in Art. 1 des Flussstatuts kodifizierten Grundsatz der optimalen und rationalen Nutzung des R†o Uruguay, den er in den Kontext des allgemeinen Prinzips der gerechten und vernünftigen Nutzung grenzüberschreitender Ressourcen stellte.53 Freilich sprach er diesem Grundsatz keine Wirkung als materielle Rechtspflicht zu, sondern erkannte in ihm lediglich eine vertragliche Zielsetzung, deren im Gedanken der Nachhaltigkeit liegender Kern54 erst durch Befolgung der nachfolgend normierten Pflichten zum Schutz der Flussumwelt einerseits und der gemeinsamen Bewirtschaftung des Flusses als einer „shared resource“ durch seine Anlieger andererseits zu implementieren sei.55 Im Vordergrund der Argumentation zu den materiell-rechtlichen Pflichten steht dann die in Art. 41 des Flussstatuts normierte Pflicht, Maßnahmen zur Verhinderung der Verschmutzung sowie zur Erhaltung der Flussumwelt zu treffen.56 Der IGH leitete hieraus eine Pflicht ab, „to act with due diligence in respect of all activities which take place under the jurisdiction and control of each party. […] The responsibility of a party to the 1975 Statute would therefore be engaged if it was shown that it had failed to act diligently and thus take all appropriate measures to enforce its relevant regulations on a public or private operator under its jurisdiction.“57

Infolge der Bezugnahme auf den Maßstab der gebührenden Sorgfalt (due diligence) wird die materiell-rechtliche Pflicht zur Vermeidung von Verschmutzung und zur Erhaltung der aquatischen Umwelt des R†o Uruguay unmittelbar mit dem Präventionsprinzip verknüpft. Denn wie der Gerichtshof bereits im Rahmen seiner Feststellungen zu den prozeduralen Pflichten dargelegt hatte, findet jenes völkergewohnheitsrechtliche Prinzip seinen Ursprung „in the due diligence that is required of a State in its territory.“58 Im Unterschied zu einem Verbot im engeren Sinne, das insoweit eine Erfolgsverpflichtung (obligation of result) verkörpern würde, als jedwede erhebliche Beeinträchtigung der Umwelt eines oder mehrerer Staaten oder der Umwelt der Gebiete jenseits staatlicher Hoheitsgewalt (Hohe See, Tiefseeboden, Weltraum) als völkerrechtswidrig zu qualifizieren wäre und damit die Verantwort-

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Ebd., 1153 (§ 119). Ebd., 1161 (§ 170). Vgl. ebd., 1161 f. (§§ 175, 177). Ebd., 1161 (§ 173). Ebd., 1163 f. (§§ 190 ff.). Ebd., 1165 (§ 197). Ebd., 1150 (§§ 101).

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lichkeit des betreffenden Staates auslöste,59 handelt es sich bei der Pflicht, unter Berücksichtigung der gebührenden Sorgfalt zu handeln, um eine Verhaltenspflicht (obligation of conduct), nach welcher der Staat verpflichtet ist, zur Vermeidung wahrscheinlicher (d. h. nicht bloß möglicher)60 grenzüberschreitender Umweltschäden alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen. In den Worten der ILC: „The obligation of the State of origin to take preventive or minimization measures is one of due diligence. It is the conduct of the State of origin that will determine whether the State has complied with its obligation under the present articles. The duty of due diligence involved, however, is not intended to guarantee that significant harm be totally prevented, if it is not possible to do so. In that eventuality, the State of origin is required, as noted above, to exert its best possible efforts to minimize the risk. In this sense, it does not guarantee that the harm would not occur.“61

Bei allen Konkretisierungsproblemen ist dabei jedenfalls ein relevanter Faktor die Einhaltung technischer Standards wie der „besten verfügbaren Technologien“ oder der „besten Umweltpraxis“.62 c) Präventionsprinzip und Schädigungsverbot Allerdings stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des so umschriebenen due diligence-Maßstabs, der angesichts der Bezugnahme auf das souveräne Recht eines Staates, die auf seinem Territorium gelegenen Ressourcen auszubeuten, auch in Prinzip 2 der Rio-Deklaration zum Ausdruck kommt,63 zur allgemeineren, 59

Vgl. Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 3), S. 150 f. Relevanter Bezugspunkt für die Einschlägigkeit des Präventionsprinzips ist, dass eine Umweltbeeinträchtigung wahrscheinlich ist. Anders als das Vorsorgeprinzip dient es nicht dem Risikomanagement, das bereits ab der Möglichkeit einer Umweltschädigung zum Tragen kommt, sondern der Gefahrenabwehr. Vgl. nur Epiney/Scheyli (Fn. 24), S. 112 m.w.N. 61 Commentary to Art. 3 of the ILC Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities, § 7 (YBILC 2001/II-2, 154). 62 Vgl. etwa den ausdrücklich auf Gefahrenabwehr (Prävention, Vorbeugung bzw. Verhütung) abstellenden Art. 2 Abs. 3 des OSPAR-Übereinkommens (Fn. 19): „a) Bei der Durchführung des Übereinkommens beschließen die Vertragsparteien Programme und Maßnahmen, die gegebenenfalls Fristen für ihren Abschluss vorsehen und die Anwendung der neuesten technischen Entwicklungen und Methoden zur Verhütung und vollständigen Beseitigung der Verschmutzung in vollem Maß berücksichtigen. b) Zu diesem Zweck i) bestimmen sie unter Berücksichtigung der Maßstäbe des Anhangs 1 im Hinblick auf die Programme und Maßnahmen die Anwendung unter anderem – der besten verfügbaren Techniken, – der besten Umweltpraxis, gegebenenfalls einschließlich sauberer Technologie; […]“ (Hervorhebung hinzugefügt). 63 Prinzip 2 der Rio Deklaration (Fn. 2) lautet: „States have, in accordance with the Charter of the United Nations and the principles of international law, the sovereign right to exploit their own resources pursuant to their own environmental and developmental policies, and the responsibility to ensure that activities within their jurisdiction or control do not cause damage to the environment of other States or of areas beyond the limits of national jurisdiction.“ 60

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ihren Ursprung im Trail Smelter-Schiedsspruch von 194164 findenden „no harm“Regel. Obwohl die Trail Smelter-Entscheidung als wegweisend für die Anerkennung eines Verbots erheblicher grenzüberschreitender Umweltbelastungen – der Kehrseite des Nichtschädigungsgebots („no harm rule“) – betrachtet wird,65 ging der Gerichtshof im Pulp Mills-Fall darauf mit keinem Wort ein. Relevant ist dies vor allem deshalb, weil das Schiedsgericht im Trail Smelter-Fall jedenfalls im Ansatz „erfolgs“bezogen argumentiert hatte. So hatte es festgestellt, dass „under the principles of international law […] no State has the right to use or permit the use of its territory in such a manner as to cause injury by fumes in or to the territory of another or the properties or persons therein, when the case is of serious consequence and the injury is established by clear and convincing evidence“.66

Die Annahme eines erfolgsbezogenen Verbots erheblicher grenzüberschreitender Umweltbelastungen ist aber, wie gesagt, qualitativ etwas anderes als ein vor Schadenseintritt zum Tragen kommendes Gebot, zur Vermeidung von Umweltbeeinträchtigungen mit gebührender Sorgfalt (due diligence) zu handeln. Ulrich Beyerlin und Thilo Marauhn haben unter Bezugnahme auf Günter Handl daher jüngst von den zwei Dimensionen des Nichtschädigungsgebots gesprochen: „In its prohibitive function, it forbids any state from causing significant transboundary environmental harm. In its preventive function, ,no harmÐ obliges every state of origin ,to take adequate measures to control and regulate in advance sources of potential significant transboundary harmÐ.“67

Während so die Verbotsfunktion der „no harm rule“ die Trail Smelter-Entscheidung widerspiegelt, ist die Präventionsfunktion im Grundsatz der Vorbeugung bzw. dem Präventionsprinzip verankert. Auch wenn sich der IGH mangels hinreichender Beweise für das Vorliegen einer erheblichen Umweltbeeinträchtigung in der Pulp Mills-Entscheidung nur mit der zweiten Ausprägung des Nichtschädigungsgebots zu beschäftigen hatte, stellt sich doch die Frage nach dem Verhältnis der beiden Funktionen zueinander. Kann ein Staat vor dem Hintergrund des Verbots erheblicher grenzüberschreitender Umweltbelastungen etwa auch dann zur Verantwortung für eingetretene grenzüberschreitende Umweltschäden zur Verantwortung gezogen werden, wenn er zuvor im Lichte des Maßstabs der gebotenen Sorgfalt alle Maßnahmen getroffen hat, um jene Schäden zu verhindern? Soweit erkennbar stellt die Staatenpraxis für eine positive Antwort auf diese Frage keine tragfähige Grundlage zur Verfügung. Auch methodisch ließe sich die Verantwortlichkeit eines solchen Staates nicht leicht begründen. Entweder müsste davon ausgegangen werden, dass ein eigentlich erlaubtes (weil am Maßstab der 64

RIAA III, 1905 bzw. 1938. Eingehend Epiney, Das „Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen“, AVR 33 (1995), 309 (316 ff.) m.w.N. 66 RIAA III, 1905 bzw. 1938, 1965. 67 Beyerlin/Marauhn (Fn. 48), S. 40 f. (Fußnote weggelassen). 65

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due diligence pflichtgemäßes) Verhalten im Lichte eines eingetretenen erheblichen Schadens ex post als völkerrechtswidrig zu qualifizieren wäre – eine Konstruktion, die dem Völkerrecht schon deshalb unbekannt ist, weil sie mit erheblichen Unsicherheiten hinsichtlich der für die Verantwortlichkeit eines Staates obligatorischen Voraussetzung der Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht68 verbunden wäre. Oder aber man qualifizierte das Verbot der erheblichen grenzüberschreitenden Umweltbelastungen als ausschließlich rechtsfolgenbezogene (und damit unabhängig vom Vorliegen einer Pflichtverletzung anwendbare)69 Ausprägung einer reinen Erfolgshaftung. Der Jubilar hat freilich nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Gewohnheitsrecht keine Grundlage für eine solche Erfolgshaftung biete.70 Relevant ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die ILC in ihren Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities71 weder auf die Möglichkeit einer solchen Haftung noch auf das Verbot der erheblichen grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen einging. Vielmehr ordnete sie die Trail Smelter-Entscheidung ausschließlich der präventiven Ausprägung des Nichtschädigungsgebots zu.72 In Verbindung mit dem Schweigen des IGH einerseits und der Rio-Deklaration andererseits73 sowie in Anbetracht der erheblichen Skepsis im einschlägigen Schrifttum74 spricht dies dafür, das Verbot der erheblichen grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen allenfalls in Fällen als eigenständige Ausprägung des Nichtschädigungsgebots anzuerkennen, in denen ein Staat eine in höchstem Maße risikoge-

68

Vgl. Art. 2 und 3 der von der UN-Generalversammlung zur Kenntnis genommenen Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (UN Doc. A/RES/56/83 vom 12. 12. 2001). 69 Alternativ könnte erwogen werden, die Völkerrechtsverletzung in den schädigenden Folgen des an sich erlaubten Verhaltens zu erblicken; so Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 39, Rn. 51 ff. Eine solche Vermengung von Pflichtverletzung und Rechtsfolgen ist dem geltenden Recht der Staatenverantwortlichkeit indes unbekannt. 70 Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: Graf Vitzthum (Fn. 18), 7. Abschnitt, Rn. 20. 71 Siehe Fn. 46. 72 General Commentary to the ILC Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities, § 4 (YBILC 2001/II-2, 148): „It must be further noted that the well-established principle of prevention was highlighted in the arbitral award in the Trail Smelter case and was reiterated not only in principle 21 of the Declaration of the United Nations Conference on the Human Environment (Stockholm Declaration) and principle 2 of the Rio Declaration, but also in General Assembly resolution 2995 (XXVII) of 15 December 1972 on cooperation between States in the field of the environment“ (Fußnoten weggelassen). Aus der Literatur de Sadeleer, The Principles of Prevention and Precaution in International Law: Two Heads of the Same Coin?, in: Fitzmaurice/Ong/Merkouris (Hrsg.), Research Handbook on International Environmental Law, 2010, S. 182 f.; Hey (Fn. 20), 5 (10 f.). 73 Die Rio Deklaration (Fn. 2) stellt in Prinzip 2 lediglich allgemein darauf ab, dass „States have […] the responsibility to ensure that activities within their jurisdiction or control do not cause damage to the environment of other States or of areas beyond the limits of national jurisdiction.“ 74 Vgl. nur Birnie/Boyle/Redgwell (Fn. 3), S. 147 ff., insbes. S. 150 f.

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neigte Technologie zugelassen hat.75 Ein diesbezügliches Beispiel könnte etwa der unilaterale Einsatz einer Climate Engineering-Technologie mit zuvor nicht absehbaren gravierenden Konsequenzen für das Erdklima sein.76 So oder so harrt die Frage nach der fortbestehenden Relevanz des Trail Smelter-Prinzips auch nach der Pulp Mills-Entscheidung des IGH einer abschließenden Klärung. d) Wirkrichtungen des Präventionsgrundsatzes Es wurde bereits gezeigt, dass der IGH die spezialvertragliche, spezifisch auf die aquatische Umwelt des R†o Uruguay gerichtete Ausprägung des allgemeinen Gebots, alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um erhebliche grenzüberschreitende Verschmutzungen zu verhindern, in den Kanon der potentiell betroffenen materiell-rechtlichen Pflichten einordnete. Zugleich verkörpert der insofern zur Anwendung gelangende Maßstab der gebührenden Sorgfalt (due diligence) die prozedurale Seite des Präventionsprinzips, hinsichtlich derer der Gerichtshof die Informationspflicht zuvor als maßgebliche Voraussetzung für die Erfüllung der Pflicht zur Vorbeugung qualifiziert hatte.77 Somit verfügt das Präventionsprinzip sowohl über eine prozedurale aus auch eine materiell-rechtliche Seite: Die Erfüllung der materiell-rechtlichen Pflicht, alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um erhebliche grenzüberschreitende Verschmutzungen zu verhindern und die Umwelt zu schützen, wird erst über die Wahrung der Pflichten zur Information, Notifizierung und Konsultation gewährleistet.78 Als entscheidendes Bindeglied fungiert dabei die Pflicht zur Durchführung einer UVP, auf welche sich der IGH unmittelbar sowohl im prozeduralen Zusammenhang79 als auch im Kontext der materiell-rechtlichen Pflichten bezog. So stellte er fest: „It is the opinion of the Court that in order for the Parties properly to comply with their obligations under Article 41 (a) and (b) of the 1975 Statute, they must, for the purposes of protecting and preserving the aquatic environment with respect to activities which may be liable to cause transboundary harm, carry out an environmental impact assessment.“80

75 Bejahend Jenks, Liability for Ultra-Hazardous Activities in International Law, Recueil des Cours (RdC) 117 (1966-I), 105 ff. 76 Zu Climate Engineering vgl. Rickels et al., Gezielte Eingriffe in das Klima? Eine Bestandsaufnahme der Debatte zu Climate Engineering. Sondierungsstudie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2011, abrufbar unter: http://www.kiel-earth-institute.de/ projekte/forschung/gesamtstudie. 77 Siehe o. Fn. 50. 78 Siehe auch Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Joint Dissenting Opinion Al-Khasawneh/Simma, § 26, abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/135/ 15879.pdf. Aus der Literatur etwa Beyerlin/Marauhn (Fn. 48), S. 41. 79 Siehe o. Fn. 51. 80 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Urteil vom 20. 04. 2010, ILM 49 (2010), 1123 (1166) (§ 204), Hervorhebung hinzugefügt.

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Die materiell-rechtliche Pflicht, die Umwelt zu schützen und zu bewahren, sei dabei ihrerseits im Lichte der Pflicht zur Vornahme einer UVP zu interpretieren: „[T]he obligation to protect and preserve, under Article 41 (a) of the Statute, has to be interpreted in accordance with a practice, which in recent years has gained so much acceptance among States that it may now be considered a requirement under general international law to undertake an environmental impact assessment where there is a risk that the proposed industrial activity may have a significant adverse impact in a transboundary context, in particular, on a shared resource. Moreover, due diligence, and the duty of vigilance and prevention which it implies, would not be considered to have been exercised, if a party planning works liable to affect the r¦gime of the river or the quality of its waters did not undertake an environmental impact assessment on the potential effects of such works.“81

Zusammenfassend liegt der Entscheidung des IGH damit folgende Argumentationslinie zugrunde: Die prozeduralen Pflichten zur Information, Notifizierung und Konsultation bilden die Voraussetzung für die Pflicht zur Durchführung einer UVP, bei der es sich um eine Konkretisierung des Verhaltensmaßstabs der due diligence handelt. Letzterer ist zugleich die Basis der materiell-rechtlichen Pflicht, die Umwelt zu schützen und zu bewahren sowie Verschmutzungen zu vermeiden. Ob ein Staat auf der Grundlage dieser Pflicht die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen zur Vorbeugung von Umweltbeeinträchtigungen ergriffen hat, ist wiederum maßgeblich unter Bezugnahme auf die Pflicht zur Durchführung einer UVP zu beurteilen. Deren Ergebnisse schließlich sind den potentiell von negativen Umwelteinwirkungen betroffenen Staaten zu notifizieren. Letztlich zwingt diese Argumentationslinie im Kern zu der Schlussfolgerung, dass die prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten zum Schutz der Umwelt sowohl hinsichtlich ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen als auch mit Blick auf die Rechtsfolgen aufeinander aufbauen, wechselseitig Bezug nehmen und letztlich damit untrennbar miteinander verbunden sind. Insofern hätte der IGH die beiden Pflichtenkategorien auf der Grundlage seiner eigenen Argumentation nicht getrennt voneinander analysieren dürfen. Wenn die – tatbestandlich engeren und spezifischeren – prozeduralen Pflichten der Information, Benachrichtigung und Konsultation die Grundlage bilden für die effektive Implementierung der „offeneren“ und „elastischeren“ materiell-rechtlichen Gebote, besteht eine deutlichere Verbindung zwischen den beiden Kategorien als ein bloßer „functional link“.82 Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um normative Ausprägungen ein und desselben Prinzips – des Grundsatzes der Prävention bzw. Vorbeugung –, von dessen gewohnheitsrechtlicher Geltung der IGH selbst ausgegangen war. Von daher hätte er aus dem Verstoß gegen die Pflichten zur Information und Benachrichtigung – auch unter den spezifischen Vorgaben des Statute of the River Uruguay – eine Verletzung der Pflicht zum Schutz und zur Bewahrung der Umwelt ableiten müssen. Dafür spricht auch, dass der Gerichtshof mit der im Kontext der materiell-rechtlichen Pflichten durch81 82

Ebd. Siehe auch die Kritik von Plakokefalos (Fn. 31), 169 (180 f.).

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geführten Prüfung des Vorliegens einer erheblichen Umweltbeeinträchtigung letztlich doch – und in systemwidriger Weise – einen rechtsfolgenbezogenen Ansatz verfolgte. Denn im Hinblick auf die präventive Dimension des Nichtschädigungsgebots, die vom IGH zuvor für einschlägig erachtet worden war, ist das Vorliegen eines Schadens grundsätzlich nicht erforderlich, sieht man von dessen Indizwirkung für die Frage der Einhaltung der gebührenden Sorgfalt ab. Den – grundsätzlich zu befürwortenden – Weg zu einer „proceduralisation of international water law“83 ging der Gerichtshof nicht zu Ende. Im Ergebnis verdient daher die pointierte Kritik der Richter Al-Khasawneh und Simma Zustimmung.

IV. Abschließende Würdigung Das Fazit hinsichtlich der Überzeugungskraft der Argumentation des IGH im Pulp Mills-Fall fällt zwiespältig aus.84 Einerseits hat der Gerichtshof das – bislang vergleichsweise unscharfe – Präventionsprinzip in erheblichem Maße konkretisiert und damit einen bedeutenden Beitrag zur Konzeption und Relevanz der allgemeinen Grundsätze des Umweltvölkerrechts geleistet. Dass der Status jenes Prinzips in seiner Ausprägung als Verbotsnorm dabei unklar geblieben ist, vermag an der positiven Einschätzung im Grundsatz nichts zu ändern. Überdies hat der IGH die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten in verdienstvoller Weise herausgearbeitet und das Kriterium der Einhaltung der gebührenden Sorgfalt, dem auch die Pflicht zur Durchführung einer UVP zuzuordnen ist, zum zentralen Maßstab für die Beurteilung staatlichen Handels hinsichtlich potentieller grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen erkoren. Andererseits enttäuscht vor allem, dass der Gerichtshof den argumentativ zuvor eingeschlagenen Weg nicht konsequent zu Ende judiziert hat. Nach der Logik der Pulp Mills-Entscheidung verkörpert die in der bloßen gerichtlichen Feststellung eines Pflichtverstoßes liegende Genugtuung grundsätzlich eine ausreichende Wiedergutmachung; denn selten wird es möglich sein, unabhängig von einem Verstoß gegen die prozeduralen Pflichten eine Verletzung des materiellen Nichtschädigungsgebots einzuklagen. Etwas anderes lediglich in Situationen anzunehmen, in denen bereits ein Schaden an der Umwelt entstanden ist, widerspricht dem Erfordernis, Anreize für die Einhaltung des Umweltvölkerrechts zu setzen, um Schädigungen der Umwelt in einem wahrhaft vorbeugenden Sinne zu vermeiden. Letztlich bedeutet so das Urteil eine Schwächung des materiell-rechtlichen Umweltvölkerrechts und seiner allgemeinen Grundsätze. Es ist zu hoffen, dass der Gerichtshof die schematische Differenzierung zwischen prozeduralen und materiell-rechtlichen Pflichten um des Schutzes der Umwelt und der Gewährleistung nachhaltiger Entwicklung willen bei nächster Gelegenheit aufgibt oder jedenfalls relativiert. 83 84

McIntyre (Fn. 31), 475 (489). Ähnlich die Einschätzung von Plakokefalos (Fn. 31), 169 (180 ff.).

Die Anwendbarkeit der §§ 31 und 831 BGB im Rahmen der Handlungshaftung für Gewässerschäden aus § 89 Abs. 1 WHG Von Peter Reiff

I. Einführung Der Verfasser dieses Beitrages hat mit dem Jubilar in der Fakultät und vor allem im IUTR mehrere Jahre vertrauensvoll und freundschaftlich zusammengearbeitet. Meinhard Schröder hat dabei immer wieder großes Interesse an (umwelt-)privatrechtlichen Fragestellungen gezeigt. Es ist daher zu hoffen, dass die folgenden Ausführungen seine wissenschaftliche Neugier wecken. Gewässer verschiedener Art einschließlich des Grundwassers sind einer stetig wachsenden Beanspruchung ausgesetzt. Neben dem häufig gedankenlosen Umgang im privaten Bereich ist allen voran die industriell begründete Schädigung zu nennen. Konsequenz ist nicht nur der Schaden am Umweltmedium und den damit zusammenhängenden natürlichen Ressourcen selbst, sondern zugleich kommt es regelmäßig zu Einbußen Privater, etwa des Eigentümers eines Gewässers. Hierdurch wird ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG begründet. Diese Vorschrift kodifiziert eine Handlungshaftung, so dass der Anspruchsgegner relativ einfach zu ermitteln sein müsste: eben derjenige, der tatsächlich handelt. Jedoch ist wegen der Vielfältigkeit der Nutzer und vor allem der Komplexität der bestehenden Unternehmensstrukturen oft nicht ohne weiteres zu erkennen, wer letztlich „Handelnder“ ist und daher haften muss. Die stets stattfindende Einbeziehung von Hilfspersonen einerseits und die fehlende Handlungsfähigkeit von juristischen Personen andererseits bilden die zentralen Aspekte innerhalb dieser Problematik. Für ihre Lösung wird den §§ 31 und 831 Abs. 1 BGB eine tragende Rolle zugesprochen. Ob dies gerechtfertigt ist, soll nach einem kurzen Überblick über den Haftungstatbestand der Vorschrift im Folgenden erläutert werden. Dabei ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass eine strikte Trennung der beiden Normen unabdingbar ist.

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II. Der Haftungstatbestand des § 89 Abs. 1 WHG – ein Überblick In § 89 WHG sind zwei voneinander unabhängige privatrechtliche Haftungstatbestände normiert. Während § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG eine Gefährdungshaftung des Anlagenbetreibers normiert, ist die im Zentrum dieses Beitrags stehende Vorschrift des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG einem historisch jüngeren Typ der Gefährdungshaftung zuzuordnen: der Handlungshaftung. Zum Ausdruck kommt dies durch die haftungsbegründenden Tatbestandsalternativen. Derjenige, der Stoffe in ein Gewässer einbringt oder einleitet oder in anderer Weise auf ein Gewässer einwirkt, ist zum Ersatz des daraus resultierenden Schadens verpflichtet, wenn es hierdurch zu einer nachteiligen Veränderung1 der Wasserbeschaffenheit2 kommt. Ein Verschulden ist nicht erforderlich. Während sich das „Einbringen“ auf feste Stoffe bezieht,3 z. B. wenn Fische in einen Teich eingesetzt werden, Baggergut aus einem Gewässer in ein anderes Gewässer abgeladen wird oder wenn Holz in das Gewässer zum Zwecke der Nasskonservierung (vorübergehend) eingelagert wird, geht es beim „Einleiten“ um flüssige, schlammige und gasförmige Stoffe.4 Hierbei steht die Einleitung von Abwasser im Vordergrund. Beide Handlungsalternativen setzen schon begrifflich voraus, dass sich der Stoff zunächst außerhalb des Gewässers befunden hat, wobei eine Wiedereinbringung genügt.5 Das dritte Merkmal des „in anderer Weise Einwirkens“ hat hingegen Auffangfunktion. Es betrifft Handlungen, die weder als Einbringen noch als Einleiten von Stoffen bezeichnet werden können. Hierunter fallen u. a. die radioaktive Bestrahlung eines Gewässers6 und die Erwärmung eines Gewässers durch Hochöfen oder Reaktoren.7 Der Tatbestand des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG lässt sich indes nicht nur durch aktives Tun, sondern ebenfalls durch ein Unterlassen verwirklichen.8 1 Hierzu und zum Erheblichkeitserfordernis siehe BGHZ 103, 129 (136). Auch eine schlechte Wasserqualität kann noch nachteilig verändert werden, vgl. BGHZ 103, 129 (138). 2 Zur Wasserbeschaffenheit vgl. § 3 Nr. 9 WHG: „die physikalische, chemische oder biologische Beschaffenheit des Wassers eines oberirdischen Gewässers oder Küstengewässers sowie des Grundwassers“. 3 Knopp, in: Sieder/Zeitler/Dahme, Wasserhaushaltsgesetz und Abwasserabgabengesetz, § 3, 2010, Rn. 17. 4 Knopp, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 3, Rn. 17. 5 Zum Einbringen BGH, NVwZ 2004, 764 (766). 6 BT-Drucks. 2/3536, S. 14. 7 Kotulla, Wasserhaushaltsgesetz, 2003, § 22, Rn. 9; Reinhardt, Wasserhaushaltsgesetz, 10. Aufl., 2010, § 89, Rn. 29. 8 Kohler, in: Staudinger, BGB, Buch 3: Sachenrecht, Umwelthaftungsrecht, 2010, § 89 WHG, Rn. 41; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II 2, 1994, S. 633; Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 18; Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 18a; Janke-Weddige, Zur Einleiterhaftung gemäß § 22 Abs. 1 WHG, ZfW 1988, 381 (383). Zum Einleiten BGHZ 65, 221 (223 ff.); BGH, VersR 1986, 92 (94); VersR 2002, 1555 (1557).

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Voraussetzung für alle Handlungsalternativen, auch die des Unterlassens, ist eine zweckgerichtete Verursachung. Damit einher geht jedoch keine subjektive Finalität.9 Vielmehr genügt, auch nach Ansicht des BGH,10 eine objektive Finalität. Es bedarf also einer Handlung, deren objektive Eignung darauf abzielt, dass Stoffe in ein Gewässer gelangen. Hierbei muss nach dem BGH ein funktioneller Zusammenhang mit einer Gewässerbenutzung vorliegen, was regelmäßig nur der Fall sei, wenn die Handlungen unmittelbar auf ein Gewässer einwirkten, nicht hingegen, wenn sie lediglich mittelbar die Beschaffenheit des Wassers beeinflussten. Ersatzberechtigt ist derjenige, der durch die nachteilige Veränderung der Wasserbeschaffenheit einen Schaden erlitten hat. Das muss nicht der Eigentümer des Gewässers sein. Einen Ersatzanspruch nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG hat indes nur, wer durch die Veränderung der Wasserbeschaffenheit infolge der Einwirkung auf das Gewässer persönlich und unmittelbar einen Schaden erlitten hat,11 wer also durch die Verschlechterung des Wassers selbst betroffen ist. Ersatzberechtigt sind daher vor allem diejenigen, die das Wasser zur Wasserversorgung, zur Bewässerung, zur Fischzucht oder zu gewerblichen Zwecken benutzen.12 Hierbei ist unerheblich, ob die beeinträchtigte Gewässerbenutzung ihrerseits öffentlich-rechtlich legitimiert ist;13 jedenfalls schließt das Fehlen einer Erlaubnis einen Schadensersatzanspruch nicht grundsätzlich aus.14 Nicht geschützt sind dagegen Personen, die nur mittelbar betroffen sind. Hierzu zählen beispielsweise Abnehmer und Lieferanten eines Fischzuchtbetriebes oder der Inhaber eines Verkaufsgeschäfts für Badeartikel, dessen Umsatz zurückgeht, weil das Baden in einem nahegelegenen Gewässer verboten wird.15

III. Der Handelnde als Anspruchsgegner Anspruchsgegner und damit ersatzpflichtig ist derjenige, dem die schädigende Handlung zuzurechnen ist, mithin wer die Stoffe eingeleitet oder eingebracht oder in anderer Weise auf das Gewässer eingewirkt hat, so dass die Wasserbeschaffenheit nachteilig verändert wurde. Die Beantwortung der Frage, wer „Handelnder“ ist und 9 So aber Larenz/Canaris (Fn. 8), S. 635; Kotulla (Fn. 7), § 22, Rn. 10 f.; Scheier/Klowait, Haftungsfragen im Zusammenhang mit dem Betrieb von Untertagedeponien – Die Haftung des Deponiebetreibers, ZfW 1993, 129 (131). 10 BGHZ 124, 394 (396 f.), bestätigt durch BGHZ 172, 287 (291). 11 BGH, NJW 1981, 2416 (2417). 12 BGH, VersR 1972, 463 (465). 13 Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl., 2004, Rn. 1124; Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 37; Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 30; offen gelassen von BGH, VersR 1984, 541 (542), solange es keine verbotene Gewässerbenutzung ist. 14 BGHZ 55, 180 (186 f.), wonach das Fehlen nur als mitwirkendes Verschulden (§ 254 BGB) zu berücksichtigen ist; BGHZ 57, 257 (260). 15 BGH, VersR 1972, 463 (465). Ersatzpflichtig ist nach diesem Urteil aber der Umsatzrückgang einer Gaststätte, die mit einem wegen schlechter Wasserqualität geschlossenen Schwimmbad eine wirtschaftliche Einheit bildet, hiergegen Larenz/Canaris (Fn. 8), S. 637.

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damit aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG haftet, kann insbesondere bei der Einbeziehung Dritter problematisch sein.

IV. Die Haftung bei der Einbeziehung Dritter Die Frage nach dem Anspruchsgegner stellt sich vor allem dann, wenn Hilfspersonen eingeschaltet wurden. In einer arbeitsteiligen Wirtschaft sind regelmäßig mehrere Hierarchieebenen und damit mehrere Personen an den Einwirkungen auf ein Gewässer beteiligt. Dann kann unklar sein, wer Handelnder i.S.d. § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG ist. Zur Verdeutlichung diene folgendes, der Rechtsprechung16 nachgebildetes Beispiel: Ein Installateur schüttet mehrere Eimer mit giftiger Lauge in einen Bach. Sein Chef, Installateurmeister und Betriebsinhaber, weiß davon nichts, hat ihm aber andererseits keine Behälter zum gefahrlosen Abtransport mitgegeben und hat Kenntnis davon, dass ein Bach hinter dem Haus vorbeiläuft. Hierdurch erleidet Forellenzüchter F, der nicht Eigentümer des Baches ist, aber eine Erlaubnis zur Wasserentnahme hat, einen Schaden. 1. Die Anwendbarkeit von § 831 BGB a) Meinungsstand in der Literatur Häufig wird diese Frage dahingehend beantwortet, dass beide nach dem WHG einstandspflichtig sind. Die wohl h.M. in der Literatur hält nämlich die Vorschrift des § 831 BGB im Rahmen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG für anwendbar. Für Verrichtungsgehilfen hafte der Geschäftsherr nach § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB.17 Danach haftet im Beispiel der Installateur als Handelnder nach § 89 Abs.1 Satz 1 WHG, sein Chef nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG mit § 831 BGB. Die sich daran anschließende weitere Frage, ob sich der Geschäftsherr nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB entlasten kann, wenn er nachweist, dass ihn kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden trifft, wird innerhalb dieser Ansicht ganz überwiegend bejaht.18 Lässt man den Ent16

BGH, VersR 1965, 183. Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 12; Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40a; Gieseke, Die Haftung für Änderung der Wasserbeschaffenheit nach dem neuen deutschen Wasserrecht, ZfW 1962, 4 (23); Breuer (Fn. 13), Rn. 1114; Belling, in: Staudinger, BGB: §§ 830 – 838, Neubearb. 2008, § 831, Rn. 52; Hilf, in: Giesberts/Reinhardt (Hrsg.), BeckÏscher Online-Kommentar Umweltrecht, § 89 WHG (2011), Rn. 27.1; Wernicke, Gefährdungshaftung nach § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes, NJW 1958, 772 (775); Balensiefen, Umwelthaftung, 1994, S. 212; OLG Köln, ZfW 1988, 374 (375). 18 Für Möglichkeit des Entlastungsbeweises Gieseke (Fn. 17), 4 (23); Belling, in: Staudinger (Fn. 17), § 831, Rn. 52; Balensiefen (Fn. 17), S. 212; Bartholmes, Umweltrechtliche Verantwortlichkeit als mittelbarer Verursacher von Umwelteinwirkungen, 2006, S. 129; Breuer (Fn. 13), Rn. 1114; einschränkend Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 12; Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40a; Hilf, in: Giesberts/Reinhardt (Fn. 17), 17

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lastungsbeweis zu und gelingt dem Chef dieser Beweis, dann entfällt im Beispiel seine Haftung und der Installateur haftet aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG alleine. Eine in der Literatur ebenfalls sehr stark vertretene, abweichende Auffassung spricht sich mit unterschiedlichen Begründungen gegen eine Anwendbarkeit des § 831 Abs. 1 BGB im Rahmen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG aus.19 Sie interpretiert die Merkmale des Einbringens, Einleitens und sonstigen Einwirkens aber so, dass Handelnder derjenige ist, der die Herrschaftsgewalt über den Vorgang hat.20 Im Beispiel kommt es danach regelmäßig zu einer Haftung (nur) des Chefs aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG. Zwar hat er keine Anweisung gegeben, die Eimer mit der Lauge in den Bach zu schütten. Er hat aber den gesamten Reparatureinsatz als Betriebsinhaber beherrscht und konkret dadurch gesteuert, dass er keine Behälter zum Abtransport der Lauge mitgegeben hatte. Er wusste zudem von dem angrenzenden Bach, kannte also die potentiell gewässergefährdenden Auswirkungen des von ihm veranlassten Einsatzes. Er hat daher jedenfalls durch Unterlassen den Tatbestand des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG erfüllt. b) BGH-Rechtsprechung Der BGH hat zu diesem Streit keine Stellung genommen. Er hat es bislang offengelassen, ob § 831 BGB im Rahmen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG anwendbar ist.21 Er konnte dies, weil er die Handlungsformen des Einbringens, Einleitens und sonstigen Einwirkens „normativ überhöht“22 hat. Mit Einbringen, Einleiten oder sonstigem Einwirken ist nach dem BGH nämlich nicht unbedingt die „manuelle Tätigkeit“ gemeint. Vielmehr kann aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG haften, wer bei dem haftungsbegründenden Vorgang nicht selbst „Hand angelegt“ hat. Die „Herrschaft“ über diesen Vorgang kann, so der BGH, auch eine geistige sein, die durch Befehle, Anweisungen und dergleichen ausgeübt wird. Maßgeblich sind danach zwar die tatsächlichen Verhältnisse. Diese werden aber durch rechtliche Beziehungen beeinflusst.23 Diese An-

§ 89 WHG, Rn. 27.1; Entlastungsbeweis völlig ablehnend Schimikowski, Umwelthaftungsrecht und Umwelthaftpflichtversicherung, 6. Aufl., 2002, Rn. 166. 19 Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 53; Schröder, Die wasserrechtliche Gefährdungshaftung nach § 22 WHG in ihren bürgerlichrechtlichen Bezügen, BB 1976, 63 (69); Janke-Weddige (Fn. 8), 381 (382); Theisel, Probleme der wasserrechtlichen Gefährdungshaftung, BB 1965, 637 (639); Aschenberg, Neue Aspekte und Rechtsprechung zur Haftung nach § 22 WHG, ZfW 1968, 250 (254) in Fn. 12; Nawrath, Haftung, 1982, S. 91 ff.; Frey, Haftung für Altlasten, 1992, S. 94; Wang, Die deliktsrechtliche Verantwortlichkeit mehrerer unter besonderer Berücksichtigung des Umwelthaftungsgesetzes, 1998, S. 212 f.; wohl auch Kotulla (Fn. 7), § 22, Rn. 45. 20 Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 53; Janke-Weddige (Fn. 8), 381 (382); Frey (Fn. 19), S. 94; Nawrath (Fn. 19), S. 94; wohl auch Schröder (Fn. 19), 63 (69). 21 BGH, NJW 1976, 1686. 22 Formulierung nach Wagner, in: Handbuch des Umweltrechts, Bd. I, 1. Aufl., 1989, Sp. 967. 23 BGH, NJW 1976, 1686.

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sicht des BGH führt im Beispiel wohl ebenfalls zu einer Haftung (nur) des Chefs aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG. 2. Stellungnahme a) Die Grundstruktur von § 831 BGB § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB führt dann zu einer Haftung, wenn ein Verrichtungsgehilfe bestellt wurde, dieser widerrechtlich einen Schaden bei einem Dritten herbeigeführt hat und dies in Ausführung der Verrichtung geschehen ist. Es handelt sich also um einen eigenständigen Haftungstatbestand.24 Systematisch folgt daraus gerade keine Zurechnung eines Fehlverhaltens, wie sie etwa § 278 BGB im Bereich vertraglicher Beziehungen zugrunde liegt, sondern eine Haftung für eigenes Auswahlund Überwachungsverschulden. Der Tatbestand enthält neben der Vermutung einer schuldhaften Pflichtverletzung auch eine solche hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Zugleich steht dem potentiellen Haftungsadressaten für beide Alternativen eine Exkulpationsmöglichkeit zur Verfügung, vgl. § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB. Eine Haftung scheidet hiernach aus, wenn bei der Auswahl und Überwachung des Verrichtungsgehilfen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt angewandt wurde oder wenn der Schaden auch bei Beachtung derselben eingetreten wäre. b) Konkurrenz zwischen § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG und § 831 BGB Vor diesem Hintergrund ist die hier nur verkürzt und vereinfacht wiedergegebene Kontroverse nur schwer nachzuvollziehen. Es wird nämlich nicht immer hinreichend deutlich, was die jeweiligen Autoren wirklich meinen, wenn es um die Anwendung des § 831 BGB geht. So ist häufig schon unklar, ob diese Vorschrift als Zurechnungsnorm im Rahmen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG dienen soll oder ob sie ganz regulär als eigene deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage angewendet wird.25 Der zweite Fall ist wohl gemeint, wenn von einer Anwendung des § 831 BGB „neben“ § 89 WHG gesprochen wird.26 Dieser zweite Fall gehört sachlich zu den Konkurrenzen. Es geht dann nicht (allein) um die Gefährdungshaftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG, sondern (außerdem) um die Verschuldenshaftung aus §§ 823 ff. BGB. Dass das all24 Teichmann, in: Jauernig (Hrsg.), BGB, 13. Aufl., 2009, § 831, Rn. 1; Sprau, in: Palandt, BGB, 69. Aufl., 2010, § 831, Rn. 1. 25 Zur Unterscheidung zwischen beiden Haftungsformen sehr klar Bartholmes (Fn. 18), S. 128; i.d.S. auch Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5, 5. Aufl., 2009, § 831, Rn. 10. Der Beispiels-Sachverhalt aus Zeit vor Inkrafttreten des WHG ist rein deliktsrechtlich entschieden von BGH, VersR 1965, 183. 26 Spindler, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), BeckÏscher Online-Kommentar zum BGB, 2010, § 831, Rn. 4; Sprau, in: Palandt (Fn. 24), § 831, Rn. 4; wohl auch Breuer (Fn. 13), Rn. 1114; möglicherweise auch Belling, in: Staudinger (Fn. 17), § 831, Rn. 52.

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gemeine Deliktsrecht und damit auch § 831 BGB in Anspruchskonkurrenz zur Haftung aus § 89 WHG stehen kann, ist völlig unproblematisch. So kann im Beispiel nicht zweifelhaft sein, dass der Installateur schuldhaft eine rechtswidrige, unerlaubte Handlung begangen hat, für die er nach § 823 Abs. 1 BGB haftet. Sein Chef haftet nach § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB, weil ihn ebenfalls ein Verschulden trifft, so dass er sich nicht exkulpieren kann.27 c) Keine Anwendbarkeit von § 831 BGB im Rahmen des § 89 Abs. 1 WHG Diese mit der Gefährdungshaftung konkurrierende deliktische Haftung aus § 831 Abs. 1 BGB kann aber dann nicht eingreifen, wenn das Einbringen usw. keine unerlaubte rechtswidrige Handlung eines „Verrichtungsgehilfen“ ist, so dass eine Zurechnung ausscheidet,28 bzw. wenn es für § 831 Abs. 1 BGB an einem Überwachungsverschulden des Geschäftsherrn fehlt.29 In solchen Ausnahmefällen rückt die Gefährdungshaftung nach dem WHG in den Fokus. In diesem Zusammenhang fragt sich, ob § 831 BGB als Zurechnungsnorm für § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG fungieren kann. Nach der wohl h.L.30 ist dies zu bejahen. Die Tatbestandserfüllung des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG durch den Gehilfen ist danach stets eine Handlung, für die der Geschäftsherr – nach manchen sogar ohne Exkulpationsmöglichkeit, also verschuldensunabhängig31 – haftet, weil sie ihm gemäß § 831 BGB zugerechnet wird. Dem ist nicht zu folgen. Für Gefährdungshaftungstatbestände gilt § 831 BGB nicht.32 Die Vorschrift normiert eine Haftung für vermutetes Verschulden und ist demzufolge mit einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung nicht kompatibel.33 Es ist aber auf der anderen Seite nicht angängig, die Exkulpationsmöglichkeit auszuschließen oder einzuschränken und so das Verschuldenserfordernis zu mini-

27 Zum Überwachungsverschulden des Geschäftsherrn in diesem Fall BGH, VersR 1965, 183 (185). 28 Hierzu Bartholmes (Fn. 18), S. 128 mit S. 221 f. 29 Zum Verschulden des Geschäftsherrn BGH, VersR 1965, 183 (185). 30 Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 12; Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40a; Gieseke (Fn. 17), 4 (23); Breuer (Fn. 13), Rn. 1114; Belling, in: Staudinger (Fn. 17), § 831, Rn. 52; Hilf, in: Giesberts/Reinhardt (Fn. 17), § 89 WHG, Rn. 27.1; Wernicke (Fn. 17), 772 (775); Balensiefen (Fn. 17), S. 212; OLG Köln, ZfW 1988, 374 (375). 31 Den Entlastungsbeweis völlig ablehnend Schimikowski (Fn. 18), Rn. 166; einschränkend Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 12; Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40a; Hilf, in: Giesberts/Reinhardt (Fn. 17), § 89 WHG, Rn. 27.1; für Möglichkeit des Entlastungsbeweises Gieseke (Fn. 17), 4 (23); Belling, in: Staudinger (Fn. 17), § 831, Rn. 52; Balensiefen (Fn. 17), S. 212; Bartholmes (Fn. 18), S. 129, Breuer (Fn. 13), Rn. 1114. 32 So lapidar, aber völlig zutreffend Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB (Fn. 25), § 831, Rn. 10; i.d.S. auch Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 53. 33 Nawrath (Fn. 19), S. 93; so wohl auch Kotulla (Fn. 7), § 22, Rn. 45.

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mieren oder zu entfernen.34 Dies liefe nämlich auf eine Ausdehnung der Gefährdungshaftung hinaus, die dem Gesetzgeber vorbehalten ist.35 Gegen die systemwidrige Anwendung des § 831 BGB im Rahmen der Handlungshaftung des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG spricht ferner, dass für sie kein Bedarf besteht.36 Die beiden Handlungsarten Einbringen und Einleiten entsprechen nämlich begrifflich den Formulierungen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 WHG, wo sie als Benutzungsart definiert sind.37 Vorausgesetzt wird also ein funktioneller Zusammenhang mit einer Gewässerbenutzung.38 Die für die Benutzung erforderliche öffentlich-rechtliche Erlaubnis nach §§ 8, 10 ff. WHG wäre aber dem Geschäftsherrn zu erteilen, nicht seinen Hilfspersonen. Er ist der Risikoträger. Das Einleiten usw. ist schon aus diesem Grund als Handlung des Geschäftsherrn anzusehen, auch wenn er Hilfspersonen einschaltet.39 Die „normative Überhöhung“ der Handlungsformen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG durch den BGH ist also völlig zutreffend. Danach haftet aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG, wer die „Herrschaft“ durch Befehle, Anweisungen und dergleichen über den Vorgang des Einbringens usw. hat.40 Die Sachverhalte, die nach § 831 BGB zugerechnet werden sollen, fallen demnach stets direkt unter § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG.41 Ein Bedarf an einer Anwendung des § 831 BGB im Rahmen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG besteht auch deshalb nicht, weil sehr häufig neben § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG auch die Haftung des Anlagenbetreibers aus § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG tritt.42 Denn die ganz h.M. in der Literatur ist trotz der Worte „ohne in dieses eingebracht oder eingeleitet zu sein“ in § 89 Abs. 2 WHG der Ansicht, dass es sich insoweit nicht um ein negatives Tatbestandsmerkmal handelt. Sie legt die Vorschrift vielmehr teleologisch so aus, dass die Anlagenhaftung „auch“ ohne Einbringen oder Einleiten eintritt.43 Die Rechtsprechung ist dem jedenfalls im Ergebnis gefolgt, denn sie wendet beide Absätze des § 89 WHG nebeneinander an.44 In Anbetracht der Weite des Anlagenbegriffs45 sind Sachverhalte, bei denen nur die Handlungs-, aber nicht die 34

So sehr klar und überzeugend Bartholmes (Fn. 18), S. 129. Vgl. die insoweit zutreffende Argumentation von Belling, in: Staudinger (Fn. 17), § 831, Rn. 52. 36 Ebenso Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 53; Janke-Weddige (Fn. 8), 381 (382); Frey (Fn. 19), S. 94. 37 Breuer (Fn. 13), Rn. 1102 zu § 22 WHG a.F. und § 3 Abs. 1 Nr. 4, 4a und 5 WHG a.F. 38 BGHZ 124, 394 (396 f.); Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 16; Breuer (Fn. 13), Rn. 1102. 39 Nawrath (Fn. 19), S. 94; Bartholmes (Fn. 18), S. 128; ähnlich Theisel (Fn. 19), 637 (639 f.). 40 BGH, NJW 1976, 1686. 41 Nawrath (Fn. 19), S. 94; ähnlich Schröder (Fn. 19), 63 (69) und Theisel (Fn. 19), 637 (639 f.). Im Ergebnis wie hier auch Bartholmes (Fn. 18), S. 128 mit S. 221 f. 42 I.d.S. Wagner (Fn. 22), Sp. 967. 43 Siehe hierzu Breuer (Fn. 13), Rn. 1137 m.w.N. 44 BGHZ 57, 170 (173); BGH, NJW 1986, 2312 (2313); BGHZ 124, 394 (397). 45 Siehe hierzu Breuer (Fn. 13), Rn. 1134 m.w.N. 35

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Anlagenhaftung eintritt, sehr selten.46 Betreiber der Anlage ist in aller Regel der Betriebsinhaber, so dass bei der Anlagenhaftung aus § 89 Abs. 2 WHG für eine Zurechnungsnorm wie § 831 BGB weder Raum noch Bedarf besteht. 3. Zwischenfazit Letztlich hat die Kontroverse nur in wenigen Fällen Auswirkungen auf das für die Praxis relevante Ergebnis. Es sind Fälle, in denen weder das Deliktsrecht noch die Anlagenhaftung des § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG eingreifen. Hier schließlich können die Ergebnisse der h.M. unter Wertungsgesichtspunkten nicht überzeugen. Denn sie führen zu einer Handlungshaftung des (nicht schuldhaft handelnden) Gehilfen aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG, aber zu keiner Haftung des Geschäftsherrn, da er sich mangels Verschulden exkulpieren kann. Demgegenüber haftet nach der hier vertretenen Ansicht in aller Regel der Geschäftsherr als Handelnder aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG, der (schuldlos handelnde) Gehilfe hingegen nicht. Dies überzeugt auch bei wertender Betrachtung, weil der Geschäftsherr die Vorteile aus dem Handeln des Gehilfen zieht und das Risiko der Gefährdungshaftung als Teil seines Betriebsrisikos anzusehen ist, das er versichern und in seiner Preiskalkulation berücksichtigen kann.

V. Die Haftung einer juristischen Person gemäß § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG Die Frage der Verantwortlichkeit einer juristischen Person nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG ist streng von der soeben erörterten Problematik der Anwendbarkeit des § 831 BGB zu trennen. Vielmehr gilt das zu § 831 BGB Gesagte unabhängig davon, ob der Geschäftsherr eine natürliche oder eine juristische Person ist. Begeht der Verrichtungsgehilfe ein Delikt, so haftet daher der Geschäftsherr, auch wenn er eine juristische Person ist, vorbehaltlich seiner Entlastungsmöglichkeit gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB aus vermutetem Verschulden nach § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB. Hingegen ist § 831 BGB im Rahmen der Gefährdungshaftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG nicht als Zurechnungsnorm anzuwenden, auch dann nicht, wenn der Gewässerbenutzer eine juristische Person ist, für die Hilfspersonen tätig werden. § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG statuiert eine Handlungshaftung. Um aus dieser Vorschrift zu haften, müsste die juristische Person demzufolge selbst Handelnder sein, also Stoffe in ein Gewässer einbringen, einleiten oder sonst auf das Gewässer einwirken. Da aber eine juristische Person als geistiges Konstrukt nicht selbst handeln kann, erlangt sie Handlungsfähigkeit nur durch ihre Organe.47 Sie muss daher 46

Nach Nawrath (Fn. 19), S. 93 in Fn. 4 bleiben letztlich nur „Eimerfälle“ wie der oben skizzierte Beispielsfall. 47 Hierzu und zum Folgenden näher Reuter, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1, 5. Aufl., 2006, § 31, Rn. 1.

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das Verhalten ihrer Organe ebenso verantworten wie ein Mensch sein eigenes Handeln. Dies gebietet zudem der Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung. Anderenfalls entfiele nämlich auch eine deliktische Haftung der juristischen Person für fremdes Handeln aus § 831 BGB, weil diese Vorschrift die eigene Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn voraussetzt. Die Aufgabe, der juristischen Person das Handeln ihrer Organe als eigenes zuzurechnen, ist im deutschen Recht § 31 BGB zugewiesen. Dieser Befund ist auf den ersten Blick überraschend. Bei den meisten Gefährdungshaftungstatbeständen ist es nämlich unerheblich, ob eine juristische oder natürliche Person als Ersatzpflichtige in Betracht kommt. Anders als bei der altehrwürdigen Deliktshaftung der §§ 823 ff. BGB, die an Handlungen anknüpft, die der juristischen Person erst über § 31 BGB zugerechnet werden müssen, sucht sich die modernere Gefährdungshaftung ihren Schuldner gleichsam selbst. Verpflichtung und Haftung werden unmittelbar bei dem Rechtssubjekt begründet, das die Kriterien des jeweiligen gesetzlichen Tatbestandes erfüllt. Juristische Personen und rechtsfähige Personengesellschaften haften also nicht anders als natürliche Personen unmittelbar, ohne Vermittlung des § 31 BGB aus § 7 StVG, wenn sie „Halter“ des Kfz sind.48 Ist die juristische Person „Betreiber“ einer Anlage, aus der Stoffe in ein Gewässer gelangen, die eine nachteilige Veränderung der Wasserbeschaffenheit herbeiführen, so haftet sie demnach unmittelbar aus § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG auf Schadensersatz, ohne dass ein Rückgriff auf § 31 BGB erforderlich wäre.49 Bei § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG liegen die Dinge indes anders, weil es sich hierbei zwar um eine Gefährdungshaftung handelt, aber um eine Handlungshaftung, so dass wie im Deliktsrecht eine Zurechnung nach § 31 BGB erforderlich ist. 1. Die Grundstruktur von § 31 BGB Die Vorschrift des § 31 BGB ist keine haftungsbegründende, sondern eine haftungszuweisende Norm.50 Sie gilt entgegen ihrer systematischen Stellung im Vereinsrecht nicht nur für rechtsfähige Vereine sowie über die Verweisungsnorm des § 86 BGB für die rechtsfähige Stiftung und über die des § 89 BGB für juristische Personen des öffentlichen Rechts, sondern für alle juristischen Personen des Privatrechts, etwa AG51, GmbH52 oder eG53, und über den Kreis der juristischen Personen hinaus auch für den nichtrechtsfähigen Verein54, für Vor-AG und Vor-GmbH55, für die 48 Reiff, Die Haftungsverfassungen nichtrechtsfähiger unternehmenstragender Verbände, 1996, S. 147 f. 49 Reiff, in: Berendes/Frenz/Müggenborg (Hrsg.), WHG, 2011, § 89, Rn. 84. 50 BGHZ 99, 298 (302). 51 BGH, NJW 2005, 2450 (2451 f.). 52 BGHZ 99, 298 (299 f.). 53 BGHZ 98, 148 (150). 54 BGHZ 42, 210 (216 und 221).

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Personenhandelsgesellschaften OHG und KG56 sowie für die (Außen-)GbR57. Nach zutreffender und nahezu einhelliger Ansicht in der Literatur58 ergibt sich daher die Haftung für Drittschäden nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG mit § 31 BGB, wenn eine der genannten Rechtsformen ein Gewässer benutzt. Der BGH hat dies für eine rechtsfähige Stiftung bejaht, die eine Privatschule betrieb, durch deren Abwässer ein Forellenzüchter Schäden erlitten hatte.59 § 31 BGB bestimmt, dass die juristische Person für den Schaden verantwortlich ist, „den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt“. Die Rechtsgrundlage der Ersatzpflicht spielt insoweit keine Rolle; § 31 BGB kann bei Delikten, Vertragsverletzungen, rechtmäßigem Handeln (§ 904 BGB) und Gefährdungshaftungstatbeständen eingreifen, bei letzteren aber nur, wenn sie wie etwa § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG ausnahmsweise an ein „Handeln“ anknüpfen.60 „Vorstand“ ist das Vertretungsorgan, bei der GmbH also etwa der Geschäftsführer (§ 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG). Der Begriff „verfassungsmäßig berufener Vertreter“ ist sehr weit zu verstehen. Seine Tätigkeit muss nicht in der Satzung der juristischen Person vorgesehen sein; er muss keine rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht für die juristische Person haben und sein Aufgabenbereich muss nicht zur geschäftsführenden Verwaltungstätigkeit gehören. Es reicht aus, dass ihm bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, dass er also die juristische Person auf diese Weise repräsentiert.61 Hierunter fallen vor allem Filialleiter und andere leitende Angestellte.62 Auch deren Handeln kann daher der ein Gewässer benutzenden juristischen Person zugerechnet werden. 2. Der Gewässerschutzbeauftragte nach § 64 WHG In Anbetracht dessen ist unklar, ob der Gewässerschutzbeauftragte, den bestimmte Gewässerbenutzer nach § 64 WHG (§ 21a WHG a.F.) bestellen müssen, verfas55

OLG Stuttgart, NJW-RR 1989, 637 (638). BGH, NJW 1952, 537 f. 57 BGHZ 154, 88 (93). 58 Breuer (Fn. 13), Rn. 1114; Reinhardt (Fn. 7) § 89, Rn. 11; Schwendner, in: Sieder/ Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40; Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 52; alle m.w.N. und beschränkt auf „juristische Personen“. 59 BGH, VersR 1970, 625 (626). Der BGH stützte sich auf §§ 31, 89 BGB; richtig wäre §§ 31, 86 BGB gewesen, weil es sich laut Sachverhalt um eine Stiftung des Privatrechts gehandelt hat. 60 Ellenberger, in: Palandt (Fn. 24), § 31, Rn. 2. Bei der Anlagenhaftung aus § 89 Abs. 2 Satz 1 WHG stellt sich die Frage der Anwendung wie oben bei Fn. 48 und 49 gesehen nicht. 61 BGHZ 49, 19 (21); BGH, NJW 1998, 1854 (1856). 62 Reuter, in: Münchener Kommentar zum BGB (Fn. 47), § 31, Rn. 20. 56

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sungsmäßig berufener Vertreter der juristischen Person ist. Einerseits sind ihm sicher bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbstständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen, wie der Aufgabenkatalog des § 65 Abs. 1 und 2 WHG eindrucksvoll belegt.63 Andererseits hat er ausschließlich eine beratende Stabsfunktion inne.64 Weisungsbefugnisse hat er nicht. Er berät die Geschäftsleitung, also die Organe der juristischen Person, die ihrerseits die Entscheidungen zu treffen und für ihre Umsetzung zu sorgen haben. Bei einer verschuldensunabhängigen Haftung wie der Gefährdungshaftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG ist es im Ergebnis unerheblich, ob der Gewässerschutzbeauftragte verfassungsmäßig berufener Vertreter der juristischen Person ist. Auch wenn man dies ablehnt, so gilt doch: Ist die Beratung des Gewässerschutzbeauftragten pflichtgemäß und wird sie vom Vorstand beachtet, so trifft an einem Schadenseintritt niemanden ein Verschulden, aber die juristische Person haftet für das Einwirken ihres Vorstandes auf ein Gewässer nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG mit § 31 BGB. Dasselbe gilt, wenn der Vorstand pflichtwidrig entgegen dem Rat des Gewässerschutzbeauftragten handelt und auch dann, wenn der Gewässerschutzbeauftragte pflichtwidrig berät und der Vorstand ihm pflichtgemäß folgt. Anders scheinen die Dinge freilich bei der deliktischen Haftung zu liegen. Die juristische Person ist nämlich nur dann nach §§ 823 ff., 31 BGB unbedingt, also ohne die Exkulpationsmöglichkeit nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB ersatzpflichtig, wenn ein Organ oder einen verfassungsmäßig berufenen Vertreter der juristischen Person ein Verschulden trifft. Hier ist anscheinend entscheidend, ob der Gewässerschutzbeauftragte verfassungsmäßig berufener Vertreter der juristischen Person ist oder nicht. Lehnt man dies ab, so haftete die juristische Person auf den ersten Blick nämlich dann nicht ohne Exkulpationsmöglichkeit, wenn der Gewässerschutzbeauftragte pflichtwidrig berät und der Vorstand ihm pflichtgemäß folgt. Allerdings wäre die juristische Person im Ergebnis hier wohl dennoch unbedingt haftbar, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Organisationsmangels.65 Nach der ständigen Rechtsprechung schon des RG ist eine juristische Person verpflichtet, ihre Gesamttätigkeit so zu organisieren, dass für alle wichtigen Aufgaben ein verfassungsmäßiger Vertreter zuständig ist, der die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft. Anderenfalls muss sie sich so behandeln lassen, als wäre der tatsächlich eingesetzte Mitarbeiter ein verfassungsmäßiger Vertreter.66 Demnach haftet die juristische Person bei Übertragung eines wichtigen Aufgabenbereichs an einen Mitarbeiter auf jeden Fall ohne Entlastungsmöglichkeit. Im Ergebnis wirkt es sich nach allem kaum aus, ob der Gewässerschutzbeauftragte verfassungsmäßiger Vertreter der juristischen Person ist oder nicht. Gleichwohl 63 64 65 66

Eingehend zu den Pflichten (nach § 21b WHG a.F.) Breuer (Fn. 13), Rn. 780 ff. Müggenborg, in: Giesberts/Reinhardt (Fn. 17), § 64 WHG, Rn. 4 – 6. Hierzu und zum Folgenden Ellenberger, in: Palandt (Fn. 24), § 31 Rn. 7 und 8. BGHZ 24, 200 (212 ff.).

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spricht mehr dafür, den Gewässerschutzbeauftragten als verfassungsmäßig berufenen Vertreter anzusehen.67 3. Die Haftung von Organmitgliedern aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG Fraglich ist, unter welchen Umständen neben der juristischen Person auch das Organ(mitglied) persönlich haftet. Grundsätzlich gilt, dass die von § 31 BGB zugewiesene Haftung der juristischen Person die nach allgemeinen Regeln begründete persönliche Haftung des Organs nicht ersetzt, sondern neben sie tritt.68 So kommt es im Deliktsrecht häufig zu einer parallelen Haftung von juristischer Person und handelndem Organ mit der Folge einer Gesamtschuld nach § 840 BGB.69 Der BGH hat dies auch bei einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG bejaht.70 Neben der rechtsfähigen Stiftung, die eine Privatschule betrieb, durch deren Abwässer ein Forellenzüchter Schäden erlitten hatte, haftete ihr verfassungsmäßig berufener Vertreter, der zugleich Schulleiter war, persönlich, und zwar ebenfalls aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG. Die persönliche Haftung begründete der BGH damit, dass der verfassungsmäßig berufene Vertreter als Schulleiter vor Ort die Einleitung des Abwassers veranlasste, jedenfalls nicht pflichtgemäß verhinderte, obwohl ihm dies möglich war. Dem ist zuzustimmen, auch wenn das Organ wie wohl im Regelfall der Praxis nicht selbst „Hand angelegt“ hat.71 Denn nach der vom BGH vorgenommenen „normativen Überhöhung“ der Handlungsformen des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG haftet danach, wer durch Befehle, Anweisungen und dergleichen die „Herrschaft“ über den Vorgang des Einbringens usw. hatte.72 Vor diesem Hintergrund ist allerdings sehr zweifelhaft, ob der Gewässerschutzbeauftragte, der nach der soeben begründeten Ansicht verfassungsmäßiger Vertreter der juristischen Person ist, aber keinerlei Weisungsbefugnisse hat, persönlich aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG für die vom Betrieb verursachten Gewässerschäden haftet.73 Die Bestellung zum Gewässerschutzbeauftragten nach § 64 WHG hat jedenfalls al67

Kohler, in: Staudinger (Fn. 8), § 89 WHG, Rn. 52. A.A. aber Rehbinder, Andere Organe der Unternehmensverfassung, ZGR 1989, 305 (332). 68 Reuter, in: Münchener Kommentar zum BGB (Fn. 47), § 31, Rn. 44; Hadding, in: Soergel, BGB, Bd. 1, 13. Aufl., 2000, § 31, Rn. 28. Nach BGH, VersR 1970, 625 (626) ist dies für unerlaubte Handlungen „allgemein anerkannt“. 69 BGH, NJW-RR 1988, 671; NJW 1996, 1535 (1536). 70 BGH, VersR 1970, 625 (626) zu § 22 Abs. 1 WHG a.F. 71 Eingehend zur persönlichen Haftung des Organs in diesen Fällen Schmidt, Die Umwelthaftung der Organmitglieder von Kapitalgesellschaften, 1996, S. 73 ff. 72 BGH, NJW 1976, 1686. 73 Grundsätzlich verneinend Rehbinder (Fn. 67), 305 (331 f.); ähnlich auch Breuer (Fn. 13), Rn. 772.

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Peter Reiff

lein nicht die Folge persönlicher Haftung.74 Ob der Gewässerschutzbeauftragte doch persönlich haftet, was vor allem für Unterlassungen in Betracht kommt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab,75 dürfte aber im Regelfall eher abzulehnen sein.

VI. Zusammenfassung Der Vorschlag der h.L., § 831 BGB im Rahmen der Gefährdungshaftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG anzuwenden, ist abzulehnen. Neben systematischen Erwägungen besteht schlicht kein Erfordernis für ein solches Vorgehen. § 831 BGB kommt damit als Zurechnungsnorm nicht in Betracht, wohl aber als eigenständige und mit der Gefährdungshaftung konkurrierende deliktische Anspruchsgrundlage. Als zu § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG konkurrierende Vorschrift kann § 831 BGB eine Haftung des Geschäftsherrn begründen. Eine Exkulpation bleibt jedoch möglich. Daneben haftet nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG nicht unbedingt derjenige, der die in Rede stehende Handlung unmittelbar und eigenhändig ausübt. Vielmehr ist derjenige, der die „Herrschaft“ über die schadensbegründenden Vorgänge innehat, als Handelnder anzusehen. So lässt sich eine Haftung des Geschäftsherrn, der schon aufgrund seiner hervorgehobenen Position regelmäßig die entscheidenden Anweisungen oder Befehle erteilt, über § 89 Abs.1 Satz 1 WHG selbst begründen. § 31 BGB ist hingegen eine zentrale Rolle innerhalb des Haftungstatbestands des § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG zuzuerkennen. Zu erklären ist die zu § 831 BGB abweichende Rechtslage mit der Natur dieser Vorschrift. Bei § 31 BGB handelt es sich um eine reine Zurechnungsnorm, die auch auf Gefährdungstatbestände anwendbar ist, wenn diese ausnahmsweise an ein Handeln anknüpfen. Nur mit Hilfe von § 31 BGB lässt sich nämlich die fehlende Handlungsfähigkeit juristischer Personen ausgleichen. Das Fehlverhalten ihrer Organe ist der juristischen Person zuzurechnen und führt letztlich zu deren Haftung aus § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG mit § 31 BGB. Zugleich haftet aber auch das pflichtwidrig handelnde Vertretungsorgan persönlich nach § 89 Abs. 1 Satz 1 WHG.

74

Ähnlich Salje, Zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortung des Betriebsbeauftragten für Umweltschutz, BB 1993, 2297 (2303 f.). 75 Reinhardt (Fn. 7), § 89, Rn. 14; ihm folgend Schwendner, in: Sieder/Zeitler/Dahme (Fn. 3), § 22, Rn. 40b.

V. Der Kontext des Öffentlichen Rechts

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Arbeitsrecht und Kollisionsrecht Von Rolf Birk

I. Einleitung Die Gleichbehandlung im Arbeitsrecht hat heute national, supranational wie auch international betrachtet in der Normsetzung, der Rechtsprechung und der literarischen Diskussion kaum mehr von einem Einzelnen überschaubare Dimensionen angenommen1. Selbst in der Lehre gibt es – wenn auch (noch) nicht in Deutschland – etwa in den amerikanischen Law Schools zwei- bis dreistündige Veranstaltungen über „Discrimination in employment“ oder mit ähnlicher Ausflaggung. Und trotzdem kann man noch eine Reihe von Aspekten finden, die für sich Aufmerksamkeit beanspruchen können. Dazu gehört meines Erachtens die kollisionsrechtliche Problematik. In der Europäischen Union weist das Vereinigte Königreich zwar das meiste Fallmaterial auf2, während die wissenschaftliche Diskussion fast ausschließlich von deutschen Autoren3 bestritten wird. 1 Deshalb werden die Zitate auf ein gerade noch vertretbares Minimum reduziert. Manche an sich einschlägige Autoren mögen mir dies verzeihen. 2 Übersicht über die letzten 25 Jahre britische Rechtsprechung zum grenzüberschreitenden Antidiskriminierungsrecht: Deria and others v. General Council of British Shipping [1986] IRLR 108 = [1986] ICR 847 (Court of Appeal, CA); Haughton v. Olau Line (U. K.) Ltd. [1986] ICR 357 (CA); Bossa v. Nordstress Ltd. [1998] ICR 694 (Employment Appeal Tribunal, EAT); Carver v. Saudi Arabian Airlines [1999] ICR 991 (CA); Saggar v. Ministry of Defence [2004] ICR 1708 (EAT); Williams v. University of Nottingham [2007] 660 (EAT); Tradition and Securities Futures SA v. X and another [2008] IRLR 934 (EAT); Neary v. Service ChildrenÏs Education and others [2010] ICR 1083 (EAT); British Airways plc v. Mak and others [2011] ICR 735 (CA); Ministry of Defence v. Wallis and another [2011] ICR 617 (CA); Pervez MacQuarie Bank Ltd. (London Branch) [2011] IRLR 284 (EAT). 3 Vgl. Birk, Altersdiskriminierung im Arbeitsrecht – kollisionsrechtlich betrachtet, in: Liber Amicorum Kurt Siehr, 2000, S. 45 ff.; Pfeiffer, Das Internationale Privatrecht der Nichtdiskriminierung, in: FS für Peter Schwerdtner, 2003, S. 775 ff.; Mansel, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – persönlicher und internationaler Anwendungsbereich, in: FS für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. I, 2007, S. 809 ff.; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 286 ff., 385 ff.; Junker, Das Internationale Privat- und Verfahrensrecht der Nichtdiskriminierung im Arbeitsverhältnis, NZA Beilage 2/2008, 59 ff.; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz – Das internationale Privatrecht der Antidiskriminierung, 2010, passim, insbesondere S. 191 ff. – Von den zahlreichen Kommentaren zum AGG verdienen insoweit besondere Hervorhebung Adomeit/Mohr, AGG, 2007, § 31, AGG Anhang: IPR und Nichtdiskriminierung sowie Däubler, in: Däubler/Bertzbach (Hrsg.), AGG, 2. Aufl., 2008, Einleitung, Rn. 239 ff.

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Rolf Birk

Im Folgenden wollen wir uns im Wesentlichen auf die individualrechtlichen Fragen des arbeitsrechtlichen Teils des AGG beschränken. Die kollektivrechtliche (vgl. etwa § 17 AGG) wie die verfahrensrechtliche Seite (internationale Zuständigkeit, Verbandsklage bzw. class action, Prozessstandschaft, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen4) bleiben hier schon aus Platzgründen ausgeklammert. Ebenso muss auf umfangreichere, zum Verständnis an und für sich notwendige und nützliche Hinweise verzichtet werden5, obwohl selbst zwischen den Regelungen der Mitgliedstaaten der EU trotz einheitlicher Vorgaben seitens des Gemeinschaftsrechts noch erhebliche Differenzen bestehen, die sich unter Umständen auch kollisionsrechtlich bemerkbar machen können. Das Gleichbehandlungs- bzw. Antidiskriminierungsrecht der EU wie der einzelnen Mitgliedstaaten hat seinen Ursprung in deren Verfassungsrecht – GRCh, AEUV, nationale Verfassungen – oder grundrechtskonkretisierenden Regelungen (Sekundärrecht in Form von Richtlinien, nationale Regelungen nach dem Vorbild des US-amerikanischen Title VII des Civil Rights Act von 1964)6. Unser Jubilar hat sich schon sehr früh mit den damit verbundenen Fragen auseinandergesetzt7. Eine derart „grundrechtsinfizierte“ Materie wie das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsrecht wirft kollisionsrechtlich schwierige Fragen auf, die sich natürlich in der Ausgangsproblematik bündeln, welche supranationalen und nationalen Gleichbehandlungsregeln finden bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Anwendung, wenn wie in den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen und in den meisten nationalen Rechten der Mitgliedstaaten der EU ausdrückliche Kollisionsnormen (gewisse Ausnahmen: Deutschland – § 2 AEntG8, Österreich – § 1 Abs. 4 GlBG9, Vereinigte Königreich – in mehreren Regelungen Beschränkungen für deren räumlichterritoriale Anwendung)10 fehlen? Auf das EU-abgeleitete Gleichbehandlungsrecht bezogen: „Wie umfassend ist der internationale Anwendungsanspruch gemeinschaftsrechtlicher Provenienz“?11 4

Vgl. dazu Junker (Fn. 3), 59 ff.; Lüttringhaus (Fn. 3), S. 327 ff. Dies gilt insbesondere für das Sekundärrecht der EU und rechtvergleichende Aspekte. 6 Zum US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht umfassend Lindemann/Grossman, Employment Discrimination Law, Bd. I/II, 3. Aufl., 1996. 7 Meinhard Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: FS für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 137 ff. 8 Früher: § 7 Abs. 1 AEntG. Seit 24. 04. 2009 gilt § 2 AEntG. Ursprünglich enthielt das AEntG keine vergleichbare Vorschrift. 9 Vgl. hierzu Rebhahn, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Gleichbehandlungsgesetz, 2005, § 1 Rn. 30 ff.; Windisch-Graetz, in: Neumayr/Reissner (Hrsg.), Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., 2011, § 1 GlBG Rn. 15 f. 10 s. im Einzelnen: Sect. 2 A, 68(2) Disability Discrimination Act 1975; Regulation 11(1) Race Relations Act 1976 (Amendment) Regulations 2003; Reg. 9 Employment Equality (Religion or Belief) Regulations 2003; Reg. 9 Employment Equality (Sexual Orientation) Regulations 2003; Reg. 11 Employment Equality (Sex Discrimination) Regulations 2005; Reg. 10 Employment Equality (Age) Regulations 2006. 11 Lüttringhaus (Fn. 3), S. 4. 5

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Freilich monopolisiert das AGG nicht das deutsche arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsrecht. Außerhalb des AGG gibt es noch eine ganze Reihe anderer Gleichbehandlungsgebote bzw. Benachteiligungsverbote im Arbeitsrecht wie z. B. § 4 TzBfG, § 75 BetrVG, § 81 Abs. 2 SGB IX und vor allem den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz12 ; sie alle haben ebenfalls eine kollisionsrechtliche Seite, die nicht notwendig den gleichen Überlegungen folgt wie bei dem auf Gemeinschaftsrecht beruhendem AGG, aber auch sie ist mit der im Kern verfassungsrechtlich motivierten Grundlage konfrontiert. Dass die kollisionsrechtliche Betrachtung mehr als ein Glasperlenspiel darstellt, belegen die praktischen Fälle, wie wir sie in den USA13, im Vereinigten Königreich14 und auch in Deutschland15 finden können. Es überrascht freilich etwas, dass es nicht angesichts des breiten sachlichen Anwendungsbereiches des Gleichbehandlungsbzw. Antidiskriminierungsrechts, nicht mehr grenzüberschreitendes Fallmaterial gibt. Für den engeren Bereich des räumlichen Anwendungsbereiches des (individual) arbeitsrechtlichen Teils des AGG stellt sich neben den allgemeinen kollisionsrechtlichen Überlegungen die Frage nach den möglichen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Primär- und Sekundärrechts.16

II. Allgemeine kollisionsrechtliche Problematik der arbeitsrechtlichen Gleichbehandlung Zunächst gilt es freilich, die Frage grenzüberschreitender Gleichbehandlung bzw. Diskriminierung allgemein kollisionsrechtlich zu analysieren17. Dazu ist eine kurze Bestandsaufnahme der vorhandenen kollisionsrechtlichen Regelungen erforderlich wie auch ein kurzer Rückblick auf die Lösungen vor der Europäisierung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsrechts. 1. Allgemeine Überlegungen Da für die Anknüpfung der Gleichbehandlung im Gemeinschaftsrecht besondere Kollisionsnormen fehlen18, bleibt allein eine adäquate Antwort über die Anwendung 12

Zu dessen kollisionsrechtlicher Problematik insbesondere Müller (Fn. 3), S. 387 ff. Für die Altersdiskriminierung vgl. die umfassenden Nachweise bei Birk (Fn. 3), S. 45 (50 Fn. 18). 14 s. oben Fn. 2. 15 Vgl. Birk (Fn. 3), S. 45 (50 Fn. 20 und 21). 16 Eingehend hierzu Müller (Fn. 3), S. 209 ff.; Lüttringhaus (Fn. 3), S. 231 ff.; 277 ff. 17 Vgl. vor allem Müller (Fn. 3), S. 265 ff.; Lüttringhaus (Fn. 3), S. 216 ff.; 275 ff. 18 Bis auf Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. g RL 96/71, der freilich nur einen Regelungsauftrag, aber keine echte Kollisionsnorm enthält. 13

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des allgemeinen Kollisionsrechts zu suchen. Hierfür kommen als Kollisionsnormen des Zivilrechts in Frage: Art. 8 VO Rom I sowie Art. 4 VO Rom II, soweit ein Mitgliedstaat der EU das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsrecht dem Zivilrecht zuordnet und durch dieses dessen Voraussetzungen und Sanktionierung regelt. Dies gilt freilich nicht, soweit der Schutz vor Ungleichbehandlung auch durch Strafrecht und/ oder Verwaltungsrecht wie in vielen Staaten – auch Mitgliedstaaten der EU wie Frankreich und Österreich – sichergestellt wird19. Hier sind für die Beurteilung grenzüberschreitender Sachverhalte das internationale Strafrecht und/oder das internationale Verwaltungsrecht heranzuziehen. Eine einheitliche kollisionsrechtliche Behandlung kommt in solchen Ländern also auch für das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsrecht nicht in Frage. Wie gestaltet sich indes die aktuelle kollisionsrechtliche Rechtslage beim Diskriminierungsschutz angesichts der unterschiedlichen Regelungsebenen im Sachrecht und dem Schweigen des Gemeinschaftsrechts – bis auf die Vorgabe von Art. 3 Abs. 1 lit. g RL 96/71 (Entsende-Richtlinie) – wie auch des EuGH20 ? Im Primärrecht besteht etwa ein kollisionsrechtlicher Bedarf bei der nach dem EuGH direkt anwendbaren Art. 157 AEUV (ex-Art. 141 EGV), der die Gleichheit von Mann und Frau beim Arbeitsentgelt garantiert21. Der Schwerpunkt des heutigen breiten arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutzes liegt freilich in der EU bei denjenigen nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten, die die Gleichbehandlungsrichtlinien (RL 2006/34, 2000/43, 2000/78) umsetzen. Zu seinem räumlichen Anwendungsbereich schweigt das Sekundärrecht unmittelbar und lässt allenfalls aus seinen Wertungen gewisse Rückschlüsse auch auf dessen internationalen Durchsetzungswillen zu. Eine weitere Ebene für das Kollisionsrecht bildet das nationale Recht der Mitgliedstaaten der EU insoweit, als es um den von ihm etablierten Diskriminierungsschutz im Arbeitsrecht geht, der über die verbindlichen Vorgaben des Sekundärrechts hinausgeht oder sich auf Fragen bezieht, die nicht zum sachlichen Regelungsgegenstand der Gleichbehandlungsrichtlinien gehören (wie etwa in Deutschland der allge-

19 Statt vieler Lüttringhaus (Fn. 3), S. 13 ff.; 25 ff. – Zum französischen Sachrecht aus neuester Zeit Lanquetin, V. Discrimination, in: R¦pertoire de droit du travail, Bd. I, 2010, Nr. 18 ff., 418 ff. zur strafrechtlichen Seite. 20 Bisher hatte er keine Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Ersuchen zur Vorabentscheidung für die räumliche Anwendbarkeit der RL 76/207 des Industrial Tribunal von Southhampton (UK) vom 23. 11. 1995 in der Rs. C-374/95 (James Paul Barkers gegen Service ChildenÏs School (ABl.EG 1996 Nr. C 31/11) wurde zurückgenommen (vgl. dazu auch Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 3, 6. Aufl., 2003, Art. 141 EGV, Rn. 248). 21 Näheres bei Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 20), Art. 141 EGV, Rn. 246 – 254; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 157 AEUV, Rn. 19 – 22.

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meine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, § 75 BetrVG, oder andere Diskriminierungsverbote)22. Wir wollen uns hier schon aus Raumgründen aber auch aus Gründen der sachlichen Konzentration auf die zweite Regelungsebene, also auf das Sekundärrecht und hier insbesondere auf das deutsche Umsetzungsrecht, den (individual) arbeitsrechtlichen Teil des AGG, beschränken. Seinen räumlichen Anwendungsbereich gilt es herauszuarbeiten. Darüber hinaus geht es weiter auch um die Frage, ob und wann ausländisches Antidiskriminierungsrecht von Mitgliedstaaten der EU oder von Drittstaaten anzuwenden ist. Diese wird insbesondere dann relevant, wenn das AGG den Sachverhalt nicht erfasst oder § 2 AEntG nicht eingreift. 2. Aktuelle kollisionsrechtliche Lage beim Diskriminierungsschutz Gegenwärtig lassen sich im internationalen Diskriminierungsschutz im Wesentlichen drei „Systeme“ für die Beantwortung der Frage nach der räumlichen Anwendbarkeit des Gleichbehandlungs- bzw. Antidiskriminierungsrecht erkennen. (1) Im anglo-amerikanischen Rechtskreis enthalten die Antidiskriminierungsgesetze oder Vorschriften spezielle Regelungen, welche deren räumlichen Anwendungsbereich näher festschreiben. Es handelt sich um sog. selbstbeschränkende Sachnormen, ein Begriff den ich nicht für besonders treffend halte, da es sich letztlich um nichts anderes als einseitige Kollisionsnormen handelt, welche den räumlichen Anwendungsbereich des eigenen Rechts regeln. Als Hauptbeispiel seien die USA23 und das Vereinigte Königreich24 als Mitgliedstaat der EU angeführt. Dieselbe Technik findet sich etwa auch in Australien25 und Neuseeland26. Hinsichtlich der Altersdiskriminierung nach US-amerikanischem Recht verweise ich auf frühere Ausführungen von mir27. Für die unter Title VII des Civil Rights Act 1964 fallenden Diskriminierungen gilt nach Sect. 701 (f), dass „employment in a foreign country“ erfasst wird, wenn es sich um eine US Company oder „US-controlled company“ handelt. Für Großbritannien bestimmen die Ausführungsvorschriften zum Equality Act 2006 und zu den anderen Gesetzen gegen Diskriminierung wegen Rasse, Alter etc.28, welche räumlich relevanten Sachverhalte von den entsprechenden

22 23 24 25 26 27 28

Hierzu Müller (Fn. 3), S. 385 ff. Vgl. Birk (Fn. 3), S. 45 ff. Nachweise oben in Fn. 10. s. die sehr umfängliche Sect. 9 Sex Discrimination Act 1984. Sect. 26 Human Rights Act 1993. Vgl. Lindemann/Grossman (Fn. 6), Bd. II, S. 1329. Oben Fn. 10.

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Antidiskriminierungsgesetzen erfasst werden, wobei deren Formulierungen weitgehend sachlich und z. T. auch im Wortlaut übereinstimmen. (2) Ausdrückliche kollisionsrechtliche gesetzliche Regelungen kennen Österreich und Deutschland. § 1 Abs. 4 des österreichischen Gleichbehandlungsgesetzes (i. d. F. vom 2. Juli 2008) bestimmt, dass dieses Gesetz auch für die Dauer der Entsendung anzuwenden ist, wenn ein Arbeitgeber „ohne Sitz in Österreich“ einen Arbeitnehmer nach Österreich im Rahmen einer Arbeitskräfteüberlassung oder zur „fortgesetzten Arbeitsleistung nach Österreich“ entsendet29. Und § 2 des deutschen AEntG ordnet an, dass „die in Rechts- und Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über … 7. die Gleichstellung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen … auch auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem im Ausland ansässigen Arbeitgeber und seinen im Inland beschäftigten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zwingend Anwendung“ finden30. § 2 AEntG will ersichtlich Art. 3 Abs. 1 lit. g Entsende-Richtlinie (RL 96/71) umsetzen, geht aber über diesen hinaus, da er keine Entsendung i.S.v. Art. 1 Abs. 3 RL 96/71 voraussetzt31. Demgegenüber verlangt § 1 Abs. 4 österr. GlBG eine Entsendung, wenngleich nicht notwendigerweise eine solche i.S.v. Art. 1 Abs. 3 RL 96/71. (3) Mit Blick etwa auf das britische Recht wird deutlich, dass ein Unterschied zu diesem bei den beiden kontinentalen Regelungen der Sache nach nicht besteht. In allen Mitgliedstaaten soll für bestimmte Fälle der eigene Diskriminierungsschutz auch dann eingreifen, unabhängig davon nach welchem Recht das betroffene Arbeitsverhältnis sich richtet. Letzteres kann freilich je nach Konstellation durchaus mit dem Vertragsstatut zusammenfallen. (4) Sagt das nationale Umsetzungsinstrument – durchgehend ein Gesetz und kein Kollektivvertrag32 – über seinen räumlichen Anwendungsbereich – wie im Normalfall – nichts, so muss dieser nach den allgemeinen Regeln und Grundsätzen festgelegt werden. Dieses „dritte System“ ist auch für das AGG und seinen arbeitsrechtlichen Teil kennzeichnend; das AGG enthält keine etwa dem österreichischen Recht vergleichbare Vorschrift über seinen räumlichen Anwendungsbereichs. Dieser ist außerhalb der von § 2 AEntG erfassten Fallgestaltungen – hier für das individuelle Arbeitsrecht – zu bestimmen. Es bedeutet von vornherein für den (individual) arbeitsrechtlichen Teil des AGG erhebliche Einschränkungen seines eigenständig zu ermittelnden räumlichen Anwendungsbereichs, 29

Kommentierung bei Rebhahn, in: ders. (Fn. 9), § 1 Rn. 30 ff. Vgl. insbesondere die Kommentierungen von Thüsing, AEntG, 2010, § 2, Rn. 1 ff.; ders., Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl., 2011, S. 286 ff.; Schlachter, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 11. Aufl., 2011, § 2 AEntG, Rn. 1 ff.; Koberski/Asshoff/Eustrup/ Winkler, AEntG, 3. Aufl., 2011, § 2, Rn. 1 ff. 31 Schlachter, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (Fn. 30), § 2 AEntG, Rn. 1. 32 Dies gilt hier auch für Belgien, wo sonst der Kollektivvertrag regelmäßig als Instrument zur Umsetzung arbeitsrechtlicher Richtlinien dient. 30

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wenn man dem § 2 AEntG nicht bloß eine zusätzliche absichernde Funktion im Falle des Antidiskriminierungsrecht zubilligen will. Freilich kommt dies aber nur dann in Betracht, soweit das AGG nicht als international zwingendes Recht eingeordnet wird33. Diese Auffassung ist offensichtlich nicht mit § 2 AEntG in Einklang zu bringen.

3. Kollisionsrechtliche Grundmodelle für den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz des AGG Unabhängig von der Frage, wie weit der Anwendungsbereich des § 2 AEntG reicht, ist zunächst die kollisionsrechtliche Problematik des arbeitsrechtlichen Teils des AGG zu erörtern. Trägt das AGG insoweit seinen räumlichen Anwendungsbereich „in sich“ und gehört damit zu den international zwingenden Normen der deutschen lex fori oder wird es über von ihm losgelöste, „unabhängige“ Kollisionsnormen – hier des Schuld- und Arbeitsrechts – zur Anwendung gebracht und zwar nach ganz anderen Wertungen, nämlich nach seiner Zuordnung des für mögliche Sanktionen maßgeblichen Regelungsverhältnisses (etwa als Vertrag, Delikt oder ein sonstiges gesetzliches Schuldverhältnis)? Und bestehen durch das Gemeinschaftsrecht, insbesondere durch deren als Sekundärrecht erlassenen Diskriminierungsschutz inhaltliche Vorgaben in der einen oder anderen Richtung? Die Frage ist weder pragmatisch noch theoretisch für das AGG bislang entschieden. Einschlägige Rechtsprechung fehlt, und ein Konsens in der Lehre bzw. theoretischen Diskussion besteht ebenfalls nicht34, es wäre willkürlich, hier eine „herrschende Meinung“ auszumachen. Die Europäisierung der Gleichbehandlungsproblematik ist durch die Europäische Union in großem Stil und mit Nachdruck und durch den EuGH nicht nur unterstützt, sondern wesentlich ausgebaut und verfeinert worden. Wenn von dieser Schaffung eines breiten europäischen Diskriminierungsschutzes keine kollisionsrechtlichen Impulse und Auswirkungen auch auf die grenzüberschreitende Problematik innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft ausgegangen wären, würde dies mit Verwunderung quittiert werden müssen. Für die arbeitsrechtliche Seite des Diskriminierungsschutzes gibt das Sekundärrecht der EU in der Entsende-Richtlinie sogar eine ausdrückliche, bejahende Antwort nach dessen international zwingenden Charakter in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. g für den Fall der Entsendung i.S.d. Art. 1 Abs. 3 RL 96/71. Dies ist auch für diejenigen Tatbestände der Fall, die der nationale Gesetzgeber – wie der deutsche in § 2 AEntG – auf weitere Sachverhalte erstreckt; es wäre schon vom Ansatz her sinnwidrig, die Norm des § 2 AEntG nur teilweise als international zwingend anzusehen.

33 34

So – anders als hier – Junker (Fn. 3), 59 (63 f.). Ausführlich und überzeugend zu dieser Kontroverse Lüttringhaus (Fn. 3), S. 191 ff.

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Dass die Sachnormen des AGG nicht nur national (s. § 31 AGG) sondern auch als international zwingendes Recht ohne Rekurs auf § 2 AEntG und Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. g RL 96/71 einzuordnen sind, wurde erst jüngst überzeugend von Lüttringhaus35 nachgewiesen. Es bedarf insoweit hier keiner weiteren Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Mit der Zuordnung der (individual) arbeitsrechtlichen Vorschriften des AGG zum international zwingenden Recht scheidet die Anwendung der vertrags- und/oder deliktsrechtlichen Kollisionsnormen VO Rom I bzw. Rom II aus (Art. 9 Abs. 1 VO Rom I, Art. 16 VO Rom II). aus. Die maßgeblichen Anwendungsvoraussetzungen für das international zwingende Recht weichen erheblich von den Anknüpfungskriterien der schuldrechtlichen Kollisionsnomen ab. Sie sind an anderer Stelle zu erörtern. Das SavignyÏsche Kollisionsrechtsmodell funktioniert schon lange nicht mehr für komplexere Sachverhalte und problemorientierte, vielschichtige, systematisch schwer zuzuordnende Regelungen.

III. Kriterien für die Sonderanknüpfung des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutzes des AEntG und AGG Wir haben gesehen, dass sowohl § 2 AEntG als auch das AGG selbst die Anwendung des nationalen Diskriminierungsschutzes auf grenzüberschreitende Sachverhalte verlangen. Welche – vor allem personalen und territorialen – Kriterien hierfür maßgebend sind, lässt sich dem AEntG nur ansatzweise, dem AGG hingegen überhaupt nicht entnehmen. 1. § 2 AEntG § 2 AEntG verlangt als für die Anknüpfung bzw. Anwendung des deutschen Diskriminierungsschutzes, etwa des AGG, die Inlandsbeschäftigung aufgrund eines Arbeitsverhältnisses eines in- oder ausländischen Arbeitnehmers bei einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland. Die Beziehung zum Inland wird sonach hergestellt durch bloße Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis mit einem im Ausland ansässigen Arbeitgeber36. Sie ist zeitlich nicht näher fixiert. „Ansässig“ ist ein Arbeitgeber im Ausland, der seinen Wohnsitz, Geschäftssitz oder Gesellschaftssitz im Ausland in- oder außerhalb der EU hat. Der für die Anwendung von § 2 Nr. 7 AEntG relevante gleichbehandlungswidrige Sachverhalt muss sich freilich „schwerpunktmäßig“ im Inland realisieren, weil nur so eine vom inländischen Gesetzgeber verpönte Störung und 35

Lüttringhaus (Fn. 3), S. 216 ff. Was „ansässig“ i.S.v. § 2 AEntG bedeutet, wird von den Kommentaren nicht näher spezifiziert. 36

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damit Verletzung der Gleichbehandlung eintreten kann. All dies verlangt nicht notwendig nach zeitlicher, sachlicher wie auch räumlicher Intensität, einzelne Akte der gleichheitswidrigen Aktivität können territorial auch außerhalb des Inlandes ablaufen bzw. sich ereignen („gestreckter Tatbestand“); wie dies vor allem britische Entscheidungen belegen37. Von der Anwendung des international zwingenden deutschen Diskriminierungsschutzes kann auch nicht dann abgesehen werden, wenn ein Mitgliedstaat der EU durch den Sachverhalt territorial oder sachlich – etwa sein Recht bildet das Vertragsstatut des Arbeitsvertrages – berührt wird. Da Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten der EU durch das Antidiskriminierungsrecht des Primär- und Sekundärrechts miteinander eine breite sachliche Basis auf einem hohen Mindestniveau besitzen, stellt sich die Frage, ob bei der Anwendung des § 2 AEntG – wie auch des AGG – bei der Sonderanknüpfung des Diskriminierungsschutzes zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten zu differenzieren ist, obwohl dessen Wortlaut dies nicht vorsieht. Man wird diese Frage, wie Lüttringhaus38 eingehend dargelegt hat, bejahen müssen. Diese Problematik kann indes hier nicht weiter verfolgt werden. Für die räumliche Anknüpfung des § 2 AEntG ergeben sich dadurch aber keine weiteren Besonderheiten. 2. Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz des AGG Soweit § 2 AEntG Raum für die Anknüpfung des Diskriminierungsschutzes nach den Vorschriften des AGG lässt, stellt sich zunächst die Frage, ob bei der Herausarbeitung der territorialen Anknüpfungskriterien für den arbeitsrechtlichen Teil des AGG auf die Erwägungen zu § 2 AEntG zurückgegriffen werden kann und darf, zumal sich dadurch eine Harmonisierung der beiden Fälle der internationalen Durchsetzung des inländischen zwingenden Diskriminierungsschutzes erzielen und eine mögliche kollisionsrechtliche Spaltung vermeiden ließe. Auch ist zu fragen, ob und wie bei der Anknüpfung zwischen Sachverhalten mit Bezug zu Mitgliedstaaten der EU und Drittstaaten zu differenzieren ist; sie muss ebenfalls bejaht werden, ohne dass im Einzelnen die damit zusammenhängenden Probleme an dieser Stelle eingehender erörtert werden könnten.

37 s. etwa Bossa v. Nordstress Ltd. [1998] ICR 694 (EAT; Italien/UK); Carver v. Saudi Arabian Airlines [1999] ICR 991 (CA; Saudi Arabien/UK); Tradition and Securities Futures SA v. X [2008] IRLR 934 (EAT; Frankreich/UK); Neary v. Service ChildrenÏs Education [2010] ICR 1083 (EAT; Deutschland/Zypern/UK); British Airways plc v. Mak and others [2011] ICR 735 (CA; Hong Kong/UK); Ministry of Defence v. Wallis [2011] ICR 617 (CA; UK/Belgien); Pervez MacQuarie Bank Ltd. [2011] IRLR 284 (EAT; Hong Kong/UK/Australien). 38 Lüttringhaus (Fn. 3), S. 249 ff.

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Worin muss nun der „genuine link“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der arbeitsrechtlichen Diskriminierung bestehen39? Reichen etwa die bereits bei § 2 AEntG diskutierten Kriterien aus oder haben neue hinzuzutreten? Sicherlich sollte die Anknüpfung des arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutzes des AGG ihren eigenen Ausgangspunkt nehmen, da sich die von § 2 AEntG verwendeten Kriterien nicht automatisch aufdrängen. Worauf sollte dann bei der Anknüpfung abgestellt werden? Aus der ordnungspolitischen Funktion der Beeinflussung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland wird abgeleitet, dass für das Eingreifen der einschlägigen Bestimmungen des AGG „eine diskriminierende Vertragsanbahnung, -durchführung und -beendigung im Inland“ vorauszusetzen ist40. Dem kann ich mich auch im Grundsatz anschließen, wenngleich dies noch zu unbestimmt ist, welche Intensität dies im Einzelnen verlangt. Dies bedarf noch näherer Präzisierung, denn sonst ist diese Formel beliebig und ihre Anwendung unvorhersehbar, mithin im konkreten Fall unbrauchbar. 3. Konkretisierung des Inlandsbezugs bei der Anwendung arbeitsrechtlicher Vorschriften des AGG Eine Orientierung vermag man in gewissem Umfang aus der Zusammenschau einschlägiger deutscher, britischer und österreichischer Bestimmungen zu gewinnen. In Frage kommen dabei: § 2 AEntG, Regulation 11 Employment Equality (Sex Discrimination) Regulations 200541 als repräsentative britische Vorschrift sowie § 1 Abs. 4 österreichisches Gleichbehandlungsgesetz. Hierfür bedarf es einer Übersicht über mögliche für das Kollisionsrecht relevante Sachverhalte und Kriterien. Wie viel Inlandsberührung ist notwendig und wie viel Auslandsberührung noch tragbar? An dieser Grenzlinie entlang wird sich voraussichtlich die Diskussion möglicher Anknüpfungskriterien und -aspekte bewegen. Zur ersten Orientierung sind die drei kollisionsrechtlich wichtigen Sachverhaltskonstellationen ins Visier zu nehmen: (1) der Inlandssachverhalt, für die Diskriminierung spielen ausschließlich oder zumindest wesentlich inländische Elemente bzw. Kriterien eine Rolle; (2) der Auslandssachverhalt, die Diskriminierung weist keine „wesentlichen“ Beziehungen zum Inland auf, und (3) der „gemischte“ Inlands- Auslandssachverhalt, wo bei einer Gemengelage von in- und ausländischen Elementen im Allgemeinen eine Schwerpunktbetrachtung im Vordergrund stehen dürfte Zu (1) Für reine Inlandsfälle gilt das AGG ohnehin, sie sind deshalb hier ohne Interesse. 39 Dazu kurz auch Pfeiffer (Fn. 3), S. 775 (779, 783); Mansel (Fn. 3), S. 809 (830); ausführlicher Lüttringhaus (Fn. 3), S. 208 f., 250 ff. 40 Mansel (Fn. 3), S. 809 (830); Lüttringhaus (Fn. 3), S. 250 ff. 41 Statutory Instruments (SI) 2005/2467, S. 6 f.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Arbeitsrecht und Kollisionsrecht

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Zu (2) Dasselbe gilt umgekehrt auch für reine Auslandsfälle. Das AGG ist nicht anwendbar. Allerdings kann sich bei ihnen die Frage nach der Anwendbarkeit ausländischen Diskriminierungsschutzes eines Mitgliedstaates der EU oder eines Drittstaates stellen, sei es als zwingendes Recht des Arbeitsortes im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VO Rom I, sei es als sog. Eingriffsnormen i.S.v. Art. 9 Abs. 3 VO Rom I. Zu (3) Von zentralem Interesse sind indes die „gemischten“ Fälle, in denen inund ausländische Elemente des Sachverhalts eine Rolle spielen42. Diese nehmen alle oben erwähnten ausdrücklichen einschlägigen Kollisionsregeln zum Ausgangspunkt. Denn entweder wollen sie Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. g RL 96/71 in nationales Recht umsetzen, wie § 1 Abs. 4 des österreichischen Gleichbehandlungsgesetzes, oder sie gehen wie § 2 AEntG noch darüber hinaus, oder sie nehmen keine ausdrückliche Notiz von Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. g RL 96/71 wie beispielsweise etwa das britische Recht in Regulation 11 (2) Employment Equality (Sex Discrimination) Regulations 2005. Als anwendungsbegründende Kriterien spielen die Inlandstätigkeit (Beschäftigung, Arbeit) des betreffenden Diskriminierungsopfers und die vorwiegend im Ausland angesiedelte Aktivität seines Arbeitgebers eine Rolle. Angesichts der heutigen allgemeinen gesellschaftspolitischen Bedeutung des Diskriminierungsschutzes kann es bei dessen kollisionsrechtlicher Durchsetzung auf die Dauer dieser Tätigkeit an einem inländischen Arbeitsort nicht ankommen43, ebenso wenig ob er an einen festen (Betrieb) gebunden ist oder nicht (z. B. bei einem Reisenden). Die Durchsetzung der einschlägigen AGG-Vorschriften darf auch nicht davon abhängig sein, ob der Arbeitnehmer im Inland aufgrund einer Entsendung i.S.d. Entsende-Richtlinie tätig wird44. Und genauso wenig entscheidet der Umfang der inländischen Tätigkeit, wenn eine Verletzung der Gleichbehandlungsvorschriften vorliegt oder droht. Probleme der Zurechnung zum Inland können dann entstehen, wenn der Arbeitnehmer auf Schiffen45, Flugzeugen46 oder Off-Shore-Einrichtungen (z. B. Bohrinseln) tätig wird. Wird ein Arbeitnehmer als Telearbeitnehmer für einen inländischen Betrieb im Ausland tätig, geht es nicht um die Zurechnung fremder Einrichtungen zum Inland, sondern um die Frage der Anwendbarkeit des inländischen Diskriminierungsschutzes auf eine Beschäftigung im Ausland, also einen Auslandssachverhalt. Wann erfassen die international zwingenden Vorschriften des AGG Auslandssachverhalte, etwa im Falle der Arbeitsleistung an einem ausländischen Arbeitsort? 42

So weitgehend in den oben nachgewiesenen (Fn. 2) britischen Entscheidungen. Eine eintägige Inlandstätigkeit lässt das EAT in Saggar v. Ministry of Defence [2004] ICR 1708, 1725 ff. für das insoweit analoge Problem der jurisdiction nicht genügen. 44 Dies wäre viel zu eng. 45 Vgl. Deria v. General Council of British Shipping [1986] IRLR 108 (CA); Haughton v. Olau Line (U.K.) Ltd. [1986] ICR 357 (CA). 46 Carver v. Saudi Arabian Airlines [1999] ICR 991 (CA); Britisch Airways plc v. Mak [2011] ICR 735 (CA). 43

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Innerhalb der EU besteht für die Anwendung etwa des inländischen Antidiskriminierungsrechts nur dann ein Bedarf, soweit der Mindestschutz des Sekundärrechts in einem anderen Mitgliedstaat der EU nicht garantiert ist – z. B. bei fehlender oder unzureichender Umsetzung des maßgeblichen Sekundärrechts. Soweit der ausländische Arbeits- bzw. Beschäftigungsort hingegen in einem Drittstaat liegt und nicht auch im Inland Arbeit geleistet wird, erfasst der Diskriminierungsschutz des AGG Auslandsarbeit, wenn diese einem inländischen Betrieb dient und der Arbeitnehmer mit dem Inland durch ein hier eingegangenes Arbeitsverhältnis verbunden bleibt. Auf dessen Vertragsstatut kommt es freilich nicht an. Bietet der Drittstaat ein dem europäischen Mindeststandard vergleichbares Schutzniveau, so tritt der Anwendungsanspruch des AGG zurück. Damit werden formale Konflikte vermieden, Ein ähnliches Verfahren von Konfliktvermeidung findet sich etwa im US-amerikanischen Recht47. Aus den einzelnen sachlichen Diskriminierungsmerkmalen (Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Religion, Behinderung, sexueller Orientierung)48 lassen sich in überzeugender Weise kaum für die kollisionsrechtliche Anknüpfung territoriale Elemente gewinnen49.

IV. Die Anwendung ausländischen Gleichbehandlungsrechts Die Anwendung ausländischen Gleichbehandlungsrechts steht zwar hier nicht im Vordergrund der Erörterung, sie wird vor allem für jene bedeutsam, welche den Diskriminierungsschutz zu allererst als Anwendungsproblem des maßgeblichen Schuldstatuts (Vertrag, Delikt, vor- und nachvertragliche Pflichten) ansehen. Die Parteiautonomie hat nach der hier vertretenen Auffassung zwar im Bereich des Antidiskriminierungsrechts nichts verloren, es bleiben trotzdem eine Reihe von Fragen, die sich auch im Rahmen der international zwingenden Anwendung von Vorschriften des AGG stellen. Wann kommt trotz der primär maßgeblichen Beachtlichkeit des inländischen Diskriminierungsschutzes die Anwendung ausländischen Antidiskriminierungsrechts in 47 Sog. „foreign law defense“. Vgl. den deutsch-amerikanischen Fall Mahoney v. RFE IRL, Inc. 47. F. 3d 447 (C.A., D.C. Circuit, 1995) hinsichtlich einer Altersdiskriminierung nach dem Age Discrimination in Employment Act 1967 unter Anwendung des § 623 (f) (1) – Näheres bei Birk (Fn. 3), S. 45 (56 f.). 48 Kollisionsrechtlich relevante Fälle einzelner Diskriminierungsmerkmale bietet auch hier die britische Rechtsprechung (genaue Nachweise in Fn. 2), wo meist mehrere Merkmale eine Rolle spielen: Geschlecht – Haughton, Carver, Saggar, Tradition Securities and Futures, Ministry of Defense; Rasse – Deria, Sarrar, Perves; Alter – Neary, Britisch Airways; Religion – Perves; Behinderung (disability) – Williams, Neary; Nationalität – Bossa. 49 Nicht überzeugend Müller (Fn. 3), S. 286 ff. über die verschiedenen Kriterien-orientierten Diskriminierungsverbote.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Arbeitsrecht und Kollisionsrecht

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Betracht? Wir haben bereits bisher in zwei Bereichen ausländischen Diskriminierungsschutz bei Sachverhalten, die innerhalb der EU angesiedelt sind, und dann, wenn in Drittstaaten der gleiche oder gar ein besserer Schutzstandard in Fragen der Antidiskriminierung besteht. Greift der Diskriminierungsschutz des AGG nicht, weil der Inlandsbezug des Falles im oben beschriebenen Sinne nicht vorliegt, so ist Raum für ausländisches Antidiskriminierungsrecht, soweit dieses selbst auf den betreffenden Sachverhalt angewandt sein will50. Einzelheiten müssen aus Raumgründen in diesem Zusammenhang auf sich beruhen.

50 Anders Krebber, Internationales Privatrecht des Kündigungsschutzes bei Arbeitsverhältnissen, 1997, S. 274.

Funktion und prozessuale Behandlung der Zuständigkeit im Zivilprozeß Von Johann Braun

I. Fragestellung Wer in Deutschland Klage erheben will, hat es nicht leicht. Denn anders als in Kafkas bekannter Parabel1 führt hier nicht nur eine einzige Tür zum „Gesetz“, vielmehr gibt es eine verwirrende Fülle von Gerichten, die noch dazu unterschiedlichen Kategorien angehören. Zunächst sind alle Gerichte einem von fünf „Rechtswegen“ zugeordnet, je nachdem, welches Rechtsgebiet ihnen schwerpunktmäßig anvertraut ist. Innerhalb jedes Rechtswegs gibt es mehrere „Instanzen“, denen ebenfalls verschiedene Funktionen zugewiesen sind: den erstinstanzlichen Gerichten die Erledigung der eingehenden Klagen, den Berufungsgerichten die Tatsachen- und Rechtskontrolle der erstinstanzlichen Entscheidungen2, den Revisionsgerichten die bloße Rechtskontrolle. In jeder Instanz – außer der höchsten – finden sich, verteilt über das Staatsgebiet, meist mehrere gleichartige Gerichte nebeneinander. In der Zivilgerichtsbarkeit gibt es außerdem unterschiedliche Eingangsgerichte: Ein Zivilprozeß kann beim AG, aber auch beim LG beginnen. Diese Vielzahl von Gerichten wirft die Frage auf, welches davon für die Verhandlung und Entscheidung eines bestimmten Falles „zuständig“ ist. Das muß sich zunächst der Kläger fragen; denn wenn er die Klage bei einem unzuständigen Gericht einreicht, kann dies Nachteile für ihn haben. Aber auch dem mit einer Klage befaßten Gericht stellt sich die Frage, ob es darüber sachlich entscheiden darf oder gar muß. Beides richtet sich nicht notwendig nach denselben Kriterien. Wenn die Zuständigkeitsvorschriften einen Sinn haben sollen, kann ein unzuständiges Gericht zwar nicht gut zu einer Sachentscheidung verpflichtet sein. Denkbar ist jedoch, daß es gleichwohl entscheiden darf. War ihm eine Sachentscheidung verwehrt und hat es sich darüber hinweggesetzt, so erhebt sich schließlich die Frage, ob die Entscheidung wirksam ist.

1 2

Kafka, Der Prozeß, 9. Kapitel. Keine Berufungsgerichte kennt lediglich die Finanzgerichtsbarkeit.

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Johann Braun

Das letztere ist heute kein Problem mehr. Da alle Gerichte mit sachlich und persönlich unabhängigen Richtern besetzt sind (Art. 92, 97 Abs. 1 GG), denen außerdem eine umfassende Vorfragenkompetenz zukommt3 – woraus folgt, daß sie auch zur Beurteilung von rechtswegfremden Rechtsfragen geeignet sind –, ist man seit langem der Auffassung, daß ein Urteil nicht deshalb unwirksam ist, weil dem Gericht die Zuständigkeit gefehlt hat4. Das gilt selbst dann, wenn das Gericht eines falschen Rechtswegs tätig geworden ist5. Nachdem § 17a GVG6 die Rechtswegfrage weitgehend entdramatisiert hat, läßt sich etwas anderes kaum noch vertreten. Nicht endgültig geklärt ist jedoch, wie die Zuständigkeit innerprozessual behandelt wird, vor allem, welcher Stellenwert ihr im prozessualen Prüfungsprogramm des Gerichts zukommt. Diesem Problem sind – beschränkt auf den Zivilprozeß – die folgenden Ausführungen gewidmet.

II. Zuständigkeit als Sachurteilsvoraussetzung 1. Vorrang der Zuständigkeitsprüfung In Rechtsprechung und Lehre wird der Zuständigkeitsprüfung seit langem der Vorrang vor der Begründetheitsprüfung beigemessen. Das bezieht sich allerdings nur auf die Überlegungen des Gerichts vor Erlaß eines Sachurteils, nicht auf die Vorüberlegungen des Klägers oder seines Anwalts vor Klageerhebung. Ein potentieller Kläger, der die Erfolgsaussichten eines Prozesses überschlägt, tut das zwar ähnlich „wie“ ein Richter, aber nicht „als“ Richter. Daher ist es ihm unbenommen, sich zunächst mit der Begründetheit zu befassen und erst dann, wenn er hierbei zu einem positiven Ergebnis gekommen ist, nach dem zuständigen Gericht fragen.7

3 Lediglich wo es um die Auslegung des EUV und des AEUV oder um die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU geht, müssen die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte die betreffende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen, Art. 267 Abs. 3 AEUV. 4 So allgemein für Entscheidungen trotz fehlender Zulässigkeit BGH, NJW 2008, 1227 (1228). 5 Jauernig, Das fehlerhafte Zivilurteil, 1958, S. 13, 169. 6 Durch Gesetz vom 17. 12. 1990, BGBl. I, S. 2809 (2816 f.) an Stelle des bisherigen § 17 GVG a.F. neu gefaßt. 7 Dem entspricht die Aufbauanweisung für Anwaltsklausuren bei Musielak, Grundkurs ZPO, 10. Aufl., 2010, Rn. 5.

Funktion und prozessuale Behandlung der Zuständigkeit im Zivilprozeß

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Das Gericht indessen soll nach h.M. generell erst seine Zuständigkeit prüfen, bevor es zur Sache entscheidet. Zur Sache verhandeln darf es im Zivilprozeß u. U. auch schon vorher8, es sei denn, daß es von seiner Unzuständigkeit bereits überzeugt ist.9 Aus dem Umstand, daß die ZPO dem Gericht die Möglichkeit einräumt, über die Zuständigkeit abgesondert zu verhandeln und sogar ein Zwischenurteil zu erlassen (§ 280 ZPO), folgt nicht, daß es die Zuständigkeitsprüfung unter allen Umständen vorziehen müßte. Es kann etwaige Zweifel an seiner Zuständigkeit auch zurückstellen und einstweilen bereits über die Begründetheit der Klage verhandeln, wenn dies nach Lage der Dinge zweckmäßig erscheint und der Beklagte hierbei mitmacht. Ein Sachurteil soll das Gericht aber erst dann fällen dürfen, wenn es sich von seiner Zuständigkeit überzeugt hat. Die Zuständigkeit wird daher zu den Sachurteilsvoraussetzungen gerechnet. 2. Rechtlicher Grund des Prüfungsvorrangs Letztlich geht dieses Denken auf Oskar Bülow zurück. Dieser unterschied als erster kategorial zwischen Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage und behandelte die Zuständigkeit des Gerichts als Element der Zulässigkeit10. Die Prüfung der Begründetheit war für ihn der eigentliche „Prozeß“. Alles andere – aus heutiger Sicht also Gerichtsbarkeit, Rechtsweg, Partei- und Prozeßfähigkeit, Postulationsfähigkeit bzw. anwaltliche Vertretung des Klägers, ordnungsgemäße Klage, fehlende Rechtshängigkeit und Rechtskraft sowie schließlich die Zuständigkeit – betraf nur die Voraussetzungen eines solchen „Prozesses“ und war daher „Prozeßvoraussetzung“.11 Als man gewahr wurde, daß das Fehlen solcher Prozeßvoraussetzungen einen forensischen Streit keineswegs ausschließt – über das Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen kann ebenfalls gestritten und insofern „prozessiert“ werden –, sondern lediglich einem Sachurteil entgegensteht12, sprach man klarstellend nicht mehr von Prozeß-, sondern von Sachurteilsvoraussetzungen. Dieser Begriff ist heute vorherrschend.13 8 A.M. insoweit Wieser, Zulässigkeit und Begründetheit der Klage, ZZP 84 (1971), 304 (317 f.). 9 Das ursprüngliche Recht des Beklagten, aufgrund einer Reihe „prozeßhindernder Einreden“ zunächst eine Entscheidung über die Zuständigkeit zu erzwingen (§§ 247, 248 CPO), wurde durch die „Emminger Verordnung“ (VO vom 13. 02. 1924, RGBl. I, S. 135) aufgehoben. 10 Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht (hrsg. von Braun), 2003, S. 102 ff., 108 ff. 11 Bülow, Die Lehre von den Proceßeinreden und die Proceßvoraussetzungen, 1868, S. 6 f. 12 Schwalbach, Die Proceßvoraussetzungen im Reichscivilproceß, AcP 63 (1880), 390 (401 ff.); Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, Teil 1, 1912, S. 251. 13 Als „Prozeßvoraussetzungen“ bezeichnet man heute meist nur noch diejenigen Erfolgsvoraussetzungen, bei deren Fehlen eine Klage nicht einmal zugestellt wird: Vorschuß der Verfahrensgebühr (§ 12 Abs. 1 GKG), im Anwaltsprozeß Unterschrift eines Rechtsanwalts, deutsche Gerichtsbarkeit und funktionelle Zuständigkeit.

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Johann Braun

Bülow ist aber nicht nur der eigentliche Urheber dieser Kategorie, sondern hat auch die Weichen dafür gestellt, den Sachurteilsvoraussetzungen im Zivilprozeß eine bis dahin unbekannte Bedeutung beizumessen. Das Prozeßrechtsverhältnis zwischen Gericht und Parteien – auch dies eine BülowÏsche „Erfindung“ – war nach seiner Vorstellung ausschließlich „öffentlich-rechtlicher“ Natur14 und das gerichtliche Urteil ein staatlicher „Hoheitsakt“, der mit dem Prozeßvergleich nichts gemein hatte, außer daß beide auf je eigene Weise das Verfahren beendeten. Bei der gerichtlichen Tätigkeit ging es daher wesentlich um die Ausübung von Hoheitsgewalt, letztlich also um staatliche Machtausübung gegenüber Privaten. Im Hinblick darauf lag es nahe, diese Tätigkeit an strenge Voraussetzungen zu binden.15 Das galt auch im Hinblick auf die Zuständigkeit: Ein unzuständiges Gericht sollte gegenüber den Parteien nicht tätig werden dürfen. Da fehlende Prozeßvoraussetzungen nicht bereits eine Sachverhandlung, sondern nur ein Sachurteil ausschlossen, wurde die Zuständigkeit ebenso wie andere Sachurteilsvoraussetzungen zu einer scheinbar allgemeingültigen Vorbedingung für alle Sachurteile hochstilisiert. Die Formel hierfür lautete: kein wie auch immer beschaffenes Sachurteil durch ein unzuständiges Gericht! Daß die von Bülow eingeleitete „konstruktive Phase“ der Zivilprozeßrechtswissenschaft eine späte Frucht der Begriffsjurisprudenz ist, wird kaum irgendwo deutlicher als hier. Der Begriff der „Sachurteilsvoraussetzungen“ wurde ebensowenig wie der der „Prozeßvoraussetzungen“ von Fall zu Fall nach Sinn und Zweck befragt, sondern als feststehende subsumtionsfähige Größe behandelt. Auf diese Weise wurde deduktiv aus ihm abgeleitet, daß bei fehlender Sachurteilsvoraussetzung – u. a. also bei fehlender Zuständigkeit – schlechterdings kein Sachurteil ergehen dürfe, weder zusprechenden noch abweisenden Inhalts.16 Zu einer feststehenden Formel verdichtet, wurde dies vielen Juristengenerationen im Verlauf ihrer Ausbildung eingehämmert und erschien schließlich den meisten als selbstevident. Ein Zweifel daran, daß ein Sachurteil nur ergehen darf, wenn alle Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, schien geradezu undenkbar zu sein. Denn wenn man den Begriff ernst nahm, dann fehlte es beim Mangel von Sachurteilsvoraussetzungen ja eben an den Voraussetzungen für ein Sachurteil!

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Bülow (Fn. 11), S. 1 – 3. Stein, Über die Voraussetzungen des Rechtsschutzes, insbesondere bei der Verurteilungsklage, in: Festgabe der Juristischen Fakultät der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg für Herrmann Fitting zum 27. Oktober 1902, 1903, S. 333 (359). Nach Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, 1966, S. 79, 83, 118, 143 f., ging es Bülow demgegenüber vordringlich darum, den Erlaß „nichtiger“ Urteile zu verhindern. Das dürfte am Kern vorbeigehen. Bülow, Zivilprozessualische Fiktionen und Wahrheiten, AcP 62 (1879), 1 (76), war sich nämlich wohl bewußt, daß das, „was nach alter Gewöhnung Nichtigkeit genannt wird“, in Wahrheit „nur Anfechtbarkeit“ ist. 16 Stein (Fn. 15), S. 350 f.; Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 1, 22. Aufl., 2003, vor § 1 (Einleitung), Rn. 242; Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Bd. 1, 3. Aufl., 2008, Vor §§ 253 ff., Rn. 3; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 16. Aufl., 2004, § 93 I 2. 15

Funktion und prozessuale Behandlung der Zuständigkeit im Zivilprozeß

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Man war sich dessen so sicher, daß man bereits über eine Prüfungsreihenfolge innerhalb der Sachurteilsvoraussetzungen selbst diskutierte.17 War erst der Rechtsweg zu prüfen, weil dieser das Allgemeinere war, und danach die Zuständigkeit, oder war mit der Zuständigkeitsprüfung anzufangen, weil ein unzuständiges Gericht nicht über den Rechtsweg befinden sollte? So oder ähnlich lauteten die Fragen, auf die Bülows Lehre in den Niederungen der Juristenausbildung bisweilen hinauslief.

III. Theorie logischer Gleichwertigkeit Ein Angriff auf die Bastion der h.M. erfolgte erst, nachdem einigen Autoren die strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeß zweifelhaft geworden war. Erst im Anschluß daran wurden Stimmen laut, die auch die rigorose Trennung von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung in Frage stellten. 1. Mangelnder logischer Vorrang Der Topos, unter dem dies geschah, war der des mangelnden logischen Vorrangs18. Damit ist folgendes gemeint: Um einer Klage stattgeben und den Beklagten verurteilen zu können, müssen sowohl prozessuale als auch materiellrechtliche Voraussetzungen gegeben sein: Die Klage muß zulässig und begründet sein. Wenn in der Liste der Erfolgsvoraussetzungen auch nur ein Glied fehlt, muß sie zwingend abgewiesen werden. Ob es sich dabei um eine Zulässigkeits- oder eine Begründetheitsvoraussetzung handelt, ist insoweit ohne Bedeutung. Zwar wird die Klage im Falle der Unzulässigkeit aus prozessualen Gründen, im Falle der Unbegründetheit dagegen sachlich abgewiesen. Aber abgewiesen wird sie in jedem Fall. Rein logisch gesehen gibt es nichts, was das Gericht zwingen könnte, mit der Prüfung fortzufahren, nachdem es festgestellt hat, daß eine der erforderlichen Erfolgsvoraussetzungen fehlt, welche auch immer dies sein mag. Ist die Zulässigkeit der Klage bislang offen geblieben, das Gericht jedoch im Verlauf der Verhandlung zur Auffassung gelangt, daß das behauptete Recht nicht existiert, so steht fest, daß die Klage im Ergebnis abgewiesen werden muß, und zwar ent17

Vgl. Goetz, Die Prüfung der Zulässigkeit der Klage im Gutachten, JZ 1959, 244 (245 f.); Pohle, Zur Rangordnung der Prozeßvoraussetzungen, ZZP 81 (1968), 161; Arndt, Juristische Ausbildung, 3. Aufl., 1972, S. 48; Baumgärtel/Laumen/Prütting, Der Zivilprozeßrechtsfall, 8. Aufl., 1995, S. 112; Schreiber, Übungen im Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1996, S. 16 f.; Lüke, Fälle zum Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1993, S. 2 Fn. 3, 54 Fn. 55; BGHZ 27, 15 (29) (Rechtsweg hat Vorrang vor Rechtsschutzbedürfnis). Kritisch dazu Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., 1974, S. 322 f., 328 ff. 18 Vgl. Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, 1966, S. 112, 115, 117, 121 f., 136, 144; mit Einschränkungen auch Grunsky, Prozeß und Sachurteil, ZZP 80 (1967), 55 (58 f.); Lindacher, Die Reihenfolge der Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage im Zivilprozeß, ZZP 90 (1977), 131 (133).

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weder – falls sich die Unzulässigkeit doch noch herausstellt – als unzulässig, andernfalls als unbegründet. Warum, so wurde daher gefragt, sollte das Gericht dann aber noch in zeitraubende Prüfungen eintreten, um die Zulässigkeit definitiv zu klären? An der Abweisung als solcher konnte sich dadurch ja doch nichts ändern. Lediglich der Grund der Abweisung konnte dadurch beeinflußt werden, indem die Klage nicht als unbegründet, sondern als unzulässig abgewiesen wurde. Aber würde das diesen Aufwand rechtfertigen? Aus logischen Gründen ist die vorrangige Prüfung der Zulässigkeit sicher nicht geboten. Logisch sind alle Erfolgsvoraussetzungen gleichwertig. Denn die Klage kann nur Erfolg haben, wenn alle Voraussetzungen vorliegen, und sie scheitert, wenn auch nur eine fehlt. 2. Teleologischer Vorrang einzelner Sachurteilsvoraussetzungen Gleichwohl hat diese Auffassung die überkommene Lehre nicht dauerhaft zu erschüttern vermocht.19 Bei näherem Zusehen wird deutlich, warum. Nehmen wir ein Beispiel: K hat B auf Leistung verklagt. Während des Prozesses kommt das Gericht zu der Auffassung, daß die Klage unbegründet ist. Allerdings hat es auch den Eindruck gewonnen, daß K nach Prozeßbeginn einen manischen Schub erlitten hat, der seine Zurechnungsfähigkeit ausschließt. Darf es die Klage sachlich abweisen?

Würde das Gericht die Klage als unbegründet abweisen und würde diese Entscheidung in Rechtskraft erwachsen, wäre K die behauptete Forderung praktisch los. Und das, obwohl er sich, wenn er während des Prozesses tatsächlich prozeßunfähig geworden war, gar nicht in der gebotenen Weise Gehör verschaffen konnte! Es liegt auf der Hand, daß dies nicht richtig sein kann20. Auch wenn K im Fall der Prozeßunfähigkeit nachträglich Nichtigkeitsklage (§ 578 Nr. 4 ZPO) erheben darf, geht es nicht an, ihn sehenden Auges in diese Lage zu versetzen. Wenn § 56 Abs. 1 ZPO vorsieht, daß das Gericht den Mangel der Prozeßfähigkeit v.A.w. zu berücksichtigen hat, so will es u. a. gerade verhindern, daß die Prozeßfähigkeit des Klägers offenbleibt, obwohl die Klage sachlich abgewiesen wird.21 Daß alle Erfolgsvoraussetzungen einer Klage gleichwertig sind, trifft demnach nur logisch, aber nicht teleologisch zu. Die Zulässigkeitsprüfung darf daher keineswegs generell zurückgestellt werden. Wie das Beispiel zeigt, gibt es Konstellationen, in denen sie eindeutig vorrangig ist. Ein weiterer Fall neben dem oben genannten ergibt sich, wenn der Kläger auf Feststellung klagt, daß dem Beklagten ein bestimmtes, von diesem in Anspruch genommenes Recht nicht zustehe, und zweifelhaft ist, ob ihm dieses Recht nicht bereits rechtskräftig aberkannt wurde. Würde das Gericht 19 Zur Kritik Wieser (Fn. 8), 304 ff.; Sauer, Die Reihenfolge der Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage im Zivilprozeß, 1974, passim; auch Sousa, Die Zulässigkeitsprüfung im Zivilprozeß, 2010, S. 44. 20 Becker-Eberhard (Fn. 16), Rn. 3. 21 Einer Klagestattgabe stünde die Prozeßunfähigkeit des Klägers indessen nicht entgegen, vgl. Braun, in: Bülow (Fn. 10), S. 7.

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unter Offenlassung der Rechtskraftfrage die Klage sachlich abweisen, so würde es im Ergebnis dem Beklagten das umstrittene Recht zusprechen und damit möglicherweise gegen die Rechtskraft verstoßen. Nur im Hinblick auf solche Fälle, in denen ein Sachurteil aus übergeordneten Gründen erst nach Bejahung bestimmter Sachurteilsvoraussetzungen erlassen werden darf, ist überhaupt zu verstehen, wie man an dem Gedanken, daß die Sachurteilsvoraussetzungen generell vorrangig seien, bis auf den heutigen Tag festgehalten hat. Womöglich hat man damit nämlich eine in manchen Fällen tatsächlich gegebene Vorrangigkeit einfach verallgemeinert. Was bleibt, ist jedenfalls die Frage, in welchen Fällen bestimmte Sachurteilsvoraussetzungen in der Tat vorrangig bejaht sein müssen und – bezogen auf die vorstehende Thematik – wie es sich insoweit mit der Zuständigkeit verhält: Muß die Zuständigkeit vor Erlaß eines Sachurteils generell bejaht sein, darf sie zwecks Vereinfachung des Verfahrens offen bleiben, oder ist in manchen Fällen dies, in anderen jenes der Fall?22

IV. Der Zweck der Zuständigkeitsregeln Um dies beurteilen zu können, muß man sich zunächst einmal Sinn und Zweck der Zuständigkeitsregeln vergegenwärtigen. Hierbei sind mehrere Aspekte zu unterscheiden. 1. Angemessene Arbeitsverteilung Mit Rücksicht auf eine sinnvolle Verwendung öffentlicher Ressourcen kommt den Zuständigkeitsvorschriften die Aufgabe zu, die anstehenden Prozesse sachgerecht auf die vorhandenen Gerichte zu verteilen. Das zeigt sich bereits beim Rechtsweg, bei dem es angesichts der Gleichwertigkeit aller Rechtswege in der Sache ebenfalls um eine Frage der Zuständigkeit im weiteren Sinn geht23. Die Aufspaltung in mehrere Rechtswege ermöglicht eine Spezialisierung der Gerichte, die sich naturgemäß nur dann durchhalten läßt, wenn alle Streitsachen nach bestimmten Kriterien auf die vorhandenen Rechtswege verteilt werden. Ebenso läßt sich auch ein Instanzenzug nur organisieren, wenn die Rechtsmittelgerichte von den Aufgaben erstinstanzlicher Gerichte möglichst freigehalten werden. Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit muß unter staatsökonomischen Gesichtspunkten gewährleisten, daß die auf gleicher Stufe angesiedelten Gerichte gemessen an ihrer Kapazität ungefähr gleichmäßig zum Einsatz kommen. Die sachliche Zuständigkeit schließlich steuert in der Zivilgerichtsbarkeit den Zugang zu den verschiedenen Eingangsgerichten, also zu AG und LG.

22 Dazu bereits Braun, in: Bülow (Fn. 10), S. 5 – 8; allgemein zu allen Sachurteilsvoraussetzungen Sousa (Fn. 19), passim. 23 Vgl. Jauernig (Fn. 5), S. 13; Rimmelspacher (Fn. 18), S. 57; Grunsky (Fn. 17), S. 333.

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Aus dem Umstand, daß sachliche und örtliche Zuständigkeit weitgehend disponibel sind, geht freilich hervor, daß das Gesetz es mit der gleichmäßigen Auslastung der Eingangsgerichte nicht ganz so streng nimmt. Es begnügt sich damit, daß dies wenigstens im großen und ganzen gewährleistet ist.24 2. Begrenzung der Einlassungspflicht25 Ein anderer Aspekt tut sich auf, wenn man den Blick auf die Parteien richtet. Was zunächst den Kläger angeht, so täte man diesem kein Unrecht, wenn man ihm gestatten würde, den Prozeß vor einem beliebigen Gericht seiner Wahl zu führen. Im Gegenteil: Etwas Besseres könnte ihm nicht passieren. Anders verhält es sich mit dem Beklagten. Dieser darf auf keinen Fall genötigt werden, sich an jedem Forum einzulassen, das dem Kläger genehm ist. Das verbietet schon das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG). Es gibt aber auch Gründe vorpositiver Natur. Vor Gericht Rede und Antwort stehen zu müssen, ist nicht bloß im Strafprozeß, sondern auch im Zivilprozeß eine schwere Bürde; denn es geht hier um ein Sprachspiel, das mit dem Verlust der eigenen Rechtsposition enden kann. Aufgrund der binären Struktur des Zivilprozesses hat der Kläger ein natürliches Interesse daran, dem Beklagten die Verteidigung zu erschweren, wo es nur geht. Wenn er zu diesem Zweck bei jedem Gericht klagen dürfte, das ihm selbst genehm, dem Beklagten aber möglichst ungelegen ist, könnte er sich gleich beim ersten Schritt einen dauerhaften Vorteil verschaffen. Ein Prozeßrecht, das auf die Organisation eines rationalen Dialogs abzielt, muß die Einlassungspflicht daher auf solche Gerichte begrenzen, bei denen dem Beklagten eine Einlassung zur Sache überhaupt angesonnen werden kann.26 Das ist vor allem bei dem Gerichtsstand des Beklagtenwohnsitzes (§§ 12 f. ZPO) der Fall, für den die stärksten Argumente prozessualer Gerechtigkeit sprechen: Bevor das Recht des Klägers näher geprüft worden ist, gibt es aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten nichts, was dafür einnehmen könnte, als die Behauptung des Klägers selbst. Diese allein kann es jedoch nicht rechtfertigen, daß der Beklagte sich zu dem Kläger hinbemühen muß, zumal der Beklagte in der Regel genau die entgegengesetzte Behauptung aufstellt. Einleuchtend erscheint allein, daß sich grundsätzlich derjenige zu dem andern hinzubegeben hat, der den forensischen Streit eröffnet.27 Dem 24

Hahn/Stegemann, Die gesammten Materialien zur CPO, 2. Aufl., 1881, S. 160 f. Der Terminus „Einlassungspflicht“ wird hier bewußt verwendet, weil der Begriff der „Einlassungslast“, wie von Hippel, Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht im Zivilprozeß, 1939, S. 325 f., schlagend gezeigt hat, dazu verleitet, die eigentlich maßgebenden Gesichtspunkte und Zusammenhänge zu vernachlässigen. 26 Rimmelspacher (Fn. 18), S. 60. 27 Nur für Klagen eines Verbrauchers aus Haustürgeschäften eröffnet § 29c Abs. 1 Satz 1 ZPO einen Gerichtsstand am Klägerwohnsitz. Aber zugunsten des Verbrauchers werden überkommene Grundsätze auch sonst eingeschränkt. 25

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tragen die §§ 12 f. ZPO dadurch Rechnung, daß sie den allgemeinen Gerichtsstand eines Beklagten nach dessen Wohnsitz bestimmen. Nicht ganz so verhält es sich, wenn der Kläger den Beklagten einer unerlaubten Handlung bezichtigt. Zwar spricht auch in diesem Fall nichts dagegen, daß der Beklagte an seinem Wohnsitzgericht belangt wird. Darüber hinaus jedoch sieht es § 32 ZPO als gerechtfertigt an, daß er sich auch an dem Gericht des Ortes einlassen muß, an dem die behauptete unerlaubte Handlung begangen wurde – beschränkt allerdings auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung und nicht wegen konkurrierender sonstiger Ansprüche.28 Einen zusätzlichen Gerichtsstand räumt auch § 29 ZPO ein. Danach kann ein Schuldner aus einem Vertragsverhältnis auch vor dem Gericht des Orts verklagt werden, wo die streitige Verpflichtung zu erfüllen wäre. Auch hier ist richtiger Ansicht nach die Kompetenz des Gerichts auf die Beurteilung derjenigen Ansprüche beschränkt, die seine Zuständigkeit überhaupt erst begründet haben.29 Häufig wird das Gericht des Erfüllungsortes zugleich das Wohnsitzgericht des Beklagten sein. Wenn dieser seinen Wohnsitz wechselt, verlegt er damit zwar seinen allgemeinen Gerichtsstand. An dem besonderen Gerichtsstand gemäß § 29 ZPO ändert sich dadurch aber nichts. Diese Beispiele für Ausnahmen von dem Grundsatz der §§ 12 f. ZPO mögen genügen. Die Details der gesetzlichen Gerichtsstandsregelung können hier auf sich beruhen. 3. Disposition über Zuständigkeit a) Die bisherigen Ausführungen vermitteln ein unvollständiges Bild, weil dabei außer Acht gelassen wurde, daß die Parteien in weitem Umfang über die Zuständigkeit disponieren und einem an sich unzuständigen Gericht die fehlende Kompetenz verleihen können. Eine entsprechende Gerichtsstandsvereinbarung ist bei Kaufleuten und juristischen Personen bereits im voraus und überdies formlos möglich, §§ 38 Abs. 1, 40 Abs. 1 ZPO. In anderen Fällen muß die Vereinbarung ausdrücklich und schriftlich nach dem Entstehen der Streitigkeit geschlossen werden, § 38 Abs. 3 ZPO. Die Zuständigkeit kann ferner dadurch begründet werden, daß der Beklagte sich auf eine vor einem unzuständigen Gericht erhobene Klage in der mündlichen Verhandlung rügelos einläßt, § 39 ZPO. In diesem Fall kommt es nicht zu einer Zuständigkeitsvereinbarung zwischen den Parteien; dem Beklagten muß die Bedeutung seines Verhaltens nicht einmal bewußt sein. Es genügt, daß er sich vor Gericht einfindet und zur Sache verhandelt, ohne die Unzuständigkeit zu monieren. Damit bringt er zum Ausdruck, daß er bereit ist, vor diesem Gericht Rede und Antwort zu stehen, 28 Anders insoweit gegen die ältere Rechtsprechung BGHZ 153, 173 = JZ 2003, 687 m. Anm. Mankowski; im Zusammenhang mit Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ/EuGVVO zu Recht anders EuGH, NJW 1988, 3088. 29 Patzina, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 1, 3. Aufl., 2008, § 29 ZPO, Rn. 22; a.M. Roth, in: Stein/Jonas (Fn. 16), § 29 Rn. 9.

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und beseitigt dadurch mögliche Bedenken, die im Hinblick auf seine Person gegen die Zuständigkeit des Gerichts sprechen könnten. Ist ein an sich unzuständiges Gericht durch eine Gerichtsstandsvereinbarung oder eine rügelose Einlassung des Beklagten doch zuständig geworden, so befindet es sich in derselben Lage, wie wenn seine Zuständigkeit von Anfang an bestanden hätte. Sofern auch die sonstigen Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, darf es nicht nur, sondern muß sogar zur Sache entscheiden. b) Allerdings reicht die Dispositionsmöglichkeit nicht so weit, daß damit öffentliche Interessen überspielt werden könnten, denen das Gesetz den Vorrang einräumt. Manche Gerichtszuständigkeiten sind ausdrücklich für ausschließlich erklärt und damit der Disposition entzogen worden. So ist etwa für Klagen, die das Grundeigentum oder dessen dingliche Belastung oder Freiheit von einer solchen betreffen, das Gericht der Sachbelegenheit ausschließlich zuständig, § 24 ZPO. Für Streitigkeiten über Ansprüche aus Raummiete oder Raumpacht begründet § 29a ZPO die ausschließliche örtliche Zuständigkeit des Gerichts der Raumbelegenheit und § 23 Nr. 2a GVG für Streitigkeiten über Ansprüche aus Wohnraummiete die ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte. Ohne daß es einer ausdrücklichen Regelung bedarf, können sich die Parteien auch nicht über die funktionelle Zuständigkeit hinwegsetzen und daher ein zweitinstanzliches Gericht nicht in die Lage versetzen, sich sachlich mit einer bei diesem erhobenen Klage befassen zu müssen. Ein funktionell unzuständiges Gericht ist nach dem Sinn der Gerichtsorganisation ausschließlich für andere Aufgaben vorgesehen. Der Umstand, daß ein unter Verstoß hiergegen erlassenes Urteil wirksam wäre30, ändert daran nicht das mindeste. Entsprechendes gilt für den Rechtsweg, der ebenfalls nicht der Disposition unterliegt – nicht weil den Parteien oder einer von ihnen ein Unrecht geschähe, wenn die Streitsache infolge ihres Zutuns in einem anderen Rechtsweg entschieden würde, sondern weil der Zweck, der mit der Einrichtung von Rechtswegen angestrebt wurde, durch entgegenlaufendes Parteiverhalten nicht beeinträchtigt werden soll.

V. Sachentscheidung durch das „unzuständige“ Gericht? Legt man die bisherigen Ausführungen zugrunde, läßt sich über die Behandlung einer Klage vor dem „falschen“ Gericht folgendes sagen: 1. Keine Sachentscheidung gegen den passiven Beklagten Alle Zuständigkeitsregeln enthalten eine Entscheidung darüber, wo sich der Beklagte auf eine Klage einlassen muß. Das gilt auch dann, wenn sie außerdem noch 30

Speziell für den „Instanzvorgriff“ Hein, Das wirkungslose Urteil, 1996, S. 193 f.

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von anderen Überlegungen getragen sind, ja selbst dann, wenn diese Überlegungen für den Gesetzgeber von vorrangiger Bedeutung gewesen sein sollten. Klagt der Kläger vor einem unzuständigen Gericht, darf der Beklagte daher an sich passiv bleiben. Er muß nicht einmal die Unzuständigkeit rügen. Die ZPO erspart es ihm, in der mündlichen Verhandlung erscheinen zu müssen, indem sie es dem Gericht zur Aufgabe macht, die fehlende Zuständigkeit von Amts wegen zu beachten und die Klage abzuweisen, wenn es nicht zu einer Verweisung an das zuständige Gericht kommt (§§ 331 Abs. 2, 281 ZPO). Ob der Beklagte im Zusammenwirken mit dem Kläger über die Zuständigkeit hätte disponieren können, spielt dabei keine Rolle. Anders als eine rügelose Sacheinlassung macht die bloße Passivität des Beklagten ein unzuständiges Gericht niemals zuständig. Diesem ist daher eine Sachentscheidung gegen den passiven Beklagten generell versagt. Dieser Grundsatz wird nur dadurch getrübt, daß die vom Kläger behaupteten zuständigkeitsbegründenden Tatsachen nach h.M. bei Säumnis des Beklagten gemäß § 331 Abs. 1 ZPO als zugestanden behandelt werden.31 Daß der Kläger solche Tatsachen schlüssig behaupten muß, ist für diesen ein leicht zu überwindendes Hindernis. Wenn der Beklagte, was die Zuständigkeit angeht, nicht in die Hand des Klägers gegeben werden soll, darf daher die Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 ZPO nicht auf die zuständigkeitsbegründenden Behauptungen erstreckt werden.32 Vielmehr hat das Gericht etwaige Zweifel an der Wahrheit solcher Behauptungen v.A.w. zu berücksichtigen. Um es in solche Zweifel zu versetzen, genügt ein Schriftsatz des Beklagten. Dieser muß also richtiger Ansicht nach auch insoweit nicht in der mündlichen Verhandlung erscheinen.

2. Sachentscheidung gegen den Beklagten bei zulässiger und unzulässiger Disposition a) Haben die Parteien, soweit ihnen dies gestattet war, über die Zuständigkeit disponiert, so ist das zunächst unzuständige Gericht zuständig geworden und kann daher eine Verurteilung des Beklagten nicht mehr mangels Zuständigkeit verweigern. Ob die Parteien eine entsprechende Gerichtsstandsvereinbarung geschlossen haben oder ob sich der Beklagte rügelos zur Sache eingelassen hat, spielt hierbei keine Rolle. b) Anders verhält es sich, wo den Parteien eine solche Disposition verwehrt ist. Ein Gericht des falschen Rechtswegs oder ein funktionell unzuständiges Gericht muß den Beklagten auch dann nicht verurteilen, wenn dieser mit einer Sachentscheidung durch dieses Gericht einverstanden ist. Dasselbe gilt in Fällen, wo die ausschließliche sachliche oder örtliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts vorgesehen ist. Im Anwendungsbereich indisponibler Zuständigkeiten können die Parteien nicht 31

Grunsky, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 5, 22. Aufl., 2006, § 331, Rn. 6 – 8; Prütting, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung (Fn. 29), § 331 ZPO, Rn. 13; RGZ 1, 438; RGZ 75, 147 (149). 32 Rimmelspacher (Fn. 18), S. 165, 169 f.; Wieser (Fn. 8), 314 f.

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ein anderes Gericht zur Justizgewährung verpflichten als dasjenige, das vom Gesetz dafür vorgesehen ist. Daß ein „absolut“ unzuständiges Gericht den Beklagten auf eine begründete Klage hin in keinem Fall verurteilen muß, heißt indessen keineswegs, daß es dies unter bestimmten Voraussetzungen nicht doch tun dürfte. Entscheiden müssen und entscheiden dürfen ist zweierlei. Daß das unzuständige Gericht nicht zur Sache entscheiden muß, ergibt sich bereits aus den nichtdisponiblen Zuständigkeitsnormen, die primär nicht im Interesse der Parteien, sondern aus anderen Gründen statuiert sind. Was bleibt, ist daher die Frage, ob das „absolut“ unzuständige Gericht, wenn es schon nicht zur Sache entscheiden muß, doch vielleicht sachlich entscheiden darf. Das kann nicht schon unter Hinweis auf die „Ausschließlichkeit“ einer anderweitigen Zuständigkeit bzw. auf die „absolute“ Unzuständigkeit des angegangenen Gerichts abgelehnt werden. Denn damit ist nichts weiter gesagt, als daß die Zuständigkeit nicht der Disposition der Parteien unterliegt. Aber darum geht es hier gar nicht. Wenn der Beklagte sich vor einem absolut unzuständigen Gericht sachlich einläßt, stehen seiner Verurteilung weder eigene prozessuale Interessen noch solche des Klägers entgegen. Denn der Kläger hat das Gericht selbst ausgewählt, und der Beklagte hat sich auf die Verhandlung eingelassen. Entscheidend kann daher nur sein, ob diejenigen Erwägungen, die dazu geführt haben, die Zuständigkeit aus übergeordneten Gründen der Disposition der Parteien zu entziehen, generell durchschlagend sind oder aber in bestimmten Fällen eine Ausnahme rechtfertigen. Vergegenwärtigen wir uns die Problematik wiederum an einem Beispiel: K klagt gegen B vor dem LG einen Vergütungsanspruch ein. B verhandelt ohne Vorbehalt streitig zur Sache. Das LG kommt rasch zu der Auffassung, daß der Anspruch begründet ist. Es ist sich jedoch nicht sicher, ob für den Rechtsstreit nicht die Arbeitsgerichte zuständig sind. Dies zu klären, könnte im konkreten Fall einige Mühe bereiten.

Wenn das LG zur Sache entscheidet und der Klage stattgibt, tut es – sofern die Entscheidung zutreffend ist – weder K noch B unrecht. Die Frage ist allein die, ob der mit der Einrichtung unterschiedlicher Rechtswege verfolgte Zweck, arbeitsrechtliche Streitigkeiten von den Arbeitsgerichten und allgemein zivilrechtliche von den ordentlichen Gerichten entscheiden zu lassen, derart rigoros zu verfolgen ist, daß in Zweifelsfällen auf die Rechtswegbestimmung ungeachtet des Parteiverhaltens mehr Zeit und Anstrengung verwendet werden muß als auf die Sache selbst.33 So gestellt, wird man diese Frage kaum bejahen können; denn die Beachtung des Rechtswegs ist kein Selbstzweck. Die Einräumung unterschiedlicher Rechtswege soll die Spezialisierung von Gerichten ermöglichen. Wo dieser Zweck offenbar nicht tangiert ist, weil sich eine Streitigkeit weder dem einen noch dem anderen Rechtsweg eindeutig zuordnen läßt, besteht kein allgemeines Interesse daran, die Rechtswegfrage zu dramatisieren. Das gilt im vorliegenden Fall um so mehr, als die Abgrenzung der Arbeits33 Anders für das Verhältnis von ordentlichem Rechtsweg und Verwaltungsrechtsweg Grunsky (Fn. 18), 71.

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gerichte von den ordentlichen Gerichten lange Zeit als eine Frage der sachlichen Zuständigkeit behandelt wurde und damit der freien Disposition der Parteien unterlag.34 Die Abkehr hiervon kann schwerlich zur Folge gehabt haben, daß die Gerichte das Rechtswegprinzip zu Tode reiten müssen, auch wenn den Parteien gar nichts daran liegt, in welchem Rechtsweg ihr Streit entschieden wird. In dem obigen Beispiel kann es dem LG daher sinnvollerweise nicht verwehrt sein, den Beklagten zu verurteilen. Legt der Beklagte dagegen ein Rechtsmittel ein, so prüft das Rechtsmittelgericht den Rechtsweg nicht mehr, § 17a Abs. 5 GVG. Um in einen anderen Rechtsweg zu gelangen, hätte der Beklagte den eingeschlagenen Rechtsweg rügen und einen daraufhin ergehenden abschlägigen Beschluß mit der sofortigen Beschwerde anfechten müssen, § 17a Abs. 3, 4 Satz 3 GVG. Diese Regelung zeigt, daß seiner rügelosen Einlassung auf eine rechtswegfremde Klage im Endeffekt „dispositionsähnliche“ Wirkung zukommt. c) Was hier für den Rechtsweg ausgeführt wurde, gilt in anderen Fällen „absoluter“ Unzuständigkeit entsprechend. Wenn das Gericht sieht, daß die Klage begründet ist, aber hinsichtlich seiner Zuständigkeit Zweifel verblieben sind, so gebietet es das öffentliche Interesse keineswegs, daß zur Klärung dieser Frage unverhältnismäßige Anstrengungen unternommen werden. Allenfalls das Parteiinteresse kann das Gericht hier veranlassen, der Klärung dieser Frage unbedingten Vorrang beizumessen. Denn die Parteien können in der Tat ein legitimes Interesse daran haben, daß ihr Fall nur von dem zuständigen Gericht entschieden wird. Wenn jedoch der Kläger durch seine Klage und der Beklagte durch seine Sacheinlassung hat erkennen lassen, daß er gegen die Zuständigkeit des Gerichts nichts einzuwenden hat, steht auch das Interesse der Parteien einer Verurteilung des Beklagten nicht entgegen. Um Mißverständnisse auszuschließen, soll freilich noch einmal betont werden, daß das Gericht bei fehlendem Parteiinteresse lediglich berechtigt ist, eine zweifelhafte Zuständigkeit offenzulassen. Denn das öffentliche Interesse ist nicht so gewichtig, daß es wegen einer Frage, die i. d. R. doch nur dezisionistisch entschieden werden kann, einen unverhältnismäßigen Aufwand verlangt. Dagegen ist es dem Gericht verwehrt, sich über eine eindeutige Unzuständigkeit hinwegzusetzen. Deshalb darf z. B. das OLG auch mit Einverständnis des Beklagten nicht über eine bei ihm eingereichte Klage verhandeln und entscheiden. Es ist nämlich evident, daß ihm hierfür die funktionelle Zuständigkeit fehlt. Nur in zweifelhaften Fällen darf das im Einverständnis beider Parteien mit der Sache befaßte Gericht seine Zuständigkeit offenlassen und der Klage stattgeben. Diesen Weg wird es dann einschlagen, wenn ihm dies sinnvoller erscheint, als seine Zeit und Arbeitskraft auf eine Zuständigkeitsfrage zu verwenden, die ohne Nachteil so oder so entschieden werden kann. Wenn der Beklagte gegen seine Verurteilung Rechtsmittel einlegt, wird die Zuständigkeit – ähnlich wie nach § 17a Abs. 5 GVG der Rechtsweg – nicht mehr überprüft, §§ 513 Abs. 2, 566 Abs. 4 Satz 2. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß dem Gesetz an den „absolu34

Vgl. BGHZ 24, 176 (177 f.); BGHZ 26, 304 (306); BAG, NJW 1959, 260.

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ten“ Zuständigkeiten nicht ganz so viel liegt, wie eine begriffsjuristisch vorgehende Dogmatik glauben machen könnte.

3. Sachentscheidung des „unzuständigen“ Gerichts gegen den Kläger An letzter Stelle wollen wir uns der Frage zuwenden, wie sich das Gericht zu verhalten hat, wenn der Beklagte die Unzuständigkeit ausdrücklich rügt oder aber in der mündlichen Verhandlung säumig ist. Fest steht bereits, daß er dann nicht verurteilt werden darf, gleichgültig, ob es sich um einen Fall absoluter oder disponibler Unzuständigkeit handelt.35 Die Entscheidung kann hier nur gegen den Kläger ausfallen; dessen Klage ist im Ergebnis abzuweisen. Offen ist nur, wie: als unzulässig oder aber, wenn die Sache in diesem Sinn bereits geklärt ist, als unbegründet? a) Richten wir den Blick zunächst auf die Fälle disponibler Zuständigkeit. Wie soll das an sich „unzuständige“ Gericht über eine unschlüssige Klage entscheiden, wenn der Beklagte sich passiv verhält? Beispiel: K verklagt B vor einem Gericht, das bereits nach dem Klägervortrag örtlich oder sachlich unzuständig ist, auf Zahlung. In der mündlichen Verhandlung ist B säumig. Das Gericht hält die Klage außerdem für unschlüssig. K bessert jedoch auch nach entsprechender Aufklärung nicht nach. Darf das Gericht die Klage sachlich abweisen?

Wäre B in der mündlichen Verhandlung erschienen und hätte rügelos zur Sache verhandelt, so wäre das Gericht zuständig geworden (§ 39 ZPO) und eine sachliche Abweisung die einzig richtige Entscheidung gewesen. Warum sollte dies anders sein, wenn B sich nicht eingelassen hat? Seine Einlassung kann doch nur die Zuständigkeit des Gerichts für seine eigene Verurteilung begründen; für eine gegen den Kläger gerichtete Entscheidung ist sie bedeutungslos. Wer begriffsjuristische Deduktionen aus dem Begriff der „Sachurteilsvoraussetzungen“ für wenig zielführend hält, wird daher unvoreingenommen so argumentieren: Wo die Sacheinlassung des Beklagten dem Gericht die Kompetenz verschafft, gegen den Beklagten zu entscheiden, muß umgekehrt die Klageerhebung bei einem bestimmten Gericht ein hinreichendes Fundament bilden, um eine Sachentscheidung gegen den Kläger treffen zu dürfen. Falls nicht übergeordnete Interessen dagegen sprechen – die aber im Bereich disponibler Zuständigkeit nicht ersichtlich sind –, ist das Gericht für eine Sachentscheidung gegen den Kläger mithin bereits deshalb kompetent, weil sich dieser selbst an das Gericht gewandt und um eine Entscheidung nachgesucht hat.36 Aus dem Umstand, daß das Gericht ein Sachurteil gegen den Kläger erlassen darf, folgt allerdings wiederum nicht zwingend, daß es dies tatsächlich tun muß. Spielt man den obigen Fall in Gedanken weiter, so zeigt sich nämlich folgendes: Wenn der mit seiner Klage durch unechtes Versäumnisurteil abgewiesene Kläger gegen 35 36

Vgl. oben V.1. Vgl. Grunsky (Fn. 17), S. 325 f., 354; Lindacher (Fn. 18), 131 (136).

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das Urteil Rechtsmittel einlegt, kann es vorkommen, daß der bis dahin passive Beklagte in der Berufungsverhandlung die Unzuständigkeit rügt. Das wird richtiger Ansicht nach auch durch § 513 Abs. 2 ZPO nicht ausgeschlossen37. Denn wenn der Beklagte und Berufungsbeklagte, der in erster Instanz säumig war, in der Berufungsinstanz die Zuständigkeit rügt, dann tut er dies nicht, weil er die in erster Instanz geleistete Sacharbeit des Gerichts in Frage stellt – gegen die Abweisung der Klage wird er nichts einzuwenden haben –, sondern weil er, falls das Berufungsgericht die erstinstanzliche Sachabweisung für falsch und die Klage für begründet halten sollte, nicht genötigt sein will, sich vor einem unzuständigen Gericht verteidigen zu müssen, nachdem er sich bisher vielleicht bewußt nicht eingelassen hat. Soll dem Beklagten der gesetzliche Richter (Art. 101 GG) nicht entzogen werden, darf ihm die Zuständigkeitsrüge in diesem Fall nicht abgeschnitten werden38, und zwar unabhängig davon, ob das erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit zur Sachabweisung willkürlich bejaht hat oder nicht. Hält das Berufungsgericht die Klage entgegen der ersten Instanz für begründet, darf es den Beklagten mangels Zuständigkeit gleichwohl nicht verurteilen. Es bleibt dann also nichts anderes übrig, als die Klage letztlich doch aus prozessualen Gründen abzuweisen. Im Hinblick darauf läßt es sich rechtfertigen, daß das Gericht der ersten Instanz, auch wenn es zum Nachteil des Klägers in der Sache entscheiden dürfte, die Klage nach seinem Ermessen auch aus prozessualen Gründen abweisen darf. Es ist zwar zuständig für eine Sachabweisung des Klägers; aber das übergeordnete Berufungsgericht wäre es nicht für eine Verurteilung des Beklagten. Hat der Beklagte die Unzuständigkeit des Gerichts bereits in erster Instanz gerügt, so ist absehbar, daß er sich auch in zweiter Instanz nicht zur Sache einlassen wird. Das Gericht wird daher in diesem Fall die Klage nur dann sachlich abweisen, wenn es sicher ist, daß sich der Kläger damit beruhigen wird oder daß jedenfalls das Berufungsgericht die Sachabweisung bestätigen wird. Das dürfte indessen eine seltene Ausnahme sein. Um unnötige Mehrarbeit zu vermeiden, wird das Gericht nach erhobener Zuständigkeitsrüge daher kaum je ein Sachurteil gegen den Kläger erlassen. b) Wie aber verhält es sich in Fällen, in denen die Unzuständigkeit des mit der Klage befaßten Gerichts der Disposition der Parteien entzogen ist? Aus dem Umstand, daß der Kläger selbst eine sachliche Entscheidung dieses Gerichts beantragt hat, folgt nur, daß der Sachabweisung einer unschlüssigen Klage auch hier keine klägerischen Interessen entgegenstehen. Darauf kann es bei indisponiblen Zuständigkeiten jedoch nicht ankommen. Maßgebend kann nur sein, ob die Gründe, die dazu geführt haben, die betreffende Zuständigkeitsregelung der Disposition der Par-

37

A.M. Rimmelspacher, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 2, 3. Aufl., 2007, § 514 ZPO, Rn. 17. 38 Irrig Sauer (Fn. 19), S. 72, der meint, dem Beklagten würde insoweit eine nicht zu beseitigende prozessuale Last auferlegt werden.

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teien zu entziehen, auch dem Gericht verwehren, die Zuständigkeit in Zweifelsfällen offenzulassen. Wenn irgend möglich, wird das Gericht in einer solchen Lage die Klage aus formellen Gründen abweisen, weil es sich damit auf der „sicheren Seite“ bewegt. Anlaß für ein anderes Vorgehen bietet sich nur dann, wenn es die Klage in der Sache eindeutig für abweisungsreif hält, aber über seine Zuständigkeit keine volle Gewißheit erlangen konnte. Auch hier wird man das Gericht schwerlich für verpflichtet halten, koste es, was es wolle, vorrangig die Zuständigkeit zu klären oder wegen der verbliebenen Zweifel nur eine Prozeßentscheidung zu treffen. Soll die Form nicht das Übergewicht über die Sache gewinnen, darf das Gericht die Klage auch in diesem Fall sachlich abweisen. Bei der Ausübung des ihm zustehenden Ermessens wird das Gericht freilich auch hier die Folgen mitbedenken: Der sachlich abgewiesene Kläger könnte gegen das Urteil Berufung einlegen und damit weiterhin die Verurteilung des Beklagten verfolgen. Das würde das Berufungsgericht zwar nicht hindern, die Sachabweisung des Klägers zu bestätigen. Aber wenn die Angelegenheit streitig verhandelt wird und dabei auch eine Verurteilung des Beklagten in den Bereich der Möglichkeit tritt, wird sich eine vollständige Zuständigkeitsprüfung nicht vermeiden lassen. Je nachdem, wie das Gericht diese Aussichten einschätzt, kann es auch bei unschlüssiger Klage und Säumnis des Beklagten die Prüfung einer zweifelhaften indisponiblen Zuständigkeit als vorrangig behandeln.

VI. Die wesentlichen Ergebnisse 1. Die Zuständigkeit ist keine Sachurteilsvoraussetzung in dem Sinn, daß ein Gericht bei ungeklärter Zuständigkeit überhaupt niemals eine Sachentscheidung treffen dürfte. Zu einem generellen Verbot jeder Sachentscheidung kommt es in dieser Lage nur bei bestimmten Konstellationen. Was ein Zuständigkeitsmangel bewirkt, hängt nämlich wesentlich davon ab, ob es sich um einen Fall disponibler oder nicht disponibler Zuständigkeit handelt, außerdem davon, ob das Sachurteil gegen den Beklagten oder gegen den Kläger ergeht. 2. Soweit die Zuständigkeit dispositiv ist, wird ein an sich unzuständiges Gericht durch eine (wirksame) Gerichtsstandsvereinbarung und ebenso durch eine rügelose Sacheinlassung des Beklagten für die Verurteilung des Beklagten zuständig. Ohne dieses zuständigkeitsbegründende Verhalten darf es in keinem Fall gegen den Beklagten entscheiden. Verbliebene Zweifel an der Zuständigkeit gehen insoweit zulasten des Klägers. Die Klage sachlich abweisen darf das angegangene Gericht dagegen sehr wohl. Für eine Sachentscheidung gegen den Kläger ist es auch ohne Gerichtsstandsvereinbarung zuständig. Die Zuständigkeitsregeln haben insoweit allein den Sinn, den Beklagten vor einer unerwünschten Einlassungspflicht zu bewahren. Dem Schutz des

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Klägers dienen sie nicht. Dieser kann sich selbst schützen, indem er seine Klage woanders erhebt. Hat der Beklagte freilich die Unzuständigkeit gerügt, so wird das Gericht die Folgen einer Sachabweisung für den Fall bedenken, daß der Kläger dagegen Rechtsmittel einlegt und der Beklagte bei seiner Zuständigkeitsrüge bleibt. 3. Bei indisponibler Zuständigkeit, die auch die funktionelle Zuständigkeit und den Rechtsweg umfaßt, darf ein unzuständiges Gericht über eine bei ihm eingereichte Klage grundsätzlich überhaupt nicht sachlich entscheiden. Eine entgegenstehende Gerichtsstandsvereinbarung ist unwirksam (§ 40 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Maßgebend sind die objektiven Interessen, die zum Ausschluß der Disposition geführt haben. a) Klagt der Kläger bei einem „absolut“ unzuständigen Gericht, so muß sich der Beklagte nicht einlassen, sondern darf darauf vertrauen, daß er nicht verurteilt wird. Zweifel an der Zuständigkeit gehen zulasten des Klägers. Läßt der Beklagte sich gleichwohl ein, obwohl er nicht dazu gehalten ist, so bringt er damit zum Ausdruck, daß von seiner Seite aus einem gegen ihn gerichteten Sachurteil keine prozessualen Interessen entgegenstehen. Maßgebend sind daher allein überindividuelle Interessen. Diese dominieren, wo die „absolute“ Unzuständigkeit feststeht oder leicht feststellbar ist. Wo die Zuständigkeit zweifelhaft ist und letztlich nur dezisionistisch bestimmt werden kann, verlangt es das öffentliche Interesse nicht, daß sie definitiv geklärt wird, bevor einer begründeten Klage stattgegeben wird. b) Aus dem Umstand, daß der Kläger selbst sich an ein „absolut“ unzuständiges Gericht gewandt hat, folgt, daß es auf seiner Seite keine prozessualen Interessen gibt, die einer sachlichen Klageabweisung entgegenstehen könnten. Steht die Unzuständigkeit fest, so ist die Klage freilich zwingend aus prozessualen Gründen abzuweisen. Bestehen insoweit Zweifel, hält das Gericht die Klage jedoch für unbegründet, so darf es sie zwecks Vermeidung unnützer Weiterungen auch sachlich abweisen. Auch hier muß es jedoch die Folgen für den Fall bedenken, daß der Kläger gegen seine Sachabweisung Rechtsmittel einlegt und in zweiter Instanz eine Verurteilung des Beklagten anstünde, aber mangels Zuständigkeit nicht erfolgen kann.

Ein Druckfehler in Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre oder von der Möglichkeit des reinen Naturrechts Von Peter Krause

I. Der Ausgangstext Immanuel Kant stellt in der Einleitung zur „Metaphysik der Sitten“1 unter IV. einige „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (Philososophia practica universalis.)“ klar, welche der „Metaphysik der Sitten in ihren beyden Theilen gemein“2 sind. Dabei geht es u. a. um den Begriff „äußere Gesetze (leges externae)“. Kant versteht darunter eine Art der verbindenden Gesetze: „Überhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae).“3

Was er unter dem ,genus proximumÐ verstand, hatte er wenige Sätze früher gesagt. Verbindende oder verbindliche Gesetze sind danach – im Unterschied zu technischpraktischen Rezepten – solche, „nach denen gewisse Handlungen e r l a u b t oder u n e r l a u b t, d. i. moralisch möglich oder unmöglich, einige derselben aber, oder ihr Gegenteil moralisch notwendig, d. i. verbindlich sind.“4 Die ,differentia specificaÐ ist die Möglichkeit einer äußeren Gesetzgebung. Auf sie war Kant schon mehrfach in früheren Abschnitten der Einleitung zu sprechen gekommen, als er die Besonderheit einer inneren – ethischen – Gesetzgebung aufzeigte: „Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere seyn) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein k a n n; die juridische ist, welche auch äußerlich seyn kann. So 1 „Metaphysik der Sitten. Abgefaßt von Immanuel Kant. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1797. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre von Immanuel Kant. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1797.“ Zu Titel und Struktur dieses Werks grundlegend Krause, Kant und das Allgemeine Landrecht. In: Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 423 ff. 2 Einleitung in die Metaphysik der Sitten (Fn. 1), S. XX, in der insofern seitengleichen „Zweyten mit einem Anhange erläuternder Bemerkungen und Zusätze vermehrten Auflage“ Königsberg 1798 unverändert. 3 Einleitung in die Metaphysik der Sitten (Fn. 1), S. XXIV. 4 Einleitung in die Metaphysik der Sitten (Fn. 1), S. XIX.

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ist es eine äußerliche Pflicht, sein vertragsmäßiges Versprechen zu halten; aber das Gebot, dieses bloß darum zu tun, weil es Pflicht ist, ohne auf eine andere Triebfeder Rücksicht zu nehmen, ist bloß zur i n n e r n Gesetzgebung gehörig. Also nicht als besondere Art von Pflicht (eine besondere Art Handlungen, zu denen man verbunden ist) – denn es ist in der Ethik sowohl als im Rechte eine äußere Pflicht –, sondern weil die Gesetzgebung, im angeführten Falle, eine innere ist und keinen äußeren Gesetzgeber haben kann, wird die Verbindlichkeit zur Ethik gezählt. Aus eben dem Grunde werden die Pflichten des Wohlwollens, ob sie gleich äußere Pflichten (Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen) sind, doch zur Ethik gezählt, weil ihre Gesetzgebung nur innerlich sein kann. – Die Ethik hat freylich auch ihre besondern Pflichten (z. B. die gegen sich selbst), aber hat doch auch mit dem Rechte Pflichten, aber nur nicht die Art der V e r p f l i c h t u n g gemein. Denn Handlungen bloß darum, weil es Pflichten sind, ausüben, und den Grundsatz der Pflicht selbst, woher sie auch komme, zur hinreichenden Triebfeder der Willkür zu machen, ist das Eigenthümliche der ethischen Gesetzgebung. So gibt es also zwar viele d i r e c t - e t h i s c h e Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen, alle und insgesammt, zu indirectehischen.“5

Die Pflichten der äußeren Gesetzgebung lassen sich äußerlich erfüllen, d. h. ohne daß sie sich der Handelnde zu eigen macht. Daher können sie erzwungen werden, u. a. durch Strafdrohungen. Dagegen verlangen die Pflichten, welche die innere Gesetzgebung auferlegt, eine Identifikation, die nicht erzwungen werden kann. Innere und äußere Gesetze können sich auf zwei Arten überlagern, einmal kann das gleiche Tun oder Lassen zugleich äußerlich und innerlich geboten sein, wie die Rückzahlung eines Darlehns. Zum anderen gibt es eine innere – rein moralische – Pflicht, die gebietet, sich der äußeren Gesetzgebung zu unterwerfen, soweit es überhaupt moralisch möglich ist, doch nur eine begrenzte Loyalität verlangt. Die äußeren Gesetze sind äußerlich zu achten, einzuhalten und gegebenenfalls gewaltsam durchzusetzen, weil sie äußerlich gelten, auch wenn sie, wie das Rechtsfahrgebot, ethisch neutral sind, von Ausnahmen abgesehen, sogar wenn sie dem eigenen Rechtsgefühl widersprechen. Doch gebietet die Ethik der Rechtsachtung niemanden, sich mit den äußeren oder juridischen Gesetzen zu identifizieren, denen er sich beugt. Die Aussage „Ich hätte dieses Gesetz nie erlassen, dennoch ist es meine moralische Pflicht, es anzuwenden.“ ist nicht als Doppelzüngigkeit zu brandmarken, sie entspricht nicht nur

5 Einleitung in die Metaphysik der Sitten (Fn. 1), S. XVII f.; vgl. a. S. XIV: „Aber eben darum, weil die ethische Gesetzgebung die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit einschließt, welche Bestimmung durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so kann die ethische Gesetzgebung keine äußere (selbst nicht die eines göttlichen Willens) seyn, ob sie zwar die Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, a l s P f l i c h t e n, in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt.“ Eine indirekt ethische Pflicht ist die Einhaltung der Rechtsordnung. Das Gebot „Seid untertan der Obrigkeit“ begründet die e t h i s c h e Pflicht, ihrem Befehl als äußerem Gesetz zu folgen: Die e t h i s c h e Pflichttreue verlangt es aber nur ihm äußerlich zu genügen (Legalität), nicht aber ihm innerlich zuzustimmen, also seinem Inhalt nach als e t h i s c h e Pflicht anzuerkennen. Diese Differenz befreit, sie gestattet es dem verantwortlichen Menschen in der wirklichen – notwendig immer unvollkommenen – Rechtsordnung zu leben und an ihr mitzuwirken und läßt so den Frieden auf Erden zu.

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der Rechtsethik, sondern ist Ausdruck einer Haltung, ohne die ein Rechtsfrieden unmöglich wäre. Kant ist noch an anderer Stelle der Einleitung auf die Eigenart der Gesetze eingegangen, deren Einhaltung befohlen werden kann: „Diese Gesetze der Freiheit heißen, zum Unterschiede von Naturgesetzen, m o r a l i s c h. Sofern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie j u r i d i s c h; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie e t h i s c h, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die L e g a l i t ä t, die mit den zweiten die M o r a l i t ä t der Handlung. Die Freiheit, auf die sich die erstern Gesetze beziehen, kann nur die Freiheit im äußeren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich die letztere beziehen, die Freiheit sowohl im äußern als innern Gebrauche der Willkür sein, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt wird.“6

Im Anschluß an die angeführte Vorstellung der Rechtsgesetze oder „leges externae“ in Abhebung von den moralischen Gesetzen der Freiheit geht Kant auf zwei Unterarten der äußeren Gesetze ein, er unterscheidet diejenigen, deren Verbindlichkeit der Vernunft unmittelbar – auch ohne Anordnung eines äußeren Gesetzgebers, d. h. innerlich – einsichtig ist (darum das ,aberÐ), von solchen, die – wie das Rechtsoder Linksfahrgebot oder die Festsetzung einer bestimmten Verjährungsfrist – ohne w i r k l i c h e äußere Gesetzgebung gar keine Verbindlichkeit erlangen und die man empirisch (äußerlich) kennen lernen muß. Die ersten nennt er n a t ü r l i c h e, die anderen p o s i t i v e Gesetze7: „Ueberhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber n a t ü r l i c h e Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen p o s i t i v e Gesetze.“

Darauf folgt ein Satz, der – wie das „a l s o“ belegt – aus den vorausgegangenen Definitionen eine Konsequenz zieht und diese unter eine Bedingung stellt: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkühr andere zu verbinden) begründete.“

Liest man diesen Satz ohne die nachfolgende Voraussetzung, d. h. bis zum Semikolon, das gemeinhin einen Gedanken abschließt, leuchtet es unmittelbar ein, daß aus dem Begriff der natürlichen – der Vernunft unmittelbar als verbindlich einleuchtenden – Gesetze die Möglichkeit folgt, sich eine äußere Gesetzgebung zu denken, die 6

Einleitung in die Metaphysik der Sitten (Fn. 1), S. VI. In anderem Zusammenhang spricht er insofern auch von privatem und öffentlichen Recht, Metaphysik der Sitten (Fn. 1), § 42, § 43. 7

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sich auf diese natürlichen Gesetze beschränkt und kein einziges positives Gesetz in sich aufnimmt. Ob und warum sie unter der beigefügten Voraussetzung steht, ist in einem weiteren Gedankengang zu prüfen und auszuweisen.

II. Die vorgeschlagene Korrektur Die Herausgeber der Akademie-Ausgabe und der meisten modernen Drucke haben sich bei der Interpretation des ersten Halbsatzes nicht aufgehalten und sich vor allem nicht bemüht, ihn an die Definitionen anzuschließen, sondern ihn allein im Hinblick auf die im zweiten Halbsatz genannte Voraussetzung betrachtet. Weil ihnen diese „unlogisch“ vorkam, haben sie gemeint, der erste Halbsatz sei durch einen Fehler, sei es im Druck, bei der Abschrift oder bei der Formulierung entstellt und – unter dessen Korrektur – eine Neufassung versucht: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter p o s i t i v e Gesetze enthielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete.“8

Warum aus der begrifflichen Unterscheidung von natürlichen und positiven Gesetzen – also – die Denkmöglichkeit einer Gesetzgebung folgen soll, die sich ausschließlich auf positive Gesetze beschränkt, haben sie nicht gesagt. Dabei läßt nicht nur das unpassende ,a l s oÐ den Leser des „verbesserten“ Satzes stolpern, es findet auch keine Erklärung dafür, in welchem gedanklichen Zusammenhang er überhaupt mit den vorausgeschickten Definitionen steht. Tatsächlich scheinen die Korrektoren Kant zu unterstellen, er habe nur eine Gelegenheit genutzt, assoziativ in einem obiter dictum (bei der Gelegenheit wollte ich auch noch sagen) eine Bemerkung über die Voraussetzung von positiven Gesetzen los zu werden. Wie auch immer, handelt der Satz nicht von der Voraussetzung einer gewissen Art der äußeren Gesetze, sondern von der Möglichkeit, solche zu d e n k e n. Daher wäre nicht nur zu fragen, wie sich aus der Definition der positiven Gesetze die Möglichkeit ergibt, eine äußere Gesetzgebung zu denken, die lauter p o s i t i v e Gesetze enthielte, sondern auch, ob diese Möglichkeit überhaupt besteht. Da „lauter“ nicht anderes als „rein und unvermischt, nur, allein und ausschließlich“ bedeutet, wäre eine äußere Gesetzgebung, die aus lauter positiven Gesetzen besteht, nicht die Rechtsordnung beliebigen Inhalts, von der Hans Kelsen später sprechen sollte9. Es wäre vielmehr eine Gesetzgebung, die Normen bestimmter Art ganz und gar aus sich ausschlösse, d. h. auch nicht e i n e Norm aufgenommen hätte, welcher die Vernunft auch ohne wirkliche äußere Gesetzgebung unmittelbar Verbindlichkeit zu8

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften herausgegeben von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften (Berlin: Walter de Gruyter, 1900 – 2000), Bd. VI, 1902, S. 224. 9 So Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Wien 1960, S. 301: „Darum kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“

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erkennt. Es mag nun unter beträchtlicher rabulistischer Anstrengung gelingen, einige zusammenhängende Normen zu konstruieren, die jeden Naturrechtssatz umgehen, obwohl selbst die deutsche Straßenverkehrsordnung nicht auf das natürliche Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme verzichten konnte. Doch sich eine positive Gesetzgebung, die jedes Prinzip des Naturrechts aus sich getilgt und selbst dem neminem laedere, dem suum suiqe tribuere, der Gewährleistung größtmöglicher Freiheit und menschlicher Würde eine Absage erteilt hätte, auch nur vorzustellen, überschreitet die Grenzen menschlicher Vernunft. Selbst Unrechtsstaaten haben bekanntlich einen Rest natürlichen Rechts wahren müssen. Offensichtlich hatten sich die Korrektoren keinen Begriff von einer „äußeren Gesetzgebung“ gebildet, „die lauter positive Gesetze enthält“. Entgegen dem „verbesserten“ Wortlaut sind sie vielmehr davon ausgegangen, es sei eine äußere Gesetzgebung gemeint, die Gesetze mit beliebigen Inhalten enthält, aber – der Doktrin eines extremen Rechtspositivismus entsprechend – darauf besteht, daß alle ihre Normen nur die Geltung besitzen, die ihnen ein wirklicher äußerer Gesetzgeber durch seine Autorität und Willkür zugewiesen hat. Eine solche äußere Gesetzgebung läßt sich tatsächlich denken; Kant tut sogar – wie sich zeigen wird – dar, sie allein könne einen Rechtsfrieden herstellen. Das rechtfertigt aber nicht, Kant zu unterstellten, er habe an dieser Stelle von einer derartigen äußeren positiven Gesetzgebung gesprochen und allen Ernstes gemeint, sie sei nur denkbar, wenn ihr eine überpositive – natürliche, der Vernunft unmittelbar einleuchtende – Ermächtigungsnorm oder Grundnorm zugrunde liege. Er sei somit der trivialen Auffassung gefolgt, wonach der wirkliche Gesetzgeber sich so wenig selbst ermächtigen könne, wie Münchhausen imstande sei, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. 1. Kann sich der Gesetzgeber selbst ermächtigen? Tatsächlich hatte Kant das gerade Gegenteil zum Prinzip seiner ,RechtslehreÐ erhoben, wie der Beschluß des der zweiten Auflage beigegebenen „Anhangs erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ bestätigt. Dort heißt es nämlich10 : „Ein jedes Factum (Thatsache) ist Gegenstand der E r s c h e i n u n g (der Sinne); dagegen das, was nur durch reine Vernunft vorgestellt werden kann, was zu den Ideen gezählt werden muß, denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung unter Menschen ist, das ist das Ding an sich selbst. Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist, so ist [es] der Idee der Einheit desselben überhaupt unter einem machthabenden obersten Willen, gemäß, als Gegenstand der Erfahrung gegeben; aber freylich nur in der Erscheinung; d. i. eine rechtliche Verfassung, im allgemeinen Sinne des Wortes, ist da.“

10

Metaphysik der Sitten (Fn. 2), 2. Auflage, S. 185 f.

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Wenig später sagt er noch deutlicher11: „Unbedingte [!] Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einen S o u v e r ä n e n (alle durch ein Gesetz vereinigenden) Willen, ist T h a t , die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so allererst ein öffentliches Recht begründet.“

Das schloß öffentliche Gesetzeskritik ein, verbot aber nach einem überpositiven Titel für den Besitz der Gesetzgebung zu fragen12. 2. Der Traum vom reinen Naturrecht oder Warum läßt sich eine äußere Gesetzgebung aus lauter natürlichen Gesetzen nicht bedingungslos denken? Anstoß für die „Korrektur“ hat offensichtlich die dem Satz beigegebene Voraussetzung gegeben: „alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkühr andere zu verbinden) begründete“. Die Herausgeber konnten sich nicht vorstellen, Kant habe wirklich zum Ausdruck bringen wollen, eine äußere Gesetzgebung aus lauter n a t ü r l i c h e n Gesetzen sei nur denkbar, wenn eine bestimmte Norm des n a t ü r l i c h e n Rechts mitgedacht werde. Der Gedanke mag paradox erscheinen, zwingt aber bei einem Denker der Paradoxien wie Kant, zu prüfen, ob er deshalb schon sinnlos ist. Tatsächlich ist er für Kant sogar zwingend. Zwar liegt es überaus nahe, aus dem Begriff von äußeren Gesetzen, „zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann“ den Schluß zu ziehen, es sei eine äußere Gesetzgebung denkbar, die allein natürliche Gesetze enthält, doch ist Kant die Vorstellung einer rein natürlichen Gesetzgebung nicht nur ein eitler Traum, er führt vielmehr geradewegs in einen Zustand der Rechtlosigkeit und des Krieges aller gegen alle, aus dem es nur dann einen Ausweg gibt, wenn ein natürliches Recht vorausgeht, welches die Autorität des Gesetzgebers begründet. Schon die klassischen Vertreter des Vernunftrechts waren sich klar darüber, daß alles natürliche Recht ungewiß bleibt, soweit der Gesetzgeber nicht mit seiner Autorität eintritt. Auch Kant hatte die These von Hobbes „Auctoritas, non veritas facit legem.“ nicht in Zweifel gezogen, sondern nur für die Gesetzeskritik andere Schlüsse aus ihm gezogen13. Samuel von Cocceji hatte bereits in seinem Jus Controversum14 11

Ebda., S. 187. Ebda., S. 184 – 186. 13 Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Berl. Monatsschrift, 1793, Bd. 22, S. 201 – 284 (S. 264). 14 Samuelis de Cocceji […] Jus controversum civile: Ubi illustriores juris controversiae breviter & succincte deciduntur, difficiliores materiae explicantur, objectiones solide solvun12

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die Notwendigkeit der gesetzlichen Klarstellung erkannt, die er durch sein Landrechtsprojekt auch zu verwirklichen suchte; Adam Friedrich Glafey hatte sogar vorausgesagt15 : „Die Aequitas cerebrina16 [würde] gewaltig hervorbrechen, und ein grosser dissensus in Rechts=Collegiis entstehen, wenn man das Jus Naturae auctorisiren wolte, daß darauf gesprochen, und die Decisiones daraus geholet werden müsten“.

Der Satz war bekannt, noch der Schöpfer des ABGB Franz von Zeiller hatte ihn im Ohr: „Da nun aber auf dem philosophischen Gebiete jedermann nach seiner Überzeugung urtheilet; so ist leicht zu erachten, daß die Urtheile oft nach einer eingebildeten Billigkeit (aequitas cerebrina) und im Grunde nach Willkür gefället werden.“17

Glafey hatte daher die einzige Chance des Vernunftrechts im Gesetzgeber gesehen: „Wenn aber der Legislator bei Verfertigung neuer Gesetze seine Vernunfft dergestalt braucht, daß er nichts, was mit den Principiis Juris naturae auf einige Weise streitet, passiren lässet oder annimmt, auch, wenn die Lehrer des vernünfftigen Rechts darinnen uneinig sind und controvertiren, solchen Streit durch Erwägung der beiderseitigen Gründe decidirt und in eine Gewißheit setzt: So giebt er dadurch dem obigen Einwurff eben die abhülffliche Maße, und praecavirt, daß ein der Wissenschaft des Rechts der Vernunfft nicht gnugsam kundiger Mann in Collegiis und Dicasteriis mit seiner Aequitate cerebrina nicht durchkommen kan.“

Erst die Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts zog den weitergehenden Schluß, es sei schlechterdings illegitim, sich auf das Naturrecht und die Rechtsphilosophie zu stützen. Doch war Kant davon weit entfernt, im Gegenteil hielt er es für notwendig, daß jeder, der mit dem Recht zu tun hat, philosophisch darüber reflektiert, obwohl er, was die Einschätzung der Gefahren angeht, in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre weit über Glafey hinausgeht: Der bloß naturrechtliche Zustand war „nicht eben […] ein Zustand der U n g e r e c h t i g k e i t (iniustus)“, indessen „doch ein Zustand der R e c h t l o s i g k e i t (status iustitia vacuus), wo, wenn das Recht s t r e i t i g (ius controversum) war, sich kein competenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu thun, aus welchem nun in einen tur, & legum dissensus nova saepe ratione, ubi hactenus satisfactum non videtur, conciliantur. Opus Ad illustrationem Compendii Lauterbachiani, […] Francofurti & Lipsiae. Sumpt. Jeremiae Schrey & Joh. C. Hartmanni Viduae. Anno MDCCXIII. 15 Ich kenne nur die Auflage 1739 und die identische Titelauflage: Adam Friedrich Glafey: Vollständige Geschichte vom Recht der Vernunft, 1746 (S. 6, 7), nehme aber an, daß sich der Satz schon in der ersten Auflage von 1723 findet, die in keiner öffentlichen Bibliothek nachgewiesen ist. 16 Das subjektive Rechtsbewußtsein, nach jedes seinen Rechtsbegriffen, was jedem recht und gut dünkt. 17 Vorbereitung zur neuesten Österreichischen Gesetzkunde im Straf- und Civil-JustitzFache, 4 Bde. Wien/Triest 1810 – 1811, Bd. 1, S. 38.

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rechtlichen zu treten, ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich nach jedes seinen R e c h t s b e g r i f f e n etwas Aeußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur p r o v i s o r i s c h ist, so lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt, und keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.“18

Die Rechtsnormen, die der Vernunft unmittelbar einleuchten, sind und bleiben für ihn zwar die Voraussetzung dafür, daß sich eine dauerhafte äußere Rechtsordnung überhaupt bilden und bewahren läßt, und die unverzichtbare Grundlage für die öffentliche Gesetzeskritik. Die unvermittelte Beziehung auf das natürliche Recht im Umgang der Menschen jedoch macht nicht nur das Recht unsicher, sondern führt in einen Zustand des Unfriedens. Wird sie gegen den faktischen Besitzer des Rechts der Gesetzgebung gewendet, kommt es zur Revolution, in der eine gute Verfassung nur durch blinden Zufall zustande kommen kann. Vor allem wäre eine Gesetzgebung, die ausschließlich (lauter) natürliche Gesetze enthielte, keine Friedensordnung. Das ,bellum omnium inter omnesÐ erscheint ihm im Zustande der Natur (des Naturrechts) nämlich nicht wegen seines ,pessimistischen MenschenbildesÐ unvermeidlich. Er hält es vielmehr für gleichgültig, ob der Mensch – nach dem Sündenfall – seinesgleichen nicht über den Weg traut und stets darauf aus ist, dem Angriff des anderen zuvor zu kommen, aufgrund seines – wölfischen – Wesens dem anderen, mit dem er um knappe Güter und Räume konkurriert, nichts gönnt, voller Geltungssucht, Habsucht und Herrschsucht, unter dem dünnen Lack der Kultur immer noch Barbar oder gerade durch die Kultur von seiner besseren Natur entfremdet zum Barbaren geworden ist oder ob er sich als f~om pok_tij|m erweist und mit einem appetitus sociale begabt ist. Es ist gerade nicht das empirische ,factum brutumÐ einer Natur, die dem Menschen entwicklungsbiologisch zugewachsen und darum angeboren oder soziokulturell zu Teil geworden ist, die ihn zufällig in Friedlosigkeit verstrickt, es ist vielmehr die ihm eigene Würde und Freiheit, die es gebietet, auf seinem eigenen Urteil über das der Vernunft unmittelbar einleuchtende natürliche Recht zu beharren und sich darin niemanden zu unterwerfen, ganz ebenso wie sie es auch ausschließt, sich in seinem Urteil über Wahrheit und Schönheit von einem anderen abhängig zu machen. Die Kontroversen, in welche die Selbstbehauptung die Menschen als vernünftige autonome Wesen in der Empirie, der ästhetischen und teleologischen Weltbetrachtung oder der Religion verstrickt, müssen und können ertragen werden. Doch wo streitige Behauptungen über Befugnisse aufeinander treffen, die zur gewaltsamen Durchsetzung ermächtigen, steht nur der Verzicht auf die Verwirklichung der eigenen Rechtsüberzeugung oder der Kampf um ihre Realisierung zur Wahl: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen 18

Metaphysik der Sitten (Fn. 1), § 44, S. 163 f.

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auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch apriori in der Vernunftidee eines solchen nicht rechtlichen Zustandes, daß bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten, niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher seyn können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, w a s i h m r e c h t u n d g u t d ü n k t, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen.“19 Ist das bellum omnium inter omnes unausweichlich, solange jeder Mensch dem anderen als gleichberechtigte Rechtsperson entgegen tritt, kann der Kampf unter einer rein natürlichen äußeren Gesetzgebung erst enden, wenn sie es erlaubt und ermöglicht, das Feld äußerlich gesetzloser Freiheit zu verlassen und das rein natürliche Recht, über das jeder bloß privat für sich zu entscheiden hat20, gegen ein gemeinsames positives Recht zu vertauschen, d. h. das private natürliche Recht, über das allein die je eigene Vernunft entscheidet, in eine Ordnung des öffentlichen21 Rechts überzuführen, „darin jedem das, was für das Seine erkannt werden soll, g e s e t z l i c h bestimmt, und durch hinreichende M a c h t (die nicht die seinige22, sondern eine äußere ist) zum Theil wird“23. Aus diesem Grund läßt sich für Kant eine reine natürliche Gesetzgebung nicht denken, wenn sie nicht bereits durch eine Ermächtigung zur positiven Gesetzgebung über sich hinaus weist. Das vorausgesetzte natürliche Gesetz, welches die Autorität des Gesetzgebers begründet, ist kein Rechtsatz, der einer Person oder Institution die Befugnis zur Gesetzgebung überträgt. Einen solchen Rechtssatz gibt es im natürlichen Recht glücklicherweise nicht. Es enthält aber ein Erlaubnisgesetz der reinen Vernunft, das es dem einen gestattet, die gesetzgebende Macht an sich zu reißen, wenn er denn damit Gehör findet, und es dem anderen erlaubt, sich der fremden gesetzgebenden Gewalt zu unterwerfen, solange und soweit sie sich durchzusetzen vermag. Letztlich ist es eine I d e e, nämlich die „der Oberherrschaft über ein Volk“, die „mich, der ich zu ihm gehöre, [nötigt …] ohne vorausgehende Forschung dem angemaßten Rechte zu gehorchen (R. L. § 44.), wenigstens in allem, was nicht dem innern Moralischen widerstreitet“24. 19

Metaphysik der Sitten (Fn. 1), § 44, S. 162 f. Metaphysik der Sitten (Fn. 1), § 42. 21 Das ist nicht das auf den Staat bezogene Recht, sondern das öffentlich bekanntgegebene positive Recht. 22 Solange die eigene Macht entschied, war der Rechtsgang kriegerisch gewaltsam. 23 Metaphysik der Sitten (Fn. 1), § 44, S. 163. Eine Vorstufe ist die vereinbarte Schiedsgerichtsbarkeit, die freilich unsicher bleibt, wenn sie nicht in ein öffentliches Rechtssystem eingebettet ist. Eine andere Vorstufe ist das öffentliche Bekenntnis der Staaten zu einem Völkerrecht. 24 Anhang erläuternder Bemerkungen, Metaphysik der Sitten (Fn. 2), 2. Aufl., S. 185. Die Einordnung der erläuternden Bemerkungen zwischen die beiden Teile, erweist sich ebenfalls nicht so unberechtigt, wie man regelmäßig behauptet. Sie beschränken sich nämlich ausschließlich auf klarstellende Anhänge zum e r s t e n Teil; nur der B e s c h l u ß ist auf den z w e i t e n Teil der Rechtslehre bezogen, aber als Einleitung zu diesem auch nicht sinnwidrig angeordnet. 20

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Der Verzicht auf die Behauptung des eigenen Urteils über das Recht hat seinerseits Voraussetzungen. Die inneren Pflichten setzen dem Gesetzesgehorsam eine äußerte Grenze. Im übrigen verlangt die Rechtsethik, wie bemerkt, nur Legalität in Ausführung des rechtlich Gebotenen, nicht aber Moralität. Die Gerichte dürfen allenfalls, wo das positive Gesetz Lücken aufweist, auf die natürlichen Gesetze zurückgehen25, im übrigen sind sie den Anordnungen des positiven Gesetzes unterworfen. „Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, ingleichen die Vertheidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der Vernunft, kann man billigerweise nicht fordern. Denn die Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht seyn mögen, muß von den Juristen als ungereimt gerade zu abgewiesen werden.“ Den Juristen vom Handwerke26 muß daher „jede, jetzt vorhandene, gesetzliche Verfassung, und wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die nun folgende, immer die beste sein“.27

Indessen muß „der nicht widerspenstige Untertan […] annehmen können, sein Oberherr wolle ihm nicht Unrecht tun“28. Daher kann der machthabende äußere Gesetzgeber die I d e e, die seine Autorität begründet, nicht in Frage stellen29. Ein „Erlaubnisgesetz der Vernunft“ gestattet es zwar, „den Stand eines mit Ungerechtigkeiten behafteten öffentlichen Rechts […] beharren zu lassen“, doch nur solange die Aussicht auf Reform besteht. Das ist nicht mehr der Fall, wenn man dem Gesetzgeber nicht zutraut, er wolle – wenn es die moralische Staatsklugheit zuläßt, seine Gesetze „dem Naturrecht, so wie es in der Idee der Vernunft uns zum Muster vor Augen steht, angemessen“ machen30. Wissenschaft und Rechtspraxis sind zwar zur „Befolgung des Gesetzes nach dem Buchstaben“ verpflichtet, sind „nicht der Untersuchung des Sinnes des Gesetzgebers“ enthoben31. Sollen die positiven Gesetze dem Naturrecht prinzipiell angemessen sein, so haben sie bei ihrer Auslegung und Anwendung im Zweifel auch diesen Gesetzen folgen, „zu denen die Verbindlichkeit auch ohne“ wirkliche „äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann“. Überdies ist die Bemächtigung und Behauptung „der obersten Gewalt“ kontingent und fragil. Anders als die Okkupation von Eigentum geschieht sie nicht durch einsame Tat, sondern gelingt nur bei gehöriger Resonanz und bleibt von ihr abhängig32. 25

S. 19.

Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten von Immanuel Kant, Königsberg 1798,

26 Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant, Königsberg 1795, S. 75. 27 Eine gesetzlich autorisierte Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht davon dispensiert; auch sie ist nur ein Element in der – gestuften – Ordnung des positiven Rechts. 28 Kant (Fn. 13), S. 264. 29 Kant (Fn. 25), S. 147 Anm.: „Warum hat noch nie ein Herrscher gewagt, frei herauszusagen, daß er gar kein Recht des Volkes gegen sich anerkenne […] weil eine solche öffentliche Erklärung alle Untertanen gegen ihn empören würde.“ 30 Kant (Fn. 26), S. 72. 31 Kant (Fn. 25), S. 34. 32 Finden konkurrierende Prätendenten teilweise Resonanz, droht Bürgerkrieg.

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Öffnet sich ein Graben zwischen den Gesetzen und Entscheidungen des Machthabers und den Erwartungen derjenigen, auf deren Resonanz er angewiesen ist, scheitert die Bemächtigung und Behauptung der Gewalt, sie bleibt oder wird zur nackten Prätention, die den erfolglosen Prätendenten bestenfalls der Lächerlichkeit preisgibt.

III. Schluß Der in den zu Kants Lebzeiten erschienenen Auflagen seiner Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre gedruckte Satz, wonach eine äußere Gesetzgebung, die lauter natürliche Gesetze enthielte, nur gedacht werden kann, wenn „ihr ein natürliches Gesetz voraus“ geht, „welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkühr andere zu verbinden) begründet“, fügt sich in den Kontext der Definition der natürlichen und der positiven Gesetze ein. Er weist keinen inneren Widerspruch auf, der die Annahme rechtfertigt, es habe sich in ihn ein Fehler eingeschlichen. Vielmehr steht er im Einklang mit den Prinzipien der kantischen ,RechtslehreÐ und ihrem ganzen Duktus. Schon deshalb fehlt es an der Berechtigung, ihn einer Korrektur zu unterziehen. Die angebotene Korrektur wirft ihrerseits Probleme auf, die sie in Frage stellen. Eine geschlossene und vollständige äußerliche Gesetzgebung kann nicht umhin, auf Normen zurückzugreifen, denen die Vernunft a priori unabhängig von der äußeren Gesetzgebung Verbindlichkeit zuspricht. Sie enthält neben willkürlich gesetztem auch vernünftiges Recht. Die Korrektoren haben denn auch die Worte „eine äußere Gesetzgebung, die lauter positive Gesetze enthielte,“ nicht auf den Inhalt der Normen bezogen, nach ihrer Vorstellung bezeichneten sie vielmehr eine „Gesetzgebung, die nur den Gesetzen Verbindlichkeit zuerkenne, die ein wirklicher Gesetzgeber autorisiert habe“. Das hätte sich freilich einfacher und klarer sagen lassen. Überdies fügt sich der Satz fügt in der korrigierten und umgedeuteten Fassung schlechterdings nicht in den Zusammenhang. Die vorausgehende Definition drängte es nicht auf, über die Denkmöglichkeit einer Gesetzgebung, die nur den Gesetzen Verbindlichkeit zuerkenne, die ein wirklicher Gesetzgeber autorisiert habe, zu reflektieren. Es ist ein alter Traum der Vernunft, daß Gesetze und nicht Menschen herrschen sollen, auch nicht durch Gesetze. Er mußte nach der Unterscheidung von natürlichem und positivem Recht in den Sinn kommen und die Frage auslösen, ob es nicht doch möglich sei, eine Gesetzgebung, die sich auf lauter natürliche Gesetze beschränkt, die der Vernunft unmittelbar einleuchten, und daher ganz ohne einen menschlichen Gesetzgeber auskommt, wenigstens zu denken. Kants Antwort war skeptisch, man könne sich eine bloß natürliche Rechtsordnung schon denken, aber nur, wenn sie bereits über sich hinausweise, durch ein vorausgehendes „natürliches Gesetz, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkühr andere zu verbinden)“ begründe. Die paradoxe klingende Bemerkung hat er im Zusammenhang der Begriffserklärungen nicht näher erläutern können und wollen. Doch zeigt seine Rechtslehre in ihrem weiteren Gang, daß die Menschen, die auf

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Gesetzen beharren, deren Verbindlichkeit jedem vernünftigen Menschen natürlich einsichtig sein muß, den Krieg aller gegen alle in Gang setzen und ihm nur entkommen können, weil die natürliche Rechtsordnung selbst von Anfang an – d. h. vorausgehend – das Tor zu der Friedensordnung einer positiven Gesetzgebung offengehalten hat.

Wider die Überdehnung von Richtervorbehalt und richterlichem Bereitschaftsdienst – Zugleich ein Beitrag zur Problematik der Entnahme von Blutproben (§ 81a Abs. 1 und 2 StPO) – * Von Volker Krey und Philipp Reiche unter Mitarbeit von Thomas Roggenfelder

Einleitung – Der Befund: Ständige Ausweitung des Richtervorbehalts im Strafverfahrensrecht unter Zurückdrängung der Eilkompetenzen von Staatsanwaltschaft (StA) und ihren Ermittlungspersonen – I. Anlass der vorliegenden Studie sind die Einführung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes für alle sieben Wochentage aufgrund von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat) aus den Jahren 2001 und 20021, die verbreitete Tendenz in Praxis und Rechtswissenschaft zur ständigen Ausweitung dieses Bereitschaftsdienstes2, schließlich neuere Bestrebungen, jene Ausweitung zumindest bei § 81a StPO (Entnahme von Blutproben) zu stoppen3. Die massive Extension des Richtervorbehalts seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird inzwischen von vielen kritisiert und wirft namentlich die folgenden Fragen auf: 1. Wieweit ist diese Extension bei verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten nach dem Grundgesetz geboten? Verlangen solche Richtervorbehalte etwa gar einen nächtlichen Bereitschaftsdienst? 2. Ist bei einfachgesetzlichen Richtervorbehalten ohne Verfassungsrang in gleicher Weise wie bei verfassungsrechtlichen ein durchgehender, d. h. auch nächtlicher * Der Beitrag beruht auf einem vom Mitautoren Volker Krey betreuten Seminarreferat des Mitautoren Philipp Reiche zum „Richterlichen Bereitschaftsdienst“. Zum Zwecke der von Reiche angeregten Veröffentlichung wurde das Referat von beiden Autoren völlig neu bearbeitet, und zwar unter Federführung von Krey. 1 BVerfGE 103, 142 ff.; 105, 239 ff. Siehe § 22c GVG. 2 Dazu unten, II. und Zweiter Teil. 3 BR-Drucks. 615/10 vom 06.10.10; näher dazu unten, Zweiter Teil, § 1, I. und Dritter Teil.

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Bereitschaftsdienst zu verlangen? Diese Frage stellt sich insbesondere bei § 81a StPO. 3. In welchem Umfang spielen bei jenen Fragen Gesichtspunkte eine Rolle wie: – die Überlastung der Tatrichter in Strafsachen; – die Fürsorgepflicht der Dienstherren, die unzumutbare Einschränkungen der Freizeit des Richters verbietet: auch Tatrichter haben einen Anspruch auf Privatleben; – das Beschleunigungsgebot, falls das Erscheinen (bzw. zeitaufwändige Informieren) des Richters eine erhebliche Verzögerung zur Folge hätte, i.V.m. dem Aspekt der Sachkompetenz des Staatsanwalts (und/oder seiner Ermittlungspersonen), die etwa am Einsatzort anwesend sind und über mehr Informationen verfügen als der abwesende Richter; – die rechtstaatliche Funktion der StA als Wächter des Gesetzes gegenüber Polizei und Gerichten.4 Diese Gesichtspunkte werden in den Schlüsselentscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts von 2001 und 20025 zum richterlichen Bereitschaftsdienst vernachlässigt, ebenso in zahlreichen anschließenden Kammerentscheidungen dieses Senats6. Bei angemessener Berücksichtigung könnten jene Aspekte aber zur Folge haben, Umfang und Geltungsbereich des richterlichen Bereitschaftsdienstes einschränkender zu handhaben, und zwar insbesondere bei einfachgesetzlichen Richtervorbehalten ohne Verfassungsrang. II. Was die angesprochene Ausweitung des neu geschaffenen richterlichen Bereitschaftsdienstes angeht, sollen an dieser Stelle die folgenden Monita genügen: Die erwähnten Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hatten erstens als Entscheidungsgegenstand nur die verfassungsrechtlichen Richtervorbehalte gemäß Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 GG; damit stellt sich die Frage, ob und wieweit einfachgesetzliche Richtervorbehalte wie die nach § 81a StPO Abs. 2, § 163f Abs. 3 StPO gleichzustellen sind. Die Kammerentscheidungen des Gerichts hierzu erlauben noch keine eindeutige Antwort. Im Schrifttum findet sich teils die Tendenz zur weitgehenden Gleichstellung des Bereitschaftsdienstes bei beiden Richtervorbehalten, teils sehr heftige Kritik hieran.7 4

Hierzu sogleich im folgenden Text, unter Punkt IV. BVerfGE 103, 142 ff.; 105, 239 ff. 6 Siehe für alle die folgenden Kammerentscheidungen des Zweiten Senats: Beschluss vom 10. 12. 2003, 2 BvR 1481/02; Beschluss vom 13. 12. 2005, 2 BvR 447/05; Beschluss vom 28. 09. 2006, 2 BvR 876/06; Beschluss vom 12. 02. 2007, 2 BvR 273/06; Beschluss vom 06. 09. 2007, 2 BvR 103/03; Beschluss vom 21. 01. 2008, 2 BvR 2307/07; Beschluss vom 28. 07. 2008, 2 BvR 784/08; Beschluss vom 24. 02. 2011, 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/10. 7 Dazu unten, Zweiter Teil. 5

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Zweitens hatten jene Senatsentscheidungen keine Ausweitung des richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Tageszeit auf einen Bereitschaftsdienst auch zur Nachtzeit angeordnet. In Kammerentscheidungen des Senats, vereinzelt auch in der sonstigen Judikatur und in Teilen des Schrifttums, findet sich aber die Forderung nach einem nächtlichen Bereitschaftsdienst, zumindest für Ausnahmesituationen.8 III. Die Tendenzen zur Überdehnung des richterlichen Bereitschaftsdienstes durch Gleichstellung einfachgesetzlicher Richtervorbehalte mit verfassungsrechtlichen und durch die Forderung nach einem Bereitschaftsdienst sogar zur Nachtzeit haben inzwischen zu einer Kritik an dem, aus der Sicht der Kritiker, zu weitgehenden Geltungsbereich des Richtervorbehalts selbst geführt: Für § 81a StPO (jedenfalls in der Modalität der Anordnung der Entnahme von Blutproben) wird inzwischen von ernst zu nehmenden Stimmen die Abschaffung des Richtervorbehalts de lege ferenda gefordert.9 Eine solche Reaktion war durchaus zu erwarten. Wer rechtstaatliche Institutionen wie den Richtervorbehalt sachwidrig überdehnt (Hypertrophie des Rechtsstaates), gefährdet die Akzeptanz dieses Instituts selbst; umgangssprachlich formuliert: Wer ein Pendel zu weit ausschlagen lässt, begründet die Gefahr eines zu weiten Rückschlags. IV. Die Ausdehnung des Richtervorbehalts auf inzwischen (fast) alle strafprozessualen Grundrechtseingriffe in Verbindung mit der wachsenden Beschneidung der Eilkompetenzen von StA (und deren Ermittlungspersonen) durch den extensiven richterlichen Bereitschaftsdienst sind jedenfalls bei Richtervorbehalten ohne Verfassungsrang alles andere als selbstverständlich, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Bekanntlich beruhte die – in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr realisierte – rechtspolitische Forderung nach Einführung der StA gemäß französischem Vorbild auf dem Gesichtspunkt „Schutz der Beschuldigten vor richterlicher und polizeilicher Willkür“: Der Staatsanwalt sollte als Wächter des Gesetzes gegenüber Polizei und Richter fungieren. Die strafprozessuale Reformdiskussion seit der Hochaufklärung bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand ja unter dem Eindruck der (fast) schrankenlosen Macht des Richters im Inquisitionsprozess10, die Gefahr willkürlichen Vorgehens der Polizei in Strafsachen nicht zu vergessen. Jene Wächterfunktion kam auch in der Eingliederung der StA im Justizressort und nicht, wie die Polizei, im Innenministerium zum Ausdruck.11 8

Hierzu unten, Zweiter Teil, § 2. Näher dazu unten, Dritter Teil. 10 Zum Vorstehenden siehe u. a.: von Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, 1925 (Nachdruck 1971) S. 211, 229, 237 – 239; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, Rn. 4, 11, 13, 15, 17, 18; ders., Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 1988, Rn. 53, 60 – 63, 335 m.w.N.; ders., The Public ProsecutionÏs Role in Criminal Proceedings under the Rule of Law, in: Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg.), Rechtspolitisches Forum, Heft 46, 2009, S. 3, 4; Rüping/Jerouscheck, Grundriss der Strafrechtsgeschichte 4. Aufl., 2002, Rn. 102, 103, 237, 238. Hierzu eingehend demnächst Roggenfelder, Staatsanwalt und Richter als Wächter des Gesetzes gegenüber der Polizei im Strafprozessualen Ermittlungsverfahren, Diss., Trier. 11 Krey, in: Institut für Rechtspolitik (Fn. 10); Roggenfelder (Fn. 10). 9

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2. Die StA ist von Rechts wegen Herrin des Ermittlungsverfahrens. Dies zum einen gegenüber der Polizei12, zum anderen aber auch gegenüber der Strafgerichtsbarkeit.13 Letzteres wird insbesondere in folgenden Vorschriften deutlich: § 156 StPO (Recht zur Zurücknahme der Klage), § 172 Abs. 2 und §§ 153a bis 154c StPO (Einstellungsbefugnisse ohne Mitwirkung des Gerichts), § 162 Abs. 2 StPO (Bindung des Ermittlungsrichters an Anträge des Staatsanwalts, soweit diese zulässig sind); § 120 Abs. 3 Satz 2 StPO (bindende Anordnung der Freilassung des Beschuldigten durch die StA ohne Mitwirkung des Gerichts). 3. Die StA besitzt im Ermittlungsverfahren typischerweise einen erheblichen Informationsvorsprung vor dem Ermittlungsrichter, weil sie und nicht die Strafgerichtsbarkeit das Strafverfolgungsorgan ist, welches mit der Polizei eingespielt zusammenarbeitet. Rechtlich und faktisch liegt die Sachkompetenz für die Durchführung eines aus kriminaltaktischen und rechtlichen Erwägungen ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens insoweit eher beim Staatsanwalt als beim Richter. Letztlich spricht selbst § 165 StPO (Richter als Notstaatsanwalt) hierfür: Diese Vorschrift dürfte unanwendbar sein, wenn dem Richter bekannt ist, das die StA nicht handeln will14; im Übrigen gebührt im Fall des § 165 StPO der StA „die weitere Verfügung“ (§ 167 StPO). 4. Jedenfalls die weitgehende Zurückdrängung von Eilkompetenzen der StA durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Allgemeinen und die Einführung eines sehr weitgehenden Bereitschaftsdienstes im Besonderen ist also in nicht unerheblichem Umfang dysfunktional. Demgegenüber soll in der vorliegenden Abhandlung nicht näher erörtert werden, ob und wieweit die mit jener Zurückdrängung zugleich verbundene massive Einschränkung von Eilkompetenzen der Ermittlungspersonen der StA15 ebenfalls kritikwürdig ist. Denn die soeben dargelegten Funktionen der StA als Wächter des Gesetzes und Herrin des Ermittlungsverfahrens fehlen ihren Ermittlungspersonen, mag auch der angesprochene Informationsvorsprung gegenüber dem Ermittlungsrichter bei der Polizei noch ausgeprägter sein als bei der StA.

12 Siehe: § 161 StPO, § 152 GVG – Weisungsrecht; § 170 Abs. 1, 2 – Anklage- und Einstellungsmonopol der StA; §§ 153a bis 154c StPO – Befugnisse der StA und nicht der Polizei im Bereich des Oppertunitätsprinzips zur Einstellung des Verfahrens. 13 Zum Vorstehenden siehe bereits Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 2006, Rn. 171 mit Rn. 170. 14 So Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 165, Rn. 1 m.w.N. 15 Die Ausdehnung des Richtervorbehalts betrifft ja die vorhandenen Eilkompetenzen der StA und ihrer Ermittlungspersonen zugleich.

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Erster Teil Einführung des richterlichen Bereitschaftsdienstes Anfang des 21. Jahrhunderts aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG § 1 Bedeutung des Richtervorbehalts; seine mangelnde Wirksamkeit durch extensive Anwendung der Eilkompetenzen von StA und ihren Ermittlungspersonen I. Verfassungsrechtliche Funktion des Richtervorbehalts für Grundrechtseingriffe Die rechtsstaatliche Bedeutung des Richtervorbehalts lässt sich am besten mit folgenden Stichworten umschreiben: Der Richter agiert, anders als die Beamten der Exekutivorgane StA und Polizei, in Unabhängigkeit (Art. 97 GG) und unparteilicher Neutralität, was seinen Entscheidungen mehr rechtliches Gewicht verleiht. Demgemäß spricht man zu Recht vom Grundrechtsschutz durch Verfahren, wenn Eingriffe in die Rechte des Bürgers der richterlichen Anordnung bedürfen.16 Genauer gesagt geht es um einen vorbeugenden Grundrechtsschutz, um die präventive Kontrolle durch eine unabhängige und neutrale Instanz:17 Ohne Richtervorbehalt für schwerwiegende Grundrechtseingriffe würden diese im Strafverfahren auf Anordnung der StA (bzw. Polizei) erfolgen, sodass nur eine nachträgliche richterliche Überprüfungsmöglichkeit bestehen würde, die vielfach unzureichend wäre, und zwar namentlich unter dem Gesichtspunkt der (weitgehenden) Erledigung. Daher lässt sich die Funktion des Richtervorbehaltes zusammengefasst umschreiben als präventiver Grundrechtsschutz durch Verfahren mittels Übertragung der Anordnungsbefugnis auf die unabhängige und unparteiliche Dritte Gewalt.18 II. Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Richtervorbehalte Richtervorbehalte gibt es mit unterschiedlichem Rang: Zu Recht wird üblicherweise zwischen verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Richtervorbehalten unterschieden, was im Folgenden differenzierter darzulegen ist. 1. Bei ausdrücklich im GG normierten Richtervorbehalten ist ihr Verfassungsrang evident. Solche Richtervorbehalte finden sich in folgenden Vorschriften unserer Verfassung:

16 17 18

BVerfGE 103, 142 (153). BVerfGE 103, 142 (153 a. E., 154, 162). So besonders klar BVerfG (Fn. 17).

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– Art. 13 Abs. 2 GG (Durchsuchung von Wohnungen); – Art. 13 Abs. 3 bis 4 GG (akustische Überwachung von Wohnungen mit technischen Mitteln); – Art. 13 Abs. 5 Satz 2 GG (Verwertung von Erkenntnissen z. B. im Strafprozess, die bei einem Lauschangriff auf Wohnungen zum Schutz der dort bei einem Einsatz tätigen Personen, etwa VE, gewonnen wurden);19 – Art. 104 Abs. 2 GG (Entscheidung über die Zulässigkeit bzw. Fortdauer bei Freiheitsentziehung). Diese Richtervorbehalte beruhen auf dem rechtsstaatlichen Gesichtspunkt der Schwere des Eingriffs, wobei das Bundesverfassungsgericht auch die Formulierung der „Eingriffstiefe“ gebraucht,20 was ein wenig an den häufig erhobenen Vorwurf der „Verfassungslyrik“ des Gerichts erinnert. 2. Darüber hinaus sollen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausnahmsweise auch solche Richtervorbehalte Verfassungsrang haben können, die zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert, sondern nur einfachgesetzlich geregelt sind, aber einen „so schwerwiegenden Eingriff darstellen, dass aus dem Gesichtspunkt der Eingriffstiefe ein Richtervorbehalt zu verlangen wäre“21. Diese Ausweitung des Bereichs verfassungsrechtlicher Richtervorbehalte ist nicht unbedenklich. Denn sie engt zum einen den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Ersten Gewalt ein und arbeitet zum andern mit inhaltsarmen, „blumigen“ Begriffen wie Eingriffstiefe. Das Bundesverfassungsgericht sollte daher allenfalls solche Grundrechtseingriffe einbeziehen, die als besonders schwerwiegend zu bezeichnen sind, zumal das Grundgesetz nicht von ungefähr nur wenige Richtervorbehalte normiert und auf eine Generalklausel für andere massive Grundrechtseingriffe verzichtet hat. Kurz: Man sollte auf die Rechtsfigur „nicht im GG normierter, aber gleichwohl verfassungsrechtlicher Richtervorbehalte“ entweder verzichten oder sie nur für ausgesprochene Extremfälle akzeptieren. 3. Anschließend bleibt nur noch eine Art von Richtervorbehalten zu erwähnen, nämlich die einfachgesetzlichen ohne Verfassungsrang. Sie bilden die große Masse der Richtervorbehalte, sodass eine lückenlose Aufzählung unnötig ist. Das meistzitierte Beispiel bildet der Richtervorbehalt des § 81a StPO für die Entnahme 19 Zu solchen Lauschangriffen zur Eigensicherung siehe ergänzend § 161 Abs. 3 StPO. Jene Verwertung begründet nach h.M. jedenfalls grundsätzlich einen Eingriff in Rechte des Betroffenen, gehört also hierher. 20 So u. a. BVerfG, Kammer-Beschluss vom 24. 02. 2011, 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/ 10 (Rn. 17). 21 BVerfG, Kammer-Beschluss vom 24. 02. 2011, 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/10 (Rn. 17). Die Kammer beruft sich hier auf die Senatsentscheidung BVerfGE 16, 194 (200 f.). Letztere besagt, der Eilkompetenz der StA und ihren Ermittlungsbeamten komme bei sehr schweren Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit (in casu: Liquorentnahme) keine Bedeutung zu; diese Feststellung dürfte in der Tat der Sache nach für jene Kammerentscheidung sprechen.

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von Blutproben. Hierzu hat jüngst das Bundesverfassungsgericht (Kammer) zutreffend entschieden:22 „Der einfachrechtliche Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO gehört nicht zum Bereich des rechtsstaatlichen Unverzichtbaren … Auch die hohe Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gebietet verfassungsrechtlich nicht, dass die – zwingend von einem Arzt vorzunehmende – Blutentnahme zum Nachweis von Alkohol, Betäubungsmitteln … nur durch einen Richter angeordnet werden dürfte … Der Richtervorbehalt nach § 81a Abs. 2 StPO beruht auf einer Entscheidung des Gesetzgebers, nicht auf einer zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgabe.“

Solche Richtervorbehalte gehören zum rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Ersten Gewalt. Der Gesetzgeber darf sie normieren, muss es aber nicht und kann aus sachlichen Gründen bereits bestehende einfachgesetzliche Richtervorbehalte wieder abschaffen, z. B. den für die Entnahme von Blutproben. Insoweit ist der erwähnte Vorstoß zur Abschaffung des Richtervorbehalts aus § 81a Abs. 2 StPO23 verfassungsrechtlich unbedenklich. Dabei sei klarstellend hervorgehoben, dass die Schaffung solcher Richtervorbehalte den eigenverantwortlichen, verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 2, 3 GG (Gewaltenteilung) garantierten Aufgabenbereich der Exekutive zu respektieren hat, was aus der Sicht der Verfasser eine flächendeckende Ausweitung des Richtervorbehalts auch auf alltägliche strafprozessuale Maßnahmen von StA und Polizei wie kurzfristige Observation, Recherchen am Arbeitsplatz von Beschuldigten, Zeugenvernehmungen etc. verbieten würde. Einfach-gesetzliche Richtervorbehalte müssen also stets der Gewaltenteilung entsprechen. III. Zum Vorwurf extensiver Anwendung der Eilkompetenzen von StA und ihren Ermittlungspersonen bei Gefahr im Verzug vor Einführung des Bereitschaftsdienstes Vor Einführung des neuen Bereitschaftsdienstes Anfang des 21. Jahrhunderts war ein weitgehender Rückgriff auf die Eilkompetenzen von StA (und Polizei) unverzichtbar: An Werktagen war in der Regel ab 16 Uhr kein Richter mehr erreichbar. An Wochenenden und Feiertagen gab es lediglich den damals sog. „Eildienst“ für Haftsachen, und zwar nur in der Mittagszeit (dazu unten). Daraus resultierte zwangsläufig ein weiter Bereich für die Eilkompetenz der StA (und, soweit gesetzlich vorgesehen, bei deren Unerreichbarkeit eine Eilkompetenz auch für ihre „Hilfsbeamten“, heute Ermittlungspersonen der StA genannt).

22 BVerfG, Kammer-Beschluss vom 24. 02. 2011, 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/10 (Rn. 17). 23 Siehe oben, Einleitung, III.

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Neben diesen weiten Zeiträumen, in denen der Richtervorbehalt aus den genannten Sachgründen zwangsläufig leerlief, soll es noch Fälle missbräuchlicher Anwendung der Eilkompetenzen von StA (und/oder Polizei) gegeben haben. So berichtet das Bundesverfassungsgericht in seinem für den neugeschaffenen, umfassenden richterlichen Bereitschaftsdienst grundlegenden Urteil vom 20. Februar 200124 von dem Vorwurf im Schrifttum, es gebe Fälle solchen Missbrauchs. In diesem Zusammenhang wurden in der Praxis teils launig, teils i.S. sarkastisch formulierter Kritik Fälle wie der folgende kolportiert: StA und Polizei warten gegen 16 Uhr darauf, dass der Ermittlungsrichter das Gericht verlässt. Als dies geschehen ist, wird von der StA Gefahr im Verzuge bejaht (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO, Art. 13 Abs. 2 GG) und eine Hausdurchsuchung durchgeführt.

Ob (und wieweit) es derartige Fälle des Missbrauchs gegeben haben mag, kann hier nicht geklärt werden; an dieser Stelle sollte lediglich verdeutlicht werden, was die vom Bundesverfassungsgericht zitierte Kritik des Schrifttums mit dem Missbrauchsvorwurf gemeint haben könnte. Resümee: Vor der umfassenden Regelung des Bereitschaftsdienstes für jeden Wochentag aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit 2001 waren Richter grundsätzlich nur zu folgenden Zeiten erreichbar: – an Werktagen während der üblichen Dienststunden; – an Wochenenden und Feiertagen nur in der Mittagszeit. Damit war de facto ein effektiver Richtervorbehalt zeitlich nur im gewissen Umfang garantiert und es bestanden zugleich größere Missbrauchsmöglichkeiten der Eilkompetenz von StA (und Polizei). Diesen Befund hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem grundlegenden Urteil vom 20. Februar 2001, ergänzt durch den Senatsbeschluss vom 15. Mai 2002, zum Anlass umfassender Kritik an der seinerzeitigen Praxis genommen und von Verfassungs wegen die Einführung eines umfassenderen Bereitschaftsdienstes postuliert. Beide Senatsentscheidungen sollen in der Folge eingehend analysiert werden. Erst an späterer Stelle sollen ergänzend auch Kammerbeschlüsse des Senats berücksichtig werden. Denn maßgeblich sind primär die einschlägigen Entscheidungen des Senats: Nur sie besitzen unstrittig die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG, während diese für Kammerbeschlüsse allenfalls dann gilt, wenn es um solche Beschlüsse geht, die Verfassungsbeschwerden stattgeben, keinesfalls aber bei bloßen Nichtannahmebeschlüssen.25

24

BVerfGE 103, 142 (146 f.). Dazu Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, § 31, Rn. 55 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 18. 02. 2010, 4 ARs 16/09. 25

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§ 2 Analyse der Entscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts von 2001 und 2002, die einen umfassenderen richterlichen Bereitschaftsdienst gefordert haben In seinem grundlegenden Urteil vom 20. Februar 2001 hat das Gericht von Verfassungs wegen postuliert: 1. Der Begriff der „Gefahr im Verzug“ (sie ist Voraussetzungen für Eilkompetenzen von StA und Polizei) in Art. 13 Abs. 2 GG sei eng auszulegen; die richterliche Anordnung einer Hausdurchsuchung müsse die Regel, nicht die Ausnahme sein.26 2. „Gefahr im Verzug“ müsse mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen seien; fallunabhängige Vermutungen reichten nicht aus.27 3. Auslegung und Anwendung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ unterlägen einer unbeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die Gerichte seien allerdings gehalten, der besonderen Entscheidungssituationen der nichtrichterlichen Organe mit ihren situationsbedingten Grenzen von Erkenntnismöglichkeiten Rechnung zu tragen.28 4. Eine wirksame gerichtliche Nachprüfung der Annahme von „Gefahr im Verzug“ setze voraus, dass das Ergebnis und die Grundlagen der Entscheidung in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Durchsuchungsmaßnahme in den Ermittlungsakten dargelegt würden.29 Zu diesen Postulaten sei kritisch angemerkt: Das Postulat von der richterlichen Entscheidung als Regel ist zwar für verfassungsrechtliche Richtervorbehalte akzeptabel, für nichtverfassungsrechtliche wie § 81a Abs. 2 StPO aber sachwidrig-lebensfremd. Demgemäß ist es begrüßenswert, dass das Gericht jenes Postulat expressis verbis nur für Art. 13 Abs. 2 GG aufgestellt hat. Zur „uneingeschränkten“ richterlichen Kontrolle der Annahme von „Gefahr in Verzug“: Hier verneint das Gericht zunächst allzu streng einen Beurteilungsspielraum von StA (und Polizei), akzeptiert dann aber mit der Formulierung von der „besonderen Entscheidungssituation der nichtrichterlichen Organe mit ihren situationsbedingten Grenzen von Erkenntnismöglichkeiten, denen das Gericht Rechnung tragen müsse“, doch der Sache nach einen gewissen Beurteilungsspielraum jener Exekutivorgane. Mit anderen Worten: Das Gericht negiert zunächst jedenfalls verbal jeden Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden, beugt sich dann aber doch den Sachzwängen der Praxis, was im gewissen Umfang den Vorwurf der Widersprüchlichkeit nahelegt. 26 27 28 29

BVerfGE 103, 142 (Leitsatz 1a und S. 155). BVerfGE 103, 142 (Leitsatz 1b). BVerfGE 103, 142 (Leitsatz 3a). BVerfGE 103, 142 (Leitsatz 3b).

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Das oben erwähnte vierte Postulat von der Dokumentationspflicht ist viel zu streng formuliert und kann nur dann akzeptiert werden, wenn man folgende Einschränkungen macht: Jene Dokumentation darf erstens niemals den Untersuchungserfolg gefährden; zweitens muss der geforderte Umfang jener Dokumentation der Überlastung von StA (und Polizei) angemessen Rechnung tragen; drittens ist das Merkmal „unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang“ großzügig zu handhaben. Den Strafverfolgungsorganen ist also auch bezüglich jener Dokumentation aufgrund der Natur der Sache ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Begrüßenswert sind demgegenüber zwei wichtige Aspekte jenes Senatsurteils: Zum einen hat der Senat kein Wort über einfachgesetzliche Richtervorbehalte verloren. Zum anderen hat er sich nicht über den zeitlichen Umgang des Bereitschaftsdienstes geäußert und jedenfalls keinen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst postuliert. Beides wird in der Rechtsprechung der Kammern des Senats, der Fachgerichte und im Schrifttum teilweise vernachlässigt, worauf zurückzukommen ist. In seiner anschließenden Entscheidung vom 15. Mai 2002 zum richterlichen Bereitschaftsdienst, ergangen zum verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG, hat der Senat ergänzend betont30 : 1. Aus dieser Verfassungsnorm folge für den Staat die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters – jedenfalls zur Tageszeit – zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.31 Hinsichtlich der Bestimmung von Tages- und Nachtzeit verweist der Senat sibyllinisch auf § 104 Abs. 3 StPO, und zwar mit den Worten: „(vgl. etwa … § 104 Abs. 3 StPO)“32. Dieser Hinweis ist schon wegen der mehrdeutigen Formulierung „vgl. etwa“ nicht bindend, was angesichts der lebensfernen Ausweitung der Tageszeit in dieser Vorschrift, insbesondere für die wärmere Jahreszeit, begrüßenswert ist: § 104 Abs. 3 StPO lautet nämlich: „Die Nachtzeit umfasst in dem Zeitraum vom ersten April bis dreißigsten September die Stunden von neun abends bis vier Uhr morgens und in dem Zeitraum vom ersten Oktober bis einunddreißigsten März die Stunden von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens.“

Danach würde die Tageszeit für den Bereitschaftsdienst von April bis September um 4 Uhr morgens beginnen, was der Durchschnittsbürger zu Recht als abwegig empfinden würde.

30

BVerfGE 105, 239 ff. BVerfGE 105, 239 (Leitsatz 1, Entscheidungsgründe, S. 248), Hervorhebung von Verf. 32 BVerfGE 105, 239 (Entscheidungsgründe, S. 248). – Ergänzend hat der Senat seinerzeit, ebenfalls mit der Formulierung „vgl. etwa“, auf § 188 Abs. 1 ZPO verwiesen, der jetzt durch § 758a Abs. 4 Satz 2 ZPO ersetzt worden ist. 31

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2. Bei nichtrichterlichem Freiheitsentzug begründe Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG eine äußerste Grenze, befreie aber nicht von der Verpflichtung, unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen.33 An dieser zweiten Senatsentscheidung zum Bereitschaftsdienst ist begrüßenswert, dass der Senat darauf verzichtet, einen nächtlichen Bereitschaftsdienst von Verfassungs wegen zu fordern. Das Grundgesetz geht nämlich in Art. 13 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 GG im Einklang mit der Rechtswirklichkeit davon aus, dass Eilkompetenzen von StA (und Polizei) legal und legitim sind. Unserer Verfassung ist daher keineswegs zu entnehmen, dass die Ausübung solcher Exekutivkompetenzen von vornherein nicht wünschenswert sei. Kritikwürdig ist freilich der Hinweis auf § 104 Abs. 3 StPO: Er ist erstens zu diffus, weil die Formulierung „vgl. etwa“ Fragen offen lässt. Er ist zweitens „brandgefährlich“, weil bei der Regelung des Bereitschaftsdienstes die „Wahnidee“ aufkommen könnte, und zwar unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht: Der Bereitschaftsdienst für den jeweiligen Richter zur Tageszeit könne ohne weiteres um 4 Uhr morgens beginnen, und dies möglichst auch noch von Montag bis Sonntag. Eine solche Regelung hat man bislang vermieden (unten, § 3), was aber nicht das Verdienst des Bundesverfassungsgerichts ist. Die Klarstellung des Gerichts zum Verhältnis von Satz 2 und 3 des Art. 104 Abs. 2 GG ist dagegen einleuchtend, begründet aber keinesfalls die Verpflichtung, einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst einzurichten, den der Verfassungsgeber auch bei der Schaffung des Richtervorbehalts für Freiheitsentzug niemals im Auge hatte, und zwar trotz des hohen Verfassungsrangs der persönlichen Freiheit. Beide Senatsentscheidungen sind in der Folge durch zahllose Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts ergänzt worden. Sie sowie Urteile und Beschlüsse der ordentlichen Justiz zum Bereitschaftsdienst, zudem Schrifttum hierzu, sollen zunächst zurückgestellt und erst im Anschluss an die folgende Darlegung von Umfang und Gegenstand des richterlichen Bereitschaftsdienstes berücksichtigt werden.

§ 3 Umfang und Gegenstand des richterlichen Bereitschaftsdienstes am Beispiel des Bereitschaftsdienstplans 2011 für den Landgerichtsbezirk Trier I. Aufgrund der erörterten Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2001 und 2002 erhielt § 22c GVG im Juli 2002 die folgende Neufassung: (1) Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass für mehrere Amtsgerichte im Bezirk eines Landgerichts ein gemeinsamer Bereitschaftsdienstplan aufgestellt wird oder ein Amtsgericht Geschäfte des Bereitschaftsdienstes 33

BVerfGE 105, 239 (Leitsatz 2, Entscheidungsgründe, S. 249).

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ganz oder teilweise wahrnimmt, wenn dies zur Sicherstellung einer gleichmäßigeren Belastung der Richter mit Bereitschaftsdiensten angezeigt ist. Zu dem Bereitschaftsdienst sind die Richter der in Satz 1 bezeichneten Amtsgerichte heranzuziehen. In der Verordnung nach Satz 1 kann bestimmt werden, dass auch die Richter des Landgerichts heranzuziehen sind. Über die Verteilung der Geschäfte des Bereitschaftsdienstes beschließt nach Maßgabe des § 21e GVG das Präsidium des Landgerichts im Einvernehmen mit den Präsidien der betroffenen Amtsgerichte. Kommt eine Einigung nicht zu Stande, obliegt die Beschlussfassung dem Präsidium des Oberlandesgerichts, zu dessen Bezirk das Landgericht gehört. (2) Die Landesregierungen können die Ermächtigung nach Absatz 1 auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.

II. Diese Ermächtigung hat das Land Rheinland-Pfalz durch die Landesverordnung über den gemeinsamen Bereitschaftsdienst bei Amtsgerichten vom 2. Mai 2004 wie folgt umgesetzt34 : §1 Der Bereitschaftsdienst in der dienstfreien Zeit ist für die Amtsgerichte im Bezirk eines Landgerichts durch einen gemeinsamen Bereitschaftsdienstplan zu regeln. §2 Die Zuständigkeitsregelung in dem gemeinsamen Bereitschaftsdienstplan erstreckt sich auf alle Entscheidungen des Amtsgerichts, die keinen Aufschub dulden, insbesondere nach der StPO, der ZPO, dem FGG und dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen. §3 Zu dem Bereitschaftsdienst sind neben den Richterinnen und Richtern der Amtsgerichte auch die Richterinnen und Richter des jeweiligen Landgerichts heranzuziehen.

III. Speziell für den LG-Bezirk Trier ist durch Geschäftsverteilungsbeschluss des Präsidiums des Gerichts im Einvernehmen mit den Präsidien der betroffenen Amtsgerichte (§ 22c Abs. 1 Satz 3 GVG) z. B. für das Jahr 2011 der folgende Bereitschaftsdienstplan aufgestellt worden. 1. Zeitlicher Umfang a) Jeder betroffene Richter hat im Jahr eine Woche Bereitschaftsdienst (sog. Wechsel im wöchentlichen Turnus). Betroffen vom Bereitschaftsdienst sind dabei die Richterinnen/Richter bei allen Amtsgerichten des Landgerichtsbezirks Trier (mit Ausnahme des AG Trier35) und die Richterinnen/Richter beim LG Trier.36 34

GVBl. RhPf 2004, S. 334 (335). Die Richterinnen und Richter des AG Trier übernehmen nämlich den, neben dem Bereitschaftsdienst an allen Wochentagen, fortbestehenden Eildienst für Haftsachen an Wochenenden und Feiertagen in der Mittagszeit (zu ihm bereits oben, Erster Teil, § 1, III.). 36 Letztere fungieren als Ersatz für die Richterinnen/Richter beim AG Trier (siehe Fn. 35). 35

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b) Die Dienstzeiten des Bereitschaftsdienstes sind wie folgt festgelegt: – montags bis donnerstags: 6 bis 8 Uhr und 17 bis 21 Uhr; – freitags: 6 bis 8 Uhr und 13 bis 21 Uhr; – samstags, sonn- und feiertags sowie am 7. und 8. März, 24. und 31. Dezember:37 6 bis 21 Uhr. Das ergibt schon in einer normalen Woche ohne Feiertage von Montag bis Sonntag 64 Stunden (!) Bereitschaftsdienst. Dies zusätzlich zum normalen Dienstbetrieb und ohne jede Kompensation durch Freistellungstage oder Zusatzvergütung. Auch junge, tüchtige und belastbare Richterinnen und Richter haben dem Mitautor Krey plausibel versichert, sie hätten sich nach einer Woche Bereitschaftsdienst unzumutbar und unangemessen überfordert gefühlt. 2. Gegenstand des Bereitschaftsdienstes Den sachlichen Gegenstand hat der Bereitschaftsdienstplan 2011 des LG-Bezirks Trier in gleicher Weise wie schon § 2 der zitierten Landesverordnung festgelegt. Dabei ist zu beachten, dass alle Entscheidungen des Amtsgerichts, die keinen Aufschub dulden, erfasst werden, und die anschließende Nennung von StPO, ZPO, FGG und Freiheitsentziehungsgesetz nur beispielhaft ist („insbesondere StPO …“). Das hat zur Folge: Vom Bereitschaftsdienst sachlich erfasst werden namentlich auch – der Polizeigewahrsam (präventiv-polizeilicher Gewahrsam) nach Landespolizeirecht38 ; – der Freiheitsentzug durch öffentlich-rechtliche Unterbringung psychisch kranker Personen in einem psychiatrischen Krankenhaus39. Denn für beide Präventivmaßnahmen besteht ein Richtervorbehalt mit Zuständigkeit der Amtsgerichte.40 Beide Richtervorbehalte nun bedeuten für Richter im Bereitschaftsdienst oft eine erhebliche Belastung, zumal zumindest die Anordnung einer solchen Unterbringung verlangt, dass der Richter sich zu der fraglichen psychiatrischen Klinik begibt, was beispielsweise bei einem Richter am LG Trier im Bereit-

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Erläuterung für ausländische Leser: De facto sind Heiligabend und Silvester in Deutschland inzwischen weitgehend Feiertagen angenähert. Dasselbe gilt für Rosenmontag und den folgenden Dienstag (Karneval), für das Jahr 2011 der 7. und 8. März; Trier pflegt insoweit recht eindrucksvoll die rheinische Karnevalstradition. 38 Wiesneth, Der amtsgerichtliche Bereitschaftsdienst, 2009, Rn. 151 ff. 39 Wiesneth (Fn. 38), Rn. 89 ff. 40 Für den Polizeigewahrsam: §§ 14, 15 POG Rheinland-Pfalz. Bezüglich der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus siehe das Landesgesetz für psychisch kranke Personen (PsychKG) Rheinland-Pfalz, § 14 Abs. 1.

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schaftsdienst häufig eine mehrstündige Hin- und Rückfahrt zum psychiatrischen Krankenhaus in Gerolstein zur Folge hat. Resümee Insgesamt hat der umfassende richterliche Bereitschaftsdienst, der gemäß den angeführten Senatsentscheidungen des BVerfG von 2001 und 2002 geschaffen wurde, zu einer erheblichen Mehrbelastung der Tatrichter an Amts- und Landgerichten geführt. Sie hat das Bundesverfassungsgericht offenbar billigend in Kauf genommen, was wenig Verständnis für die Situation der überlasteten Tatrichter an Amts- und Landgerichten41 zeigt. Zwar hat der Zweite Senat in seiner Schlüsselentscheidung vom 20. Februar 2001 auch die Verpflichtung zur angemessenen Ausstattung der Gerichte durch den Staat angesprochen42 ; viel nachdrücklicher aber wird die Verpflichtung der Gerichte selbst betont, durch Geschäftsverteilungspläne einen effektiven Bereitschaftsdienst zur Verfügung zu stellen.43 Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht erinnert zwar den Staat an seine Verfassungspflicht zur angemessenen Ausstattung der Justiz mit personellen und sachlichen Ressourcen, weiß aber offenbar, dass hier „tauben Ohren gepredigt wird“ und verlangt letztlich die Schaffung eines umfassenderen Bereitschaftsdienstes „mit Bordmitteln“, also notfalls auch ohne zusätzliche Ausstattung der Gerichte mit neuen Richterstellen. Aber auch den Präsidien der Landgerichte, die (im Einvernehmen mit den Präsidien der jeweiligen Amtsgerichte) die Bereitschaftsdienstpläne in richterlicher Unabhängigkeit aufgestellt haben, sind hier entsprechende Vorwürfe zu machen: Sie haben die unverhältnismäßige und unzumutbare Mehrbelastung der Richter an den LG und AG mitzuverantworten. Dabei mag „vorauseilender Gehorsam“ gegenüber dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle gespielt haben, dessen „harte Hand“ jedem Einsichtigen durch den oben gerügten diffusen Hinweis auf den Beginn der Tageszeit gemäß § 104 Abs. 3 StPO deutlich geworden war. Auch kann „vorauseilender Gehorsam“ gegenüber Erwartungen der Landesjustizverwaltung eine Rolle gespielt haben, was Verfasser allerdings nicht glauben möchten. Den Präsidien sei freilich eingeräumt, dass bereits die fragliche Landesverordnung Rheinland-Pfalz (siehe oben, § 3, II.) in erheblicher Weise die richterliche Unabhängigkeit bei der Aufstellung von Geschäftsverteilung tangiert, zumal sie der Sache nach verfassungsrechtliche Richtervorbehalte und einfachgesetzliche schlicht 41

Zu dieser Überlastung eingehend Krey/Windgätter, Vom unhaltbaren Zustand des Strafrechts – Wider die Überlastung, Überforderung und Überdehnung der Strafrechtspflege, in: Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 233 ff. 42 BVerfGE 103, 142 (152, 153). 43 BVerfGE 103, 142 (Leitsatz 2; Gründe, S. 152, 153).

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gleichsetzt; dies ohne Auftrag des Bundesverfassungsgerichts (Senatsentscheidungen) und ohne ausdrückliche Ermächtigung hierzu in § 22c GVG.44

Zweiter Teil Die Ausweitung des richterlichen Bereitschaftsdienstes über den vom BVerfG in seinen Senatsentscheidungen von 2001 und 2002 abgesteckten Rahmen hinaus § 1 Wider die grundsätzliche Gleichstellung von einfachgesetzlichen Richtervorbehalten ohne Verfassungsrang mit verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten im Rahmen des richterlichen Bereitschaftsdienstes I. Der Befund: de facto-Gleichstellung in den Bereitschaftsdienstplänen Obwohl, wie dargelegt, die beiden Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2001, 2002 ausdrücklich nur verfassungsrechtliche Richtervorbehalte zum Gegenstand haben (Art. 13 Abs. 2, Art. 104 Abs. 2 GG) und eine schlichte Gleichstellung einfachgesetzlicher Richtervorbehalte hier nicht gefordert wird, haben die Bereitschaftsdienstpläne der Landgerichte offenbar bundesweit eine solche Gleichstellung vorgenommen. Sie kann man auch nicht auf § 22c GVG stützen, allenfalls auf Landesverordnungen wie die angeführte für Rheinland-Pfalz; letzteren fehlt insoweit eine wirksame gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Dieser Befund ist ein Ärgernis und sicher kein Ruhmesblatt für die Landgerichtspräsidien. Insbesondere im Hinblick auf alltägliche strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wie Entnahmen von Blutproben gemäß § 81a StPO haben sich die Anhänger einer solchen Gleichstellung von Richtervorbehalten keinen Gefallen getan. Denn hier hat sich wegen jener nicht gebotenen Gleichstellung inzwischen ein Widerstand formiert, der wegen des zu weitgehenden Bereitschaftsdienstes jetzt auch den Richtervorbehalt aus § 81a Abs. 2 StPO für jene Maßnahme angreift (worauf zurückzukommen ist).

44 Hierzu kritisch u. a. auch (für die vergleichbare Situation in Baden-Württemberg) Neue Richtervereinigung, Landesverband Baden-Württemberg, Problemfall richterlicher Bereitschaftsdienst, Stand: Mai 2005, 5. Abschnitt, http://www.nrv-net.de/main.php?id=171&stel lung_id=5&lv_id=&fg_id= .

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II. Der Standpunkt von Kammerbeschlüssen des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts sowie der sonstigen Rechtsprechung und des Schrifttums 1. Kammerbeschlüsse Die Rechtsprechung der Kammern des Gerichts ist nicht eindeutig; sie läuft insgesamt weder auf eine klare Forderung nach einer Gleichstellung einfachgesetzlicher Richtervorbehalte im Rahmen des Bereitschaftsdienstes noch auf eine klare Ablehnung einer solchen Gleichstellung hinaus; dazu sollen an dieser Stelle die folgenden Nachweise genügen: Bundesverfassungsgericht (Kammer), Beschluss vom 12. Februar 2007, 2 BvR 273/0645 Diese Entscheidung betrifft die Anordnung einer Blutentnahme gemäß § 81a StPO und wird vielfach als Beleg für das Erfordernis jener Gleichstellung gewertet46, freilich zu Unrecht. Die Kammer befasst sich nämlich lediglich mit der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG wegen Vernachlässigung der erforderlichen Dokumentations- und Begründungspflicht für die Annahme einer Eilkompetenz der StA. Diese Pflichten, die das Senatsurteil vom 20. Februar 2001 postuliert habe (s. o.), seien in casu verletzt. Das Problem einer Gleichstellung einfachgesetzlicher Richtervorbehalte mit verfassungsrechtlichen selbst ist nicht Gegenstand jenes Beschlusses. Bundesverfassungsgericht (Kammer), Beschluss vom 21. Januar 2008, 2 BvR 2307/07 Die Entscheidung ist insoweit für unsere Gleichstellungsproblematik von Interesse, als sie betont: Die Missachtung der richterlichen Anordnungsbefugnis nach § 81a Abs. 2 StPO stelle als solche nur einen Verstoß gegen einfaches Recht dar, nicht gegen Verfassungsrecht, da dieser Richtervorbehalt lediglich einfachgesetzlicher Natur sei. Etwas anderes gelte nur bei einem Verstoß gegen das Willkürverbot. Der richterliche Bereitschaftsdienst als solcher ist nicht Gegenstand der Entscheidung. Bundesverfassungsgericht (Kammer), Beschluss vom 28. Juli 2008, 2 BvR 784/08 Auch hier geht es nicht um den Bereitschaftsdienst als solchen; vielmehr wird lediglich betont: Die Dokumentations- und Begründungspflichten bei Annahme von Gefahr im Verzug gelten grundsätzlich auch für einfachgesetzliche Richtervorbehal45

BVerfGE, NJW 2007, 1345 f. So etwa Fromm, Zum richterlichen Bereitschaftsdienst während der Nachtzeit, NZV 2009, 514 (515, mit Fn. 6 – Anmerkung zu OLG Hamm vom 18. 08. 2009, 3. Strafsenat). 46

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te. Wichtiger ist dagegen die Feststellung der Kammer, der Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO gehöre nicht zum rechtsstaatlichen Mindeststandard, sodass jedenfalls hier eine Verletzung jener Pflichten kein Verwertungsverbot begründe. Bundesverfassungsgericht (Kammer), Beschluss vom 24. Februar 2011, 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/10 Hier wird eingangs nachdrücklich und zutreffend betont, ein etwaig erforderlicher richterlicher Bereitschaftsdienst zur Nachtzeit bei Wohnungsdurchsuchungen könne nicht „schematisch“ auf den einfachgesetzlichen Richtervorbehalt übertragen werden. Leider zitiert die Kammer in diesem Zusammenhang unzutreffend die Schlüsselentscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001, die angeblich die Notwendigkeit eines nächtlichen Bereitschafsdienstes bei Wohnungsdurchsuchungen begründet habe.47 Dieses Zitat ist unzutreffend: Wie bereits erwähnt, findet sich in jener Schlüsselentscheidung eine solche Feststellung gerade nicht, womit der fragliche Kammerbeschluss als Beleg für die These, das Bundesverfassungsgericht habe einen nächtlichen Bereitschaftsdienst gefordert, weitgehend entwertet ist. Bedauerlicherweise lässt die Kammer dann aber die Problematik eines richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit bei § 81 a StPO letztlich offen; dies mit den Worten: Das Fehlen eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes begründe hier kein Beweisverwertungsverbot. Selbst wenn ein solcher Mangel der Inanspruchnahme von Eilkompetenzen entgegenstünde, sei von Verfassungs wegen kein derartiges Verwertungsverbot zu fordern.48

Abschließend betont die Kammer immerhin, wie bereits oben erwähnt (Erster Teil, § 1, II., 3.), der einfachgesetzliche Richtervorbehalt des § 81a StPO habe keinen Verfassungsrang. Resümee: Der Kammerbeschluss ist insgesamt für unsere Problematik der Gleichstellung einfachgesetzlicher mit verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten im Rahmen des richterlichen Bereitschaftsdienstes wenig ergiebig. Er verlangt diese Gleichstellung bei der Frage eines Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit nicht, legt sich aber auch nicht auf das Gegenteil fest. Solche Entscheidungen sind für die Praxis keine wirkliche Hilfe. Und insbesondere führen sie dazu, dass die Forderung nach Abschaffung des Richtervorbehaltes für die Entnahme von Blutproben 47

Die Kammer zitiert dabei (Rn. 13 der Internetversion) wie folgt: „BVerfGE 103, 142, 156“. Aber weder dort noch an anderer Stelle des Senatsurteils findet sich eine solche Anordnung. 48 Zum vorstehenden siehe Kammer ebd., Rn. 13.

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(unten, Dritter Teil) im Hinblick auf Unzumutbarkeiten und Unklarheiten beim Bereitschaftsdienst mehr und mehr einleuchtet. 2. Sonstige Rechtsprechung und Schrifttum Die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zum richterlichen Bereitschaftsdienst und insbesondere das Schrifttum hierzu sind inzwischen fast unübersehbar; daher soll es an dieser Stelle mit einer gerafften Skizzierung einiger wichtiger Leitlinien sein Bewenden haben: a) In seinem aufsehenerregenden Urteil vom 18. August 2009 hat der 3. Strafsenat des OLG Hamm der Sache nach einen nächtlichen Bereitschaftsdienst für Maßnahmen nach § 81a StPO für den Fall bejaht, dass hierfür ein praktischer Bedarf bestehe. Die Ausführungen des Senats dazu sind kompliziert und im Ergebnis kaum nachvollziehbar: Der 3. Senat befasst sich mit der Frage eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes für Wohnungsdurchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG mit § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO). Hierzu teilt er den noch darzulegenden Standpunkt von Kammern des Bundesverfassungsgerichts, bei verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten aus Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 GG könne im Falle praktischem Bedarfs, „der über den Ausnahmefall hinausgehe“, ein Richtervorbehalt zur Nachtzeit in Betracht kommen. Für einen solchen Bedarf nun hatte das OLG keine ausreichenden Zahlen zur Verfügung; jedoch gab es Zahlen, die häufigere nächtliche Anordnungen nach § 81a StPO (Blutprobenentnahme) dokumentierten. Durchaus verblüffend argumentiert der 3. Senat nun wie folgt: Wo für § 81a StPO ein praktischer Bedarf eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes deutlich werde, müsse dieser geschaffen werden; sein Fehlen könne dann auch bei verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten wie der Hausdurchsuchung gerügt werden.49 Diese Entscheidung bedeutet der Sache nach die Herleitung des Bedarfs für einen nächtlichen Bereitschaftsdienst bei verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten aus dem behaupteten Bedarf bei einfachgesetzlichen. Die eigentliche Problematik, ob denn ausgerechnet bei § 81a StPO ein nächtlicher Bereitschaftsdienst zu fordern sei, wird dabei nicht gesehen. Die Frage der Gleichstellung beider Arten von Richtervorbehalten ist jedenfalls nicht brauchbar erörtert. b) Das dargelegte Urteil des 3. Strafsenats des OLG Hamm ist, namentlich in der Anwaltschaft, vielfach auf Zustimmung gestoßen50, jedoch vom 4. Senat des Gerichts abgelehnt worden51. Der 1., 2. und 5. Senat des OLG Hamm haben dabei auf Anfrage mitgeteilt, dass sie der Ansicht des 4. Senats folgen. 49

Zum vorstehenden OLG Hamm, NJW 2009, 3109. So u. a.: Brüning, Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von Beweisen bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt, ZJS 2010, 129 ff.; Fromm (Fn. 46), 514 ff. 51 OLG Hamm, 4. Strafsenat, Beschluss vom 10. 09. 2009, 4 Ss 316/09. 50

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Dabei führt der 4. Senat in seiner Entscheidung aus: Er teile die These von der Notwendigkeit eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes für § 81a StPO (Blutentnahme) nicht. Dies gelte selbst für den Fall der Erforderlichkeit eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes für verfassungsrechtliche Richtervorbehalte wie Art. 13 Abs. 2 GG; denn diesen könne der einfachgesetzliche Richtervorbehalt des § 81a StPO nicht gleichgestellt werden. Der mit der Errichtung eines Bereitschaftsdienstes einhergehende erhebliche personelle Aufwand würde andernfalls angesichts der knappen Ressourcen der Justiz völlig unverhältnismäßig sein. Im Übrigen würden angesichts der Eilbedürftigkeit der Entnahme der Blutprobe ohnehin grundsätzlich nur ein telefonischer Antrag beim Bereitschaftsdienstrichter und eine entsprechend telefonische Anordnung möglich sein, so dass eine richterliche Kontrolle nur sehr eingeschränkt erfolgen würde.52 c) Insgesamt scheint die Rechtsprechung der strafrechtlichen Fachgerichte weitgehend den letzteren Standpunkt (4. sowie 1., 2. und 5. Senat des OLG Hamm) zu teilen.53 Dasselbe dürfte für die Lehre gelten54, wenn man von den zahllosen Internetäußerungen der Anwaltschaft einmal absieht. III. Stellungnahme der Autoren Die vorstehenden Überlegungen haben schon deutlich gemacht: Die Verfasser halten eine grundsätzliche Gleichstellung einfachgesetzlicher Richtervorbehalte mit den verfassungsrechtlichen aus Art. 13 Abs. 2, Art. 104 Abs. 2 GG im Rahmen des richterlichen Bereitschaftsdienstes für äußerst fraglich. Eine solche Gleichstellung würde letztlich Ungleiches sachwidrig gleich behandeln und eine unnötige erhebliche Mehrbelastung der ohnehin schon überlasteten Tatrichter an den AG und LG bedeuten. Diese Konsequenzen sind weder durch § 22c GVG noch expressis verbis durch die Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefordert, auch nicht klar und eindeutig durch die Judikatur der Kammern des Zweiten Senats. Wir haben hier eine ärgerliche Fehlentwicklung festzustellen.

52 In solchen Fällen würde Trück, Mündliche Entscheidung des Ermittlungsrichters ohne Akten? – Überlegungen zu Zweck und Tragweite des strafprozessualen Richtervorbehalts am Beispiel von Durchsuchung und Blutprobenentnahme, JZ 2010, 1106 ff., von vornherein eine Eilkompetenz von StA (bzw. ihren Ermittlungspersonen) bejahen, allerdings gegen die h.M. 53 Nachweise bei Brüning (Fn. 50), 129 (133). 54 Siehe etwa Rabe von Kühlewein, Verstoß gegen Richtervorbehalt sowie Gewährleistung richterlichen Eildienstes zur Nachtzeit, NStZ 2010, 167 m.w.N. pro und contra; Trück (Fn. 52), 1106 ff.

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§ 2 Zum Problem eines 24-Stunden-Bereitschaftsdienstes als Verfassungsgebot Abschließend sei noch auf die hochkontroverse und für die Belastung der betroffenen Richter außerordentlich wichtige Problematik des nächtlichen Bereitschaftsdienstes zurückzukommen, wenn auch nur in der (auch durch Vorgaben für den Umfang der Festschriftbeiträge) gebotenen Kürze, zumal die Abhandlung dieses Problems schon wiederholt erwähnt hat. I. Wie bereits betont verlangen die beiden Schlüsselentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Zweiter Senat, von 2001 und 2002 weder ausdrücklich (noch der Sache nach eindeutig) einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst, auch nicht für verfassungsrechtliche Richtervorbehalte. Weiterhin wird ein solcher, auch nächtlicher Bereitschaftsdienst weder im GVG noch z. B. in der einschlägigen Landesverordnung Rheinland-Pfalz gefordert. Allerdings hat, wie ausgeführt, der Senatsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2002 mit seinem unglücklichen, diffusen Verweis auf § 104 Abs. 3 StPO die Gefahr begründet, unter dem Etikett des Bereitschaftsdienstes zur Tageszeit könnte vom April bis September ein der Sache nach z. T. nächtlicher Bereitschaftsdienst ab 4 Uhr morgens beginnen, was die Verfasser bereits kritisiert hatten. II. In der Rechtsprechung der Kammern des Zweiten Senats finden sich jedoch zu den verfassungsrechtlichen Richtervorbehalten aus Art. 13 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 GG Beschlüsse, die postulieren, ein richterlicher Bereitschaftsdienst zur Nachtzeit könne bei einem erheblichen praktischen Bedarf geboten sein: 1. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2003 hat eine Kammer des Zweiten Senats entschieden:55 Trotz der aus Art. 13 Abs. 2 GG folgenden Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines Richters gegebenenfalls auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes zu sichern, müsse nicht stets auch zur Nachtzeit (§ 104 Abs. 3 StPO) unabhängig vom konkreten Bedarf ein richterlicher Eildienst zur Verfügung stehen. Vielmehr sei ein nächtlicher Bereitschaftsdienst von Verfassungs wegen erst dann gefordert, wenn hierfür ein praktischer Bedarf bestehe, „der über den Ausnahmefall hinausgeht“. 2. Entsprechend hat der Senat durch Kammerbeschluss vom 13. Dezember 2005 für den Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG einen nächtlichen Bereitschaftsdienst in Fällen eines solchen praktischen Bedarfs postuliert.56 III. Im letzteren Fall ging es um die Festnahme (präventiv-polizeilicher Gewahrsam) zahlloser Störer, die einen Castor-Transport blockiert hatten. Ob und wieweit dieser Entscheidung zu folgen ist, soll hier dahinstehen, da es um genuines Polizeirecht ging, und zwar in einer extremen Ausnahmesituation, und der vorliegende Beitrag primär strafprozessuale Grundrechtseingriffe im Auge hat. Jedenfalls in aller 55 56

2 BvR 1481/02, NJW 2004, 1442 und Bundesverfassungsgericht K 2, 176 ff. 2 BvR 447/05, in: BVerfGE 7, 87 ff.

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Regel ist ein nächtlicher Bereitschaftsdienst für Festnahmen nach diesem Beschluss nicht gefordert, was begrüßenswert ist. Dagegen sei zum ersten Beschluss kurz Stellung bezogen: Allenfalls bei einem erheblichen, regelmäßigen Bedarf, weil nach den konkreten Umständen damit zu rechnen ist, dass nicht nur ausnahmsweise häufig Fälle nächtlicher Hausdurchsuchungen zu erwarten sind, mag jener Kammerbeschluss einleuchten. Er begründet also keine grundsätzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes für Durchsuchungen. Bei einfachgesetzlichen Richtervorbehalten wäre die Forderung nach einem nächtlichen Bereitschaftsdienst völlig unverhältnismäßig.

Dritter Teil Zur Forderung nach Abschaffung des Richtervorbehaltes aus § 81a StPO für Blutentnahmen I. Tolksdorf, Präsident des BGH, hat im Februar 2010 diesen Richtervorbehalt für überflüssig erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, § 81a StPO insoweit zu ändern.57 Dabei hat Tolksdorf mit Sicherheit auch die unselige Diskussion um einen nächtlichen Bereitschaftsdienst für solche Maßnahmen im Auge gehabt. Ausdrücklich betont er ihre Eilbedürftigkeit und den Umstand, dass sie in der Regel zur Folge habe, dass eine telefonische Entscheidung des Richters ausreichen müsse; diese aber sei eher weniger wert als die des besser informierten Strafverfolgungsbeamten vor Ort. II. Offenbar ermutigt durch diese prominente Stellungnahme hat das Land Niedersachsen dann am 6. Oktober 2010 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Neuordnung der Anordnungskompetenz für die Entnahme von Blutproben58 eingebracht. Er fordert eine Ergänzung des § 81a Abs. 2 StPO durch die folgenden Sätze 2 und 3: „Einer richterlichen Anordnung bedarf es nicht in den Fällen der §§ 315a und 315c bis 316 des Strafgesetzbuches, wenn eine Blutprobenentnahme dem Nachweis von Alkohol, Betäubungsmitteln oder Medikamenten im Blut dienen soll. § 98 Abs. 2 Satz 2 gilt entsprechend.“

In der Begründung stellt jener Entwurf auf die schon von Tolksdorf angesprochenen Gesichtspunkte ab, die wie folgt überzeugend verdeutlicht werden: Die richterliche Entscheidung ergehe wegen der Eilbedürftigkeit i. d. R. aufgrund der dem Richter telefonisch mitgeteilten Informationen über „Alkoholgeruch, Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler“, sodass der Sache nach „kein Mehr an Rechtsstaatlichkeit für den Betroffenen“ gewonnen sei. 57 58

Spiegel-Online, 05. 02. 2010, http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,676185,00.html . BR-Drucks. 615/10.

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Im Übrigen verweist die Entwurfsbegründung zutreffend darauf, dass der Richtervorbehalt für Blutprobenentnahmen nur einfachgesetzlicher Natur sei. Inzwischen hat der Bundesrat am 5. November 2010 beschlossen, jenen Gesetzesentwurf im Bundestag einzubringen.59 III. Zu diesen Vorschlägen de lege ferenda sei hier nur so viel gesagt: Schon eingangs haben die Autoren die Gefahren einer Hypertrophie des Rechtsstaates durch abwegige Maßnahmen (bzw. deren Forderung) wie nächtlicher Bereitschaftsdienst auch für einfachgesetzliche Richtervorbehalte selbst in Fällen bloßer Entnahme von Blutproben betont und dabei das Bild des Pendels gebraucht, dass zu weit zurückschlägt, wenn man es zu weit ausschlagen lässt.60 Genau dies ist geschehen: Die unverhältnismäßige Überdehnung des richterlichen Bereitschaftsdienstes nach zeitlichem Umfang und Gegenstand hat nicht nur den Bereitschaftsdienst diskreditiert, sondern den Richtervorbehalt selbst. Mehr und mehr drängt sich die Frage auf, ob nicht nur der überdehnte Bereitschaftsdienst zumindest bei einfachgesetzlichen Richtervorbehalten unangemessen ist, sondern der Richtervorbehalt selbst. Diese Fehlentwicklung war abzusehen und ist bedauerlich. Daher neigen die Autoren dieser Studie de lege lata und de lege ferenda zu dem Standpunkt: Es wäre sachgerecht, rasch den richterlichen Bereitschaftsdienst durch Änderungen und/oder Klarstellungen so zu entschärfen, dass jener Gesetzesentwurf sich in der Sache erledigt.

Schlusswort Das Bundesverfassungsgericht hat durch die Entscheidungen seines Zweiten Senats von 2001 und 2002 zum richterlichen Bereitschaftsdienst „eine Lawine losgetreten“. Ski-Fahrer wissen, dass solche Folgen drohen, „wenn man sich von der Piste entfernt.“ Die Verfasser erlauben sich daher die Anregung, das BVerfG möge bei seiner bekannten Neigung, immer neue Verfassungsschranken zu kreieren und/oder bestehende Schranken auszuweiten, die Folgen für betroffene Beamte und Richter nachhaltiger bedenken. Des Weiteren wünschen sie sich, dass der verehrte Jubilar diesen Festschriftbeitrag gut aufnehmen möge. Schließlich wünschen sie ihm Glück, Gesundheit und weitere Schaffenskraft für die Zukunft.

59 60

BR-Drucks. 615/1/10 und 615/10(B). Siehe oben, Einleitung, III.

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Meinhard Schröder

I. Selbstständige Schriften 1. Die „wohlerworbenen Rechte“ der Bediensteten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1969. 2. Die Neuordnung des französischen Staatsgebietes, 1974. 3. Planung auf staatlicher Ebene – Rechtsstaatliche und demokratische Aspekte, 1974. 4. Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts. Zur Übertragbarkeit parlamentsrechtlicher Grundsätze auf Selbstverwaltungsorgane, insbesondere in der Kommunalund Hochschulverwaltung, 1979. 5. Der Geheimhaltungsschutz im Recht der Umweltchemikalien. Eine Untersuchung nach deutschem Recht und europäischem Gemeinschaftsrecht, 1980 (Berichte des Umweltbundesamtes 10/80). 6. Der Geheimhaltungsschutz im Recht der Umweltchemikalien II. Eine völkerrechtliche und rechtsvergleichende Untersuchung, 1982 (Berichte des Umweltbundesamtes 7/82). 7. Europäische Bildungspolitik und bundesstaatliche Ordnung, 1990. 8. Kompetenz- und eigentumsrechtliche Fragen bei der Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, 1993 (Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, 70). 9. Sustainable Development and Law, Zwolle 1996.

II. Beiträge zu Sammelwerken 1.

Stichworte „Internationaler Gerichtshof“, „Revision der Charta“, „Völkerrecht durch Vereinte Nationen“, in: Wolfrum/Prill/Brückner (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 1977, S. 190 ff., 365 ff., 503 ff.; – 2. Aufl., 1991 (hrsg. v. Wolfrum), S. 321 ff., 701 ff., 1020 ff. – Engl. aktualisierte Version, in: Wolfrum (ed.), United Nations, Law, Policies and Practice, 1995, Vol. 1, p. 673 et seq.; 20 et seq.; 100 et seq.

2.

Art. 43 GG, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung 1978/82, Drittbearbeitung 2008.

3.

Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 137 ff.

710 4.

Schriftenverzeichnis Art. 228 – 231 EWGV, in: v. der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWGV, 3. Aufl., 1983, Bd. 2; – 4. Aufl., 1991, Art. 227, 229 – 231; – 5. Aufl., 1997, EU-/EG-Vertrag; – 6. Aufl., 2004, v. der Groeben/Schwarze, Art. 299, 302 – 304; – 7. Aufl.,, EU-/AEU-Vertrag 2012, Art. 220, 352, 355 AEUV.

5.

Rechtsstaatlichkeit in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: Starck/ Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, 1983, S. 225 ff.

6.

Aktuelle Fragen der Hochschulverfassung und Hochschulverwaltung, in: Brohm (Hrsg.), Drittes deutsch-polnisches Verwaltungsrechtssymposium, 1983, S. 123 ff.

7.

Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: Verfassung und politisches System (Pol. Meinung 1984), S. 67 ff.

8.

Aktuelle Fragen des Geheimnisschutzes im parlamentarischen Untersuchungsverfahren, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, Festgabe zum 10jährigen Bestehen der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 461 ff.

9.

Stichworte „Non-Intervention, Principle of“ (1984/1996) und „Treaties, Validity“ (1984/ 1999), in: Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. III (1997), p. 619 et seq., Vol. IV (2000), p. 992 ff.

10. Bescheidungsantrag und Bescheidungsurteil, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian Friedrich Menger, 1985, S. 487 ff. 11. Le Contrüle excerc¦ par les assembl¦es repr¦sentatives dans les pays de lÏOuest, in: Le Contrüle de lÏAdministration en Europe de lÏEst et de lÏOuest, Editions Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1985, p. 205 et seq. 12. Les Entreprises Publiques et lÏUsager (Rapport National), in: Institut International des Sciences Administratives (ed.), 1985, p. 227 et seq. 13. Stichworte „Abwasserabgabe“ und „Geheimhaltungsschutz“, in: Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. I, 1986, Sp. 52 ff., 635 ff.; – 2. Aufl., 1994, Bd. I, Abfallabgabe, Sp. 1 ff.; Abwasserabgabe, Sp. 67 ff.; Geheimhaltungsschutz, Sp. 821 ff. 14. Aufgaben der Bundesregierung (§ 50); Bildung, Bestand und parlamentarische Verantwortung (§ 51), in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II 1987, S. 585 ff.; Die Bereiche der Regierung und Verwaltung (§ 67), ebd. Bd. III 1988, S. 499 ff., 3. Aufl. des Handbuches, Bd. III, 2005, §§ 64, 65, und Bd. IV (2007), § 106. 15. Inflation of Legal Rules, in: Starck (ed.), Rights, Institutions and Impact of International Law according to the German Basic Law, 1987, p. 115 et seq. 16. Über einige Entwicklungen des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik Deutschland, in: M¦langes en lÏHonneur Ph¦don Vegleris (La Crise des Institutions de LÏEtat), Athen 1988, Vol. I, p. 387 et seq. 17. Empfiehlt sich die gesetzliche Neuordnung der Rechte und Pflichten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse? Gutachten E für den 57. DJT (1988), E 1 – 130.

Schriftenverzeichnis

711

18. Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Eine Zwischenbilanz, in: Thaysen/Schüttemeyer (Hrsg.), Bedarf das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse einer Reform? 1988, S. 36 ff. 19. Untersuchungsausschüsse (§ 46) und Rechte der Regierung im Bundestag (§ 53), in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989. 20. Grundsatzfragen des Lebensmittelschutzes im Falle anormaler radiologischer Ereignisse nach EWG- und Euratomrecht, in: Gedächtnisschrift für Wilhelm Karl Geck, 1989, S. 753 ff. 21. Der Vollzug abfallrechtlicher Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, in: Das neue Abfallwirtschaftsrecht (Umweltrechtstage 1989), hrsg. v. Minister für Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 9 ff. 22. Instrumente zur Bekämpfung der neuartigen Waldschäden nach deutschem und europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Schröder/Jabornegg/Kapolnek/Kemptner, Waldschäden – rechtliche Aspekte, Linz 1989, S. 13 ff. 23. Binnenmarktrelevante Schwerpunkte der Gemeinschaftspolitik zur nuklearen Sicherheit, in: Pelzer (Hrsg.), Kernenergierecht zwischen Ausstiegsforderung und europäischem Binnenmarkt, 1990, S. 133 ff. 24. Strengthening of Constitutional Law. Efforts and Problems, in: Starck (ed.), New Challenges to the German Basic Law, 1991, p. 25 et seq. 25. Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, in: VVDStRL 50 (1991), S. 196 ff. 26. Konfliktlinien in der Abfallwirtschaft, in: Behrens/Koch (Hrsg.), Umweltschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1991, S. 165 ff. 27. Kommunale Verfassung, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 1992, S. 3 ff.; – 2. Aufl. unter dem Titel Kommunales Verfassungsrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, 2000, S. 1 ff. 28. Zusammenwirken von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht auf dem Gebiet der Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht. Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Bd. 16 (1993), S. 87 ff. 29. Auswirkungen des Richtlinienvorschlages über den Elektrizitätsbinnenmarkt auf das Eigentum der Energieversorgungsunternehmen, in: Baur (Hrsg.), Die Europäische Gemeinschaft und das Recht der leitungsgebundenen Energie, 1993, S. 79 ff. 30. Untersuchungsausschüsse und EnquÞte-Kommissionen. Zu einigen Problemen ihrer Abgrenzung, in: Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 173 ff. 31. Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse nach deutschem und europäischem Recht, in: Schäffer (Hrsg.), Untersuchungsausschüsse, Wien 1995, S. 11 ff. 32. Grundsatzfragen einer europäischen Verfassungsgebung, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/ Weber (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel – Zum 18-jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, 1995, S. 509 ff.

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33. Der Einfluß des Europarechts auf das deutsche Umweltrecht, in: Schoch (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht als Element der Europäischen Integration, Referate und Diskussionsbeiträge des Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums, 1995, S. 91 ff. 34. Sustainable Development – Handlungsmaßstab und Instrument zur Sicherung der Überlebensbedingungen künftiger Generationen? – Rechtswissenschaftliche Überlegungen, in: Kastenholz/Erdmann/Wolff (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung – Zukunftschancen für Mensch und Umwelt, 1996, S. 157 ff. 35. Der Vollzug der europäischen Abfallverordnung als Rechtsproblem, in: Festschrift für Wolfgang Ritter, 1997, S. 958 ff. 36. Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (de Gruyter Lehrbuch), 1. Aufl., 1997, S. 525 ff.; – 2. Aufl., 2001, S. 545 ff.; – 3. Aufl., 2004, S. 535 ff.; – 4. Aufl., 2007, S. 575 ff.; – 5. Aufl., 2010, S. 579 ff. 37. Umweltschutz als Gemeinschaftsziel und Grundsätze des Umweltschutzes (§ 9), Beachtung gemeinschaftlicher Grundsätze für den Umweltschutz bei nationalen Maßnahmen (§ 31), beide in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998; – 2. Aufl., 2003. 38. Landwirtschaft und Marktordnung in der Europäischen Union, in: Ramsauer (Hrsg.), Landwirtschaft und Ökologie, 1998 (Forum Umweltrecht, Bd. 28), S. 37 ff. 39. The link between the law of development planning and the law of environmental planning, in: Ekroos/Hakkarainen (ed.), Comparative Conference on Planning an Environmental law, Helsinki 1999, S. 5 ff. 40. Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Bundesimmissionsschutzgesetz; Überblick über 25 Jahre, in: Festschrift für Gerhard Feldhaus, 1999, S. 299 ff. 41. Der Westfälische Friede – eine Epochengrenze in der Völkerrechtsentwicklung, in: Schröder, 350 Jahre Westfälischer Friede. Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, 1999, S. 199 ff. 42. Art. 62 – 65a, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 4. Aufl., 2000; – 5. Aufl., 2005; – 6. Aufl., 2010. 43. Art. 49, 50, 69, 70, 74 – 78, in: Grimm/Caesar (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, Kommentar, 2001. 44. Öffentliches Recht: Richtlinienumsetzung und Anwendungsprobleme, in: Hohloch (Hrsg.), Richtlinien der EU und ihre Umsetzung in Deutschland und Frankreich, 2001, S. 113 ff. 45. Administrative Law in Germany, in: Seerden/Stroink (ed.), Administrative Law of the European Union, its Member States and the United States, 2002, p. 91 ff.; – 2nd ed., 2007, p. 93 ff.

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46. Encroachment of Criminal Law in Administrative Law, in: Riedel (ed.), Stocktaking in German Public Law, 2002, p. 203 et seq. 47. Rechtlicher Rahmen und Ziele; Grundsätze von Klimapolitik, beides in: Schröder et al., Klimavorhersage und Klimavorsorge, 2002, S. 251 ff. und S. 379 ff. 48. Überlegungen zur Anwendung des Vorsorgeprinzips im Klimaschutz, in: Festschrift für Jürgen F. Baur, 2002, S. 649 ff. 49. Vorbemerkung zur EG-Abfallverbringungsverordnung, in: Jarass/Ruchay/Weidemann (Hrsg.), Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, 2003; Neubearb. mit Kommentierung 2008 und 2011. 50. Kritische Tendenzen im normativen Umriss von Regierung und Parlament, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 513 ff. 51. Der Handel mit Emissionsrechten als völker- und europarechtliches Problem, in: Hendler/ Marburger/Reinhardt/Schröder (Hrsg.), Emissionszertifikate und Umweltrecht, 2004, S. 35 ff. 52. The Status of Public International Law seen from a European Perspective, in: v. Hoffmann (ed.), Global Governance, 2004, p. 11 et seq. 53. Zur rechtlichen Auslegung der Zielbestimmung der Klimarahmenkonvention, in: Ott/ Klepper/Lingner/Schäfer/Schettran/Sprinz, Konkretisierungsstrategien für Art. 2 der UN-Klimarahmenkonvention, 2004, S. 48 ff. (Europ. Akad. zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, Bad Neuenahr-Ahrweiler, Graue Reihe Nr. 37). 54. Aktuelle Gefahren der internationalen Gemeinschaft im Spiegel der US-amerikanischen und europäischen Sicherheitsstrategie, in: Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 255 ff. 55. Die Freiheit der Familiengründung und -planung in Staaten mit starkem Bevölkerungswachstum, in: Klein (Hrsg.), Globaler demographischer Wandel und Schutz der Menschenrechte, 2005, S. 205 ff. 56. Grundlagen der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungshandelns, in: Ley/Jutzi (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Rheinland-Pfalz, 4. Aufl., 2005, S. 153 ff.; – 5. Aufl., 2009, S. 100 ff.; – 6. Aufl., 2011, S. 89 ff. 57. Die Verantwortung der Verfassungsorgane bei der auf Auflösung gerichteten Vertrauensfrage. Zum Urteil des BVerfG vom 25. 08. 2005, in: Festschrift für Peter Krause, 2006, S. 349 ff. 58. Die Wirkkraft der Unionsgrundrechte bei Sachverhalten mit internationalem Bezug, in: Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 619 ff. 59. Die Konstitutionalisierung der Europäischen Union. Eine Zwischenbilanz, in: Festschrift für Michael Bothe, 2008, S. 1035 ff. 60. Nachhaltigkeit und Langzeitverantwortung, in: Gethmann/Mittelstraß (Hrsg.), Langzeitverantwortung. Ethik Technik Ökologie, 2008, S. 199 ff. 61. Treaties, Validity, Emissions Trading, Joint Implementation, Precautionary Principle, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Online Version, 2009/10.

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62. Das Karlsruher Konzept der Europäischen Integration. Bemerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Wilfried Fiedler, 2011, S. 675 ff. 63. Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon, in: Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 688 ff. 64. Das Recht auf gute Verwaltung bei mitgliedstaatlicher Durchführung des Unionsrechts, in: Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 947 ff.

III. Aufsätze in Zeitschriften 1.

Zur Übung: Öffentliches Recht, in: JuS 1967, S. 321 ff.

2.

Die Auswirkungen der Notstandsverfassung auf die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland – Zur Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte, in: Europaarchiv 1968, S. 783 ff.

3.

Gedanken zu einer Hierarchie der Interpretationsregeln im Völkerrecht, in: Revue Hellenique de Droit International 21 (1969), S. 123 ff.

4.

Die ungleiche Werftensubvention, in: JuS 1969, S. 25 ff.

5.

Grenzen der Abänderung belastender Verwaltungsakte – BVerwGE 30, 132, in: JuS 1970, S. 625 ff.

6.

Staatstheoretische Aspekte einer Aktenöffentlichkeit im Verwaltungsbereich, dargestellt am amerikanischen Information Act vom 04. 07. 1967, in: Die Verwaltung 4 (1971), S. 301 ff.

7.

Die völkerrechtliche Problematik vertraglicher Leistungsgewährungen an Entwicklungsländer, in: Archiv des Völkerrechts 15 (1972), S. 303 ff.

8.

Anmerkung zu BVerfG, NJW 1972, S. 573, ebenda, S. 675 f.

9.

Die dienstrechtliche Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: ZBR 1972, S. 15 ff., 35 ff.

10. Haftungsprobleme bei unterlassener Normsetzung der Exekutive (zu BGHZ 56, 40), in: JuS 1973, S. 355 ff. 11. Die versorgungsrechtliche Stellung der geschiedenen und wiedergeheirateten Ehefrau des Beamten – Ein problematisches Urteil des BVerwG (zu BVerwG, DVBl. 1972, S. 539 ff. m. Anm. Ule), in: FamRZ 1973, S. 244 ff. 12. Der europäische Dienst im Spannungsfeld staatlicher und überstaatlicher Konzeptionen, in: ZBR 1974, S. 113 ff. 13. Zur verfassungskonformen Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in: JR 1974, S. 182 ff. 14. Entstehungsgeschichtliche Auslegung des GG nach 25 Jahren, in: Juristische Arbeitsblätter (Öffentliches Recht), 1974, S. 151 ff. 15. Die richterliche Kontrolle des Planungsermessens. Überlegungen zum Urteil des BVerwG vom 05. 07. 1974 (Flachglasfall), in: DÖV 1975, S. 308 ff. 16. Die Geiselbefreiung von Entebbe – ein völkerrechtswidriger Akt Israels?, in: JZ 1977, S. 420 ff.

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17. Kritische Anmerkungen zu den jüngsten Verwaltungsreformen in Ballungsräumen, in: Verwaltungsrundschau 23 (1977), S. 294 ff. 18. Ungereimtheiten der strafgerichtlichen Rechtsprechung zur Verteilung politischer Schriften auf öffentlichen Straßen, in: Die Verwaltung 10 (1977), S. 451 ff. 19. Staatsrecht an den Grenzen des Rechtsstaates. Überlegungen zur Verteidigung des Rechtsstaates in außergewöhnlichen Lagen, in: AöR 103 (1978), S. 123 ff. 20. Staats- und völkerrechtliche Fragen der Auslieferungsbewilligung, in: BayVBl. 1979, S. 231 ff. 21. Plangewährleistung im Europäischen Gemeinschaftsrecht?, in: NJW 1979, S. 1729 ff. 22. Zwischenbilanz zur Stadt-Umlandreform in der BRD, in: Die Verwaltung 12 (1979), S. 1 ff. 23. Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Dienst – ein Diskussionsbeitrag, in: ZBR 1979, S. 181 ff. 24. Wirtschaftssanktionen der EG gegenüber Drittstaaten, dargestellt am Beispiel des Iranembargos, in: GYIL 1980, S. 111 ff. 25. Verwaltung und politische Führung in der BRD, in: ZBR 1981, S. 109 ff. 26. Die Klagebefugnis bei Anfechtungs- und Normenkontrollklagen, in: Jura 1981, S. 617 ff. 27. Rechtsfragen des Indemnitätsschutzes, in: Der Staat 21 (1982), S. 25 ff. 28. Bedenken gegen vielerlei Reformversuche: Kommunale Vertretungskörperschaften in der Bundesrepublik Deutschland, in: Das Parlament 32 (1982), Nr. 16 vom 24. 04. 1982, S. 6 f. 29. Das parlamentarische Regierungssystem, in: Jura 1982, S. 449 ff. 30. Parlamentsauflösung bei gesicherten Mehrheitsverhältnissen? – Bemerkungen zu Art. 68 des Grundgesetzes, in: JZ 1982, S. 786 f. 31. Hochschulgesetz von Nordrhein-Westfalen auf dem Prüfstand, in: MittHV 2/83, S. 93 ff. 32. Lenkungsabgaben im Umweltschutzrecht am Beispiel der Abwasserabgabe, in: DÖV 1983, S. 667 ff. und Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1983, S. 127 ff. 33. Zwischenbilanz zum Streikrecht der europäischen Beamten – Zugleich ein Beitrag zu den Rechtsquellen des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: ZBR 1984, S. 1 ff. 34. Der Verwaltungsvorbehalt, in: DVBl. 1984, S. 814 ff. 35. Das Aktenvorlagerecht parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 17. 07. 1984, 2 BvE 11 und 13/83), in: ZParl 15 (1984), S. 473 ff. 36. Die Hochschulmedizin im Spannungsfeld von akademischer Selbstverwaltung und staatlicher Bestimmung, in: Organisations- und Rechtsfragen der medizinischen Einrichtung unter Berücksichtigung der neuen Landeshochschulgesetze, Fortbildungsprogramm für die Wissenschaftsverwaltung, Materialien Nr. 18, Essen 1984, S. 63 ff. und in: MedR 1986, S. 59 ff. 37. Die Geltendmachung von Mitgliedschaftsrechten im Kommunalverfassungsstreit, in: NVwZ 1985, S. 246 f.

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38. Der Kampf um die Falklandinseln – Völkerrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: GYIL 27 (1984), S. 334 ff. 39. Die Kodifikation des Vertragsrechts Internationaler Organisationen, in: Archiv des Völkerrechts 23 (1985), S. 385 ff. 40. Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Staatsaufsicht über die wissenschaftlichen Hochschulen, in: WissR 18 (1985), S. 199 ff. 41. Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Umweltschutzrecht, UPR 5 (1985), S. 394 ff. 42. Grundfragen der Staatsaufsicht, in: JuS 1986, S. 371 ff. 43. Zur Gegenwartslage des Bestandsschutzes im Immissionsschutzrecht, UPR 6 (1986), S. 127 ff. 44. Minderheitenschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren – Neue Gerichtsentscheidungen, in: ZParl 17 (1986), S. 367 ff. 45. Waldschäden als Problem des internationalen und europäischen Rechts, in: DVBl. 1986, S. 1173 ff. (auch in: Waldschäden als Rechtsproblem 1986 (UTR 2), S. 83 ff.) 46. Bundesstaatliche Erosionen im Prozeß der Europäischen Integration, in: JöR NF 35 (1986), S. 83 ff. 47. Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus (zu BVerfGE 70, 324), in: Jura 1987, S. 469 ff. 48. Instrumente des internationalen Umweltrechts unter Berücksichtigung der Numea-Konvention vom 24./25. 11. 1986, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1987 (UTR 3), S. 273 ff. 49. Subventionen als staatliche Handlungsmittel, ZHR 152 (1988), S. 391 ff. 50. Deutsches Hochschulrecht (Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von W. Thieme), in: Die Verwaltung 21 (1988), S. 505 ff. 51. Europäisches Verwaltungsrecht (Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von J. Schwarze), in: Die Verwaltung 23 (1990), S. 247 ff. 52. Auskunft und Zugang in bezug auf Umweltdaten, in: NVwZ 1990, S. 905 ff. 53. Grundfragen des europäischen Abfallrechts, in: WuV 1990, S. 118 ff. 54. Die Berücksichtigung der Interessen der Wirtschaft bei der Gestaltung und Umsetzung der Informationsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft, in: ZHR 155 (1991), S. 471 ff. 55. Schadensersatzpflicht aus Amtspflichtverletzung trotz Bestandskraft eines Abgabenbescheides (Anm. zu BGH, DVBl. 1991, 379), in: DVBl. 1991, S. 751 ff. 56. Aktuelle Konflikte zwischen europäischem und deutschen Abfallrecht, in: DÖV 1991, S. 910 ff. (s. II. Nr. 24). 57. Rechtsfragen militärischer Altlasten im Anwendungsbereich des Nato-Truppen-Statuts, in: NVwZ 1992, S. 921 ff. 58. Klimaschutz als Problem internationalen Rechts, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1993 (UTR 21), S. 191 ff.

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59. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration – Bemerkungen zum Maastricht-Urteil, in: DVBl. 1994, S. 316 ff. 60. Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen umweltpolitischer Steuerung in einem deregulierten Strommarkt, in: DVBl. 1994, S. 835 ff. 61. Die Einwirkungen des internationalen Rechts auf das interne Recht am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, in: Gesetzgebung heute, Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung 1994/1, S. 41 ff. 62. Nachhaltigkeit als Ziel und Maßstab des deutschen Umweltrechts, in: Wirtschaft und Verwaltung 2/95, S. 65 ff. 63. Die Berücksichtigung des Umweltschutzes in der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union, in: NuR 1995, S. 117 ff. 64. Sustainable Development – Ausgleich zwischen Umwelt und Entwicklung als Gestaltungsaufgabe der Staaten, in: Archiv des Völkerrechts 34 (1996), S. 251 ff. 65. Die steuernde und marktbegrenzende Wirkung umweltschutzrelevanter Prinzipien des EG-Vertrages am Beispiel des Abfallexportes, in: NVwZ 1996, S. 833 ff. 66. Fünfzig Jahre Verfassungsentwicklung in Rheinland-Pfalz, in: DÖV 1997, S. 309 ff. 67. Aktuelle Entwicklungen im europäischen Umweltrecht unter besonderer Berücksichtigung des Vertrages von Amsterdam, in: NuR 1998, S. 1 ff. 68. Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, in: Die Verwaltung 31 (1998), S. 256 ff. 69. Grundsatzfragen des Art. 24 Abs. 1a GG, in: ThürVBl. 1998, S. 97 ff. 70. Konsensuale Instrumente des Umweltschutzrechts, in: NVwZ 1998, S. 1011 ff. 71. Die Bedeutung der Grundrechte für den Wiedereintritt Deutschlands in die westliche Wertewelt nach 1945, in: ThürVBl. 2000, S. 49 ff. 72. Altes und Neues zum Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse aus Anlaß der CDU-Parteispendenaffäre, in: NJW 2000, S. 1455 f. 73. Europarecht und integriertes Umweltrecht, in: NuR 2000, S. 481 ff. 74. Die Institutionalisierung des Nationalen Ethikrates: Ein bedenklicher Regierungsakt?, in: NJW 2001, S. 2144 ff. 75. Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, in: EuR 37 (2002), S. 301 f. 76. Wirkungen der Grundrechtscharta in der europäischen Rechtsordnung, in: JZ 2002, S. 849 ff. 77. Rechtsfragen des Interimschutzes bei Meldegebieten nach der FFH-Richtlinie, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2002 (UTR 62), S. 99 ff. 78. Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, in: JZ 2004, S. 58 ff. 79. Postulate und Konzepte zur Durchsetzbarkeit und Durchsetzung der EG-Umweltpolitik, in: NVwZ 2006, S. 389 ff.

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80. Klimaschutz durch die Europäische Union, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2006 (UTR 90), S. 19 ff. 81. Der Nationale Normenkontrollrat – ein neuer Schritt zum Abbau von Bürokratiekosten, in: DÖV 2007, S. 45 ff. 82. Rechtsschutz zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit, in: AUR 2008, S. 261 ff. 83. Neuerungen im Rechtschutz der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon, in: DÖV 2009, S. 61 ff. 84. Der Umweltschutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: JöR NF 58 (2010), S. 195 ff. 85. Effektiver Vollzug des Unionsrechts als „Frage von gemeinsamem Interesse“. Bemerkungen zu Art. 197, 191 AEUV, in: DVBl. 2011, S. 671 ff.

IV. Herausgebertätigkeit 1. Staats- und Verfassungsrecht, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Luchterhand 1981 ff. 2. Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Verwaltung“ von 1986 bis 1995. 3. Mitherausgeber der Schriftenreihe Umwelt- und Technikrecht (UTR) von 1986 bis 2010. 4. Mitherausgeber: Freiheit-Verantwortung-Kompetenz. Ausgewählte Abhandlungen von Fritz Ossenbühl, 1994. 5. Der Westfälische Friede – Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, 1999. 6. Mitherausgeber: Klimavorhersage und Klimavorsorge, 2002.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Chris Backes Universität Maastricht Prof. em. Dr. Peter Badura Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. Dres. h. c. Rolf Birk Universität Trier Prof. em. Dr. Johann Braun Universität Passau Prof. Dr. Michael Brenner Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Rüdiger Breuer Universitätsprofesser a. D., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Rechtsanwalt, Köhler & Klett Rechtsanwälte, Köln Prof. em. Dr. Dr. h. c. Peter Bülow i. R., Universität Trier Prof. Dr. Martin Burgi Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Christian Calliess LL.M. Eur, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Matthias Cornils Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas von Danwitz D.I.A.P. (ENA, Paris), Gerichtshof der Europäischen Union, Luxemburg, Universität zu Köln Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Diederich Eckardt Universität Trier Prof. Dr. Oliver Fehrenbacher Universität Konstanz (mit Philipp Jost, LL.M.) Prof. Dr. Bernd Hecker Universität Trier Prof. Dr. Jan von Hein Universität Trier

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Christian Heitsch Brunel University London Prof. Dr. Reinhard Hendler Universität Trier Prof. Dr. Peter M. Huber Minister a. D., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. Eckart Klein Universität Potsdam Prof. em. Dr. Michael Kloepfer Humboldt-Universität zu Berlin Prof. em. Dr. Peter Krause Universität Trier Prof. Dr. Sebastian Krebber LL.M. (Georgetown), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. em. Dr. Volker Krey Universität Trier (mit Philipp Reiche und RA Thomas Roggenfelder) Prof. em. Dr. Walter F. Lindacher Universität Trier Prof. Dr. Wolfgang Löwer Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. em. Dr. Peter Marburger i. R., Universität Trier Prof. Dr. Kerstin Odendahl Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. em. Dr. Fritz Ossenbühl Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Jörg Pirrung Richter am Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften i. R. Prof. Dr. Alexander Proelß Universität Trier Prof. Dr. Thomas Raab Universität Trier Prof. Dr. Peter Reiff Universität Trier Prof. Dr. Hans-Werner Rengeling i. R., Universität Osnabrück Prof. Dr. Gerhard Robbers Universität Trier

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Prof. Dr. Matthias Ruffert Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Thomas Rüfner Universität Trier und Richter am Oberlandesgericht Koblenz Dr. Meinhard Schröder Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. em. Dr. Maximilian Wallerath Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald Prof. Dr. Rudolf Wendt Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes Prof. em. Dr. Thomas Würtenberger Albert-Ludwigs-Universität Freiburg