Rechtsschutz im Umweltrecht [1 ed.] 9783428544936, 9783428144938

Oft kommen umweltrechtliche Konflikte vor die Verwaltungsgerichte. Umweltrecht wird durch Richter ausgelegt, konkretisie

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Rechtsschutz im Umweltrecht [1 ed.]
 9783428544936, 9783428144938

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Schriften zum Umweltrecht Band 183

Rechtsschutz im Umweltrecht Herausgegeben von

Michael Kloepfer

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAEL KLOEPFER (Hrsg.)

Rechtsschutz im Umweltrecht

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Berlin

Band 183

Rechtsschutz im Umweltrecht Herausgegeben von

Michael Kloepfer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 978-3-428-14493-8 (Print) ISBN 978-3-428-54493-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84493-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 7. Februar 2014 veranstaltete das gemeinnützige Forschungszentrum Umweltrecht e. V. (FZU) an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Tagung mit dem Titel „Rechtsschutz im Umweltrecht“.1 Das veranstaltende FZU gehört neben dem Forschungszentrum Technikrecht (FZT), dem Forschungszentrum Katastrophenrecht (FZK) sowie dem Institut für Gesetzgebung und Verfassung (IGV) zur Forschungsplattform Recht (FPR), die eng mit der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zusammenarbeitet. Der vorliegende Band enthält im Wesentlichen die gehaltenen Referate der Tagung sowie eine Zusammenfassung der abschließenden ­Podiums- und Plenardiskussion. Nicht erst seit dem 12.  Mai 2011, dem Tag der Verkündung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Trianel“ zur Verbandsklage nach der Umweltverträglichkeitsprüfungs-Richtlinie, ist das Thema des Rechtsschutzes für das Umweltrecht von besonderer Bedeutung. Der Umweltrechtsschutz stand schon zuvor und steht noch künftig vor verschiedenartigen Herausforderungen. Die Teilnehmer der Tagung stellten sich daher die Frage: Was soll die Zukunft bringen: mehr oder weniger oder anderen Rechtsschutz im Umweltrecht? Den engagierten Referenten und Diskussionsteilnehmern der Tagung gebührt mein herzlicher Dank. Auf Grund ihrer Teilnahme war es möglich, das Thema des Umweltrechtsschutzes aus verschiedenen Perspektiven und doch gemeinsam und deshalb umfassend zu diskutieren. In den Referaten und der Podiums- sowie Plenardiskussion waren die Sichtweisen verschiedener Akteure der Rechtspraxis – durch Richter, Verwaltungsbeamte und Anwälte – ebenso wie der Blick der Umweltrechtswissenschaft vertreten. Meinem Mitarbeiter Rico David Neugärtner danke ich für die wertvolle Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung sowie der Vorbereitung für diesen Tagungsband. Anregungen und Kritik zum vorliegenden Band richten Sie bitte an mich per E-Mail unter [email protected]. Berlin, im Mai 2014

Michael Kloepfer

1  Berichte zur Tagung Dittes, DÖV 2014, 666 ff.; R. Meier, Umweltrecht in der Praxis (URP) 2014, 243 ff.; Šantek, ZUR 2014, 310 ff.

Inhaltsverzeichnis Michael Kloepfer Einführung: Rechtsschutz im Umweltrecht – Begrüßung zur Tagung am 7.  Februar 2014 in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Jörg Berkemann Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht . . . . . . . . . 13 Wolfgang Ewer Rechtsschutz bei mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren am Beispiel der Energiewende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Peter Wysk Rechtsschutz gegen Flugrouten – Rechtsschutzentwertung durch verworrenes materielles Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Jan Ziekow Verfahrensfehler im Umweltrecht – notwendige Nachjustierungen im deutschen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Remo Klinger Ausweitung der Verbandsklage im Umweltbereich – „Trianel“, „Slowakischer Braunbär“ und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Claudio Franzius Das Bundesverwaltungsgericht auf dem richtigen Weg? Zur Begründung der Verbandsklagebefugnis für Luftreinhaltepläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Julian Krüper Neudefinition des „subjektiven öffentlichen Rechts“ – der citoyen als umweltdienender Kläger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Rico David Neugärtner „Es wäre vielleicht schöner, wenn wir § 42 [VwGO] gar nicht hätten; das wäre vielleicht einfacher.“ – Bericht über die abschließende Podiums- und Plenardiskussion bei der Tagung „Rechtsschutz im ­Umweltrecht“ am 7.  Februar 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Einführung: Rechtsschutz im Umweltrecht – Begrüßung zur Tagung am 7. Februar 2014 in Berlin – Von Michael Kloepfer 1.  In der Festschrift mit dem Titel „Beharren, Bewegen“1, die mir im vorigen September von meinen Schülern, Freunden und Kollegen zu meinem 70.  Geburtstag zum geistigen Geschenk gemacht wurde, befassen sich gleich zwei Beiträge mit dem Thema des Rechtsschutzes im Umweltrecht. Den einen Beitrag hat einer der heutigen Referenten, mein Schüler Claudio Franzius, verfasst. Er wird uns heute Nachmittag seine Gedanken zum Thema der richterlichen Rechtsfortbildung insbesondere durch das Bundesverwaltungsgericht am Beispiel der Klagebefugnis im Umweltrecht mitteilen. Der andere Beitrag stammt aus der Feder von Rüdiger Breuer, meinem langjährigen Professorenkollegen aus früheren Trierer Zeiten. Er hat in der Festschrift zum Thema „Entwicklungen des Rechtsschutzes im Umweltrecht“ geschrieben. Für eine Festschrift ungewöhnlich werden beide Beiträge fast unmittelbar nach Erscheinen der Festschrift schon rege zitiert. 2.  Was kann man daran ablesen, dass der Rechtsschutz im Umweltrecht in einer aktuellen Festschrift thematisch gleich doppelt vertreten ist? Ich meine: vor allem die große Bedeutsamkeit dieses Themas für die Praxis und Wissenschaft, für den Umweltschutz, aber auch für das öffentliche Recht überhaupt. Der Umweltrechtsschutz ist ein Thema von grundsätzlicher wie von aktueller Bedeutung zugleich. Ideal ist dieses Thema nicht nur für Festschriftbeiträge, sondern auch für eine kritische Tagung, zumal es in sinnvoller und fruchtbarer Weise Wissenschaft und Praxis zusammenführt. Die Tagung orientiert sich so an dem Mantra des Veranstalters der Tagung, dem Forschungszentrum Umweltrecht (FZU), welches vor allem auch die Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis anstrebt. 3. Die Aktualität unseres Themas zeigt sich bei jedem Blick in die verwaltungsrechtlichen Rechtsprechungsteile der juristischen, insbesondere ­öffentlich-rechtlichen Fachzeitschriften. Oft scheint der Rechtsschutz im 1  Franzius / Lejeune / Lewinski / Meßerschmidt / Michael / Rossi / Schilling / Wysk (Hrsg.), Beharren. Bewegen. Festschrift für Michael Kloepfer zum 70.  Geburtstag, 2013.

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Umweltrecht die Liste der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen fast schon zu dominieren. Dabei dürften gegenwärtig in ganz besonderem Maße die Entwicklungen im Europarecht zur Verbandsklage das Thema des Umweltrechtsschutzes prägen. Ich nenne nur die Stichworte „Trianel“2 und „Slowakischer Braunbär“3 – Remo Klinger wird sie heute Nachmittag vor allem aus einschlägigen anwaltlichen Erfahrungen in seinem Referat näher beleuchten. Aber auch politische Entwicklungen auf nationaler, deutscher Ebene wie die sog. „Energiewende“ mit den Problemen des Netzausbaus und den komplizierten Planungs- und Zulassungsstufen bringen immer wieder neue Herausforderungen für die entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeiten hervor. Wolfgang Ewer wird hier aufgrund seiner ausgedehnten anwaltlichen Tätigkeiten später Licht ins juristische Dunkel bringen, wobei das Thema „Energiewende“ ja nicht nur rechtliche, sondern auch politische Dark-Rooms kennt, in denen jüngst auch ein bayerischer Ministerpräsident gesehen worden sein soll. Ähnliche, aber doch auch andere Probleme als der Netzausbau bringt der Rechtsschutz gegen Flugroutenfestsetzungen mit sich. Gerade für uns Berliner ist dieses Thema – wie Sie wissen – nahezu dauerhaft aktuell. Umso erfreuter bin ich über die Abhilfe aus Leipzig vom Bundesverwaltungsgericht in Gestalt von Peter Wysk, dem ausgewiesenen juristischen Flughafenexperten schlechthin, welcher hierzu referieren wird. Die anwaltliche Sicht wird also in unserer Tagung durch die Sicht des Richters und natürlich durch die Sicht der Rechtswissenschaft ergänzt. 4.  Der Rechtsschutz im Umweltrecht ist ein Dauerthema, das bereits seit mehreren Jahrzehnten diskutiert wird. Nicht erst seit dem „Trianel“-Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2011 beschäftigt uns der Umweltrechtschutz und dabei speziell die Fragen der Klagebefugnis und der Verbandsklage kontinuierlich. Neben „Janecek“4, „Trianel“ und den „Slowakischen Braunbären“ gesellte sich in der Rechtsprechung des EuGH jüngst die „Altrip“-Entscheidung5 hinzu. Die nationale Rechtsprechung – insbesondere die Moorburg-Entscheidung des OVG Hamburg6 und die Entscheidung des BVerwG zum Luftreinhalteplan Darmstadt7 – sind ebenfalls sehr wichtig. 2  EuGH, Urt. v. 12.05.2011 – C-115 / 09; teilweise abgedruckt in NJW 2011, 2779 ff. 3  EuGH, Urt. v. 08.03.2011 – C-240 / 09; teilweise abgedruckt in NVwZ 2011, 673 ff. 4  EuGH, Urt. v. 25.07.2008 – C-237 / 07; teilweise abgedruckt in NVwZ 2008, 984 f. 5  EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-72 / 12; teilweise abgedruckt in NVwZ 2014, 49 ff. 6  OVG Hamburg, Urt. v. 18.01.2013 – 5 E 11 / 08; teilweise abgedruckt in ZUR 2013, 357 ff. 7  BVerwGE 147, 312 ff.



Einführung11

Die Grundtendenz zur Erleichterung und Erweiterung des Zugangs zu den Gerichten ist dabei unverkennbar. Das Europarecht hat das nationale Verwaltungsprozessrecht auch schon vor Erlass der genannten Urteile unter erheblichen Veränderungsdruck gesetzt. Dem steht mit dem EuGH ein Gericht zur Seite, das weiß, wo es hin will (Stichwort: EuGH als „Motor der Integration“), während das BVerfG häufig nur noch weiß, wo es nicht hin will8. Die Gründe für die Spannungen zwischen dem deutschen und dem europäischen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht liegen tief. Insbesondere das unterschiedliche Verständnis von der Bedeutung des Verwaltungsverfahrens im deutschen im Gegensatz zum europäischen Recht ist ein grundsätzliches Problem und nicht etwa auf die Entwicklungen zur Verbandsklage beschränkt. Jan Ziekow wird später als bekannter wissenschaftlicher Experte zum Rechtsschutz gegen Fehler im Umweltverwaltungsverfahren referieren. Eine grundsätzliche Spannungslage zwischen europäischem und nationalem Recht zeigt sich heute vor allem an der Bedeutung des subjektiv-öffentlichen Rechts. Die Behauptung seiner Verletzung nach § 42 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ist bekanntermaßen grundsätzlich die Voraussetzung dafür, dass ein Einzelner auf dem Verwaltungsrechtsweg klagen kann. Wie man ein solches subjektiv-öffentliches Recht aber heute zu verstehen hat, darauf haben der Europäische Gerichtshof und die deutsche herrschende Meinung nicht immer dieselbe Antwort. Julian Krüper wird in seinem Referat über eine Neudefinition des subjektiv-öffentlichen Rechts die unterschiedlichen Positionen verdeutlichen und erklären. Das Grundproblem des Umweltrechtsschutzes bleibt: Wie kann bei gerichtlichem Rechtsschutz hinsichtlich kollektiver Rechtsgüter wie der Umwelt das Instrument individueller Rechtserzwingungsmacht eingesetzt werden? 5.  Die Anpassung des nationalen Rechts an völker- und europarechtliche Vorgaben wird gewiss nicht allein durch den Gesetzgeber geschultert. Auch die Rechtswissenschaft liefert wichtige Lösungsansätze. Vor allem aber tragen Verwaltungsrichter durch Auslegung, aber auch richterliche Rechtsfortbildung hierzu maßgeblich bei. Dürfen aber Verwaltungsgerichte insbesondere mit Blick auf das Völker- und Europarecht auch über die in deutschen Gesetzen vorgesehenen Möglichkeiten hinaus Umweltverbänden Klagerechte einräumen, wie es im Vorjahr zum Beispiel das OVG Hamburg im sog. Moorburg-Urteil getan hat9? Dürfen Richter die etwaigen Versäumnisse des deutschen Gesetzgebers durch Urteile korrigieren? Claudio Fran8  Vgl. zur Stellung des BVerfG die ähnliche Einschätzung von Nettesheim, Merkur 2014, 481 ff. 9  Das OVG Hamburg bejahte die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention: OVG Hamburg, Urt. v. 18.01.2013 – 5 E 11 / 08, Rn. 120; kritisch hierzu Franzius, NordÖR 2014, 1 ff. (6 f.).

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zius wird in seinem Referat unter anderem die diesbezüglichen Möglichkeiten und Grenzen aus rechtswissenschaftlicher Sicht ausloten. 6.  Die Tagung ist insgesamt sicherlich von der wissenschaftlichen Neugier, aber auch von der Sorge bestimmt, wie die Zukunft des Rechtsschutzes im Umweltrecht sich gestalten wird. Wie sind hier die strategischen, rechtlichen und teilweise gerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten auf der politischen und administrativen Ebene abzustecken? Quo vadis Umweltrechtsschutz? Soll hier wirklich das Gesetz des ewigen Wachstums gelten? Soll es wirklich das Gesetz des „immer mehr“ Rechtsschutz geben? Und heißt eigentlich mehr Umweltrechtsschutz wirklich automatisch mehr Umweltschutz? Das ist jedenfalls dort unwahrscheinlich, wo es um die zunehmenden Fälle des „Umweltschutzes kontra Umweltschutz“ (wie z. B. bei der „Energiewende“) geht. Wird es künftig weitere Erleichterungen bei der Klagebefugnis und dafür eine gewisse Reduktion der inhaltlichen Kontrollintensität durch die Gerichte geben? Das war das Konzept des UGB, das auf Beifall, aber auch auf Kritik gestoßen ist. Die Frage nach der Zukunft des Umweltrechtsschutzes ist insgesamt schwer absehbar. Die Leitfrage der Podiumsdiskussion, welche sich heute Nachmittag an die Vorträge anschließen wird, heißt demgemäß auch: „Was soll die Zukunft bringen: mehr oder weniger oder anderen Rechtsschutz im Umweltrecht?“. Was sollen eigentlich die aufwändigen Verwaltungs- und -gerichtsverfahren, wenn „Shitstorms“, Demonstrationen und Medienaufregungen Verwaltungsbescheide und Gerichtsurteile faktisch zu Altpapier machen? Das führt dann allerdings auch insgesamt zu der Frage, ob das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht noch ungehobene Befriedungsreserven bergen oder – rechtspolitisch – bergen könnten. Ich bin gespannt auf die Diskussionsbeiträge aus Wissenschaft, Anwaltschaft, Richterschaft, Verwaltung und Verbänden sowie auf die Beiträge aus dem Plenum. Doch auch schon in den Diskussionen im Anschluss an die einzelnen Vorträge freue ich mich auf die fruchtbringende Beteiligung von Ihnen allen. 7.  Um bei all den angedeuteten Entwicklungstendenzen, Streitigkeiten und offenen Rechtsfragen des Umweltrechtsschutzes nicht von vorneherein die Orientierung zu verlieren, erscheint es sinnvoll, sich dem Gegenstand der heutigen Tagung zunächst mit umfassend umfassendem Blick zu nähern. Diese Perspektive der Übersicht des Gipfelstürmers soll uns nun Jörg Berkemann, früherer Richter am Bundesverwaltungsgericht und langjähriger Akteur der Umweltrechtswissenschaft, geben. Sein Referat soll in die Gesamtthematik einführen, praktische und wissenschaftliche Aspekte verbinden und vielleicht durch die eine oder andere zugespitzte Bemerkung unsere Neugier wecken und vielleicht später auch unsere Diskussionsfreudigkeit steigern.

Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht Von Jörg Berkemann

I. Sinn des Rechtsschutzes überhaupt – ein „volles“ Seminarthema für sich 1. Die Sicht des Allgemeinwohls – Grundsatz der Effektivität der Dritten Gewalt Verfassungsrechtlich ist die mit dem Beitragstitel thematisierte Rechtslage und Fragestellung ohne „äußeren“ Zweifel. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG fordern die prozessuale Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes. Ergänzt wird dies institutionell durch Art. 92 ff. GG. Es ist insgesamt das integrierende Arbeitsprogramm der Dritten Gewalt. Üblicherweise pflegen die Gerichte selbst noch ein Attribut hinzuzufügen. Der eingeräumte oder einzuräumende Rechtsschutz muss „effektiv“ sein. Dass dieses epí-theton offenbar nötig ist, gibt zu denken. Das BVerfG betont diesen Zusatz unverändert, zumeist allerdings im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG und mit grundrechtlichem Akzent.1 Der EuGH sieht sich ebenfalls dem Grundsatz des „effektiven Rechtsschutzes“ verpflichtet.2 Beiden Gerichten dient der Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes als eine erinnernde Aufforderung, nicht im Formalen stecken zu bleiben. Alle Gerichte sind – im Grundsatz – verpflichtet, im Rahmen eines prozessual zulässigen Verfahrens einen staatlichen Akt in rechtlicher und auch in tatsächlicher Hinsicht vollständig zu überprüfen. Es besteht ein substantieller Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle.3 Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsicht1  Vgl.

näher nochmals unten zu III.1., S. 48. etwa EuGHE 1995, I-4599 Rn. 12 – Peterbroeck; EuGHE 2004 I-723 Rn. 67 – Delena Wells; EuGHE 2007 I-227 Rn. 37 – Unibet; EuGHE 2008, I-2483 Rn. 46 – Impact; EuGHE I-1255 Rn. 48 – Slowakischer Braunbär. 3  BVerfGE 113, 273 (310) – Europäischer Haftbefehl. 2  Vgl.

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lich dessen, was gerade im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus.4 Beruht beispielsweise die angefochtene behördliche Entscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, so ist deren Konkretisierung grundsätzlich Sache der Gerichte, welche die Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden uneingeschränkt nachzuprüfen haben. Das ist die allgemeine verfassungsrechtliche Ausgangslage. 2. Verfassungsrechtliche Verschärfung: Die Sicht des Individualinteresses Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz folgt zudem ein Anspruch des Bürgers auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle des angegriffenen Hoheitsaktes, wenn er „in seinen Rechten“ betroffen wird.5 Die materiell geschützte Rechtsposition ergibt sich allerdings nicht aus Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG selbst, sondern wird dort vorausgesetzt.6 Neben den verfassungsmäßigen Rechten bestimmt das „einfache“ Recht, welche Rechte der Einzelne geltend machen kann. Das kann und wird auch das „einfache“ Umweltrecht sein. Immer wieder wird dazu erörtert, ob den Behörden eine Befugnis zur Letztentscheidung eingeräumt ist oder werden darf. Das kann hier nicht im Prinzipiellen vertieft werden. Der Gesetzgeber ist jedenfalls nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Die durch Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG garantierte Effektivität der Gerichte darf er nicht „durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln“.7 Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets – zumindest – eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds. Darauf wird noch näher einzugehen sein. 3. Vorläufige Fragen nach Besonderheiten im Umweltrecht Strukturelle prozessuale Besonderheiten für das Umweltrecht sind – vorbehaltlich der Verbandsklagerechte – zunächst nicht erkennbar. Das deutsche nationale Prozessrecht verfolgt im Grundsatz den Gleichlauf der jeweiligen materiellen Rechts- und Sachmaterie. Die VwGO „gilt“ also auch für das Umweltrecht. 4  BVerfG, NVwZ 2011, 1062 Rn. 68 mit Bezug auf BVerfGE 15, 275 (282); 61, 82 (110 f.); 84, 34 (49); 84, 59 (77); 101, 106 (123); 103, 142 (156). 5  BVerfGE 113, 273 (310) – Europäischer Haftbefehl; 40, 272 (275). 6  Vgl. BVerfGE 61, 82 (110); 78, 214 (226); 83, 182 (194 f.); 84, 34 (49). 7  BVerfG, NVwZ 2011, 1062.



Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht

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Allerdings: Das Umweltrecht hat als Querschnittsrecht eine inhaltliche Tendenz, keine subjektiven Rechte zu normieren und – gegenläufig – das Allgemeininteresse zu betonen. Die prozessualen Besonderheiten können den Eindruck vermitteln, im Umweltrecht sei bereits per se auch inhaltlich eine reduzierte Rechtskontrolle gegeben. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass im Umweltrecht eine gewisse Häufung von unbestimmten, jedenfalls neuartigen Rechtsbegriffen gegeben zu sein scheint. Für den Rechtsanwender ist dies ungewohnt. Wenn er daraus den Schluss auf eine umweltrechtliche Diffusität, ja Beliebigkeit im Sinne einer heisenbergschen Unschärferelation zieht, mag das verständlich sein, bleibt indes verfehlt. Beruht die angefochtene Entscheidung oder das Verhalten der Exekutive auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, so ist deren Konkretisierung der semantischen Unschärfe grundsätzlich Sache der Gerichte, welche die Rechtsanwendung der Exekutive uneingeschränkt nachzuprüfen haben. Die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens gelten nicht ohne weiteres auch für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Immerhin kann man fragen, ob es „eigenständiges“ Umweltschutzprozessrecht kraft richterlicher Spruchpraxis gibt. Das ist in Ansätzen zu bejahen. Allerdings sind diese schwer zu erfassen. Eine derartige Praxis wird etwa dann erkennbar, wenn die Gerichte für Teilbereiche eine richterrechtliche Dogmatik entwickeln, auf die sie zitierend zurückgreifen. Als Beispiel kann die Rechtsprechung des BVerwG zur naturschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative dienen. Diese Rechtsprechung hat sich unabhängig von der jeweils anzuwendenden Rechtsnorm entwickelt. Darauf wird noch einzugehen sein. Inzwischen betont Art. 9 Abs. 4 Århus-Konvention (1998) eine umweltschutzprozessuale Sicht, wenn normiert wird: „Zusätzlich und unbeschadet des Absatzes 1 stellen die in den Absätzen 1, 2 und 3 genannten Verfahren angemessenen und effektiven Rechtsschutz und, soweit angemessen, auch vorläufigen Rechtsschutz sicher; diese Verfahren sind fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer. Entscheidungen nach diesem Artikel werden in Schriftform getroffen oder festgehalten. Gerichtsentscheidungen und möglichst auch Entscheidungen anderer Stellen sind öffentlich zugänglich.“ Dass die Konvention ebenfalls den Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes hervorhebt, gibt natürlich auch hier zu denken. Es scheint also nicht alles zum Besten bestellt zu sein. Ein Argwohn ist nicht zu übersehen. Sonst gäbe es kaum Anlass, den Gesichtspunkt der Effektivität ausdrücklich hervorzuheben. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Umweltschutzregelung der Art. 191, 192 AEUV selbst nicht ausdrücklich den Gesichtspunkt eines unionsrechtlichen Umweltprozessrechts kennt. Die Perspektive primären Unionsrechtes ist hier nur materiell-rechtlich konzipiert. Die Entscheidung des EuGH zum „slowakischen Braunbär“ vom 8.  März 2011 könnte

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eine richterliche Rechtsschöpfung bedeuten, welche dieses prozessuale Defizit auszugleichen beginnt.8 4. Verfassungsrechtlich zulässige Beschränkungen des Rechtsschutzes? Der (deutsche) Gesetzgeber ist berechtigt, den Rechtsschutz unter Beachtung der Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips einzuschränken. Art. 20 Abs. 3 GG schließt nicht aus, dass der Gesetzgeber der Verwaltung Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume eröffnet, welche die Rechtskontrolle von Exekutivakten durch die Gerichte prozessual einschränken.9 Dazu bedarf der Gesetzgeber allerdings stets legitimer Gründe. Insoweit hat er – geht man vom Prinzip des umfassenden gerichtlichen Rechtsschutzes aus – die Argumentationslast. Er darf das System der Gewaltenteilung nicht strukturell verschieben. Das bedeutet zunächst einmal auch, dass die Gerichte „grundsätzlich“ keine Beurteilungsspielräume erfinden dürfen. Eine dahin gehende Ermächtigung kann allerdings dem (äußeren) Wortlaut oder auch dem Sinngehalt einer Vorschrift entnommen werden.10 Davon wird bei der sog. naturschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative nicht eben selten etwas zu rasch Gebrauch gemacht.11 Nur weil eine Frage empirisch „schwierig“ ist, rechtfertigt dies noch nicht die Annahme einer Einschätzungsprärogative gerade der Administration. Es ist auch ein grundlegender (dogmatischer) Irrtum, dass bereits unbestimmte Rechtsbegriffe behördliche Einschätzungsprärogativen indizieren. Sie ermöglichen diese zwar, aber legitimieren sie deshalb noch nicht. Daran 8  EuGH, U. v. 8.3.2011 – Rs. 240 / 09 (Lesoochranárske zoskupenie VLK) – NVwZ 2011, 673 (Braunbär); vgl. dazu Berkemann, Der slowakische Braunbär im deutschen Prozessrecht – Eine Analyse von EuGHE 2011 I-1255, in. DVBl 2013, 1137. Vgl. auch allgemein Kment, UPR 2013, 41; E. Rehbinder, EurUP 2012, 23; Schlacke, ZUR 2011, 312; Leidinger, NVwZ 2011, 1345; B. W. Wegener, ZUR 2011, 363; Schima, Unionsrechtliche Vorgaben für den gerichtlichen Rechtsschutz, in: W.  Hummer (Hrsg.), Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, Wien 2010, S. 337; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233; J. Ziekow, NVwZ 2010, 793; Calliess, NVwZ 2006, 1; B. W. Wegener, Rechtsschutz im europäischen (Umwelt-)Recht – Richterrechtliche und sekundärrechtliche Bausteine und Fehlercodes unionaler Dogmatik, in: R. Hendler u. a. (Hrsg.), UTR 98 (2008), S. 319. Nunmehr auch BVerwG, NVwZ 2014, 64 Rn. 38 mit Bespr. Bunge, ZUR 2014, 3; Frenz, UPR 2014, 1; Schlacke, NVwZ 2014, 11; Porsch, NVwZ 2013, 1393. 9  BVerfG [K], DVBl 2012, 230; BVerfGE 129, 1. 10  Richtig BVerwGE 81, 12 Rn. 80. 11  Anders die Sicht pointiert von BVerwG, NVwZ 2013, 1411; BVerwGE 131, 274 Rn. 67 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen).



Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht17

ändert auch nichts, dass jede fallbezogene Präzisierung immer auch ein Akt wertender Erkenntnis ist.12 Sind die vom Gesetzgeber gesetzten Rechtsnormen so unbestimmt, dass sich der Administration oder den Gerichten faktisch ein Beurteilungs- und Bewertungsspielraum eröffnet, muss über die Frage des rechtsstaatlich vorgegebenen Bestimmtheitserfordernisses nachgedacht werden.13 Diese Frage stellt sich z. B. in Niedersachsen für die Frage, ob der Gesetzgeber die Höhe der Ersatzleistungen in Geld (vgl. dazu § 15 Abs. 6 und 7 BNatSchG 2009) hinreichend determiniert hat.14 Dies ist umso bemerkenswerter, weil es sich für die Vorhabenträger um belastende Verwaltungsakte handelt.

II. Einzelne (immanente) Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht Man kann versuchen, Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht zu systematisieren. Das soll hier in Ansätzen unternommen werden. Im Kern geht es um die Frage, ob es einen Bereich im Rechtsschutz gibt, den man als ein (eigenständiges) Umweltprozessrecht bezeichnen könnte. Weiterführende Arbeiten, welche diesen Aspekt grundsätzlich herausarbeiten, fehlen bislang. Einiges kann man allerdings zusammenführen. Immanente Grenzen des Umweltprozessrechtes ergeben sich aus prozessualen Vorgaben jeder gerichtlichen Rechtsschutzgewährleistung. Daneben enthält das anzuwendende materielle Recht mittelbar Vorgaben. In beiden Bereichen geht es auch um Systemgrenzen der „Dritten Gewalt“. 1. Immanente Gründe des „nicht-effektiven“ Rechtsschutzes („eigene“ Funktionsgrenzen der Rechtsprechung) Es gibt externe und immanente Funktionsgrenzen in jeder Rechtsprechung. Verfassungsrechtlicher Rechtfertigungsgrund für eine Einschränkung ist, die Effektivität des Rechtsschutzverfahrens selbst zu gewährleisten, da andernfalls die Justiz nicht mehr handlungsfähig sein könnte und damit letztlich das Rechtsschutzsystem insgesamt ineffektiv wäre. Hier werden allerdings vielfach Scheinargumente eingeführt, nämlich etwa die Begrenzung finanzieller Mittel in der Ausstattung der Justiz in sächlicher und 12  Insoweit

unsicher BVerwG, DVBl 2006, 1524 Rn. 14. 103, 332 (384); BVerfG, NJW 2012, 3357 Rn. 118; BVerfGE 126, 170 (196); 86, 288 (311); 28, 175 (183); 108, 186. 14  Vgl. § 6 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Bundesnaturschutzgesetz (NAGBNatSchG) vom 19.  Februar 2010 (Nds. GVBl. 2010, 104). 13  BVerfGE

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personeller Hinsicht. Die damit geltend gemachte justizielle Ressourcenknappheit ist und bleibt ein rechtsstaatliches Ärgernis. Legitime Gründe, die Arbeitsfähigkeit der Gerichte von vermeidbaren Belastungen freizuhalten, gibt es an sich nicht wenige. Es sind hier in erster Linie prozessuale Mechanismen. Man kann z. B. die Untersuchungsmaxime des § 86 Abs. 1 Halbs. 1 VwGO mit zumutbaren Darlegungslasten kombinieren. Auch Regeln über die prozessuale Präklusion gehören hierher, obwohl es insoweit auch andere legislatorische Zielsetzungen geben kann. Diese sind vielfach dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und der Prozessbeschleunigung zuzuordnen. Hier wird – z. B. mit den Mitteln der Bestandskraft oder der Planerhaltung – formale Rechtssicherheit erzeugt, ohne dass dies mit den Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes selbst etwas unmittelbar zu tun hat. Man kann – darauf zielen Präklusionsregelungen prozessualer oder materiell-rechtlicher Art – für die Beteiligten eine vorprozessuale Belastungsstruktur erzeugen. Dies zu entscheiden, ist grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten. Die Gerichte selbst unterliegen – vorbehaltlich § 87b VwGO – einem Erfindungsverbot. In diesem Zusammenhang ist auf das interessante Phänomen der Selbstregulierung der Gerichte aufmerksam zu machen. Zwei Beispiele sollen hier erwähnt werden: [1] Man steigert die Darlegungslasten des klagenden Beteiligten. Als formaler Grund wird dazu die in § 86 Abs. 1 Halbs. 2 VwGO genannte Mitwirkung genannt, obwohl im Gesetz keine Pflicht zu Mitwirkung statuiert wird, nicht einmal eine Obliegenheit. Diese Uminterpretation kann sich dann dahingehend steigern, dass ein Präsident des BVerwG seine richterlichen Kollegen ermahnt, sie sollten „nicht ungefragt auf Fehlersuche“ gehen.15 Das BVerwG ist dem zunächst gefolgt.16 Später hat es sich korrigiert. Das Gericht meint, eine „ungefragte“ gerichtliche Fehlersuche sei im Zweifel dann nicht sachgerecht, wenn sie das Rechtsschutzbegehren des Klägers aus dem Auge verliert.17 [2] Eine von den Gerichten selbst geübte Einschränkung ist die durchweg rigide Praxis, Beweisanträge restriktiv zu behandeln. Das gilt etwa auch für die Ablehnung weiterer Gutachten, wenn die beklagte Behörde sich über einen „eigenen“ Sachverständigen bereits kundig gemacht hatte, was ihres Amts ist.18 Beide Beispiele sind dem all15  Sendler, Über richterliche Kontrolldichte in Deutschland und anderswo, in: NJW 1994, 1518; vgl. auch Hien, NVwZ 1997, 422; vgl. auch ders. Äußerungen auf dem 14. Deutschen Verwaltungsrichtertag (6.5.2004) in Bremen, referiert bei Quaas, VBlBW 2004, 461. 16  BVerwG, DVBl 1980, 230; BVerwG, NVwZ 1994, 281; BVerwG, Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 19; BVerwGE 108, 71 (76), BVerwG, NVwZ 2002, 83 Rn. 17. 17  BVerwGE 116, 188; BVerwG, Beschl. v. 3.7.2013 – 9 B 5.13 – juris Rn. 6. 18  Vgl. etwa BVerwG, NVwZ 2011, 177.



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gemeinen Prozessrecht zuzuordnen. Sie wirken sich allerdings im Umweltrecht in spezifischer Weise aus, weil hier für den Einzelnen die Informationslage besonders problematisch ist. Daran hat das Umweltinformationsrecht nichts wirklich ändern können. Das unionsrechtlich vorgegebene Informa­ tionsrecht hat – so scheint es derzeit – noch nicht zu einer umfassenden Bereitschaft der Behörden geführt, „alles auf den Tisch zu legen“. Als Grundsatz kann gelten: Die gerichtliche Kontrolle kann nicht weiter reichen als die materiell-rechtliche Bindung der Instanz, deren Entscheidung überprüft werden soll. Sie endet deshalb dort, wo das materielle Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt.19 Darauf wurde schon hingewiesen. Es ist dann eher die Frage, ob dieser Zustand unzureichender Determinierung des materiellen Rechts seinerseits verfassungsrechtlich hinzunehmen ist.20 Zudem gibt es immanente Grenzen einer verantwortbaren Rechtskontrolle.21 Sie liegen in einer Verwobenheit normativer und anwendungsbezogener, also empirischer Entscheidungselemente. So sind Werturteile selbst einer beweismäßigen Prüfung nicht zugänglich. In zahlreichen Rechtsgebieten ist dies der Fall. Das bedeutet noch nicht, dass insoweit eine gerichtliche Entscheidung ausgeschlossen ist. Die Frage ist vielmehr, ob alsdann das Gericht ein „Werturteil“ zu sprechen hat. Das bezweifelt zum Beispiel niemand für die Frage, ob im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB „noch“ ein Bebauungszusammenhang gegeben ist. Das erfordert fast immer eine „bewertende“ Feststellung. Unbestimmte Gesetzesbegriffe können wegen hoher Komplexität oder besonderer Dynamik der geregelten Materie so vage und ihre Konkretisierung im Nachvollzug der Verwaltungsentscheidung so schwierig sein, dass die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt. Dies bedeutet zumindest faktisch, dass der entscheidenden Behörde ohne Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze ein begrenzter Entscheidungsfreiraum zufällt.22 Darauf wird sogleich näher einzugehen sein. Diese hohe materiellrechtliche Komplexität kann man auch als Grenzen der immanenten Funk­ tionsfähigkeit der Judikate beurteilen. Das kann alles auch für das querschnittsbezogene Umweltrecht der Fall sein. Die gewünschte Effektivität des Rechtsschutzes findet dann faktisch in den vorgegebenen Strukturprinzipien gerichtlicher Rechtsfindung ihre Grenze. Dabei macht es z. B. keinen Unter19  BVerfGE

116, 1; 103, 142; 88, 40. BVerfGE 84, 239 (Durchsetzung bei der Steuererhebung). 21  Vgl. BVerfGE 84, 59 (medizinische Prüfung – Multiple-Choice-Verfahren III); BVerfG [K], DVBl 2002, 1203. 22  Vgl. BVerfGE 54, 173 (197); 61, 82 (114); 83, 130 (148). 20  Vgl.

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schied, ob die unausweichlichen Prognosespielräume vom Bundesrecht oder vom Landesrecht statuiert werden. Denn die von der Rechtsprechung für Prognoseentscheidungen entwickelte immanente Kontrollrestriktion, die mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang steht, ist dem bundesrechtlichen Verwaltungsprozessrecht zuzurechnen.23 2. Materiell-rechtliche Grenzen: Rechtsregeln mit (zu) hoher Komplexität a) Befunde: Änderungen in den Rechtsstrukturen Das Umweltrecht ist in unterschiedlicher Weise strukturiert. Teilweise ist es hochkomplex, indem weitgehend Zielvorgaben normiert sind. Daneben stehen Regelungen, die in ihrer tatbestandsmäßigen Ausdifferenzierung geradezu eine Detailverliebtheit zum Ausdruck bringen. Ein einheitliches Strukturmuster gibt es nicht. aa) Grenzen oder Aufgabe syllogistischer Rechtsfindungsprozesse Im römischen Prozessrecht war die Lage einfach und wie folgt: Der Betroffene wandte sich an den Quaestor und trug ihm seine Beschwer vor. Der Quaestor suchte sich eine geeignete Klageform heraus und beauftragte den Judex, die zugehörigen Fakten festzustellen. Die Rechtsregel „da mihi factum, dabo tibi ius“ skizziert diese Struktur. Das Modell ist ein-dimensional. Es ist gleichsam das Urbild einer syllogistischen Rechtsanwendung. Semantische Fragen sind ausgeblendet. Das Recht wird hier steuernd und zieldefinit eingesetzt. Es bedingt, dass Zielkonflikte verallgemeinernd, also abstrakt aufgelöst werden können. Das gilt jedenfalls, wenn man kein kasuistisches Fallrecht betreibt. bb) Umweltrecht: Neue materiell-rechtliche Muster (Querschnittsrecht) Bei einer hohen Komplexität von Zielkonflikten ist eine syllogistische Lösung nicht mehr problemadäquat. Man kann noch versuchen, durch Anreicherung differenzierender Tatbestandsmerkmale – also etwa durch Anreicherung mit zusätzlichen Sachverhaltsvarianten – ein syllogistisches Modell im Sinne eines Ablaufschemas möglichst lange aufrechtzuerhalten. Aber eigentlich hat längst ein materiell-rechtlicher Systemwechsel stattgefunden. Dafür kann das frühere Umweltschutzrecht der 1970er Jahre prototypisch 23  BVerwGE

116, 188 Rn. 27 (Handelsmarktsatzung).



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gelten. Das unionsrechtliche Naturschutzrecht und das unionsrechtliche Umweltverträglichkeitsrecht haben diese Entwicklung verstärkt. Die sich verstärkende Betonung der Beteiligung der Öffentlichkeit kann insoweit – jenseits einer demokratischen Grundauffassung – auf einen Paradigmenwechsel hindeuten. Die moderne Industriegesellschaft hat erkannt, dass dieses ursprünglich eher zivilistische Modell der „syllogistischen Prüfung“ und Entscheidung im öffentlichen Recht nur eingeschränkt systemadäquat sein kann. In dogmatischer Sprache heißt dies: In wichtigen Bereichen musste man das Konditionalprogramm durch ein Finalprogramm substituieren oder jedenfalls ergänzen. Die Rechtsinstitute des Ermessens, der Ausnahme, der Befreiung u.s.f. waren damit geboren. Im Zivilrecht blieben repressive Generalklauseln wie Sittenwidrigkeit und Treu und Glauben (§ 138 BGB, § 242 BGB). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg geht man im öffentlichen Recht zu einem weiteren Modell der problemkonkretisierenden und problemauflösenden Abwägung über. Das klassische Muster befindet sich in § 1 Abs. 7 BauGB. Das Fachplanungsrecht hat es übernommen. Die Rechtsprechung hat inzwischen in verschiedenen Bereichen auch die Figur der „nachvollziehenden“ Abwägung entwickelt. Bereits die Wortwahl verweist auf eine Reduktion gerichtlicher Kontrollintensität. b) Beispiel: Zwischen Konditional- und Finalprogramm – Änderung der Kontrollperspektive? aa) Grundstrukturen Der Übergang von einem Konditionalprogramm zu einem zielorientierten Finalprogramm musste die gerichtliche Kontrollfähigkeit der Anwendung des materiellen Rechts und damit den Rechtsschutz inhaltlich verändern.24 Denn nunmehr musste auch und vielleicht sogar in erster Linie gefragt werden, worauf sich der verfassungsrechtlich geforderte Rechtsschutz eigentlich bezieht. Um diese Frage sehr einfach als denkbare Varianten zu bestimmen, heißt dies für den Rechtsschutz etwa: • Soll nur die Phase der Produktion des Ergebnisses oder • das Ergebnis selbst gerichtlicher Kontrolle unterworfen werden oder • gibt es eine Zwischenlösung im Sinne von weder das eine noch das andere allein • oder ist die Frage bereits im Ansatz falsch gestellt. 24  Vgl. dazu auch BVerwGE 117, 25 (Planungserfordernis für Einkaufszentrum [Factory Outlet Center] im Außenbereich).

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Diesen Streit gibt es und er dauert an. In ihm gibt es nicht zu übersehende politische Auffassungen, die interessenbezogen sein können und es vielfach auch sind. Die Antworten fallen für den Rechtsschutz im deutschen und im Unionsrecht zudem durchaus unterschiedlich aus. Bleibt man beim deutschen Recht, dann sieht man bereits im Planerhaltungsrecht des BauGB in § 214 Abs. 1 die Unentschlossenheit. § 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB bezieht sich auf die verfahrensrechtlich geleitete Produktionsarbeit. Hingegen ist § 214 Abs. 3 Satz  2 BauGB eher ergebnisbezogen, beide Ansätze sind mit einem Evidenzkriterium garniert. Jüngere Entscheidungen des EuGH betonen die verfahrensbezogene Sichtweise.25 Dessen prägender Einfluss wird auf das Verständnis des deutschen Umweltrechtes nicht geleugnet werden können. Das bedeutet für den Rechtsschutz gleichzeitig eine Verschiebung der Kontrollelemente. bb) Beispiel: Abwägung Das Institut der planerischen Abwägung ist eine bemerkenswerte juristische „Erfindung“ Anfang der 1950er Jahre. Das so genannte Abwägungsmodell verbindet verschiedene Strukturelemente einer rationalen Entscheidung mit rechtstaatlich geforderten Begründungsanforderungen. Es bleibt eine Leistung von Spitzenjuristen des BVerwG, dieses Modell der Rechtskontrolle als solches erkannt und gegenüber einem eher naiven Gesetzgeber umgesetzt zu haben.26 (1) A  bwägung nach § 1a Abs. 3 BauGB – „deutsches“ Naturschutzrecht Die Vermeidung und der Ausgleich voraussichtlich erheblicher Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes sowie der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts sind gemäß § 1a Abs. 3 Satz 1 BauGB „in der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB“ zu berücksichtigen. Ergänzend bestimmt § 1a Abs. 5 Satz  1 BauGB: „Den Erfordernissen des Klimaschutzes soll sowohl durch Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken, als auch durch solche, 25  Vgl. jüngst EuGH, DVBl 2013, 1597 (Altrip); vgl. auch EuGHE 2004 I-723 Rn. 65 – Delena Wells; Folgerungen zieht ohne Rückgriff auf das UmwRG ­BVerwGE 131, 352 Rn. 26 – Putenmastfall (§ 35 BauGB). 26  Vgl. Koch, Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: Erbguth u. a. (Hrsg.), Abwägung im Recht, 1996, S. 9–24; ders., Das Abwägungsgebot im Planungsrecht, in: DVBl 1983, 1125–1133; Berkemann, Das „Abwägungsmodell“ des BVerwG (BVerwGE 34, 301 [1969]) – Entstehungsgeschichte und Legendenbildungen, in: DVBl 2013, 1280–1292.



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die der Anpassung an den Klimawandel dienen, Rechnung getragen werden.“ Diese als Grundsatz bezeichnete Regelung ist gemäß § 1a Abs. 5 Satz  2 BauGB in der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zu berücksichtigen. Hier hat sich in der Praxis die Sprachregelung „wegwägen“ etabliert. Man darf fragen, welche Bedeutung derartige materiell-rechtliche Konstruktionen für den Rechtsschutz haben. Darauf hat das BVerwG 1997 eine Antwort zu geben versucht. Sie ist kaum inhaltlicher, sondern im Kern verfahrensbezogener Art. Die Antwort besteht in einer „Steigerung“ einer rechtfertigenden Begründung, die der Entscheider zu geben hat.27 Die Gemeinde wird also unter Argumentationsdruck gesetzt. Eine Zurückstellung der Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege komme folglich nur zugunsten entsprechend gewichtiger anderer Belange in Betracht. Dies bedürfe besonderer Rechtfertigung. Die Gemeinde müsse die Belange, die sie für vorzugswürdig hält, präzise benennen. In funktionaler Hinsicht liegt hier eine Reduktion des Rechtsschutzes vor, weil bereits das materielle Recht der gerichtlichen Kontrolle immanente Funktionsgrenzen setzt. Dahinter steht zum einen die Vorgabe der Planungshoheit der Gemeinde (Art. 28 Abs. 2 GG), der auch verfassungsrechtlich vorgegebene Schutz der Umwelt (Art. 20a GG) und die Betroffenheit des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG). Zum anderen steht man vor den immanenten Grenzen jeder Abwägungsstruktur. Das ist im Kern ein deontologisches Problem und führt uns an die Grenzen der Rationalität jeder abwägenden Entscheidung.28 (2) „Nachvollziehende“ Abwägung (§ 35 BauGB) Ist über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 35 Abs. 1 BauGB zu entscheiden, hat die zuständige Behörde auch die naturschutzrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens zu prüfen.29 Das BVerwG hat hierzu das Modell der „nachvollziehenden“ Abwägung kreiert.30 Im Wege einer „nachvollziehenden Abwägung“ soll festgestellt werden, ob einem durch § 35 Abs. 1 BauGB privilegierten Vorhaben öffentliche Belange 27  Vgl.

BVerwGE 104, 68. etwa Bormann, Deontologische Ansprüche und die Grenzen der Abwägung in der Gerechtigkeitstheorie bei John Rawls, in: ders. / Christian Schroer (Hrsg.), Abwägende Vernunft, Berlin 2004, S. 450–470. Vgl. grundlegend Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010; ders., Collective Choice and Social Welfare, 1970; Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates („Justice interruptus“), Frankfurt / M. 2001. 29  BVerwGE 137, 74 Rn. 35. 30  Vgl. u. a. BVerwG, DVBl 2005, 706 Rn. 18; BVerwGE 115, 17 Rn. 20 – Gipsabbau im Außenbereich; vgl. bereits BVerwGE 28, 148 Rn. 12. 28  Weiterführend

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im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz  1 BauGB entgegenstehen. Dieses Modell ist umso bemerkenswerter, als § 35 Abs. 3 Satz  1 BauGB keine abschließende Regelung der öffentlichen Belange normiert. Der Sache nach handelt es sich also um eine „offene Relation“. „Nachvollziehende Abwägung“ meint hier also einen Vorgang der Rechtsanwendung, der eine auf den Einzelfall ausgerichtete Gewichtsbestimmung verlangt: Das wirft die zusätzliche Frage auf, wer die Definitionsmacht hat, ob ein öffentlicher Belang überhaupt vorliegt, der in die „nachvollziehende“ Abwägung einzustellen ist.31 Ob sich die öffentlichen Belange im Einzelfall durchsetzen, ist dann eine Frage ihres jeweiligen Gewichts und der Abwägung mit dem Vorhaben, zu dem es konkret in Beziehung zu setzen war. Innerhalb dieser Beziehung ist dem gesteigerten Durchsetzungsvermögen privilegierter Außenbereichsvorhaben (§ 35 Abs. 1 BauGB) gebührend Rechnung zu tragen, heißt es. Voraussetzung der nachvollziehenden Abwägung ist, dass die Entscheidung Wertungen zugänglich ist, die gewichtet und abgewogen werden können. Im Einzelnen bestimmt sich das Gewicht sowohl der Privilegierung als auch das der öffentlichen Belange anhand einer Bewertung des Einzelfalles.32 Obwohl die Rechtsprechung beteuert, die „nachvollziehende Abwägung“ unterliege uneingeschränkt richterlicher Kontrolle, ist dies faktisch nicht der Fall. Es findet keine autonome richterliche Gewichtung statt, obwohl dies durchaus möglich wäre. In der Realanalyse wird die von der zuständigen Behörde gegebene Begründung analysiert und auf ihre Tragfähigkeit geprüft. cc) Zuspitzung: Verfahrensrichtigkeit versus Ergebnisrichtigkeit Wer sich für die Dominanz der Verfahrensrichtigkeit ausspricht, reduziert gleichzeitig die Funktion der Ergebnisrichtigkeit, ja er spielt die von ihm akzeptierte Prävalenz des korrekten Verfahrens gleichsam konstitutiv gegen die inhaltliche „Richtigkeit“ aus. § 46 VwVfG sieht dies anders. Restbestände einer derartigen Vorstellung sind im Planerhaltungsrecht des § 214 Abs. 1 Satz  1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 3 BauGB einerseits und § 214 Abs. 3 Satz  2 BauGB andererseits zu besichtigen. Seit der Entscheidung des EuGH in Sachen Delena-Wells (UVP-RL) aus dem Jahr 2004 wird man sich im unionsrechtlichen Umweltrecht an eine nicht-deutsche Betrachtungsweise gewöhnen müssen.33 Der Gerichtshof hat 31  BVerwG,

DVBl 2005, 706 Rn. 18. BVerwG, NVwZ-RR 1992, 401 Rn. 31 (Wahl des Standortes auf dem Außenbereichsgrundstück – Wirtschaftsgebäude für Bienenzucht). 33  EuGHE 2004 I-00723 – Delena Wells. 32  Vgl.



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in dieser Entscheidung die gerichtliche Prüfung der „inhaltlichen“ Richtigkeit zugunsten der Korrektheit des zu beachtenden Verfahrens reduziert. Im Jahre 2008 ist ihm darin das BVerwG im sog. Putenmast-Fall zumindest partiell gefolgt.34 Der Sache nach handelt es sich – jedenfalls aus der Sicht deutscher Tradition – um eine Reduktion der gerichtlichen Entscheidungskompetenz. So werden es die einen sehen. Andere werden den Gesichtspunkt der Entlastung hervorheben. Das Gericht ist danach nicht mehr mit der Frage belastet, ob der Verfahrensmangel für das Ergebnis kausal ist. Dies hat immer etwas Spekulatives an sich. Die Sache wird nicht besser wenn man das Kriterium der Offensichtlichkeit einfügt (so etwa § 214 Abs. 1 Satz  1 Nr. 1 BauGB). Nota bene: Die Offensichtlichkeit bezieht sich auf das Vorliegen des Mangels, nicht etwa auf die Frage, ob der Mangel auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen ist. Das Fehlerprogramm des § 4 Abs. 1 UmwRG will sich von einer ergebnisbezogenen Kausalitätsbetrachtung lösen. Diese Sichtweise hat insoweit einen gewissen „Rückschlag“ erhalten, als der EuGH eine Erweiterung auf „wesentliche“ Mängel vorgenommen und dies mit einer der Behörde nachteiligen Argumentationslastverteilung kombiniert hat.35 3. Vorhandene oder behauptete naturfachliche Erkenntnisdefizite, die einer materiell-rechtlichen Umsetzung entgegenstehen a) These des BVerwG: „notwendige“ Einschätzungsprärogative der Exekutive aa) Inhalt der These des BVerwG Das BVerwG vertritt seit längerem die Ansicht, dass im Grundsatz naturschutzfachliche Einschätzungsprärogativen gegeben sein müssen. Seine Rechtsprechung hat sich zunächst im Planfeststellungsverfahren entwickelt.36 34  BVerwGE

131, 352. NVwZ 2014, 49 (Altrip). 36  Vgl. BVerwG, NVwZ 1993, 565 Rn. 87 (Sachsendamm); vgl. ferner BVerwGE 140, 149 Rn. 99 (Ortsumgehung Freiberg); 139, 150 Rn. 82 (Ausbau der Bundes­ autobahn A 3 im Abschnitt Anschlussstelle Würzburg) zu Fragen der Trinkwasserversorgung; BVerwG, ZfB 2011, 184 Rn. 7 (Neubau der Bundesautobahn A 14 – Teilstück Colbitz); BVerwG, DVBl 2011, 36 Rn. 60 (Neubau der Autobahn 44 (A 44) im Stadtgebiet von Bochum); BVerwGE 136, 291 Rn. 131 (Neubau der Bundesautobahn A 44 Kassel-Herleshausen im Teilabschnitt Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach); 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); 131, 274 Rn. 54 ff. (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). In BVerwG, NVwZ-RR 1992, 588 Rn. 26 bleibt die Frage für eine jagdschutzrechtliche Abschussregelung (noch) unentschieden. 35  EuGH,

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Das Gericht hat diese Rechtsprechung inzwischen auf (immissionsschutzrechtliche oder bauordnungsrechtliche) Genehmigungsverfahren übertragen.37 Heute kann man sagen, dass das BVerwG in einem sehr breiten Maße die Figur der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative in einer recht großen Bandbreite zugrunde legt.38 Dass das Gericht geneigt ist, dies auf andere umweltrechtliche Regelungsbereiche zu übertragen, wird man mutmaßen dürfen.39 Die Anzeichen mehren sich. Das BVerwG hat in seinen Entscheidungen durchaus unterschiedliche Erwägungen angeführt, aus welchen Gründen von einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative der zuständigen Behörden auszugehen sei. bb) Doppelte Rechtfertigung der These durch das BVerwG Das BVerwG rechtfertigt seine These einer naturschutz- und umweltschutzrechtlichen „Einschätzungsprärogative“ der Exekutive mit zwei Haupt­ erwägungen. Sie werden unterschiedlich „eingesetzt“, auch kombiniert. In letzter Zeit scheint das BVerwG die nachfolgende zweite Haupterwägung zu bevorzugen. Die beiden Hauptthesen lassen sich abgrenzend zumindest analytisch von einander isolieren. Zwischen beiden Thesen besteht allerdings auch eine Wechselbezüglichkeit. Zu einer näheren dogmatischen Fundierung hat das BVerwG derzeit offenbar keine Neigung. (1) R  echtfertigung I: „Fehlen einheitlicher rechtlicher ­Entscheidungskriterien“ Frühzeitig diagnostiziert das BVerwG im Naturschutzrecht das Fehlen einheitlicher rechtlicher Bewertungskriterien. Das lässt sich für den Umweltschutz verallgemeinern. Fehlt es an allgemein anerkannten einheitlichen 37  Ausdrücklich

BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 14. BVerwGE 118, 15 (Autobahn A 17 [Dresden-Prag]) zur Auswahl von FFH-Gebieten; BVerwGE 121, 72 (Ortsumgehung Michendorf [B 2]) zur Eingriffsregelung nach dem BNatSchG; BVerwGE 126, 166 (Neubau der Ortsumgehung Stralsund) zum Störungs- und Verschlechterungsverbot gemäß Art. 5 Buchst. d und Art. 13 VRL; BVerwGE 130, 299 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFHGebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau) zur Bestandserfassung und -bewertung in der FFH-Verträglichkeitsprüfung bzw. zur Eignung von Kohärenz­ sicherungsmaßnahmen; BVerwG, Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33 Rn. 14 und 45 zur Identifizierung europäischer Vogelschutzgebiete im Sinne von Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL bzw. zum günstigen Erhaltungszustand i. S. v. Art. 16 Abs. 1 FFH-RL. 39  Vgl. Gassner, Die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative, ein ungerechtfertigtes Vorrecht, in: DVBl 2012, 1479–1483. 38  Vgl.



Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht27

rechtlichen Bewertungskriterien, so wird daraus nicht etwa ein rechtsstaatliches Defizit gefolgert, das es ggf. richterrechtlich aufzufüllen gilt. Vielmehr wird in aller Regel einem behördlichen Entscheider nur zur Auflage gemacht, methodengerecht und systematisch folgerichtig zu entscheiden. Wie dies zu geschehen hat bleibt zumeist offen. In einem Judikat des ­BVerwG (1997) zum Vorläufer des § 1a Abs. 3 BauGB heißt es nur: „Es ist vielmehr Aufgabe der planenden Gemeinde, in eigener Verantwortung die zu erwartenden Eingriffe in Natur und Landschaft zu bewerten und über Vermeidung, Ausgleich und Ersatzmaßnahmen abwägend zu entscheiden“.40 Das ist bei Licht besehen nichts anderes als eine Umschreibung des Planungskonstrukts mit anderen Worten. Offenbar will das BVerwG der Gemeinde auch die Methodenwahl überlassen. Diese muss nur sachgerecht sein. Die Frage bleibt dann, nach welchen Kriterien die Sachgerechtigkeit entschieden wird. Klassisches Beispiel hierfür ist die Prüfung prognostisch begründeter Entscheidungen. Bei Verkehrsprognosen im Fachplanungsrecht (auch Bedarfsprognosen) prüft das Gericht (nur), ob die Prognose nach einer geeigneten Methode durchgeführt wurde, ob der zugrunde gelegte Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis einleuchtend begründet wurde.41 Das Gericht substituiert auch nicht die geprüfte Prognose durch eine eigene. Nur sehr selten übernimmt das BVerwG bei einem diagnostizierten Defizit selbst die „Richtigkeitsgewähr“. Einige inhaltliche Aussagen gibt es für den Prognosezeitraum. (2) R  echtfertigung II: (Allgemeine) natur- und umweltfachliche Erkenntnisdefizite Das BVerwG hat in seinen Entscheidungen durchaus unterschiedliche Erwägungen angeführt, aus welchen Gründen von einer fachlichen Einschätzungsprärogative der zuständigen Behörden auszugehen sei. Fast resignativ formulierte es: „Bei zahlreichen Fragestellungen steht – jeweils vertretbar – naturschutzfachliche Einschätzung gegen naturschutzfachliche Einschätzung, ohne dass sich eine gesicherte Erkenntnislage und anerkannte Standards herauskristallisiert hätten.“ (BVerwG 2008).42 Gleichwohl: Kritischen Ermitt40  BVerwG,

NVwZ 1997, 1215 zu § 8a BNatSchG a. F. Urt. v. 13.10.2011 – 4 A 4000.10 – juris Rn. 45 (Nachtflugprognose); BVerwG, NVwZ 2011, 175; BVerwG, DVBl 2011, 36; BVerwG, NVwZ 2008, 675 Rn. 4; BVerwGE 123, 261 Rn. 33; BVerwG, Urt. v. 24.11.2004 – 9 A 42.03 – juris Rn. 41; BVerwG, Beschl. v 2.10.2002 – 9 VR 11.02 – juris Rn. 14; BVerwGE 114, 364 (378); 107, 313 (326); 107, 142 Rn. 25 (Verkehrsflughafens Erfurt); 75, 214 (234); 56, 110 (121). 42  BVerwGE 131, 274 Rn. 63 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 41  BVerwG,

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lungsfragen begegnet das BVerwG nicht eben selten mit einem Rekurs auf eine fachliche Einschätzungsprärogative.43 Das gilt insbesondere für den Natur- und Umweltschutz. Ob diese Einschätzungsprärogative jeweils fachlich überhaupt besteht, ist eigentlich eine klärungsbedürftige tatsächliche, aber auch Rechtsfrage. Dem geht das BVerwG in aller Regel nicht nach. Es besteht – grob gesagt  – ein gewisser richterlicher Pragmatismus. Zugegeben: Selbst nach gründlicher Aufklärungsarbeit, die in Anbetracht der Vielgestaltigkeit vorhabenbedingter Einwirkungen auf ein Schutzgebiet einen außerordentlichen Aufwand erfordert, bleibt Behörden und Gerichten deshalb in vielen Punkten nichts anderes übrig, als auf unsicherer Tatsachengrundlage zu entscheiden und sich mit Abschätzungen und worst-case-Unterstellungen zu begnügen. Da Naturschutzvereine, die in Verfahren mit FFH-Bezug zunehmend als Kläger auftreten, in ähnlicher Weise wie die Behörden naturschutzfachlichen Sachverstand zu mobilisieren vermögen, überrascht es nicht, wie sperrig und zeitaufwändig Klageverfahren dieser Art mittlerweile geworden sind. Angesichts dessen liegt die Neigung nahe, die Frage zu problematisieren, ob den Planfeststellungsbehörden nicht doch in einem verstärktem Umfang fachliche Einschätzungsprärogativen bei der Beurteilung der FFH-Verträglichkeit von Projekten zuerkannt werden sollten, wie dies die Rechtsprechung den Behörden für die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (§§ 18 ff. BNatSchG) oder für die Regelungen des europäischen Artenschutzes zubilligt.44 Dieser Befund hat für das BVerwG Bedeutung für alle Ebenen der naturschutzfachlichen Prüfung, die (zumindest auch) Wertungen einschließen, also u. a. • bei der ökologischen Bestandsaufnahme, • bei deren Bewertung, • bei der Quantifizierung möglicher Betroffenheiten, • bei der Beurteilung z. B. populationsbezogener Wirkungen, • bei der Beurteilung ökologischer Wirkungszusammenhänge. Das Ergebnis der als gesetzliches Erfordernis „unverzichtbaren“ Bewertung wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem welches methodische Vorgehen und welche Kriterien und Maßstäbe angewandt werden.45 Daraus folgert das BVerwG (2008): 43  Vgl.

2]).

typisch etwa BVerwGE 121, 72 Rn. 147 (Ortsumgehung Michendorf [B

44  Nolte,

in: jurisPR-BVerwG 23 / 2008 Anm. 4. 131, 274 Rn. 65 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); 121, 72 (Ortsumgehung Michendorf [B 2]). 45  BVerwGE



Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht29 „Wenn und solange die ökologische Wissenschaft sich insoweit nicht als eindeutiger Erkenntnisgeber erweist, fehlt es den Gerichten an der auf besserer Erkenntnis beruhenden Befugnis, eine naturschutzfachliche Einschätzung der sachverständig beratenen Planfeststellungsbehörde als „falsch“ und „nicht rechtens“ zu beanstanden. Deren Annahmen sind daher nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Sie sind vom Gericht hinzunehmen, sofern sie im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind und nicht auf einem Bewertungsverfahren beruhen, das sich als unzulängliches oder gar ungeeignetes Mittel erweist, um den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Insoweit steht der Planfeststellungsbehörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu.“46

Die vorstehenden Erwägungen führen zu einer Begrenzung der gericht­ lichen Kontrolle aufgrund einer weiten naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative. Angesichts des in weiten Bereichen (noch) eingeschränkten Erkenntnisstandes der ökologischen Wissenschaft und des Fehlens wissenschaftlich anerkannter Standards würde „eine Vollkontrolle behördlicher Beurteilungen die Gerichte überfordern“.47 Mit der Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf eine Vertretbarkeitsprüfung wird gleichzeitig die artenschutzrechtliche Fehleranfälligkeit von Planfeststellungsbeschlüssen wesentlich vermindert. In einer weiteren Entscheidung ergänzt das BVerwG seine Erwägungen (2013): „Grund für die Zuerkennung einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative ist der Umstand, dass es im Bereich des Naturschutzes regelmäßig um ökologische Bewertungen und Einschätzungen geht, für die normkonkretisierende Maßstäbe fehlen. Die Rechtsanwendung ist daher auf die Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis angewiesen, die sich aber nicht als eindeutiger Erkenntnisgeber erweist. Bei zahlreichen Fragestellungen steht – jeweils vertretbar – naturschutzfachliche Einschätzung gegen naturschutzfachliche Einschätzung, ohne dass sich eine gesicherte Erkenntnislage und anerkannte Standards herauskristallisiert hätten. Sind verschiedene Methoden wissenschaftlich vertretbar, bleibt die Wahl der Methode der Behörde überlassen. Eine naturschutzfachliche Meinung ist einer anderen Einschätzung nicht bereits deshalb überlegen oder ihr vorzugswürdig, weil sie umfangreichere oder aufwändigere Ermittlungen oder „strengere“ Anforderungen für richtig hält. Das ist erst dann der Fall, wenn sich diese Auffassung als allgemein anerkannter Stand der Wissenschaft durchgesetzt hat und die gegenteilige Meinung als nicht (mehr) vertretbar angesehen wird.“48 46  BVerwGE

131, 274 Rn. 65 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). die Selbstbeurteilung durch das Senatsmitglied, Bundesrichter Rüdiger Nolte, in: jurisPR-BVerwG 6 / 2009 Anm. 6. 48  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 15 unter Bezugnahme auf BVerwGE 131, 274 Rn. 66 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen) – Hervorhebung durch den Verf.; ähnlich die Begründung in BVerwG, NVwZ 2010, 66 (Neubau der Bundesautobahn A 44 zwischen Ratingen und Velbert); BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); BVerwGE 140, 149 (Ortsumgehung Freiberg). 47  So

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Die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf die Nachvollziehbarkeit des Prüfergebnisses verdeutlicht nach Ansicht des BVerwG in vielfältiger Weise, dass der Planfeststellungsbehörde für ihre prognostische Beurteilung möglicher Umweltauswirkungen des Vorhabens ein Einschätzungsspielraum zusteht.49 Hier ermangelt es indes dem BVerwG an wissenschaftstheoretischer Klarheit. Diagnostische Unsicherheiten naturschutzfachlicher Beurteilungen werden mit der Erkenntnisunsicherheit von Prognosen über künftige Entwicklungen verwechselt. Die Befundaufnahme betrifft den Bestand. Das BVerwG billigt hier allerdings ebenfalls eine naturschutzfach­ liche Einschätzungsprärogative.50 Dass sich bestimmte naturschutzfachliche Ermittlungsmethoden herausgebildet haben, bedeutet nicht, dass bei einer Bestandsaufnahme nur nach Maßgabe dieser Erhebungsmethoden vorzugehen ist.51 Wie viele Begehungen zur Erfassung welcher Tierarten zu welchen Jahres- und Tageszeiten erforderlich sind und nach welchen Methoden die Erfassung stattzufinden hat, lässt sich natürlich nicht für alle Fälle abstrakt bestimmen, sondern hängt von vielen Faktoren ab.52 Gewiss: Eine naturschutzfachliche Meinung ist einer anderen Einschätzung auch nicht bereits deshalb überlegen, weil sie umfangreichere oder aufwändigere Ermittlungen oder „strengere“ Anforderungen für richtig hält. Angesichts der Vielzahl der Kriterien, ihrer relativen Offenheit und ihres Angewiesenseins auf die Ausfüllung durch außerrechtliche Einschätzungen gilt für die Bestandsbewertung erst recht, dass in sie einer gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugängliche Einschätzungen einfließen.53 Indes lässt sich im Regelfall sehr wohl ermitteln, was eine „gute fachliche Praxis“ ist, wie es § 2 Abs. 1, § 14 Abs. 2, § 44 Abs. 4 Satz  1 BNatSchG 2009 in einem anderen Zusammenhang formuliert. Es bleibt doch rätselhaft, wie das BVerwG die angenommene Diffusität der Befundaufnahme mit der prognostischen Erkenntnisunsicherheit verwechseln kann.54

49  BVerwGE

141, 282 Rn. 29 (Teilabschnitt der Autobahn A 44). 140, 149 Rn. 62 (Ortsumgehung Freiberg) unter Bezugnahme auf BVerwGE 130, 299 Rn. 75 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau). 51  BVerwGE 134, 166 Rn. 44 (Einfluss von Kohärenzsicherungsmaßnahmen auf Integritätsinteressenberücksichtigung). 52  BVerwGE 131, 274 Rn. 60 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); 134, 166 Rn. 44 (Einfluss von Kohärenzsicherungsmaßnahmen auf Integritätsinteressenberücksichtigung). 53  BVerwGE 130, 299 Rn. 75 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFHGebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau). 54  Zur gerichtlichen Überprüfung von Prognosen vgl. u. a. BVerwGE 139, 150 Rn. 90 (Ausbau der Bundesautobahn A 3 im Abschnitt Anschlussstelle Würzburg); 75, 214 (234) (Verkehrsflughafen München II im Erdinger Moos). 50  BVerwGE



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cc) Ergebnis: Konservative „Wissenschaftsgläubigkeit“ des BVerwG Damit zeigt sich: Das BVerwG hat eine ganz allgemeine Tendenz, sich in wissenschaftlichen Streitfragen oder einem wissenschaftlich „unklaren“ Terrain sehr zurückzuhalten. Es will ersichtlich nicht in einen Gutachterstreit verwickelt werden. Daher formuliert das BVerwG, wie bereits erwähnt: Eine naturschutzfachliche Meinung ist einer anderen Einschätzung nicht bereits deshalb überlegen oder ihr vorzugswürdig, weil sie umfangreichere oder aufwändigere Ermittlungen oder „strengere“ Anforderungen für richtig hält.55 Das ist erst dann der Fall, wenn sich diese Auffassung als allgemein anerkannter Stand der Wissenschaft durchgesetzt hat und die gegenteilige Meinung als nicht (mehr) vertretbar angesehen wird.56 Die artenschutzrechtlichen Vorschriften verlangten vom Vorhabenträger bzw. von der Planfeststellungsbehörde nicht, bei wissenschaftlichen Unsicherheiten oder Meinungsverschiedenheiten Forschungsaufträge zu vergeben.57 Die Behörde sei auch nicht verpflichtet, Untersuchungen anzustellen, deren Aufwand und wissenschaftlicher Anspruch letztlich auf derartige Forschungsaufträge hinausliefen.58 Nehme die Behörde insoweit einen nach aktuellem Erkenntnisstand fachwissenschaftlich vertretbaren Standpunkt ein, so sei dagegen rechtlich nichts zu erinnern.59 Man muss aber wohl gerichtlich zumindest ermitteln, ob es sich überhaupt um einen fachwissenschaftlich vertretbaren Standpunkt handelt. Dazu reicht es nicht aus, dass die angegriffene Behörde dies behauptet. dd) Folgen der konservativen „Wissenschaftsgläubigkeit“ des BVerwG Das BVerwG folgert aus seiner „Vertretbarkeitslehre“: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sind einer Planungs- oder Zulassungsentscheidung in der Regel erst dann zugrunde zu legen, wenn sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt und allgemeine Anerkennung – nicht notwendig einhellige Zustimmung – gefunden haben. Ein neuer Stand der Wissenschaft ist aber nicht erreicht, solange bisher anerkannte wissenschaftliche Aussa55  BVerwG, NVwZ 2009, 1296 Rn. 87 (Ausbau und Verlegung der Bundesautobahn A 4 zwischen Kerpen und Düren). 56  BVerwGE 131, 274 Rn. 66 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 57  BVerwGE 131, 274 Rn. 66 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); 128, 1 Rn. 66 (Westumfahrung Halle). 58  BVerwGE 131, 274 Rn. 66 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 59  BVerwGE 131, 274 Rn. 66 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen).

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gen kritisch hinterfragt und kontrovers diskutiert werden, ohne dass sich in der Forschung bereits ein neuer Grundkonsens abzeichnet.60 Neue wissenschaftliche Erkenntnisse begründen eine „neue Rechtslage“ allenfalls dann, wenn sie als gesichert angesehen werden. Sie müssen allgemein anerkannt sein. Allgemeine Anerkennung bedeutet nicht Einstimmigkeit der Zustimmung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit.61 Diese Sichtweise lässt eine Reflexion darüber vermissen, wer eigentlich den Nachteil des natur- und umweltfachlichen Erkenntnisdefizites zu tragen hat. An sich sind Fragen der Unaufklärbarkeit eines tatsächlichen Befundes eine Frage der Beweislastzuweisung. Ein recht schnelles Zugreifen auf den Modus einer Einschätzungsprärogative steht in der Gefahr, die Fragen der Beweislast zu überspielen. Nur selten blitzt dieser Gedanke in der Judikatur des BVerwG auf. So stehen fortbestehende vernünftige Zweifel an der Wirksamkeit des habitschutzrechtlichen Schutzkonzepts einer Zulassung des Vorhabens entgegen.62 Ein Gegenbeweis im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung setzt die Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse voraus und macht die Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen erforderlich. Dies bedeutet nicht, dass Forschungsaufträge zu vergeben sind, um Erkenntnislücken und methodische Unsicherheiten der Wissenschaft zu beheben.63 Als Form der wissenschaftlichen Schätzung gängig ist ebenso eine worst-case-Betrachtung, die im Zweifelsfall verbleibende negative Auswirkungen des Vorhabens unterstellt.64 Dies ist nichts anderes als eine in der Wissenschaft anerkannte konservative Risikoabschätzung. Allerdings muss dadurch ein Ergebnis erzielt werden, das hinsichtlich der untersuchten Fragestellung „auf der sicheren Seite“ liegt.65 b) Beispiel: Richterrechtlich geprägtes Kontrollprogramm: Art. 6 Abs. 3 FFH-RL Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL sieht eine differenzierende, stufenbezogene Verträglichkeitsprüfung vor. Das nationale Recht übernimmt dies in § 34 60  Vgl. BVerwG, B. v. 21.1.2004 – 4 B 82.03 – NVwZ 2004, 618 [619]; ­BVerwGE 123, 261 (284 f.); 125, 116 Rn. 308. 61  Vgl. BVerwG, NVwZ 2004, 618. 62  BVerwGE 128, 1 Rn. 56 (Westumfahrung Halle). 63  BVerwGE 128, 1 Rn. 64 (Westumfahrung Halle). 64  Vgl. BVerwGE 126, 166 (181) (Neubau der Ortsumgehung Stralsund); 125, 116 Rn. 492. 65  Vgl. BVerwG, Urt. v. 6.11.2013 – 9 A 14.12 – juris Rn. 51 (A 20 bei Bad Segeberg); BVerwGE 134, 308 Rn. 38; 128, 1 Rn. 64 (Westumfahrung Halle).



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BNatSchG 2009. Das BVerwG hat aus dem „Normmaterial“ sukzessive ein auch prozessuales Kontrollsystem entwickelt. Das kann hier nur in Grundzügen dargestellt werden. aa) Vorprüfung zur Verträglichkeitsprüfung Die Anerkennung einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative kommt auf der Ebene der Vorprüfung (Art. 6 Abs. 3 FFH-RL) nicht in Betracht. Vielmehr unterliegt die Frage der Erforderlichkeit einer FFH-Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf den Vorsorgegrundsatz sowie darauf, dass gemeinschaftsrechtlich die Geltung eines strengen Schutzregimes gefordert ist, einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle.66 Soweit im FFH-Recht ebenso wie im besonderen Artenschutzrecht naturschutzfachliche Einschätzungsprärogativen der zuständigen Behörden angenommen werden, liegen hierfür auf der Ebene der FFH-Vorprüfung keine Gründe vor.67 Eine abschließende Entscheidung ist auf der Ebene der FFH-Vorprüfung insoweit gerade nicht vorgesehen. Ein nicht eindeutiger Befund macht gerade die vertiefende Untersuchung erst im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung („Hauptprüfung“) erforderlich. Erst wenn auf dieser nächsten Ebene die besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt bzw. alle wissenschaftlichen Mittel und Quellen ausgeschöpft sind, kann die auf diesen Erkenntnissen beruhende naturschutzfachliche Einschätzung der sachverständig beratenen Behörde nur noch beschränkter gerichtlicher Überprüfung unterliegen. Verbleiben nach der FFH-Vorprüfung also Zweifel an der Verträglichkeit eines Vorhabens, so ist eine Verträglichkeitsvollprüfung durchzuführen. Die Vorprüfung ist mithin nicht der geeignete Rahmen für die Klärung naturschutzfachlich schwieriger, streitiger oder offener Fragen.68 Die Vorprüfung darf außerdem eine eventuell erforderliche UVP, die anders als die Vorprüfung während des gerichtlichen Verfahrens grundsätzlich nicht nachgeholt werden kann, nicht vorwegnehmen.69 Die Neigung dürfte nicht selten gegeben sein, um die angegriffene Entscheidung noch zu „retten“. Gerichtlich zu prüfen ist daher, ob die nachbessernde Behörde von dem ihr zugewiesenen Einschätzungsspielraum dem Zweck der Ermächtigung entsprechend Gebrauch gemacht hat. 66  BVerwGE

128, 1 Rn. 38 (Westumfahrung Halle). BVerwGE 133, 239 Rn. 45; 131, 274 Rn. 61 ff. (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); 130, 299 Rn. 74 f. (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFHGebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau). 68  OVG Greifswald, I+E 2013, 182 Rn. 16 f. 69  BVerwGE 131, 352. 67  Vgl.

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Behördliche Erlasse haben versucht, dieser Rechtsauslegung des BVerwG zu begegnen. Indes gilt nach der Funktion der Vorprüfung: Eine naturschutzfachliche Frage ist auf dieser ersten Stufe nicht allein deshalb nicht mehr offen, weil die oberste Landesbehörde hierzu in einem Erlass an die Naturschutzbehörden eine bestimmte Auffassung vertreten und an anderer Stelle intern mitgeteilt hat, eine in der Vergangenheit allgemein herangezogene Unterlage der Fachbehörde gegenteiligen Inhalts sei nicht mehr zu verwenden.70 Naturfachliche Sachfragen lassen sich nicht durch einen geänderten Erlass „lösen“. Dieser ist keine eigenständige naturfachliche Erkenntnisquelle. Anders als in anderen Bereichen des Umweltrechts, wie etwa dem BImSchG mit zahlreichen Durchführungsverordnungen und weiteren Verwaltungsvorschriften (TA Luft, TA Lärm), hat der unionsrechtliche oder deutsche Normgeber im Bereich des Artenschutzes bislang weder selbst noch durch Einschaltung und Beauftragung fachkundiger Gremien insoweit auch nur annähernd hinreichende Vorgaben für den Rechtsanwender aufgestellt.71 bb) Verträglichkeitsvollprüfung Die Erfassungs- und Bewertungsmethode der Verträglichkeitsprüfung ist nicht normativ festgelegt.72 Die Behörde ist daher normativ nicht auf ein bestimmtes Verfahren festgelegt. Das heißt prozessual natürlich nicht, dass hier Beliebigkeit herrschen darf. Hinsichtlich der Methodenwahl muss sie den für die Verträglichkeitsprüfung allgemein maßgeblichen Standard der „besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ einhalten.73 Darauf, ob das geschehen ist, zielt alsdann (auch) die gerichtliche Kontrolle. Untersuchungsmethoden, die in der Fachwissenschaft als überholt gelten, sind mithin unzulässig. Umgekehrt bestehen keine Einwände gegen eine fachwissenschaftlich anerkannte Untersuchungsmethode, wenn mit einer anderen, ebenfalls anerkannten Methode nicht voll übereinstimmende Ergebnisse erzielt würden.74 Der Vorsorgegrundsatz ist eine der Grundlagen der Politik 70  OVG Greifswald, I+E 2013, 182 Rn. 28 zum Schreiben des Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern an die Naturschutzbehörden vom 19.2.2013 („Bundesnaturschutzgesetz § 34, FFH-Verträglichkeitsprüfung – Hinweise zur Beurteilung von atmosphärischen Stickstoffeinträgen in FFH-Gebiete durch Tierhaltungsanlagen“). 71  BVerwGE 131, 274 Rn. 64 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 72  Vgl. allgemein zur Methodik der Verträglichkeitsprüfung EuGHE 2004 I-7405 Rn. 52; BVerwGE 128, 1 Rn. 68 (Westumfahrung Halle). 73  BVerwGE 130, 299 Rn. 73 = NuR 2008, 633 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau); 128, 1 Rn. 62 (Westumfahrung Halle) unter Hinweis auf EuGHE 2004 I-7405 Rn. 54. 74  BVerwGE 130, 299 Rn. 73 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFHGebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau).



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eines hohen Schutzniveaus, welche die EU im Bereich der Umwelt gemäß Artikel 191 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV EG verfolgt. In dessen Licht ist die FFH-RL auszulegen und anzuwenden. Die Gefahr einer Verletzung dieses Grundsatzes der Vorsorge liegt insbesondere dann vor, wenn anhand objektiver Umstände nicht ausgeschlossen werden kann, dass der betreffende Plan oder das betreffende Projekt das fragliche Gebiet erheblich beeinträchtigt.75 Bei der Erfassung von Lebensraumtypen besteht das besondere Problem darin, dass sie eine wertende Zuordnung erfordert, die Zuordnungskriterien aber nicht rechtlich definiert sind. Die Lebensraumtypen stellen vielmehr außerrechtliche Kategorien der Pflanzensoziologie dar. Verweist eine Rechtsnorm auf einen solchen Typ, ohne selbst eine weitergehende Inhaltsbestimmung zu treffen, so werden damit die herrschenden fachwissenschaftlichen Auffassungen über die typprägenden Merkmale für maßgeblich erklärt.76 Die Verträglichkeitsprüfung hat sich deshalb bei der Typzuordnung an den einschlägigen Konventionen und Standardwerken zu orientieren. Angesichts der Vielzahl von Arten, die in wechselnden Zusammensetzungen in einem Lebensraum bestimmten Typs vorkommen können, ist bei der konkreten Zuordnungsentscheidung mehr als Plausibilität und Stimmigkeit nicht erreichbar. Das BVerwG entnimmt dieser rechtlichen Lage, dass es unabweisbar sei, der Behörde eine fachliche Einschätzungsprärogative zuzuerkennen und insoweit die gerichtliche Kontrolle zurückzunehmen. Das gelte auch für die Bestandsbewertung. Durch Lücken und durch das Fehlen vollständiger, präziser und endgültiger Feststellungen und Schlussfolgerungen, die geeignet wären, jeden vernünftigen wissenschaftlichen Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen der in dem besonderen Schutzgebiet geplanten Arbeiten auszuräumen, sind gekennzeichnete Berichte und Studien nicht als angemessene Prüfungen im Sinne des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL anzusehen. Derartige Feststellungen und Schlussfolgerungen sind indes unerlässlich dafür, dass die zuständigen Behörden die für die Entscheidung über die Genehmigung der Arbeiten erforderliche Gewissheit erlangen können (EuGH 2007).77 Kurz gesagt: Der EuGH toleriert nicht, dass schlampige Ermittlungsarbeit mit dem Hinweis auf eine naturschutzrechtliche Einschätzungsprärogative überdeckt wird. 75  EuGHE

2004 I-7405 Rn. 44 – Herzmuschelfischerei. ausdrücklich BVerwGE 130, 299 Rn. 74 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau); OVG Greifswald, I+E 2013, 182 Rn. 32. 77  EuGHE 2007 I-7495 Rn. 83 – Umgestaltung von Skipisten; dem folgend ­BVerwGE 145, 40 Rn. 65 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borg­holzhausen). 76  So

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cc) Behördliche Entlastung und Kontrollreduktion: Irrelevanzschwellen Bei der FFH-Verträglichkeitsprüfung sind diejenigen charakteristischen Arten auszuwählen, die einen deutlichen Vorkommensschwerpunkt im jeweiligen Lebensraumtyp aufweisen bzw. muss die Erhaltung ihrer Popula­ tionen unmittelbar an den Erhalt des jeweiligen Lebensraumtyps gebunden sein.78 Die Arten müssen für das Erkennen und Bewerten von Beeinträchtigungen relevant sein, d. h. es sind Arten auszuwählen, die eine Indikatorfunktion für potenzielle Auswirkungen des Vorhabens auf den Lebensraumtyp besitzen. Die Feststellung der Relevanz ist an sich eine Frage, die der gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. Man muss in diesem Bereich nur deutlich unterscheiden, ob das Gericht selbst Feststellungen trifft oder sich auf die wirksame Kontrolle fremder Feststellungen beschränkt. Die Bandbreite derartiger Irrelevanzschwellen ist unterschiedlich. Bei Stickstoffeinträgen ist eine Irrelevanzschwelle anzuerkennen, wenn schon die Vorbelastung den sog. critical load für den betroffenen Lebensraumtyp so deutlich übersteigt, dass die vorhabenbedingte Zusatzbelastung demgegenüber nicht ins Gewicht fällt.79 Irrelevanzschwellen, die generalisierend Zusatzbelastungen FFH-rechtlich geschützter Lebensräume durch Stickstoffdepositionen bis zu einem bestimmten Prozentsatz der als Beurteilungswerte zugrunde gelegten critical loads für unbedenklich erklären, sind mit den habitatrechtlichen Vorgaben nicht ohne Weiteres zu vereinbaren. Jedenfalls in Fallgestaltungen, in denen die Vorbelastung den maßgeblichen criticalload-Wert um mehr als das Doppelte übersteigt, ist jedoch eine Irrelevanzschwelle von 3 % dieses Wertes anzuerkennen; sie findet unter Berücksichtigung einschlägiger naturschutzfachlicher Erkenntnisse ihre Rechtfertigung in dem Bagatellvorbehalt, unter dem jede Unverträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines FFH-Gebiets steht.80

78  BVerwGE 145, 40 Rn. 52, 62 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen). 79  BVerwGE 145, 40 Rn. 93 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen); 136, 291 Rn. 93 (Neubau der Bundesautobahn A 44 KasselHerleshausen im Teilabschnitt Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach); vgl. Kohls u. a., Irrelevanzschwellen für Stickstoffeinträge in FFH-Gebieten, in: ZUR 2014, 150. 80  BVerwGE 136, 291 Rn. 92 f. (Neubau der Bundesautobahn A 44 Kassel-Herles­ hausen im Teilabschnitt Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach).



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dd) Konsequenzen: Beweisregel des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL als Problemlösung? Art. 6 Abs. 3 FFH-RL enthält eine materiell-rechtlich angelegte Beweisregel.81 Die zuständigen Behörden dürfen unter Berücksichtigung der Prüfung des Planes oder Projekts auf Verträglichkeit mit den für das betreffende Gebiet festgelegten Erhaltungszielen diesen Plan oder dieses Projekt nur dann genehmigen, wenn sie Gewissheit darüber erlangt haben, dass er bzw. es sich nicht nachteilig auf dieses Gebiet auswirkt. Dies ist dann der Fall, wenn aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen gibt.82 Die zuständige Behörde muss die Genehmigung des Planes oder des Projektes versagen, wenn Unsicherheit darüber besteht, dass keine nachteiligen Auswirkungen auf das Gebiet als solches auftreten.83 Die gerichtliche Kontrolle bezieht sich insoweit auf die Frage, ob die Behörde nach der ermittelten Sachlage Zweifel hätte haben müssen. Es ist ferner Sache der Behörde, im gerichtlichen Verfahren den Nachweis zu erbringen, dass Schutz- und Kompensationsmaßnahmen erhebliche Beeinträchtigungen nachweislich wirksam verhindern. Der bloße Hinweis des Vorhabenträgers, negative Auswirkungen seien bislang nicht nachweisbar, ist „unbehelflich“.84 Sämtliche Risiken, die aus Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Maßnahmen oder der Beurteilung ihrer langfristigen Wirksamkeit resultieren, gehen zu Lasten des Vorhabenträgers.85 Kann sich das Gericht diese Gewissheit nicht verschaffen, ist die Schutz- und Kompensationsmaßnahme ungeeignet. Wenn bei einem Vorhaben aufgrund der Vorprüfung nach Lage der Dinge ernsthaft die Besorgnis nachteiliger Auswirkungen entstanden ist, kann dieser Verdacht nach Ansicht des BVerwG nur durch eine schlüssige naturschutzfachliche Argumentation ausgeräumt werden, mit der ein „Gegenbeweis“ geführt wird.86 Die Beweisstruktur, welche das BVerwG hier zugrunde legt, ist allerdings etwas unklar. Das Gericht vermag nicht hin81  So BVerwGE 128, 1 Rn. 54 (Westumfahrung Halle); erneut BVerwGE 136, 291 (Neubau der Bundesautobahn A 44 Kassel-Herleshausen im Teilabschnitt Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach). 82  EuGHE 2004 I-7405 – Herzmuschelfischerei; ähnlich EuGHE 2006 I-10183 Rn. 20 (Besonderes Schutzgebiet Castro Verde); EuGH 2004 I- 8105 Rn. 106, 113 – Monsanto Agricoltura Italia u. a. 83  EuGHE 2004 I-7405 Rn. 57 – Herzmuschelfischerei. 84  Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Léger zu Rs. C-209 / 02 – Nr. 40; Schlussanträge der Generalanwältin Kokott zu Rs. C-127 / 02 – Nr. 99. 85  EuGHE 2004 I-1211 Rn. 24 bis 26 – Kommission vs. Österreich (Besonderes Schutzgebiet ‚Wörschacher Moos‘). 86  BVerwGE 128, 1 Rn. 62 (Westumfahrung Halle).

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reichend deutlich die zu Recht angenommene Beweisregel – die eine Beweislastregel ist – von dem beweisprozessualen Institut des prima-facie-Beweises abzugrenzen. Wie dem auch sei: Verbleiben bei der FFH-Verträglichkeitsprüfung vernünftige Zweifel, so führen diese nicht bereits deshalb zur Unzulässigkeit des Vorhabens, sondern können aus materiell-rechtlichen Gründen zunächst eine Abweichungsprüfung erforderlich machen. Der Gegenbeweis der Unschädlichkeit eines Vorhabens misslingt zum einen, wenn die Risikoanalyse, -prognose und -bewertung nicht den „besten Stand der Wissenschaften“ berücksichtigt, zum anderen aber auch dann, wenn die einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse derzeit objektiv nicht ausreichen, jeden vernünftigen Zweifel auszuschließen, dass erhebliche Beeinträchtigungen vermieden werden. Derzeit nicht ausräumbare wissenschaftliche Unsicherheiten über Wirkungszusammenhänge sind allerdings dann kein unüberwindbares Zulassungshindernis, wenn das Schutzkonzept ein wirksames Risikomanagement entwickelt hat.87 Außerdem ist es zulässig, mit Prognosewahrscheinlichkeiten und Schätzungen zu arbeiten; diese müssen kenntlich gemacht und begründet werden.88 Ein Beispiel für eine gängige Methode dieser Art ist auch der Analogieschluss, mit dem bei Einhaltung eines wissenschaftlichen Standards bestehende Wissenslücken überbrückt werden. Zur Abschätzung der Auswirkungen des Vorhabens auf die Erhaltungsziele des Gebiets können häufig sog. Schlüsselindikatoren verwendet werden. Als Form der wissenschaftlichen Schätzung gängig ist ebenso – wie bereits erwähnt – eine worst-case-Betrachtung. Diese unterstellt die im Zweifelsfall verbleibenden negativen Auswirkungen des Vorhabens.89 Es gibt keine Beweisregel des Inhalts, dass das Habitatschutzrecht sich als ein unüberwindbares Planungshindernis erweist. Bei der Querung eines FFH-Gebiets durch eine Straßentrasse mag eine erhebliche Beeinträchtigung des Gebiets „nahezu unvermeidlich“ sein. Es verbleibt dem Vorhabenträger auch in diesem Fall die Möglichkeit, im Rahmen der späteren FFH-Verträglichkeitsprüfung den Nachweis zu führen, dass sein Schutzkonzept durch ein geeignetes Risikomanagement den Eintritt eines ökologischen Schadens wirksam verhindern wird.90 87  BVerwGE 145, 40 Rn. 35 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen). 88  BVerwGE 128, 1 Rn. 64 (Westumfahrung Halle). Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott zu Rs. C-127 / 02 – Nr. 97. 89  BVerwGE 128, 1 Rn. 64 (Westumfahrung Halle); 126, 166 (181) (Neubau der Ortsumgehung Stralsund); vgl. auch BVerwGE 125, 116 Rn. 294 f., Rn. 492 (Flughafen Schönefeld). 90  BVerwG, B. v. 23.11.2007 – 9 B 38.07 – UPR 2008, 112 Rn. 22 = NuR 2008, 176 = ZUR 2008, 257 Ortsumgehung Celle). Vgl. auch BVerwGE 128, 1 Rn. 36 (Westumfahrung Halle).



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Die erörterte Beweisregel hindert allerdings nicht, in einer Situation, die von derzeit noch nicht ausräumbaren wissenschaftlichen Unsicherheiten über Wirkungszusammenhänge geprägt ist, mit Prognosewahrscheinlichkeiten, Schätzungen und Analogieschlüssen zu arbeiten. Das BVerwG will derartige Unsicherheiten mit einem Monitoring-Management kompensieren.91 Ein Monitoring kann in der Tat dazu dienen, aufgrund einer fachgerecht vorgenommenen Risikobewertung verbleibenden Unsicherheiten Rechnung zu tragen, die sich aus nicht behebbaren naturschutzfachlichen Erkenntnislücken ergeben, sofern ggf. wirksame Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Es stellt hingegen kein zulässiges Mittel dar, um behördliche Ermittlungs- und Bewertungsdefizite zu kompensieren.92 Daraus resultiert zugleich das Erfordernis einer (allgemeinen) Dokumentationspflicht. Die Behörde muss die insoweit gewonnenen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich dokumentieren. c) Beispiel: Artenschutz (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG 2009) – Die Signifikanzfrage aa) Grundsatz des BVerwG Bei der Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind, steht der zuständigen Behörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative sowohl bei der ökologischen Bestandsaufnahme als auch bei deren Bewertung zu, namentlich bei der Quantifizierung möglicher Betroffenheiten und bei der Beurteilung ihrer populationsbezogenen Wirkungen.93 Die gerichtliche Kontrolle ist nach Ansicht des BVerwG darauf beschränkt, ob die Einschätzungen der Planfeststellungsbehörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich „vertretbar“ sind und zudem nicht auf einem unzulänglichen oder gar ungeeigneten Bewertungsverfahren beruhen.94 Die gerichtliche Prüfungsintensität ist nach Ansicht des BVerwG eingeschränkt.95 Sie ist darauf beschränkt, 91  BVerwGE 128, 1 Rn. 64 (Westumfahrung Halle); 145, 40 Rn. 48 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen). 92  BVerwGE 140, 149 Rn. 105 (Ortsumgehung Freiberg). 93  BVerwGE 131, 274 Rn. 65 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 94  BVerwGE 131, 274 Rn. 65 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 95  BVerwG, NVwZ 2013, 1209 Rn. 60 (Lücke im Autobahnnetz zwischen der A 2 beim Autobahnkreuz Magdeburg und der A 24 bei Schwerin); BVerwG, NVwZ 2009, 1296 Rn. 86 (Ausbau und Verlegung der Bundesautobahn A 4 zwischen Kerpen und Düren), BVerwGE 131, 274 Rn. 65 (Ortsumgehung Bad Oeynhausen).

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• ob die Einschätzungen der Behörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind96 und • nicht auf einem unzulänglichen Bewertungsverfahren97 oder • gar ungeeigneten Bewertungsverfahren98 beruhen. Es kommt danach im Sinne einer „Vertretbarkeitskontrolle“ für die Anwendung des § 44 Abs. 1 BNatSchG nur darauf an, ob aus den ausgewerteten Erkenntnismitteln – naturschutzfachlich vertretbar – ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko abgeleitet werden kann.99 Die Annahmen der Behörde müssen sich dazu auf fachgutachtliche Stellungnahmen stützen können.100 Erforderlich ist eine am Maßstab „praktischer Vernunft“ ausgerichtete Prüfung.101 Daraus leitet sich dann zugleich – wie bereits erörtert – ein ökologisch-fachlicher Beurteilungsspielraum auch bei der Auswahl der FFH-Gebiete ab.102

96  BVerwG, NVwZ 2013, 1209 Rn. 60 (Lücke im Autobahnnetz zwischen der A 2 beim Autobahnkreuz Magdeburg und der A 24 bei Schwerin); BVerwG, NuR 2013, 565 Rn. 114 (Teilabschnitt der Bundesautobahn A 44); BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); BVerwG, NVwZ 2009, 1296 87 (Ausbau und Verlegung der Bundesautobahn A 4 zwischen Kerpen und Düren); BVerwGE 121, 72 Rn. 118 DVBl 2004, 1546 (Ortsumgehung Michendorf [B 2]). 97  BVerwG, NVwZ 2013, 1209 Rn. 60 (Lücke im Autobahnnetz zwischen der A 2 beim Autobahnkreuz Magdeburg und der A 24 bei Schwerin); BVerwG, NuR 2013, 565 Rn. 114 (Teilabschnitt der Bundesautobahn A 44); BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); 134, 166 Rn. 65 (Einfluss von Kohärenzsicherungsmaßnahmen auf Integritätsinteressenberücksichtigung); BVerwG, NVwZ 2009, 1296 Rn. 87 (Ausbau und Verlegung der Bundesautobahn A 4 zwischen Kerpen und Düren); BVerwGE 145, 40 Rn. 100 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen). 98  BVerwG, NVwZ 2013, 1209 Rn. 60 (Lücke im Autobahnnetz zwischen der A 2 beim Autobahnkreuz Magdeburg und der A 24 bei Schwerin); BVerwG, NuR 2013, 565 Rn. 114 (Teilabschnitt der Bundesautobahn A 44); BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); BVerwG, NVwZ 2009, 1296 R. 87 (Ausbau und Verlegung der Bundesautobahn A 4 zwischen Kerpen und Düren). Das Bewertungsverfahren ist ungeeignet, wenn es den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht werden kann. 99  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 11: Erhöhtes Tötungsrisiko für Rotmilan durch den Betrieb von Windenergieanlagen, wenn der Abstand der Windenergieanlagen weniger als 1  000 m beträgt. 100  BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen). 101  BVerwGE 145, 40 Rn. 100 zu § 44 Abs. 1 BNatSchG 2009. 102  BVerwGE 145, 40 Rn. 145 zu § 44 Abs. 1 BNatSchG 2009.



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bb) Beispiel: Tötungsverbot – Anwendung des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG 2009 (1) Allgemeines Das zumindest überwiegend unionsrechtlich motivierte Artenschutzrecht der §§ 44 ff. BNatSchG 2009 ist zwingendes Recht. Es unterliegt daher – anders als z. B. die naturschutzrechtlichen Anforderungen des allgemeinen Flächenschutzes hinsichtlich der Eingriffe und ihrer rechtlichen Bewältigung (§§ 14 ff., 18 Abs. 1 BNatSchG) – nicht als „Belang“ der Abwägung nationaler Planungsträger und der ihnen insoweit zugestandenen „Gestaltungsfrei­ heit“103 Es nähert sich einer reservatio mentalis, wenn das BVerwG ausführt, die zum Gebietsschutz entwickelten Anforderungen an Ermittlungstiefe und Ermittlungsmethoden könnten nicht unbesehen auf den Artenschutz übertragen werden.104 In tatsächlicher Hinsicht führt eine weitreichende naturschutzfachlich begründete Einschätzungsprärogative zu „abwägungsähnlichen“ Ergebnissen.105 (2) Grundsatz: naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative Nach wiederholt bestätigter Ansicht des BVerwG räumt das Bundesrecht den Behörden bei der Prüfung, ob der artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG 2009 erfüllt ist, einen naturschutzfachlichen Beurteilungsspielraum ein.106 Das hat das ­BVerwG in seiner Entscheidung zur Nordumfahrung von Bad Oeynhausen nochmals dezidiert dargelegt.107 Die Behörde hat insbesondere eine na­turschutzfachliche Einschätzungsprärogative, auch soweit eine gebietsbezogene Gesamtbetrachtung geboten ist.108 Hieran hält die Rechtsprechung fest.109 103  OVG

Saarland, Urt. v. 5.9.2013 – 2 C 190 / 12 – juris Rn. 70. Schütte / Gerbig, in: Schlacke (Hrsg.), BNatSchG, § 44 Rn. 9; BVerwGE 131, 274 Rn. 56 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 105  Brandt, Tötungsrisiko und Einschätzungsprärogative, in: NuR 2013, 482–484; Fellenberg, Neue Herausforderungen im besonderen Artenschutzrecht: Die Reaktionen der Praxis auf das BVerwG-Urteil zur Ortsumfahrung Freiberg, in: UPR 2012, 321–328. 106  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 14. 107  BVerwGE 131, 274 Rn. 65 (Ortsumgehung Bad Oeynhausen), mit krit. Bespr. Gellermann, Artenschutz und Straßenplanung – Neues aus Leipzig, in: NuR 2009, 85–91. 108  Vgl. BVerwGE 126, 166 Rn. 44 (Neubau der Ortsumgehung Stralsund); ­BVerwG, B. v. 24.2.2004 – 4 B 101.03 – juris Rn. 13. 109  Vgl. jüngst BVerwG, NuR 2013, 565 Rn. 114 (Teilabschnitt der Bundesautobahn A 44). 104  Vgl.

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(3) Gegenstand der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative Das bedeutet praktisch: Bei der gerichtlichen Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind, steht der Planfeststellungsbehörde nach Ansicht des BVerwG eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative sowohl bei der ökologischen Bestandsaufnahme als auch bei deren Bewertung zu, namentlich bei der Quantifizierung möglicher Betroffenheiten und bei der Beurteilung ihrer populationsbezogenen Wirkungen.110 Die behördliche Einschätzungsprärogative bezieht sich ferner auf die Bewertung der Gefahren, denen die Exemplare der geschützten Arten bei Realisierung des zur Genehmigung stehenden Vorhabens ausgesetzt sein würden.111 Angesichts der Vielzahl der Kriterien, ihrer relativen Offenheit und ihres Angewiesenseins auf die Ausfüllung durch außerrechtliche Einschätzungen gilt für die Bestandsbewertung erst recht, dass in sie einer gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugängliche Einschätzungen einfließen.112 cc) Beispiel: These der Signifikanz – Kollisionsrisiko Der Tatbestand des artenschutzrechtlichen Tötungs- und Verletzungsverbots gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ist nach der Rechtsprechung des BVerwG nur dann erfüllt, wenn sich durch das Vorhaben das Kollisionsrisiko für die geschützten Tiere signifikant erhöht.113 Ein den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL vergleichbares formalisiertes Prüfungsver110  BVerwG, NVwZ 2013, 1209 Rn. 60 (Lücke im Autobahnnetz zwischen der A 2 beim Autobahnkreuz Magdeburg und der A 24 bei Schwerin); BVerwG, NuR 2013, 565 Rn. 114 (Teilabschnitt der Bundesautobahn A 44); BVerwG, NVwZ 2010, 380 Rn. 19 = NuR 2010, 191 = SächsVBl 2010, 89; BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); 131, 274 Rn. 66 f. (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); 121, 72 (84); 128, 76; 130, 299 (Lichtenauer Hochland II); BVerwG, B. v. 13.3.2008 – 9 VR 9.07 – Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33; BVerwGE 131, 274 (Ortsumgehung Bad Oeynhausen), mit krit. Bespr. Gellermann, Artenschutz und Straßenplanung – Neues aus Leipzig, in: NuR 2009, 85–91; Louis, Die Zugriffsverbote des § 42 Abs. 1 BNatSchG im Zulassungs- und Bauleitplanverfahren, in: NuR 2009, 91–100; ferner BVerwGE 126, 166 Rn. 44 (Neubau der Ortsumgehung Stralsund). 111  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 14; BVerwGE 145, 40 Rn. 32 (Lückenschluss A 33 zwischen Bielefeld-Steinhagen und Borgholzhausen). 112  BVerwGE 130, 299 Rn. 75 = NuR 2008, 633 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau). 113  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 11; BVerwGE 130, 299 Rn. 219 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau); 134, 166 (Einfluss von Kohärenzsicherungsmaßnahmen auf Integritätsinteressenberücksichtigung); OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2011, 597 Rn. 5.



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fahren kennt der allgemeine Artenschutz nicht.114 Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist der artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungstatbestand dann nicht erfüllt, wenn das Vorhaben nach naturschutzfachlicher Einschätzung kein signifikant erhöhtes Risiko kollisionsbedingter Verluste von Einzelexemplaren verursacht, mithin unter der Gefahrenschwelle in einem Risikobereich bleibt, der mit dem Vorhaben im Naturraum immer verbunden ist, vergleichbar dem ebenfalls stets gegebenen Risiko, dass einzelne Exemplare einer Art im Rahmen des allgemeinen Naturgeschehens Opfer einer anderen Art werden.115 Das ist im Kern eine Art „Kausalitätsbetrachtung“. Eine genauere normative und beweisprozessuale Analyse nimmt das BVerwG nicht vor. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerwG hat sich bei den Obergerichten die Auffassung gebildet, die gerichtliche Prüfung sei bereits grundsätzlich auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Das gelte etwa auch für die Frage, ob Windenergieanlagen ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko kollisionsbedingter Verluste von Einzelexemplaren einer (besonders) geschützten Art verursachen.116 So führt das OVG Magdeburg (2012) etwa aus, es lägen keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, dass Rotmilane (verhaltensbedingt) im Straßenverkehr in vergleichbarer Zahl getötet würden wie durch Windenergieanlagen. Das Gericht bestätigt alsdann, dass sich die Behörde bei der Bewertung der Gefahren (gleichwohl) im Rahmen ihrer Einschätzungsprärogative bewege. Die Gefährdung des Rotmilans durch Windenergieanlagen lasse sich auch nicht mit der Begründung relativieren, dass diese Vogelart auch Gefährdungen durch andere (technische) Anlagen ausgesetzt ist. Die hiergegen gerichteten Angriffe blieben in der Revisionsinstanz ohne Erfolg. Das BVerwG meint: Der Kläger greife zwar die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts an, erhebe aber lediglich allgemein gehaltene Einwände. Er zeige nicht auf, dass die Quelle, auf die sich das Oberverwaltungsgericht zur Begründung gestützt und die Erhebungen über einen Zeitraum von 1991 bis 2006 zur Grundlage habe, methodischen Bedenken ausgesetzt sein könnte.117 Das heißt der Sache nach, dass das Revisionsgericht dem Kläger eine vorprozessuale Ermittlungspflicht auferlegt. Es ist nach den Entscheidungsgründen des Gerichtes nicht erkennbar, welche geeigneten Beweisanträge der Kläger hätte stellen können und auch 114  Vgl. BVerwGE 134, 166 Rn. 45 (Einfluss von Kohärenzsicherungsmaßnahmen auf Integritätsinteressenberücksichtigung). 115  Vgl. BVerwGE 131, 274 Rn. 91 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). Vgl. kritisch OVG Magdeburg, U. v. 16.5.2013 – 2 L 80 / 11 – juris (zeitweiliges Abschalten von Windkraftanlagen zum Zwecke des Schutzes von Fledermäusen). 116  OVG Magdeburg, BImSchG-Rspr § 6 Nr. 59 Rn. 46. 117  BVerwG, NVwZ 2013, 1411 Rn. 17.

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stellen müssen. In funktionaler Sicht beendet die Annahme einer nicht konkretisierten naturschutzrechtlichen Entscheidungsprärogative den Rechtsstreit. Aus der Sicht des Grundsatzes eines „effektiven“ Rechtschutzes ist das kein erfreuliches Ergebnis. dd) Ermittlungstiefe – These der „praktischen Vernunft“ Die Anforderungen an die Ermittlungstiefe, an die zugrunde gelegten Methoden und die Aktualität des Datenmaterials sind grundsätzlich justiziabel.118 Aber das ist eben nur ein Grundsatz. Der vorstehend berichtete Fall des OVG Magdeburg, der exemplarisch ist, zeigt in praxi etwas anderes. Nach der Rechtsprechung des ­BVerwG setzt die behördliche Prüfung, ob ein Vorhaben gegen artenschutzrechtliche Verbote verstößt, zwar eine ausreichende Bestandsaufnahme der im Trassenbereich vorhandenen Arten, die in den Anwendungsbereich der Verbote fallen, und ihrer Lebensräume voraus. Das verpflichtet die Behörde aber nicht, ein lückenloses Arteninventar zu fertigen.119 Welche Anforderungen an Art, Umfang und Tiefe der Untersuchungen zu stellen sind, hängt nach Ansicht des ­BVerwG von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall sowie von Art und Ausgestaltung des Vorhabens ab. Nur hierauf bezieht sich dann auch das Niveau der gerichtlichen Kontrolle. Erforderlich, aber auch ausreichend ist danach – auch nach den Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts – eine am Maßstab praktischer Vernunft ausgerichtete Prüfung.120 Was das genau ist, wird nicht näher erläutert. Der Sache nach handelt es sich um den Abbruch weiterer erkenntnisfördernder Ermittlungen. Das mag in der Sache vielfach begründet sein. Im Grunde ist es die prozessuale Seite des Satzes, man müsse „die Kirche im Dorf lassen“. In der Tat wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfehlt, wenn für ein wichtiges Infrastrukturvorhaben Anforderungen an die artenschutzrechtliche Bestandsaufnahme gestellt werden, die keinen für die Entscheidung über die Zulassung des Vorhabens wesentlichen Erkenntnisgewinn 118  Vgl. Schütte / Gerbig, in: Schlacke (Hrsg.), BNatSchG, § 44 Rn. 8; ebenso OVG Koblenz, DVBl 2008, 321, 72. 119  ­BVerwGE 134, 308 Rn. 37 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen). 120  Vgl. ­BVerwGE 145, 40 Rn. 100 (Lückenschluss A 33 zwischen BielefeldSteinhagen und Borgholzhausen); 134, 308 Rn. 37 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); 133, 239 Rn. 43 (Neubau der Bundesautobahn A 44 zwischen Ratingen und Velbert); 134, 166 Rn. 45 (Kohärenzsicherungsmaßnahmen); 131, 274 Rn. 57; 130, 299 Rn. 124 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau); vgl. auch EuGHE 2006 I-8445 Rn. 48 ff.



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versprechen und außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu dem damit erreichbaren Gewinn für Natur und Umwelt stehen würden.121 Wenn allerdings das ­BVerwG meint, es reiche aus, auf ein „durch Vernunft und Verantwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln“122 zu verweisen, dann erhält diese Sicht der Dinge einen Zungenschlag, der mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kaum vertretbar ist. Der im Prozess angegriffenen Behörde ist nicht zu bescheinigen, sie habe in „Verantwortungsbewusstsein“ gehandelt. Das ist keine Kategorie, wie sie § 86 Abs. 1 VwGO erfasst. Eine derartige Sprachführung ist insoweit entlarvend, als sie aufweist, wie das ­BVerwG die gerichtliche Aufgabe verstehen will. Der Rechtsschutz ist auf eine gerichtliche Kontrolle der Plausibilität reduziert. In Frage steht aber, ob dies auch die Sichtweise der amtswegigen Ermittlung des § 86 Abs. 1 ­VwGO ist. Da die Bestandserfassung und die daran anschließende Beurteilung, ob und inwieweit naturschutzrechtlich relevante Betroffenheiten vorliegen, auf ökologische Bewertungen angewiesen sind, für die normkonkretisierende Maßstäbe und verbreitet auch gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Standards fehlen, steht der Behörde nach Ansicht des ­BVerwG auch insoweit eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu.123 Umstände, die für die Beurteilung der Signifikanz eine Rolle spielen, sind insbesondere artspezifische Verhaltensweisen, häufige Frequentierung des durchschnittenen Raums und die Wirksamkeit vorgesehener Schutzmaßnahmen. Für die fachliche Beurteilung räumt das ­BVerwG der zuständigen Behörde letztlich eine sehr breit angelegte Einschätzungsprärogative ein.124 Für die Gestaltung der Sozialordnung muss es – so das BVerfG bereits 1978 – insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft sein Bewenden haben. Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft seien unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu

121  Vgl.

­BVerwGE 131, 274 Rn. 57; vgl. bereits ­BVerwGE 116, 254 (267). wörtlich ­BVerwGE 140, 149 Rn. 147 (Ortsumgehung Freiberg) unter Bezugnahme auf ­BVerwGE 130, 299 Rn. 153 (Neubau der Bundesautobahn A 44 durch FFH-Gebiet „Lichtenauer Hochland“ bei Hessisch Lichtenau); ­BVerwG, DVBl 2011, 36 Rn. 55 (Neubau der Autobahn 44 (A 44) im Stadtgebiet von Bochum). 123  Vgl. ­BVerwGE 134, 308 Rn. 38 (Lückenschluss Abschnitt 6 Bielefeld-Steinhagen); 131, 274 Rn. 54 ff. (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); ebenso OVG Magdeburg, NuR 2012, 196 Rn. 65; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2011, 597 Rn. 6; OVG Lüneburg, Beschl. v. 17.7.2013 – 12 ME 275 / 12 – juris Rn. 61; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2011, 597. 124  ­BVerwGE 140, 149 Rn. 99 (Ortsumgehung Freiberg) mit Bezug auf ­BVerwGE 131, 274 Rn. 65 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 122  So

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tragen.125 Diese für das Gefahrenpotential von Kernkraftanlagen entwickelte Problemanalyse wird man aber kaum auf naturschutzfachliche Fragen übertragen können. d) Beispiel: Immissionsschutz – Lärmschutz („objektive“ Erkenntnisdefizite) Ohne konkrete Anhaltspunkte oder wenigstens Verdachtsmomente ist es nach Ansicht des ­BVerwG rechtlich nicht geboten, jeglichem Risiko vorzubeugen. Fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse müssen im Rahmen von Erheblichkeitserwägungen nicht durch einen Bonus zugunsten der Lärmbetroffenen ausgeglichen werden.126 Der Planungsträger brauche keine Schutzziele festzulegen, deren Erforderlichkeit mangels verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse noch nicht abschätzbar ist.127 Im Verfahren über die Planfeststellung des Flughafens Berlin-Schönefeld sagt es das ­BVerwG (2006) mit großer Klarheit: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse seien einer luftverkehrsrechtlichen Planungs- oder Zulassungsentscheidung in der Regel erst dann zugrunde zu legen, wenn sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt und allgemeine Anerkennung – nicht notwendig einhellige Zustimmung – gefunden haben.128 Ein neuer Stand der Wissenschaft ist nach Ansicht des ­BVerwG noch nicht erreicht, solange bisher anerkannte wissenschaftliche Aussagen zwar kritisch hinterfragt und kontrovers diskutiert werden, ohne dass sich in der Forschung bereits ein neuer Grundkonsens abzeichnet.129 Das heißt im Ergebnis: Die neuen Erkenntnisse müssen sich in der wissenschaftlichen 125  Vgl. ­BVerwGE 143, 24 Rn. 26 (Bebauungsplan für Tierimpfstoffzentrum). Vgl. zum Atomrecht BVerfGE 49, 89 (Kalkar I, Schneller Brüter); vgl. ferner BVerfG [K], NVwZ 2010, 702 (CERN – kernphysikalische Versuchsreihe); BVerfG [K], NVwZ 2009, 1489 Rn. 44; BVerfG [K], DVBl 2010, 52 (Schacht Konrad); BVerfG [K], DVBl 2009, 642 (Atomzwischenlager); ­BVerwGE 142, 159 (Kernkraftwerk Unterweser im dazugehörigen Standortzwischenlager). 126  ­BVerwGE 87, 332 (374 f.) (Planfeststellung für den Bau des Verkehrsflughafens München II). 127  Vgl. BVerfG [K], NJW 2002, 1638 (keine Verpflichtung des Verordnungsgebers, die geltenden Immissionsgrenzwerte zum Schutz vor hypothetischen Gefährdungen zu verschärfen – Errichtung einer Mobilfunkanlage); BVerfG, NVwZ-RR 2005, 227. 128  ­BVerwGE 125, 116 Rn. 308 (Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld zum internationalen Verkehrsflughafen unter Einschränkung des Nachtflugbetriebs). 129  Vgl. ­BVerwG, B. v. 21.12004 – 4 B 82.03 – NVwZ 2004, 618 [619] Rn. 8 (Voraussetzung des Planergänzungsanspruchs); ­BVerwGE 123, 261 (284 f.); insoweit ebenfalls zurückhaltend BVerfG [K], NVwZ 2009, 1489 (Flughafen Leipzig / Halle für Nachtflugbetrieb).



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Diskussion durchgesetzt und allgemeine Anerkennung gefunden haben. Allgemeine Anerkennung bedeutet allerdings nicht Einstimmigkeit der Zustimmung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Die Frage ist dann, wie weit die Zustimmung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit selbst Gegenstand einer beweismäßigen Ermittlung sein kann. Ähnlich versteht das ­BVerwG die Frage, wie die Verordnung über elektromagnetische Felder (26. BImSchV 1996 in der Fassung vom 16.  Dezember 1996 (BGBl. I S. 1966)) zu beurteilen sei.130 Diese rechtliche Beurteilung blendet zwei Fragehorizonte aus. Zum einen bleibt unerörtert, wer das Risiko derzeit fehlender empirischer Kenntnisse trägt. Zu fragen wäre hier etwa, ob es eine Pflicht zur Nachkontrolle gibt. Das ist ein Gedanke des Monitoring, wie er etwa in Art. 10 RL 2001 / 42 / EG (Plan-UP) behandelt wird. Zum anderen wird kaum darüber reflektiert, ob die Behörde, d. h. der Staat insgesamt, in der Vergangenheit Anstrengungen unternommen hat, um auftretende Erkenntnisdefizite zu beseitigen. Es ist ausgeschlossen, dass das angerufene Gericht selbst Forschungsvorhaben betreibt. Man darf eine Parallele zum Lärmschutz ziehen. Das BVerfG formulierte 1980 die Pflicht des Gesetzgebers, Regelungen zur Bekämpfung des Fluglärms nachzubessern.131 Die Frage ist dann, welche rechtlichen Folgerungen daraus zu ziehen sind, wenn der Staat einer derartigen Verpflichtung, sich eine forschungsbezogene Verbesserung der Erkenntnisgrundlagen zu verschaffen, über einen längeren Zeitraum nicht nachgekommen ist. Das BVerfG (2010) sieht die Frage des Erkenntnisdefizites schärfer als das ­BVerwG. Wird wirklich wissenschaftlich und praktisch noch unerschlossenes Neuland betreten, haben sich alle Stellen, die öffentliche Gewalt ausüben, eine möglichst breite Informationsgrundlage für eine möglichst rationale Risikoabschätzung zu verschaffen, wobei die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen eines gewaltenteiligen Systems berücksichtigt werden müssen.132 Das ist eine grundrechtliche Sichtweise. Ihr liegt der Gedanke einer Verteilung der Verantwortung zur Beurteilung komplexer, wissenschaftlich umstrittener Sachverhalte zwischen Exekutive und Gerichten zugrunde, die den nach Funktion und Verfahrensweise unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten beider Gewalten Rechnung tragen will. Wie dem auch sei: Der betroffene Bürger ist das schwächste Glied. Er hat praktisch keine Möglichkeiten, etwas zur Reduktion empirischer Unsicherheiten beizutragen. Diese strukturell vorgegebene prozessuale Ungleichheit nach Möglichkeit auszugleichen, ist die zentrale Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit. 130  Vgl.

­BVerwG, NuR 2013, 800 Rn. 19. 56, 54 Rn. 62 f. 132  BVerfG [K], NVwZ 2010, 702 (CERN – kernphysikalische Versuchsreihe). 131  BVerfGE

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III. Gesetzgeber: pauschale oder spezifische Reduktion der Kontrolldichte 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben – Erforderlichkeit der Reduktion a) Regelungsermächtigungen für den Gesetzgeber Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das schließt nicht aus, dass der Gesetzgeber der Verwaltung Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume eröffnet, welche die Rechtskontrolle von Exekutivakten durch die Gerichte einschränken.133 Darauf wurde eingangs bereits hingewiesen. Auch der Gesetzgeber ist allerdings nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes.134 Wenngleich der Gesetzgeber den Umfang und Gehalt der subjektiven Rechte der Bürger definieren, damit den Zugang zur gerichtlichen Kontrolle und so über §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 VwGO oder § 47 Abs. 2 VwGO den Umfang der gerichtlichen Kontrolle und damit auch die Rechtsstellung gegenüber der Verwaltung differenziert ausgestalten kann, so ist er im Übrigen nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Die durch Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG garantierte Effektivität der Gerichte darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Zudem behandelt Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG einen rechtsstaatlichen Aspekt. Dieser ist in die generelle Regelung des Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich eingebettet. b) Kernbereiche der Exekutive? Es stellt sich aus Sicht des Art. 20 Abs. 3 GG eine andere Frage: Wenn es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass der Gesetzgeber die Reichweite des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG – etwa in Fällen der Beurteilung tatsächlicher Situationen – einschränken kann, ist es immerhin reizvoll zu erörtern, ob der Gesetzgeber derartige legislatorische Entscheidungen aus guten rechts133  BVerfG [K], DVBl 2012, 230 Rn. 23 – eingeschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit von Regulierungsverfügungen der Bundesnetzagentur. 134  BVerfGE 129, 1 Rn. 75.



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politischen Gründen auch treffen sollte. Dieser Problembereich ist nicht mit einem anderen zu verwechseln, ob nämlich der Gesetzgeber im Sinne herzustellenden Rechtsfriedens gut beraten ist, durch normative Regelungen faktische Fragen außer Streit zu stellen. Das Letztere ist z. B. durch die Festsetzung von Lärmwerten einschließlich Ermittlungsverfahren in der 16. BImSchV geschehen. Auch die Schwellwerte für eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem UVPG können hierzu gerechnet werden. Hier soll die rechtsstaatlich gebotene Richtigkeitsgewähr dadurch erzielt werden, dass sich Entscheidungen an Verfahrensregeln ausrichten, die problemadäquat auf einen bestimmten Handlungsbereich zugeschnitten sind. Dass dies rechtspolitische Phantasie erfordert, liegt auf der Hand. Partiell erweisen sich das Zusammenspiel von ministerieller Arbeitsweise und legislatorischer Ermächtigung oder Regelung in Teilbereichen als probleminadäquat. Die gesetzgeberische Justierung der Kernbereiche der drei Staatsgewalten zueinander findet laufend statt, ohne dass dem eine gesicherte verfassungsrechtliche Dogmatik zugrunde liegt.135 Ihnen ist jeweils ein Kernbereich autonomer Zuständigkeiten und zugeordneter Entscheidungskompetenzen von Verfassungs wegen garantiert.136 Dass lässt sich abstrakt berechtigt feststellen. Was dies indes in concreto bedeutet, ist wenig deutlich. Verfolgt man diesen Gesichtspunkt verfassungsdogmatisch indes näher, dann geht es bei der umweltfachlichen „Einschätzungsprärogative“ nicht allein um eine Frage der fehlenden empirischen Erkenntnissicherheit, sondern um eine bewusste Zuweisung administrativer Kompetenzen. Vielfach wird dazu betont, nicht die Rechtsprechung, sondern nur die Exekutive könne die politisch-demokratische Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen, die sich normativ nicht exakt determinieren lasse. Dass ist natürlich insoweit zutreffend, als die in Art. 20 Abs. 2 Satz  2 GG normierte Teilung der Gewalten für das Grundgesetz ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip ist. Sie dient der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane und damit der Mäßigung der Staatsherrschaft. Zugleich muss jede der drei Staatsgewalten demokratisch „rückgebunden“ sein.137 Das schließt nicht die Forderung aus, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt gerade von denjenigen Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise mutmaßlich über die besten Voraussetzungen verfügen.138 Hierfür besitzt der Gesetzgeber gewiss eine 135  Vgl. Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, in: NJW 1996, 1505–1511. 136  BVerfGE 9, 268 (279 f.) – Bremer Personalvertretung; 30, 1 (27 f.) – AbhörEntscheidung; 95, 1 (15 f.) – Südumfahrung Stendal. 137  BVerfGE 107, 59; vgl. ferner vgl. BVerfGE 38, 258 (271); 47, 253 (272); 77,  1 (40); 83, 60 (71); 93, 37 (66). 138  Vgl. BVerfGE 68, 1 (86) – NJW 1985, 603 (Atomwaffenstationierung).

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verfassungsrechtlich begründbare Beurteilungskompetenz. Im Umweltschutzrecht hat der Gesetzgeber derartige Entscheidungen verfahrensrechtlicher und prozessualer Art getroffen. Bemerkenswert ist, dass diese jeweils einen unionsrechtlichen Hintergrund besitzen. Es ist also keineswegs sicher, dass der deutsche Gesetzgeber insoweit noch eine eigenständige Regelungsbefugnis hatte. Zwei Beispiele sollen hier exemplarisch erörtert werden. Beide betreffen die Reduktion der gerichtlichen Kontrollintensität. Ob die ebenfalls problemreduzierenden Präklusionsregelungen (vgl. etwa § 64 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG 2009, § 2 Abs. 3 UmwRG) jedenfalls unionsrecht­ lichen Standards eines effektiven Rechtsschutzes genügen, steht derzeit in der Diskussion.139 2. Beispiel: UVP-Vorprüfung nach § 3a Satz 4 UVPG a) Gesetzgeberische Zielsetzung Die zuständige Behörde stellt auf Antrag des Trägers eines Vorhabens oder anlässlich eines Ersuchens nach § 5 UVPG, andernfalls nach Beginn des Verfahrens, das der Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens dient, auf der Grundlage geeigneter Angaben zum Vorhaben sowie eigener Informationen unverzüglich fest, ob nach den §§ 3b bis 3f UVPG für das Vorhaben eine Verpflichtung zur Durchführung einer UVP besteht. Die Feststellung ist nicht selbständig anfechtbar (§ 3a Satz  3 UVPG). § 3a Satz  4 UVPG lautet:140 „Beruht die Feststellung, dass eine UVP unterbleiben soll, auf einer Vorprüfung des Einzelfalls nach § 3c, ist die Einschätzung der zuständigen Behörde in einem gerichtlichen Verfahren betreffend die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens nur darauf zu überprüfen, ob die Vorprüfung entsprechend den Vorgaben von § 3c durchgeführt worden ist und ob das Ergebnis nachvollziehbar ist.“ Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die verfahrensmäßigen und inhaltlichen Anforderungen an die Vorprüfung der UVP-Pflicht im Einzelfall.141 Nach Ansicht des ­BVerwG erfordert § 3a Satz  4 UVPG nur eine Plausibilitätskon139  Bejahend ­BVerwG, NVwZ 2012, 176 Rn. 31; ­BVerwG, UPR 2010, 103; ­ VerwGE 136, 291 Rn. 107 f.; ­BVerwG, NVwZ 2011, 364; ­BVerwG, Buchholz B 406.254 URG Nr. 3 Rn. 10 bis 21; ­BVerwG, NVwZ 2012, 180 Rn. 21 bis 26 = UPR 2012, 66 = NuR 2012, 52; ebenso zur naturschutzrechtlichen Präklusion ­BVerwGE 140, 149 Rn. 25 f. (Ortsumgehung Freiberg); 145, 40 Rn. 76 (Lückenschluss A 33), verneinend EU-Kommission, vgl. Mahnverfahren KOM Nr. 2007 / 4267 C (2012) 6581 endg. v. 27.9.2012; BTags-Dr. 17 / 12304, Nr. 185, 186. 140  Die Regelung beruht auf dem Gesetz über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003 / 35 / EG (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) vom 9.12.2006 (BGBl. I S. 2819). 141  ­BVerwGE 127, 208 Rn. 16 (Flugzeugwartungsanlage).



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trolle.142 Bereits § 3c Abs. 1 Satz  1 UVPG 2001 räumte der zuständigen Behörde im Rahmen der Vorprüfung einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren naturschutzfachlichen Beurteilungsspielraum („Einschätzungsprärogative“) ein.143 Eine Vorprüfung darf und soll in ihrer Prüftiefe auf eine überschlägige Vorausschau begrenzt sein, die eigentliche Umweltverträglichkeitsprüfung also nicht vorwegnehmen.144 Das ist eine sinnvolle Abstufung. Die „eigentliche“ UVP erfolgt in einem Verfahren, das vor allem wegen der obligatorischen Öffentlichkeitsbeteiligung eine besondere Richtigkeitsgewähr für die Prüfergebnisse sichert. Diese Sicherung würde nach Ansicht des ­BVerwG ausgeschaltet, wenn im Rahmen der Vorprüfung mit einer der UVP vergleichbaren Prüftiefe „durchermittelt“ würde, sei es, dass die Planfeststellungsbehörde selbst Gutachten mit einer auf die Sachentscheidung zugeschnittenen Prüftiefe einholte, sei es, dass sie zur Beurteilung auf entsprechende vom Vorhabenträger beschaffte Gutachten zurückgriffe. Andererseits darf sich die Vorprüfung aber auch nicht in einer oberflächlichen Abschätzung spekulativen Charakters erschöpfen, sondern muss auf der Grundlage geeigneter und ausreichender Informationen erfolgen.145 Dieses vom ­BVerwG letztgenannte Argument überzeugt allerdings schwerlich. Dass die eigentliche Vollprüfung eine Öffentlichkeitsbeteiligung vorsieht und damit eine erhöhte Gewähr der Sicherheit bieten kann, ist richtig, Diese Verfahrensweise besagt umgekehrt inhaltlich nichts über die zu fordernde Prüfungsintensität der Vorprüfung. Die „wahren“ Gründe dürften dann doch andere sein: Bei der Frage, welche Unterlagen und Informationen als geeignete Grundlage einer überschlägigen Prüfung benötigt werden, kommt der Behörde ein Einschätzungsspielraum zu.146 Die eher tragende Begründung ist, dass sich die Behörde mit der sachkundigen Auswertung der vom Vorhabenträger vorgelegten Fachgutachten in aller Regel innerhalb der Grenzen des ihr mit § 3a Satz  4 UVPG eingeräumten Spielraums halten wird. 142  ­BVerwGE 141, 282 Rn. 24; 127, 208 Rn. 51 (Flugzeugwartungsanlage); OVG Münster, Urt. v. 6.9.2013 – 11 D 118 / 10.AK – juris Rn. 93. 143  ­BVerwGE 127, 208 Rn. 48 (Flugzeugwartungsanlage). Ebenso Sangenstedt, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht, Bd. III, § 3c UVPG Rn. 14, 15; Dienes, in: Hoppe (Hrsg.), UVPG, 2. Aufl. 2002, § 3c Rn. 7; Feldmann, Umweltverträglichkeitsprüfung: EG-Richtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band I, 2. Aufl. 2003, Rn. 84. 144  ­BVerwGE 131, 352 Rn. 35 – Putenmast-Fall. 145  ­BVerwGE 141, 282 Rn. 24. 146  ­BVerwGE 141, 282 Rn. 25; 127, 208 Rn. 49 (Flugzeugwartungsanlage); 131, 352 Rn. 35 – Putenmast-Fall.

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Die angenommene Einschätzungsprärogative der Behörde erstreckt sich nach der Rechtsprechung auch auf die Frage, ob die vom Vorhabenträger vorgelegten Unterlagen (und die eigenen Informationen der Behörde) eine geeignete Grundlage bilden, um unverzüglich (vgl. § 3a Satz  1 UVPG) aufgrund überschlägiger Prüfung über die UVP-Pflichtigkeit des Vorhabens zu entscheiden.147 Bei der Frage, welche Unterlagen und Informationen als geeignete Grundlage einer überschlägigen Prüfung (noch) benötigt werden, kommt der Behörde ebenfalls ein Einschätzungsspielraum zu.148 Fast resignativ formulierte das ­BVerwG 2008: „Bei zahlreichen Fragestellungen steht – jeweils vertretbar – naturschutzfachliche Einschätzung gegen naturschutzfachliche Einschätzung, ohne dass sich eine gesicherte Erkenntnislage und anerkannte Standards herauskristallisiert hätten.“149 b) Gerichtliche, gegenläufige Handhabung des § 3a Satz  4 UVPG? Einige Obergerichte wollen erkennbar die ihnen vom Gesetzgeber auferlegte Begrenzung ihrer Kontrolltätigkeit nicht hinnehmen. Sie werfen zwar nicht ausdrücklich die Frage der Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht oder Unionsrecht auf. Jedoch entscheiden sie sich für eine Begründungslast der Behörde, steigern also der Sache eine verfahrensrechtliche Perspektive. Auch für sie ist die negative Vorprüfungsentscheidung der Behörde der Sache nach ein „belastender“ Verwaltungsakt, der im Sinne des § 39 Abs. 1 VwVfG begründungsbedürftig ist. Das OVG Münster (2013) will sich ersichtlich nicht mit einer „Plausibilitätskontrolle“ begnügen. Für das Gericht bedeutet zwar auch „Nachvollziehbarkeit im Sinne von § 3a Satz  4 UVPG“, dass das Ergebnis der aufgrund überschlägiger Prüfung erfolgten behördlichen Einschätzung durch ein Gericht nicht auf materielle Richtigkeit, sondern lediglich auf Plausibilität zu überprüfen ist. Im gerichtlichen Verfahren zu beanstandende Rechtsfehler, welche die Nachvollziehbarkeit ausschließen, lägen allerdings dann vor, „wenn die Vorprüfung entweder Ermittlungsfehler aufweist, die so schwer wiegen, dass sie ersichtlich auf das Ergebnis durchschlagen konnten, oder wenn das Ergebnis außerhalb des Rahmens zulässiger Einschätzung liegt“.150 Der VGH Mannheim (2012) formuliert ähnlich: Zwar sei die gerichtliche Kontrolle einer UVP-Vorprüfung nach § 3a Satz  4 UVPG darauf 147  ­BVerwGE

131, 352 Rn. 35; 127, 208 Rn. 49. 141, 282 Rn. 25 (Teilabschnitt der Autobahn A 44). 149  ­BVerwGE 131, 274 Rn. 63 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen). 150  OVG Münster, Urt. v. 14.10.2013 – 20 D 7 / 09.AK Rn. 126 (Luftverkehrsrecht  – Untersagung der Nutzung eines Vorfelds [Verkehrsflughafen Köln / Bonn]), unter Bezug auf VGH Mannheim, DVBl. 2012, 15. 148  ­BVerwGE



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beschränkt, ob sie Rechtsfehler aufweise, die ihre Nachvollziehbarkeit ausschlössen. „Letzteres ist anzunehmen, wenn die Vorprüfung entweder mit Ermittlungsfehlern behaftet ist, die so schwer wiegen, dass sie ersichtlich auf das Ergebnis durchschlagen, oder wenn das Ergebnis außerhalb des Rahmens vertretbarer Einschätzungen liegt“.151 Das OVG Hamburg (2010) nimmt einen Rechtsverstoß an, wenn die Vorprüfung entweder Ermittlungsfehler aufweist, die so schwer wiegen, dass sie ersichtlich auf das Ergebnis durchschlagen, oder wenn das Ergebnis außerhalb des Rahmens zulässiger Einschätzungen liegt.152 Ersichtlich wehren sich diese Obergerichte gegen eine allzu oberflächliche UVP-Vorprüfung. Sie beziehen die Nachvollziehbarkeit nicht nur auf das Ergebnis, sondern verlangen ein Ermittlungs- und Begründungskonzept der Behörde. Man darf unverändert gespannt sein, ob der EuGH diese „deutsche“ Lösung des § 3a Satz  4 UVPG akzeptieren wird. In seiner Entscheidung zur Unionswidrigkeit der Heilungsvorschriften des § 214 Abs. 2a Nr. 1 BauGB deutet der Gerichtshof in Bezug auf das beschleunigte Verfahren des § 13a BauGB jedenfalls recht genau an, dass eine auch inhaltliche Prüfung der UVP-Pflichtigkeit nicht unterlaufen werden darf.153 Das ­BVerwG billigt die im gerichtlichen Verfahren nachgeholte Vorprüfung unter entsprechender Anwendung des § 45 Abs. 2 VwVfG.154 Das heißt nichts anderes, als dass das Gericht dazu neigt, das Instrument der Vorprüfung letztlich als eine zu vernachlässigende Größe anzusehen. Dem entspricht es, wenn es zugleich erklärt, die Regelung über die Öffentlichkeitsinformation nach § 3a Satz  2 UVPG habe nur deklaratorischen Charakter. Das ­BVerwG glaubt sich damit im Einklang mit Art. 2 Abs. 1 UVP-RL 85 / 337 / EWG (nunmehr Art. 2 Abs. 1 2011 / 92 / EU) zu befinden. Das erscheint im Hinblick auf Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 2 UVP-RL 85 / 337 / EWG in der Fassung der RL 2003 / 35 / EG (nunmehr textidentisch RL 2011 / 92 / EU) zweifelhaft, weil Art. 2 Abs. 1 Satz  2 UVP-RL 85 / 337 / EWG ausdrücklich auf Art. 4 der Richtlinie Bezug nimmt. Dem Gedanken einer wirksamen Beteiligung der Öffentlichkeit, wie er etwa auch in Art. 6 der Århus-Konvention (1998) tragend ist, dürfte das gefundene Ergebnis ohnedies kaum gerecht werden.

151  VGH

Mannheim, DVBl. 2012, 15 Rn. 28. Hamburg, NordÖR 2010, 206 Rn. 19. 153  EuGH, DVBl 2013, 777; ähnlich bereits EuGH, NVwZ 2012, 553 Rn. 44 bis 46 – Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne. 154  ­BVerwGE 131, 352 Rn. 35 – Putenmast-Fall. 152  OVG

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3. Beispiel: Verbandsklagerecht – § 4a Abs. 2 UmwRG 2013 a) Änderung der Rechtslage – Begrenzung der Nachprüfbarkeit Der Bundesgesetzgeber hat in der jüngsten Novellierung des Umweltverbandsklagerechtes (2013) die Begrenzung der gerichtlichen Kontrolle mit kodifizierendem Willen normiert.155 In § 4a Abs. 2 UmwRG 2013 heißt es nunmehr: Soweit der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung umweltrechtlicher Vorschriften eine Beurteilungsermächtigung eingeräumt ist, ist eine behördliche Entscheidung im gerichtlichen Verfahren nur daraufhin zu überprüfen, ob 1. der Sachverhalt vollständig und zutreffend erfasst wurde, 2. die Verfahrensregeln und die rechtlichen Bewertungsgrundsätze eingehalten wurden, 3. das anzuwendende Recht verkannt wurde, 4. sachfremde Erwägungen vorliegen. Überraschend ist dieses limitierende „Regelungsset“ nicht. Bei einem Beurteilungsspielraum hat sich nach deutscher Auffassung die gerichtliche Überprüfung seit jeher grundsätzlich darauf zu beschränken, [1] ob die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind, [2] ob die Behörde von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, [3] ob sie ferner den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat, [4] ob sie sich des Weiteren bei der eigent­ lichen Beurteilung an allgemein gültige Wertungsmaßstäbe gehalten und [5] ob sie das Willkürverbot nicht verletzt hat.156 Soweit die behördliche Analyse (z. B. Gefahrenanalyse) prognostische Einschätzungen umfasst, erstreckt sich die gerichtliche Kontrolle darauf, ob die Prognose auf der Grundlage fachwissenschaftlicher Maßstäbe methodengerecht erstellt wurde. Sie ist gerichtlich grundsätzlich nur darauf zu prüfen, ob sie mit den seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln methodengerecht erstellt wurde.157 Nimmt man die textliche Einschränkung ernst, ist bei der Anwendung des § 4a Abs. 2 UmwRG zunächst zu fragen, ob denn eine umweltrechtliche Vorschrift überhaupt eine Beurteilungsermächtigung eingeräumt hat. Mit dem erörterten § 3a Satz  4 UVPG ist dies geschehen. 155  Die Regelung beruht auf dem Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften (UmwRGuaÄndG) vom 21.1.2013 (BGBl. I 2013, 95). 156  So die Formulierungen der herrschenden Rechtsprechung, vgl. etwa des ­BVerwGE 129, 27 unter Hinweis auf ­BVerwGE 60, 245; 77, 75; 103, 200; 117, 81. 157  Vgl. etwa ­BVerwG, DVBl 2003, 1069; ­BVerwGE 123, 261 356.



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In Frage steht gleichwohl, ob § 4a Abs. 2 UmwRG 2013 den unionsrechtlichen Anforderungen genügt. Maßstab muss Art. 11 UVP-RL 2011 / 92 / EU sein, und zwar in seiner Rückbindung an Art. 9 der Århus-Konvention (1998). Auch für die Prüfung der Begründetheit einer unionsrechtlich inaugurierten Klage gelten der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz und der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz. Beide Grundsätze wären verletzt, wenn zwar die Klage des Umweltverbandsklägers nach nationalem Recht zulässig wäre, der Kläger jedoch eine hinreichend effektive Rechtsprüfung nicht erreichen könnte. Dies würde ersichtlich dem Grundsatz widersprechen, dass dem Umweltverbandskläger ein „weiter Zugang zu Gerichten zu gewähren“ ist. Außerdem verlangt die Richtlinie einen Zugang, „um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten“. Diese Wortwahl deutet an, dass die Klage zu einer umfassenden Prüfung aller verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Verwaltungsentscheidung führen soll. Das würde bedeuten, dass dem Gericht bei zulässiger Klage eine Totalprüfung (Vollkontrolle) obliegt. Die Frage nach dem Umfang der gerichtlichen Kontrolle war bereits vor Inkrafttreten des URG stark umstritten. Murswiek hatte sie 2005, wohl als Erster, problematisiert.158 Demgegenüber wurde auch die Meinung vertreten, das Gericht müsse sich auf die Prüfung beschränken, ob die Bestimmungen der Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung 2003 / 35 / EG selbst oder die Bestimmungen der UVP-RL  85 / 337 / EWG (nunmehr RL 2011 / 92 / EU) eingehalten wurden. Die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 5 UmwRG lässt erkennen, dass man sich über das Verständnis des Satzteils „materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit“ (Art. 10a UVP-RL 85 / 337 / EWG, nunmehr Art. 11 Abs. 1 RL 2011 / 92 / EU) keine weiteren Gedanken gemacht hatte. Immerhin hatte der belgische Conseil d’État (2011) dem EuGH folgende Interpretationsfrage vorgelegt: „Ist Art. 10a der Richtlinie 85 / 337 im Hinblick auf das Aarhus-Übereinkommen dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten auferlegt, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle zu gewähren, damit die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen hinsichtlich jeder materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Frage sowohl der materiell-rechtlichen als auch der verfahrensrechtlichen Regelung der Genehmigung von Projekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterworfen sind, angefochten werden kann?“.159 158  Dietrich Murswiek, Ausgewählte Probleme des allgemeinen Umweltrechts, in: Verw 38, 243–279 (2005). 159  Textstellen sind vom Verfasser kursiv gesetzt, wiedergegeben in: EuGH, Urteil vom 18.10.2011, Rs.  C-128 / 09 (Boxus et Roua / Région wallonne), juris Rn. 19.

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Das so angestoßene Vorlageverfahren nahm seinen üblichen Verlauf. Unter dem 19.  Mai 2011 legte die Generalanwältin Sharpston ihre Schlussanträge vor. Am selben Tag wurde die Sache vor der Großen Kammer verhandelt. Die Generalanwältin führte aus: „Die Antwort lässt sich aus dem Wortlaut der Art. 9 des Aarhus-Übereinkommens und 10a der UVP-Richt­ linie ableiten und lautet, dass diese Vorschriften den Mitgliedstaaten auf­ erlegen, Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen, die in den Geltungsbereich dieser Instrumente fallen, zu gewähren hinsichtlich aller materiellrechtlichen oder verfahrensrechtlichen Regelungen der Genehmigung von Projekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterworfen sind.“160 Die Generalanwältin verstand mithin das Interpretationsersuchen genau im Sinne der Frage einer erforderlichen gerichtlichen Totalprüfung. Zu einer Äußerung des EuGH ist es allerdings nicht gekommen. Der Gerichtshof hat die ihm gestellte Interpretationsfrage nach der gerichtlichen Prüfungsintensität in seinem Urteil vom 18.  Oktober 2011 mangels Entscheidungserheblichkeit nicht näher beantwortet.161 Demgemäß bleibt es eine unionsrechtlich unverändert offene Frage. Nach Ansicht des ­BVerwG (9. Senat [2012]) spricht „einiges dafür, dass auch Art. 11 Abs. 1 der UVP-RL bei zulässigen Klagen von Vereinigungen gegen Entscheidungen über die Zulassung von Vorhaben, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind, keine umfassende gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit gebietet“.162 160  GAin Sharpston, Schlussanträge vom 19.5.2011 – Rs. C 128 / 09 – juris, Rn. 95, 97, der kursiv gesetzte Text vom Autor. 161  EuGH, Urt. v. 18.10.2011 (Fn. 74), Rn. 49 ff. Vgl. auch zum selben Sachverhalt EuGH, Urt. v. 16.2.2012 – Rs. C-182 / 10 – juris – Marie-Noëlle Solvay u. a. /  Région wallonne. 162  ­BVerwGE 144, 243 Rn. 18 unter Bezug auf VGH Mannheim, ZUR 2011, 600 Rn. 68 unter Bezugnahme auf Greim, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 12.5.2011, Az.: C-115 / 09, in: UPR 2011, 271, 272, ebenso wohl Gellermann, Europäisierte Klagerechte anerkannter Umweltverbände, in: NVwZ 2006, 7, 9; Durner, Direktwirkung europäischer Verbandsklagerechte? – Überlegungen zum Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2003 / 35 / EG am 25 Juni 2005 und zur unmittelbaren Anwendbarkeit ihrer Vorgaben über den Zugang zu Gerichten, ZUR 2005, 285, 290; nunmehr ablehnend auch OVG Münster, Urt. v. 20.1.2012 – 2 D 141 / 09.NE – juris Rn. 46 ff.; Fellenberg / Schiller, Rechtsbehelfe von Umweltvereinigungen und Naturschutzvereinigungen nach dem „Trianel-Urteil“ des EuGH (Rs. C-115 / 09), in: UPR 2011, 321–329 (324 f.); Kleinschnittger, Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 12.5.2011 zum Verbandsklagerecht für Umweltverbände, I+E 2011, 280, 286; a. A. Murswiek, Ausgewählte Probleme des allgemeinen Umweltrechts. Vorsorgeprinzip, Subjektivierungstendenzen am Beispiel der UVP, Verbandsklage, Verw 38, 243, jetzt auch Bunge, Die Klagemöglichkeiten anerkannter Umweltverbände aufgrund des UmweltRechtsbehelfsgesetzes nach dem Trianel-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, NuR 2011, 605, 608; offen gelassen OVG Magdeburg, Urt. v. 10.10.2013 – 2 K 98 / 12 – juris Rn. 122 zur Frage der Planrechtfertigung.



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Ein anderer Senat des ­BVerwG (7. Senat [2013]) ist dezidierter.163 Er meint, dass im Rahmen der UmwRG-Verbandsklage die Prüfung ausschließlich auf Rechtsvorschriften beschränkt sei, die dem Umweltschutz dienten. b) Urteil des EuGH in Sachen Gemeinde Altrip (zu § 4 Abs. 1 UmwRG) Der Unionsgesetzgeber wollte nach Ansicht des EuGH (2013) mit § 4 Abs. 1 UmwRG die Möglichkeit, einen Verfahrensfehler geltend zu machen, nicht an die Voraussetzung knüpfen, dass dieser Fehler Auswirkungen auf den Inhalt der angegriffenen endgültigen Entscheidung hatte.164 Daher darf der Gesetzgeber die Prüfung des Gerichts nicht darauf beschränken, ob eine Umweltverträglichkeitsprüfung überhaupt durchgeführt wurde, diese indes fehlerhaft war. Der Gerichtshof führt ergänzend dazu aus: Es muss nach den Umständen des konkreten Falls nachweislich die Möglichkeit bestehen, dass die angegriffene Entscheidung ohne den vom Rechtsbehelfsführer geltend gemachten Verfahrensfehler nicht anders ausgefallen wäre. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht dem Rechtsbehelfsführer insoweit in keiner Form die Beweislast aufbürdet und gegebenenfalls anhand der vom Bauherrn oder von den zuständigen Behörden vorgelegten Beweise dem Gericht oder der Stelle vorliegenden Akte entscheidet. Dabei ist u. a. der Schweregrad des geltend gemachten Fehlers zu berücksichtigen und insbesondere zu prüfen, ob dieser Fehler der betroffenen Öffentlichkeit eine der Garantien genommen hat, die geschaffen wurden, um ihr zu Informationen zu verhelfen und die Beteiligung am Entscheidungsprozess zu ermöglichen.165 Im Ergebnis bedeutet dies: Der EuGH lässt – ähnlich seiner Entscheidung zu Delena Wells – bereits den qualifizierten Fehler kassatorisch durchgreifen. 4. Beispiel: Präklusionsrecht als mittelbare Begrenzung Auf die kontrollbegrenzende Funktion der prozessualen oder materiellrechtlichen Präklusion wurde bereits hingewiesen. Der deutsche Gesetzgeber hat im Baurecht, im Fachplanungsrecht und im Verbandsklagerecht Regelungen über die Präklusion von nachträglichen Einwendungen normiert. Danach können z. B. auch Einwendungen, die sich auf das Verfahrensrecht, 163  ­BVerwG, Urt. v. 24.10.2013 – 7 C 36.11 – juris Rn. 23. Es ist nicht ohne Reiz zu lesen, wie der eine Senat den Urteilstext des anderen interpretiert. 164  EuGH, NuR 2013, 878 – Gemeinde Altrip. 165  EuGH, U. v. 7.11.2013 – Rs. C-72 / 12 – NuR 2013, 878 – Gemeinde Altrip.

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namentlich das Verfahren bei der Umweltverträglichkeitsprüfung beziehen, der gesetzlich angeordneten Präklusion unterliegen; sie müssen deshalb rechtzeitig und hinreichend substantiiert gegenüber der Planfeststellungsbzw. Anhörungsbehörde angebracht werden.166 Die Einwendungen Privater müssen bei einer ausführlichen Behandlung des Naturschutzes in den ausgelegten Unterlagen so konkret sein, dass sich die Planfeststellungsbehörde veranlasst sieht, vertieft in die Prüfung des Vorhabens in Bezug auf bestimmte Tier- und Pflanzenarten einzutreten.167 Wenn der Naturschutz in den ausgelegten Unterlagen ausführlich behandelt worden ist, genügt ein allgemeiner Hinweis auf die Zerstörung der Landschaft mit ihrer Fauna und Flora nicht, um einem von dem Vorhaben unmittelbar betroffenen Grundstückseigentümer die spätere Einwendung offenzuhalten, die Planfeststellungsbehörde hätte bestimmte Tier- und Pflanzenarten in bestimmter Hinsicht einer näheren Betrachtung unterziehen müssen.168 Die hierfür gegebenen Begründungen sind unterschiedlich. Im Ergebnis normieren derartige Präklusionen externe Grenzen des Rechtsschutzes. Sie sind durch die Funktion des Rechtsschutzes selbst kaum begründbar. Allerdings haben Präklusionen für die Gerichte faktisch einen „angenehmen“ Entlastungseffekt. Im Ergebnis führen sie dazu, dass eine vollständige inhaltliche Rechtskontrolle nicht möglich ist, soweit eine Präklusion greift. Auch hier stellt sich für das Umweltrecht die Frage, ob derartige Regelungen mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

IV. Vorläufiger Rechtsschutz – Minderung der Prüfungsintensität? 1. Kursorische Hinweise Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist, nicht wiedergutzumachende Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit wie möglich auszuschließen.169 In die erforderliche Interessenabwägung kann der Gesetzgeber eingreifen. Dadurch kann er die gerichtliche Kontrollintensität verändern. Schließt er auf der Grundlage des § 80 Abs. 2 Satz  1 Nr. 3 166  Vgl. ­BVerwG, Beschl. v. 4.8.2011 – 9 B 33.11 – juris Rn. 2; ­BVerwG, NVwZ 2008, 678 (Neubau der Bundesfernstraße B 178n); OVG Lüneburg, Beschl. v. 3.12.2013 – 7 MS 4 / 13 – juris Rn. 16; OVG Lüneburg, Urt. v. 19.9.2013 – 7 KS 209 / 11 – juris. 167  Vgl. ­BVerwG, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 109. 168  ­BVerwG, NVwZ 2008, 678 Rn. 30 (Neubau der Bundesfernstraße B 178n). 169  BVerfG [K], NJW 2004, 2297; BVerfG [K], NVwZ 2004, 93.



Sinn und Funktionsgrenzen des Rechtsschutzes im Umweltrecht

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VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage aus, so schlägt nach Meinung vieler das Vollzugsinteresse im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei offenem Prozessausgang in der dann gebotenen Interessenabwägung mit erheblichem Gewicht zu Buche. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass sich dieses Interesse gegenüber dem sog. Aufschubinteresse regelhaft durchsetzt.170 In zahlreichen Gesetzen, namentlich im Fachplanungsrecht, hat der Gesetzgeber den Sofortvollzug kraft Gesetzes angeordnet. Manche meinen, dass § 80 Abs. 1 VwGO nicht mehr die Regel, sondern in tatsächlicher Hinsicht die Ausnahme ist.171 2. Modell des § 212a Abs. 1 BauGB Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens haben gemäß § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung. Entscheidungskriterium für das nach § 80a Abs. 3 VwGO angerufene VG ist in erster Linie die mit den Erkenntnismöglichkeiten des Eilverfahrens zu prognostizierende Erfolgsaussicht des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs des Dritten gegen die Baugenehmigung. Insoweit bestehen formal gegenüber dem Prüfungsprogramm, das zu § 80 Abs. 5 VwGO anzuwenden ist, keine Besonderheiten. Die obergerichtliche Rechtsprechung entnimmt § 212a Abs. 1 BauGB – mit wenigen Ausnahmen  – für eine Interessenabwägung einen Wertungsvorrang zugunsten des genehmigten Vorhabens.172 Aus dieser prozessualen Lage des § 212a Abs. 1 BauGB wird teilweise abgeleitet, das verfassungsrechtliche Effektivitäts­ gebot des Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG geböte im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine nähere, allenfalls nur summarische Tatsachenermittlung.173 Im Umweltschutzrecht entsteht wegen der vielfach bestehenden Komplexität der Befundaufnahme und deren fachlicher Bewertung ein faktischer Vorrang zugunsten der Exekutive. Nur für den Fall, dass in der 170  ­BVerwGE 123, 241 unter teilweiser Aufgabe von ­BVerwGE 96, 239; ­BVerwG, DVBl 2001, 1861. Vgl. auch Große, Roma locuta, causa finita? – Der B. des ­BVerwG zum Flughafen Berlin-Schönefeld, in: NVwZ 2005, 773; Debus, Überwiegendes Vollzugsinteresse wegen gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung?, in: NVwZ 2006, 49–51. 171  Vgl. Berkemann, Rechtsschutz gegen Planfeststellung und Plangenehmigung, in: Erbguth (Hrsg.), Effektiver Rechtsschutz im Umweltrecht? – Stand, aktuelle Entwicklungen, Perspektiven – Rostocker Umweltrechtstag 2004, S. 65. 172  Vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Bechl. v. 21.12.2011 – OVG 10 S 29.10 – juris Rn. 22; OVG Saarland, Beschl. v. 4.4.2011 – 2 B 20 / 11 – juris Rn. 13; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 131 Rn. 9; a. A. wohl nur VGH München, Beschl. v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 39. 173  So etwa OVG Saarland, Beschl. v. 4.4.2011 – 2 B 20 / 11 – BauR 2011, 1373 (L) = juris Rn. 30.

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Natur „vollendete“ (irrevisible) Tatsachen geschaffen werden, bestehen für den Kläger Chancen, dass das Gericht den Fortgang stoppt. 3. Modell des § 4a Abs. 3 UmwRG 2013 Der Bundesgesetzgeber hat die mit Blick auf die Trianel-Entscheidung des EuGH (EuGH, Urt. v. 12.05.2011 – C-115 / 09) vorgenommene Ausweitung des Klagerechts von Umweltvereinigungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Umw­RG gegen UVP-pflichtige Vorhaben zum Anlass für Modifikationen der VwGO genommen. Damit soll ein „gewisser Ausgleich“ zugunsten der Belange der von Verbandsklagen Betroffenen hergestellt und verhindert werden, dass das Instrument der Verbandsklage zu sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerungen von Vorhaben instrumentalisiert wird.174 Daher bestimmt der Gesetzgeber nunmehr, dass im Rahmen der Umweltverbandsklage § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit der Maßgabe anzuwenden sei, dass das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen oder wiederherstellen kann, wenn „im Rahmen einer Gesamtabwägung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts“ bestehen. Im Schrifttum wird erörtert, ob § 4a Abs. 3 UmwRG eine Änderung der Bewertungsmaßstäbe im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO normiert. Der Wortlaut des § 4a Abs. 3 UmwRG könnte Zweifel aufkommen lassen, ob die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund einer von den Erfolgsaussichten der Klage losgelösten Abwägung von Suspensiv- und Vollzugsinteresse noch zulässig ist. Dem geht das ­BVerwG (2013) jüngst nach. Es genüge, festzustellen, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen. Das ­BVerwG lässt Weiteres kompromisshaft offen. Das Gericht meint, die Modifizierung des Maßstabs zur Prüfung von Anträgen nach § 80 Abs. 5 Satz  1 VwGO gemäß § 4a Abs. 3 UmwRG betreffe nur den Gesichtspunkt der Erfolgsaussichten der Klage, lasse jedoch die Einbeziehung weiterer Gesichtspunkte in die Abwägung unberührt.175 Das darf man wohl dahin deuten, dass sich das ­BVerwG nicht vorschreiben lassen will, unter welchen Voraussetzungen es den Sofortvollzug aussetzt.

174  Vgl.

Begründung des Gesetzesentwurfs in: (BTags-Drs. 17 / 10957, S. 17 f.). NVwZ 2013, 1019 Rn. 4.

175  ­BVerwG,

Rechtsschutz bei mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren am Beispiel der Energiewende Von Wolfgang Ewer

I. Einleitung Das hiesige Thema hat, wie die gesamte Energiewende, eine ganz erhebliche Aktualität. Bereits im vorvergangenen Jahr hatte die Bundeskanzlerin die Energiewende bekanntlich zur Chefsache erklärt und in diesem Zusammenhang den damals noch zuständigen Bundesumweltminister ersetzt. Nun ist es bezeichnend, dass die Energiepolitik mittlerweile dem Wirtschaftsministerium zugeordnet ist. Es gibt zwar, anders als in Schleswig-Holstein, auf Bundesebene keinen Minister speziell für die Energiewende, sondern nur einen für Energie. Der Impetus ist aber klar. Die Energiewende soll unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Entwicklung, und eher losgelöst von möglichen umweltpolitischen Hindernissen, betrieben werden. Das steht natürlich im Zusammenhang mit der Absicht, die Energiewende zügig umzusetzen. Fragen des Rechtsschutzes spielen dabei naturgemäß eine erhebliche Rolle. Einerseits ist der effektive Rechtsschutz ein zentrales Verfassungsgebot, das nicht nur in Art. 19 Abs. 4 GG niedergelegt, sondern auch schon ein Merkmal des Rechtsstaats ist.1 Andererseits nimmt jedes gerichtliche Verfahren Zeit in Anspruch.2 Von besonderer praktischer Relevanz und zugleich von hohem dogmatischem Interesse sind dabei die Fragen, die sich aus mehrstufigen Verwaltungsverfahren ergeben. Dort kann der Bürger prinzipiell auf jeder Stufe betroffen sein. Daran knüpft die zentrale Frage an, auf welcher der verschiedenen Stufen der Rechtsschutz ansetzen kann. Daraus ergeben sich dann Folgefragen zur Rückwirkung der jeweils anderen Stufen auf die gericht­ liche Überprüfung der konkret zur Prüfung gestellten Stufe. Mit Blick auf diese Fragestellungen hat das hier verfolgte Thema im Wesentlichen zwei Aspekte: In erster Linie gilt es zu identifizieren, nach 1  Vgl. 2  Vgl.

z. B. BVerfGE 107, 395 (401). nur §§ 198 ff. GVG.

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welchen allgemeinen Grundsätzen in mehrstufigen Verfahren Rechtsschutz gewährt wird. Wenn diese Erkenntnis gesichert ist, kann dann untersucht werden, wie sich diese allgemeinen Grundsätze im fachrechtlichen Zusammenhang der Energiewende wiederfinden. Dieser fachrechtliche Zusammenhang wird vor allem die Planung und Planfeststellung für den Ausbau der Energienetze betreffen, der durch die Energiewende veranlasst ist. Es ist inzwischen weitestgehend bekannt, dass die Energiewende einen verstärkten Bedarf an elektrischen Leitungen, besonders im Hoch- und Höchstspannungsbereich, mit sich bringt. Das folgt schlicht daraus, dass Strom aus erneuerbaren Energien, insbesondere aus Windkraft, vor allem im Norden der Republik erzeugt wird, während die größten Verbrauchszentren im Süden und im Westen liegen.3

II. Allgemeine Grundsätze des Rechtsschutzes in mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren Mit Blick auf die erwähnten allgemeinen Grundsätze der Rechtsschutzgewährung in mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren bietet es sich an, in aller Kürze gewisse andere mehrstufige Planungs- und Zulassungsverfahren, zu denen die Struktur des gerichtlichen Rechtsschutzes schon geklärt ist, Revue passieren zu lassen. Diese Verfahren liegen sicherlich außerhalb des umweltrechtlichen Oberthemas dieser Veranstaltung. Es wird deshalb nicht so sehr um die fachrechtlichen Einzelheiten, sondern vielmehr darum gehen, die Strukturelemente herauszuarbeiten. Geradezu als „Musterbeispiel“ eines mehrstufigen Planungs- und Zulassungsprozesses gilt die Bundesfernstraßenplanung.4 Die Planung und Planfeststellung vollzieht sich hier in mehreren, immer konkreter werdenden Schritten. Dazu ist aber vorab noch eine kurze – vielleicht etwas triviale – Klarstellung geboten. Diese kann auf den einfachen Nenner gebracht werden: „Ein Abschnitt ist keine Stufe.“ Die Aufteilung einer Bundesfernstraße, einer Bundeswasserstraße oder auch des Verlaufs einer Stromleitung in Abschnitte teilt eine Verfahrensstufe in mehrere Teilstücke auf. Das rechtliche Schicksal eines Abschnitts kann demnach zwar auch Auswirkungen auf andere Abschnitte haben. Beispielsweise hatte es sich in einer neueren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergeben, dass ein kleiner Teil eines früheren Abschnitts einer Autobahn seinerzeit keine Planrechtfertigung 3  Vgl. z. B. Ewer, Ausgewählte raumordnungs- und fachplanungsrechtliche Aspekte des Netzausbaus, SchlHAnz 2012, S. 281. 4  Tausch, Gestufte Bundesfernstraßenplanung, Hamburg 2011, S. 3.



Rechtsschutz bei mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren

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gehabt hätte, weil er nicht bis zu einer Ausfahrt führte, sondern „auf grüner Wiese“ enden sollte. Deshalb war dieser kleine Teil in einen anschließenden Abschnitt zu übertragen. Das rechtliche Schicksal des früheren Abschnitts wirkte damit auf den späteren Abschnitt ein. Auch dort ist die Planung letztlich nicht fehlerfrei gelungen,5 aber dies mag als Beispiel für gegenseitige Rückwirkungen zwischen Abschnitten genügen. Jedenfalls sind diese Rückwirkungen aber eher zeitlicher oder nachbarschaftlicher Art. Dagegen sind Abschnitte im Verhältnis zueinander keine Verfahrensschritte; sie haben also keine logischen Wirkungen aufeinander. Unter den Verfahrensschritten der Bundesfernstraßenplanung steht chronologisch an erster Stelle gegebenenfalls der Bundesverkehrswegeplan der Bundesregierung. Dieser ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, hat aber in der Staatspraxis die Funktion, als „Investitionsrahmenplan“ einen Gesamtinvestitionsbedarf festzustellen und die Bedarfsplanungen für die verschiedenen Verkehrsträger – Fernstraßen, Eisenbahnen und Wasserstraßen – aufeinander abzustimmen.6 Die Bundesverkehrswegeplanung schließt eine Überprüfung der bestehenden Verkehrsnetze, eine Aufnahme neuer Projekte und die Bewertung dieser Projekte im Hinblick auf ihre Dringlichkeit ein.7 Der Bundesverkehrswegeplan wird mit den Ressorts der Bundesregierung, mit den Ländern und mit den interessierten Verbänden abgestimmt; beschlossen wird er letztlich vom Bundeskabinett.8 Mangels einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage ist der Bundesverkehrswegeplan aber in keiner Weise verbindlich. Er enthält nur informelle Absichtserklärungen.9 In der Diktion von Bernhard Stüer ist er nichts als „geronnene Politik“.10 Der Bundesverkehrswegeplan trifft also noch keinerlei rechtsförmige Entscheidung. Er hat keine Regelungswirkung. Als bloßes Politikum ist er nicht justiziabel11 und nicht anfechtbar. Prinzipiell anders liegt es auf der nächsten Stufe der Bundesfernstraßenplanung. Diese nächste Stufe markiert der „Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen“. Der Bedarfsplan wird als formelles Gesetz erlassen, denn er findet 5  ­BVerwG,

Urteil vom 08.01.2014 – 9 A 4.13 –, zit. n. juris, Rn. 2 ff. Beschluss vom 24.02.2004 – 4 B 101.03 –, zit. n. juris, Rn. 4: „Der Bundesverkehrswegeplan ist als ein Instrument verkehrsträgerübergreifender Planung ein Investitionsrahmenplan.“ 7  Tausch (Fn. 4), S. 49. 8  Ebda., S. 50. 9  Ebda., S. 49. 10  B.  Stüer, Habitatschutz auch in der Bundesverkehrswegeplanung?, NVwZ 2002, S. 1164. 11  Kühling / Herrmann, Fachplanungsrecht, 2. Auflage, Neuwied 2000, Rn. 18; Tausch (Fn. 4), S. 49. 6  ­BVerwG,

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sich in der Anlage zum Fernstraßenausbaugesetz. An dieser Stelle zeigt sich auch die maßgebliche – wenn auch nur faktische – Bedeutung des Bundesverkehrswegeplans. Der Entwurf des Bedarfsplans geht nämlich in der Praxis ohne große Änderungen aus dem Bundesverkehrswegeplan hervor; im Gesetzgebungsverfahren wird der Entwurf dann in der Regel nicht mehr verändert. Mit dem Bedarfsplan wird also der Bundesverkehrswegeplan in eine rechtliche Form gegossen. Dadurch wird der Bundesverkehrswegeplan aber nicht rechtserheblich; er bleibt einzig und allein die zugrundeliegende politische Verabredung. Der Bedarfsplan als formelles Gesetz hat dann allerdings rechtliche Bedeutung. Er wird deshalb als Gesetz erlassen, weil seine Feststellung des Bedarfs gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 FStrG für die nachfolgenden Verfahrensstufen bindend ist. Der Bedarfsplan schreibt den Verkehrsbedarf als zentralen Aspekt der Planrechtfertigung fest, und zwar mit Wirkung auch für die Gerichte. Hinsichtlich der Existenz des Verkehrsbedarfs hat der Bedarfsplan also abschließende Bedeutung, soweit er nicht evident unsachlich und verfassungswidrig ist. Dabei hat der Gesetzgeber allerdings ein weites Ermessen.12 Die Abwägung zwischen dem so festgeschriebenen Verkehrsbedarf und den anderen öffentlichen und privaten Belangen des Einzelfalls kann der Bedarfsplan naturgemäß nicht festschreiben.13 Auch diese Abwägung ist schließlich verfassungsrechtlich geboten und kann daher nicht gesetzlich ausgeschlossen werden.14 Der Bedarfsplan kann also verfassungswidrig sein. In verfahrensrechtlicher Hinsicht kann er aber, da er ein formelles Gesetz ist, direkt höchstens mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Diese ist statthaft, und einen zu erschöpfenden Rechtsweg gibt es an sich auch nicht. Gleichwohl wäre die Verfassungsbeschwerde letztlich wohl fast immer unzulässig, denn es würde an der Beschwerdebefugnis fehlen. Der Bedarfsplan selbst führt noch zu keiner unmittelbaren Betroffenheit irgendeines Bürgers, weil der Bedarfsplan noch nicht entscheidet, ob überhaupt und gegebenenfalls wo genau gebaut wird. Grundstücksbezogene oder gar parzellenscharfe Abgrenzungen leistet der Bedarfsplan nicht; sein Maßstab von 1:750.000 ist dazu viel zu groß. Vielmehr soll der Bedarfsplan vor allem die Bauwürdigkeit und Dringlichkeit von Projekten aus gesamtwirtschaftlicher und verkehrlicher Sicht darstellen.15 Auch der Bedarfsplan 12  Vgl.

­ VerwGE 98, 339, (347); vgl. auch BVerfGE 95, 1 (22 f.). B ­BVerwG, Buchholz 406.251 § 2 UVPG Nr. 5. 14  Vgl. auch Ewer, Der Ausschluss von Bürgerentscheiden auf dem Gebiet der Bauleitplanung, in: Schliesky / Ernst / Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, Heidelberg 2011, S. 191, 192 f. 15  ­BVerwG, Buchholz 407.4 § 1 FStrG Nr. 10; vgl. auch BVerfG-K, NVwZ 1998, S. 1060. 13  Vgl.



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ist daher i. d. R. isoliert nicht anfechtbar, und zwar weil es ihm an der Entscheidungswirkung über die Belange möglicher Beschwerdeführer fehlt.16 Der Bedarfsplan ist allerdings nach § 14b Abs. 1 Nr. 1 UVPG in Verbindung mit Anlage  3 Nr. 1.1 UVPG SUP-pflichtig. Das wird bisweilen kritisiert, weil diese Regelung die SUP-Richtlinie missverstehe und mit dem Prinzip der repräsentativen Demokratie unvereinbar sei.17 Jedenfalls führt aber auch das nicht zu einer isolierten Anfechtbarkeit des Bedarfsplans, weil die SUP und der Bedarfsplan selbst Verfahrenshandlungen im Vorfeld der Planfeststellung sind und daher nach § 44a VwGO nur der Anfechtung mitsamt dem Planfeststellungsbeschluss unterliegen. Der Bedarfsplan bindet im nächsten Verfahrensschritt die Linienbestimmung nach § 16 FStrG. Aufgabe der Linienbestimmung ist es, die Start- und Endpunkte einer geplanten Fernstraße und ihren groben Verlauf – nun im Maßstab 1:25.000 – festzulegen. Die Linienbestimmung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts „nicht auf unmittelbare Rechtswirkungen nach außen gerichtet, sondern hat innerhalb des Planungsverlaufs den Charakter einer vorbereitenden Grundentscheidung mit allein verwaltungsinterner Bedeutung. Rechtliche Verbindlichkeit gegenüber dem Träger der Straßenbaulast und gegenüber Dritten erlangt sie erst dadurch, dass sie in den Festsetzungen des Planfeststellungsbeschlusses ihren Niederschlag findet.“18

Auch die Linienbestimmung ist daher nicht isoliert, sondern nur mit dem Planfeststellungsbeschluss anfechtbar.19 Es findet zwar gemäß § 16 Abs. 2 FStrG eine Abwägung der berührten öffentlichen Belange statt, einschließlich solcher öffentlicher Belange, die auch private Interessen berühren,20 aber eine abschließende Entscheidung ergeht nicht. Auch die Abwägung ist daher auf die Spezifizität der jeweiligen Stufe bezogen und ist insofern ebenfalls nur vorbereitend.21 Die letzte Ebene der Planung und Zulassung von Bundesfernstraßen bildet schließlich die Planfeststellung. Dass der an ihrem Ende ergehende Planfeststellungsbeschluss anfechtbar ist, liegt auf der Hand. Wir dürfen daher festhalten: 16  Vgl.

aber noch den Text unten bei Fn. 29 bis 31. in: Marschall (Hrsg.), Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 6. Auflage, Köln 2012, Vor §§ 16 ff. Rn. 51. 18  ­BVerwGE 134, 308 (311); 136, 332, (334). 19  So implizit die vorstehende Rspr. seit ­BVerwG, DVBl. 1969, 307; grundlegend auch ­BVerwGE 62, 342, (343 f.); ausdrücklich Ronellenfitsch (Fn. 17), § 16 Rn. 61. 20  Ronellenfitsch (Fn. 17), § 16 Rn. 52. 21  Ebda., Rn. 42. 17  Ronellenfitsch,

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• Der Bundesverkehrswegeplan ist schon mangels irgendeiner Rechtswirkung nicht anfechtbar. • Der Bedarfsplan ist nicht anfechtbar, weil er zwar die nachfolgenden Verfahrensschritte in gewisser Weise gesetzlich bindet, aber keine maßgebliche Entscheidung über betroffene Interessen enthält. • Die nachfolgende Linienbestimmung ist ganz ähnlich gelagert. • Auch sie enthält zwar Vorgaben für die Planfeststellung, trifft aber keine maßgebliche Entscheidung. • Das geschieht erst mit der Planfeststellung, deren Abschluss natürlich anfechtbar ist. Vor diesem Hintergrund kann eine provisorische Schlussfolgerung zu den allgemeinen Grundsätzen für den Rechtsschutz in mehrstufigen Verfahren lauten: Ein Verfahrensschritt ist dann selbständig anfechtbar, wenn • in dem fraglichen Stadium bereits die Rechte bestimmter Personen in den Blick zu nehmen sind und • eine maßgebliche Entscheidung (auch) über diese Rechte getroffen wird.

III. Stufen der Planung für Hochspannungsleitungen Mit Blick auf die Stufen in der Planung und Zulassung neuer Stromleitungen im Hoch- und Höchstspannungsbereich soll es hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht so sehr um das allgemeine Planfeststellungsverfahren für Hochspannungsleitungen ab 110 Kilovolt nach dem EnWG oder um das Verfahren für diejenigen Höchstspannungsleitungen ab 380  Kilovolt, die besonderen Anpassungserfordernissen dienen, nach dem EnWG und dem EnLAG gehen. Im Wesentlichen werden sich die Darstellungen auf das Verfahren der Planung und Zulassung der länderübergreifenden und grenzüberschreitenden Höchstspannungsleitungen konzentrieren. Dieses Verfahren ist nun vor allem im Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetze – NABEG – und im EnWG geregelt. Die verschiedenen Stufen stellen sich dabei wie folgt dar: An erster Stelle steht der Szenario­ rahmen für die Netzentwicklungsplan nach § 12a EnWG. Diesen haben die Betreiber der Übertragungsnetze zu erarbeiten. In ihm stellen sie die möglichen und wahrscheinlichen Entwicklungen im Hinblick auf die mittel- und langfristigen energiepolitischen Ziele der Bundesregierung dar. Der Szenariorahmen wird von der Regulierungsbehörde genehmigt (§ 12a Abs. 3 ­EnWG) und dient – ausschließlich – als Grundlage für den Netzentwicklungsplan (§ 12b Abs. 1 Satz  1 EnWG).



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Der Netzentwicklungsplan wird dann ebenfalls gemeinsam von den Betreibern der Übertragungsnetze erarbeitet und anschließend von der Regulierungsbehörde bestätigt. Er muss gemäß § 12b Abs. 1 Satz  2 EnWG „alle wirksamen Maßnahmen zur bedarfsgerechten Optimierung, Verstärkung und zum Ausbau des Netzes enthalten, die in den nächsten zehn Jahren für einen sicheren und zuverlässigen Netzbetrieb erforderlich sind.“

Weiter muss er alle erforderlichen Netzausbauvorhaben der nächsten drei Jahre enthalten. Das Verfahren der Aufstellung des Netzentwicklungsplans schließt eine Beteiligung der Öffentlichkeit durch die Übertragungsnetzbetreiber ein. Inhaltlich haben diese Netzbetreiber eine Abwägung zwischen den verschiedenen Planungsmöglichkeiten vorzunehmen. Soweit es auf dieser Stufe um den Rechtsschutz geht, sieht § 12c Abs. 4 Satz 2 EnWG ausdrücklich vor, dass die Bestätigung des Netzentwicklungsplans nicht selbständig durch Dritte anfechtbar ist. Das dürfte durchaus sachgerecht sein, weil die Netzentwicklungsplanung eine nur vorbereitende, in diesem Sinne interne und sehr grobe Vorsteuerung der weiteren Planung darstellt.22 Der Gesetzgeber hat auch selbst hervorgehoben, dass der Netzentwicklungsplan für Dritte nicht anfechtbar ist, weil er für diese nicht verbindlich ist.23 Bemerkenswert ist daran auch, dass der Netzentwicklungsplan insofern parallel zum Bundesverkehrswegeplan gesehen wird.24 Das Gesetz folgt damit dem – insoweit tatsächlich mustergültigen – Fall aus der Bundesfernstraßenplanung. So wie es bei dem Bundesverkehrswegeplan aufgrund seiner geringen – eigentlich: fehlenden – rechtlichen Bedeutung keinen Rechtsschutz für Dritte geben muss, ist Rechtsschutz für Dritte daher auch hier nicht erforderlich. Anders liegt das beim Netzentwicklungsplan freilich für die Übertragungsnetzbetreiber selbst. Das Gesetz schließt den Rechtsschutz eben nur für Dritte aus, und der Gesetzgeber hat erkannt, dass die Übertragungsnetzbetreiber sehr wohl durch den Netzentwicklungsplan gebunden werden, nämlich hinsichtlich ihrer „Investitionsentscheidungen.“ Da der Netzentwicklungsplan die erforderlichen Ausbaumaßnahmen der nächsten drei bzw. zehn Jahre enthält, legt er diesen Investitionsbedarf für die Netzbetreiber fest. Gegen die Bestätigung durch die Regulierungsbehörde kann ein Netzbetreiber daher vorgehen – aber möglicherweise nur, wenn er die Festlegung, die er angreift, nicht selbst herbeigeführt hat. 22  Appel, Neues Recht für neue Netze – das Regelungsregime zur Beschleunigung des Stromnetzausbaus nach EnWG und NABEG, UPR 2011, S. 409, 412. 23  Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 17 / 6072, S. 69. 24  Appel (Fn. 22) S. 412.

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Der nächste Schritt im Planungsverfahren ist die Bundesbedarfsplanung. Diese vollzieht sich nach § 12e EnWG in der Weise, dass der Netzentwicklungsplan der Bundesregierung als Entwurf für einen Bundesbedarfsplan übermittelt wird. Die Bundesregierung leitet dann das Gesetzgebungsverfahren für ein Bundesbedarfsplangesetz ein. Auch hier besteht eine deutliche Parallele zum Fernstraßenrecht.25 So wie der Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen den verkehrlichen Bedarf als Aspekt der Planrechtfertigung festschreibt, stellt der Bundesbedarfsplan gemäß § 12e Abs. 4 EnWG die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und den vordringlichen Bedarf an den aufgeführten Vorhaben fest. Diese Feststellung bindet nach dem ausdrück­ lichen Gesetzeswortlaut die Betreiber der Übertragungsnetze und die Planfeststellung. Außerdem ist angesichts der Entsprechung zu § 1 Abs. 2 des Fernstraßenausbaugesetzes festzuhalten, dass auch die Gerichte an die Feststellung der energiewirtschaftlichen Notwendigkeit und des vordringlichen Bedarfs gebunden sind. Für die entsprechende Regelung im EnLAG ist das auch vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt worden. Das Gericht hat dabei ohne weiteres seine Rechtsprechung aus dem Fernstraßenrecht übertragen.26 Die verfassungsrechtlichen Grenzen27 gelten aber natürlich auch hier. Deshalb kann die Feststellung im Bundesbedarfsplan nicht durchdringen, wenn sie evident unsachlich ist. Außerdem kann das Bundesbedarfsplangesetz nicht das verfassungsrechtliche Gebot der Abwägung beseitigen. Mit diesen materiellen Grenzen ist aber auch hier nicht angesprochen, in welchem Verfahren eine Überprüfung des Bundesbedarfsplans erfolgen kann. Insofern folgt natürlich aus dem Rang des Bundesbedarfsplans als formelles Gesetz, dass nur eine verfassungsgerichtliche Überprüfung in Frage kommt. Diese dürfte aber wie schon bei dem fernstraßenrechtlichen Bedarfsplan an der fehlenden unmittelbaren Betroffenheit scheitern.28 Der Bundesbedarfsplan hat eben noch keine konkrete Regelungswirkung, die Dritte betreffen könnte. Anders kann dies nur liegen, soweit in einem Einzelfall anzunehmen sein sollte, dass eine Leitungsführung, durch die konkrete Personen nicht in ihren Rechten verletzt werden können, nach dem Bundesbedarfsplan nicht mehr in Betracht kommt. Eine solche Lage hat das Bundesverwaltungsgericht einmal in einem eisenbahnrechtlichen Fall angenommen. Dort hatte ein 25  Ebda.,

S. 413. Beschluss vom 24.05.2012 – 7 VR 4.12 –, zit. n. juris, Rn. 21, mit Verweis auf das fernstraßenrechtliche Urteil vom 14.07.2011 – 9 A 14.10 –, zit. n. juris, Rn. 15. 27  s. o., bei Fn. 12 bis 14. 28  Appel (Fn. 22), S. 413. 26  ­BVerwG,



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Bedarfsplan in Gesetzesform den Ausbau einer bestehenden Strecke vorgesehen. Demzufolge kam für das Bundesverwaltungsgericht ein Neubau einer abweichenden Strecke nicht mehr in Betracht.29 Entscheidend war also nicht etwa die zeichnerische Festsetzung einer bestimmten Strecke, denn auch die zeichnerischen Darstellungen eines Bedarfsplans bezeichnen nur eine Bedarfsstruktur, aber keine ganz konkrete Linienführung.30 Für entscheidend hielt das Bundesverwaltungsgericht aber, dass im Bedarfsplan eben ein Ausbau und nicht ein Neubau vorgesehen worden war. In einem solchen Fall kann eine bestimmte individuelle Betroffenheit schon im Bedarfsplan festgeschrieben sein. Auf dieser Grundlage hat das Bundesverfassungsgericht auch schon eine Kommunalverfassungsbeschwerde gegen einen eisenbahnrechtlichen Bedarfsplan für zulässig gehalten.31 Das kann aber aus den eben genannten Gründen nicht bei jeder Aufnahme eines Vorhabens in den Bedarfsplan gelten, sondern nur bei einer relativ genauen Festschreibung anhand bereits feststehender Örtlichkeiten. Scheidet danach aber eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen einen Bundesbedarfsplan aber aus, ist dagegen aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Dass der Gesetzgeber überhaupt selbst planerisch tätig wird, verstößt insbesondere nicht gegen das Prinzip der Gewaltenteilung. Das Bundesverfassungsgericht hat seit seiner Entscheidung über die Südumfahrung Stendal anerkannt, dass die Planung als solche nicht einer bestimmten Staatsgewalt zuzuordnen ist und der Gesetzgeber daher selbst planen darf, wenn es dafür Gründe gibt.32 Diese Gründe liegen hier natürlich gerade in der Bindung und Vereinfachung der Verwaltungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Gegen die Unzulässigkeit verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen den Bundesbedarfsplan selbst spricht erst recht nichts, denn die maßgebliche Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Beeinträchtigung durch ein Projekt fällt ja erst später und unterliegt dann der gerichtlichen Überprüfung.33 Insbesondere folgt auf den Bundesbedarfsplan in einem nächsten Schritt die Bundesfachplanung nach §§ 4 ff. NABEG. Diese Bundesfachplanung hat die Aufgabe, für die im Bundesbedarfsplan enthaltenen Projekte Trassenkorridore zu bestimmen. Dabei soll es sich nach der Gesetzesbegründung um ca.  500 bis  1000  Meter breite Korridore handeln,34 in denen anschließend 29  ­BVerwG,

Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 2. 102, 331 (343 f.); ­BVerwG, NVwZ 2003, 207, 208. 31  BVerfG-K, NVwZ 1996, S. 261. 32  BVerfGE 95, 1, 16 ff.; BVerfG-K, NVwZ 1998, S. 1060, 1061. 33  Vgl. BVerfG-K, NVwZ 1998, S. 1060. 34  Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze, BT-Drucks. 17 / 6073, S. 19. 30  ­BVerwGE

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der genaue Verlauf der Leitungen im Planfeststellungsverfahren bestimmt wird. Damit ist die Bundesfachplanung wiederum in einem engen Sinne mit der Linienbestimmung im Fernstraßenrecht vergleichbar. Dementsprechend soll die Bundesfachplanung gemäß § 15 Abs. 3 Satz  1 NABEG „keine unmittelbare Außenwirkung“ haben. Konsequenterweise ist deshalb in § 15 Abs. 3 Satz  2 NABEG auch bestimmt, dass das Ergebnis der Bundesfachplanung nur im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens gegen den Planfeststellungsbeschluss angreifbar ist. Das könnte durchaus kritisch gesehen werden. Vor allem der Ansatz, nach dem die fernstraßenrechtliche Linienbestimmung deshalb nicht isoliert anfechtbar ist, weil sie keine konkrete Entscheidung treffe, dürfte hier nicht übertragbar sein. Dazu scheint die Breite der zu bestimmenden Korridore von höchstens 1000  Metern zu gering, denn die Auswirkungen einer Höchstspannungsleitung können diese Entfernung wohl durchaus überwinden. Vor allem wenn sich eine Gemeinde gegen einen solchen Korridor wehren will, wird dessen Breite die Rechtsverletzung in der Regel noch nicht ausschließen können. Die Entscheidung über einen Trassenkorridor kann daher sehr wohl konkret genug sein, um selbst schon Rechte zu verletzen. In diesem Sinne hat auch der Gesetzgeber selbst hervorgehoben, dass die Trassenkorridore so gewählt werden sollten, „dass Vorhabenträger, private Betroffene und Länder eine möglichst große Planungssicherheit erreichen.“35

Die „große Planungssicherheit“ ist ja aber gerade etwas, das auf eine weitgehende Konkretisierung und damit auch auf ein Potenzial frühzeitiger Rechtsverletzungen hindeutet. Das dürfte aber letztlich nicht der entscheidende Punkt sein. Die Bestimmung der Trassenkorridore ist nicht deshalb als solche unanfechtbar, weil sie keine rechtserhebliche Entscheidung trifft, sondern weil § 15 Abs. 3 Satz  2 NABEG das so anordnet. Das wiederum ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil der Rechtsschutz auf der folgenden Stufe der Planfeststellung gewährt wird. Der Gesetzgeber hat den Rechtsschutz damit auf der letzten Stufe konzentriert, anstatt eine Abfolge stufenspezifischer Rechtsschutzverfahren zuzulassen. Das steht dem Gesetzgeber im Allgemeinen frei.36 Eben dies hat der Gesetzgeber hier auch getan, denn der Planfeststellungsbeschluss auf der letzten Stufe ist natürlich anfechtbar. Dass nur der Planfeststellungsbeschluss anfechtbar ist, folgt übrigens ebenfalls aus § 50 35  Ebda.

36  Appel (Fn. 22), S. 413; Steinberg, Die gestufte Umweltverträglichkeitsprüfung im Raumordnungsverfahren, NuR 1992, S. 164, 173.



Rechtsschutz bei mehrstufigen Planungs- und Zulassungsverfahren71

Abs. 1 Nr. 6 VwGO, mit dem die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts begründet wird. Dort geht es nämlich um „Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren oder Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben betreffen, die in dem […] Bundesbedarfsplangesetz bezeichnet sind.“

Es ist sicherlich kein Zufall, dass hier von Streitigkeiten in Bezug auf die Planfeststellungsverfahren die Rede ist, und nicht etwa pauschal von Streitigkeiten über Vorhaben, die die im Bundesbedarfsplangesetz bezeichnet sind. Damit wird bekräftigt, dass Streitgegenstand der Planfeststellungsbeschluss und keine andere Amtshandlung sein wird. § 15 Abs. 3 NABEG besagt ausdrücklich, dass in diesem Klageverfahren dann auch die Bestimmung der Trassenkorridore angegriffen werden kann. Ebenfalls findet hier die Überprüfung des Bundesbedarfsplans daraufhin statt, ob seine Annahme einer energiewirtschaftlichen Notwendigkeit und eines vordringlichen Bedarfs als evident unsächlich und damit verfassungswidrig anzusehen ist. Wenn das zuständige Gericht zu diesem Ergebnis kommt, entfällt aber natürlich nicht die Bindung an den Bundesbedarfsplan, sondern das Gericht hätte das Bundesbedarfsplangesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.37 Ebenfalls ist auf dieser Ebene die vollständige Abwägung aller für und gegen ein Vorhaben streitenden Belange durchzuführen. Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits zur Behandlung der Bedarfsplanung im Eisenbahnrecht klargestellt.38 Da das Abwägungsgebot letztlich verfassungsrechtlicher Provenienz ist, kann im Recht des Netzausbaus schwerlich etwas anderes gelten. Das gilt dann aber auch für den ebenfalls verfassungsrechtlichen Anspruch auf Rechtsschutz im Hinblick auf die Abwägung.

IV. Schlussbemerkungen Mit den neuen gesetzlichen Regelungen zum Ausbau der Hoch- und Höchstspannungsnetze im Zusammenhang mit der Energiewende wird der Rechtsschutz demnach zwar nicht ausgeschlossen, aber doch – etablierten Vorbildern aus dem Fachplanungsrecht folgend – auf einer letzten Ebene konzentriert. In der Regel korrespondiert diese Konzentration mit dem Umstand, dass nur auf der letzten Ebene die Rechte der möglichen Rechtsschutzsuchenden unmittelbar betroffen werden. Insofern würde Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG zwar einen früher ansetzenden Rechtsschutz gestatten,39 37  Vgl.

­BVerwGE 98, 339 (347); 125, 116 (143). NVwZ 1998, S. 1060. 39  Vgl. ­BVerwGE 101, 73 (81 f.); Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, Köln 2014, Überindividueller Rechtsschutz Rn. 18. 38  BVerfG-K,

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aber das Grundgesetz fordert ihn nicht, weil Art. 19 Abs. 4 Satz  1 GG die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten voraussetzt.40 Für Art. 13 und Art. 6 Abs. 1 EMRK gilt nichts anderes.41 Anders kann es liegen, wenn ausnahmsweise schon die Bundesfachplanung der Trassenkorridore spezifisch genug ist, um eine Entscheidungswirkung bezüglich der Rechte der von einem (gesamten) Korridor betroffenen Personen mit sich zu bringen. Das kann angesichts der vergleichsweise geringen Breite dieser Korridore durchaus vorkommen. In diesem Fall schließt das Gesetz in § 15 Abs. 3 Satz  2 NABEG gleichwohl Rechtsschutz auf der Stufe der Bundesfachplanung aus. Daraus folgt allerdings dann keine Einschränkung des Rechtsschutzes – gewissermaßen per Saldo –, wenn der Rechtsschutz gegen rügefähige Fehler im Rahmen der Bundesfachplanung noch auf der letzten Ebene der Planfeststellung stattfinden kann. So verhält es sich aber, denn der Planfeststellung ist eine vollumfängliche Abwägung der Handlungsalternativen aufgegeben. Auch wenn der Ausschluss von Rechtsschutz gegen rechtserhebliche Stufen der Planung oder Zulassung verfassungswidrig wäre, ist daher gegen die Konzentration dieses Rechtsschutzes auf nur einer Stufe in verfassungsrechtlicher Hinsicht nichts zu erinnern.42 Insofern sollte dann auch nicht übersehen werden, dass das Planfeststellungsverfahren nicht etwa eine plötzliche Entscheidung über die in Rede stehenden subjektiven Rechte mit sich bringt, sondern auf eine Beteiligung der Öffentlichkeit angelegt ist. Darin wird das Planfeststellungsverfahren auch schon durch Öffentlichkeitsbeteiligungen auf der Ebene des Szenariorahmens (§ 12a Abs. 2 Satz  2 EnWG) und des Netzentwicklungsplans (§§ 12b Abs. 3, 12c Abs. 3 EnWG) ergänzt. Auch wenn die Konzentration des Rechtsschutzes in der Stufenfolge der Planungsverfahren sicherlich der Beschleunigung der Planungen und Zulassungen dient, handelt es sich bei den neuen Regelungen hierzu daher nicht um ein Gesetz gegen das Wutbürgertum. Nur wird dem Bürger nur einmal der Weg zum Gericht eröffnet.

40  Huber, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Auflage, Band 1, München 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 417; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Auflage, Band  I, Tübingen 2013, Art. 19 IV Rn. 75; vgl. ­BVerwGE 101, 73 (81). 41  Vgl. Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), EMRK, München 2012, Art. 13 Rn. 10. Für das Recht auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (anwendbar bei Betroffenheit von Nicht-Konventionsrechten) folgt dasselbe aus dem grundlegenden Erfordernis des Streits um „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ („civil rights and obligations“). 42  s. a. BVerfG-K, NVwZ 1998, S. 1060, 1061.

Rechtsschutz gegen Flugrouten – Rechtsschutzentwertung durch verworrenes materielles Recht? Von Peter Wysk

I. Einführung Es mag überraschen, dass bei der Festlegung sog. Flugrouten noch immer über Grundfragen diskutiert wird, und zwar – wie für den Luftverkehr typisch – höchst emotionalisiert. Das erklärt sich weniger daraus, dass die Rechtsgrundlagen „verworren“ wären, genauer gesagt: normativ offen und verstrickt in komplexe Zusammenhänge mit der Fachplanung der Flugplätze und naturwissenschaftlich-technischen Randbedingungen, ohne deren Kenntnis die spärlichen Regelungen unverständlich bleiben. Die aktuelle Grundlagendiskussion erklärt sich eher daraus, dass die Problematik überhaupt erst seit etwa anderthalb Jahrzehnten vor Gerichten behandelt wird. Als juristisches Thema ist die Festlegung der Flugrouten noch jung und ihre volle Dimension kaum entdeckt, obwohl die Technik fast ebenso alt ist wie die Fachplanung der Flughäfen, die bereits seit den 1960er Jahren (der Einführung der luftrechtlichen Planfeststellung in §§ 8 bis 10 Luftverkehrsgesetz – LuftVG) intensiv dogmatisch durchdrungen worden ist. Immerhin konnten wichtige Fragen, vor allem zum Rechtschutz, geklärt werden. Damit ist aber erst die Tür geöffnet worden, die bis dahin den Zugang zu einer breiten Diskussion über die Maßstäbe und Methoden der Flugroutenfestlegung versperrt hatte. 1. Begriff Was genau ist unter „Flugrouten“ zu verstehen? Hinweise enthält § 32 Abs. 4 Nr. 8 LuftVG: Es handelt sich um Flugverfahren für Flüge nach Instrumentenflugregeln (IFR). Das sind Bündel von Anweisungen für die Bewegung eines Luftfahrzeugs im Luftraum, teils auch für das Verhalten des Piloten. Sie richten sich an den verantwortlichen Luftfahrzeugführer, der die angewiesenen Bewegungen unter ausschließlicher Orientierung an den Anzeigen der Bordinstrumente realisieren muss.1 Deshalb spricht man um1  Zu den Grundlagen vgl. neuerdings Wöckel, Festlegung von Flugverfahren – Rechtliche Grundlagen und Rechtmäßigkeitsanforderungen, Berlin 2013, S. 59 ff.

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gangssprachlich auch von „Blindflug“, denn der Grundsatz des Fliegens nach Sichtflugregeln: „Sehen und gesehen werden“ kann in der Großluftfahrt selten sinnvoll angewendet werden. Flugverfahren gibt es für Streckenflüge im oberen Luftraum, vor allem aber auch für An- und Abflüge zu und von Flughäfen, an denen IFR-Betrieb zugelassen ist. Sie dienen dem Anschluss des Flughafens an das übergeordnete ATS-Streckennetz. Zu diesem Zweck braucht ein Flughafen Flugverfahren für jede Betriebsrichtung und jede Bahn. Alle An- und Abflugstrecken zusammen bilden das sog. Flugbetriebsmodell des jeweiligen Flughafens, das nach seinen Verhältnissen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Das angefügte Schaubild zeigt das Flugbetriebsmodell des Flughafens Hannover-Langenhagen (mit der ICAOKennung „EDDV“). Flugverfahren sind abstrakt-generelle Regelungen, die antizipieren, was der Lotse am Flughafen „Stück für Stück“ auch durch Einzelanweisungen („Freigaben“ i. S. der Luftverkehrs-Ordnung – LuftVO – dazu unten IV.3.a) bewerkstelligen könnte. Sie nehmen Abfolgen von standardisierten Freigaben vorweg und scheinen die Luftfahrzeuge dadurch auf festliegenden Bahnen zu halten. Das erklärt die Redeweise von „Routen“, die gleichwohl sehr umgangssprachlich ist. Denn es ist technisch ausgeschlossen, Luftfahrzeuge im Luftraum mit der gleichen Präzision wie Bodenverkehrsmittel auf Linien zu fixieren. Zwar bewirken Flugverfahren regelmäßig eine Bündelung der tatsächlichen Flugwege, aber doch nur auf sog. Flugerwartungs­ gebiete mit teilweise erheblicher Ausdehnung.2 Für Zwecke der Fluglärmberechnung werden Flugverfahren daher standardisierte Korridore zugeordnet.3 Der allgemeinen Üblichkeit folgend, werden aber auch nachfolgend die Begriffe Flugverfahren und Flugrouten synonym verwendet. 2. Rechtsgrundlagen Die Rechtsgrundlagen der Festlegung von Flugverfahren (der sog. Ver­ fahrensplanung) verhalten sich quantitativ umgekehrt proportional zu ihrer  Bedeutung (unten 3.). Mit zwei Ausnahmen gibt es nur Normen, die Bundesbehörden zum Erlass der Flugverfahren durch Verord­nungen oder Verfügung  ermächtigen: Eine ausdrückliche Ermächtigung zugunsten des 2  Ebenso ­BVerwG, Urteil vom 24.6.2004 – 4 C 11.03 – ­BVerwGE 121, 152 Rn. 32. Vgl. auch Kaienburg / Uhl, Die Planung von Flugverfahren – (Ein-)Blick in die Praxis, ZLW 2012, 505 (509 und 524). So gewährleistet die Flächennavigation (RNAV-1) eine Kurshaltegenauigkeit von 1 Nautischen Meile (=  1.852  m) rechts und links der Sollposition. 3  Vgl. Nr. 2.1.2 der Anleitung zur Datenerfassung über den Flugbetrieb (AzD) vom 19.11.2008 (BAnz Nr. 195a vom 23.12.2008).



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BMVBS4 enthält § 32 Abs. 4 Nr. 8 LuftVG, eine solche zur Weiterübertragung auf das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) ist in § 32 Abs. 4c LuftVG enthalten, und die zugehörige Subdelegationsnorm zugunsten des BAF und Sonderermächtigungen der DFS (Fn. 5) finden sich in § 27a Abs. 2 LuftVO. Alle diese Normen sind nicht gerade weitschweifig formuliert und enthalten nur punktuelle Aussagen zum möglichen Inhalt von Flugverfahren und zum Erlassverfahren, wie beim Benehmen mit dem Umweltbundesamt (UBA). § 29b LuftVG entnimmt das Bundesverwaltungsgericht eine Abwägungsdirektive für die materielle Gestaltung von lärmrelevanten Flugverfahren. Gleichwohl muss man diese Sparsamkeit der Grundaussagen des Gesetzes nicht bedauern. Sie ist planungsrechtstypisch. Das gesamte Planungsrecht ist deshalb in der Rechtspraxis und Rechtsprechung entwickelt worden; der Gesetzgeber hat nur dann eingegriffen, wenn er mit einer Entwicklung nicht einverstanden war. Aber Schweigsamkeit des Gesetzgebers fordert stets die praktische juristische Fantasie, besser: die Auslegungskunst und den Gestaltungswillen der Akteure in hohem Maße heraus. Das gilt besonders, wenn öffentlich diskutierte Fragen auftauchen, für die das Gesetz keine ausdrückliche Antwort bereit hält. Festgelegt werden Flugverfahren im Grundsatz5 durch Rechtsverordnungen (heute) des noch jungen Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung. Das BAF erlässt sog. Durchführungsverordnungen zur Luftverkehrs-Ordnung, weil es sich auf § 27a Abs. 2 LuftVO stützt. Die fundamentale Vorarbeit leistet die DFS Deutsche Flugsicherung GmbH (DFS), die privatisierte Nachfolgerin der Bundesanstalt für Flugsicherung (BFS) als maßgebliche Flugsicherungsorganisation. Durch die Privatisierung der BFS ist die Verordnungskompetenz von der Fachkompetenz abgekoppelt worden, was in der Anfangszeit manche Verwerfungen mit sich brachte. Die Verordnungsgeber (das BMVBS, dann das Luftfahrt-Bundesamt) sahen sich zunächst eher in der Rolle, die fachlichen Ausarbeitungen der DFS nur auf ihre Rechtsförmlichkeit hin zu prüfen. Das wird allerdings der (Letzt)Verantwortung des Verordnungsgebers nicht gerecht, dem eine eigene Abwägungsentscheidung aufgetragen ist. Tatsächlich ist daher die Arbeitsteilung so zu 4  Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, seit der 18. Legislaturperiode: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI). Der Text des Luftverkehrsgesetzes ist insofern noch nicht angepasst. 5  Davon gibt es die Ausnahme, dass die DFS bei „Gefahr im Verzug“ Flugverfahren für drei Monate durch Allgemeinverfügung festlegen kann (§ 27a Abs. 2 S. 2 und 3 LuftVO). Das ist eine Befugnis, die praktischen Erfordernissen Rechnung trägt. Sie erklärt sich daraus, dass die DFS als Beliehene zwar Behörde ist, die Allgemeinverfügungen erlassen kann, aber nicht Adressat einer Verordnungsermächtigung sein kann. Offenbar war der Verordnungsgeber der LuftVO aber der Ansicht, dass eine Allgemeinverfügung mit dem Charakter von Flugverfahren noch kompatibel ist.

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verstehen, dass die DFS als selbstständige Verwaltungshelferin für das BAF tätig wird, das die Flugverfahren sodann aufgrund eigener Abwägung festlegt. 3. Größenordnung der Problematik Es ist nicht einfach, Zahlen herauszufinden, mit denen die Dimension der Problematik exakt beschrieben werden kann. Aber die Größenordnung lässt sich verdeutlich; sie ist beeindruckend genug und zeigt, dass es sich nicht um ein kleines Problem handelt. Man sollte sich zunächst klar machen, dass es in Deutschland zurzeit 18 internationale Verkehrsflughäfen gibt, insgesamt aber etwa 200 Flugplätze, an denen Instrumentenflugbetrieb stattfindet. Das erklärt, dass das BAF zurzeit die 252.  Durchführungsverordnung erlassen hat (sie betrifft den Flughafen Schweinfurt).6 Das BAF erlässt pro Jahr etwa 50 bis 60 Verordnungen zur Festlegung oder Änderung von Flugverfahren, im Jahr 2013 waren es sogar 88. Zwar handelt es sich oft nur um kleine Anpassungen, die keinen Streit auslösen (etwa Anpassungen, die sich aus der Veränderung von Bodenfunkanlagen ergeben).7 Die Gerichtsverfahren zeigen aber nachdrücklich, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Neufestlegungen streitanfällig ist. Das betrifft diejenigen Flugverfah­ ren(sände­rungen), die „von besonderer Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung vor Fluglärm“ und deswegen vom Gesetzgeber an das Benehmen mit dem UBA geknüpft sind (vgl. § 32 Abs. 4c S. 2 LuftVG). Die rund 10  Verfahren in den 1990er Jahren (vor den OVG / VGH und dem BVerfG) gehören noch zur prozessualen Rechtsentwicklung. Seit dem Jahr 2000 lassen sich dann etwa 50  Gerichtsverfahren identifizieren, die unmittelbar die Festlegung von Flugverfahren zum Gegenstand hatten. Es sind aber sicher deutlich mehr, die sich teils auf sonstige Art erledigt haben. Allein im Jahr 2013 gab es rund 25 Gerichtsverfahren, davon 5 Verfahren am VGH Kassel und 11 Verfahren am OVG Berlin-Brandenburg. Diese betrafen insbesondere die Flughäfen Frankfurt, Berlin, Düsseldorf, Leipzig und auch Zürich, wo der Endanflug über dem Schwarzwald zu fortwährenden Protesten der deutschen Bevölkerung und zu Verhandlungen mit der Schweiz führt.

6  Da die Rechtsverordnungen schlicht hochnummeriert werden und sich einige Verordnungen mit niedrigeren Ordnungsnummern bereits erledigt haben, spiegelt die Ordnungsnummer nicht die reale Anzahl an Flugplätzen wider. Die Flugverfahren für den Flughafen Berlin-Brandenburg sind in der 247. DVO enthalten (Festlegung von Flugverfahren für An- und Abflüge nach Instrumentenflugregeln zum und vom Flughafen Berlin Brandenburg vom 10.2.2012, BAnz  2012 Nr. 45 S. 1086). 7  Zu den Gründen vgl. Kaienburg / Uhl, (Fn. 2) S. 529.



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II. Rechtsschutz und aktuelle Probleme 1. Die Rechtsschutzvorgeschichte Flugverfahren nach IFR gibt es so lange, wie es Instrumentenflug gibt. Zu Beginn fehlte aber das Bewusstsein für ihre Problematik. Sie galten offenbar als unabänderlicher Vollzug dessen, was in der Flughafenplanung mit großem Aufwand festgelegt wurde – das trifft aber nur im Grundsatz zu. Sicherlich fehlten auch noch die modernen flugbetrieblichen Möglichkeiten zur Fixierung von Flugwegen und damit zur Beeinflussung der Lärmverteilung; zudem entwickelten sich die echten Flugverfahren erst nach und nach und von der Öffentlichkeit unbemerkt aus der Praxis der Steuerung durch Einzelfreigaben. Deshalb wurde das eigenständige Konflikt-Potenzial von Flugverfahren lange nicht erkannt, und ihre Festlegung entwickelte sich zunächst ausschließlich im abgeschirmten Raum der Verwaltungspraxis, also gewissermaßen im „rechtsstaatlichen Halbschatten“, ohne gerichtliche Kontrolle und ohne den notwendigen Dialog zwischen Machern, Betroffenen und Verwaltungsgerichten. Der lang währenden Anfangsphase folgte in den 1990er Jahren eine knappe Dekade, in der Fluglärmbetroffene eine gerichtliche Kontrolle von Flugverfahren durchzusetzen versuchten, die mit Klagen angegangenen Obergerichte (OVG / VGH) ihre Zuständigkeit aber vehement leugneten – obwohl klar sein musste, dass wegen Art. 19 Abs. 4 GG eine Möglichkeit zur (fach) gerichtlichen Überprüfung von individuellen Rechtsverletzungen bestehen muss. Die Obergerichte waren aber der Meinung, es sei die Verfassungsbeschwerde eröffnet, weil es sich um Bundes-Rechtsverordnungen handele. Die erste Entscheidung in diesem Geiste datiert aus dem Jahr 1993.8 Der Weg zur fachgerichtlichen Überprüfung musste erst vom Bundesverfassungsgericht angestoßen, ja gefordert werden. Es gab den Verwaltungsgerichten auf Verfassungsbeschwerden der von den Verwaltungsgerichten abgewiesenen Bürger in mehreren Nichtannahmebeschlüssen (also „bloßen“ Kammerentscheidungen) auf, nach einer formalen fachgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit zu suchen.9 Diese wurde dann 2000 in einem Revi­ sionsverfahren vom Bundesverwaltungsgericht gefunden.10 8  Nachweise bei Wysk, Rechtsschutz bei der Festlegung sog. Flugrouten, ZLW 1998, 285 (289). 9  Vgl. die Nachweise bei Wysk (Fn. 8). 10  Grundlegend ist das Urteil vom 28.6.2000 – ­BVerwG 11 C 13.99 – ­BVerwGE 111, 276. Es ist insofern durch Entscheidungen des 4. Senats aus dem Jahr 2004 überholt, als sich der Prüfungsmaßstab von Willkür zu einem relationalen Verhältnismäßigkeitsmaßstab verschoben und damit formal intensiviert hat. Allerdings lassen schon die obergerichtlichen Entscheidungen bis 2004 keine Reduzierung der Prüfungsintensität

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Die anfängliche Abwehrhaltung der Oberverwaltungsgerichte entsprang keinem bösen Willen, sondern hing mit zwei schwierigen prozessualen Fragen zusammen. Zum einen war die Rolle des § 47 VwGO zu klären: Wie wirkt sich die prinzipale Normenkontrolle auf den Rechtsschutz gegen unmittelbar – also ohne einen Vollzugsakt – beachtliche Rechtsverordnungen des Bundes aus, die von § 47 VwGO nicht erfasst werden?11 Ist sie für untergesetzliche Normen, die dort nicht genannt sind, als eine limitierende Spezialregelung zu verstehen, die fachgerichtlichen Rechtsschutz im Übrigen ausschließt? Oder lässt sie neben sich Platz für andersgearteten Rechtsschutz gegen nicht erfasste Normenarten? Zum anderen war durchaus fraglich, wie Rechtsschutz gewährt werden kann, welches also insbesondere die statthafte Klageart ist. Diese Fragen sind vom Bundesverwaltungsgericht erst im Juni 2000 im – verfassungsrechtlich gebotenen – rechtsschutzfreundlichen Sinne beantwortet worden: § 47 VwGO lässt zwar die prinzipale Normenkontrolle gegen die Durchführungsverordnungen nicht zu, löst aber auch keine Sperrwirkung aus. Gerichtlich überprüft werden Flugverfahren mit der Klage auf Feststellung nach § 43 VwGO, dass ein bestimmtes Flugverfahren die Rechte des Klägers verletzt. Ein direkter Konflikt mit § 47 VwGO entsteht nicht. Ein Feststellungsurteil, dass die begehrte Feststellung trifft, wirkt nur inter partes und lässt die Gültigkeit der Rechtsverordnung im Übrigen unberührt. Diese Rechtsschutzmöglichkeit hat sich in der Rechtsprechung nun allgemein etabliert, wird aber von manchen für unzureichend gehalten. Ich kann das in keiner Hinsicht bestätigen. Die ausladende Praxis der gerichtlichen Prüfung von Flugverfahren hat gezeigt, dass die Kontrolle nicht anders und nicht weniger intensiv verläuft und nicht weniger wirkungsvoll ist, als sie es bei einer prinzipalen Normenkontrolle wäre. Auch wenn die Gültigkeit der Norm im Erfolgsfalle nur inzident verneint wird und das betroffene Flugverfahren nur im Verhältnis zu dem jeweiligen Kläger nicht mehr beflogen werden darf, entspricht die faktische Wirkung eines Feststellungsurteils doch derjenigen einer allgemeingültigen Verwerfung gemäß § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO: Die Behörde wird sich selbstverständlich einer (rechtskräftigen) Feststellung beugen und das streitige Flugverfahren aufheben oder ersetzen, das aus tatsächlichen Gründen überhaupt nicht mehr benutzt werden kann, ohne den Kläger weiter in seinen Rechten zu verletzen. Ich vermag nicht zu erkennen, inwiefern eine prinzipale Normenkontrollmöglichkeit deutliche Vorteile für die Betroffenen hätten, zumal divergierende gerichtliche Entscheidungen wegen der Zuständigkeitsregelung in § 48 Abs. 1 Nr. 6 VwGO nicht möglich sind. erkennen; im Gegenteil stand der Lärmschutz mit tiefgehenden Erörterungen zur lärmgünstigsten Variante von Anfang an im Zentrum der gerichtlichen Erörterungen. 11  Vgl. dazu Wysk, in: ders. (Hrsg.), VwGO, 2011, § 47 Rn. 1 ff.



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2. Geklärte und offene Fragen a) Geklärtes Im vergangenen Jahrzehnt sind zahlreiche Fragen der Verfahrensplanung geklärt worden. Dabei stand von Anfang an und durchweg der Lärmschutz im Mittelpunkt. Flugverfahren werden nicht mehr nur als Verfahren mit flugsicherungstechnischer Zielrichtung und ordnungsrechtlichen Komponenten verstanden, sondern als planerische Entscheidungen mit Spielräumen der Lärmverteilung und eigenständigem Problem(bewältigungs)potenzial. Von Vielen werden Flugverfahren sogar – nicht zu Unrecht – als ein dem Planfeststellungsverfahren nachgelagertes Mittel des sog. aktiven Lärmschutzes verstanden. Die Rechtsprechung unterwirft die Entscheidungen über Flugverfahren deswegen – mangels weitergehender gesetzlicher Anordnung – einem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot. An den zum Abwägungsgebot im Fachplanungsrecht entwickelten Grundsätzen sind sie nicht zu messen.12 Das ist nicht nur daraus zu erklären, dass die dazu erforderliche gesetzliche Anordnung eines Fachplanungsverfahrens fehlt (vgl. § 72 Abs. 1 VwVfG), sondern es ist auch sachlich folgerichtig: Die volle Bandbreite an fachplanerischen Möglichkeiten steht der Verfahrensplanung schlechthin nicht zur Verfügung. Insbesondere kann sie die eigentliche Störquelle nicht beseitigen, nachdem der Flughafen zugelassen ist – die „Nullvariante“ ist ihr also verwehrt; vielmehr muss sie die Störquelle durch die Festlegung von Flugverfahren geradezu „aktivieren“. Denn der Flughafenunternehmer hat aus dem Planfeststellungsbeschluss einen Anspruch auf Schaffung eines kapazitätsausschöpfenden Flugbetriebsmodells. Im Rahmen dieses Fixpunktes haben der Lärmschutz und die Möglichkeiten, ihn mithilfe von Flugverfahren zu optimieren, in den gerichtlichen Sachentscheidungen von Anfang eine dominierende Rolle gespielt. Auch wenn weiterhin davon auszugehen ist, dass nach der gesetzgeberischen Konzeption Flugverfahren in erster Linie sicherheitsrechtliche Instrumente sind, muss ihnen der Lärmschutz als Entscheidungselement nicht erst im Wege einer Gesetzesänderung implementiert werden. Es zählt zu den gefestigten Standards, dass die Verpflichtung zum Lärmschutz aus § 29b Abs. 2 LuftVG auch für das Handeln der Flugsicherung gilt, zu der im funktionellen Sinne bei der Festlegung von Flugverfahren auch des BAF gehört.13 Das BAF hat – mit seinen Mitteln – neben der „sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung 12  ­BVerwG, Urteil vom 24.6.2004 – 4 C 11.03 – ­BVerwGE 121, 152 Ls.  1 und Rn. 23 im Anschluss an ­BVerwG, Urteile vom 28.6.2000 (Fn. 10) und vom 26.11.2003 – 9 C 6.02 – DVBl 2004, 382. 13  ­BVerwG, Urteil vom 24.6.2004 (Fn. 12). Anders aber wohl SRU 2014, Sondergutachten „Fluglärm reduzieren: Reformbedarf bei der Planung von Flughäfen und

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des Luftverkehrs“ (§ 27c LuftVG) die Immissionssituation zu bedenken. Die Optimierungsanstrengungen des BAF haben sich an einem voll nachprüfbaren Verhältnismäßigkeitsmaßstab zu orientieren; eine bloße Willkürkontrolle, wie nach der ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (seinerzeit des 11. Senats), findet nicht mehr statt. Die Erwägungen des BAF haben also umso intensiver zu sein, je höher die Belastung der Bevölkerung ist. Die Schnittlinie verläuft dort, wo der Bevölkerung (wie im Flughafennahbereich) unzumutbare Belastungen oder (wie im weiteren Flughafenumfeld) zumutbare Belastungen auferlegt werden. Im Vordergrund stehen Alternativprüfungen in der weiteren Flughafenumgebung, denn der hoch belastete Nahbereich (i. d. R. deckungsgleich mit dem Lärmschutzbereich) bietet, auch wenn es stark auf die Verhältnisse im Einzelfall ankommt, regelmäßig keine Spielräume für alternative Flugverfahren. Einem Optimierungsgebot unterliegt das BAF deshalb nur insoweit, als es um die Vermeidung von Lärm oberhalb der Zumutbarkeitsschwelle i. S. des § 9 Abs. 2 LuftVG (a. F.), nunmehr § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG geht. Das Inkrafttreten der Neufassung der §§ 8 bis 10 LuftVO (1.6.2014) ist nach Drucklegung um ein Jahr verschoben worden (Gesetz vom 24.5.2014, BGBl. I S. 538). Im zumutbaren Bereich endet die Abwägungspflicht des BAF aber nicht; lediglich die Spielräume für eine Entscheidung zwischen widerstreitenden Positionen werden größer. Liegen sachliche Gründe vor, darf sich das BAF deswegen dort gegen eine Lärm­optimierung entscheiden.14 b) Aktuelle Problemfelder Meiner Wahrnehmung nach sind es fünf Problemfelder, auf denen aktuell sehr gestritten und nach Lösungen gesucht wird: 1. Welche Verknüpfungen bestehen zwischen der Fachplanung der Flugplätze (§§ 6 ff. LuftVG) und der Verfahrensplanung für „Flugrouten“ (§ 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO)? → III.1.–4. 2. Welche Anforderungen stellen das Naturschutz- und sonstige Umweltrecht bei der Verfahrensplanung? → III.5. 3. Wie ist das Verfahren der Festlegung von Flugverfahren auszugestalten? → IV.1. 4. Nach welchen materiellen Kriterien dürfen Flugverfahren festgelegt und verändert werden? Wie können Flugroutenalternativen bewertet werden? → IV.2. Flugrouten“, Berlin, März 2014 (abrufbar von www.umweltrat.de > Publikationen, zuletzt abgerufen am 12.05.2014). 14  Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 4.3.2014 – OVG 6 A 7.14 – juris Rn. 45.



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5. Wie ist das Verhältnis festgelegter Flugverfahren zu der Befugnis des Fluglotsen, von Flugverfahren durch Einzelweisungen („Freigaben“) an Luftfahrzeugführer abzuweichen (Problem der sog. „Directs“)? → IV.3. Diese Fragen sind eine unmittelbare Folge der „Schweigsamkeit“ des Gesetzes. Das macht sie jedoch nicht unlösbar. Dass lediglich mehr oder weniger direkte normative Anhaltspunkte zur Verfügung stehen, sollte man nicht als Nachteil sehen. Mit demselben Recht kann aus der Sparsamkeit der normativen Grundlagen gefolgert wird, dass ein großer Gestaltungsspielraum zugunsten der Akteure besteht, der es zulässt, allen Anforderungen in der Praxis gerecht zu werden. Die Betroffenen sind mit der Praxis aber so wenig einverstanden, dass der Ruf nach dem – korrigierenden und präzisierenden – Gesetzgeber vernehmlich geworden ist. Tatsächlich liegen die Dinge aber so, dass sich die Anforderungen, denen mit den richtigen Instrumenten gerecht zu werden ist, in der Diskussion gerade erst herausbilden. Auch der Gesetzgeber kann in dieser Hinsicht zurzeit kaum klüger sein.

III. Fachplanung und Verfahrensplanung Es scheint klar, dass eine sinnvolle Ausgestaltung der eingeräumten Spielräume sich an den Strukturen orientieren muss, in denen Flugverfahren ihre Funktion erfüllen. 1. Formelle Trennung An der formellen Trennung der Verfahren nach geltender Rechtslage kann kein Zweifel bestehen. Sowohl die Form der Rechtsakte (Verwaltungsakt; Rechtsverordnung) wie die Zuständigkeiten (Landes-Planfeststellungs- oder Genehmigungsbehörde und das BAF) unterscheiden sich. Damit werden deutliche materielle Unterschiede nachvollzogen. Denn auch der Rechtscharakter der Regelungen ist grundlegend verschieden (Einzelfall-Regelungen; abstrakt-generelle, normative Festlegungen15). Auch ist die Trennung durch gute Gründen gerechtfertigt und muss vor ihrem verfassungsrechtlichen Hintergrund bewertet werden: Planfeststellung wie Verfahrensplanung sind nach dem Grundsatz des Art. 87d Abs. 1 GG Bundesverwaltung. Die Zulassung von Flugplätzen hat der Bund aber den Ländern in Auftragsverwaltung übertragen (Art. 87d Abs. 2 GG). Zu den Gründen, die eine Zusammenfüh15  Die nach § 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO festgelegten Flugverfahren sind das Ergebnis eines Normsetzungsverfahrens, vgl. ­BVerwG, Urteil vom 19.12.2013 – 4 C 14.12 – (juris) unter Hinweis auf BT-Drucks. 11 / 3919 S. 21. Der Rechtscharakter als Norm (Rechtsverordnung) kann heute als gesichert gelten; zur Diskussion vgl. Wöckel (Fn. 1) S. 195 ff. und Wysk (Fn. 8) S. 289.

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rung praktisch ausschließen, gehört nicht nur der Umstand, dass der Bund mit der Fachplanung der Vielzahl von Flugplätzen praktisch überfordert wäre, sondern auch, dass es bei der Flugplatzplanung vorrangig um regionale Interessen geht, während die Verfahrensplanung von überregionalen Interessen und internationalen Zusammenhängen bestimmt wird. Wer dies für den Lärmschutz bezweifelt, sollte sich daran erinnern, dass er im Wesentlichen der Fachplanungsbehörde aufgetragen ist (§ 6 Abs. 2 S. 1 LuftVG). Die formelle Trennung setzt sich in einer verfahrensrecht­lichen Trennung fort. Flugverfahren werden nach der derzeitigen Praxis durchweg erst nach Abschluss eines Planfeststellungsverfahrens für bauliche Änderungen an einem Flughafen (etwa der Anlegung einer neuen Bahn) festgelegt, und zwar kurz vor Betriebsaufnahme. Das macht es system­immanent schwierig, sie im Planfeststellungsverfahren hinreichend genau „vorweg­ zunehmen“. Auch dafür bietet die bestehende Rechtslage jedoch Lösungen (→ 4.b)). 2. Wechselseitige Abhängigkeiten Trotz der formalen Unabhängigkeit der Verfahren bestehen in der Sache intensive und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Verfahren. Für die Flughafenplanung haben Flugverfahren nämlich eine erhebliche Bedeutung: (1) Sie ermöglichen faktisch die – genehmigungsrechtlich zuzulassende – Benutzung von Flugplätzen nach Instrumentenflugregeln und vor allem die Ausnutzung des Planfeststellungsbeschlusses; (2) sie sind spiegelbildlich die wesentliche Bedingung für das Entstehen der Lärmbelastung in der Nachbarschaft des Flughafens und damit zentrale Elemente für die Berechnung der Umgebungsbelastung und die Problembewältigung. Zwar wird im Planfeststellungsbeschluss der Flugbetrieb in der Luft nicht unmittelbar erlaubt. Die Lärmbelastung in der Nachbarschaft ist aber adäquat-kausale und damit zurechenbare Folge der Zulassung des Vorhabens und der Anlagennutzung. Damit sind der Vorhabenträger und die Planfeststellungsbehörde durch den Grundsatz der umfassenden Problembewältigung verpflichtet, die Lärmbelastung zu ermitteln und einer tragfähigen Lösung zuführen. Das ist ohne fundierte Kenntnis der Flugverfahren nicht möglich. Das Betriebsmodell der Flugverfahren ist unabdingbarer Teil der Berechnungsgrundlagen nach der AzB16, die heute über § 8 Abs. 1 LuftVG und die 1. FlugLSV (§ 4 Abs. 2) auch für die luftrechtliche Anlagen- und Betriebszulassung verbindlich ist. 16  Anleitung zur Berechnung von Lärmschutzbereichen (AzB) vom 19.11.2008 (BAnz Nr. 195a vom 23.12.2008).



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Zudem bestimmen die Flugverfahren in ihrer Gesamtheit, ob der Betrieb des Flughafens dauerhaft möglich sein wird, also auch bei Veränderungen des ursprünglich festgelegten Betriebsmodels, die nach allen Erfahrungen mehr als wahrscheinlich sind. Das bringt neue Schwierigkeiten ins Verfahren, denn bei ihrer Abwägungsentscheidung muss die Behörde irgendwie sicherstellen, dass ihre Planungsentscheidung auch bei späteren Verlegungen der Flugverfahren Bestand behalten kann, dass also keine Flugverfahren festgelegt werden, bei denen sie den Flughafen (das jeweilige Projekt) nicht zugelassen hätte. Damit schweift ihr Blick zwangsläufig in noch fernere Zukunft. Die bisher herrschende Ansicht sieht nun das Betriebsmodell der Flugstrecken durch eine (bloße) Prognose der Fachplanungsbehörde mit der Verfahrensplanung verknüpft, nimmt also das Risiko ihres Scheiterns in Kauf, wobei das volle Ausmaß des möglichen Scheiterns der Prognoseannahmen erst beim Flughafen Berlin-Schönefeld (BER) bewusst geworden ist (→ 4.a)). 3. Probleme bei der Flughafenplanung Aus dieser Konstruktion – sachliche Abhängigkeit bei formeller Trennung – folgen zwangsläufig systemimmanente Probleme. Sie sind allerdings nicht ungewöhnlich, sondern ihrer Art nach geradezu typisch für alle Arten „gestufter“ Planung, um die es sich hier in gewisser Weise auch handelt. Flugverfahren „vollziehen“ zum einen den Planfeststellungsbeschluss, indem sie die Ausnutzung der Anlage ermöglichen; das setzt eine Vorprägung der Nutzung im Planfeststellungsverfahren voraus. Der Verfahrensplanung verbleiben aber auch eigene Spielräume, insbesondere was die Feinplanung und Sicherheitsfragen angeht. Die Verordnungsermächtigung schließt ein, dass das BAF eine originäre Entscheidung zu treffen hat. Das gilt auch für die von der Planfeststellung offen gelassenen Streckenvarianten. Unter ihnen muss das BAF nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben die optimalen ermitteln und auswählen. Schon in der Phase der Planerarbeitung stellt sich für den Flughafenunternehmer, der IFR-Betrieb durchführen will, die Aufgabe, seinen Planungen ein tragfähiges Flugbetriebsmodell zugrunde zu legen. Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist § 40 Abs. 1 Nr. 10 Buchst.  a LuftVZO, wonach er den Antragsunterlagen das Gutachten „eines technischen Sachverständigen über das Ausmaß des Fluglärms, der in der Umgebung des Flughafens zu erwarten ist“, beizufügen hat. Dieses Gutachten basiert zwingend auf der AzB und kann daher ohne ein Flugbetriebsmodel nicht erstellt werden. Der Flughafenunternehmer kann die Flugstrecken, die als Eingangsgrößen der AzB erforderlich sind, aber nicht selbst ermitteln. Er ist dabei von den Erklärungen des BAF und der DFS abhängig. Dieses Problem hat sich dadurch

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entschärft, dass die Anleitung zur Datenerfassung über den Flugbetrieb (AzD), die seit der Novellierung des Fluglärmgesetzes als verbindliches Regelwerk ausgestaltet ist (vgl. § 2 Abs. 4 der 1.  FlugLSV), die „mit der Flugsicherung Beauftragten insbesondere zu den Flugverfahren und Flugstrecken“ zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Flugplatzbetreiber verpflichtet (Nr. 3.2 AzD).17 Diese Pflicht besteht aber erst für das, der Planfeststellung nachfolgende, Verfahren der Festsetzung eines Lärmschutzbereichs; die „Vorwirkungen“ für das Fachplanungsverfahren sind offen. Das Problem setzt sich im Planfeststellungsverfahren für die Behörde fort. Irgendwann muss entschieden werden, mit welchem Flugbetriebsmodell die Vorhabensauswirkungen ermittelt werden, zu welchen Auswirkungen des Vorhabens die Anhörung stattfindet, welche Planunterlagen in welchen Gemeinden ausgelegt werden und was im Erörterungstermin diskutiert wird. Ändern sich hier maßgebliche Daten, stellt sich immer die Frage, ob Teile des Anhörungsverfahrens wiederholt werden müssen, was in jeder Hinsicht überaus misslich ist. Zwar befindet sich die Planfeststellungsbehörde in einer etwas besseren Position als der Vorhabenträger. Sie kann Auskünfte verlangen: Das BAF ist im Rahmen der Trägerbeteiligung als „Behörde, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt wird“, zu dem Vorhaben anzuhören (vgl. § 10 Abs. 2 Nr. 1 S. 2 LuftVG a. F., § 73 Abs. 2 VwVfG). Die DFS hat als Flugsicherungsorganisation eine gutachtliche Stellungnahme abzugeben (§ 31 Abs. 3 LuftVG). Allerdings bleibt es auch hier schwierig, Auskünfte über ein Flugbetriebsmodell zu erhalten, das Bestand behält. Sowohl DFS wie BAF legen eine deutliche Zurückhaltung an den Tag und scheuen frühzeitige Festlegungen.18 4. Lösungen nach der Rechtsprechung a) Der Fall BER Werden im Planfeststellungsverfahren Flugrouten zugrunde gelegt, die sich später als wesentlich falsch erweisen, kann das zu erheblichen Enttäuschungen und Protesten in der Bevölkerung führen. Die Ausbauplanung des Flughafens Berlin-Brandenburg (BER) ist dafür ein Beispiel. Dort hat die 17  Auch die 1.  FlugLSV (§ 2 Abs. 5) selbst verpflichtet zu einer solchen Zusammenarbeit, allerdings erst für das dem Fachplanungsverfahren nachfolgenden Verfahren zur Festsetzung des Lärmschutzbereichs. Demgemäß ist der dogmatische Begründungsweg, dass eine Zusammenarbeits- und Auskunftspflicht schon in der Phase der Planerarbeitung durch den Flugplatzbetreiber besteht, lang und verwinkelt. Letztlich geht es um Vorwirkungen der FlugLSV und um das, was das LuftVG voraussetzt, damit der Flugplatzbetreiber seine Aufgabe erfüllen kann. 18  Vgl. zu den Gründen Kaienburg / Uhl, (Fn. 2), S. 533 ff.



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Verärgerung über die von der Planfeststellung abweichende Festlegung der Flugverfahren – nach rechtskräftigem Abschluss der Gerichtsverfahren – sogar zu Klagen auf Rücknahme des Planfeststellungsbeschlusses und auf Wiedereinsetzung in die Klagefrist geführt. Dies ist damit begründet worden, die Kläger seien im Planfeststellungsverfahren über die wahren Flugrouten getäuscht worden und hätte ihre mögliche Betroffenheit durch den Planfeststellungsbeschluss nicht erkennen können. Dass diese Klagen im Ergebnis erfolglos geblieben sind,19 liegt ausweislich der Urteilsbegründung nur an einem Relevanzmangel der „Falschprognose“ (§ 10 Abs. 8 S. 1 LuftVG a. F., § 75 Abs. 1a VwVfG): Die Betroffenheiten hatten sich zwar individuell deutlich verschoben; eine zutreffende Prognose hätte aber das Ergebnis der Abwägung, dass das Vorhaben am Standort Schönefeld zugelassen werden kann, im konkreten Fall nicht verändert (vgl. Fn. 19, ­BVerwGE 144, 1 Rn. 81 ff.). Dem Urteil kann keinesfalls entnommen werden, dass Fehlprognosen von Flugverfahren generell ohne Bedeutung seien, im Gegenteil! Die Lehre aus dem „Fall BER“ muss daher sein, dass zwischen Planfeststellung und Routenfestlegung eine Verknüpfung herzustellen ist, die verlässlich ist und Bestand hat. Dahin geht auch, wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen, die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. b) Neue Rechtsprechung Die Lösung für diese Probleme der Verknüpfungen zwischen Planfeststellung und Flugstreckenplanung lassen sich de lege lata auf zwei Wegen erreichen: (aa)  durch eine verfahrensrechtliche Verzahnung beider Verfahren schon während des Planfeststellungsverfahrens und / oder (bb)  durch mate­ riell-rechtliche Bindungen des BAF an Festlegungen im Planfeststellungsbeschluss, die dann aber auch möglichst explizit sein müssen. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beziehungen der Verfahren in einigen Entscheidungen nunmehr präzisiert.20 Folgende Grundsätze lassen sich ausmachen: – Die Planfeststellungsbehörde hat (1) die durch das Vorhaben entstehenden Probleme zu bewältigen und darüber hinaus (2)  sicherzustellen, dass der Flughafen auf Dauer, also auch bei abweichender Festlegung und bei Änderungen von Flugverfahren betrieben werden kann. Daraus folgen unterschiedliche Anforderungen an die Prognose der Lärmauswirkungen. 19  Vgl. die Urteile vom 31.7.2012 – 4 A 5000.10, 4 A 5001.10, 4 A 5002.10, 4 A 7000.11, 4 A 5000.10, 4 A 5001.10, 4 A 5002.10, 4 A 7000.11 – ­BVerwGE 144, 1 und – 4 A 7001.11, 4 A 7002.11, 4 A 7003.11 – ­BVerwGE 144, 44. 20  Maßgebend sind die Urteile vom 31.7.2012 (Fn. 19), S. 16 ff. und S. 52, 71.

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– Im Planfeststellungsverfahren hat die Planfeststellungsbehörde eine Prognose zu erstellen, die die „Grobplanung“ des künftigen Flugstreckenmodells realistisch abbildet. Diese Grobplanung ist mit BAF und DFS abzustimmen. – Für Zwecke der Abwägung unter Lärmgesichtspunkten hat die Planfeststellungsbehörde abgestimmte und realistischerweise in Betracht kommende Flugrouten auf die zu erwartenden Beeinträchtigungen hin zu untersuchen. Die prognostische Flugroutenplanung muss Art und Ausmaß der zu erwartenden Betroffenheiten in der für die Abwägung relevanten Größenordnung wirklichkeitsgetreu abbilden. – Im Anhörungsverfahren ist hingegen ein „Einwirkungsbereich“ des Flughafens zu definieren, in dem die Planunterlagen auszulegen sind. Er umschließt das gesamte Gebiet, in dem abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens möglich sind, d. h. weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen auszuschließen ist, dass zu Betroffenheiten führende Flugverfahren festgelegt werden. Auf diesen Einwirkungsbereich muss sich räumlich auch die Umweltverträglichkeitsprüfung erstrecken. Die Planfeststellungsbehörde kann zusätzlich „negative Vorgaben“ machen, mit denen Gebiete bestimmt werden, die von Fluglärm verschont bleiben müssen. c) Bewertung Dem Bundesverwaltungsgericht ist es ersichtlich und zu Recht darum zu tun, den Erfordernissen beider Verfahren Rechnung zu tragen und das Gesamtsystem mit seiner nach derzeitiger Rechtslage strukturell unabänder­ lichen „Stufung“ auf der einen Seite flexibel und handhabbar zu halten und auf der anderen Seite Sicherungen zu schaffen, die berechtigte Enttäuschungen der Bevölkerung möglichst ausschließen. Die gesetzliche Konstruktion ist mit systemimmanenten Unsicherheiten belastet, die auch – weil in der Natur der Sache begründet – durch eine Gesetzesänderung kaum aus der Welt geschafft werden könnten. Wenn das Gericht von „Grobplanung“ spricht, ist damit eine „harte“, belastbare Prognose gemeint und kein Freibrief für beliebige Abweichungen: Die Flugverfahren müssen realistisch sein, und der Verordnungsgeber muss die Realitätsnähe bescheinigen.21 Lediglich die Feinplanung22 im Sinne einer Ausfüllung der planfestgestellten Vorgaben steht dem Verordnungsgeber noch offen. Aber es soll so weit wie möglich bei dem blei21  Insofern ist die Forderung aus dem SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *9 (S. 19) und Tz. 178 ff. (S. 166) bereits erfüllt. 22  Vgl. zu den Begriffen Grob- und Feinplanung Kaienburg / Uhl, (Fn. 2) S. 537 ff.



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ben, was die Planfeststellungsbehörde erwogen hat. Dazu anerkennt das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich die Bindungen der Abwägungsentscheidung des Verordnungsgebers an die Vorgaben des Planfeststellungsbeschlusses. Das ist im Grunde selbstverständlich und für die Belange des Flugplatzbetreibers seit langem anerkannt. Durch was sollte das Entscheidungsprogramm des BAF denn auch sonst „infiziert“ werden als durch den Planfeststellungsbeschluss, der durch Flugverfahren nachvollzogen wird? Die Planfeststellungsbehörde darf deshalb grundsätzlich davon ausgehen, dass Flugverfahren festgelegt werden, die Art und Ausmaß der im Planfeststellungsverfahren ermittelten „exemplarischen“ Betroffenheiten nicht wesentlich übersteigen. Jede Festlegung von Flugstrecken, die Planungsziele konterkarieren, ist rechtswidrig, was auf Klage von Betroffenen, die dadurch in ihren Rechten verletzt sind, festgestellt werden würde. Dass Flugverfahren später geändert werden und geändert werden müssen, ist unabänderlich in der Natur der Sache begründet. Allerdings betrifft das allermeist Bereiche, die so weit außerhalb des Flugplatzgeländes liegen, dass die Lärmbelastung in den zumutbaren Bereich fällt oder sogar im Umgebungslärm aufgeht und die Planfeststellungsbehörde aus ihrer planerischen Sicht keine Einwände gegen einen geänderten Routenverlauf haben würde. Aus meiner Sicht sind damit die Desiderate an die Verknüpfung der Verfahren im Wesentlichen erfüllt. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausgesprochen, was auf der Grundlage des geltenden Rechts geboten ist; es hat weitergehende Spielräume nicht blockieren wollen. Ich sehe mich daher nicht daran gehindert, nachdrücklich dafür zu plädieren, dass schon eine möglichst enge Verzahnung der Verfahren stattfindet. Sie ist zwar gesetzlich nicht zwingend vorgesehen, liegt aber im Gestaltungsermessen der beteiligten Akteure. Im Ergebnis sollten am Ende des Fachplanungsprozesses die Flugrouten in den entscheidenden Bereichen (etwa 25 km um das Start- und Landebahnsystem) so feststehen, wie sie später auch festgelegt werden. Nur dies wird dem heutigen Verständnis an ein transparentes, ehrliches und verlässliches Verwaltungshandeln gerecht. Diese Werte scheinen in der gegenwärtigen Diskussion die zentralen Größen für die Durchsetzung von Projekten zu sein. Sollte es nicht gelingen, die geklärten Standards in der Praxis mit Leben zu füllen und das Vertrauen der Bevölkerung in die Qualität des Verwaltungshandelns zurückzugewinnen, würde sich der Gesetzoder Verordnungsgeber wohl doch herausgefordert fühlen müssen, die normative Lage anzupassen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist bereits in der letzten Legislaturperiode vernehmlich geworden und tönt bis in die derzeitige hinein, zumal der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) sich in einem Sondergutachten (Fn. 21) jüngst einige Forderungen der Betroffenen zu eigen gemacht hat. Man darf aber bezweifeln, dass dadurch viel verbessert werden könnte, schon weil der Versuch, das Konkrete in allgemeingül-

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tige Normen zu gießen, zu Allgemeinplätzen führt23 oder zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten und Versteinerungen, die die Planung eher behindern. Überdies stehen sachliche Klärungen aus, die eine gute Basis für Novellierungen sein könnten. Zudem muss man bedenken, dass sich ein vergleichbarer Fall wie in Berlin künftig kaum noch ergeben wird. Die großen Ausbauverfahren (Berlin Schönefeld, die vierte Bahn in Frankfurt und die dritte Bahn in München) sind abgeschlossen, neue, bei denen sich die Frage der Bindung an einen Planfeststellungsbeschluss stellen könnte, nicht in Sicht. Die eigentlichen Probleme werden sich künftig bei der ausbauunabhängigen Änderung von Flugverfahren zur Lärmentlastung ergeben. Damit dürfte sich auch die Forderung erledigen, die Verfahrensplanung in das Planfeststellungsverfahren zu integrieren – eine Forderung, die so gravierende Konsequenzen hätte, dass sie ohnehin rundweg abzulehnen ist.24 Die künftigen Probleme würden damit nicht gelöst. Dazu muss man Folgendes einstellen: – Im Flughafennahbereich, in dem unabänderlich hohe Geräuschbelastungen bestehen, gibt es kaum Variationsmöglichkeiten für Flugrouten, also Potenzial für Geräuschminderungen durch alternative Streckenführungen. Die Lage der Flugverfahren wird durch die Sicherheitsregeln der Flug­ sicherung und die örtlichen Verhältnisse des Flughafens (Konfiguration, Windverhältnisse, umliegende Bebauung u. a.) weitgehend fixiert. Der Nahbereich ist zudem deckungsgleich mit dem Lärmschutzbereich nach dem Fluglärmgesetz. – In diesem Verfahren zur Festlegung des Lärmschutzbereichs wird bei neueren Projekten der Lärmschutz gewährleistet (§ 13 FluglärmG), also in einem Verfahrensstadium, in dem die Flugrouten bereits endgültig fixiert sind. – Die Diskussionen betreffen demgemäß Gebiete weit außerhalb des Lärmschutzbereichs, in denen der Fluglärm von der Planfeststellungsbehörde – in Übereinstimmung mit den Maßstäben der Rechtsprechung – grundsätzlich als „zumutbar“ bewertet wird und passive Schallschutzmaßnahmen aus Rechtsgründen (§ 13 FluglärmG) nicht diskutiert werden. 23  Das gilt etwa für den Vorschlag, eine Pflicht zur Berücksichtigung des Planfeststellungsbeschlusses bei der Verfahrensplanung in das Gesetz zu schreiben (vgl. SRU Sondergutachten [Fn. 13], S. 166 Rn. 180). Dass die Festlegung von Flugverfahren eine Abwägungsentscheidung ist und dabei die Vorgaben der Planfeststellungsbehörde einzubeziehen sind, ist so grundlegend geklärt, dass von einer gesetzlichen Regelung kein Mehrwert zu erwarten ist. Dasselbe gilt für jeden Vorschlag, die Grundsätze der Rechtsprechung in Normen zu fassen. 24  Dahin geht auch die Einschätzung des SRU im Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *5, sowie hier im Text III.4.d).



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– Soweit einem Planfeststellungsbeschluss für diese Gebiete keine Vorgaben zum aktiven Lärmschutz entnommen werden können (was derzeit nur ausnahmsweise der Fall sein wird), wie etwa durch Beschreibung von Gebieten, die nicht überflogen werden sollen, müssen überzeugende und praktikable Krite­rien und Verfahren für die Bewertung von alternativen Streckenführungen „im Zumutbaren“ definiert werden. – Die Befugnis des Fluglotsen, die an- und abfliegenden Luftfahrzeuge durch Einzelfreigaben zu lenken (§ 26, § 27a Abs. 1 LuftVO), führt dazu, dass in langen Planungs- und Gerichtsverfahren über Flugverfahren diskutiert wird, die später nicht geflogen werden. Insbesondere das Phänomen, dass festgesetzte Ab- oder Anflugverfahren abgekürzt werden (sog. Directs, dazu unten IV.3.), wird als noch zu lösendes Problem empfunden. d) Lösungen de lege ferenda Aus der Vielfalt von Problemen sind Vorschläge laut geworden, die formelle Trennung aufzugeben und die Festlegung der Flugrouten in das Planfeststellungsverfahren zu integrieren. Eine solche Verbindung würde jedoch erhebliche, sogar kaum lösbare Verwerfungen mit sich bringen. Adressatenkreis und Rechtscharakter der Zulassungsentscheidung würden sich durch die Integration abstrakt-genereller Regelungen in einen Verwaltungsakt drastisch ändern; der Planfeststellungsbeschluss erhielte einen neuen Adressatenkreis (die Luftfahrzeugführer), der nicht nur betroffen, sondern gebunden würde. Die sachlichen, flugbetrieblichen (technischen) Fragen müssten von einer Vielzahl von Länderbehörden beurteilt werden, die mit zusätzlichem Personal und Sachverstand ausgerüstet werden müssten und für alle späteren Änderungen zuständig bleiben würden, auch soweit diese keine Lärmrelevanz hätten. Damit wären schwerwiegende neue Probleme verbunden. Eine Lösung mit derart hohen „normativen Kosten“ könnte nur in Betracht gezogen werden, wenn es keine einfachere Abhilfe geben würde. Solche Möglichkeiten bestehen aber, und zwar schon auf der Grundlage des geltenden Rechts. 5. Einflüsse des Naturschutz- und Umweltrechts a) Beeinträchtigungen von FFH-Gebieten Zu den neuen Entwicklungen gehört, dass das Naturschutzrecht und auch das Umweltrecht Einfluss auf die Flugverfahren gewinnt, und zwar schon auf ihre Prognose im Planfeststellungsverfahren. Das gilt insbesondere dann, wenn die Planfeststellungsbehörde erkennt, dass Flugverfahren festgesetzt werden könnten, die geeignet sind, ein FFH-Gebiet erheblich zu be-

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einträchtigen. Ein solches Flugverfahren darf nur unter strikter Wahrung der in gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG beschriebenen, eng auszulegenden Voraussetzungen zugelassen werden.25 Kann das Vorhaben nur dann realisiert werden, wenn ein FFH-Gebiet beeinträchtigt wird, stellt dies die Zulassung des Vorhabens auf der Ebene der Abwägung infrage, wenn nicht sicher vorhergesagt werden kann, dass die Beeinträchtigung unionsrechtlich zulässig ist, etwa weil eine Abweichungsentscheidung getroffen werden kann. Diese Zusammenhänge zwingen die Planfeststellungsbehörde zu einer genauen Betrachtung des Flugbetriebsmodells, wenn die Beeinträchtigung eines FFH-Gebietes denkbar ist. b) Umweltverträglichkeitsprüfung Etwas anders liegen die Dinge bei der – derzeit sehr diskutierten – Frage, ob Flugverfahren einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind, genauer gesagt: ob in Verfahren des BAF zur Festlegung oder Änderung von Flugverfahren eine UVP geboten ist. aa) UVP im Planfeststellungsverfahren Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit die Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Planfeststellung eines Flughafen(ausbau)s Flugverfahren einbeziehen muss. Die dem planfestzustellenden Vorhaben zurechenbaren Beeinträchtigungen der Umgebung sind in dem gesamten Bereich zu untersuchen, in dem zurechenbare abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens möglich sind. Die räumliche Verteilung der Beeinträchtigungen wird wesentlich durch den Verlauf der Flugverfahren bestimmt. Die Hauptfrage ist nun, ob nur die der Planfeststellung zugrunde gelegten Flugverfahren (die sog. „Grobplanung“) untersucht werden müssen oder auch weniger wahrscheinliche Flugverfahren. Diese Frage wird in der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts differenziert beantwortet.26 Der wenig beachtete Ausgangspunkt ist eine Unterscheidung der Betrachtungsebenen der Fachplanung. Die Maßstäbe sind unterschiedlich, je nachdem, ob es um die (generelle) Abwägung geht oder um die (individuelle) Problembewältigung. Auf der Ebene der Abwägung hat die Planfeststellungsbehörde zu beurteilen, ob die Nutzung des Flughafens in der planfestzustellenden Gestalt auf Dauer möglich sein wird oder ob ihr – aus der gegenläufigen Perspek25  Vgl.

flug).

­BVerwG, Urteil vom 10.4.2013 – 4 C 3.12 – NVwZ  2013, 1346 (Tief-

26  Dazu zusammenfassend ­BVerwG, Urteil vom 19.12.2013 (Fn. 15), Rn. 12 m. w. N. und oben 4.b).



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tive formuliert – bei einer Veränderung des prognostizierten Flugbetriebsmodells Hindernisse entgegenstehen, bei deren Kenntnis die Behörde das Vorhaben nicht zugelassen hätte. Im Rahmen der Abwägung ist es regelmäßig ausreichend, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung die Entscheidung vorbereitet, ob sich die Zulassung des Vorhabens nur rechtfertigen lässt, wenn bestimmte Gebiete von erheblichen Beeinträchtigungen durch Fluglärm verschont bleiben. Unter dieser Perspektive darf sich die Umweltverträglichkeitsprüfung aus Anlass des (Aus)Baus eines Flughafens nicht auf die Betrachtung bestimmter, für die Lärmbetroffenheiten repräsentativer Flugverfahren oder der sog. Grobplanung beschränken. Sie muss vielmehr den gesamten Einwirkungsbereich des Flughafens, d. h. alle nicht auszuschließenden Flugverfahren (oben III.4.b)) untersuchen, allerdings nicht in der Detailschärfe wie für die individuelle Problembewältigung. Dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Planfeststellung ausgehend von bestimmten Flugverfahren die Umweltauswirkungen des Flughafenbetriebs betrachten muss, folgt aus der Pflicht der Planfeststellungsbehörde, eine Abwägungsentscheidung zu treffen, macht aber die Festlegung der Flugverfahren nicht selbst zum Anlass einer Umweltverträglichkeitsprüfung.27 Eine detaillierte Ermittlung und Beschreibung der betriebsbedingten Auswirkungen des Vorhabens ist in der Regel aber nur für die der Planfeststellung zugrunde gelegte sog. Grobplanung der Flugrouten erforderlich,28 weil diese Untersuchungen im Rahmen der Problembewältigung der individuellen Abwägung und dem Lärmschutzkonzept dienen. bb) UVP für Flugverfahren Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Flugverfahren bei ihrer späteren Festlegung erneut einer eigenen UVP zu unterziehen sind, ebenso nachträgliche Änderungen von Flugverfahren. Viele der zurzeit vernehm­ lichen Stimmen halten diese Forderung für sinnvoll, nun auch der SRU in seinem Sondergutachten.29 Das ist problematisch. Zum einen spricht nach dem Unionsrecht nichts dafür, dass bei der Festsetzung von Flugverfahren eine UVP-Pflicht besteht. Diese Ansicht hat das Bundesverwaltungsgericht jüngst bestätigt und die UVP-Pflicht für Flugverfahren ausdrücklich verneint.30 Dementsprechend wundert es nicht, dass die Europäische Kommis27  Vgl. ­BVerwG, Urteil vom 31.7.2012 – 4 A 7001.11 u. a. – ­BVerwGE 144, 44 Rn. 44. 28  Vgl. ­BVerwG, Urteil vom 19.12.2013 – 4 C 14.12 – juris Rn. 12 m. w. N. 29  Vgl. SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *6 f. und 181 ff. 30  ­BVerwG, Urteil vom 19.12.2013 (Fn. 28), Rn. 13 ff.; a. A. SRU Sondergutachten (Fn. 13), Tz. *1, *6 und 130.

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sion bislang nichts Gegenteiliges verlautbart und nur die fehlende normative Fixierung beanstandet. Das ist sachlich verständlich: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat das UVP-Recht einen anderen Projektbegriff als das FFH-Recht, der an ein physisches, bauliches Vorhaben gebunden ist. Unabhängig von unionsrechtlichen Verpflichtungen könnte der deutsche Gesetzgeber zwar eine UVP-Pflicht für Flugverfahren einführen. Deren Sinnhaftigkeit müsste aber kritisch hinterfragt werden. Eine generelle UVPPflicht würde zu einem erheblichen Mehraufwand und – insbesondere wegen der Öffentlichkeitsbeteiligung – zu starken Verzögerungen der Verfahrensplanung führen. Sie könnte diese sogar faktisch lahm legen, was die Befürworter der UVP einräumen. Zweifellos müssten mehr Gutachter und Verwaltungshelfer beschäftigt und dem BAF mehr Personal zur Bewältigung der zusätzlichen Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Da es sich um originär staatliche Planung handelt, wäre der Mehraufwand vom Bund zu bezahlen. Es darf bezweifelt werden, ob dies alles gerechtfertigt ist. Viele Änderungsverordnungen bewirken nur Anpassungen oder haben keine Auswirkung auf die Bevölkerung (wie die Änderung von Meldepflichten, Funkfrequenzen, vgl. oben I.3 bei Fn. 7), sodass ein Abgrenzungskriterium gefunden werden müsste, mit dem die Verfahren in wesentliche und unwesentliche eingeteilt werden könnten, was seinerseits streitanfällig wäre. Vor allem aber müsste die UVP auch für wesentliche Änderungen einen eigenständigen Sinn machen, also insbesondere einen Erkenntnismehrwert bringen, den es ohne UVP nicht gäbe. Wesentliche Änderungen werden solche sein, die Entlastungen anstreben, diese aber – wie in der dicht besiedelten Bundesrepublik fast unvermeidlich – durch Neubelastungen anderer Bevölkerungsteile erkaufen müssen. Solche Änderungen sind nur dann rechtens, wenn sie sich in einem Variantenvergleich durchsetzen. Für Variantenvergleiche bietet die UVP selbst indes keine Maßstäbe. Sie ist ein bloßes Verfahrensinstrument, mit Blick auf die materielle Bewertung von alternativen Routenführungen gewissermaßen eine „leere Hülse“. Alles entscheidend sind die materiellen Kriterien und das Bewertungsverfahren, mit dem Änderungen gegenüber dem Ist-Zustand (der „Null-Variante“) und mit denkbaren Alternativen verglichen werden. Ohne eine tragfähige Bewertung bleibt jede UVP ohne Aussagewert. Für die Bewertung von Alternativen gibt es seit der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Flugverfahren zwar durchaus Modelle, aber bislang keinen allgemein akzeptierten Standard (dazu unten IV.2.c)). Allerdings gehört der Variantenvergleich schon bisher zum Kern aller auf Lärmentlastung zielenden Änderungsplanungen und wird in gerichtlichen Streitigkeiten eingehend diskutiert. Insofern ist schlechterdings auszuschließen, dass allein die Einführung einer UVP Verbesserungen mit sich bringen könnte.



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IV. Rechtsprobleme der Verfahrensplanung 1. Erlassverfahren a) Öffentlichkeitsbeteiligung Die meisten Reformvorschläge suchen ihr Heil in einer Verstärkung von Beteiligungen. Die Öffentlichkeit soll, gegebenenfalls im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung, einbezogen31 und das derzeitige Erfordernis eines Benehmens mit dem UBA zu einem Einvernehmenserfordernis (also einer vollen Willensübereinstimmung) verstärkt werden.32 Während Letzteres wegen der Einschränkung der Rechtssetzungsmacht des Verordnungsgebers und dem Offenbleiben der Letztverantwortung problematisch ist,33 ist die Einführung einer Öffentlichkeitsbeteiligung für bestimmte Fälle durchaus erwägungswert, auch wenn sie für sich genommen weder ein Königs- noch ein Heilsweg ist. Entscheidend kommt es auf die Inhalte an, die bei der Öffentlichkeitsbeteiligung ermittelt oder vermittelt werden. Vertrauen in die staatlichen Akteure vermag der offene Dialog, der den Kern einer Öffentlichkeitsbeteiligung bildet, nur dann zu schaffen, wenn die vorgestellte Planung qualitativ ausgereift und überzeugend, aber auch offen für Verbesserungen ist. Zur Öffentlichkeitsbeteiligung34 bedarf es allerdings nicht zwingend einer Gesetz- oder Verordnungsänderung. Die Ermächtigung zur „Festlegung 31  Vgl. etwa Schütte / Barth / Giemulla: Gutachten zur Prüfung von formell- und materiell-rechtlichen Vorgehensmöglichkeiten bei der Festlegung von Flugrouten, Dessau-Roßlau, März 2014 (abrufbar von www.umweltbundesamt.de >  Publikationen, zuletzt abgerufen am 12.05.14), Abschn.  5 (S. 62 ff. „Soll-Zustand“). 32  So SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *11 und 65 f. 33  Ein Einvernehmen würde die Verfahren nicht nur deutlich verzögern, möglicherweise sogar die übergeordneten Ministerien als Streitschlichter auf den Plan rufen können, sondern es ist vor allem überdimensioniert. Gewicht erhalten die im Rahmen des Benehmens abgegebenen Stellungnahmen des UBA nach dem Maß ihrer sachlichen Überzeugungskraft. Das BAF wird sich gegen eine gut qualifizierte Einschätzung des UBA nicht ohne bessere Sachgründe durchsetzen können. Würde es diese ignorieren, würden sich die Erwägungen des UBA spätestens im Prozess durchsetzen und das streitige Flugverfahren als rechtswidrig (nichtig) erweisen. Soweit es lediglich um Spielräume ohne klare Vorzugswürdigkeit geht, muss aber die Letztentscheidung beim BAF verbleiben. Ein Einvernehmen ist nur dort angängig, wo die Rechtssetzungsaufgaben zwei Stellen gemeinsam zugewiesen sind, oder eine Stelle von Vorgaben der rechtsetzenden Stelle abweichen oder an ihre Stelle treten darf, wie dies in § 27a Abs. 2 S. 2 und 3 LuftVO vorgesehen ist. 34  Der Begriff „Öffentlichkeitsbeteiligung“ ist unbestimmt und kann das gesamte Spektrum des Anhörungsverfahrens nach § 73 VwVfG zwischen bloßer Information über Anhörung bis zur Erörterung umfassen.

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von Flugverfahren“ in § 32 Abs. 4 Nr. 8 LuftVG, § 27a Abs. 2 LuftVO umfasst auch die Befugnis zur Gestaltung des Verordnungsverfahrens. Das BAF ist befugt, verfahrensmäßig alle Schritte zu unternehmen, die es im Einzelfall für notwendig oder sinnvoll hält, um seine Entscheidung abzustützen, solange damit keine Beschneidung von Rechten (etwa eine Präklusion) verbunden ist. Dazu kann auch eine Öffentlichkeitsbeteiligung gehören. Das ist planungstypisch und gilt ganz unabhängig von der Rechtsform der Planung, wie das Bundesverfassungsgericht im Fall „Südumfahrung Stendal“ klargestellt hat. Für die Gestaltung der Öffentlichkeitsbeteiligung gibt es freilich kein vorgeprägtes „Muster“ wie nach § 73 VwVfG für das Planfeststellungsverfahren. Das ist wiederum kein Nachteil, sondern ermöglicht die flexible, gegenstandsangepasste Ausgestaltung der Beteiligung. Bisher ist nur die Diskussion von Änderungsplanungen in der sog. Fluglärmkommission nach § 32b LuftVG und der „Dialog“ mit dem UBA im Rahmen der Benehmensherstellung nach § 32 Abs. 4c LuftVG obligatorisch; die Kommission ist seit 2009 auch zur Beratung des BAF berufen. Dessen Ermächtigung zur Ausgestaltung des Erlassverfahrens lässt sich aber auch für weiterreichende, nicht normierte Beteiligungen nutzen – etwa von betroffenen, aber in der Kommission nicht vertretenen Gemeinden oder einer allgemeinen Öffentlichkeit –, ohne dass aber Zwänge zu einer bestimmten Vorgehensweise – wie Veröffentlichungs-, Erörterungspflichten oder Präklusionen – eingreifen. Akteure wie Betroffene sollten diese Unbestimmtheit durchaus als Chance sehen, die Dinge einzelfallgerecht und flexibel zu halten und behutsam fortzuentwickeln. Ohnehin werden Öffentlichkeitsbeteiligungen exponierten Planungen mit deutlichem Allgemeinbezug vorbehalten bleiben müssen, um Änderungsverfahren zeitgerecht verwirklichen zu können.35 Die Beteiligung könnte genutzt werden, um die Absichten und Bewertungen des BAF vorzustellen,36 zu diskutieren und verständlich zu machen. Der Zeitverlust kann durch Vermeidung oder Beschleunigung von Prozessen wieder „hereingespielt“ werden, und auf lange Sicht könnte eine „neue Transparenz“ in 35  Angewiesen ist die Flugsicherung auf Flugverfahren allerdings nicht. Der Flugverkehr kann effektiv auch, wie unten zu zeigen, mit einer Abfolge von Einzelanweisungen der Lotsen (freilich unter Inkaufnahme starker Mehrbelastung und Kapazitätseinbußen) gesteuert werden, oder aufgrund der Ermächtigung der DFS in § 27a Abs. 2 S. 2 und 3 LuftVO, für drei Monate „im Einzelfall Flugverfahren durch Allgemeinverfügung festzulegen“. 36  Offen gelegt werden die Entscheidungen des BAF für (wie immer zu definierende) bedeutende Änderungsfestlegungen bereits nach der derzeitigen Praxis. Das BAF ist dazu übergegangen, umfangreiche, planfeststellungsähnliche Entschei­ dungen  zu formulieren und diese teilweise auf seiner Homepage zu veröffentlichen, vgl. etwa www.baf.bund.de >  Service >  Flugrouten Berlin, zuletzt abgerufen am 12.05.2014.



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einem offensiv geführten Erlassverfahren in diesem, den Betroffenen nur sehr schwer zugänglichen Feld zu einer breiteren Befriedung führen. Dieser Effekt wird zwar zunächst nur begrenzt eintreten, weil im aufgeheizten Klima der aktuellen Diskussion die Bereitschaft zum gegenseitigen Zuhören gering scheint und Verbesserungen durch Lärm(um)verteilung letztlich in einer statistischen Aussage münden, die einzelne Betroffene nicht zufrieden stellt. Bei Lärm(um)verteilungen werden sich stets die einen nicht hinreichend entlastet, die anderen unnötig mehr belastet fühlen.37 Auf Dauer aber könnte eine aktive und offensive Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung in die komplexen Planungsprozesse der Flugverfahren aber doch das Vertrauen in die staatliche Luftverkehrsverwaltung ein gutes Stück zurückerobern. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass die eigenständige Verfahrensgestaltung viel besser geeignet ist, eine ggf. erforderliche Rückbindung an Vorprüfungen und Grundentscheidungen in der fachplanerischen Zulassungsgrundlage des jeweiligen Flugplatzes herzustellen. Die Fachplanungsbehörde im Prozess der Flugverfahrensfestlegung konkret zu beteiligen und ihre Vorstellungen in die eigene Abwägung einzubeziehen, ist auf der Grundlage des geltenden Rechts ebenfalls ohne Weiteres möglich. Gleichwohl sieht sich jeder Vorschlag zur Aufwertung des Erlassverfahrens, bei allem dogmatischen Charme, großen Hindernissen gegenüber: Jede Ausweitung des Erlassverfahrens wäre nur mit erheblichem zusätzlichem Aufwand an Dogmatik, aber vor allem an Personal leistbar. Das BAF müsste mit hochqualifizierten Mitarbeitern verstärkt werden.38 Es darf bezweifelt werden, ob sich die zuständigen Ministerien und Haushälter überzeugen ließen, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Vermutlich würde die Frage nach der zwingenden Notwendigkeit und nach Alternativen eingehender beleuchtet werden. Das könnte die Diskussion um die – nur noch seltene  – 37  Dieser Effekt war schon bei einem der ersten, der aktiven Lärmverbesserung dienenden Verfahren, dem Projekt „Längstmöglicher Königsforstüberflug“ am Flughafen Köln / Bonn, zu beobachten. Von 1991 bis 1994 waren die Abflugstrecken in Richtung Nordosten auf verschiedenen Radialen geführt worden, die dicht besiedelte Teile von Köln und Bergisch Gladbach berührt hatten. Wegen anhaltender Lärmbeschwerden wurden die ersten Meilen der Strecken nach einem einjährigen Feldversuch gebündelt und mittig über den Königsforst, ein nahezu unbesiedeltes Waldgebiet nordöstlich des Flughafens, gelegt, wodurch aber bisher verschonte Siedlungsgebiete am südlichen Rand des Königsforstes geringgradig mit Fluglärm belastet wurden. Dies führte zu einem langen Rechtsstreit, der in die Grundlagenentscheidung vom 28.6.2000 (Fn. 10) mündete, nachdem die 1997 erhobene Klage vom OVG NRW zunächst mit Urteil vom 19.8. 1999 als unzulässig abgewiesen worden war. Die Klage hatte auch nach Zurückverweisung an das OVG keinen Erfolg, vgl. OVG NRW, Urteil vom 4.3.2002 – 20 D 120 / 97.AK – NWVBl.  2003, 95. 38  Zu Recht auch Schütte / Barth / Giemulla, Gutachten (Fn. 31), Abschn.  5.2.4 (S. 67 f.).

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Verzahnung mit Planfeststellungsverfahren neu beleben, vor allem aber die Verzichtbarkeit von Flugrouten-Änderungen in aller Schärfe in den Vordergrund rücken. Hierüber muss in der Tat nachgedacht werden: Wesentliche Änderungen, die verfahrensrechtlichen Aufwand verlangen könnten, sind stets mit Unruhe in der Bevölkerung verbunden und werden mit deutlichen Nachteilen (wie Neubelastungen) erkauft. Es muss daher in jedem Einzelfall kritisch gefragt werden, ob die Verbesserungen den Aufwand, die Beunruhigung der Bevölkerung und die erneute Anstachelung von öffentlich und emotional diskutierten Widerständen rechtfertigt. Das ist eine Frage der Bewertung von Flugroutenalternativen, die immer noch in den Kinderschuhen steckt und derzeit kaum überzeugend begründet werden kann (dazu unten 2.c)). Es könnte sich empfehlen, hierzu zunächst die Grundlagen und Details zu klären, um an Änderungsvorhaben zur Lärmverbesserung mit einem abgesicherten Instrumentarium herangehen zu können. b) Änderungen von Flugverfahren Wichtiger als die derzeit vieldiskutierte Frage der Flugroutenfestlegung nach einem Ausbauvorhaben auf einem Flughafen sind, wie schon gesagt, die Voraussetzungen, unter denen Flugverfahren ohne einen solchen Anlass geändert werden können. Die anlassbezogene, etwa durch eine neue Startund Landebahn gebotene, Verfahrensplanung ist nach den Verhältnissen in der Bundesrepublik voraussichtlich ein Auslaufmodell mit künftig nur noch wenigen Anwendungsfällen. Diese Konstellation hat das Thema lediglich in ein allgemeines Bewusstsein gehoben. Die weitaus größte Zahl von Routenänderungen ist aber nicht durch Änderungen am Flugplatz bedingt, und ein Teil von ihnen ist durch Lärmverbesserungen motiviert, die das spezifische Potenzial von Flugverfahren nutzen sollen. Es ist geklärt, dass das BAF auch dann eine Entscheidung zu treffen hat, die dem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot unterliegt. Das BAF behält eine eigenständige Gestaltungsbefugnis, die aber durch eine fortdauernde Bindung an die fachplanerischen Aussagen determiniert sein kann. Liegen solche Vorgaben aus einer Fachplanungsentscheidung vor, spricht nichts dafür, dass diese ein „Verfallsdatum“ haben. Sie sind und bleiben prinzipiell vorrangige Zwangspunkte für jede spätere Verfahrensplanung. Hat die Planfeststellungsbehörde etwa festgelegt, dass ihre Planungsentscheidung auf Dauer nur Bestand haben kann, wenn bestimmte Gebiete nicht (regelmäßig) überflogen werden, kann diese Bewertung allein durch Zeitablauf nicht an Bedeutung verlieren. Hat das BAF zwingende Gründe, Flugverfahren dennoch über solche Gebiete führen zu wollen, begründet das keine Befugnis, die fachplanerische Vorgabe zu überwinden, sondern stellt zunächst die Existenz des Flughafens infrage. Über diese zu befinden, gehört zu den originären Befugnissen der



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Fachplanungsbehörde. Das bedeutet nicht, dass deren Vorgaben im Verordnungsverfahren nicht überwindbar wären. Die Überwindung müsste jedoch Voraussetzungen genügen, die im Einzelnen nicht geklärt sind. Es spricht einiges dafür, dass eine Öffentlichkeitsbeteiligung und eine Zustimmung der Planfeststellungsbehörde erforderlich sind. Die Klärung könnte drängen, sollten die Fachplanungsbehörden auf der Grundlage der neuen, expliziten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dazu übergehen, in ihren Entscheidungen vermehrt Verschonungsgebiete auszuweisen. 2. Bewertung von Flugverfahren a) Bewertungskriterien und Abwägungsbefugnis Soweit es um die Kriterien geht, mit denen Flugrouten bewertet werden können, kommt dem Lärmschutz zwar objektiv ein hoher Stellenwert zu, nicht aber die Dominanz, die man ihm nach der öffentlichen Diskussion zumessen könnte. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Flugverfahren nach der gesetzgeberischen Konzeption in erster Linie ein sicherheitsrechtliches Instrument sind. Sie sind Verfahren der Flugsicherung und Teil der Strategien der Flugsicherung zur „sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs“ (§ 27c Abs. 1 LuftVG). Dadurch ist zunächst die Flugsicherheit mit all ihren Teilaspekten gesetzlich besonders ausgezeichnet. Der heutige juristische Sprachgebrauch bezeichnet dies als Abwägungsdirektive. Sicherheitsrelevant ist auch die Piloten- und Fluglotsenbelastung, die mit der Befolgung eines Flugverfahrens einhergeht und eine mit der Komplexität der Anweisungen variierende Bandbreite aufweist. Gesetzlich ausgezeichnet ist gemäß § 29b Abs. 2 LuftVG auch die Verpflichtung des BAF, auf den „Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm hinzuwirken“. Die weiteren Teilaspekte sind zwar nicht kodifiziert, deshalb aber mitnichten unbeachtlich. Zu ihnen gehören die gesetzlich oder sogar grundrechtlich geschützten Positionen Dritter: des Flughafenunternehmers an Erfüllung der Kapazitätsvorgaben aus dem Planfeststellungsbeschluss, der Luftfahrtunternehmen an Treibstoffersparnis und Zeitgerechtigkeit der Abwicklung, die sich in der Streckenlänge widerspiegelt. Das BAF sieht sich also widerstreitenden Zielen gegenüber, die in sich oder in der Konkurrenz mit anderen Zielen nur mehr oder weniger verwirklicht werden können, teilweise aber auch Hand in Hand gehen. Vor allem die flüssige Verkehrsabwicklung vereint Aspekte der Sicherheit mit einer Verminderung der Emissionen von Geräuschen und Schadstoffen. Das BAF hat damit in derselben Weise umzugehen wie bei jeder Abwägung: Es hat die betroffenen – abstrakt als gleichrangig anzusehenden – Belange festzustellen und ihr Gewicht, soweit dies nicht in Gestalt von Abwägungsdirek-

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tiven gesetzlich bestimmt ist, im Einzelfall konstitutiv und relativ zueinander festzulegen und in ein Rangverhältnis zu setzen. Dadurch ist das BAF in die Lage versetzt, das Abwägungsergebnis entscheidend vorzuprägen.39 Dem BAF ist es also vorbehalten, im Einzelfall festzulegen, ob Sicherheitsoder Lärmschutzaspekte Vorrang haben sollen. Gerichte können diese Entscheidung nur auf die Einhaltung der Grenzen kontrollieren, die dem BAF gesetzt sind (Tatsachenermittlung, gesetzliche Maßstäbe, leitende Überlegungen). Sind diese Grenzen gewahrt, dürfen Gerichte nicht selbst planen und eine andere mögliche Streckenwahl treffen – wie es die Betroffenen meiner Wahrnehmung nach von Gerichten aber häufig erwarten, um in der von ihnen bevorzugten Wahl bestätigt zu werden. Doch Gerichte dürfen keine planenden Besserwisser sein; sie haben einen Prüfauftrag im gesetzlichen Rahmen, der ihnen im Wesentlichen erlaubt, einer Behörde die geforderte Rechtfertigung für ihr Tun abzuverlangen. Solange sich das BAF innerhalb der rechtlichen Vorgaben hält, ist seine Entscheidung durch das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) der gerichtlichen Überprüfung entzogen. In diesem Kern erweist sich die Flugroutenfestlegung damit als politische, nicht vollständig rechtlich determinierte Entscheidung. Das ist aber kein Spezifikum der Verfahrensplanung, sondern gilt für das Verhältnis von Verwaltung und Rechtsprechung überall dort, wo der Verwaltung durch Abwägungsbefugnisse, Ermessen oder Beurteilungsspielräume „Letzt­ entscheidungsrechte“ eingeräumt sind. Begrenzt wird der Rechtsschutz – also der Schutz durch Gerichte – in solchen Fällen verfassungsrechtlich, mag das anzuwendende einfache Recht auch komplex oder „verworren“ erscheinen. b) Lärmschutz contra Wirtschaftlichkeit? Es gibt freilich Abwägungskonstellationen, die in der öffentlichen Diskussion besonders kritisch und ablehnend betrachtet werden. Dazu gehört der (scheinbare) Gegensatz von „Lärmschutz“ und „Wirtschaftlichkeit“ – Positionen, die nirgends exakt definiert sind. Mit dem Gegensatz soll offenbar das Interesse der Fluggesellschaften an kurzen Abflugwegen als anstößig oder rechtswidrig gebrandmarkt werden, wenn deshalb Siedlungsbereiche vermeidbar überflogen werden.40 Dahinter steht die Position, dass ein wirtschaftliches Interesse Schädigungen der Gesundheit nicht rechtfertigen kann. Das trifft aber schon im Ausgangspunkt in dieser Allgemeinheit nicht zu: Unsere Rechtsordnung lässt zahlreiche gesundheitliche Risiken aus ökonomischen und anderen Gründen zu. Dazu gehören deutlich stärkere und diRubel, DVBl 2013, 469, 473 m. w. N. diesem Sinne wohl SRU Sondergutachten 2014, Tz. *24.

39  Vgl. 40  In



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rekte Gefahren als Lärm. Deshalb werden Verkehrstote ebenso wie die Anwesenheit von kanzerogenen oder allergenen Luftverunreinigungen und Partikeln und vieles mehr gesellschaftlich akzeptiert und rechtlich als sozialadäquat hingenommen. Fast könnte man meinen, Gesundheitsrisiken durch Lärm seien nicht objektiv das größte gesellschaftliche Problem. Aber auch unabhängig davon ist der Gegensatz nur bei oberflächlicher Betrachtung plausibel, wobei allerdings stets die konkrete Situation entscheidet. Abgesehen vom Sonderproblem der Directs (dazu unten 3.) stellt sich die Wahl zwischen einem kurzen Überfliegen und einem langen Umfliegen von Siedlungsgebieten regelmäßig nur in Bereichen mit zumutbarer, definitionsgemäß also nicht gesundheitsgefährdender Fluglärmbelastung.41 Einen strikten Zwang zur Lärmoptimierung fordert die Rechtsordnung dort nicht. Auch ist das Überfliegen von Siedlungsbereichen keineswegs per se gesundheitsgefährdend; denn häufig befinden sich die Luftfahrzeuge bereits in einer Höhe, die ihren Geräuschen die Störwirkung mehr oder weniger nimmt.42 In diesem Zusammenhang zu verstehen ist auch die vielgescholtene Praxis der DFS, Luftfahrzeugen ein vorzeitiges Abdrehen von einer Flugroute ab einer Höhe von 5.000 Fuß zu erlauben (→ IV.3.b)). Es geht also im Kern um die Vermeidung von (mehr oder weniger erheblicher) Belästigung und nicht um Gesundheit. Diese Ansicht gilt gegenwärtig allerdings weithin als unschicklich; wer sich traut, sich öffentlich zu ihr zu bekennen, riskiert ausgebuht zu werden. Auch verbreitete Irrtümer machen eine Ansicht aber nicht richtig. Geräusche sind nicht per se gesundheitlich bedenklich; auch die – immer noch uneinheitliche – Studienlage gibt das nicht her. Gesichert scheint nur die Hypothese, dass eine langfristige Belastung mit hohen Pegeln zu einem signifikanten Anstieg bestimmter Krankheitsrisiken führt. Deshalb ist es verfehlt, Fluglärm pauschal und undifferenziert mit Gesundheitsgefährdungen gleich zu setzen. Wie ist vor diesem Hintergrund das rechtliche Verhältnis von Lärmschutz und „Wirtschaftlichkeit“ bei der Flugsicherung zu sehen? Soweit es nicht um den Schutz der Nachtruhe geht, dem in § 29b Abs. 2 LuftVG besonderes Gewicht beigelegt ist, müssen beide Positionen rechtlich als gleichrangig be41  Das gilt natürlich nicht, wenn man den weiten Gesundheitsbegriff der WHO zugrunde legt, wonach Gesundheit ein „Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ ist. Dieser Begriff liegt allerdings weder unserer Rechtsordnung zugrunde (ist insbesondere nicht gleichzusetzen mit der „körper­ lichen Unversehrtheit“ i. S. des Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. dazu Kloepfer [Hrsg.], Leben mit Lärm?, S. 365 ff.) noch definiert er im deutschen Recht die Schwelle zu einer unzumutbaren Geräuschbelastung. 42  Ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang findet sich im SRU Sondergutachten 2014, Tz. 90 Abb. 3-3 (S. 93). Das Überfliegen von Berliner Stadtgebiet findet erst nach einem so langen Steigflug statt, dass die Fluggeräusche im Umgebungslärm der Stadt untergehen. Die Optik trügt hier also.

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trachtet werden. Das Rangverhältnis muss daher in einer Abwägungsentscheidung konkret, d. h. nach den Verhältnissen im Einzelfall festgelegt werden. Auch die Aspekte der Wirtschaftlichkeit sind rechtlich geschützt. Dazu muss man nicht erst auf das einfachgesetzliche Ziel in § 9 Abs. 1 der Verordnung über die Durchführung der Flugsicherung (FSDurchführungsV) zurückgreifen, „den Verkehrsablauf möglichst flüssig und wirtschaftlich [zu] gestalten“. Diese Vorschrift enthält keine Vorgabe für die Flugsicherung an Flugplätzen, sondern für die übergeordnete Verkehrsflussregelung „en route“, also im Streckenflug. Diese wird meist durch die Flugsicherungsorganisation Eurocontrol gewährleistet, die für die Verkehrsflusssteuerung eine besondere Einheit, die CFMU, eingerichtet hat (vgl. § 9 Abs. 2 FSDurchfüh­rungsV).43 Immerhin lässt sich dieser Regelung aber entnehmen, dass der Verordnungsgeber dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit der Streckenführung besonderes Gewicht beilegt. Das ist wohl verallgemeinerungsfähig und nicht verwunderlich, weil Flugverfahren der Abwicklung der grundrechtlich geschützten wirtschaftlichen Tätigkeit der Fluggesellschaften und der Flugplatzbetreiber dienen.44 Ein Ausgleich zwischen Grundrechten ist vorrangig durch den Gesetzgeber herzustellen, wo dieser – wie hier – schweigt, in einer jeden Entscheidung, in der es hierauf ankommt. Deshalb ist verfassungsrechtlich am Schutz des wirtschaftlichen Handelns nicht zu rütteln. Dass dieser Schutz nicht gegen Gesundheitsbelange ausgespielt werden kann, ist klar. Darum aber geht es in den diskutierten Fällen gar nicht. Abgesehen davon besteht der vielbeschworene Gegensatz aus sachbezogenen Gründen nicht, jedenfalls nicht in der konstruierten Schärfe. Die Verkürzung von Abflugstrecken geht regelmäßig Hand in Hand mit Umweltschutzaspekten. Zu ihnen gehören auch die Faktoren Flugweglänge und Kerosinverbrauch (Ausstoß von Luftschadstoffen und Umweltgasen). Zwar versuchen Piloten von ihrer Aufgabenstellung her natürlicherweise, ihre Strecke im oberen Luftraum auf möglichst direktem Weg zu erfliegen und die je nach Betriebsrichtung nötigen Abkurvungen zu verkleinern. Freigabe­ ersuchen werden Fluglotsen dann nach der konkreten Verkehrssituation bescheiden. Lässt der Lotse ein – im Verhältnis zum vorgesehenen Flugverfahren – „vorzeitiges“ Abdrehen zu, gehen damit andere positive Sicherheits- und Umwelteffekte einher: Das Luftfahrzeug gelangt schneller aus der dicht beflogenen Kontrollzone heraus, und es werden in Flughafennähe mit dem Kerosin Luftschadstoffe und Fluglärm eingespart. Diese Effekte schlagen in der Summe spürbar zu Buche, denn im Flughafenbereich wird relativ viel mehr Kerosin verbraucht als im Streckenflug. Was als „WirtRisch, in: Grabherr / Reidt / Wysk (Hrsg.), LuftVG, § 27c Rn. 80. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.7.2009 – 1 BvR 1606 / 08 – NVwZ 2009, 1494. 43  Vgl.

44  Dazu



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schaftlichkeit“ angeprangert werden soll, ist damit nicht zuletzt zentrales Element der Flüssigkeit des Verkehrs nach § 27c Abs. 1 LuftVG.45 Gleichwohl ist beim Überfliegen von Siedlungsbereichen eine genaue Ermittlung und Quantifizierung der Effekte geboten. Was den Lärmschutz angeht, bleibt das schwer zu lösende Problem, die Lärmminderungseffekte hinreichend fundiert zu bewerten. c) Lärmfachliche Bewertungsverfahren Soll ein Flugverfahren aus Gründen der Lärmverbesserung geändert werden, kommt es entscheidend auf das Verfahren an, mit dem die Verbesserung ermittelt wird.46 Vorab müssen geeignete Kenngrößen (Fluglärmindizes) gewählt werden, die eine vergleichende Abstufung von „Lärmgütewerten“ erlauben. Sodann muss ein Berechnungsverfahren festgelegt werden, mit dem die gewählte Kenngröße prognostisch ermittelt werden kann. Zur Bewertung von Flugrouten gibt es Modelle, bisher aber keinen etablierten Standard. Die DFS legt ihrer Vor-Auswahlentscheidung herkömmlich das Planungswerkzeug NIROS (Noise Impact Reduction and Optimization System) zugrunde, um Aspekte der Lärmbelastung zu berücksichtigen. Damit sollen Standardabflugstrecken (Standard Instrument Departures, kurz: SID) durch Berücksichtigung der Bevölkerungsdichte optimiert werden. Zu diesem Zweck verknüpft NIROS Pegelbereiche mit Bevölkerungszahlen.47 Auch das UBA erstellt sog. lärmfachliche Bewertungen im Rahmen der Benehmens-Regelung nach § 32 Abs. 4c LuftVG zur Bewertung solcher Flugverfahren, „die von besonderer Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung vor Fluglärm sind“.48

45  Zu Recht ebenso Pache, Rechtsgutachten im Auftrag des Umweltbundesamtes: Prüfung von formell- und materiellrechtlichen Aspekten bei der Benehmensregelung zur Festlegung von Flugrouten nach § 32 LuftVG zwischen UBA und BAF, Dessau-Roßlau, Januar 2012, S. 28 (abrufbar unter www.uba.de / uba-info-medien /  4244.html, zuletzt abgerufen am 12.05.2014). 46  Für alles Nachfolgende stütze ich mich vor allem auf Vogelsang, Berthold M., Akustische Bewertungskriterien bei der Festlegung von Flugrouten, Fortschritte der Akustik – DAGA 2012, S. 517 f. 47  Zu NIROS vgl. Kaienburg / Uhl, (Fn. 2) S. 554. Die lärmfachliche Bewertung zu den Berliner Abflugstrecken findet sich auf www.baf.bund.de (Fn. 36). NIROSBerechnungen werden gewöhnlich als hinreichende Datengrundlage akzeptiert vom OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.9.2013 – OVG 11 A 4.13 – juris Rn. 61. 48  Vgl. Lärmfachliche Bewertung der Flugrouten für den Verkehrsflughafen Berlin Brandenburg (BER) für die Benehmensbeteiligung nach § 32 Luftverkehrsgesetz, www.umweltbundesamt.de / sites / default / files / medien / publikation / add / 4209-0.pdf, zuletzt abgerufen am 12.05.2014.

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Die gängigen Bewertungsverfahren sehen sich mehreren grundlegenden Problemen gegenüber, deren unzulängliche Behandlung die Validität der Ergebnisse gründlich in Mitleidenschaft zieht. Man muss sich zunächst auch hier wieder klar machen, dass im Bereich des unzumutbaren Lärms – deckungsgleich mit dem Lärmschutzbereich nach dem Fluglärmgesetz49 – für die laterale Streckenführung so gut wie keine Variationsmöglichkeiten bestehen und die vertikalen Flugprofile in den Rechtsverordnungen nicht effektiv gesteuert werden können.50 Streckenalternativen bieten sich daher nur im Bereich des zumutbaren Fluglärms, oft weit außerhalb des Flughafengeländes. Nach welchen Kriterien aber bemisst man dort Verbesserungen? Die naheliegende Idee, den Umfang der relativen Entlastung als Maßstab zu nehmen, trägt nicht so weit, wie es scheint. Denn dafür, was als „Entlastung“ von Fluglärm zählt, bietet die Rechtspraxis keine anerkannten Kriterien. In der dicht besiedelten Bundesrepublik kann durch die Verlegung von Flugrouten so gut wie niemals eine Entlastung ohne Neuoder Zusatzbelastung anderer erzielt werden, sodass nur die möglichst günstige Verteilung des Lärms angestrebt werden kann. Aber wie können Pegel nach Höhe und Anzahl mit Betroffenenzahlen verrechnet werden? Sollen Flugspuren eher gebündelt werden, um weniger Menschen (mit mehr Pegeln) zu belasten oder sollen die Flugspuren gestreut werden, um die Pegel auf mehr Menschen zu verteilen? Sind 20.000 Betroffene mit 75  dB(A) günstiger zu bewerten als 10.000 mit 85  dB(A)? Sind 50.000 Betroffene im Pegelbereich 45–50 dB(A) günstiger als 40.000 im Pegelband 55–60  dB(A)? Wie ist das Verhältnis von Zahl und Höhe der Pegel zu bewerten: Sind etwa 10 Pegel / Tag von 75 dB gleich wie 20 Pegel mit 65 dB? Unter welchen Bedingungen ist es gerechtfertigt, Entlastungen bei Altbe49  Das kann mittlerweile als anerkannt gelten, vgl. nur ­BVerwG, Urteil vom 4.4.2012 – 4 C 8.09 u. a. – ­BVerwGE 142, 234 Rn. 180, 184; ebenso OVG BerlinBrandenburg, Urteil vom 4.3.2014 – OVG 6 A 7.14 – juris Rn. 38 m. w. N. Der Lärmschutzbereich nach § 2 Abs. 1 FluglärmG macht praktisch allerdings nur einen Bruchteil der – definitionsgemäß durch zumutbaren Fluglärm überdeckten – Umgebung des Flughafens aus und stellt sich als ein wenige Kilometer langes, schlauchartiges Gebiet um die Start- und Landebahnen dar, vgl. nur den insoweit typischen Lärmschutzbereich des Flughafens Hannover-Langenhagen unter www.umwelt. niedersachsen.de / themen / laermschutz / fluglaerm / siedlungsbeschraenkungsbereiche /  8479.html (Anlage), zuletzt abgerufen am 12.05.2014. 50  Der laterale Flugweg ist die Linie, die auf Plänen eingezeichnet und Grundlage auch der gerichtlichen Diskussion ist. Es wird nur zu leicht vergessen, dass die einzelnen Flüge auch vertikale Höhenprofile haben, die daraus nicht ersichtlich sind. Sie können auch nicht dargestellt werden, weil sie je nach Steigfähigkeit und Startverfahren (wie Steil- oder Schnellstart-Verfahren) des Fluggeräts durchaus sehr deutlich variieren und deshalb nicht verbindlich vorgeschrieben werden können. In Abhängigkeit von der Steigleistung kann das BAF aber alternative Abflugrouten festsetzen.



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troffenen durch neue Betroffenheiten zu erkaufen? Für diese Fragen hält unsere Rechtsordnung keine direkten Antworten bereit. Man darf vermuten, dass es insoweit auch keine allgemeingültigen Maßstäbe gibt, sondern die Antworten für konkrete Situationen gefunden werden müssen. Komplex sind auch die Berechnungsgrundlagen. Das Verfahren muss einige Bedingungen erfüllen, um aussagefähige Ergebnisse zu erzielen. Die wichtigste Forderung ist, dass die Nullvariante (der „Ist-Zustand“) und das Untersuchungsgebiet definiert werden. Letzteres legt im statistischen Sinne die „Grundgesamtheit“ fest, also alle Elemente, über die die Berechnung durchgeführt werden soll. Die Festlegung der Grundgesamtheit ist essentiell für die Qualität der Ergebnisse, weil sie die potenziell Betroffenen fixiert. Diese Grundgesamtheit wird im Untersuchungsgebiet erhoben. Dieses muss sich aus den kombinierten Überfluggebieten aller miteinander ver­glichenen Flugverfahren zusammensetzen. Werden die Gebiete nur der einzelnen Flugverfahren verglichen, kommt es zu einer (u. U. unbemerkt bleibenden) Verschiebung der Grundgesamtheiten, die Ergebnisse sind nach den Regeln der Statistik nicht mehr vergleichbar.51 Diese Kritik trifft auch die vom UBA verwendete Methode, das die Untersuchungsgebiete durch Pegel definiert, sodass etwa eine längere Strecke grundsätzlich auch die schlechtere ist, obwohl sich völlig andere Betroffenheiten ergeben können. Gewinner und Verlierer der Varianten werden dadurch nicht realistisch abgebildet. Die Prognose der notwendigen Daten birgt weitere offene Flanken, welche die Grundlagen unsicher machen. Die Flugverfahren, die uns Juristen geläufig sind, schreiben nur den lateralen (seitlichen) Flugweg vor (vgl. § 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO). Die Pegelhöhe am Boden unter dem Flugweg wird aber durch die Belegung der Route, die Flugprofile, die Korridorbreite der Flüge und eventuelle „Subroutes“ (Aufspaltungen des Flugverfahrens) deutlich beeinflusst – also durch Größen, die nicht festgeschrieben und in der Praxis sehr variabel sind. Ausgehend von der Nullvariante (dem IstZustand) und den untersuchten Alternativen lassen sich mit noch mäßigem Aufwand die ihnen zugeordneten Grundstücke aus der Automatischen Liegenschaftskarte (ALK) und die Betroffenenzahlen aus den Melderegistern ermitteln. Problematisch, weil wiederum mit Wertungen und Spielräumen verbunden, ist aber die Berechnung der Immissionspegel vor Ort. Die Immissionspunkte lassen sich theoretisch, wie im Immissionsschutzrecht üb-

51  Diese Forderung nach einer Flächenvereinigung aller konkret miteinander verglichenen Flugverfahren mag seltsam erscheinen, folgt aber einer Gesetzmäßigkeit der Statistik. Nur sie gewährleistet, dass die Anzahl der potenziell Betroffenen (die Grundgesamtheit) gleich bleibt.

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lich, punktgenau festlegen.52 Dabei stehen aber Rechenaufwand und Ertrag in keinem angemessenen Verhältnis zueinander; gegen ein vereinfachtes Verfahren mit vergleichbar aussagekräftigen Ergebnissen ist deshalb aus rechtlicher Sicht nichts einzuwenden. Schwieriger ist die Berechnung der Pegel. Auch hier ist zunächst die maßgebliche Pegelgröße festzulegen. Möglich sind alle gängigen Pegelgrößen für die akustische Belastung (wie der äquivalente Dauerschallpegel LpAeq, der LDEN oder der LNight) oder für eine Beeinträchtigung (wie der Anteil der stark Belästigten %HA oder der stark Schlafgestörten %HSD). Es stehen verschiedene Berechnungsverfahren (AzB, FLULA, ICAO 9911) zur Verfügung, die im Wesentlichen gleichwertig sind, aber alle Schwächen bei der Berechnung von Pegeln in einem größeren Abstand (>  25 km) vom Flughafen aufweisen;53 in diesen Entfernungen sind die Rechenergebnisse daher nicht mehr voll belastbar. Gerade in großen Entfernungen führen jedoch kleine Pegelgradienten zu großen Flächenänderungen und damit zu einer großen Änderung der Betroffenenzahl. Ein neuer Vorschlag nutzt daher das Verfahren der VDI 3722-2 (Wirkung von Verkehrsgeräuschen – Teil 2: Kenngrößen beim Einwirken mehrerer Quellenarten, Mai 2013). Es ist zwar für die Bewertung von Mehrquellenbelastungen gedacht, kann aber in einer vereinfachten Form ebenso gut für den Vergleich verschiedenartiger Einwirkungen derselben Quelle nutzbar gemacht werden, indem die Anteile der in allen Pegelbereichen (stark) Belästigten aufaddiert und in den Varianten verglichen werden. Als größtes Problem aller gängigen Flugroutenbewertungen erweist sich die Fehleranfälligkeit der Verfahren. Die Unsicherheiten bei den Eingangsgrößen addieren sich. Deshalb geht die Eidgenössische Anstalt für Mate­ rialprüfung (EMPA) bei ihren Untersuchungen von einer erweiterten Standardunsicherheit von >  ±  30 % aus. Der Vergleich von „Gütewerten“ für Flugroutenalternativen, besonders wenn die Werte nah beieinander liegen, ist somit nur dann gerechtfertigt, wenn die Fehlerquellen und Unsicherheiten mitbetrachtet werden. Zwar geht es nicht um eine Aussage zum quantitativ genauen Umfang der Verbesserung, sondern nur um die Herstellung einer Reihung von Alternativen, um der „besten“ Variante den Vorzug zu geben. Aber auch dabei wäre es verfehlt, eine Route mit dem Gütewert (z. B.) 3.1 vor einer Route mit dem Gütewert 3.3 bevorzugen zu wollen, wenn die Unsicherheit 30 % beträgt, beide Werte im Falle der Fehlerberei52  Maßgebend ist die VBEB-Bekanntmachung der Vorläufigen Berechnungsmethode zur Ermittlung der Belastetenzahlen durch Umgebungslärm vom 9.2.2007 (BAnz Nr. 75 vom 20.4.2007). Danach ist der Pegel vor jedem Fenster und für jede Wohnung einschließlich der Abschirmung zu berechnen. 53  Der Erfassungsbereich bei Berechnungen von Fluglärm nach der AzB ist daher auf einen Radius von 25  km um den Flugplatzbezugspunkt (§ 12 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 LuftVG) begrenzt, vgl. Nr. 2.1.1.1 der AzD (Fn. 3).



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nigung also knapp einen Punkt unter oder über den berechneten Punktwerten liegen können. Ohne Berücksichtigung der Fehlerunsicherheit (also des „Vertrauensbereiches“ der Rechenergebnisse) sind die verglichenen Varianten in Wahrheit statistisch nicht unterscheidbar. Statistisch ununterscheidbar können Flugverfahren auch noch aus anderen Gründen sein. Sie können nach den gewählten Kenngrößen praktisch gleichwertig sein, oder es können akustische und nicht akustische Kriterien miteinander konkurrieren. In beiden Fällen ist eine Wahl aufgrund einer akustischen Günstigkeitsbetrachtung nicht begründbar. Das ist etwa der Fall, wenn eine Entlastung der Bevölkerung mit dem Überfliegen eines nicht besiedelten, ruhigen Erholungsgebietes erkauft werden muss. Der Vorzug kann sich dann nicht allein aus Pegel / Betroffenen-Relationen ergeben, was eindeutig zulasten des Erholungsgebietes gehen würde. Es ist vielmehr eine vorgängige Wahl zwischen übergeordneten Zielen treffen. Die Vorzugsentscheidung fällt auf einer Metaebene, auf der die Lärmentlastung zu nicht akustischen Kriterien in eine Relation gebracht werden müssen. Solche Metakriterien können die Verschonung von ruhigen Gebieten oder Entwicklungszonen sein oder die Vermeidung von Neubetroffenheiten, die typischerweise Überschussreaktionen hervorrufen. Diese Metakriterien können den Ausschlag bei der Routenwahl geben oder die Präferenzreihenfolge verändern. Deshalb kann einer unter Lärmaspekten nachrangigen Routen­ alternative der Vorzug gegeben werden, weil sie ein konkurrierendes Kriterium stärker optimiert, etwa ein Erholungsgebiet umfliegt. Solche Entscheidungen können generalisierend, also auf der abstrakt-generellen Ebene, die dem Gesetz- oder Verordnungsgeber zur Verfügung steht, schwerlich gelöst werden, wie nicht zuletzt das europäische Recht mit der UmgebungslärmRichtlinie zeigt. Es gehört gerade zu den Stärken einer Abwägungsentscheidung, die im Einzelfall erheblichen Gesichtspunkte zusammenstellen und konkret gewichten zu können. Daher beschränkt sich der Gesetzgeber in seinen Fachplanungsgesetzen auf die Verpflichtung, die einschlägigen Belange „zu berücksichtigen“, und im Übrigen auf die Hervorhebung der ihm besonders wichtigen Anliegen in Abwägungsdirektiven. Die Betrachtung der Verhältnisse zeigt aber, dass Standards und Vorgaben eher im Bereich der lärmfachlichen Bewertung von Flugrouten fehlen, dort, wo Klarheit ohnehin nur durch Setzung oder Konventionen zu gewinnen ist. Derzeit ist die Bewertung eine aufwändige und komplexe Aufgabe, die zahlreiche noch ungelöste Detailprobleme aufwirft. Hier einen allgemeinen Standard zu schaffen, ist – nicht zuletzt unter dem Aspekt der Gleichbehandlung – ein wichtiges Nahziel und der Kern aller Verbesserungen.

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3. Einzelfreigaben („Directs“) a) Verhältnis von Flugverfahren zu Einzelfreigaben Erneut in die Diskussion geraten ist das schon lange virulente Verhältnis der Flugverfahren zur Flugführung durch individuelle Einzelweisungen der Fluglotsen. Anlass, dieses Verhältnis zu betrachten, geben seit jeher Anweisungen, mit denen der Fluglotse im Einzelfall „Abkürzungen“ von Flugverfahren gestattet, also ein Flugzeug vorzeitig vom (lateralen) Flugweg eines Flugverfahrens abdrehen lässt.54 Eingebettet ist dieses Thema in das übergreifende, dass Flugverfahren wegen der individuellen Flugführung von Lotsen in bestimmten Bereichen generell nur selten wie geplant genutzt werden (können) und dass neben den veröffentlichten Flugverfahren andere Arten von Streckenführung, wie Radarführungsstrecken, bestehen. Das führt besonders bei den Anflügen dazu, dass verordnete Anflugverfahren weitgehend ungenutzt bleiben. Das rechtliche Verhältnis von Flugverfahren und Einzelanweisungen ist im Grundsatz allerdings klar: (Flugverkehrskontroll‑)Freigaben, wie das geltende Recht diese Anweisungen nennt (§ 26 Abs. 2 LuftVO), haben unbedingten Vorrang. Daran lässt § 27a Abs. 1 LuftVO keinen Zweifel, wenn er formuliert, dass Luftfahrzeugführer die vorgeschriebenen Flugverfahren zu befolgen haben, „soweit die zuständige Flugverkehrskontrollstelle keine Flugverkehrskontrollfreigabe nach § 26 Abs. 2 Satz  2 [LuftVO] erteilt.“ Dieser Vorrang entspricht der historischen Entwicklung der Flugsicherungsverfahren und ist zudem sachlich begründet. Das Grundmodell der Verkehrslenkung an Flugplätzen besteht darin, dass der Lotse den Luftfahrzeugführern in dem von ihm überwachten Sektor Kurs-, Höhen- und sonstige Anweisungen per Sprechfunk gibt. Hat er den Gesamtverkehr auf einem Radarbildschirm im Blick, spricht man von „Radar Vectoring“. Hieraus haben sich die Flugverfahren als „Bündel standardisierter Anweisungen“ entwickelt. Sie sind zunächst nichts weiter als Erleichterungen für die Arbeit des Lotsen. Er kann sich ihrer bedienen, indem er ein bestimmtes Flugverfahren freigibt, das der Luftfahrzeugführer meist in dem von ihm erstellten Flugplan angegeben hat (§ 25 LuftVO), und in den Flugverlauf nicht weiter eingreift. Er kann den Flugverlauf aber auch mithilfe individueller Radarführung selbst steuern, ohne dabei an ein Flugverfahren gebunden zu sein. Die Bindung trifft nämlich ausschließlich den Luftfahrzeugführer; er „hat … die vorgeschriebenen Flugverfahren zu befolgen“ (§ 27a Abs. 1 LuftVO). Daraus erklärt sich auch die Subsidiarität der Bindung im Verhältnis zu Flugverkehrskontrollfreigaben nach § 26 Abs. 2 S. 2 LuftVO. 54  Vgl.

dazu Kaienburg / Uhl, (Fn. 2) S. 527 f.



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Entscheidend für das Verhalten des Lotsen ist stets das konkrete Verkehrsgeschehen, das jederzeit die Möglichkeit der schnellen und flexiblen Flugführung erfordert. Der tatsächliche Verkehr kann nicht vorausgeplant werden, wie es Flugpläne suggerieren mögen. Die Vorstellung, innerhalb eines fixierten Systems von An- und Abflugstrecken ließe sich Verkehr quasi automatisch abwickeln, stimmt nicht einmal für das Schienennetz am Boden, auf dem Züge immerhin noch anhalten können. Der Fluglotse muss einen Mix aus startenden und landenden Flugzeugen bewältigen. Noch überschaubar ist die Situation im Abflug, wo die startbereiten Flugzeuge aufgereiht am Boden stehen und die zugewiesenen Flugverfahren abfliegen können. Daher werden bei Abflügen in der Regel – von „Directs“ abgesehen  – die festgelegten Flugverfahren auch geflogen. Anders bei Ein- und Anflügen. Hier muss der Lotse eine Vielzahl von Luftfahrzeugen unterschiedlicher Größe, Geschwindigkeit und Höhe, die in einem „chaotischen“ Fluss gleichzeitig aus allen Richtungen in seinen Sektor strömen (auch etwa in den Abflugbereich), in fortlaufender Bewegung und angemessener Reihung und Staffelung sicher auf die Landebahn führen. Diese hochkomplexe Sortieraufgabe macht es zwingend, dass er jederzeit zu jeder Anweisung befugt sein muss, auch dazu, ein schon eingeleitetes An- oder Abflugverfahren abzukürzen und einem Luftfahrzeugführer die Erlaubnis zu erteilen, den nächsten Navigationspunkt auf anderem Wege zu erfliegen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, nicht nur den schlichten Wunsch des Piloten, auf möglichst kurzem, „wirtschaftlichem“ Weg auf seine Strecke im oberen Luftraum zu gelangen. Eher wird das Abweichen von einem Flugverfahren durch die konkrete Verkehrssituation veranlasst sein, um etwa Staffelungsunterschreitungen zu vermeiden (ein schnelles Flugzeug droht, den Sicherheitsabstand zu einem vorausfliegenden langsameren zu unterschreiten) oder ein Luftfahrzeug schneller aus einem verkehrlich hoch belasteten Luftraum herauszubringen. In der allgemeinen Diskussion ist nun aber eine „Wahrnehmungsverschiebung“ eingetreten: Flugverfahren erscheinen als der Regefall, Einzelfreigaben geradezu als die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme.55 Diese Verkehrung der Verhältnisse wird den Notwendigkeiten und rechtlichen Strukturen zwar nicht gerecht, ist aber verständlich. In der Tat darf die Frage gestellt werden, warum in jahrelangen Planungsprozessen mit erheblichem Aufwand um den optimalen Verlauf von Strecken gerungen und in Gerichtsverfahren anschließend bis in die Details gestritten wird, wenn diese Strecken im operativen Betrieb später nicht benutzt oder die hinter 55  Diese – irrige – Ansicht scheint auch dem SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13) zugrunde zu liegen. Dort ist etwa in Tz. 92 von „abweichenden“ Einzelfreigaben die Rede.

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ihnen stehenden Erwägungen gar konterkariert werden? Jedenfalls für die Abflugverfahren macht diese Frage Sinn, weil die Steuerungswirkung der Flugverfahren dort, wie oben gesagt, recht groß sein kann. Fragwürdiger scheinen hier nur die erwähnten Abflug-Directs, bei denen Flugverfahrensplanung und operativer Betrieb in Widerspruch geraten. Man wird dabei berücksichtigen müssen, dass der Fluglotse die Verhältnisse am Boden weder wahrnehmen noch berücksichtigen kann. Der vollkommen schwarze Hintergrund seines Radarbildschirms ist nicht dazu gedacht, ihm auch nur ansatzweise eine optische Vorstellung von der Siedlungsstruktur zu vermitteln. Nimmt der Lotse ein Flugzeug, das auf einem festgelegten Flugverfahren (ab)fliegt, vorzeitig vom Flugweg herunter, wird damit zwangsläufig auch die unter Umständen minutiöse Planung der Betroffenheiten zulasten anderer Gebiete verlassen. Der Lotse trifft seine Entscheidungen nach operativen Gesichtspunkten und nicht nach jenen Kriterien, die bei der Verfahrensplanung (mit)bedacht wurden, wie etwa die Folgen für die Lärmverteilung. Der operative Betrieb dominiert so gesehen die Verfahrensplanung. Die Praxis der Directs bei Abflügen führt zu einer Streuung der Flugwege im Verhältnis zum gewählten Flugverfahren. Die Flugspuren der Directs führen über Gebiete, die außerhalb des Flugerwartungsgebietes des Flugverfahrens liegen. Das kann Beschwerden der Bevölkerung auslösen, besonders dann, wenn durch Directs neue „faktische“ Flugrouten geschaffen werden.56 Diese Beschwerden hängen aber wohl eher mit der Erwartung zusammen, aufgrund des Verlaufs der Flugverfahren von Überflügen verschont zu bleiben. Diese Erwartung ist im Flugplatznahbereich aber von vornherein unberechtigt. Im Umkreis von 25  km um das Start- und Landebahnsystem muss jeder mit einer mehr oder weniger starken Belastung durch Fluglärm rechnen. Die DFS entschärft die durch Directs möglichen Lärmkonflikte, indem sie das Abdrehen nur zur Tageszeit zulässt, es nur bestimmten Flugzeug­ typen erlaubt und auch nur dann, wenn das Luftfahrzeug bereits eine bestimmte Mindesthöhe erreicht hat.57 Das prinzipielle Problem wird dadurch aber nicht ausgeräumt: Sind Directs überhaupt zulässig? Falls ja, sollten sie weiter eingeschränkt oder gar verboten werden? Oder sollte zumindest 56  Zur Problematik „faktischer“ Flugrouten infolge von Directs vgl. Pache (Fn. 45), S. 9 ff. 57  Vgl. Kaienburg / Uhl, (Fn. 2), S. 527. Hingegen wird im SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *27 zugrunde gelegt, die Betriebsanweisung unterscheide weder nach der Lautstärke der unterschiedlichen Flugzeugtypen noch nach der Schutzbedürftigkeit oder der Tageszeit des Überflugs. Lediglich das überflogene Gebiet wird, schon weil dem Fluglotsen darüber regelmäßig keine Informationen zur Verfügung stehen, nicht mitbedacht. Dies ist aber regelmäßig auch von untergeordneter Bedeutung.



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– was einen fast identischen Effekt hätte – die generelle Befugnis des Lotsen, Strahlflugzeuge ab einer bestimmten Höhe von einer Flugroute zu nehmen, aufgehoben oder eingeschränkt werden, wie es der SRU vorschlägt?58 b) Rechtmäßigkeit von (Abflug)Directs Hinter derartigen Ideen verbergen sich eine Reihe von Fehlvorstellungen und sogar Rechtsirrtümer. Allein die Vorstellung, freigegebene Abweichungen von Flugverfahren könnten rechtswidrig sein,59 zeugt von dem prinzipiellen Missverständnis, Flugverfahren seien das Primäre, Abweichungen von ihnen müssten sich rechtfertigen. Dieses Missverständnis setzt sich in der Ansicht fort, von den veröffentlichten Flugverfahren dürfe nur aus Sicherheitsgründen abgewichen werden. Auch das aber verdreht die rechtlichen Strukturen und widerspricht der gesetzlichen Wertung in § 27c Abs. 1 LuftVG, wonach auch die „Flüssigkeit“ des Flugverkehrs ein besonderes Gewicht hat. Flugverfahren bilden in der Flugsicherung zwar stabilisierende und vereinfachende Elemente; effektiv abgewickelt werden kann der Flugverkehr aber ausschließlich durch Einzelfreigaben, die generell mit dem englischen Wort „Directs“60 bezeichnet werden. Deshalb ist jede Beschränkung der Freigabebefugnis des Lotsen, auch eine solche durch eine Bindung an Flugverfahren, potenziell sicherheitskritisch. Dasselbe gilt tendenziell für eine Bindung der Freigabebefugnis an komplexe Vorgaben. Die Bewegungslenkung in einem System unaufhaltsam fließender Objekte und hoher Schadensneigung muss strukturell möglichst einfach gehalten werden. Aus der Sicht des Fluglotsen dienen Flugverfahren der Entlastung. Deshalb verneint § 27a Abs. 1 LuftVO unmissverständlich eine Bindung der Lotsen an sie, mehr noch: Erst seine konkrete Freigabe erzeugt die Bindung von Luftfahrzeugführern an das – im Flugplan gewählte oder spontan zugewiesene – Flugverfahren. Deshalb kann der Fluglotse im Rechtssinne auch nicht von einem Flugverfahren abweichen. Er ändert oder modifiziert mit seiner Abdreherlaubnis lediglich die eigene Freigabeentscheidung, die von vornherein 58  Vgl.

SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *26 f. und 90. qualifiziert der SRU erstaunlicherweise Directs, meint aber vermutlich nur Anweisungen zum „vorzeitigen“ Abdrehen von Abflugstrecken, vgl. Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *26 f. (S. 25) und Tz. 171. Die Behauptung, für das Abdrehen gäbe es keine zwingenden Gründe, bleibt unbelegt und trifft auch nicht zu. Eine andere Frage ist, was unter eine „zwingenden“ Grund zu verstehen ist und wer dies zu definieren hat. 60  In der allgemeinen Diskussion scheint dieser Begriff nur für die Freigabe „direkter“, abkürzender Strecken zu stehen. Das ist ein Missverständnis; im Sprachgebrauch der Lotsen meint er, wie im Englischen, ganz allgemein die „Direktion“, also die „Anweisung“. 59  So

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in einer Abfolge von Directs hätte bestehen können. Darin kommt die rechtliche und sachliche Nachrangigkeit der Flugverfahren gegenüber Einzelfreigaben zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund kann keinesfalls gesagt werden, dass die Praxis der Fluglotsen, Strahlflugzeugen im Abflug ab einer Höhe von 5.000 Fuß (gute 1,5 km) die Freigabe zum Abdrehen und Verlassen des Flugverfahrens zu erteilen, und die gleichlautende Vorgabe der DFS in ihren (internen) Betriebsanweisungen für den Flugverkehrskontrolldienst (BA-FVK) rechtswidrig sind.61 Nach allgemeinem juristischem Sprachgebrauch ist ein Handeln rechtswidrig, wenn es in Widerspruch zu vorrangigem Recht steht. Das kann generell nicht behauptet werden: Die Erlaubnis zum Abdrehen ist nichts anderes als eine Flugverkehrskontrollfreigabe, zu der der Lotse nach § 26 Abs. 2 LuftVO berechtigt ist, wenn er dafür einen flugsicherungsbetrieblichen Grund i. S. des § 27c Abs. 1 LuftVG hat. Zu den gesetzlichen Gründen zählen auch die Flüssigkeit des Verkehrs und das davon umfasste Ziel, ein Luftfahrzeug schneller aus dem Flughafennahbereich zu entfernen.62 Abgesehen davon ist die Betriebsanweisung der DFS, die im Übrigen auf der Ermächtigung in § 25 FSDurchführungsV beruht, bei Licht betrachtet keine Ausdehnung der Befugnisse des Lotsen, sondern eine Einschränkung des ihm generell Erlaubten. Sie besagt, dass ein Strahlflugzeug „erst“ ab einer Flughöhe von 5.000 Fuß weggedreht werden darf. Ohne die Vorgabe dieser (Mindest)Abdrehhöhe wäre er durch internationales Recht nur darauf festgelegt, Luftfahrzeuge erst dann abdrehen zu lassen, wenn sie auf seinem Radarbildschirm sichtbar werden, also ab dem Erreichen der Radarführungsmindesthöhe. Hinter der regelmäßig zulässigen Mindestabdrehhöhe steht auch keineswegs die Behauptung, Fluggeräusche in dieser Höhe seien unwesentlich oder sogar nicht mehr wahrnehmbar. Vielmehr handelt es sich um den Versuch eines generalisierenden Kompromisses zwischen den Bedürfnissen eines zügigen Verkehrsabflusses und der Geringhaltung der Lärmbelastung. Die Regelung soll sowohl für die Fluglotsen im Alltagsgeschäft handhabbar sein als auch die Belastungen am Boden im zumutbaren Bereich halten. Ob dieser Kompromiss berechtigte Lärmschutzerwartungen konterkariert, kann nur anhand einer Betrachtung der Verhältnisse des einzelnen Flugplatzes entschieden werden. Der Lotse verstößt mit der Erlaubnis zum vorzeitigen Abdrehen auch nicht gegen § 29b Abs. 2 LuftVG, wonach die Flugsicherungsorganisation, 61  Für

Rechtswidrigkeit aber SRU Sondergutachten 2014 (Fn. 13), Tz. *26 f., 92. der neueren Rechtsprechung denkbar, bislang aber kaum praktiziert, sind Vorgaben im Planfeststellungsbeschluss, dass Gebiete nicht überflogen werden dürfen („Verschonungsgebiete“). Dies würde dann grundsätzlich auch die Freigabeentscheidung eines Lotsen einschränken. 62  Nach



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für die er handelt, „auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm hinzuwirken“ hat. Es ist schon fraglich, inwieweit diese Norm das Handeln des Lotsen überhaupt unmittelbar steuern kann; denn für die Berücksichtigung von Lärmschutzaspekten fehlen ihm die Handlungsspielräume. Lärmschutz ist vor allem auf übergeordneten Ebenen zu gewährleisten. Auch wird das Abdrehen von der Route im Regelfall schwerlich zu einer unzumutbaren Lärmbelastung in den überflogenen Bereichen führen können, genauer gesagt: die dort vorliegende zumutbare Belastung zu einer unzumutbaren anheben.63 Das Überfliegen dieser Gebiete kann kaum zu einer größeren Lärmbelastung beitragen als die Fortführung des Flugweges unterhalb der Flugroute. Sie führt zu einer anderen Verteilung des Lärms, berührt dabei jedoch allermeist nur Gebiete außerhalb des Lärmschutzbereichs und entlastet damit zugleich die Bevölkerung unterhalb des „regulären“ Flugwegs. Soweit durch Directs die Verfestigung eines neuen Flugweges eintritt, ist dies zugleich Bestandteil der Lärmuntersuchung nach der AzB; denn regelmäßige Flugstrecken sind in das Datenerfassungssystem aufzunehmen, unabhängig davon, aufgrund welcher Flugsicherungsverfahren sie sich ergeben (Nr. 2.1.1.3 AzD, Fn. 3). Damit spitzt sich das Problem auf die Fragen zu, inwieweit § 29b Abs. 2 LuftVG ein „Hebel“ sein kann, den Lotsen – zumindest unter bestimmten Umständen – an Flugverfahren zu binden, oder – verneinendenfalls – ob ihm das „vorzeitige“ Abdrehen aus Sachgründen untersagt werden sollte. Letzteres lässt sich recht klar verneinen: Eine generelle Einschränkung der Freigabebefugnis auf Sicherheitsgründe oder auch eine Bindung an komplexe Voraussetzungen würde nicht nur den navigatorisch verfügbaren Raum im Flughafenbereich und die Kapazität des Flugplatzes reduzieren, sondern wäre potenziell immer sicherheitsrelevant, und sei es nur über die Erhöhung der Sprechfunk- und Koordinierungsbelastung des Lotsen.64 Der letztlich mitgedachte Primat von Flugverfahren würde das gesamte System der Flugführung an Flugplätzen in bedenklicher Weise verändern. Gleichwohl ist über Directs im Abflug damit nicht notwendig das letzte Wort gesprochen. Flugverfahren sind Mittel der Flugführung in Standardfäl63  So zeigt etwa der Lärmschutzbereich des Flughafens Hannover-Langenhagen (Fn. 49, Anlage) unterhalb der Abflug-Directs keine Ausweitung („Nase“), wie sie zu erwarten wäre, wenn Directs eine Lärmrelevanz hätten. Damit ist nicht gesagt, dass die Überflüge am Boden nicht deutlich wahrnehmbar wären. Doch sind Wahrnehmbarkeit und Unzumutbarkeit verschiedene Kategorien. 64  Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass ein Lotse in einem Kurzzeitraum etwa 15 Flugbewegungen gleichzeitig zu führen hat, was für jede Kursänderung oder Anweisung mit einem mindestens zwei- bis dreimaligen Sprechfunkkontakt verbunden ist. Dies summiert sich bei einer komplexen Flugsteuerung schnell auf, während jedes Flugzeug, das aus der Überwachung herausgeführt werden kann, zu einer deutlichen Entlastung beiträgt.

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len und werden ohne Rücksicht auf die Verkehrssituation festgelegt. Sie wollen ihrer Zweckrichtung nach keine festen Geleise der Flugführung sein. Gleichwohl dienen sie nicht nur der Arbeitserleichterung des Lotsen, der sich Einzelanweisungen (und den damit verbundenen Sprechfunk) sparen kann. Hinter Flugverfahren steht oft auch ein Kompromiss zwischen den Verkehrsbelangen der Fluggesellschaften, die im Terminus „Flüssigkeit“ eingeschmolzen sind, und den Lärmschutzbelangen am Boden. Es spricht viel dafür, dass dieser Kompromisscharakter jedenfalls in den Standardfällen, für die das Flugverfahren gedacht ist, auf die Entscheidung über einen „Abkürzungs“-Direct durchschlägt. Dann wäre dem Lotsen das vorzeitige Abdrehen in Verkehrszeiten verwehrt, in denen die konkrete Verkehrssituation nichts anderes gebietet.

V. Fazit Flugverfahren werden in einem zugleich gestuften wie in sich verschlungenen Geflecht von Entscheidungen, Entscheidungsträgern und weiteren Akteuren festgelegt. Die rechtlichen Maßstäbe und das Verfahren sind nur ansatzweise geregelt, vielfach in der Entwicklung begriffen und daher objektiv, für Juristen wie für Betroffene, undurchsichtig. Für den Bürger scheint es deshalb schwer, zu seinem Recht zu kommen. Die Rechtspraxis – zumindest seit dem Jahr 2000 – bestätigt diesen Befund aber nicht. Die Schwierigkeiten scheinen eher innerjuristischer, prozesstechnischer und dogmatischer Natur. Sie haben die Bürger offensichtlich nicht gehindert, ihre Einwände effektiv zu formulieren. Auch wenn vordergründig viele der Klagen erfolglos geblieben sind, haben die Prozessbeteiligten dem Meer aus prozess- und materiellrechtlichen Unbestimmtheiten ein großes Stück festen Boden abgetrotzt. In den gerichtlichen Verfahren sind die Probleme ins allgemeine Bewusstsein gehoben worden, die Klärung der Anforderungen hat das Handeln der Akteure deutlich verändert. Diese Entwicklung wird von der öffentlichen Diskussion, aufgegriffen von der Politik,65 weiter energisch vorangetrieben. Fortentwicklungen sind das Gebot der Stunde. Doch ist Augenmaß angebracht. In einem komplexen System liegen einfache Lösungen außer Reichweite, Maximalforderungen würden teuer erkauft werden. Die normative Fixierung des erreichten dogmatischen Standes ist weder erforderlich noch hilfreich. Die aktuellen Vorschläge betreffen im Wesentlichen Probleme der Vergangenheit, und für die Lösung der anstehenden Probleme scheint die Zeit nicht reif. Kluge Normen können zwar für Stabilität sorgen, verhindern aber Erfahrungen, die in der Praxis mit Alternativen gewonnen werden könnten. Zudem dürften sich 65  Zu

den Gesetzesinitiativen vgl. Schütte / Barth / Giemulla (Fn. 31), S. 90 f.



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gesetzliche Neuregelungen, verfassungsrechtlich unbeanstandet, auch an Kostengesichtspunkten orientieren und könnten restriktiver ausfallen, als viele hoffen. Fortentwicklungen sollten daher zunächst noch der Praxis überlassen werden. Für sie hält schon das geltende Recht alle Optionen bereit. Dabei gilt es, die Qualität der Planungen und ihre Überzeugungskraft zu verbessern. Im Zentrum stehen die Ausarbeitung valider Bewertungsverfahren und eine Definition von Verfahrensstandards. Besonders aber sind die Akteure gefragt, die sich mit aller Innovationsbereitschaft, mit Ideenreichtum und Offenheit für Diskussionen offensiv dieser Aufgabe stellen müssen.

Quelle: Niedersächsisches Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz

Verfahrensfehler im Umweltrecht – notwendige Nachjustierungen im deutschen Verwaltungsrecht Von Jan Ziekow Als ich vor nunmehr fast 10 Jahren mit Blick auf die Århus-Konvention und die ihr folgenden europäischen Rechtsakte die Erwartung geäußert habe, diese Regelungen würden zu einer zumindest teilweisen „Reanimation des Verfahrensrechts“ führen,1 hatte ich nicht erwartet, dass die Erholung des Patienten so lange dauern würde und so viel Nachdrucks bedürfte. Abgeschlossen ist dieser Prozess auch jetzt nicht. Es zeichnen sich aber mittlerweile recht konsolidierte Konturen ab, auf deren Grundlage der Versuch einer Systematisierung unternommen werden kann: Zunächst werden kurz die Grundsätze des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts hinsichtlich des Umgangs mit Verfahrensfehlern und den prozeduralen Ansatz des europäischen Umweltrechts einander gegenübergestellt werden (I.). Anschließend wird sich der Beitrag Typen von Verfahrensfehlern und ihrer Relevanz zuwenden (II.), bevor unter verschiedenen Aspekten die Berechtigung zur gerichtlichen Geltendmachung von Verfahrensfehlern untersucht wird (III.). Zum Schluss werden noch knappe Überlegungen zur selbstständigen Klagbarkeit von Verfahrensfehlern angeschlossen (IV.).

I. Clash of cultures? Das europäische Umweltrecht und die Gewichtung des Verwaltungsverfahrens in Deutschland Wenn man über Fehler im Verwaltungsverfahren spricht, so ist zunächst klarzustellen, dass es sehr unterschiedliche Typen von Verwaltungsverfahren gibt2. Verwaltungsverfahren in einem weiteren Sinne sind beispielsweise 1  Ziekow,

Von der Reanimation des Verfahrensrechts, NVwZ 2005, 263 ff. Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 1 Rn. 30 f.; Ramsauer, in: Kopp / ders., VwVfG, 14. Aufl. 2013, Einführung  I Rn. 1; Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 28 Rn. 161 ff.; Gurlit, Der Eigenwert des Verfahrens im 2  Vgl.

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auch solche Verfahren, die zum Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen führen.3 Ähnliches gilt für von öffentlichen Stellen durchgeführte Verfahren, die wie das Vergabeverfahren grundsätzlich privatrechtlich geordnet sind.4 Um diese Verfahren soll es jedoch im vorliegenden Beitrag nicht gehen. Der Fokus wird vielmehr auf Verfahren liegen, die dem Verfahrensbegriff des § 9 VwVfG unterfallen und durch das Verwaltungsverfahrensgesetz sowie das besondere Umweltverfahrensrecht geordnet sind. In einer legalistischen Verwaltungskultur5 wie der deutschen konkretisiert sich auch der vielbeschworene Verfahrensgedanke6 zuvörderst in das Handeln der Verwaltung programmierenden Normen – seien es solche mit der Qualität eines materiellen Gesetzes, seien es solche auf der Ebene von Verwaltungsvorschriften. Verwaltungsverfahrensrecht ist in erster Linie Handlungsrecht der Verwaltung.7 Es soll der Verwaltung dasjenige an Handlungsoptionen bereitstellen, das sie benötigt, um ihre Aufgaben in einem rechtsstaatlichen Maßstäben genügenden Verfahren erfüllen zu können.8 Von dieser Handlungsperspektive ist die Kontrollperspektive zu unterscheiden9. Der Umstand, dass eine Vorschrift nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, ändert nichts an ihrer rechtlichen Verbindlichkeit. Eine Annahme, dass die Verwaltung einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung Verwaltungsrecht, VVDStRL 70 (2011), 227 (248 ff.); Hufen / Siegel, Fehler im Verwaltungsverfahren, 5. Aufl. 2013, Rn. 47 ff. 3  Verwaltungsverfahren im materiellen Sinne, vgl. Ziekow / Siegel, Das Vergabeverfahren als Verwaltungsverfahren, ZfBR 2004, 30 (31); vgl. auch Ramsauer, in: Kopp / ders. (Fn. 2), § 1 Rn. 5–21. 4  Verwaltungsverfahren im formellen Sinne, vgl. Ziekow / Siegel (Fn. 3), ZfBR 2004, 30 (31). 5  Zu den verschiedenen Verwaltungskulturen vgl. König, Verwaltungskultur – typologisch betrachtet, in: König / Kuhlmann / Reichard / Sommermann / Ziekow (Hrsg.), Grundmuster der Verwaltungskultur, 2014, S. 13 ff. 6  Laubinger, Der Verfahrensgedanke im Verwaltungsrecht, in: König / Merten (Hrsg.), Verfahrensrecht in Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2000, S. 47 ff.; Schoch, Der Verfahrensgedanke im allgemeinen Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 1992, 21 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Lerche / Schmitt Glaeser / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 1 ff. 7  Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), 151 (156). 8  Schuppert, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 65 (96 f.). 9  Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 28; Wahl (Fn. 7), VVDStRL 41 (1983), 151 (156); Ziekow / Siegel (Fn. 3), ZfBR 2004, 30 (31).



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nicht zugängliche Normen in praxi nicht beachtet, würde jeder empirischen Grundlage entbehren. Es lässt sich daher durchaus als immanente Systemlogik einer legalistischen Verwaltungskultur ansehen, dass der Verwaltung ein Vertrauen auf ihre Verfahrensrechtstreue entgegengebracht wird. Gleichzeitig ist damit ein Verständnis verbunden, dass das Verwaltungsverfahrensrecht grundsätzlich „Hausrecht“ der Verwaltung ist. Für Verwaltungsexterne wird es erst dann relevant, wenn seine unzutreffende Anwendung den Inhalt der Sachentscheidung beeinflusst oder – ausnahmsweise – ein subjektives öffentliches Recht auf eine bestimmte Verfahrenshandlung besteht. Dies führt zu einem Auseinanderlaufen der Bewertung von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensrecht: Während es mittlerweile als Allgemeinplatz gelten kann, dass die Governanceleistung des Verwaltungsverfahrens weit darüber hinausgeht, lediglich Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts zu sein10, bleibt dem Verwaltungsverfahrensrecht weiterhin nur eine nachgeordnete Bedeutung gegenüber dem materiellen Recht. Die unheilige Allianz aus §§ 44a VwGO und 46 VwVfG führt dazu, dass ein Verfahrensrechtsverstoß grundsätzlich während des Verwaltungsverfahrens keiner gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann, sondern eine Geltendmachung nur im Rahmen des Angriffs auf die später ergehende Sachentscheidung erfolgen kann. Die damit gegebene Verheißung, dass zu diesem späteren Zeitpunkt dann aber Verfahrensfehler sanktioniert werden, bleibt in einem beträchtlichen Umfang unerfüllt. Nach der Lesart der Rechtsprechung verhindert § 46 VwVfG nicht nur bei gebundenen Entscheidungen, sondern auch für Verwaltungsakte mit Entscheidungsspielraum eine Aufhebung wegen eines Verfahrensfehlers, es sei denn, es besteht die konkrete Möglichkeit, dass die angegriffene behördliche Entscheidung ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre11. Selbst wenn diese Hürde im Einzelfall übersprungen wird, bedeutet dies allerdings noch nicht, dass der Verfahrensfehler auch wirklich sanktioniert wird. Denn nach § 113 Abs. 1 VwGO reicht die bloß objektive Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nichts aus. Vielmehr muss ein Rechtswidrigkeitszusammenhang dergestalt bestehen, dass die Verletzung des Klägers in seinen subjektiven Rechten durch die Rechtswidrigkeit des 10  Dazu Ziekow, Governance des Verwaltungsverfahrens als Aufgabe des Verwaltungsverfahrensrechts, in: Hill / Sommermann / Stelkens / Ziekow (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – Bilanz und Perspektiven, 2011, S. 95 ff. m. w. N. 11  Ständige Rspr., vgl. nur ­BVerwG NVwZ 2013, 297 (299); NVwZ 2012, 557 (558); NVwZ 2008, 795; NVwZ 1996, 788 (791); NVwZ-RR 1994, 14 (15); NVwZ 1984, 718 (721); VGH Mannheim ZUR 2012, 312 (317); OVG Münster, Urt. vom 30.4.2010 – 20 D 119 / 07.AK – BeckRS 2010, 50691; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 27.3.2009 – OVG 2 B 9.08 – BeckRS 2009, 32529; OVG Lüneburg NJOZ 2007, 5536 (5553).

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Verwaltungsakts hervorgerufen wird. Dies setzt – abgesehen von den Konstellationen, dass eine Beachtung der Verfahrensvorschrift „Änderungspotenzial“ für die Sachentscheidung hätte und dadurch materiell-subjektive Rechte des Klägers betroffen sind12 – voraus, dass die verletzte Verfahrensvorschrift zumindest auch dem Schutz des Klägers dienen soll, was für Verfahrensvorschriften nur in Ausnahmefällen gilt13. Dass das europäische Recht und insbesondere das europäische Umweltrecht die Bedeutung des Verfahrensrechts anders gewichtet, ist bekannt. Darauf, dass das europäische Recht und dessen indirekter Vollzug den zentralen Impuls für eine Prozeduralisierung im Sinne einer Akzentuierung des Verfahrensgedankens setzen, ist verschiedentlich hingewiesen worden.14 Gleichzeitig ist aber zu Recht vor einer Überakzentuierung von Unterschieden in den Verfahrenskonzeptionen des deutschen und europäischen Rechts gewarnt und darauf hingewiesen worden, dass Friktionen in erster Linie durch Überakzentuierungen der Ergebnisorientierung und der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht im deutschen Recht entstehen können.15 Es geht mithin vor allem um die Relevanz von Verfahrensfehlern und die Voraussetzungen für deren gerichtliche Geltendmachung.

II. Verfahrensfehler und ihre Relevanz 1. Typisierung Die in umweltrechtlichen Verwaltungsverfahren denkbaren Verfahrensfehler unterscheiden sich kategorial zunächst kaum von Fehlern in anderen Verwaltungsverfahren. Grundsätzlich begründet jede unrichtige Anwendung einer verfahrensrechtlichen Norm, sei es eine solche des allgemeinen, sei es des bereichsspezifischen Verfahrensrechts16, einen Verfahrensfehler.17 Differenzierungen lassen sich entlang verschiedener Aspekte entwickeln: 12  Hufen / Siegel

(Fn. 2) Rn. 882 ff. in: Posser / Wolff (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar VwGO, Stand: 1.10.2013, § 113 Rn. 20; Heinrich Amadeus Wolff, in: Sodan / Ziekow (Hrsg.), VwGO, 3. Aufl. 2010, § 113 Rn. 40. 14  Vgl. nur Fehling, Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, VVDStRL 70 (2011), 278 (317); Kahl, 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – 35 Jahre Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, NVwZ 2011, 449 (451); Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, 2010, S. 103; Grünewald, Die Betonung des Verfahrensgedankens im deutschen Verwaltungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht, 2010, S. 154 ff. 15  Hufen / Siegel (Fn. 2), Rn. 26. 16  Zur Unterscheidung Ziekow, Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht, in: Geis / Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. FS Bartlsperger, 2006, S. 247 ff. 13  Decker,



Verfahrensfehler im Umweltrecht121

• Die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Verfahrensfehlern betrifft die Anwendbarkeit des § 46 VwVfG. Vom Ausschluss des Aufhebungsrechts durch diese Vorschrift sind solche Verfahrensfehler ausgenommen, die als Verstöße gegen absolute Verfahrensrechte zu charakterisieren sind18. Für die Annahme eines absoluten Verfahrensrechts muss sich aus dem Regelungsgehalt der Verfahrensvorschrift ergeben, dass die Regelung des Verwaltungsverfahrens mit einer eigenen Schutzfunktion zugunsten Einzelner ausgestattet ist, und zwar in der Weise, dass der Begünstigte unter Berufung allein auf einen ihn betreffenden Verfahrensmangel, d. h. ohne Rücksicht auf das Entscheidungsergebnis in der Sache, die Aufhebung einer behördlichen Entscheidung soll durchsetzen können.19 Die Verletzung grundrechtsrelevanter Verfahrensvorschriften allein, etwa derjenigen über die Öffentlichkeitsbeteiligung nach der AtVfV, genügt nicht stets schon zur Annahme eines absoluten Verfahrensfehlers.20 Ein solcher absoluter Verfahrensfehler führt auch in Umweltverwaltungsverfahren zur Aufhebung der Sachentscheidung, was durch den von dem absoluten Verfahrensrecht Geschützten – aber auch nur durch diesen – durchgesetzt werden kann. Relative Verfahrensfehler sind hingegen solche, deren Relevanz von ihrem Einfluss auf die Sachentscheidung im Sinne von § 46 VwVfG abhängt. 17

• Unterhalb der Ebene der absoluten Verfahrensfehler lässt sich weiter danach differenzieren, ob der Fehler zur Nichtigkeit der Sachentscheidung führt bzw. die sachliche Zuständigkeit oder die Verbandszuständigkeit betrifft oder ob es sich um einen anderen Fehler handelt. Auf die erste Gruppe von Fehlern ist § 46 VwVfG nicht anwendbar. • Eine weitere Unterscheidung betrifft die Frage, inwieweit für einen Verfahrensfehler eine spezialgesetzliche Fehlerfolgenregelung wie § 4 Umw­ RG vorliegt oder die allgemeine Bestimmung des § 46 VwVfG gilt. • Hiermit zusammen hängt die Abgrenzung zwischen Verfahrensfehlern, deren Beurteilung allein nationalem Recht unterliegt, von solchen, die EU-rechtlich unterlegte Umweltverwaltungsverfahren betreffen. • Schließlich kann noch nach der Phase des Rechtsschutzes differenziert werden zwischen Verfahrensfehlern, die nach dem Regelfall des § 44a S. 1 VwGO nur zusammen mit der Sachentscheidung angegriffen werden nur Hufen / Siegel (Fn. 2), Rn. 801. Bedeutung des § 46 im Kontext des Schutzes von Verfahrensrechten Held, Individualrechtsschutz bei fehlerhaftem Verwaltungsverfahren, NVwZ 2012, 461 (463). 19  ­BVerwGE 22, 342; 41, 58 (64 f.); 44, 235 (239 f.); 56, 110 (137); 81, 95 (106); NJW 1981, 239 (240); NVwZ 1990, 967. 20  BVerfG NVwZ-RR 2000, 487 (488). 17  Vgl. 18  Zur

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können, und Verfahrensfehlern, die gemäß § 44a S. 2 VwGO ausnahmsweise schon während des noch laufenden Verwaltungsverfahrens gerügt werden können. Die folgenden Ausführungen werden sich aus Platzgründen auf die umweltrechtlich besonders relevanten Konstellationen konzentrieren. Dies betrifft derzeit Verstöße gegen Umweltverfahrensrecht, für deren Beurteilung EU-rechtliche Regelungen eine Rolle spielen. Abgedeckt werden damit gleichzeitig die spezialgesetzlichen Abweichungen von der allgemeinen Norm des § 46 VwVfG. Entsprechend dieser Eingrenzung wird im Folgenden des Weiteren zwischen Fehlern, die die Umweltverträglichkeitsprüfung betreffen, und anderen Verfahrensfehlern unterschieden. 2. UVP-Fehler § 4 Abs. 1 UmwRG in der derzeit gültigen Fassung enthält einen Ausschluss der Anwendung des § 46 VwVfG bei Vorliegen bestimmter Fehler bei der Umweltverträglichkeitsprüfung. Erfasst sind die Nichtdurchführung • einer erforderlichen Umweltverträglichkeitsprüfung sowie • einer erforderlichen Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit, sofern sie nicht nachgeholt worden sind. Bei Vorliegen dieser Fehler kann die Aufhebung der insoweit verfahrensfehlerhaften Sachentscheidung verlangt werden. Gleiches gilt, wenn eine Einzelfallvorprüfung zwar durchgeführt wurde, jedoch nicht den Anforderungen des § 3a S. 4 UVPG genügt. Bekanntermaßen hat das ­BVerwG in seinem A 281-Urteil eine Erstreckung dieser die Fehlerbeachtlichkeit ohne Durchführung einer Kausalitätsprüfung anordnenden Vorschrift auf die zwar durchgeführte, jedoch fehlerhaft durchgeführte UVP abgelehnt.21 Das ­BVerwG sah keine Notwendigkeit zu einer Korrektur der vom nationalen Gesetzgeber getroffenen Entscheidung auf Grund von Erfordernissen des Unionsrechts. Dies gelte sowohl für die Anforderungen des Art. 10a (heute: Art. 11) UVP-RL22 als auch für das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip. Letzteres versteht das Gericht offenbar dahingehend, dass zumindest unwesentliche Verfahrensfehler nicht beacht21  ­BVerwG

NVwZ 2012, 557 Rn. 17 f. NVwZ 2012, 557 Rn. 18. Zustimmend Porsch, Verwaltungsgericht­ licher Rechtsschutz im Umweltrecht, NVwZ 2013, 1393 (1395). Ablehnend Gärditz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz im Umweltrecht, NVwZ 2014, 1 (3); siehe bereits Kment, Europarechtswidrigkeit des § 4 I UmRG?, NVwZ 2012, 481 (482) zur EuGH-Vorlage. 22  ­BVerwG



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lich sein müssen. Dementsprechend stellte es ausdrücklich fest, dass im entschiedenen Fall nur unwesentliche Fehler der UVP vorlagen.23 a) Die Beachtlichkeit von UVP-Fehlern nach dem Altrip-Urteil des EuGH Soweit es die Nichtbeachtlichkeit von Fehlern der UVP betrifft, folgte der EuGH dem in seinem Altrip-Urteil vom 7.11.201324 nicht. Es ist nicht ganz überraschend, dass der Gerichtshof es als dem durch Art. 11 UVP-RL geforderten weiten Zugang zu Gerichten zuwiderlaufend ansieht, dass § 4 UmwRG den Fall der fehlerhaften UVP nicht erfasst.25 Ausdrücklich fordert der EuGH, dass ein Rechtsbehelf gegen die Sachentscheidung grundsätzlich auf jeden Verfahrensfehler im Bereich der UVP-RL gestützt werden können muss.26 Allerdings – und dies darf nicht übersehen werden – fordert der Gerichtshof keineswegs das uneingeschränkte Durchschlagen von UVP-Fehlern in dem Sinne, dass ein solcher Fehler immer zur Aufhebung der Sachentscheidung führen muss. Das nationale Recht kann vielmehr bestimmen, dass eine Rechtsverletzung gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. b UVP-RL und damit eine Sanktionierung des Verfahrensfehlers ausscheidet, wenn dieser sich nicht auf den Inhalt der Entscheidung auswirken kann. Das Grundkonstrukt des § 46 VwVfG, die Forderung nach einer Fehlerkausalität, ist also unionsrechtlich grundsätzlich zulässig. Allerdings gibt der EuGH eine Umkehrung der durch die deutsche Rechtsprechung überwiegend vorgenommenen Auslegung des § 46 VwVfG vor: Nach der Lesart der Verwaltungsgerichte ist § 46 VwVfG nur dann nicht anwendbar, d. h. kann ein Verfahrensfehler nur dann erfolgreich für einen Angriff auf die Sachentscheidung führen, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass die angegriffene Sachentscheidung ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre.27 Ist eine solche Möglichkeit nicht feststellbar, so greift § 46 VwVfG ein. Für die Anwendung des Kausalitätserfordernisses bei UVP-Fehlern verlangt der EuGH hingegen, dass nachweislich – ohne dass dem Rechtsbehelfsführer damit eine Beweislast (auch keine materielle) auferlegt werden darf – feststeht, „dass die an23  ­BVerwG

24  EuGH,

NVwZ 2012, 557 Rn. 18. Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 – Gemeinde

Altrip. 25  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 36 ff. – Gemeinde Altrip. 26  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 48 – Gemeinde Altrip. 27  Siehe oben Fn. 11.

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gegriffene Entscheidung ohne den … Verfahrensfehler nicht anders ausgefallen wäre“28. Als Kriterien für die dabei anzustellende Beurteilung nennt der Gerichtshof den Grad der Schwere des betreffenden Fehlers und die Prüfung, ob der betroffenen Öffentlichkeit eine der von der UVP-RL geschaffenen Verfahrensgarantien genommen wurde.29 In der Sache liegen also das Altrip-Urteil des EuGH und das A 281-Urteil des ­BVerwG nicht weit auseinander. Die der bundesverwaltungsgericht­ lichen Entscheidung zugrunde liegende Konstellation von UVP-Verfahrensfehlern, dass die Bekanntmachung der Auslegung der Planunterlagen keinen Hinweis auf die UVP-Pflichtigkeit des Vorhabens und die nach § 6 UVPG vorgelegten Unterlagen enthielt, wäre wohl auch nach den vom EuGH formulierten Maßstäben als für die Sachentscheidung nicht relevant einzustufen. Denn nach den Feststellungen des ­BVerwG war aus der Bekanntmachung eindeutig ersichtlich, dass sich die mit der Bekanntmachung angestoßene Öffentlichkeitsbeteiligung auch auf die Beteiligung im Rahmen einer UVP erstreckte.30 Die durch die UVP-RL gewährten Garantien wurden daher durch den Fehler nicht geschmälert. Im Übrigen dürfte Zurückhaltung hinsichtlich der Abgrenzung der definitiv nicht kausalen UVP-Fehler zu empfehlen sein. Insbesondere wird man nicht davon ausgehen können, dass nur eine Missachtung der sich explizit auf eine Beteiligung der Öffentlichkeit beziehenden Vorschriften der Art. 6 Abs. 2 ff., Art. 7 Abs. 3 und 5, Art. 8, 9 und 11 UVP-RL einen kausalen Verfahrensfehler begründen kann. Dass sich auch de lege lata die vom EuGH vorgegebene Prüfung durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 46 VwVfG sicherstellen lässt, ist eindeutig.31 Ob der Gesetzgeber sich allerdings hierauf zurückziehen und eine Ergänzung des § 4 UmwRG um den Fall der fehlerhaften UVP unterlassen kann, dürfte zweifelhaft sein. Denn der Gerichtshof hat die fehlende Aufnahme dieses Falls in den nationalen Umsetzungsakt des § 4 UmwRG ausdrücklich als unionsrechtswidrig bezeichnet.32

28  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 53 – Gemeinde Altrip (Hervorhebung durch den Verf.). 29  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 54 – Gemeinde Altrip. 30  ­BVerwG NVwZ 2012, 557 Rn. 18. 31  Schlacke, Zur fortschreitenden Europäisierung des (Umwelt-)Rechtsschutzes, NVwZ 2014, 11 (15 f.); B.  Stüer / E.-M.  Stüer, Anmerkung zu EuGH (2.  Kammer), Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 – Gemeinde Altrip, DVBl. 2013, 1597 (1603). 32  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 37 – Gemeinde Altrip.



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b) Konsequenzen für Einzelfallvorprüfung und vollständig fehlende UVP Es sei sicherheitshalber darauf hingewiesen, dass sich aus dem AltripUrteil des EuGH keine Möglichkeit des deutschen Gesetzgebers ergeben dürfte, den einschränkungslosen Ausschluss der in § 46 VwVfG geforderten Fehlerkausalität durch § 4 UmwRG nunmehr für die Fälle der unterbliebenen UVP bzw. Einzelfallvorprüfung zurück zu drängen. Denn das vollständige Fehlen einer UVP negiert die durch die UVP-RL statuierten Verfahrensgarantien vollständig. Für das Fehlen einer Vorprüfung gilt Entsprechendes, zeitigt doch das Unterlassen das Ergebnis, dass eine UVP auch dann nicht durchgeführt werden wird, wenn die Behörde nach § 3c UVPG an und für sich zu dem Ergebnis der Notwendigkeit der Durchführung einer UVP kommen müsste. In einer ersten Bewertung des Altrip-Urteils ist angeregt worden, anlässlich einer Novellierung auch die Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung einer Einzelfallvorprüfung durch §§ 4 Abs. 1 S. 2 UmwRG, 3a S. 4 UVPG auf den gesetzgeberischen Prüfstand zu stellen.33 Ansatzpunkte für diese Forderung könnten die Feststellungen des Gerichtshofs sein, dass die „Gründe …, die zur Stützung eines entsprechenden Rechtsbehelfs vorgebracht werden können“, „in keiner Weise … beschränkt“ sind, und dass der unionsrechtlich vorgegebene weite Zugang zu Gerichten nicht übermäßig erschwert werden darf34. Im Ergebnis dürften allerdings die besseren Gründe dafür sprechen, dass das Altrip-Urteil die genannten deutschen Vorschriften nicht in Frage stellt. Wie dargestellt hat es der EuGH gerade für zulässig erklärt, dass nationales Recht die gerichtliche Überprüfbarkeit von Sachentscheidungen für solche UVP-Fehler einschränkt, die nachweislich ohne Einfluss auf die Sachentscheidung sind. Nach § 3a S. 4 UVPG ist die behördliche Entscheidung, dass eine UVP unterbleiben soll, nur darauf zu überprüfen, ob die Vorprüfung entsprechend den Vorgaben von § 3c UVPG durchgeführt worden ist und ob das Ergebnis nachvollziehbar ist. Nach der Gesetzesbegründung ist damit eine zweistufige Prüfung gefordert, nämlich erstens die Überprüfung, ob das Verfahren der Vorprüfung den Vorgaben des § 3c UVPG entspricht, und zweitens die gerichtliche Feststellung, ob die behördliche Beurteilung nachvollziehbar ist35. In dieser Auslegung sind §§ 4 Abs. 1 S. 2 UmwRG, 3a S. 4 UVPG mit den Anforderungen des Altrip-Urteils vereinbar. VerfahStüer / Stüer (Fn. 31), DVBl. 2013, 1597 (1604): „wackelt … erheblich“. Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 36, 46 – Gemeinde Altrip. 35  BR-Drucks. 551 / 06 S. 43 f. 33  Siehe

34  EuGH,

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rensfehler bei der zur Feststellung der Nichtdurchführung einer UVP führenden Vorprüfung sind danach grundsätzlich beachtlich. Der in der Rechtsprechung teilweise zu findenden Reduzierung der gerichtlichen Überprüfung darauf, ob überhaupt eine Einzelfallvorprüfung durchgeführt worden ist36, wird man nicht beitreten können. c) Heilung von Verfahrensfehlern Schließlich bleibt noch kurz zu der in § 4 Abs. 1 S. 3 UmwRG unberührt gelassenen Möglichkeit der Heilung von Verfahrensfehlern Stellung zu nehmen. An der grundsätzlichen Zulässigkeit der Möglichkeit der Fehlerheilung am Maßstab des Unionsrechts hat sich nichts geändert.37 Hinsichtlich der Durchführung wird man nach der Art des Fehlers unterscheiden müssen: • Ist eine Vorprüfung – und damit auch eine UVP – vollständig unterblieben, so kann die Vorprüfung nachgeholt werden. Führt sie zu dem Ergebnis, dass eine UVP nicht durchzuführen ist, ist die Fehlerheilung beendet.38 Andernfalls ist eine UVP durchzuführen, was der folgenden Konstellation entspricht. • Bei einer vollständig fehlenden UVP muss das zu der Sachentscheidung führende Verwaltungsverfahren in der Regel vollständig neu aufgerollt werden, soweit nicht bereits Verfahrenshandlungen vorgenommen werden, die ohne Bezug zur UVP sind und deshalb weiterhin verwertet werden können.39 • Relevante Verfahrensfehler bei der Durchführung einer Einzelfallvorprüfung oder UVP werden dadurch geheilt, dass das Verfahren bis zu dem Fehler gleichsam „zurückgedreht“ wird, sofern keine Heilung durch isolierte Nachholung der Verfahrenshandlung nach § 45 VwVfG möglich ist. Allerdings wird man auch in den Fällen des § 45 VwVfG zu beachten haben, dass die UVP ein ganzheitlicher Vorgang ist, dem nicht nachträg36  So

etwa OVG Hamburg ZUR 2010, 434 (435). bereits Ziekow, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Rechtsschutzes, NVwZ 2007, 259 (265); ebenso etwa Gärditz (Fn. 22), NVwZ 2014, 1  (8). 38  ­BVerwG NVwZ 2008, 1349 (1350 f.); Ziekow (Fn. 37), NVwZ 2007, 259 (265). Zur Fehlerbehebung im ergänzenden Verfahren vgl. ­BVerwG NVwZ 2012, 575 (579). 39  OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 27.11.2009 – 11 S 49.09 – BeckRS 2009, 41964; Gurlit, Der Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, VVDStRL 70 (2011), 227 (262); Ziekow (Fn. 37), NVwZ 2007, 259 (265); Kment, Das neue Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz und seine Bedeutung für das UVPG – Rechtsschutz des Vorhabenträgers, anerkannter Vereinigungen und Dritter, NVwZ 2007, 274 (277). 37  Siehe



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lich einzelne wesentliche Elemente hinzugefügt werden können. Bei Anlegung der Maßstäbe der Altrip-Entscheidung wird man eine Heilung durch Nachholung einzelner Verfahrensschritte ohne erneute Durchführung der UVP ab diesem Schritt nur dann für zulässig halten können, wenn hierdurch die betreffende Verfahrensanforderung nicht entwertet wird.40 Auch wenn die Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 9 UVPG vom Tatbestand des § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG erfasst wird41, wird man in Anbetracht des Stellenwerts dieses Verfahrenselements für das unionsrechtliche Konzept der UVP eine Heilung durch isolierte Nachholung nicht für zulässig halten können.42 3. Andere Verstöße gegen Umweltverfahrensrecht Es bleibt die Frage, ob auch für andere Verstöße gegen Umweltverfahrensrecht als UVP-Fehler ein besonderes Fehlerfolgenregime besteht. § 4 UmwRG lässt insoweit keinen Interpretationsspielraum, zählt er doch die ihm unterfallenden Verfahrensfehler unter Beschränkung auf UVP- und Vorprüfungsfehler abschließend auf. Die unionsrechtliche Vorschrift des Art. 11 UVP-RL ist demgegenüber etwas anders gefasst. Sie spricht in Abs. 1 davon, dass die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit Zugang zu Gericht haben müssen, „um die materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten“. Bei grammatischer Auslegung wird sich nicht argumentieren lassen, es könne nur um UVP-Fehler gehen, weil nur für diese die Bestimmungen der UVP-RL über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten würden. Denn der letzte Satzteil bezieht sich darauf, dass die angegriffene Entscheidung den genannten Bestimmungen unterfallen muss, und nicht auf die „verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit“. Klar dürfte sein, dass es für Verstöße gegen Verfahrensvorschriften außerhalb des Umweltrechts, die allein im nationalen Recht verankert sind, beim nationalen Fehlerfolgenregime bleibt. Ebenso klar ist aber auch, dass die Anforderungen der Altrip-Entscheidung zur Fehlerkausalität auch für andere 40  In diese Richtung bereits Greim, Rechtsschutz bei Verfahrensfehlern im Umweltrecht, 2013, S. 183 f. 41  Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. 2013, § 45 Rn. 11. 42  Vgl. Greim (Fn. 40), S. 184; Grünewald (Fn. 14), S. 194; A. Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010, S. 256 f.; B. Müller, Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht der Europäischen Union und ihre Einwirkungen auf das deutsche Verwaltungsrecht am Beispiel des Immissionsschutzrechts, 2010, S. 110 f.

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Verfahrensverstöße als UVP-Fehlern gelten müssen, soweit es sich um EUrechtlich unterlegtes Umweltverfahrensrecht handelt.43 Dies macht bereits Art. 25 Abs. 1 Industrieemissions-RL deutlich, der für Verfahrensfehler außerhalb des UVP-Rechts bei den Art. 24 der RL unterfallenden Entscheidungen dieselben Regelungen zur Überprüfbarkeit in verfahrensrechtlicher Hinsicht trifft wie Art. 11 UVP-RL. Auf die in Zukunft mit prognostizierbarer Sicherheit große Bedeutung erlangende Frage, inwieweit Art. 9 Abs. 3 der Århus-Konvention in der dieser Norm vom EuGH in der Entscheidung „slowakischer Braunbär“ zugemessenen auslegungsleitenden Bedeutung44 zu einer erweiterten Fehlerbeachtlichkeit von Verstößen gegen weiteres Umweltverfahrensrecht führt, kann hier nicht eingegangen werden45.

III. Anforderungen an die gerichtliche Geltendmachung von Verfahrensfehlern Mit der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der Fehlerkausalität gegenüber § 46 VwVfG ist allerdings noch nicht darüber entschieden, unter welchen Voraussetzungen Verfahrensfehler erfolgreich gerichtlich geltend gemacht werden können. Zwar ist das Problem im Gefolge der Trianel-Entscheidung des EuGH46 insofern entschärft worden, als die unselige Schutznormakzessorietät der Klagen von Umweltvereinigungen nach der früheren Fassung des UmwRG47 durch die Novellierung des UmwRG48 beseitigt worden ist. Nach der neuen Fassung des § 2 UmwRG können die Vereinigungen Verfahrensfehler ohne Rücksicht auf deren subjektiv-recht­ lichen Gehalt rügen und diesbezüglich eine objektive Rechtskontrolle durch das Verwaltungsgericht in Gang setzen. Für die Klagen von Privaten ist dies jedoch noch nicht abschließend geklärt (dazu unten III.1.). Zudem harrt die Frage der Vereinbarkeit von na­ tionalen Präklusionsregelungen mit dem EU-Recht der Beantwortung (dazu unten III.2.). auch Gärditz (Fn. 22), NVwZ 2014, 1 (3). NVwZ 2011, 673 Rn. 50. 45  Vgl. zu diesem Fragenkreis Gärditz (Fn. 22), NVwZ 2014, 1 (5 f.); Kokott / Sobotta, Rechtsschutz im Umweltrecht – Weichenstellungen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, DVBl. 2014, 132 (135 f.). 46  EuGH NJW 2011, 2779. 47  Dazu Ziekow (Fn. 37), NVwZ 2007, 259 (260 f.). 48  Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften vom 21.1.2013, BGBl I 2013, 95; siehe auch M.-J.  Seibert, Verbandsklagen im Umweltrecht, NVwZ 2013, 1040 ff. 43  Siehe

44  EuGH



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1. Verstoß gegen objektives Verfahrensrecht und Schutznormtheorie Soweit nicht eine Umweltvereinigung, sondern ein privater Dritter eine behördliche, umweltrechtlich relevante Entscheidung mit der Begründung angreift, die Entscheidung sei verfahrensfehlerhaft, enthält das UmwRG keine Regelung der Frage, ob für den Erfolg der Klage die Erfüllung der Voraussetzungen der §§ 42 Abs. 2, 113 VwGO gegeben sein muss. Abgesehen von den Fällen der zu einer Vollprüfung führenden enteignungsrechtlichen Betroffenheit49 und der genannten Konstellation des „Änderungspotenzials“ einer Beachtung der Verfahrensvorschrift (oben I.) würde dies nach der geltenden Schutznormtheorie erfordern, dass die verletzte Verfahrensvorschrift zumindest auch den Interessen des Klägers zu dienen bestimmt ist.50 Dies ist bei Vorschriften über das Verwaltungsverfahren nur selten der Fall51 und insbesondere die Regelungen des Umweltverfahrensrechts stehen meist im Dienste von Allgemein- und nicht von Individualinteressen. § 4 UmwRG enthält hierzu keine Regelung. Zwar bestimmt § 4 Abs. 3 UmwRG, dass § 4 Abs. 1 und 2 UmwRG auch für natürliche und juristische Personen gelten. Jedoch betrifft § 4 UmwRG nach dem Willen des Gesetzgebers nur die Relevanz von Verfahrensfehlern in Abweichung von § 46 VwVfG und begründet keine eigenständige Rechtsbehelfsbefugnis. Für andere Kläger als Umweltvereinigungen soll es vielmehr bei der Notwendigkeit bleiben, die Verletzung eigener Rechte zu rügen.52 Für die unionsrechtliche Zulässigkeit dieser Betrachtung sprechen zunächst Art. 11 UVP-RL und Art. 25 Industrieemissions-RL, wonach die Mitgliedstaaten den Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht davon abhängig machen können, dass der Kläger eine Rechtsverletzung geltend machen kann. Die Kommission interpretiert in ihrer Stellungnahme vom 25.4.2013 zur Umsetzung von Art. 11 UVP-RL und Art. 25 Industrieemissions-RL durch Deutschland diese Regelungen dahin gehend, dass sie nur die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs betreffen. Hier hat der Mit49  Dazu im Einzelnen Schütz, Rechtsschutz im Fachplanungsrecht, in: Ziekow (Hrsg.), Handbuch des Fachplanungsrechts, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 28 ff. 50  ­BVerwG NJW 1981, 239 (240); Sodan, in: Sodan / Ziekow (Hrsg.), VwGO, 3. Aufl. 2010, § 42 Rn. 386 ff. 51  Sachs, Verfahrensfehler im Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 31 Rn. 61; Held, Individualrechtsschutz bei fehlerhaftem Verwaltungsverfahren, NVwZ 2012, 461 (464); Kleesiek, Zur Problematik der unterlassenen Umweltverträglichkeitsprüfung, 2010, S. 43. 52  BT-Drucks. 16 / 2495, 8; ­BVerwG, Beschl. vom 27.6.2013 – 4 B 37.12 – juris Rn. 10.

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gliedstaat die Möglichkeit, die Zulässigkeit an die Geltendmachung von subjektiven Rechten zu knüpfen. Ist diese Hürde aber einmal übersprungen und der Rechtsbehelf zulässig, so soll die Prüfung durch das Gericht nicht auf die Verletzung von Vorschriften beschränkt sein, die Rechte einzelner begründen, sondern in einer objektiven Rechtskontrolle alle verfahrens- und materiell-rechtlichen Vorschriften umfassen.53 Nicht gefordert ist danach also, dass die Verfahrensvorschriften selbst subjektive Rechte, auf die die Klagebefugnis gestützt werden könnte, verleihen. Dieses Modell ist dem deutschen Recht wohlbekannt, entspricht es doch exakt dem Verhältnis von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nach § 47 VwGO.54 In der Tat formuliert auch das Altrip-Urteil des EuGH – wie auch schon zuvor das Trianel-Urteil –, dass die „Zulässigkeit von Rechtsbehelfen“ von der Geltendmachung einer Rechtsverletzung abhängig gemacht werden kann und „die Gründe …, die zur Stützung eines entsprechenden Rechtsbehelfs vorgebracht werden können“, nicht beschränkt sind.55 Gleichwohl bleiben Zweifel, ob die unionsrechtlichen Vorschriften über den Gerichtszugang wirklich in dieser Weise interpretiert werden können. Es erschiene der angestrebten Effektivität der Durchsetzung des EU-Umweltrechts wenig dienlich, wenn der „Brotkorb“ der umfassenden Begründetheitsprüfung durch das Erfordernis der Geltendmachung einer Schutznormverletzung auf der Zulässigkeitsstufe in unerreichbare Höhen gehängt würde. Aus diesem Grund hat denn der Gerichtshof denn auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten, „die Rechte zu bestimmen, bei deren Verletzung ein Rechtsbehelf in Umweltsachen eingelegt werden“ kann, nur in den „durch Art. 10a der Richtlinie 85 / 337 gesteckten Grenzen“ besteht. Die Schutznormtheorie endet dort, wo sie die „durch die Richtlinie … verliehenen Rechte … praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren würde“.56 Dies heißt nichts anderes, als dass die Verfahrensvorschriften der genannten beiden Richtlinien als Schutznormen auch im Sinne des § 42 Abs. 2 53  Mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Art. 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gerichtet an die Bundesrepublik Deutschland wegen der Umsetzung des Artikels 11 der Richtlinie 2011 / 92 / EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten und des Artikels 25 der Richtlinie 2010 / 75 / EU über Industrieemissionen in deutsches Recht v. 25.4.2013, C(2013) 2173 final, S. 11. 54  Näher dazu etwa Ziekow, in: Sodan / Ziekow (Hrsg.), VwGO, 3. Aufl. 2010, § 47 Rn. 37. 55  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 42, 36 – Gemeinde Altrip; entsprechend EuGH NJW 2011, 2779 (2780) – Trianel. 56  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 46 – Gemeinde Altrip.



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VwGO interpretiert werden müssen. Es liegt völlig in der Systemlogik des deutschen Systems des subjektiven Rechtsschutzes, wenn der EuGH die Frage der Fehlerkausalität (dazu oben II.2.a)) unter der Überschrift der Befugnis der Mitgliedstaaten zur Knüpfung des Zugangs zu Gericht an das Kriterium der Geltendmachung einer Rechtsverletzung behandelt. Denn die Richtlinien gewähren den Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit „Garantien“57 bzw. räumen ihnen „Rechte“58 ein, so dass sie bereits für den „Zugang zu Gerichten … grundsätzlich jeden Verfahrensfehler geltend machen können“59 müssen. Keine übermäßige Erschwerung des Gerichtszugangs liegt dabei vor, wenn die Entscheidung auch ohne den Verfahrensfehler dieselbe geblieben wäre – es sei denn, es handelt sich um einen der in § 4 Abs. 1 UmwRG genannten Fehler. Änderungen des deutschen Rechts werden durch diese Vorgaben nicht gefordert60. Systematisch ist diese Öffnung der Klagebefugnis für Verfahrensfehler unter Beschränkung durch den unionsrechtskonform ausgelegten § 46 VwVfG durchaus verarbeitbar. § 46 VwVfG ist in der Weise konzipiert, dass er den Anspruch des Betroffenen auf Aufhebung des Verwaltungsakts ausschließt. Die Anwendung der Vorschrift führt zur Unbegründetheit des Rechtsbehelfs, indem der Betroffene durch die (fortbestehende) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht in seinen Rechten im Sinne von § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO verletzt ist.61 Hiermit ist es ohne Weiteres zu vereinbaren, dem Kläger in den Fällen der trotz Verfahrensfehlers feststellbar Bestand behaltenden Sachentscheidung bereits die Klagebefugnis abzusprechen. 2. Präklusion Für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Präklusionsvorschriften des deutschen Umweltverfahrensrechts im Kontext des Rechtsschutzes gegen Verfahrensfehler relevant sind, ist zunächst auf die zutreffende Auffassung des ­BVerwG hinzuweisen, dass es sich bei verfahrensbezogenem Vorbringen um keine Einwendungen im Sinne der §§ 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG 57  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 54 – Gemeinde Altrip. 58  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 46, 52 – Gemeinde Altrip. 59  EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – C-72 / 12 –, BeckRS 2013, 82129 Rn. 48 – Gemeinde Altrip. 60  Siehe bereits zur Frage der Schutznormtheorie Ziekow, Europa und der deutsche Verwaltungsprozess – Schlaglichter auf eine unendliche Geschichte, NvwZ 2010, 793 (794). 61  ­BVerwGE 65, 287 (289 f.); Ziekow (Fn. 41), § 46 Rn. 13.

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oder 10 Abs. 3 BImschG handelt und eine nicht erfolgende Rüge von Verfahrensfehlern daher nicht zur Präklusion der Geltendmachung dieser Fehler führt.62 Folgt man allerdings der dargestellten Auffassung der Kommission (oben III.1.), dass die Rüge eines materiell-rechtlichen Fehlers erforderlich ist, um die Klage über die Hürde der Klagebefugnis zu heben und im Rahmen der Begründetheitsprüfung eine Vollkontrolle auch auf Verfahrensfehler zu eröffnen, so schränkt die Möglichkeit der Präklusion materiell-rechtlichen Vorbringens zwangsläufig auch den unionsrechtlich gebotenen weiten Zugang zu Gerichten hinsichtlich der Kontrolle der Einhaltung des Verfahrensrechts ein. Auf dieser Grundlage wird man durchaus der Bewertung der Kommission zustimmen können, dass die Präklusionsregelungen mit Art. 11 UVP-Richtlinie und Art. 25 Industrieemissions-RL unvereinbar sind.63 In diese Richtung dürften auch die Äußerungen des EuGH in der Sache Djurgården-Lilla Värtan gedeutet werden können, den „Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit … (müsse es) möglich sein …, die … Genehmigung eines Projekts anzufechten, gleichviel, welche Rolle sie in dem Verfahren über den Genehmigungsantrag vor dieser Stelle durch ihre Beteiligung an und ihre Äußerung in diesem Verfahren spielen konnten.“64 Anderes gilt auf der Grundlage der vorliegend vertretenen Auffassung, nach der die Verfahrensvorschriften der genannten Richtlinien grundsätzlich Schutznormen im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO sind (oben III.1.). Denn durch diese Entkoppelung von materiell-rechtlichen Fehlern berührt die die Rüge von Verfahrensfehlern nicht erfassende Präklusion den Zugang zu den Gerichten nicht.

IV. Selbstständige Klagbarkeit (§ 44a VwGO) Auch die neuere Rechtsprechung des EuGH hat nichts daran geändert, dass die durch § 44a VwGO, der gemäß § 1 Abs. 1 S. 3 UmwRG unberührt bleibt, für den Regelfall vorgenommene Verweisung des Rechtsschutzes 62  ­BVerwG NVwZ 2012, 180 Rn. 12; Ziekow (Fn. 41), § 73 Rn. 55 m. Nachw. auch zur Gegenansicht. 63  Mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Art. 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gerichtet an die Bundesrepublik Deutschland wegen der Umsetzung des Artikels 11 der Richtlinie 2011 / 92 / EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten und des Artikels 25 der Richtlinie 2010 / 75 / EU über Industrieemissionen in deutsches Recht v. 25.4.2013, C(2013) 2173 final, S. 13 ff. 64  EuGH EuZW 2010, 65 Rn. 39 – Djurgården. Zur Bewertung Ziekow (Fn. 60), NVwZ 2010, 793 (795).



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gegen Verfahrensfehler auf die Phase nach Erlass der Sachentscheidung mit Unionsrecht vereinbar ist. Zwar sind an diesem Ergebnis unter dem Gesichtspunkt Zweifel formuliert worden, dass immer dann, wenn das Unionsrecht ein subjektives Verfahrensrecht gewähre, das Effektivitätsgebot es zumindest nahelegt, dass eine Verletzung dieses Verfahrensrechts nicht erst nach Erlass der Sachentscheidung gerichtlich beanstandet werden kann.65 Und in der Tat sind nach der neueren Rechtsprechung des EuGH die Verfahrensvorschriften von UVP-RL und Industrieemissions-RL als Schutznormen anzusehen. Doch fordert weder der Effektivitätsgrundsatz noch das Gebot eines weiten Zugangs zu den Gerichten66 eine Vorverlagerung des Rechtsschutzes gegen Verfahrensfehler in die Phase des noch laufenden Verwaltungsverfahrens. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 UVP-RL bzw. Art. 25 Abs. 2 Industrieemissions-RL steht es den Mitgliedstaaten frei, in welchem Verfahrensstadium sie den Rechtsschutz eröffnen wollen. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob es nicht zumindest partiell sinnvoll wäre, abweichend von § 44a VwGO Rechtsschutz gegen Verfahrensfehler auch schon während des laufenden Verwaltungsverfahrens zu eröffnen.67 Denn die durch die Richtlinien bzw. das UmwRG eröffnete Möglichkeit der Anfechtung der Sachentscheidung allein wegen eines Verfahrensfehlers kann die Verwirklichung des betreffenden Vorhabens beträchtlich verzögern. Vor allem in den Konstellationen, in denen die UVPPflichtigkeit streitig ist, sei es in Auslegung gesetzlicher Vorgaben, sei es aufgrund einer Vorprüfung, könnte die Zulassung eines Zwischenstreits die sonst drohende Notwendigkeit einer „Zurückdrehung“ des Verfahrens (siehe oben II.2.c)) verhindern.

V. Schlussbetrachtung Bei vordergründiger Betrachtung sind die Auswirkungen der Altrip-Entscheidung des EuGH auf den Themenkomplex „Rechtsschutz gegen Fehler in Umweltverwaltungsverfahren“ überschaubar. Dass § 4 UmwRG bezüglich der Nichtberücksichtigung der fehlerhaften UVP zu kurz springt, ist oft 65  In diese Richtung Berkemann / Halama, Handbuch zum Recht der Bau- und Umweltrichtlinien der EU, 2. Aufl. 2011, Rn. 629; Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 2013, § 1 UmwRG Rn. 37. 66  Zur Unterscheidung dieser Grundsätze Ziekow (Fn. 60), NVwZ 2010, 793 (795 ff.). 67  Siehe bereits Ziekow (Fn. 1), NVwZ 2005, 263 (266); zustimmend Alleweldt, Verbandsklage und gerichtliche Kontrolle von Verfahrensfehlern: Neue Entwicklungen im Umweltrecht, DÖV 2006, 621 (629).

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genug angemahnt worden, so dass die Bestätigung aus Luxemburg zumindest nicht jeden überrascht. Auch die Korrektur bei der Handhabung der Fehlerkausalität im Rahmen des § 46 VwVfG ist nicht spektakulär. Es ist allerdings davor zu warnen, nochmals die Reichweite dessen, was das europäische Umweltrecht verlangt, unterschätzen zu wollen. Die Häufigkeit, mit der sich der deutsche Gesetzgeber durch Kommission und EuGH in diesem Bereich mahnen lassen muss, ist durchaus bemerkenswert. Bei näherer Betrachtung hat der EuGH durchaus stringente Vorstellungen, wie ein System des Rechtsschutzes bei Verfahrensfehlern im Umweltrecht auszusehen hat. Dies ernst zu nehmen, ist ein kleiner Schritt für das deutsche Rechtssystem, aber ein großer Schritt für die Integration.

Ausweitung der Verbandsklage im Umweltbereich – „Trianel“, „Slowakischer Braunbär“ und die Folgen Von Remo Klinger Die Debatte über die Konsequenzen einer umweltrechtlichen Verbandsklage ist älter als die meisten Umweltverbände, die die Klagerechte heute geltend machen.1 Seit Beginn der 70er-Jahre und den in dieser Zeit beginnenden umweltrechtlichen Kodifizierungen2 wird in der Öffentlichkeit über die Einführung einer Umweltverbandsklage und die damit verbundenen Folgen diskutiert. Einige der seinerzeit geäußerten Bedenken gegen die Einführung einer derartigen Verbandsklage muten aus heutiger Sicht bizarr an. Wenn man etwa daran denkt, dass man annahm, dass die klageberechtigten Verbände mittelfristig von „Querulanten, Eigenbrötlern und Selbstsüchtigen“3 übernommen würden und das Ganze schließlich in einer „Unregierbarkeit des Staates“4 ende, denkt man, einer anarchistischen Diktatur werde unter dem Deckmantel der Verbandsklage der Weg geebnet. Andere Bedenken, wie etwa der Hinweis darauf, dass eine Verwaltungskontrolle demokratie- und rechtsstaatsfeindlich sei5, da die Verfolgung von Rechtsverstößen allein der öffentlichen Hand zugewiesen ist6, zeigen schon eher, dass es hier um tief 1  Greenpeace Deutschland wurde 1980 gegründet, der BUND und die Deutsche Umwelthilfe e. V. im Jahr 1975, nur der NABU ist mit seiner Gründung im Jahr 1899 der Methusalem unter den Umweltverbänden. 2  Fluglärmschutzgesetz vom 30.03.1971 (BGBl I 1971, 282); BImSchG vom 18.01.1974 (BGBl. I 1974, 721, ber. 1193); BNatSchG vom 20.12.1976 (BGBl. I 1976, 3574, ber. BGBl. I 1977, 650). 3  Eyermann, Gewerbearchiv 1974, 46; Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände, S. 30. 4  Deutsche Bauern-Korrespondenz 12 / 1979, S. 394 ff. („Verbandsklage? – Dann wird dieser Staat unregierbar.“), zitiert nach Borchmann, NuR 1981, 125 (Fuß­ note 25) sowie Bizer / Ormond / Riedel, Die Verbandsklage im Naturschutzrecht, 1990, S. 57. 5  Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände, S. 15 ff.; 19 f.; Redeker, ZRP 1976, 164. 6  Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände, S. 21.

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sitzende, geradezu historische Ängste geht, bei denen der Hinweis auf eine drohende Überforderung der Kapazitäten der Verwaltungsgerichte und eine Gefährdung des Investitionsstandorts Deutschlands zuweilen vorgeschoben anmuten. Dies erklärt es wahrscheinlich auch, warum die entscheidenden Anstöße für die Einführung einer Umweltverbandsklage nicht vom nationalen Recht, sondern vom Unions-, vor allem aber vom Völkerrecht ausgegangen sind. Nicht „Brüssel“ war hier der maßgebliche Akteur, sondern „Aarhus“ und die dort 1998 paraphierte und (relativ spät) im Jahr 2007 von Deutschland ratifizierte Aarhus-Konvention.7 Mit ihr waren die Grundlagen dafür gelegt, dass Verbände bei Umweltrechtsverstößen nicht länger gezwungen waren, mittels akrobatischer Rechtskonstruktionen Klagerechte zu begründen8 oder (mehr oder weniger bemüht) die Verletzung subjektiver Rechte betroffener Menschen darzulegen9. Mit jeder Erweiterung der Klagerechte der Verbände ging – in hohem Maße vorhersehbar – der Ruf nach einer gleichzeitigen Einschränkung des Rechtsschutzes einher.10 Die Gründe waren meist nicht mehr so vielfältig wie vor Beginn der erstmaligen Einführung der Umweltverbandsklage. Das Argument, die Menge und der Umfang der Verbandsklageverfahren werde die Verwaltungsgerichte überlasten sowie der damit in Verbindung stehende Hinweis, der Investitionsstandort Deutschlands sei gefährdet, kann aber bereits jetzt als Klassiker dieser Diskussion bezeichnet werden. Es ist daher absehbar, dass Opponenten der Verbandsklagebefugnis spätestens mit Beginn des nächsten Novellierungsvorhabens des UmweltRechtsbehelfsgesetzes (welches aus Anlass der Altrip-Entscheidung des EuGH11 und der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Luftreinhalteplan Darmstadt12 notwendig werden wird) weitere systemimma7  BGBl. 2006 II S. 1251 und die Bekanntmachung zur Ratifizierung in BGBl. 2007 II S. 1392. 8  Zu verweisen ist etwa auf die Bemühungen zur Verhinderung der Dünnsäureverklappung in der Nordsee Ende der 80er-Jahre. Der Seniorpartner meiner Kanzlei, Reiner Geulen, versuchte seinerzeit mittels eines beim VG Hamburg gestellten Eilantrags gegen das mit der Verklappung verbundene Robbensterben vorzugehen. Dieser „in Geschäftsführung ohne Auftrag“ für die Robben gestellte Antrag wurde zurückgewiesen, weil die „Seehunde in der Nordsee“ nicht beteiligungsfähig waren. Die Robben hatten – so kann man es wohl zusammenfassen – keine Vollmacht unterschrieben… 9  Vgl. ­BVerwG, Urteil vom 01.12.1982 – 7 C 111 / 81 – ­BVerwGE 66, 307 m. w. N. 10  Siehe zuletzt BDI, Positionspapier zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes, 2011. 11  EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-72 / 12 – juris. 12  ­BVerwG, Urt. v. 05.09.2013 – 7 C 21 / 12 – juris.



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nente Begrenzungen des Rechtsschutzes und eine Einschränkung der Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte fordern werden. Die Frage ist, ob die jüngsten Entscheidungen des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts, die zu einer Ausweitung des Rechtsschutzes geführt haben, tatsächlich geeignet sind, diesen Argumenten nachzugeben. Hat die Trianel-Entscheidung des EuGH zu einem Anstieg der verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen geführt und ist dies durch die nach dem Urteil des EuGH zum Slowakischen Braunbären zu gewährenden Rechte zu erwarten? Welchen Einfluss haben diese Entscheidungen und welchen Einfluss werden sie haben? Zunächst gibt es hier so etwas wie eine gefühlte Wahrheit. Diese speist sich aus mehreren Gesprächen (man kann sie auch Interviews nennen), die ich mit Rechtsanwälten geführt habe, die regelmäßig Umweltverbände in derartigen Klageverfahren vertreten sowie aus meiner eigenen Erfahrung. Nach diesen subjektiven Erfahrungen ist es keineswegs so, dass das Trianel-Urteil zu einer größeren Zahl von Verfahren geführt hat. Es sei zwar richtig, dass nach der Trianel-Entscheidung etwas mehr Urteile in diesen Angelegenheiten ergangen sind. Dies liegt aber vor allem daran, dass einige dieser Verfahren bis zur Trianel-Entscheidung des EuGH ruhend gestellt worden sind und erst danach entschieden wurden. Verfahren, die nur wegen des Trianel-Urteils anhängig gemacht worden sind und sonst nicht anhängig gemacht worden wären, sind nicht bekannt. Ob sich an dieser Einschätzung bei Umsetzung des „Slowakischen Braunbären“ etwas ändern wird, ist derzeit noch schwer zu sagen. In einigen Rechtsgebieten, in denen bisher die Durchsetzung von Klagerechten nur schwer möglich war (etwa in Teilen des Wasserrechts, vor allem aber im Recht der Luftreinhaltung) wird es sicherlich zu Verfahren kommen, die ansonsten nicht geführt worden wären. Diese Einschätzung basiert auf dem Urteil des 7. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 5.  September 2013 zum Luftreinhalteplan Darmstadt. Die Entscheidung ist die Konsequenz aus dem Urteil des EuGH vom 8.  März 2011 zum Slowakischen Braunbären. Das Bundesverwaltungsgericht weist den anerkannten Umweltvereinigungen in seinem Urteil eine „prokuratorische Rechtsstellung“ zur Geltendmachung subjektiver Rechte des Bürgers zu und legt § 42 Abs. 2 Halbsatz  2 VwGO im Interesse einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts weit aus. Auch Umweltverbände haben daher das Recht, die Einhaltung der zwingenden Vorschriften des Luftqualitätsrechts zu verlangen, obwohl dies nicht der aktuellen Rechtslage nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz entspricht. Die Klagerechte, die der EuGH in seinem Janecek-Urteil vom 25.  Juli 2008 auf dem Gebiet der

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Luftreinhaltung den Bürgern zuerkannte, müssen sich daher auch auf Umweltverbände erstrecken. Nicht gänzlich geklärt ist damit, welche inhaltliche Tragweite dieses Urteil haben wird. Klar erscheint eines: Jedenfalls dort, wo subjektive Rechte von Bürgern berührt sein können, wird man die Ausführungen des 7. Senats übertragen müssen. Nicht gänzlich klar erscheint dies jedoch dort, wo keine subjektiven Rechte betroffen sind und die Verbände daher die ihnen in dem Urteil zugedachte „prokuratorische Rechtsstellung“ nicht wahrnehmen. Dies könnte etwa das Naturschutzrecht betreffen. An einer Zuerkennung umfassender Klagerechte auch für diesen Rechtsbereich wird man gleichwohl nicht umhinkommen. Denn die aktuelle deutsche Rechtslage widerspricht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention. Das gegen Deutschland bereits seit dem Jahr 2008 vor dem Aarhus Compliance Comittee geführte Verfahren, dessen Abschluss im Jahr 2014 zu erwarten ist, wird dies nach allen Informationen, die bisher vom Komitee vorliegen, bestätigen. Konsequenz der daraus folgenden Änderung des nationalen Rechts wird es sein, dass jedenfalls die anerkannten Umweltvereinigungen bei Verstößen gegen Umweltrechtsvorschriften (seien sie nationaler oder unionsrechtlicher Natur) nicht auf den Anwendungsbereich des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes beschränkt sind. Vielmehr können sie jedweden Verstoß gerichtlich unterbinden lassen. Ob dies die Zahl der anhängig gemachten Verfahren substantiell erhöhen wird, bleibt fraglich. Denn entscheidend wird sein, ob die Verbände über entsprechende Kapazitäten in personeller und finanzieller Hinsicht verfügen und ob sie daher noch in der Lage sind, weitere Verfahren anhängig zu machen. Nach meinen Eindrücken waren die Verbände bereits vor der TrianelEntscheidung an ihre Grenzen gestoßen. Da sich die Ausstattung der Verbände seither eher noch verschlechtert hat, ist nicht wirklich absehbar, dass „Trianel“ und „Slowakischer Braunbär“ zu einer größeren Verfahrenszahl führen werden. Bereits jetzt ist es so, dass die Verbände vor allem auf Verfahren mit grundsätzlicher Natur und auf solche Verfahren setzen, die mit einer gewissen medialen Aufmerksamkeit verbunden sind. Gerichtliche Auseinandersetzungen dienen zuweilen dazu, ein Sachthema, welches die Verbände in ihrer Arbeit beschäftigt, zu fördern und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Politik auf bestimmte mit diesem Thema verbundene Fragen hinzuweisen. Es ist daher eher oftmals ein Geflecht aus mehreren Gründen, welches Verbände zu einer Klage führt. Die Annahme, zukünftig würde jeder Umweltrechtsverstoß gnadenlos vor Gericht gebracht, ist realitätsfern. Die Verbände sind dazu nicht in der Lage. Sie sehen sich



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nicht als Sonderabteilungen der für Umwelt zuständigen Staatsanwaltschaften, wenngleich es ihnen stets ein Dorn im Auge bleiben wird, offenkundige Umweltrechtsverstöße ungesühnt zu sehen. Die Zahl der zu erwartenden gerichtlichen Auseinandersetzungen wird sich daher kaum, jedenfalls nicht substantiell erhöhen. Etwas anderes ergäbe sich jedoch, wenn man sich mit der Erfolgsquote der Verfahren befasst, so jedenfalls mein Eindruck, der in verschiedenen Gesprächen bestätigt wurde. Infolge der jüngsten Urteile sei die (ehedem schon hohe) Erfolgsquote der Verfahren nicht unerheblich gestiegen. Tatsächlich sieht das Bild wohl etwas anders aus, wie empirische Untersuchungen bestätigen. Prof. Alexander Schmidt von der Hochschule Anhalt bewertet (zusammen mit dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen e. V.) die Verbandsklagen in regelmäßigen Untersuchungen seit dem Jahr 2002. Die zuletzt vorgelegte Untersuchung, die die Verfahren bis zum Jahresende 2012 auswertet, ist erst wenige Tage alt.13 Schaut man sich diese Zahlen an, ist seit dem Jahr 2002 tatsächlich kein wesentlicher Anstieg der Fallzahlen festzustellen, auch die Erfolgsquote ist auf hohem Niveau nur leicht gestiegen: Durchschnitt der Klagen pro Jahr

Erfolgsquote der gewonnenen und teilweise gewonnenen Verfahren

2002–2006

27,6

40 %

2007–2010

28,25

42,5 %

Im Vergleich: Die durchschnittliche Erfolgsquote (ohne Asylverfahren) in Verwaltungsrechtsstreiten liegt bei nur 10–12 %.14 Und wie sieht es seit dem Trianel-Urteil aus? Ist ein Unterschied festzustellen? Auch wenn man das Jahr 2013 mit den zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Möglichkeiten der Überprüfung einbezieht, ergibt sich kein wesentlich anderes Bild. Denn die Auswertung Schmidts für die Jahre 2011 / 2012 und 13  Schmidt / Zschiesche / Tryjanowski, Verbandsklagen im Natur- und Umweltschutzrecht 2011 und 2012 unter Berücksichtigung der Entwicklung von 2007 bis 2010, Dezember 2013. Planfeststellungsverfahren, die mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit endeten, werden als „gewonnen“, solche, die mit zusätzlichen Schutzauflagen endeten, als „teilweise gewonnen“ gewertet. 14  Schmidt / Zschiesche / Tryjanowski, Verbandsklagen im Natur- und Umweltschutzrecht 2011 und 2012 unter Berücksichtigung der Entwicklung von 2007 bis 2010, Dezember 2013, S. 20 [Fn. 72].

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eine Recherche in der Juris-Datenbank unter dem Stichwort „UmwRG“ für das Jahr 2013 ergab folgendes Ergebnis15: Durchschnitt der Klagen pro Jahr

Erfolgsquote der gewonnenen und teilweise gewonnenen Verfahren

2011–2012

29

44,9 %

2013

24

43,1 %

Die nackten Zahlen lassen somit weder den Schluss zu, die Verwaltungsgerichtsbarkeit sei mit den Umweltverbandklagen überfordert, noch rechtfertigt es die Behauptung, der „Standort Deutschland“ nehme durch derartige Klagen Schaden. Die Auswertung der Erfolgsquote hinterlässt eher der Eindruck, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Verfahren zwar als Folge der TrianelEntscheidung zulässig geworden sind (und es insofern nicht mehr an der Klagebefugnis der Verbände mangelt), die Klagen aber aus anderen Gründen abgewiesen werden. Absurd ist daher die im politischen Raum im Sommer 2013 aufgestellte These – immerhin durch den seinerzeitigen Bundesverkehrsminister –, nach denen man sich in der nächsten Legislaturperiode daran machen müsse, das Verbandsklagerecht „abzuschaffen oder stark einzuschränken. NABU, BUND oder WWF bekommen in der Regel nie Recht, richten aber einen fürchterlichen volkswirtschaftlichen Schaden an“.16 Es lässt sich somit nicht belegen, dass sich durch die jüngsten Erweiterungen des Rechtsschutzes wesentliche Veränderungen ergeben hätten. Die Zahl der Klagen erscheint unverändert. Die Erfolgsquote bleibt hoch, verändert sich aber ebenfalls nicht. Demgegenüber mag man einwenden, dass für den Investitionsstandort  Deutschland nicht die Zahl der Verfahren entscheidend ist, sondern die  Tatsache, dass sich die Verbandsklagen regelmäßig gegen große In­ vesti­tionsvorhaben richten und daher erhebliche Folgen haben. Die Verfahren zum Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich17 und dem Kohlekraftwerk Dat15  Juris-Auswertung vom 18.01.2014; es handelt sich daher um ein vorläufiges und tendenziell zu niedriges Ergebnis, da Urteile, zu denen die Entscheidungsgründe am Tag der Auswertung noch nicht vorlagen, noch nicht in die Datenbank eingestellt worden sind und Verfahren, die mit Klagerücknahme oder Erledigungserklärung endeten, nicht einbezogen worden sind. 16  http: /  / www.autobild.de / artikel / verkehrsminister-ramsauer-im-interview-429 1227.html, zuletzt abgerufen am 12.05.2014. 17  ­BVerwG, Urt. v. 14.01.1998 – 11 C 11 / 96 – ­BVerwGE 106, 115; OVG Koblenz, Urt. v. 21.11.1995 – 7 C 11685 / 90 – ET 1996, 257.



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teln18 seien beredte Beispiele. Nur: Mülheim-Kärlich und Datteln19 als die prominentesten Beispiele von dem Landschaftsbild abträglichen Investment­ ruinen20 waren gar keine Verbandsklagen. Bei Mülheim-Kärlich klagte (vor allem) die Stadtwerke Neuwied, bei Datteln ein Landwirt mit Schweinezucht. Man könnte also sagen: Bauern und Kommunen richten im Vergleich zu den Verbänden immer noch das größere Unheil an. Ist die Diskussion über Folgen der Verbandsklage an diesem Punkt angelangt, wird regelmäßig eingewandt, dass das eigentliche Problem ja nicht der mögliche Erfolg der Klagen, sondern die zeitliche Verzögerung der Vorhabensverwirklichung durch die zwischenzeitlich eingetretene Rechtsunsicherheit bei anhängiger Klage ist. Ich teile diese Einschätzung, wenngleich hervorzuheben ist, dass die Verfahrensdauer der Verbandsklagen nicht über der Dauer sonstiger Verfahren dieser Art liegt.21 So habe ich es nicht nur einmal erlebt, dass mir sowohl Behörden- als auch Unternehmensjuristen mitteilten, keinen einzigen Euro für ein Vorhaben ausgeben zu wollen solange die dagegen gerichtete Klage auch nur anhängig ist. Teilweise betrifft dies sogar Klagen, bei denen man dem Mandanten (ich vertrete häufig fachplanerisch tätige Behörden) – wie ich meine – glaubhaft darlegen konnte, dass die Klage unter keinen Umständen eine Aussicht auf Erfolg habe. Gleichwohl sehe ich nicht, warum dieses Argument für eine Beschränkung der Kontrolldichte bei Umweltverbandsklagen herangezogen werden könnte. Denn die Verunsicherung von Vorhabenträgern wird nicht dadurch geringer, dass man die Kontrolldichte der Klagen verringert. Allenfalls könnte man vermuten, dass die gerichtlichen Auseinandersetzungen bei etwas verminderter Kontrolldichte zeitlich schneller beendet werden können, wenngleich auch dies eine kühne Behauptung darstellt. Am wichtigsten ist es daher, Wege zu finden, die entstehenden gericht­ lichen Auseinandersetzungen zeitlich annehmbarer zu lösen. Nicht der zu begrüßende Rechtsschutz ist das eigentliche Problem, sondern die auch der Komplexität der Materie geschuldete Länge der Verfahren. 18  ­BVerwG, Beschl. v. 16.03.2010 – 4 BN 66 / 09 – ZUR 2010, 311; OVG Münster, Urt. v. 03.09.2009 – 10 D 121 / 07.NE – ZUR 2009, 597. 19  Bei Datteln ist wegen des zwischenzeitlich auf den Weg gebrachten raumordnerischen Zielabweichungsverfahrens das letzte Wort noch nicht gesprochen. 20  Das AKW Mülheim-Kärlich war ein ca. 7 Milliarden Euro teurer Irrtum; das Kohlekraftwerk Datteln hat bisher ca. 1,1 Milliarden Euro gekostet. 21  Schmidt / Zschiesche / Tryjanowski, Verbandsklagen im Natur- und Umweltschutzrecht 2011 und 2012 unter Berücksichtigung der Entwicklung von 2007 bis 2010, Dezember 2013, S. 19.

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Die mit der Trianel-Novelle des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes eingeführten Begrenzungen sind dazu ungeeignet. Dies gilt insbesondere für die Beschränkungen des Eilrechtsschutzes, wie sie nunmehr in § 4a Abs. 3 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz geregelt worden sind. Danach ist § 80 Abs. 5 Satz  1 der Verwaltungsgerichtsordnung nur noch mit der Maßgabe anzuwenden, dass das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung nur noch wiederherstellen kann, wenn im Rahmen einer Gesamtabwägung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Die Vorschrift wurde teilweise so verstanden, dass das Gericht die aufschiebende Wirkung nur noch dann wiederherstellen kann, wenn eine mehr oder minder bereits im Eilverfahren vorzunehmende Vollprüfung die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts ernstlich infrage stellt. Andere, jenseits der Rechtsprüfung liegende Gründe, die für eine aufschiebende Wirkung sprechen können, seien nachrangig. Auch wenn ich diese Auffassung nicht teile und die Vorschrift eher als symbolischen Rechtsakt ansehe, führen solche Regelungen nur dazu, dass die anwaltlichen Vertreter der Verbände überhaupt keinen Eilrechtsschutz mehr beantragen. Die Möglichkeit, dass Verwaltungsgerichte eine gütliche Einigung in einem im Eilverfahren angesetzten Erörterungstermin herbeiführen, ist damit schon von vornherein nicht mehr gegeben. Alles bleibt der Hauptsachenverhandlung vorbehalten, die ihrerseits Jahre auf sich warten lassen kann.22 Ähnlich sieht es bei den nunmehr allgemein für das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz geltenden Klagebegründungsfristen aus. Sie mögen zwar das Ziel verfolgen, die Verfahrensdauer zu verkürzen, verfehlen aber ihre Wirkung, wenn diese nicht mit fixen Klageerwiderungsfristen für den Beklagten und den Beigeladenen korrespondieren. Es ist einigermaßen frustrierend, wenn sich der Verbandsvertreter an die sechswöchige Klagebegründungsfrist hält und dann mitgeteilt bekommt, dass dem Beklagten eine Frist zur Erwiderung innerhalb von drei Monaten gesetzt wurde. Ebenso notwendig wäre es, wenn gesetzlich ein Anspruch auf einen Verhandlungs- oder Erörterungstermin innerhalb einer bestimmten Zeit nach Vorlage der Klageerwiderung vorgesehen wird. Die Praxis sieht oft so aus, dass die Beteiligten ihre Schriftsätze innerhalb relativ knapper Fristen vorgelegt haben, eine mündliche Verhandlung aber erst im darauf folgenden Jahr angesetzt wird, zu einem Zeitpunkt, zu dem die 22  Der Vorschlag, bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine Entscheidung in der Hauptsache innerhalb der nächsten sechs Monate treffen zu müssen und andernfalls die aufschiebende Wirkung wieder entfallen zu lassen (Versteyl, I+E 2012, 240) erscheint deshalb nicht zielführend, weil er letztlich den Vorhabenträgern die Ungewissheit verschafft, mit einem Vorhaben zu beginnen, dessen rechtliche Probleme bereits in einem Eilbeschluss festgestellt wurden.



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Beteiligten den Grund des Streits bereits mehr oder weniger aus den Augen verloren haben. Derartige Beschleunigungsaspekte sind es, die der Praxis wahrscheinlich Gewinn bringen. Ob sie gleichzeitig zu einem schlankeren Begründungsaufwand gericht­ licher Entscheidungen beitragen, wäre abzuwarten. Aufwändig begründete Entscheidungen des einstweiligen Rechtsschutzes (wie beispielsweise die über 500 Randnummern langen Eilentscheidungen zum Frankfurter Flughafen23), sind weder notwendig noch dem Instrument des einstweiligen Rechtsschutzes angemessen. Die Umweltverbandsklage stellt sowohl die Beteiligten der Verfahren als auch die damit befassten Verwaltungsgerichte vor komplexe Herausforderungen. Es lohnt sich nicht, diese Herausforderungen mit den Argumenten anzugehen, die sich bereits seit Mitte der 70iger Jahre als unzutreffend erwiesen haben. Wenig sinnvoll ist es auch, mit jeder Novelle des UmweltRechtsbehelfsgesetzes die Arbeit der Prozessvertreter der Umweltverbände zu erschweren, in der Hoffnung, dass sich die Verfahren dadurch leichter erledigen lassen. Die in diesen Verfahren regelmäßig auftretenden Kolleginnen und Kollegen arbeiten in hohem Maße professionell und lassen sich dadurch ehedem nicht aufhalten. An der zeitlichen Dauer entsprechender Auseinandersetzungen haben nicht nur die Klägervertreter, sondern alle Beteiligten und nicht zuletzt die Spruchkörper ihren Anteil. Rechtsschutz in angemessener Zeit zu gewähren, ist eine der wichtigsten Aufgaben, der gerade wegen der durch die Entscheidungen zu „Trianel“ und „Slowakischer Braunbär“ erweiterten Klagerechte noch größere Bedeutung zukommen wird.

23  VGH Kassel, Beschl. v. 21.11.2008 – 11 B 254 / 08.T – juris und Beschl. v. 02.01.2009 – 11 B 368 / 08.T – juris.

Das Bundesverwaltungsgericht auf dem richtigen Weg? Zur Begründung der Verbandsklagebefugnis für Luftreinhaltepläne* Von Claudio Franzius

I. Einführung Tief in das Skript des deutschen Verwaltungsprozessrechts eingebrannt ist die Unterscheidung zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle. Häufig wird auf das süddeutsche Modell hingewiesen, das sich gegenüber dem preußischen Modell durchgesetzt habe.1 Die Systementscheidung zugunsten des Individualrechtsschutzes2 hat die Zusammenhänge und die Kopplung beider Ansätze, wie sie in der Normenkontrolle nach § 47 VwGO zum Ausdruck kommen, für die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO aus dem Blick verloren. Dass der subjektive Rechtsschutz auch der Wahrung des objektiven Rechts dient, scheint in der Dogmatik des subjektiven Rechts vergessen. Wo der Gesetzgeber gleichwohl eine Verkopplung vornimmt, wie mit der Verknüpfung von Elementen der Verletzten- und der Interessentenklage3 in der Vorgabe für die Umweltverbandsklage, diese müsse sich auf die Rüge von Vorschriften beziehen, die dem Umweltschutz dienen und Rechte Einzelner begründen, ist ein Scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof vorprogrammiert. Was kann hier von der Rechtsprechung erwartet werden? Ich möchte im Folgenden Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung bei der Bestimmung der Klagebefugnis am Beispiel der Einklagbarkeit von Luftreinhalteplänen auszuloten versuchen. Ausgangspunkt sind zwei Urteile des Gerichtshofs der Europäischen ­Union. Nicht zu verstehen ist mein Thema ohne das heute weithin akzep*  Der ursprüngliche, auch im Programm der Tagung abgedruckte Titel des Beitrags hieß: „Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung bei der Bestimmung der Klagebefugnis im Umweltrecht“. 1  Vorsichtiger Waldhoff, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, Einleitung, Rn. 14. 2  Vgl. Wahl, in: Schoch / Schneider / Bier (Hrsg.), VwGO, 2013, vor § 42 Rn. 11 ff.; Schoch, VBlBW 2013, 361 (364 ff.). 3  Vgl. Skouris, Verletzten- und Interessentenklage im Verwaltungsprozess, 1979.

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tierte Urteil „Janecek“ und das weit weniger akzeptierte Urteil zum „slowakischen Braunbären“. Dahinter steht Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention. Wie, so lautet die zentrale Frage, kann diese unionsrechtlich aufgeladende völkerrechtliche Verpflichtung zur Schaffung von Klagerechten in § 42 Abs. 2 VwGO richtig verortet werden? Dazu drei Thesen: Erstens: Es geht weniger um prozessuale Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 Var.  1 VwGO, sondern vielmehr um eine prokuratorische Deutung materieller Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 Var.  2 VwGO. Zweitens: Diese „Neuinterpretation“ ist nicht auf den bloßen Nachvollzug europäischer Vorgaben beschränkt, sondern findet ihre Verwurzelung im nationalen Recht. Das erlaubt den richterrechtlichen Aufbau einer europäischen Kontrollpraxis auf der Grundlage des Individualrechtsschutzes. Drittens: Die „Resubjektivierung“ objektiver Rechtskontrolle findet ihre Grenzen weniger im Verbot unzulässiger Rechtsfortbildung, sondern in objektiven Grenzen der Individualisierbarkeit öffentlicher Umweltgüter. Exemplarisch sei auf den Artenschutz verwiesen. Dafür brauchen wir auch weiterhin Verfahren des überindividuellen Rechtsschutzes. Sie im Lichte des Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention einzurichten ist keine Aufgabe der Rechtsprechung, sondern eine Aufgabe der Gesetzgebung.

II. Einklagbarkeit von Luftreinhalteplänen Diese Thesen bedürfen der Erläuterung. Beginnen möchte ich mit zwei Fällen. 1. Dieter Janecek: Subjektive Rechte aus Richtlinien Der erste Fall: Dieter Janecek, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90 / Die Grünen im Bayerischen Landtag, wohnt in München am stark befahrenen Mittleren Ring, wo eine mehrfache Überschreitung der Grenzwerte für Feinstaub festgestellt worden ist. Klagen auf die Erstellung eines Aktionsplans nach § 47 Abs. 2 BImSchG lehnte das Bundesverwaltungsgericht zunächst ab.4 Der Einzelne habe keinen Planaufstellungsanspruch. Auf die Vorlage des 7. Senats, ob sich ein Drittschutz der behördlichen Planerstellungspflicht aus der Luftqualitätsrahmenrichtlinie ergebe, erklärte der EuGH einen solchen Anspruch des Einzelnen auf Planerstellung für unionsrechtlich geboten.5 Es 4  ­BVerwGE

128, 278 (281 ff.); 129, 296 (300 ff.). Rs. C-237 / 07 Janecek, Slg 2008, I-6221 Rn. 39 ff.; dazu Breuer, in: FS Sellner, 2010, S. 493 ff. 5  EuGH,



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handelt sich um ein Musterbeispiel für die funktionale Subjektivierung oder, wie es Johannes Masing formuliert hat, um die Mobilisierung des Bürgers zur Durchsetzung des europäischen Umweltrechts.6 Der Fall ist jedoch vergleichsweise unspektakulär. Dass sich Rechte des Einzelnen aus Richtlinien ergeben können, ist seit langer Zeit bekannt. Und dass solche Rechte prozessual durchsetzbar sein müssen, liefert ebenfalls keinen Anlass zum Streit. Das Janecek-Urteil ist deshalb auch nahezu einhellig begrüßt worden. Die Klagebefugnis ist europäisiert. Um eine problematische Rechtsfortbildung handelt es sich nicht. 2. Bundesverwaltungsgericht v. 5. September 2013: Verbandsklagebefugnis aus § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO? Das ist anders im zweiten Fall. Es geht um die Frage, ob nicht nur Einzelne, sondern auch Umweltverbände einen Luftreinhalteplan einklagen können. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine solche Klage mit Urteil vom 5.  September 2013 für zulässig erklärt. Der 7. Senat hält eine Abstützung der Klagebefugnis des anerkannten Umweltverbands auf § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO mangels einer gesetzlichen Vorschrift für nicht möglich.7 Die Verbandsklagebefugnis ergebe sich aber aus § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO. Wie das, wenn der Verband kein eigenes subjektives Recht geltend zu machen scheint, sondern die „Gesetzesbindung“ einklagt? Das ist ein Fall von Rechtsfortbildung, ja von spektakulärer Rechtsfortbildung, gewissermaßen einer Rechtsfortbildung aus der Rechtsfortbildung, die sich von gesetzlichen Vorgaben zu entfernen scheint.8

6  Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; ähnlich Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 83 ff., 220 ff. 7  ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 27 ff.; anders die Vorinstanz, vgl. VG Wiesbaden, Urt. v. 16.8.2012, 4 K 165 / 12 WI Rn. 36 ff.; Berkemann, DVBl 2013, 1137 (1147); Schlacke, NVwZ 2014, 11 (16); wohl auch Kahl, JZ 2014, 722 (730). 8  Vgl. Schlacke, NVwZ 2014, 11 (13) „dogmatische Revolution“. Zu bedenken sind auch die Konsequenzen für § 113 Abs. 1 VwGO: Die Europäische Kommis­ sion  hält die Beschränkung des gerichtlichen Kontrollumfangs auf Vorschriften, die Rechte Einzelner begründen, im Falle einer aufgrund der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie zulässigen Klage für unionsrechtswidrig, vgl. KOM, Vertragsverletzung Nr. 2007 / 4267, Stellungnahme v. 26.4.2013, COM (2013), 2173 final, S. 11; krit. Schoch, VBlBW 2013, 361 (368) „kühn“.

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III. Rechtsfortbildung aus Rechtsfortbildung: Zur Europarechtsfreundlichkeit der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 1. Slowakischer Braunbär Am Anfang steht die Entscheidung des EuGH zum slowakischen Braunbären.9 Betroffen ist Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention.10 Der Gerichtshof hat diesen „schlafenden Riesen“ aufgeweckt. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Erstens: Anders als Art. 9 Abs. 2 AK, der zur Verwirklichung eines weiten Zugangs zum Gericht allen Mitgliedern der „betroffenen Öffentlichkeit“ ein Klagerecht für UVP-pflichtige Vorhaben zuspricht, knüpft Art. 9 Abs. 3 AK weitergehend an die „Mitglieder der Öffentlichkeit“ an, um diesen die gegenständlich nicht begrenzte Kontrolle von Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Umweltrecht zu ermöglichen.11 Welche Mitglieder der Öffentlichkeit Zugang zum gerichtlichen Verfahren haben, können die Vertragsparteien über Zugangskriterien festlegen. Zweitens: Anders als Art. 9 Abs. 2 AK, der im Unionsrecht umgesetzt worden ist, fehlt für Art. 9 Abs. 3 AK eine Umsetzung im Unionsrecht. Das schließt eine völkerrechtskonforme Auslegung des Unionsrechts durch die Unionsorgane aber nicht aus.12 Anders als im Fall Janecek steht im Fall des slowakischen Braunbären allerdings nur mittelbar eine Richtlinie und deren Interpretation im Raum.13 Der EuGH wird rechtsfortbildend ­tätig.14 9  EuGH,

Rs. C-240 / 09 Lesoochranárske zoskupenie, Slg. 2011, I-1255. Abs. 3 AK lautet: „Zusätzlich und unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 genannten Überprüfungsverfahren stellt jede Vertragspartei sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen.“ 11  Zu dieser Unterscheidung für die Öffentlichkeitsbeteiligung Hendler / Wu, DVBl 2014, 78 ff. 12  Vgl. Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010, S. 286 ff. 13  Richtlinie 92 / 43 / EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl Nr. L 206 S. 7; den Drittschutz verneinend: ­BVerwGE 128, 358 (368 ff.) Mühlenberger Loch. 14  Knapper Überblick zur jüngeren Rechtsprechung: Kokott / Sobotta, DVBl 2014, 132 ff. 10  Art. 9



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a) Rechtsfortbildung ultra vires? Das Bundesverwaltungsgericht sieht sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofs gebunden. Das ließe sich nur in Frage stellen, wäre die Entscheidung zum slowakischen Braunbären ultra vires. In diese Richtung wird tatsächlich argumentiert.15 Dabei geht weniger um das Infragestellen der Verbandskompetenz, sondern um die Verteilung der Organkompetenzen. Der EuGH droht mit dem Überspielen der fehlenden Umsetzung im Sekundärrecht nicht nur ein Kompetenzproblem, sondern auch ein Demokratieproblem zu verursachen, hatte der Vorschlag der Kommission für eine Art. 9 Abs. 3 AK umsetzende Klageberechtigungsrichtlinie doch keine Zustimmung im Rat und Parlament gefunden. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, aus der wirkungsbezogenen Konzeption einer Richtlinie alle von ihr erfassten Personen mit Klagerechten vor den nationalen Gerichten auszustatten.16 Hier wird der Gerichtshof jedoch rechtsschöpferisch tätig, da in der Habitatrichtlinie, lässt man einmal die Frage nach einem Anknüpfungspunkt für vollzugsfähige Rechte beiseite, jedenfalls keine prozessualen Rechte enthalten sind. Das ist freilich nicht so revolutionär, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits zuvor entschieden, dass natürliche und juristische Personen von der Verletzung von Regeln über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Schadstoffe unmittelbar betroffen sein können, um den Erlass notwendiger Maßnahnen zu verlangen.17 Erinnert sei auch an die frühere Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, aus den materiellen Grundrechten eine prozessuale Durchsetzbarkeit herzuleiten, die über Art. 19 Abs. 4 GG hinausgeht.18 Legt man die vom Bundes-

15  Vgl. OVG Koblenz, Beschl. v. 27.2.2013 (8. Senat), NVwZ 2013, 881 (883); Schink, DÖV 2012, 622 (624 ff.); siehe auch Berkemann, DVBl 2013, 1137 (1138) „unterschwellig“. 16  Vgl. Ruffert, DVBl 1998, 69; G. Winter, NVwZ 1999, 467 (470); Gellermann, DVBl 2013, 1341 (1342); Schoch, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 27 ff. 17  EuGH, Rs. C-165 / 09 bis C-167 / 09 Stichting Natuur en Milieu u. a., Slg 2011, I-4599 Rn. 100. 18  Vgl. zu Art. 14 GG BVerfGE 49, 252 (256 f.); 49, 220 (242 f.) Sondervotum Böhmer. Einen Vorrang des grundrechtsimmanenten Rechtschutzgebotes, das einen über Art. 19 Abs. 4 GG hinausgehenden Schutz bietet, lehnt die h. M. heute ab, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 23. Diese Konsequenz zieht der EuGH für das Unionsrecht nicht. Vielmehr liegt Berkemann, DVBl 2011, 1253 (1256 f.) zufolge das Neue an der Braunbären-Entscheidung darin, dass der EuGH zur Kompetenz der Union für die Umweltpolitik „auf einem hohen Schutzniveau“ das Prozessrecht funktional dazu rechnet.

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verfassungsgericht in der Honeywell-Entscheidung19 entwickelten Kriterien für einen ultra vires Akt an, kann von einem innerstaatlichen Absehen der Rechtserheblichkeit der Braunbären-Entscheidung keine Rede sein.20 b) So weit wie möglich: Auslegungsspielräume und gerichtliche Prägung des deutschen Verwaltungsprozessrechts Dies umso mehr, weil der EuGH eine unmittelbare Wirkung des Art. 9 Abs. 3 AK ausdrücklich verneint. Der Gerichtshof hält die mitgliedstaat­ lichen Gerichte aber für verpflichtet, das nationale Recht mit Blick auf die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes im Umweltrecht so auszulegen, dass es „so weit wie möglich“ im Einklang mit den Zielen des Art. 9 Abs. 3 AK steht.21 Damit setzt er sich zur fehlenden unmittelbaren Wirkung in keinen Widerspruch, weil die Konformauslegung nicht voraussetzt, dass die Vorschrift unmittelbar anwendbar ist. Das Problem ist in diesem Zusammenhang die „Verstärkerwirkung“ des Unionsrechts, das eine Vorschrift des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht mit einer erhöhten, weil unionsrechtlichen Wirkungskraft versieht.22 Die „so weit wie möglich“ Formel des EuGH darf nicht als Einladung zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung contra legem missverstanden werden, sondern verlangt die Prüfung, inwieweit das deutsche Verwaltungsprozessrecht einer solchen Auslegung zugänglich ist.23 Ob das der Fall ist, wurde von den Verwaltungsgerichten kontrovers beurteilt.24 Soweit das Bundesverwaltungsgericht eine Klagebefugnis der Umweltverbände annimmt, wird der Einwand einer unzulässigen Rechtsfortbildung dadurch entkräftet, dass die Einräumung von Klagerechten traditionell eine Domäne der Rechtsprechung ist, mit der, wie auch die Beweglichkeit der Schutznormlehre zeigt, den Herausforderungen im „System“ begegnet wird. 19  BVerfGE

126, 286 (303 f.) Honeywell. Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 22. 21  EuGH, Rs. C-240 / 09 Lesoochranárske zoskupenie, Slg. 2011, I-1255 Rn. 52. 22  Statt vieler Rossi, in: Möllers / Voßkuhle / Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 165 (171 ff.). Wird die „Verwurzelung“ des subjektiven Rechts im nationalen Recht gesucht, könnte die Beschränkung auf die Rüge unionsrechtlich begründeter Umweltschutzvorschriften aufgegeben werden, in dieser Richtung Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 113 f. 23  Richtig Klinger, EurUP 2013, 95; ders., NVwZ 2013, 850 (851 f.). 24  Statt vieler einerseits mit dem Hinweis auf Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung OVG Koblenz, Beschl. v. 27.2.2013 (8. Senat), NVwZ 2013, 881 (883); OVG Münster, Urt. v. 12.6.2012, 8 D 38 / 08 AK Rn. 204; andererseits VGH Kassel, Beschl. v. 14.5.2012, 9 B 1918 / 11 Rn. 35; OVG Koblenz, Beschl. v. 31.1.2013 (1. Senat), NVwZ 2013, 883 (887 f.). 20  ­BVerwG,



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Das Prozessrecht ist eine durch die Gerichte geprägte Materie, was in besonderem Maße für das Umweltprozessrecht gilt.25 Ohne gesetzliche Vorgaben fällt es allerdings schwer, die Klagebefugnis dogmatisch richtig zu verorten. Knüpft man mit Art. 9 Abs. 3 AK an die Mitglieder der Öffentlichkeit an, ebnen sich die Unterschiede im Anknüpfungspunkt zwischen individuellen und „kollektiven“ Rechten ein. Der völkerrechtlichen Verpflichtung aus Art. 9 Abs. 3 AK wird weder ein ausschließlich subjektives Verständnis der Klagerechte noch eine Beschränkung der Anfechtungsbefugnis auf Umweltverbände gerecht. Würde die Verletzung eines subjektiven Rechts gefordert, blieben weite Teile des Umweltrechts einer gerichtlichen Kontrolle entzogen. Zwar muss nicht jeder Person der Zugang eröffnet sein. Zu restriktiv wären die Zugangskriterien aber formuliert, sollte darüber die Klagebefugnis aus Art. 9 Abs. 3 AK auf anerkannte Umweltverbände beschränkt werden. Jörg Berkemann spricht von einer „Notkompetenz“ der Gerichte, um den unionsrechtlichen Pflichten der innerstaatlich bislang nicht umgesetzten völkerrechtlichen Verpflichtung nachzukommen.26 2. Einpassung in das nationale Prozessrecht a) Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention als andere „gesetzliche“ Bestimmung? Worauf lässt sich die Klagebefugnis nun aber stützen? Denkbar wäre es, im deutschen Zustimmungsgesetz zur Aarhus-Konvention eine „andere gesetzliche Bestimmung“ im Sinne des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO zu sehen.27 Das erscheint gewagt, würde man dem Gesetzgeber doch unterstellen, auf den durch Art. 9 Abs. 3 AK eingeräumten Entscheidungsspielraum verzichtet zu haben. Da weder unionsrechtlich noch innerstaatlich der konven­ tionsrechtliche Ausgestaltungsvorbehalt ausgefüllt worden ist, wird die richterrechtliche Rechtsfortbildung auf die Interpretation der „Rechte“ nach Maßgabe des § 42 Abs. 2 Var.  2 VwGO verwiesen.28 Das ist durch das Umweltrechtsbehelfsgesetz nicht ausgeschlossen, weil damit der Umset25  So ist das Erfordernis der Klagebefugnis für die allgemeine Leistungsklage erst von der Rechtssprechung entwickelt worden, was den Senat einige Anstrengungen kostet, die Rücknahme der analogen Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO für Umweltverbände als Auslegung contra legem auszuweisen, vgl. ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 18. Gärditz, EurUP 2014, 39 (41) sieht darin eine paradoxe Situation. 26  Berkemann, DVBl 2013, 1137 (1148). 27  Vgl. Klinger, EurUP 2013, 95 (98); abl. Porsch, NVwZ 2013, 1393 (1395). 28  Vgl. ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 16 ff., 38 ff. Gute Gegenüberstellung der Ansätze bei Klinger, EurUP 2013, 95 (96 ff.).

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zungsverpflichtung aus Art. 11 UVP-RL nachgekommen und allenfalls Art. 9 Abs. 2 AK, nicht aber Art. 9 Abs. 3 AK in das nationale Prozessrecht „transformiert“ worden ist.29 Auf diese Weise kann die Rechtsprechung einen Konventionsverstoß vermeiden.30 Das Umsetzungsdefizit hinsichtlich der Verpflichtungen aus Art. 9 Abs. 3 AK begründet freilich keine Klagebefugnis unmittelbar aus der AarhusKonvention. Wie der Gesetzgeber den völkerrechtlichen Verpflichtungen insbesondere mit der Festlegung der Zugangskriterien für die klageberechtigten Mitglieder der Öffentlichkeit nachkommt, ist weitgehend ihm überlassen. Zwar können die Gerichte auf die begrenzte Bindungswirkung völkerrechtlicher Pflichten verweisen. Das ist im Falle der „Zwischenschaltung“ von Unionsrecht und seiner Auslegung durch den EuGH aber anders. Hier erzwingt das Urteil zum „slowakischen Braunbären“ ein Überdenken der Begründung und Begrenzung der Klagebefugnis. Entgegen anders lautenden Stimmen bietet § 42  Abs. 2 Var.  2 VwGO durchaus die Möglichkeit der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts im Lichte des Art. 9 Abs. 3 AK.31 b) Funktionale Subjektivierung: Dogmatik der „Rechte“ als bewegliches System Damit sind wir beim Kern des Arguments. Was „Rechte“ im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO sind, bestimmt sich nach der Zuweisung eines subjektiven öffentlichen Rechts durch den Gesetzgeber. Das freilich ist, wie die Schutznormlehre zeigt, ein ebenso interpretationsbedürftiger wie interpreta­ tionsfähiger Vorgang. Dabei hat das Verwaltungsgericht die unionsrecht­lichen Überformungen des materiellen und prozessualen Rechts zu beachten. Das Bundesverwaltungsgericht kann im deutschen Recht keine interpretationsfä29  Zutreffend Klinger, NVwZ 2013, 850 (852) mit dem Hinweis, dass der Bundesgesetzgeber im Rahmen der Novellierung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes nichts zu seinen Verpflichtungen aus Art. 9 Abs. 3 AK gesagt habe, aber die Auslegungsfähigkeit des nationalen Prozessrechts zur Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen andeute. 30  Gegen Deutschland ist ein Beschwerdeverfahren vor dem Aarhus Compliance Commitee anhängig, vgl. ACCC / C / 2008 / 31. Eine grundsätzliche Verneinung von Umweltverbandsklagerechten wäre unvereinbar mit der Spruchpraxis des Compliance Committee zu Art. 9 Abs. 3 AK, vgl. ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 33 f., 48; Klinger, EurUP 2013, 95 (98). 31  Dies vor dem Hintergrund der Äußerungen der ehemaligen Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer, DVBl 2013, 499 (502), wonach es „schwer zu begreifen (falle), warum der Gesetzgeber den unionsrechtlichen Anforderungen stets so betont unlustig hinterherhinkt, anstatt sie mit der Vision eines rechtlich geeinten Europas aufzunehmen und in diesem Sinne vorbildlich auszuformen“.



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hige Vorschrift erkennen, die als „andere gesetzliche Bestimmung“ die Anfechtungsbefugnis des Umweltverbands begründen könnte.32 Eine Analogie zu den §§ 2 ff. UmwRG mit der Erstreckung der dort normierten Klagerechte auf Art. 9 Abs. 3 AK sei aber nicht möglich.33 Es bleibt die „Regel“ des § 42 Abs. 2 VwGO mit der Dogmatik des subjektiven öffentlichen Rechts.34 Diese Dogmatik war und ist ein bewegliches System. Es gibt gute Gründe, dieses „System“ auf gesetzgeberische Entscheidungen zurückzuführen und auch gute Gründe, den Ausbau der Klagerechte demokratisch zu begründen: Wollen wir eine gesunde Umwelt, bedarf es nicht nur materieller Regelungen, sondern auch prozessualer Mechanismen, um den Willen des Gesetzgebers gegenüber einer „vollzugsscheuen“ Verwaltung durchzusetzen. Die Gesetzesbindung ist mehr als bloß ein Allgemeininteresse, das allein von staatlichen Stellen durchzusetzen ist. Weil das Umweltrecht als vollzugsschwach gilt, bedarf es geeigneter Mittel zu seiner Durchsetzung. Das sind nicht nur Verbandsklagerechte. Es können auch erweiterte Klagemöglichkeiten des Einzelnen sein.35 Man darf sich durch Engführungen der Dogmatik nicht irritieren lassen. Zu einfach wäre es freilich, unionsrechtlich begründete Rechtspositionen kurzerhand als „Rechte“ im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO zu begreifen, deren mögliche Verletzung die Klagebefugnis begründet. Das geht für Rechte, die durch Sekundärrecht geschaffen werden, was Umweltverbände in die Lage versetzt, durch Unionsrecht vermittelte „eigene“ Rechte vor dem Verwaltungsgericht geltend zu machen. Es geht aber nicht für solche Rechte, die wie die Klageberechtigung aus Art. 9 Abs. 3 AK vorbehaltlich einer „so weit wie möglichen“ Einpassung in das nationale Prozessrecht gewährt werden. Diese Formulierung des EuGH verweist die Verwaltungsgerichte auf die Frage nach der „Anpassungsfähigkeit“ der Dogmatik des subjektiven Rechts.36 In diesem Kontext ist die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 5.  September 2013 zu lesen. 32  Ein Gesetz im Sinne des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO setzt ein förmliches Bundes- oder Landesgesetz voraus, vgl. Gärditz, in: ders. (Hrsg.), VwGO, 2013, § 42 Rn. 109. Auch Vorschriften des Unionsrechts können eine andere gesetzliche Bestimmung sein. Ob das auch für abstrakte Prinzipien wie das Effektivitätsprinzip nach Art. 4 Abs. 3 EUV gilt, ist demgegenüber zweifelhaft. 33  ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 30 mit dem Hinweis auf das Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke; zust. Gärditz, EurUP 2014, 39 (41 f.). A. A. Klinger, NVwZ 2013, 850 (852) „Rechtsverweigerungslücke“. 34  Schmidt-Aßmann, in: GS Brugger, 2013, S. 411 (420) spricht von einem ­„dualistischen Konzept mit asymmetrischer Gewichtsverteilung“. 35  Siehe auch Schlussanträge von GAin Kokott v. 18.10.2012, Rs. C-260 / 11 Edwards, Rn. 41. 36  Eine juristisch brauchbare Theorie des subjektiven Rechts liegt nicht vor. Die Dogmatik ist sehr wirkungsmächtig, was sich, so scheint es, in deren Hinnahme nie-

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Die Schwierigkeiten, vor denen das Gericht steht, resultieren aus der Unterscheidung zwischen materiellen und prozessualen Rechten. Ein prozessuales Recht kann nur haben, wem ein materielles Recht zugewiesen ist. Es geht dem 7. Senat freilich gerade um eine „materielle Lösung“ im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben. Danach dienen subjektive Rechte nicht bloß der Verteidigung personaler Rechtsgüter vor dem Zugriff der Verwaltung. Ausdrücklich verweist das Gericht auf die im Schrifttum entwickelte Idee prokuratorischer Rechte.37 Solche Rechte, verstanden als subjektive Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO, unterlaufen die traditionelle Unterscheidung zwischen der Verbands- und der Individualklage. Denn der Individualkläger wird in den Stand versetzt, mit der Klage aggregierte Interessen Privater und öffentliche Gemeinwohlinteressen zu verfolgen. Es erfolgt keine Angleichung der Individualklage an die Verbandsklage, sondern eine Reintegration der Belange, die von der Verbandsklage geltend gemacht werden können, in die Dogmatik der Verletztenklage. Aus dem bourgois wird der citoyen, der Umweltbelange vor Gericht bringen kann.38 Sollte sich über das Konzept der funktionalen Subjektivierung eine Annäherung an die normative Interessentenklage39 durchsetzen, wäre dies keine Preisgabe des Willens des Berechtigten als Ausdruck seiner Indivi­ dualität und Personalität, geriete deshalb auch nicht in einen Konflikt mit Art. 19 Abs. 4 GG. Das subjektive Recht der Verletztenklage würde nicht aufgegeben, sondern um Elemente „öffentlicher“ Kontrolle angereichert. Es geht nicht darum, an der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft oder zwischen Hoheitsgewalt und Privatsphäre zu rütteln, wohl aber darum, derschlägt, obwohl die Kernbestandteile aus dem Kaiserreich und damit aus vordemokratischer Zeit stammen. An dieser Stelle kann nicht einmal die Richtung angegeben werden, mag es auch naheliegen, subjektive Rechte im Verwaltungsrecht stärker als demokratische Teilhaberechte zu verstehen. Zur umgekehrten Tendenz im Verfassungsrecht, das Demokratieprinzip als Strukturprinzip von subjektiven Rechten her zu erschließen: Möllers, in: FS Wahl, 2011, S. 759 ff.; Kube, in: GS Brugger, 2013, S. 571 (579 ff.). In die Nähe einer Popularklage rückt BVerfG, Beschl. v. 14.1.2014, 2 BvR 2728 / 13 OMT-Vorlage, Abs.-Nr. 25 ff. die Möglichkeit des Einzelnen, über Art. 38 Abs. 1 GG eine verfassungsgerichtliche ultra vires Kontrolle von Unionsakten zu initiieren, die nicht an die Behauptung einer „Identitätsverletzung“ geknüpft ist. 37  ­BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 46; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 225 ff.; ders., in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 7 Rn. 91 ff.; Hong, JZ 2012, 380 (383 ff.); Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009, S. 98 ff., 212 ff.; Schmidt-Aßmann, in: GS Brugger, 2013, S. 411 (414 ff.); Franzius, in: FS Kloepfer, 2013, S. 377 (380 ff.). 38  Lübbe-Wolff, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (279); Wegener, in: Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 19 (24 ff.); Hong, JZ 2012, 380 (383); abl. Gärditz, NVwZ 2014, 1 (4). 39  Siehe auch Breuer, in: FS Kloepfer, 2013, S. 315 (322 ff.).



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die Interpretation der subjektiv-rechtlichen Substanz eines Rechtssatzes zuzulassen, welche die Verbindungen und gegenseitigen Überlagerungen öffentlicher und privater Interessen im Prozess der Gemeinwohlkonkretisierung besser einzufangen vermag.40 Es bleibt freilich das Problem, kollektive Interessen durch kollektive Akteure in die Dogmatik subjektiver Rechte zu integrieren, also den Fall zu behandeln, dass öffentliche Belange nicht vom Einzelnen, sondern vom Umweltverband als verletzt gerügt werden. Kann auch dafür ein Anknüpfungspunkt in § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO gefunden werden? Und wird über die Subjektivierung des „objektiven“ Rechts die Verbandsklage letztlich überflüssig? Nach § 47 Abs. 1 BImSchG hat die Behörde, werden die Immissionsgrenzwerte überschritten, einen Luftreinhalteplan aufzustellen, der die erforderlichen Maßnahmen zur dauerhaften Verminderung von Luftverunreinigungen festlegt. Damit wird nicht bloß der Schutz der menschlichen Gesundheit bezweckt, woraus ein Klagerecht für natürliche Personen folgt, die von Immissionsgrenzwertüberschreitungen unmittelbar betroffen sind. Vielmehr dient die Vorschrift auch der Vermeidung oder Verringerung von schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt insgesamt. Als juristische Person kann der Umweltverband nicht in seiner Gesundheit betroffen sein, nach dem überlieferten Verständnis subjektiver Rechte aber auch nicht die Verletzung „allgemeiner“ Umweltinteressen rügen. Enthält das europäische Luftqualitätsrecht jedoch „prokuratorische“ Rechte, folgt daraus nicht nur eine Klageberechtigung des Einzelnen, sondern auch ein Klagerecht des Umweltverbandes. Begründet wird das in einer Zusammenschau der Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Janecek und Trianel im Lichte der Braunbären-Entscheidung.41 Der Gerichtshof sei in der Janecek-Entscheidung davon ausgegangen, dass unmittelbar betroffenen juristischen Personen in gleicher Weise wie natürlichen Personen ein Klagerecht zustehe. Das Effektivitätsprinzip gebiete es, die unionsrechtlich eingeräumte Rechtsmacht als subjektives Recht im Sinne des § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO zu verstehen.42 In der Trianel-Entscheidung habe der EuGH für dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte den Umweltverbänden einen weiten Zugang zum Gericht eingeräumt, was er damit begründet habe, dass der Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenen Rechte gewährleistet sein müsse. Hiervon ausgehend erstreckt das Bundesverwal40  Schmidt-Aßmann,

Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 114 f. Urt. v. 5.9.2013, 7 C 21 / 12 Rn. 40 ff. 42  Für systematisch präziser hält Gärditz, EurUP 2014, 39 (43) die Bezugnahme auf Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Zur Herleitung subjektiver Rechte aus dem Effektivitätsprinzip (Art. 4 Abs. 3 EUV) Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rn. 43 f. 41  ­BVerwG,

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tungsgericht die Klagerechte aus der Janecek-Entscheidung auf Umweltverbände. Deren Klagerecht folgt nicht aus der Befugnis, ausnahmsweise die Verletzung „objektiven“ Rechts zu rügen, sondern aus der Regel „subjektiver“ Rechte, die § 47 Abs. 1 BImSchG auf die Wahrung von klagbaren Gemeinwohlbelangen ausgerichtet hat. Das Gericht spürt, dass ein Tor für weitere Modifikationen der überkommenen Schutznormlehre geöffnet wird. Allerdings stehen weder ein allgemeiner Normvollziehungsanspruch noch die Popularklage im Raum. Probleme entstehen beim Begriff der Öffentlichkeit.43 Anders als natürliche Personen können Umweltverbände dem Gericht zufolge nur Träger von materiellen subjektiven Rechten sein, wenn sie Teil der „betroffenen“ Öffentlichkeit sind. Das ist plausibel, wird der Unterscheidung in Art. 9 AK aber nicht gerecht: Art. 9 Abs. 3 AK adressiert anders als Art. 9 Abs. 2 AK nicht die betroffene, sondern die „allgemeine“ Öffentlichkeit, dürfte damit jedoch nur zum Ausdruck bringen, dass auch Einzelne sich auf materielle gemeinwohlbezogene Rechte berufen können und zugleich verhindern, dass über das behördliche Anerkennungserfordernis hinausgehende Anforderungen an die Klagebefugnis von Verbänden gestellt werden.44 Maßgeblich ist das materielle Recht, das in § 47 Abs. 1 BImSchG nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem Umweltverband das Recht einräumt, die Einhaltung der zwingenden Vorschriften des Luftqualitätsrechts zu verlangen. Der Sache nach ist Art. 9 Abs. 3 AK nicht unmittelbar anwendbar. Die Vorschrift erlaubt es aber, die Figur des subjektiven Rechts zu überdenken. Das ist eine Aufgabe der Rechtsprechung, die dafür keiner expliziten Ermächtigung durch den Gesetzgeber bedarf. Die Gerichte werden nicht an Stelle des Gesetzgebers tätig oder greifen diesem vor, sondern verarbeiten im Rahmen der Dogmatik der Verletztenklage den durch die Aarhus-Konvention und das Unionsrecht ausgelösten Anpassungsdruck auf das Prozessrecht.45 Das Bundesverwaltungsgericht zeigt, dass dem Braunbären-Urteil 43  Für eine Unterscheidung zwischen politischer Verfahrensöffentlichkeit und rechtlicher Klageöffentlichkeit Gärditz, NVwZ 2014, 1 (4). 44  Das Gericht ist an dieser Stelle unklar. § 42 Abs. 2 VwGO setzt die Rechtsfähigkeit voraus, was für den Umweltverband bedeutet, dass er als juristische Person organisiert ist. Maßgeblich dürfte für die Klagebefugnis nach dem Öffentlichkeitsbegriff in Art. 2 Nr. 4 AK jedoch allein die behördliche Anerkennung im Sinne des § 3 Abs. 1 UmwRG sein, vgl. Bunge, ZUR 2014, 3 (6); Schlacke, NVwZ 2014, 11 (13). 45  Warum die Gerichte zur Verarbeitung der europarechtlichen Impulse nur bedingt in der Lage sein sollen, erschließt sich entgegen Schlacke, NVwZ 2014, 11 (18) nicht. Dass die Integrität des Unionsrechts auf deren Anerkennung und Fortentwicklung durch die nationalen Gerichte angewiesen ist, kann nicht bezweifelt werden. Deshalb liegt der Schlüssel zur unionsrechtskonformen Justierung des Verwaltungsrechtsschutzes nicht in § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO, sondern in § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO.



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des EuGH mangels gesetzlicher Vorbehalts- oder Öffnungsvorschrift nicht im Rahmen allein prozessualer Rechte nach § 42 Abs. 2 Var.  1 VwGO entsprochen werden kann, wohl aber eine Auslegung materieller Rechte im Lichte der konventions- und unionsrechtlich normierten Gemeinwohlanforderungen möglich ist, die prozessual nach § 42  Abs. 2 Var. 2 VwGO zur Klage berechtigen. Dadurch werden die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht überschritten.

IV. Zwei „Baustellen“ der Klagebefugnis 1. Kollektiver Rechtsschutz: Erfordernis gesetzgeberischer Entscheidung Das deutsche Verwaltungsrecht kennt die Umweltverbandsklage als Teil des überindividuellen oder kollektiven Rechtsschutzes, dem eine unabhängig vom Vorliegen eines subjektiven Rechts prozessuale Klageberechtigung zugrundeliegt. § 42 Abs. 2 VwGO fordert dafür eine gesetzgeberische Entscheidung, die mit § 64 BNatSchG oder § 2 UmwRG auch vorliegt. Der Gesetzgeber legitimiert die Ausnahmen von der Regel.46 Mit dieser Legitimation geht aber eine Abschirmung des überkommenen Ansatzes subjektiver Rechte einher, der nach der Logik der Verbandsklage als besonders gerechtfertigter Form „kollektiver“ Klagerechte bestehen bleiben kann. Es entsteht eine Sonderdogmatik der Verbandsklage, der man mit einer Kodifizierung im Rahmen der Verwaltungsgerichtsordnung begegnen könnte, die aber auch Fragen nach der Legitimation gerichtlicher Entscheidungen aufwirft. Auf der einen Seite haben wir notorische Vollzugsdefizite und auf der anderen Seite das Erfordernis subjektiver Rechte, die es ausschließen, dass 46  Für die Verantwortung des Gesetzgebers OVG Koblenz, Beschl. v. 27.2.2013 (8. Senat), NVwZ 2013, 881 (883) unter Rückgriff auf BVerfGE 132, 195 ESM- und Fiskalvertrag; anders aber BVerfG, Beschl. v. 14.1.2014, 2 BvR 2728 / 13 OMTVorlage, Abs.-Nr. 33 ff. Den Vorteil der „Gerichtslösung“ kann man darin sehen, dass weniger punktuell neue Rechte geschaffen als vielmehr bestehende Rechte neu interpretiert werden. Das hindert den Gesetzgeber nicht, daneben isolierte Klagerechte einzuführen, dies gegebenenfalls sogar zu müssen. Eine Subsidiarität besteht nicht, weil es gerade im Umweltrecht (wie z. B. im Artenschutz) nicht individualisierbare Rechtspositionen gibt, die sich einer Funktionalisierung entziehen. Dafür bleibt schon aus Gründen der Rechtsklarheit die Verbandsklage alter Prägung unverzichtbar. Hier greift aber der prozessrechtliche Gesetzesvorbehalt des § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO. Für einen Vorrang der Rechtsbehelfe aus § 2 Abs. 1 UmwRG und § 64 BNatSchG gegenüber der neuen Rechtsbehelfsmöglicheit aus § 42 Abs. 2 VwGO Bunge, ZUR 2014, 3 (12).

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öffentliche Umweltinteressen vor Gericht gebracht werden können: Das ist die Matrix der Umweltverbandsklage als prozessualer Sonderform. Ein solches Sonderregime des Umweltrechtsschutzes mag begrüßt werden, zumal empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbandsklagen keineswegs immer zu Verzögerungen bei der Zulassung von Industrieanlagen führen, eine relativ hohe Erfolgsquote aufweisen und die Behörden anhalten, auch nicht drittschützende Vorschriften mit der gebotenen Sorgfalt anzuwenden. Sie stellt den Individualrechtsschutz nicht in Frage, sondern hilft Lücken zu schließen, die bei der Durchsetzung des Umweltrechts infolge der subjektivrechtlichen Beschränkungen der Individualklage entstehen. Indem auch das objektive Umweltrecht einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen wird, erhöhen sich die Chancen auf eine Verringerung von Vollzugsdefiziten, für die nach der Filterfunktion der Klagebefugnis im überlieferten Modell „mate­ rieller“ Rechte keine Individualkläger zu finden sind. Die Effektuierung des Umweltrechtsschutzes durch die Verbandsklage hat eine demokratische Funktion für die Durchsetzung von Gesetzen.47 Aber stimmt das? Am Ende steht eine gerichtliche Entscheidung, die ihrerseits legitimationsbedürftig ist. Das ist ein Problem, das für internationale Gerichte inzwischen breiter diskutiert wird.48 Könnte es auch eine Grenze für Rechtsfortbildungen nationaler Gerichte markieren? Der bloße ­Umstand, dass es ein staatliches Gericht ist, befreit nicht von der Legiti­ mationsfrage. So mehren sich die Stimmen, die in nationalen Verfas­sungs­ ge­rich­ten weder „Störer“ des politischen Prozesses noch allein „Hüter“ der Individualrechte sehen, sondern als „Orte“ demokratischer Reflexion begreifen wollen.49 Ob das auch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten kann, ist demgegenüber unsicher. Diese dürften sich eher dadurch legitimieren, dass ein Konflikt entschieden wird, der von den Parteien vor das Gericht gebracht wird. Verwaltungsgerichte legitimieren sich durch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, aber weniger dadurch, dass einer Entscheidung des Gesetzgebers zur Durchsetzung verholfen wird. Kurz: Gerichte „leben“ von individueller Legitimation, aber weniger von kollektiver Legitimation, die 47  Vgl. Wegener, in: Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 19 ff.; Franzius, NuR  2009, 384 (386); differenzierend T.  Groß, Die Verwaltung 43 (2010), S. 349 (371) „Effektuierung demokratischer Herrschaft“. A. A. Nettesheim, AöR 132 (2007), S. 333 (356), demzufolge die überlieferte Schutznormlehre „auf guten demokratisch-funktionalen Gründen“ beruhe. 48  Vgl. v. Bogdandy / Venzke, In wessen Namen?, 2014, S. 136 ff., 291 f.; Fran­zius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, S. 79 ff., 230 ff.; Albers, VVDStRL 71 (2012), S. 257 ff. 49  Vgl. Volkmann, in: FS Bryde, 2013, S. 119 (134 ff.). Zu den Grenzen des nach Maßgabe des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips gerichtlich Entscheidbaren BVerfG, Beschl. v. 14.1.2014, 2  BvR 2728 / 13 OMT-Vorlage, Sondervotum LübbeWolff.



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politisch verantworteten Entscheidungen vorbehalten bleibt.50 Das mahnt zur Zurückhaltung in der Schaffung „überindividueller“ Rechtsbehelfe, da ihre Begründetheit mit Wirkungen auf Personen versehen ist, die im gerichtlichen Verfahren nicht beteiligt waren. 2. Individueller Rechtsschutz: Subjektive Rechte „in der Hand“ der Gerichte Wird das subjektive Recht demgegenüber auch auf die Durchsetzung von Allgemeininteressen bezogen, hätte dies den Vorteil, ohne Ausnahmeregelung des Gesetzgebers in der Praxis der Norminterpreten relevant zu werden. Statt alle Hoffnungen in die Verbandsklage zu investieren und diese von der Regel abzuschirmen, könnten im System der verwaltungsprozessua­ len Verletztenklage die Interessen der Betroffenen am Schutz von Allge­ meininteressen als subjektive Rechte anerkannt werden. Dafür mag die tatsächliche Betroffenheit nicht ausreichen. Aber die Beschränkung auf personale Rechtsgüter wäre vor dem Hintergrund des weitergehenden Verständnisses, wie es individuellen Rechten im Unionsrecht zugesprochen wird, zu hinterfragen. Subjektive Rechte umfassen dann prinzipiell auch solche Rechte, die das Interesse der Einzelnen an der Wahrnehmung öffentlicher Interessen anerkennen und sie zu deren Durchsetzung ermächtigen. Trotz aller Hindernisse, die einer solchen Anpassung der Dogmatik im Weg stehen, hat die materielle Lösung, wie sie auch dem Anspruch nach § 3 UIG zugrunde liegt, gewisse Vorzüge gegenüber der lediglich Rechte auf Rechtsschutz normierenden prozessualen Lösung. Sie vermeidet, dass subjektiver Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle gegeneinander ausgespielt werden. Im Modell der Verletztenklage heißt das: Es liegen „materialisierte“ subjektive Rechte vor, die auf die Einhaltung der jeweiligen Norm gerichtet sind.51 50  Näher Möllers, in: Geis / Nullmeier / Daase (Hrsg.), Der Aufstieg der Legitimitätspolitik, Leviathan Sonderband 27, 2012, S. 398 ff.; daran anschließend Gärditz, Die Verwaltung 46 (2013), S. 257 (264 f.) mit der nicht von der Hand zu weisenden Ironie: „Indem objektive Kontrollverfahren ohne individuelle Legitimation auskommen müssen und allein mit einer optimierten Durchsetzung der demokratischen Gesetzesbindung begründet werden, entsprechen sie eher einem legalistischen Justizmodell, wie es traditionell in Deutschland gepflegt wird, und nicht einem institutionell-prozeduralen Verständnis der Rechtsgewinnung im Verfahren, das oft schematisch dem Unionsrecht untergeschoben wird“ (Nachweise weggelassen). 51  Die von Hong, JZ 2012, 380 (388) kritisierte „rechtsdogmatische Denksperre“ macht auch das Resümee von Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1238) deutlich, wonach die Umweltverbandsklage eine sympathische, aber systematisch fremde Figur sei. Zu eng unter Verkennung der auch die Einzelnen erfassenden Rechtsschutzklausel des Art. 9 Abs. 3 AK Schlacke, NVwZ 2014, 11 (15) mit der Be-

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Diesem Modell scheint das Bundesverwaltungsgericht nun für die Einklagbarkeit von Luftreinhalteplänen zu folgen. Subjektive Rechte bleiben „in der Hand“ der Gerichte und ihrer Interpretation. Es findet eine System­ erweiterung, aber keine „Systemüberwindung“ statt.52 Dieses Modell wirkt in der Breite, indem die Norminterpretation verändert wird. An die Stelle punktueller Modifikationen tritt ein europarechtlich angeleitetes Verständnis subjektiver Rechte, das weder die Schutznormlehre gänzlich verabschieden noch den individuellen Ansatz aufgeben muss, die objektive Rechtskontrolle aber stärker in den subjektiven Rechtsschutz integriert.53 Nimmt man das Bundesverwaltungsgericht beim Wort, kann die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO nicht mehr für die Rechte Einzelner reserviert werden. Zu den personell Berechtigten können auch die Umweltverbände gehören, deren prozessuale Rechtsstellung aufgrund der Sonderregelungen wie § 64 BNatSchG oder § 2 UmwRG bislang in § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO verortet wurde. Diese Erweiterung ist für die altruistische Verbandsklage zumindest ungewöhnlich und nur denkbar, wenn auf eine „materielle“ Lösung abgestellt wird. Erklärbar ist diese Rechtsfortbildung vor dem Hintergrund der europarechtlichen Überformungen des nationalen Prozessrechts. Zwar wird dem EuGH in der Handhabung des Effektivitätsprinzips54 immer wieder vorgeworfen, die Grenzen der Rechtsfortbildung zu überschreiten. Auf der anderen Seite ist jedoch zu bedenken, dass der Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts auf „Systemintegration“ zielt.55 Das Gericht mag mit dem Urteil zur Einklagbarkeit von Luftreinhalteplänen durch Umweltverbände bei der schränkung der Erweiterung auf behördlich anerkannte Verbände. Eine solche Beschränkung hat der Gesetzgeber durch Zugangskriterien bislang nicht angeordnet. 52  Siehe auch Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009, S. 330. 53  Krit. Frenz, UPR 2014, 1 (2) mit der Befürchtung, dass die weiteren Rechte der Umweltverbände über das subjektive Recht praktisch auf einen Minimalstandard zurückgestutzt werde. Das ist nach der prokuratorischen Lesart subjektiver Rechte aber gerade nicht der Fall. Gegen eine Brückenfunktion der Verbandsklage, lediglich subjektive Individualrechte treuhänderisch geltend machen zu können: Bunge, ZUR 2014, 3 (7 f.) mit dem Hinweis auf EuGH, Rs. C-115 / 09 BUND / Bezirksregierung Arnsberg, Slg 2011, I-3673 Rn. 46. 54  Überblick: Franzius, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum EUV / AEUV, im Erscheinen, Art. 4 EUV Rn. 110 ff. 55  Für das Festhalten an isolierten Klageberechtigungen im Sinne des § 42 Abs. 2 Var.  1 VwGO durch  den Gesetzgeber und gegen eine „peu-à-peu Anerkennung von zur Klage berechtigenden unionalen Rechten“ aber Schlacke, NVwZ 2014, 11 (16 f.). Die angemahnte Abgrenzung läuft mit der Ergänzung des Verletztenklagemodells um „prokuratorische“ Rechte aber nicht leer und erlaubt de constitutione lata ein öffentliche Gemeinwohlbelange umfassendes Verständnis nationaler Rechte durch die Gerichte, wie hier Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 114 f.; abl. Lau, NVwZ 2014, 637 (639 f.).



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Bestimmung der Klagebefugnis an Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung gestoßen sein. Überschritten sind diese Grenzen aber nicht. Eine überlieferte Dogmatik kann nicht allein deshalb, weil sie praktiziert wird, eine methodische oder verfassungsrechtliche Grenze darstellen. Nicht die Dogmatik, sondern das Recht bildet den Maßstab für die Frage, ob die Grenzen der Rechtsfortbildung überschritten sind.56 Veränderungen der im Grunde nur noch in Deutschland und Österreich praktizierten Dogmatik subjektiver Rechte sind dann eher in der „Ermöglichungsfunktion“ einer gemeinsamen europäischen Kontrollpraxis zu begrüßen statt als Lockerung der tradierten Begrenzungen des Gerichtszugangs zu kritisieren, um dann nolens volens in ein prozessuales Sonderregime der Umweltverbandsklage flüchten zu müssen.

V. Ausblick Zusammengefasst: Das Bundesverwaltungsgericht sieht ein subjektives Recht in der prokuratorischen Rechtsmacht, auch das öffentliche Interesse am Schutz der Umwelt zu einem eigenen Interesse zu machen. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung formuliert das Gericht im Hinblick auf die Frage, neue Klagerechte ohne materielle Abstützung auf § 42 Abs. 2 Var. 1 VwGO zu schaffen. Insoweit stellt der prozessuale Gesetzesvorbehalt eine Grenze dar, die von den Gerichten nicht überspielt werden darf. Aber bei den materiellen Rechten, die prozessuale Rechte „im System“ des § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO schaffen, scheint das „interpretatorisch zulässige Entwicklungspotential noch nicht ausgeschöpft“57 zu sein. Hier bietet es sich an, das materielle Recht daraufhin zu untersuchen, ob es den Betroffenen „prokuratorische Rechte“ auf dessen Durchsetzung einräumt. Ist das der Fall, kann auch ein Umweltverband klagebefugt sein. Es ist nicht zu leugnen, dass dieser Weg folgenreich ist.58 Das betrifft zum einen die Eingrenzung des Klägerkreises, der schon nach der tradierten Schutznormlehre unscharf ist, aber mit der Erstreckung der Klagebefugnis 56  Zu Verschiebungen der Perspektive Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 15 ff. Die Rechtsgewinnung kann allerdings entgegen Jestaedt, JZ 2014, 1 (10) nicht mehr so „national“ verstanden werden, wie eine „introvertierte“ Kritik an Dogmatik glauben mag: Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, S. 57 ff. 57  Schoch, VBlBW 2013, 361 (365). 58  Das Zivilprozessrecht hat ebenfalls mit öffentlichen Interessen eines „private law enforcement“ zu tun. Aber hier erscheinen die kollektiven Rechtsbehelfe „nicht als Aliud zum Individualrechtsschutz, sondern eher als dessen Fortzeichnung, für die keine besonderen Rechtfertigungsbedürfnisse erfüllt sein“ müssen: Schmidt-Aßmann, in: GS Brugger, 2013, S. 411 (426 f.).

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auf aggregierte Interessen Privater in der rechtsgutbezogenen Betroffenheit erweitert wird und nach der vom Bundesverwaltungsgericht geteilten Lesart auch „allgemeine“ Gemeinwohlinteressen umfassen kann. Das wirft die Frage nach dem personellen Substrat auf.59 Zum anderen fragt sich, ob die im europäischen Vergleich traditionell hohe Kontrolldichte in der gericht­ lichen Überprüfung behördlicher Entscheidungen aufrechterhalten werden kann. Dem kann hier nicht nachgegangen werden.60 Es spricht einiges dafür, die Erweiterung der Klagebefugnis nicht zum Anlass zu nehmen, die Kontrolltiefe einzuschränken. Ob das in gleicher Weise auch für die Optimierung des Verfahrensrechtsschutzes gilt, ist damit nicht gesagt. Ein konsequenter Verfahrensrechtsschutz dürfte, sollte die europäische Entwicklung weiter in diese Richtung laufen, zu Abstrichen in der Inhaltskontrolle führen können. Das stößt in der Praxis der Verwaltungsgerichte bislang auf wenig Gegenliebe. Grob gesagt: Von Hegel mit der auf ihn zurückgehenden Klaglosstellung des Allgemeininteresses hat man sich distanziert. Zu Kant mit einer „Privilegierung“ des Individualinteresses ist man aber nicht durchgedrungen.61 Der Umweltrechtsschutz bleibt ein Prüfstein der Gesamtrechtsordnung, die sich als verschränkt und pluralisiert, aber als fähig erweist, die Autonomie der Teilrechtsordnungen in ihren wechselseitigen Bindungen zu bewahren und damit auch dem Rechtsschutz im Umweltrecht einen Dienst zu erweisen.

59  Gärditz, EurUP 2014, 39 (44) sieht darin eine „Belastungsgrenze“ des Modells und spricht sich dort, wo auch nach dem erweiterten Modell kein Individualrechtsschutz zur Verfügung steht, für die unmittelbare Anwendung des Art. 9 Abs. 3 AK bezogen auf Umweltverbände aus. Das ist nach hiesiger Lesart nicht möglich. Erforderlich ist für die Aktivierung des Art. 9 Abs. 3 AK eine Entscheidung des Gesetzgebers. Solange eine solche Ermächtigung nicht vorliegt, ist der Weg des Bundesverwaltungsgerichts über § 42 Abs. 2 Var. 2 VwGO vorzugswürdig, mag damit auch noch nicht gesagt sein, wann eine Norm den Kläger mit prokuratorischer Rechtsmacht ausstattet. Das aber ist schon mit der traditionellen Schutznormlehre für das subjektive Recht kaum verlässlich zu sagen. 60  Vgl. Wahl, in: Kluth / Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2009, S. 53 (55 ff.); Berkemann, in diesem Band S. 16 ff. 61  Zur kommunitaristischen Deutung des „funktionalen subjektiven Rechts“ Krüper, in diesem Band, S. 184 f.

Neudefinition des „subjektiven öffentlichen Rechts“ – der citoyen als umweltdienender Kläger? Von Julian Krüper

I. Ewig, klassisch, aktuell – Die Frage nach dem subjektiven öffentlichen Recht 1. Historizität der Debatte Nichts, so schreibt Georg Jellinek 1904 in seinem nach wie vor grundlegenden Werk über das System subjektiver öffentlicher Rechte, sei so ungewiss, wie der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts selbst.1 Dabei schaut Jellinek wissenschaftsgeschichtlich betrachtet erst auf wenige Jahrzehnte der akademischen Auseinandersetzung mit dem Konstrukt zurück, über das heute noch immer leidenschaftlich gestritten wird. Schon 1852 etwa trat der spätere königlich-sächsische Kultusminister und bedeutende Zivilist Carl Friedrich Gerber mit einer schmalen Schrift „Ueber öffentliche Rechte“ an die akademische Öffentlichkeit – und schrieb damit über eine Rechtskategorie, deren Existenz der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war. Vielmehr schien die Idee eines subjektiv-öffentlichen Individualrechts aus vielerlei Gründen suspekt. Zu diesen zählte wesentlich, dass Rechte gegen den Staat konzeptionell zunächst einmal überhaupt einen als Rechtspersönlichkeit konstruierten Staat voraussetzten,2 was der Rechtswissenschaft in enger Anlehnung an Friedrich Carl von Savignys Rechtspersönlichkeitstheorie eben erst zu dieser Zeit zu begründen gelang.3 In weiter Ferne war da noch die Vorstellung Hans Kelsens, der im Staat nachgerade nichts anderes sah als die Rechtsordnung an sich.4 Es nimmt also nicht Wunder, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein die

1  Jellinek,

System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 5. Geschichte der Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, S. 48; Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1973, S. 185. 3  Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 55 ff.; Koschorke / Lüdemann, Der fiktive Staat, 2007, S. 319 ff. 4  Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe 2008, (1934) Rn. 118. 2  Bauer,

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Berechtigung subjektiver öffentlicher Rechte – gegen Gerber5, Jellinek6, Bühler7 und andere – bestritten wurde.8 Nimmt man die historisch noch kurze Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts im modernen Sinne in den Blick, dann erscheint die Frage nach dem subjektiven öffentlichen Recht als eine gleichsam ewige, immer präsente. Sie ist darüber hinaus aber auch, und das begründet ihren akademischen wie praktischen Dauerbrennerstatus, eine klassische Frage des Öffentlichen Rechts,9 weil sie eine Frage ersten Ranges ist: Sie fragt nach nichts weniger als nach der inneren Struktur des Öffentlichen Rechts selbst, in der das subjektive öffentliche Recht heute ein (problembehafteter) Schlüsselbegriff ist. Subjektivität und Objektivität des Rechts sind seit jeher grundlegende Strukturmerkmale der Rechtsordnung,10 Individualität und Kollektivität die dahinter stehenden Ordnungskonzepte. Ob und wie diese Kategorien auch solche des Öffent­ lichen Rechts sind, ob und wie sie insbesondere auch den öffentlich-rechtlichen Rechtsschutz prägen, all dies steht im Zentrum der Debatte um die Identität des Öffentlichen Rechts. Und es führt schließlich auch zur Aktua­ lität der Frage nach dem Status, der Struktur und dem Gegenstand subjektiver öffentlicher Rechte. Wiewohl wir Bornhaks Verdikt: „Denn subjektive Rechte des einzelnen gegenüber der allbeherrschenden Staatsgewalt, die von ihm nicht rechtlich nicht gebunden werden kann, sind unmöglich (…)“11 hinter uns gelassen haben, subjektive öffentliche Rechte im Verfassungsstaat des Grundgesetzes also nicht mehr in Frage stehen, ist nicht bloß im Detail doch manches unklar. War es vor Jahren und Jahrzehnten noch die naturschutzrechtliche Verbandsklage,12 sind es heute Rechtsschutzfragen der 5  Gerber,

Ueber öffentliche Rechte, 1852 (Nachdruck), 1913. Besprechung von Bühler, Ottmar, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, AöR 32 (1914), 580 ff. 7  Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der Verwaltungsrechtsrechtsprechung, 1914. 8  Etwa bei Bornhak, Grundriß des Verwaltungsrechts in Preußen und im deutschen Reiche, 9. Aufl. 1928, S. 99. 9  Vgl. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 29 ff., 93 ff., der die Rechtsschutzfrage (die im Kern wesentlich eine solche nach dem Status des subjektiven Rechts ist), als eine klassische Materie des Verwaltungsrechts wertet. 10  Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 8 ff. 11  Bornhak (Fn. 8). 12  s. etwa Erbguth / Schlacke, Umweltrecht, 5. Aufl. 2013, § 6 Rn. 15; Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2009, S. 161 ff.; Seibert, Verbandsklagen im Umweltrecht, NVwZ 2013, 1040 ff.; Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 5 Rn. 24 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 8 Rn. 33 ff.; Rehbinder, Argumente für die Verbandsklage im Umweltrecht, ZRP 1976, 157 ff.; Bender, Von der Verbandsbeteiligung zur Verbandsklage?, in: Bachof (Hg.), FS ­BVerwG, 1978, S. 37 ff.; Gassner, Anfechtungsrechte Dritter und „Schutzgesetze“, DÖV 1981, 615 ff.; Koch, Die Verbandsklage im Umweltrecht, NVwZ 2007, 369 ff. 6  Jellinek,



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Aarhus-Konvention und des Umweltrechtsbehelfsgesetzes,13 slowakische Braunbären,14 Lünener Kohlekraftwerke15 und Luftreinhaltepläne16, die die Diskussion über subjektive öffentliche Rechte in Atem halten. 2. Das subjektive öffentliche Recht zwischen Dogmatiküberschuss und Theoriedefizit Kennzeichnend für die Diskussion ist ein Überschuss an Dogmatik bei einem gleichzeitigen Defizit an theoretischer Rahmung. Claudio Fran­zius hat darauf hingewiesen, dass es eine anerkannte, gefestigte Theorie des subjektiven Rechts, und das muss vor allem heißen: eine verfassungsstaatlich radizierte Theorie des subjektiven Rechts, nach wie vor nicht gibt17, sie ist ein Reflexionsdefizit.18 Nun ist das Problem der Abgrenzung von Theorie und Dogmatik in Bezug auf Probleme des geltenden Rechts ein notorisches.19 Das hat wesentlich etwas mit der Abstraktion des Rechts und des Rechtsbegriffs als den Gegenständen der Betrachtung zu tun. Wo Dogmatik aufhört und Theorie anfängt, ist kaum je sicher zu sagen. Zudem hat auf praktische Relevanz angelegte Theorie früher oder später stets ihre dogmatischen Konsequenzen im Blick. Dogmatik, die sich als Entwicklung eines Bestandes von Regel13  Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Recht, 2012, Rn. 448; Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2009, S. 279 ff. 14  Vgl. EuGH (Große Kammer), Urt.  v. 8. 3. 2011  − C-240 / 09 = NVwZ 2011, 673 ff.; Berkemann, Der slowakische Braunbär im deutschen Prozessrecht – Eine Analyse von EuGHE 2011 I-1255, DVBl. 2013, 1137 ff.; Schink, Der slowakische Braunbär und der deutsche Verwaltungsprozess, DÖV 2012, 622 ff.; Frenz, Notwendige Unterscheidung von Umweltverbands- und Individualklage, UPR 2014, 1 ff. 15  EuGH, Urt. v. 12. 5. 2011 − C-115 / 09 = NVwZ 2011, 801 ff., m. Anm. Schlacke = NJW 2011, 2779 ff.; OVG Münster, Urt. v. 1. 12. 2011 – 8 D 58 / 08.AK = ZUR 2012, 372 ff.; Frenz, Umweltverbandsklage und Präklusion, NUR 2012, 619 ff. 16  ­BVerwG, Urt. vom 5. 9. 2013 – 7 C 21 / 12 = ZUR 2014, 52 ff.; Sparwasser / Engel, Aktionspläne des Luftreinhalte- und Lärmschutzrechts im Spannungsfeld zwischen deutschem und europäischem Recht, NVwZ 2010, 1513 ff.; Sparwasser, Luftqualitätsplanung zur Einhaltung der EU-Grenzwerte – Vollzugsdefizite und ihre Rechtsfolgen, NVwZ 2006, 369 ff.; Hansmann, in: Landmann / Rohmer (Hg.), Umweltrecht, 70. EL 2013, § 47 BImSchG, Rn. 29e f.; Cancik, Europäische Luftreinhalteplanung – zur zweiten Phase der Implementation, ZUR 2011, 283 ff. 17  Beitrag in diesem Band, S. 145 ff. (153, Fn. 36). 18  I. S. v. Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft (Die Verwaltung Beiheft 7), 2007, 49 (53 ff.). 19  s. etwa die Beiträge in Kirchhof / Magen / Schneider (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2012.

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anwendungsregeln versteht,20 hat außerdem ihrerseits notwendig eine abstrahierende und wenn man so will auch eine theoretisierende Perspektive. Und doch will die Diskussion um das subjektive öffentliche Recht sich zu einer geschlossenen Theorie nicht fügen. Die Diskussion um das subjektive öffentliche Recht, um den subjektiven Rechtsschutz schlechthin, ist im Zivilrecht wie im öffentlichen Recht einzustellen in den Rahmen einer allgemeineren Theorie des gerichtlichen Verfahrens, sie ist Teil einer allgemeinen Prozessrechtslehre, die insbesondere auch eine Lehre der prozessualen Zwecke sein muss.21 In diesem Sinne sind die Debatten um subjektiven und objektiven Rechtsschutz auch solche um Gewaltenteilung und Gewaltengliederung. Indes sind Prozessrechtslehren seit geraumer Zeit nicht gerade populär, ihre große Zeit lag im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Auf dem damals grundgelegten Verständnis gründet bis heute das dogmatische Gebäude des geltenden Prozessrechts. Dieses hat seither allerdings nicht allein im Öffentlichen Recht An- und Ausbauten erfahren; sei es, dass das europäische Recht dies verlangt,22 sei es, dass etwa evidente Defizite der Rechtsanwendung durch die Einführung altruistischer Verbandsklagen gelindert werden sollten.23 Diese An- und Ausbauten des Rechtsschutzsystems, die fortschreitende Subjektivierung des Verwaltungsrechts, die wesentlich auch seine Konstitutionalisierung ist, lässt die tradierten Fundamente der überkommenen Prozessrechtslehren rissig werden und nach einer neuen Vermessung der Welt des öffentlichen Rechtsschutzes rufen. Dies mag angesichts der nicht wenigen großen und zahllosen mittleren und kleineren Beiträge, die die deutsche Rechtswissenschaft zum subjektiven öffentlichen Recht produziert hat, erstaunlich scheinen. Insofern bedarf die Forderung einer Präzisierung. Notwendig war die Auseinandersetzung um das subjektive öffentliche Recht immer auch eine theoretische, weil der Begriff des Rechts, und der des subjektiven Rechts allemal, Kategorien der Allgemeinen Rechtslehre24 anspricht und an sich eben kein Spezifikum privat- oder öffentlich-recht­ licher Bereichsdogmatiken ist. Und so sind die Auseinandersetzungen mit 20  Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 39 ff.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 15 ff. 21  Brehm in: Stein / Jonas (Hg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung – Band 1, 23. Aufl. 2014, Einl. Rn. 5 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 2012, § 21; Gaul, Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 168 (1968), 27 ff.; ders., Der Zweck des Prozesses – ein anhaltend aktuelles Thema, in: Yildirim (Hg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, 68 ff. 22  Siegel (Fn. 13), Rn. 416 ff. 23  Krüper, Gemeinwohl im Prozess, 2009, S. 160 m. w. N. 24  Statt vieler Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 353 ff.



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dem subjektiven Recht durch August Thon25, Carl Friedrich Gerber oder Othmar Bühler immer auch theoretische Begriffsbestimmungen gewesen. Wenn hier also die These aufgestellt wird, die Debatte um das subjektive Recht leide unter einem Theoriedefizit und einem Dogmatiküberschuss, so liegt das darin begründet, dass der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts selbst zwar Gegenstand eingehender Reflexion war und ist, diese Debatten vor allem in der Bundesrepublik aber schwerpunktmäßig aus Anlass notwendiger dogmatischer Verarbeitung untergründiger Funktionsverschiebungen öffentlicher Rechte kreisten. Ein ganz wesentlicher Faktor dieser Funktionsverschiebungen war die Umstellung von einem monarchischen Exekutivstaat auf eine verfassungsstaatlich-republikanische Demokratie. Dabei wurde, um mit Hans Kelsen zu sprechen, nichts weniger als die Grundnorm der Staatlichkeit ausgetauscht.26 Die Debatten um die Dogmatik des subjektiven öffentlichen Rechts blieben davon aber doch merkwürdig unberührt. Die Plattentektonik des subjektiven Rechtsschutzssystems ist in der Folge instabil geworden und hat sich von ihren tradierten Grundlagen zum Teil abgelöst und zu Verwerfungen geführt, um deren Verarbeitung gerungen wird. Gerade in Ansehung des Rechtsschutzes im Umweltrecht ist die Frage nach dem subjektiven Recht aber sinnvoll nicht zuerst als dogmatische, sondern als theoretische Frage zu stellen. Verschiedene Anknüpfungspunkte für eine stärkere Theoretisierung subjektiver öffentlicher Rechte kommen dabei in Betracht. Neben im engeren Sinne rechtstheoretischen Strukturanalysen subjektiver Rechte kommt im Sinne eines soziologischen Funktionalismus aber gerade eine Auseinandersetzung mit Funktionserwartungen an und Funktionsgrenzen von subjektiven öffentlichen Rechten in Betracht: Gefragt ist also nach der Funktion subjektiver öffentlicher Rechte. Diese kann und sollte grundsätzlich von der Rechtsschutzfrage abgekoppelt werden. Dass diese Entkopplung der Struktur des subjektiven Rechts von seiner Rechtsschutzdimension Juristen kontraintuitiv erscheint, bestärkt die Richtigkeit der These eines dogmatischen Überschusses und theoretischen Defizits der Debatte um subjektive öffentliche Rechte. Das subjektive öffentliche Recht wird heute ohne seinen prozessualen, seinen prozessrechtlichen Kontext kaum noch sinnvoll gedacht und damit von seinen konzeptionellen Grundlagen entfernt. Dies zeigt sich auch darin, dass weite Teile der dogmatischen Diskussion praktisch ausschließlich über die Figur des subjektiven öffentlichen Rechts, genauer: über die Frage der Klagbarkeit bestimmter Rechte geführt wird, objektive Rechtsbindung und objektive Rechtsgeltung aber durchweg unterbelichtet bleiben. Der für ein rechtsstaatliches Normsystem konstitutive Unterschied 25  Thon,

Rechtsnorm und subjectives Recht, 1878. (Fn. 4), Rn. 68.

26  Kelsen

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– und die notwendige Gleichzeitigkeit – von Normen des objektiven und des subjektiven Rechts gerät darüber nicht selten in Vergessenheit. Der darin beschlossene Befund eines Reflexionsdefizits richtet sich naturgemäß nicht gegen die Rechtspraxis. Sie unterliegt in Gestalt der Verwaltungsgerichtsbarkeit den Schranken richterlicher Rechtsfortbildung und muss daher notwendig eine Dogmatisierung des Problemfeldes unternehmen. Es liegt hier vielmehr eine genuine Aufgabe der Rechtswissenschaft, ein theoretisches Angebot zu liefern – wie es etwa in einer Reihe von Monographien bereits entfaltet worden ist, zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Matthias Ruffert27, Johannes Masing28 und Bernhard Wegener29. In jüngster Zeit haben Winfried Brugger30 und Eberhard SchmidtAßmann31 einschlägige Beiträge zur Diskussion geliefert. Koppelt man also im Interesse einer stärker theoretischen Betrachtung die Struktur- und Funktionsperspektive auf das subjektive öffentliche Recht ab von der Rechtsschutzfrage, so ergeben sich folgende Anhaltspunkte.

II. Materielle Subjektivität als Leitvorstellung 1. Materielle Subjektivität Die verbreitete Vorstellung subjektiver öffentlicher Rechte ist gekennzeichnet vom Bild eines personalen, materiellen Kerns subjektiver Rechte. Typisch und vorbildgebend sind insofern Vorschriften, die etwa Leib und Leben natürlicher Personen schützen32, angefangen bei bauordnungsrechtlichen Brandschutzvorschriften über drittschützende Emissionsgrenzwerte bis hin zu Genehmigungsanforderungen an gentechnische Anlagen. Die Rechtsgüter, die geschützt am Grunde dieser Vorschriften ruhen, zeichnen sich aus durch Individualität und Personalität33 und damit durch die Eindeutigkeit ihrer Zuordnung einerseits und die unbeschränkte Dispo27  Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996. 28  Masing, (Fn. 3). 29  Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998. 30  Brugger, Georg Jellineks Statuslehre: national und international, AöR 136 (2011), 1 ff. 31  Schmidt-Aßmann, „Gemeinwohl im Prozess“, in: Anderheiden / Keil / Kirste /  Schaefer (Hg.), Verfassungsvoraussetzungen, 2013, S. 411 ff.; ders. (Fn. 9), S. 108 ff. 32  Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, 380 (381). 33  Schmidt-Aßmann (Fn. 9), S. 109.



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sitionsbefugnis des Rechtsinhabers andererseits. Ihnen lassen sich insoweit unschwer allgemeine, generalisierte, öffentliche und objektive Rechtsgüter und Rechtssätze gegenüberstellen. Weite Teile des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes basieren auf dieser Trennung, indem sie an solcherart materielle subjektive Rechte einen prozessualen Abwehr- oder auch Verpflichtungsanspruch knüpfen, durch dessen Aktivierung die jeweilige Rechtsposition prozessual geltend gemacht wird.34 Operationalisiert wird dies durch die gängige Bestimmung der sogenannten Schutznormtheorie. Diese ist entgegen einer verbreiteten Vorstellung keine Lösung eines prozessualen Problems, sondern bestenfalls die Bezeichnung eines solchen. Dass Studierende in Prüfungssituationen regelmäßig daran scheitern, mithilfe dieser vermeintlichen Theorie Individualrechtsschutzprobleme zu lösen, ist insofern nicht erstaunlich. Ihr zufolge soll eine Norm dann subjektiv-rechtlicher Natur sein, wenn sie zumindest auch „Individualinteressen zu dienen bestimmt“ sei. Ein Doppeltes ist also notwendig: Die Norm muss als materiellen Bezugspunkt ein Individualinteresse haben und dessen Förderung zu dienen bestimmt sein, womit bloße Rechtsreflexe ausgeschieden werden sollen.35 Materieller Steuerungsbegriff ist aber in einem ersten Schritt das zu ermittelnde Individualinteresse. 2. Relativität der Unterscheidung öffentlicher und privater Interessen a) Trennungsmodell der Interessen Konstitutiv für dieses Rechtsschutzsystem ist damit die Unterscheidung, genauer: die Unterscheidbarkeit von privaten und öffentlichen Interessen. Dient eine Norm also Privatinteressen, vermittelt sie ein subjektives Recht, dient sie ausschließlich öffentlichen Interessen, tut sie es nicht. Diese Unterscheidung ist plausibel, und dass sie in der Praxis vielfach funktioniert und adäquate Ergebnisse produziert, steht außer Frage. Dabei behilft sich die Rechtspraxis auch damit, dass die normative Natur des Ermittlungsvorgangs nicht offengelegt, sondern als Vorgang bloßer Tatsachenfeststellung rhetorisiert wird.36 Eine genauere Betrachtung erweist aber seit jeher, dass es mit der Unterscheidbarkeit privater und öffentlicher Sphäre weitaus we34  Zum Verhältnis von grundlegendem Recht und prozessualem Abwehranspruch etwa Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991. 35  BVerfGE 83, 182 (194); Sennekamp in: Fehling / Kastner / Warendorf (Hg.), Handkommentar Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 42 VwGO, Rn. 50; Happ in: Eyermann (Hg.), VwGO, 13. Aufl. 2010, § 42 Rn. 85. 36  Dazu Krüper (Fn. 23), S. 134.

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niger weit her ist, als es den Anschein haben mag.37 Der enge Zusammenhang von öffentlichem und privatem Interesse wird in Ansehung zentraler Regelungstechniken des öffentlichen Rechts in besonderer Weise offenbar. Das öffentliche Recht zeichnet sich dadurch aus, dass der Gesetzgeber horizontale Konfliktverhältnisse zwischen Privaten unter verallgemeinernden und systematisierenden Gesichtspunkten geordnet hat. Die zur Lösung dieser typisierten Konfliktlagen aufgerufenen Staatsorgane haben dann zum einen genuin öffentliche, also nicht im Kern persönliche, außerdem aber auch persönliche und derivativ-öffentliche (ursprünglich persönliche) Interessen zu berücksichtigen, die wenigstens zum Teil gleichgerichtet sind.38 b) Interesse und Zuweisungsgehalt  39 Ist eine Scheidung öffentlicher und privater Interessen theoretisch also nicht eindeutig möglich, so liegt der Scheidung der Interessenssphären tatsächlich eine andere Überlegung zugrunde, nämlich nicht die einer Interessenqualifikation, sondern die einer Interessenzuweisung. Es geht in der Sache darum, wer zur Geltendmachung eines bestimmten Interesses zuständig sein soll, was im Kern die Frage nach der Funktion der Geltendmachung des jeweiligen Rechts stellt. Dabei entfaltet der personale Gehalt eines Interesses (beispielsweise an gesundheitlichem Wohlergehen) selbstverständlich eine starke, im Einzelfall gar unwiderlegliche Indizwirkung auch für die Interessenträgerschaft. Entscheidend ist aber, dass auch einer solchen Interessenzuordnung zunächst die Zuweisung des Interesses an eine bestimmte Person zugrunde liegt. Freilich hat sich die Wahrnehmung der Rechtspraxis dahingehend verschoben, den personalen Gehalt eines Interesses als konstitutives Element eines subjektiven Rechts als eigentliche Voraussetzung der Interessenträgerschaft anzusehen. Ihre manifeste äußere Form findet diese Sichtweise in der Schutznormtheorie, die in der Praxis als gleichsam identisch mit dem subjektiven Recht verstanden wird.40 Es verhält sich aber bei genauerer Betrachtung so, dass die Schutznormtheorie allein Werkzeug zur Auffindung 37  s. schon Thon (Fn. 25), S. 108; zum komplexen Verhältnis beider Sphären s.  Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 60 ff., der die Bedeutung des Begriffs der privaten Interessen als „Gegen- oder Ergänzungsbegriff, als eigenständigen Begriff oder als immanenten Bestandteil“ des Begriffs der öffent­ lichen Interessen untersucht; dazu die gleichnamige Besprechung von Stolleis, ­VerwArch 65 (1974), 1 ff.; s. auch grundlegend Smend, Zum Problem des Öffent­ lichen und der Öffentlichkeit, in: Bachof (Hg.), Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, 1955, S. 11 ff., passim. 38  Krüper (Fn. 23), S. 136 f. 39  Nachfolgendes bei Krüper (Fn. 23), S. 138. 40  Krüper (Fn. 23), S. 138.



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von Interessenzuweisungen durch das Recht ist.41 Jedoch bleibt auch mit ihr der Akt der Zuschreibung ein normativer, der zum Teil durch den erklärten gesetzgeberischen Willen, ansonsten aber erst durch den Willen des Rechtsanwenders selbst erfolgt. Die Schutznormtheorie fingiert also letztlich die Rationalität der Zuschreibung im Wege juristischer Konvention. Dass die Spielräume hier durchaus größer sind, als es etablierte Dogmatik und Rhetorik der Schutznormtheorie nahelegen, hat sich vor kurzem plastisch an der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Einklagbarkeit der Vorschriften eines Luftreinhalteplanes durch einen anerkannten Umweltverband gezeigt, in der es sich dem Geist der EuGH-Entscheidung zum „slowakischen Braunbären“ verpflichtete und über eine europäisierte Lesart des § 42 Abs. 2 S. 2 VwGO die Klagebefugnis bejahte. Dass die Entscheidung dabei über das vom EuGH Verlangte durchaus hinging und Fragen nach den Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung aufwirft, ist dabei freilich nicht zu bestreiten.

III. Grenzen funktionaler Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft und ihre Auflösung 1. Trennung von Staat und Gesellschaft als Freiheitsgarant In der vorgestellten Trennung von privatem und öffentlichem Interesse lebt eine geistesgeschichtliche Tradition fort, als deren wesentliche Quelle vor allem die Rechtsphilosophie Hegels zu identifizieren ist, der zwischen dem politischen Staat auf der einen Seite und der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft auf der anderen Seite, trotz aller inneren Verwiesenheit, unterschieden hat.42 Die Trennung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre43 ist für unser Verständnis des Öffentlichen Rechts grundlegend. So basiert die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte wesentlich auf dem Trennungsprinzip.44 Sie ist der Mechanismus, mit dem die Distanzierung des Individuums von öffentlichen Zwecken bewerkstelligt wird. Die Trennung zwi41  Schilcher, Starke und schwache Rechte, in: Koziol / Rummel (Hg.), Im Dienste der Gerechtigkeit, FS Bydlinski, 2002, S. 353 ff., 364 f. 42  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986 (1820), §§ 258 f. 43  Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, 437 ff.; Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Hefermehl (Hg.), Rechtsfragen der Gegenwart, 1972, S. 11 ff.; ders., Verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 1973; Gamper, Staat und Verfassung, 2. Aufl. 2010, S. 111. 44  Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 34 f.

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schen öffentlichen und privaten Interessen ist in der institutionellen Dimension mit einer Form der „Arbeitsteilung“ verbunden. Private und öffentliche Interessen sind nämlich dem Bürger beziehungsweise dem Staat als eigene, fremder Disposition entzogene Positionen zugewiesen. Dahinter steht im Hinblick auf den Bürger die Vorstellung, dass sich niemand zum Amtswalter öffentlicher Interessen machen soll, der von eigenen Interessen motiviert ist.45 Zwar gilt salus publica suprema lex esto46 – aber der Bürger als bourgeois soll damit nichts zu schaffen haben. Dem Modell ist zuzugeben, dass in der Trennung öffentlicher und privater Interessen eine bewahrenswerte Rationalität liegt. Nicht zuletzt begründet sie einen wesentlichen Schutz individueller Freiheit, weil jedenfalls die pflichtige Inanspruchnahme des Individuums für öffentliche Zwecke das Kennzeichen totalitärer Systeme ist. Nicht zufällig war die dem totalen Staat Forsthoffs verpflichtete Rechtslehre des Nationalsozialismus der Beseitigung des liberalen subjektiven öffentlichen Rechts eng verpflichtet. In immer wieder erstaunlicher Parallelität lässt sich Nämliches auch für das verwaltungsrechtliche Denken der Rechtslehre in der DDR feststellen.47 Das arbeitsteilige Modell der Gemeinwohl- und Eigennutzpflege legitimiert sich indes nur daraus, dass diese Form der Arbeitsteilung auch tatsächlich funktioniert. Dies ist indes nur zum Teil der Fall, worauf hier nur kurz eingegangen werden soll, weil es zum gesicherten Wissensbestand öffentlich-rechtlicher Implementationsforschung einerseits und der Rechtsund Verfassungstheorie andererseits zählt, dass diese Defizite bestehen. 2. Defizite in der hoheitlichen Wahrnehmung von Umweltbelangen a) Vollzugsdefizit Fast so alt wie das Umweltrecht selbst ist die Debatte um das Defizit seines Vollzugs.48 Die Gründe dafür sind seit langem gut erforscht. Zentral 45  Sodan in: ders. / Ziekow (Hg.), VwGO, 3. Aufl. 2010, § 42 Rn. 365; Gärditz in: ders. (Hg.), VwGO, 2013, § 42 Rn. 47 f.; Schmidt-Kötters in: Posser / Wolff (Hg.), VwGO, 2. Aufl. 2014, § 42 Rn. 109. 46  Isensee in: ders. / Kirchhof (Fn. 44), § 15 Rn. 115 ff.; Bull, Staatszwecke im Verfassungsstaat, NVwZ 1989, 801 (803). 47  Krüper (Fn. 23), S. 122 f. 48  Z. B. schon frühzeitig die kasuistisch angelegte Studie von Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975, sowie das ebenfalls empirisch angelegte Werk von Mayntz (Hg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; aus verfassungsföderaler Perspektive Koch / Mechel, Naturschutz und Landschaftspflege in der Reform der bundesstaatlichen Ordnung, NuR 2004, 277 ff., 278 f., 282 f.



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für das Vollzugsdefizit ist ein mangelndes Vollzugsinteresse auf Seiten der zuständigen Behörden.49 Das normative und vor allem auch das politische Steuerungs- und Erwartungsgeflecht, in das Umweltbehörden eingebunden sind, belastet den Normvollzug mit zweckfremden Erwartungen.50 Strukturell leidet das Umweltrecht an einer Dysbalance von normativer Generalität auf der einen Seite und tatsächlicher Komplexität auf der anderen Seite.51 Schließlich lässt sich an der Angemessenheit umweltrechtlicher Handlungsformen zweifeln, zudem werden Steuerungsprobleme aufgrund der Entformalisierung des Umweltrechts evident.52 b) Gegenwartsbezogene und anthropozentrische Radizierung des Umweltrechts Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Radizierung des geltenden Umweltrechts eine weitgehend gegenwartsbezogen-anthropozentrische ist, was im Zusammenhang mit der starken Subjektivierung des Rechtsschutzsystems seine Durchsetzungsschwäche begründet. Da Umwelt im Sinne des Art. 20a GG als natürliche Lebensgrundlage des Menschen geschützt wird, nicht aber um ihrer selbst willen, werden umweltverfassungsrechtlich keinerlei wirksame Impulse zur Umstellung des Rechtsschutzsystems gegeben. Die zentrale Frage, wie Umwelt als Lebensgrundlage zukünftiger Genera­ tionen heute wirksam geschützt werden kann, bringt das Recht, das auf die Rechte aktuell Lebender eingestellt ist, in einen Zustand dauerhaft struktureller Überforderung. Die Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen in der Gegenwart stellt aber die Grundlagen der Freiheitswahrnehmung künftiger Generationen in Frage, was erhebliche moralische und legitimatorische Probleme aufwirft. Rechtsstaat und Umweltstaat, so sehr sie beide verfassungsrechtlich grundlegende Ziele verfolgen, sind untereinander nicht recht kompatibel.53 49  Lübbe-Wolff,

Vollzugsprobleme der Umweltverwaltung, NuR 1993, 217 (218). Vom Abfall zum Produkt – Wie Gegenstandserweiterungen Regelungsprobleme im Umweltrecht verursachen, NVwZ 2003, 1182 (1186 f.). 51  Lepsius (Fn. 50). 52  Krüper (Fn. 23), S. 259, 260. 53  Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, z. B. die Gliederungspunkte „Umweltschutz als rechtsstaatliches Problem“, S. 12 ff., „Die Idee des ‚Umweltstaats‘ als Herausforderung des Rechtsstaats“, S. 30 ff., „Rechtsstaatliche Grenzen des Umweltstaats“, S. 253 ff. usw. Das Spannungsverhältnis ist in seiner Grundanlage jedoch bereits früh beschrieben, s. z. B. Häberle, Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, 1976, in: Vitzthum (Hg.), Peter Häberle – Kleine Schriften, 2002, S. 169 ff., der das Spannungsverhältnis beschreibt, wie es im Schaffen Ernst Forsthoffs zum Ausdruck kommt; s. auch ders., Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische Gesellschaftslehre, ZHR 136 (1972), 425 ff. 50  Lepsius,

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IV. Altruistisch, prokuratorisch, funktional: Alternative Rechtsschutzformen im Umweltrecht Seit jeher eine Konstante im Kanon der Vorschläge, mit denen die beschriebenen Probleme gelindert werden sollen, ist eine Modifikation des Rechtsschutzsystems – und zwar entweder in Gestalt punktueller Ausnahmeregelungen, wozu die naturschutzrechtliche Verbandsklage zu zählen ist, oder in Gestalt neuer, grundlegend anderer Modelle des subjektiven öffentlichen Rechts. Ihnen geht es – in den Worten Johannes Masings – in der einen oder anderen Form um eine „Mobilisierung des Bürgers zur Durchsetzung des Rechts“ – und gemeint ist hier eben objektives Recht, nicht subjektives.54 1. Verbandsklagen Auf die Diskussion über Verbandsklagen, die immerhin bis in die 70er Jahre zurückreichen55, soll hier nur kurz hingewiesen werden. Im Ausgangspunkt der Debatte wurden drei Modelle der Verbandsklage unterschieden: Die Partizipationserzwingungsklage, mit der ein Verband Verfahrensteilhaberechte geltend machen konnte (und die insoweit dogmatisch letztlich unproblematisch ist) wird unterschieden von den egoistischen und diese von den altruistischen Verbandsklagen. Während egoistische Verbandsklagen unter dem Blickwinkel gewillkürter Prozessstandschaft regelmäßig engen verfahrensrechtlichen Grenzen unterliegen, waren es vor allem die altruistischen Verbandsklagen, deren Eingliederung in das Rechtsschutzssystem schwer fiel und deren schwierige rechtliche Erfassung bis ins Trianel-Verfahren – hier dann im Kontext des Umweltrechtsbehelfsgesetz – fortwirkte.56 Nach den anfänglichen Bedenken gegen die Verbandsklagen57 dürfen sie heute nicht zuletzt unter dem Druck des europäischen Rechts als anerkannt gelten, dogmatische Friktionen verursachen sie gleichwohl nach wie vor.

54  s. dazu jüngst Gärditz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz im Umweltrecht, NVwZ 2014, 1 ff. 55  Koch, Die Verbandsklage im Umweltrecht, NVwZ 2007, 369 (369); Seelig, Die Verbandsklage im Umweltrecht – Aktuelle Entwicklungen und Zukunftsperspektiven im Hinblick auf die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes und supra­nationale und internationale rechtliche Vorgaben, NVwZ 2002, 1033 (1034). 56  Hong (Fn. 32), 380 ff.; Gärditz (Fn. 54). 57  Etwa bei Redeker, Verfahrensrechtliche Bedenken gegen die Verbandsklage, ZRP 1976, 163 ff.



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2. Funktionale subjektive Rechte – der Bürger als Gemeinwohlprokurator Lassen sich Verbandsklagen einigermaßen in ein prinzipiell subjektivrechtliches Rechtsschutzsystem eingliedern, weil sie sich (a) stets als Ausnahme von der Regel begreifen lassen und sofern sie (b) positivrechtlich verankert werden, verhält es sich mit Klagerechten, die je nach Provenienz als prokuratorische oder auch funktionale subjektive öffentliche Rechte verhandelt werden,58 anders. In und mit ihnen stellt sich nämlich die Frage nach einem Wechsel des Rechtsschutzsystems in grundsätzlicherer Weise. Während sich die Verbandsklagen auf Seiten der Kläger bereits durch deren korporative Verfassung von den eigentlichen Individualrechtsbehelfen abhoben und insofern leichter als Ausnahme von der Regel verstehen ließen, liegt es bei Einzelpersonen oder unverbundenen Personenmehrheiten anders. Ihre Klagerechte stehen strukturell in dem Verdacht, den Verfassungsauftrag des Art. 19 Abs. 4 GG zu unterlaufen und also subjektiven Rechtsschutz zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.59 Zwar haben sich ähnliche Bedenken, die gegen die Verbandsklage erhoben worden sind, nicht bewahrheitet; das Prozessaufkommen an den Verwaltungsgerichten ist dadurch nicht nachhaltig angewachsen.60 Allerdings wäre eine grenzenlose Ausweitung des Rechtsschutzes im Sinne einer Preisgabe jeglicher rechtlicher Qualifikation des Klägers, also die Umstellung auf eine bloße Interessenten- oder gar eine Popularklage, weder mit der deutschen Rechtsschutztradition vereinbar, noch wäre dies im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gangbar.61 Dies wirft die Frage nach der konzeptionellen Struktur solcher funktionalen subjektiven Rechte auf. a) Theoretische Radizierung funktionaler subjektiver Rechte: In wessen Namen? In wessen Namen, so fragen Armin von Bogdandy und Ingo Venzke, entscheiden internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens?62 Gleiches lässt sich fragen für Verfahren, in denen auf Grundlage funktionaler 58  Ruffert

(Fn. 27), S. 220; Krüper (Fn. 23), S. 290 ff. (Fn. 9), S. 114, 115. 60  Hong, (Fn. 32), 385. 61  Schmidt-Aßmann (Fn. 9), S. 111 f.; Krüper (Fn. 23), S. 156 ff.; Enders in: Epping / Hillgruber (Hg.), GG 2013 (BeckOK), Art. 19 Rn. 66 ff.; Schmidt-Kötters in: Posser / Wolff (Fn. 45), Rn. 110; Wahl in: Schoch / Schneider / Bier (Hg.), VwGO, 2013, 25. EL 2013, § 42 Rn. 15 f. 62  v.  Bogdandy / Venzke, In wessen Namen?, 2014. 59  Schmidt-Aßmann

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subjektiver Rechte Rechtsfragen des Umweltrechts verhandelt werden. Wer in wessen Namen und auf wessen Initiative verbindlich Rechtsprechungsgewalt ausüben bzw. initiieren kann ist eine Frage, die auf die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen zielt.63 Ansatzpunkte zur Legitimation gerichtlicher Entscheidung gibt es dabei naturgemäß zahlreiche: Ansprüche auf Rechtsschutz, die sich als Korrelat zum Gewaltmonopol des Staates deuten lassen, Verwirklichung der Rechtsbindung der staatlichen Gewalt, Realisierung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten durch den Schutz materieller subjektiver Rechte usf. Legitimierten sich Gerichte in der vorstaatlichen Ära wesentlich dadurch, dass sie von den Parteien eingesetzt wurden, wuchs mit der staatlichen Institutionalisierung der Gerichtsbarkeit deren Legitimationsbedürfnis.64 Allerdings beruhte dieses Modell einer parteigestifteten Legitimation wesentlich darauf, dass die verhandelten Rechtsprobleme solche sind, die inter partes – also im Privatrechtsverhältnis – angesiedelt sind. In hochgradig ausdifferenzierten, komplexeren Sozial- und Rechtskonstellationen verhält es sich jedoch oft anders. Wie der Blick auf den binären Interessenbegriff gezeigt hat, ist die Abgrenzung zwischen privat und öffentlich einigermaßen unklar, was auch Rückwirkungen auf das Legitimationsmodell gerichtlicher Verfahren hat. aa) Demokratietheoretische Kontextualisierung Mit Christoph Möllers liegt das Spezifische der gerichtlichen Tätigkeit darin, erst auf Initiative einer klagenden Partei in der streitgegenständlichen Sache tätig zu werden, worin gleichzeitig ein Anknüpfungspunkt für die Legitimation des Gerichts liegt. Wenn aber das Begehr der klägerischen Partei den Gravitationspunkt gerichtlicher Tätigkeit bildet, öffnet sich das gericht­ liche Handeln, allgemeiner: das gerichtliche Verfahren in seiner sachlichen, persönlichen und institutionellen Schichtung hin zu Modellen der Legitima­ tion durch Selbstbestimmung.65 Dabei ist die Motivation, das materielle Substrat der klägerischen Aktion, aus der Perspektive der justiziellen Legitimation zweitrangig: Sie setzt die – verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich – vorgeformte Berechtigung des Klägers zur Klage voraus. Woraus diese sich speist, ist also nicht entscheidend. Wenn individuelle Selbstbestimmung aber den Bezugspunkt justizieller Legitimation bildet, dann muss dies im Sinne 63  s. dazu in größerem Zugriff auch Möllers, Individuelle Legitimation: Wie rechtfertigen sich Gerichte?, in: Geis / Nullmeier / Daase (Hg.), Der Aufstieg der Legitimitätspolitik, Leviathan Sonderband 27 (2012), S. 398 ff. 64  Möllers (Fn. 63), 401. 65  Möllers (Fn. 63), 403.



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der vorgenannten Überlegungen also nicht notwendig Bestimmung über das materiell-rechtliche Selbst sein, sondern dann kann Selbstbestimmung sich auch gegenüber anspruchsvolleren Modellen einer politisch-partizipativ verstandenen Selbstbestimmung öffnen, die Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens werden. Damit kann also auch die Aktivierung einer politischen Gestaltungsbefugnis des Klägers einen legitimen Grund gerichtlicher Tätigkeit bilden. Das Interesse am gerichtlichen Verfahren kann damit also gegebenenfalls zeitgleich ein privates oder ein öffentliches sein. Damit rückt das Verhältnis von öffentlichem Interesse im gerichtlichen Verfahren und auch am Prozessergebnis in den Blick.66 Der Öffentlichkeitsbezug justizieller Verfahren erschöpft sich nämlich nicht in der Kontrollöffentlichkeit des § 169 S. 1 GVG, sondern erstreckt sich im Sinne formell-rechtsstaatlicher Gewährleistungen auch auf das Stattfinden des Prozesses an sich, in dem sich das Gewaltmonopol des Staates bestätigt und er seiner Justizgewährungspflicht nachkommt. Aber auch am kon­ kreten Prozessergebnis lässt sich ein öffentliches Interesse begründen: Dogmatisch gewendet findet dies seinen Ausdruck in einer „zutreffenden Auslegung der einschlägigen Rechtsnormen“67, in der sich die Rechts- und Verfassungsbindung der Gerichte realisiert. Das öffentliche Interesse zielt dabei in der Sache nicht nur auf die Wahrung subjektiver Rechte im gerichtlichen Verfahren, sondern zielt auch auf die Realisierung einer Wertund Prinzipienbindung des Rechts, wie sie sich in normierten oder in dogmatisch generierten normativen Leitbildern dokumentiert.68 Daraus ergeben sich die folgenden Konsequenzen: Die legitimatorische Konzeption der Gerichte als klägerinitiierte, streitgegenständlich radizierte hoheitliche Gewalt ist also nicht kurzzuschließen mit materiell-rechtlich grundierten Verfahrensmustern. Vielmehr bietet das gerichtliche Verfahren ein institutionelles Setting, in dem gerichtliche Tätigkeit individuell initiiert, aber im öffentlichen Interesse ausgeübt wird. Die Mechanismen der Initiierung sind die über die Annahme eines Zuweisungsgehalts arbeitenden subjektiven öffentlichen Rechte, seien sie materieller oder funktionaler Natur. Funktionale subjektive Rechte lassen sich also deuten als Mechanismen einer demokratischen Partizipation des Bürgers an der Ausübung staatlicher Gewalt. Das erscheint kontraintuitiv, weil Rechtsschutzfragen und Demokratie üblicherweise nicht gemeinsam verhandelt werden.69 Funktionale subjekti66  Krüper (Fn. 23), 224 ff.; s. auch Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2002, S. 286 ff. 67  Kaufmann (Fn. 66), S. 291. 68  Krüper (Fn. 23), S. 228 f. 69  s. aber Wegener, Rechtsschutz für gesetzlich geschützte Gemeinwohlbelange als Forderung des Demokratieprinzips?, in: Bertschi / Gächter / Hurz u. a. (Hg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 19 ff.; Krüper (Fn. 23), S. 175 ff.

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ve Rechte betreffen insoweit eine Form autonomer demokratischer Legitimation, in den Worten Eberhard Schmidt-Aßmanns eine „Gemeinwohlordnung durch Selbstbestimmung“70. Diesen Gedanken in den Bereich des gerichtlichen Verfahrens zu interpolieren, ist auch verfassungsrechtlich keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr ist das Grundgesetz offen gegenüber „besondere(n) Formen der Beteiligung von Betroffenen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben“71. Da solche Partizipationsformen erkennbar nicht auf egalitäre Input-Legitimation, sondern auf situative, gewillkürte Output-Legitimation bauen, können sie selbstverständlich nur legitima­ tionskompensatorische Funktion haben.72 Als solche sind sie aber als ein „Element der demokratischen Legitimationskette anzuerkennen“73. bb) Republikanische Kontextualisierung Dass der Bürger in dieser Weise dem Staat gegenübertritt, ihn also mittelbar zur Normbefolgung zwingt, schlägt aber noch eine andere verfassungsstaatliche und vor allem ideengeschichtliche Saite an. Das Unbehagen, das funktionale subjektive Rechte auslösen, erklärt sich jenseits dogmatischer Einzelfragen aus der damit verbundenen Gleichordnung des Bürgers mit dem Staat, die darin liegt, ihn an der Kontrolle des Vollzugs des objektiven Rechts zu beteiligen. Ideengeschichtlich ist diese Gleichordnung unter dem Begriff der res publica ein republikanisches Erbe. Republik „ist der Begriff für eine politische Ordnung, die durch Freiheit legitimiert, am Gemeinwohl orientiert und in Ämtern organisiert ist“74. Die hier bereits angesprochene Arbeitsteilung zwischen gemeinwohlorientiertem Staat einerseits und auf Individualinteressen hin orientierten Gesellschaft andererseits hat nämlich nicht nur die Funktion eines Freiheitsgaranten zugunsten der Bürger. Sie schließt gewissermaßen in einer Gegenbewegung die öffentliche Sphäre gegenüber der gesellschaftlichen Sphäre ab. Damit hält sie strukturell an einem Subordinationsverhältnis fest, wie es Erbe des monarchischen Exekutivstaates ist. Danach kann der Staat in die Rechtssphäre des Bürgers gestaltend und beschränkend eingreifen, umgekehrt soll dies aber nicht 70  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 87.; s. auch Hong (Fn. 32), 385: „Auf der anderen Seite ist aber auch zu betonen, dass es in einer freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung grundsätzlich keiner gesonderten Legitimation bedarf, wenn dem positiven Recht zu effektiver Durchsetzung verholfen werden soll“. 71  BVerfGE 107, 59 (93). 72  Krüper (Fn. 23), S. 182. 73  Dazu etwa auch Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 246 (279). 74  Gröschner, Art. Republik, in: EvStL, 2006, Sp. 2041.



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gelten.75 Am Grunde eines anspruchsvollen republikanischen Verständnisses liegt indes eine reziprozitätstheoretische Deutung der Republik, für die eine Wechselbeziehung zwischen Staat und Bürgern besteht, in der der Staat von einem gemeinsamen Freiheitswillen seiner Bürger getragen wird.76 Dass die Bürger die öffentlichen Angelegenheiten zu ihrer eigenen Sache machen, sie mit einem bürgerschaftlichen Ethos verfolgen und vertreten, ist mit einer subordinativen Perspektive auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft erkennbar nicht vereinbar. Insofern mag die Aufwertung des republikanischen Gedankens durchaus wertvolle Anregungen zu einer verfassungsstaatlichen Verankerung funktionaler subjektiver Rechte bieten. cc) Rechtsphilosophischer Kontext intergenerationeller Gerechtigkeit Fragen nach intergenerationeller Gerechtigkeit im Sinne einer gerechten Verteilung von Freiheitsoptionen „in der Zeit“ stehen seit geraumer Zeit auf der Agenda nicht allein des rechtsphilosophischen Diskurses, sondern mittlerweile auch des rechtsdogmatischen: Neben Art. 20a GG, der dies jedenfalls sprachlich, wenn auch nicht normativ wirksam zum Ausdruck bringt, zeigt sich dies vor allem in den lebhaften Auseinandersetzungen um die Operationalisierung des Nachhaltigkeitsgrundsatzes: Angefangen bei völkerrechtlichen Sustainability-Kontroversen77 bis hin zu bauplanungsrechtlichen Fragen der Satzungsgestaltung78 ist die Programmierung rechtlicher Steuerung auf dauerhafte Verträglichkeit mittlerweile ein Gemeinplatz. Ob der Nachhaltigkeitsgrundsatz dabei mehr ist als – wie Michael Reinhardt schreibt – „junk-law eines überforderten (…) Legislators, der das Gerüstetsein für die Zukunft nur vortäuscht“79, oder ob mit ihm dauerhaft normative Steuerungsveränderungen bewirkt werden, lässt sich mit Gewissheit noch nicht sagen.80 Skepsis ist nach den Erfahrungen, die mit der Imple75  Lübbe-Wolff

(Fn. 73), 278. Reziprozität: Voraussetzung des Verfassungsstaates, in: Anderheiden / Keil / Kirste / Schaefer (Hg.), Verfassungsvoraussetzungen, 2013, 411 ff. 77  Beaucamp, Das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung im Recht, 2002, S. 79 ff., 241 ff. 78  Tophoven, Der Eingriffs- und Ausgleichsbebauungsplan in der Bauleitplanung, NVwZ 2004, 1052 ff.; Kuschnerus, Die „Nachhaltigkeit“ im Abwägungsprozeß und in der gerichtlichen Überprüfung, ZfBR 2000, 15 ff. 79  Reinhardt, Möglichkeiten und Grenzen einer „nachhaltigen“ Bewirtschaftung von Umweltressourcen, in: Marburger / ders. (Hg.), Die Bewältigung von Langzeit­ risiken im Umwelt- und Technikrecht, UTR 43 (1998), 73 (102). 80  Kahl, Der Nachhaltigkeitsgrundsatz im System der Prinzipien des Umweltrechts, in: Bauer / Czybulka / ders. / Voßkuhle (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 113 f. 76  Gröschner,

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mentation des Vorsorgegrundsatzes gemacht wurden, durchaus angebracht.81 Für diesen Kontext indes entscheidender ist der Befund, dass die zeitliche Geformtheit und die zeitliche Wirkung von Freiheitsbetätigungen in ihren Folgen vom Recht nicht unbeachtet bleiben können. Sie verdeutlichen nämlich, dass die Konzeptionen individueller Freiheit, auf denen bislang Konzepte wie das subjektive Recht und sein gerichtlicher Schutz aufbauen, von unerschöpflichen Ressourcen der Freiheitsbetätigung ausgehen. Wo es an diesen fehlt, steht die Legitimation ressourcenverbrauchender Freiheitsbetätigung kategorisch in Frage. Dies gilt insbesondere dort, wo durch Kausalitätskumulation individuelle Verantwortlichkeiten unklar werden. Dieser Befund legt nahe, ein rechtlich anschlussfähiges Konzept von Verantwortung in einem intergenerationellen Freiheitszusammenhang zu entwickeln. Dieses kann selbstverständlich nicht eine kategorische Nachordnung individueller Freiheitsbetätigung hinter potentielle künftige Freiheitsbetätigung bedeuten. Indes bedürfte es doch der Mechanismen, die geeignet sind, den intergenerationellen Verantwortungszusammenhang zur Erhaltung der Voraussetzungen von Freiheitsbetätigungen zu aktivieren. Funktionale subjektive Rechte können dazu durchaus beitragen, indem sie den Bürger dazu in die Lage versetzen, Interessenpositionen Zukünftiger in den konkreten Diskurs und die behördliche und gerichtliche Vollzugspraxis einzuspeisen. Wie genau dabei berechtigte Freiheitsinteressen Dritter, also etwa der Anlagenbetreiber, zu berücksichtigen sind, ist eine Frage der einfachgesetzlichen Ausgestaltung solcher Rechte, auf die noch einzugehen sein wird. b) Grundrechtsstatustheoretische Rückbindung So sehr eine Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts verfassungsrechtlich, verfassungstheoretisch und rechtsphilosophisch zu legitimieren ist, so wichtig ist, verfassungsstaatliche Gegengründe nicht aus den Augen zu verlieren. Hier mag insbesondere ein historischer Blick in die juristische Zeitgeschichte erhellend sein. Sowohl die Rechtslehre des Na­ tionalsozialismus als auch die sozialistische Rechtslehre wendeten sich gegen die als liberal und bourgeois diskreditierte Rechtsfigur des subjektiven Rechts, prominent etwa Theodor Maunz.82 Beide Ordnungen stellten demgegenüber auf Modelle der Indienstnahme des Bürgers für die politisch vorgegebenen Zwecke und Ziele. So setzte das sozialistische System anstelle individuellen Rechtsschutzes auf ein Eingabenwesen. Eingaben, welche auf die Beseitigung von staatlicher Fehlleistung zielten, zeugten danach 81  Krüper

82  Maunz,

(Fn. 23), S. 80 ff. Das Ende des subjektiven öffentlichen Rechts, ZStW 96 (1936), 71 ff.



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„von einem höher entwickelten Bewusstsein ihrer Urheber“83 als solche, die der Wahrung eigener Interessen zu dienen bestimmt waren. In anderer, aber ähnlicher Weise marginalisierten nationalsozialistische Rechtslehre und Rechtspolitik das Individuum gegenüber der rassisch grundierten Volksgemeinschaft. aa) Verfassungsstaatliche Funktionalisierungsgrenzen Von der theoretischen Konzeption funktionaler subjektiver Rechte herkommend, ist daher nach einer verfassungsstaatlichen Eingrenzung im Sinne einer subjektivierenden Zuordnung funktionaler subjektiver Rechte zu fragen. Anknüpfungspunkt ist hier die Grundrechtstheorie, in der über die Zeit hin verschiedene Ausfaltungen des Staat-Bürger-Verhältnisses entwickelt worden sind. Die Grundrechtsstatuslehre kann hier insoweit Anknüpfungspunkt sein, weil die herrschende Auffassung subjektive Rechte als Ausdruck eines Grundrechtsstatus ansieht.84 Der Grundrechtsstatus bzw. die verschiedenen Statusdimensionen sind dabei Analysen und Deutungen bestimmter Aspekte des Staat-Bürger-Verhältnisses, wie sie historisch vorfindlich waren bzw. sich entwickelt haben. Ausgehend von der Jellinekschen Unterscheidung der verschiedenen Grundrechtsstatus des status passivus, negativus, positivus und activus hat die Literatur mit dem status activus processualis die verfahrensrechtliche Seite der Grundrechte theoretisch überfangen.85 Daran anknüpfend werden etwa unter dem Begriff des status negativus cooperationis Phänomene wie die kooperierende Rechtsetzung erfasst.86 Ohne weiteres gelingt eine grundrechtsstatustheoretische Zuordnung funktionaler subjektiver Rechte nicht. Allerdings hat die Literatur Anstrengungen unternommen, die Grundrechtsstatuslehre in eine entsprechende Richtung fortzuentwickeln. Zwei Ansätze seien vorgestellt.

83  Bönninger / Hochbaum, Das Verwaltungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik – Allgemeiner Teil, 1957, S. 295. 84  Dazu Krüper (Fn. 23), S. 115 f. 85  Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, S. 84 ff.; Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2007, S. 314 f. 86  Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002, S. 321 ff. et passim.

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bb) status activus cooperationis und status oecologicus Funktionale subjektive Rechte lassen sich als Ausprägungen eines status activus cooperationis deuten. Der status activus ist ein Status der aktiven Zivität, des bürgerschaftlichen Einsatzes für das gemeine Wohl. Damit sind im Ausgangspunkt bei Jellinek zunächst einmal die klassischen politischen Partizipationsrechte gemeint. In der Aktualisierung durch Peter Häberle meint der status activus processualis die Verwirklichung von Grundrechten im Kontext staatlicher Verfahren.87 Daran anknüpfend lassen sich funktionale subjektive Rechte verstehen als Ausdruck eines Status-Verhältnisses, in dem mit den Mitteln des gerichtlichen Verfahrens – im status activus processualis – eine Form kooperativer Gemeinwohlpflege geübt wird. Um dem kooperativen Element der geteilten Gemeinwohlverantwortung Rechnung zu tragen, soll dieser Status verstanden werden als status activus cooperationis88. Er knüpft damit an den Häberleschen status activus processualis einerseits und den im Hinblick auf Phänomene kooperativer Normsetzung von Lothar Michael entwickelten status negativus cooperationis an, der sich gegen Grundrechtseingriffe aus kooperierender Normsetzung wendet.89 In ähnlicher Weise hat Winfried Brugger eine Weiterentwicklung der grundrechtlichen Status-Lehre unternommen. Darin deutet er eine Fortentwicklung der Status-Lehre hin zu einem status oecologicus an.90 In diesem drücken sich – in den Worten Bruggers – „Adjustierungen von Selbst- und Weltverhältnissen aus“91. Diese Anpassungsleistungen in der Selbst- und Weltsicht betreffen die hier bereits angesprochenen, verbreiteten Einsichten in die schwindende Legitimität ressourcenzerstörender Freiheitsbetätigung und den möglicherweise auch durch das Recht anzuerkennenden Selbstwert und Selbstzweck von Fauna und Flora. Das „Gegriffene“ beider Modelle, die zu einem wesentlichen Teil Nachvollzug vorfindlicher Umstände sind, zeigt anschaulich die Probleme juristischer Theoriebildung, die sich dadurch auszeichnet, dass die Anschlussfähigkeit eines theoretischen Modells vor allem aus sachlicher Kontextualisierbarkeit und begrifflicher Kompatibilisierbarkeit generiert wird. Diese faktische Grundierung des theoretischen Modells klingt schon bei Jellinek an, wenn er sagt, dass sich „in diesen vier Status […] die gliedliche Stellung des Individuums im Staat“ erschöpfe. Juristische Theorien, die status87  Häberle,

Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), 43 (86 ff.). (Fn. 23) S. 313. 89  Michael (Fn. 86). 90  Brugger (Fn. 30), S. 28 f. 91  Brugger (Fn. 30), S. 29. 88  Krüper



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Theorie insbesondere, bedürfen also einer Umsetzung in wechselseitige Rechte und Ansprüche, um aus einem theoretischen Modell auch tatsächlich eine tragfähige und mit Erklärungswert ausgestattete Theorie werden zu lassen. Angesprochen ist damit die Frage nach der konkreten Ausgestaltung funktionaler subjektiver Rechte. c) Prozessuale Akzessorietät funktionaler subjektiver Rechte aa) Akzessorietät als Freiheitsgarant Das hier vorzustellende Modell funktionaler subjektiver Rechte plädiert ausdrücklich für ihre prozessuale Akzessorietät zu materiellen subjektiven Rechten, wie es sich etwa am Verhältnis der immissionsschutzrechtlichen Betreiberpflichten deutlich machen lässt. Aus einer funktional-subjektiven Rechtsposition klageberechtigt sein soll in diesem Sinne also nur derjenige Nachbar oder sonstige Dritte, der auch aus materiellen Rechten klagebefugt ist. Damit ist nicht gemeint, dass es notwendig immer zur gleichzeitigen Geltendmachung materiell- und funktional-subjektiver Rechte kommen muss; vielmehr soll auf diese Weise der Kreis der potentiell Klageberechtigten beschränkt werden, um über den Umweg funktionaler subjektiver Rechte nicht eine echte Popularklage einzuführen. Entscheidend für eine verfassungsrechtlich und verfassungstheoretisch angemessene Ausgestaltung funktionaler subjektiver Rechte ist, dass dem funktional-subjektiv ausgestatten Kläger eine Erweiterung seiner Rechts­ position zukommt, er aber erstens die Wahl hat, ob er sich dieser bedienen möchte und er zweitens das Risiko trägt, mit seiner funktional-subjektiv grundierten Klage zu scheitern. Wahlfreiheit und damit korrespondierend auch das Prozessrisiko sind wesentliche Determinanten verfassungsstaatlich geformter Einbeziehung Privater in die Gemeinwohlpflege. Mit Friedrich August von Hayek als wichtigem Theoretiker der Freiheit mag insoweit gelten, dass ein freiheitliches System das Individuum nicht von den Folgen seiner Entscheidungen befreien kann.92 bb) Grenzen des Modells durch Akzessorietät Die Kopplung funktionaler subjektiver Rechte an bestehende materiellrechtliche Klagebefugnisse zieht dem Anwendungsbereich dieses Modells deutlich erkennbare Grenzen. So sind, nimmt man etwa das Naturschutzoder das Artenschutzrecht in den Blick, wesentliche Teile des Umweltrechts 92  v. Hayek,

Die Verfassung der Freiheit, 4. Aufl. 2005, S. 94 ff.

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gerade nicht durch ihre Subjektivierung gekennzeichnet, sondern durch ihre objektiv-rechtliche Prägung. Die akzessorische Ankopplung funktionaler subjektiver Rechte an materielle Klagepositionen führt also nicht dazu, dass etwaige Vollzugsdefizite in diesen Bereichen durch funktionelle Klagepositionen kompensiert werden könnten. Indes verläuft diese Grenze hier nicht zufällig. Das hier erwogene Modell funktionaler subjektiver Rechte bewegt sich im Rahmen des geltenden Prozessrechts, das aller Relativierungen zum Trotz im Kern natürlich subjektiv-rechtlich strukturiert bleibt. Eine völlige Entkoppelung von Rechtsschutzmöglichkeiten und individueller Betroffenheit, die nicht rückgebundene Klagerechte in überwiegend objektiv-recht­ lichen Rechtsmaterien bedeuten würden, wäre aber mit geltendem Recht nicht vereinbar. Funktionelle subjektive Rechte können daher unter der Prämisse, dass an einem individualrechtlich zentrierten Rechtsschutzsystem im Kern festzuhalten ist, nur neben andere Maßnahmen einer Vollzugs- und Durchsetzungseffektivierung des Umweltrechts treten, wie es etwa die Verbandsklagen darstellen.93 Für diesen Bereich ist durch die Trianel-Entscheidung des EuGH die Engführung von Verbandsklagen mit materiellen subjektiven Rechten, wie sie der deutsche Gesetzgeber in §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 UmwRG ursprünglich vorgesehen hatte, aufgegeben und der Anwendungsbereich dieser Klagen für den Bereich des unionalen Umweltrechts und seiner nationalen Umsetzungsakte erweitert worden.94 Dahinter steht wesentlich auch eine im Unionsrecht anders gelagerte Einschätzung der Funktion von Umweltschutz: Während das nationale Umweltrecht im Kern anthropozentrisch orientiert ist95, ist das Unionsrecht gegenüber einem selbstzweckhaften Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen aufgeschlossener.96

V. Résumé: Liberalismus und Kommunitarismus als Bezugsrahmen Die Debatte um Möglichkeiten und Grenzen funktionaler subjektiver Rechte ist einzustellen in einen größeren theoretischen Zusammenhang: Die Frage nach der Involvierung des Einzelnen in die Verfolgung öffentlicher Zwecke, seine Eignung dazu, im gerichtlichen Verfahren Belange des Gemeinwohls zu artikulieren und ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen, rührt an Grundsätzliches: an das Vorverständnis von der Position des Individuums 93  Ähnlich Hong (Fn. 32), 385, der darauf verweist, funktionale Subjektivierung sei kein „Allheilmittel“. 94  Hong (Fn. 32), 387. 95  Krüper (Fn. 23), S. 167 ff. 96  Hong (Fn. 32), 387.



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zur staatlichen und rechtlichen Ordnung einerseits und zur gesellschaft­ lichen Sphäre andererseits. Welche dogmatische oder theoretische Form auch immer die Bedenken annehmen, sie gründen in der einen oder anderen Weise auf divergierenden Auffassungen über das Verhältnis von Liberalismus und Gemeinwohl. Ein theoretischer Gegenbegriff zum individualzentrierten Liberalismus ist der des gemeinschaftsorientierten Kommunitarismus. Die Debatte um die Funktionalisierbarkeit subjektiver öffentlicher Rechte spielt also auf einem Nebenschauplatz der philosophischen Generaldebatte um das Verhältnis von Liberalismus und Kommunitarismus. Der Leitbegriff des Kommunitarismus bündelt dabei eine in ihrer Anlage liberalismus- und kapitalismuskritische Strömung, die Gerechtigkeits- und Steuerungsdefizite des liberalen Politiksystems benennt und eine Gemeinwohlvergessenheit der zeitgenössischen Gesellschaft beklagt. Gleichzeitig betont der Kommunitarismus die natürliche Gemeinschaftsverwiesenheit des Individuums und bezieht damit gegenüber der kontraktualistischen Philosophie, wie sie etwa in John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ beschrieben wird97, die Gegenposition.98 Ohne die damit angesprochenen Probleme hier auch nur anreißen zu wollen, mag für die Debatte die Einsicht in die Erkenntnis förderlich sein, dass die Verfassungsordnung des Grundgesetzes selbst, die auch den normativen Bezugsrahmen des Rechtsschutzsystems bildet, eine „Kommunitarisierung“ des Individuums in engen Grenzen zulässt. Die Einbindung in die Gemeinschaft bleibt dabei für das Individuum ein Akt freier Wahl mit dauerhaftem Rückzugsvorbehalt. Das BVerfG formuliert: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne deren Eigenwert anzutasten“99. Es scheint, als dass die Modelle prokuratorischen Umweltrechtsschutzes, gleich welcher dogmatischen Spielart, letztlich genau auf dieser Linie liegen. Ihre dogmatisch befriedigende und praktisch handhabbare Ausformung sollte sich dabei gewiss sein, dass die rechtsphilosophischen, verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Debatten soweit gediehen sind, dass eine moderate Abkehr vom System eines rein subjektiven Rechtsschutzes nicht den Tempel einreißt, ohne zu wissen, was an seine Stelle treten soll.

97  Rawls,

Theorie der Gerechtigkeit, 2008 (1972), S. 19 f. Vertragstheorie und moralischer Pluralismus, in: Geiger / Merle (Hg.), Modelle politischer Philosophie, 2003, S. 179 ff. 99  BVerfGE 4, 7 (15 f.); s. auch BVerfGE 32, 98 (107 f.); 33, 1 (10 f.). 98  Scarano,

„Es wäre vielleicht schöner, wenn wir § 42 [VwGO] gar nicht hätten; das wäre vielleicht einfacher.“ Bericht über die abschließende Podiums- und Plenardiskussion bei der Tagung „Rechtsschutz im ­Umweltrecht“ am 7. Februar 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin Von Rico David Neugärtner Als Prof. Dr. Dr. Jörg Berkemann sich und den Teilnehmenden der Tagung „Rechtsschutz im Umweltrecht“ die Frage stellte, ob es nicht vielleicht schöner wäre, wenn es § 42 (Abs. 2) der Verwaltungsgerichtsordnung1 nicht gäbe, weil dann die hyperkomplexe Anpassung des deutschen Umweltprozessrechts an Völker- und Europarecht einfacher leistbar wäre, hatte der Moderator der Podiumsdiskussion Dr. Peter Wysk (Richter am Bundesverwaltungsgericht) das Gespräch bereits in Richtung des Plenums geöffnet. Zuvor hatten Prof. Dr. Annette Guckelberger von der Universität des Saarlands als Vertreterin der Wissenschaft, der Vizepräsident der Bundesnetzagentur Peter Franke als Stimme aus der öffentlichen Verwaltung, der Verbandsrepräsentant Dr. Frank Andreas Schendel von der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall sowie die Rechtsanwälte Rüdiger Nebelsieck, LL.M., und Dr. Wolf Friedrich Spieth auf dem Podium diskutiert. Podiums- und Plenumsdiskussion brachten zahlreiche Einzelprobleme (dazu I.) wie auch Grundsatzfragen (dazu II.) des Umweltrechtsschutzes zur Sprache. Am Ende gaben die Beteiligten eine Antwort auf die Leitfrage der Diskussion: „Was soll die Zukunft bringen: mehr oder weniger oder anderen Rechtsschutz im Umweltrecht?“ (dazu III.).

I. Einzelprobleme des Rechtsschutzes im Umweltrecht Bevor sich die Diskutierenden dieser allgemeinen und zukunftsgewandten Frage widmeten, wurden verschiedene Einzelprobleme des Rechtsschutzes 1  Verwaltungsgerichtsordnung idF d. Bekanntm. v. 19.03.199, BGBl. I S. 686, zul. geänd. durch G. v. 10.10.2013, BGBl. I S. 3786.

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im Umweltrecht thematisiert. Solche Aspekte waren der Zeitfaktor im ­Umweltrechtsschutz (dazu 1.), das Zusammenspiel von materiellem Recht, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht (dazu 2.), das Verhältnis von Sach- und Rechtsfragen (dazu 3.) und schließlich das Nebeneinander von überindividuellem Rechtsschutz und Individualrechtsschutz (dazu 4.). 1. Zeit – Planbarkeit – Investitionssicherheit Frank Andreas Schendel war der Erste, der den „Zeitfaktor“ im Umweltrechtsschutz ins Gespräch brachte. Er stellte diesen Aspekt in einen engen Zusammenhang mit den Wünschen von Vorhabenträgern nach Planbarkeit und Investitionssicherheit. Schon zuvor hatte Wolf Friedrich Spieth das Bedürfnis der Vorhabenträger nach „150-prozentiger Planbarkeit“ betont.2 Schendel sah mit Blick auf den Faktor Zeit den Gesetzgeber gefordert: Dieser müsse entweder durch stellenweise Korrekturen oder systematische Änderungen des Prozessrechts tätig werden. Annette Guckelberger verwies auf die unionsrechtliche Forderung nach effizientem Rechtsschutz im Umweltrecht, was auch Einfluss auf die Dauer der gerichtlichen Verfahren haben müsse. Rüdiger Nebelsieck hob allerdings hervor, dass der Zeitfaktor nicht (ausschließlich) das Problem des Rechtsschutzes sei, sondern schon eine Frage des materiellen Rechts: „Schon im Planfeststellungsverfahren geht immens Zeit ins Land.“ Zu einem späteren Zeitpunkt kam Nebelsieck in seinem „Schlussplädoyer“ erneut auf den Aspekt der Zeit zu sprechen: Beschleunigungselemente seien für effektiven Rechtsschutz kontraproduktiv. Tatsächlich komme es hierdurch gar nicht zur Beschleunigung, entscheidend sei vielmehr die Konzentration auf die Inhalte. 2. Materielles Recht – Verwaltungsverfahrensrecht – Verwaltungsprozessrecht Mit dieser Nebeneinander- und Gegeneinandersetzung von Inhalten auf der einen Seite und Beschleunigungselementen des Prozessrechts auf der anderen Seite ist ein weiterer Schwerpunkt der Podiumsdiskussion angesprochen: das Verhältnis von materiellem Recht, Verwaltungsverfahrensrecht  und Verwaltungsprozessrecht. Bereits zu Beginn der Diskussion hob Rüdiger Nebelsieck hervor, wie wichtig es sei, dass sich Verwaltungsgerich2  Spieth betonte das Planbarkeitsbedürfnis der Vorhabenträger mit Blick auf die – unter diesem Gesichtspunkt problematischen – schrittweise erfolgenden Gesetzesänderungen, s. dazu unten II. 3.



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te mit den Sachfragen beschäftigten und sich nicht „hinter Formalia versteck[t]en“.3 Mit diesen Formalia war vor allem das verwaltungsprozessrechtliche Institut der Präklusion angesprochen. Aber auch die Bedeutung des Verwaltungsverfahrensrechts kam zur Sprache: Peter Franke betonte die Bedeutung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Planungs- und Genehmigungsverfahren. Diese sei zwar – zumal in dem ihm besonders vertrauten Bereich des Netzausbaus4 – sehr aufwändig, bringe den Betroffenen seiner Erfahrung nach aber auch sehr viel. Peter Wysk benannte sodann auch den Aspekt des Rechtsschutzes durch Verwaltungsverfahren, der dem Rechtsschutz durch Gerichte nur die „Ernstfälle“ übrig lasse. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte Frank Andreas Schendel hervorgehoben, dass „nur die Spitze des Eisbergs vor Gericht komm[e]“. Peter Franke verwies weitergehend darauf, dass das teilweise komplexe Verwaltungsverfahrensrecht eine Vielzahl von „Fallstricken für Verwaltungshandeln“ bereit halte. In einem solchen System seien Unbeachtlichkeits- und Heilungsvorschriften notwendig. Die gesetzgeberische Entscheidung (für die §§ 45 f. VwVfG5) sei „insoweit sachgerecht“. Wiederholt sprach Wolf Friedrich Spieth die Bedeutung eines ausreichend konkretisierten materiellen Rechts an. Allein durch sachgerechtes Umweltprozessrecht sei die Bewältigung der Konfliktlagen nicht möglich. Spieth nannte das Beispiel des § 54 BNatSchG6. Die dortigen Ermächtigungen zur Setzung untergesetzlichen Rechts würden nicht ausreichend genutzt. Später forderte Spieth eine Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch den (auch exekutiven) Gesetzgeber. In eine ähnliche Richtung gingen Forderungen von Peter Franke: Nötig seien handhabbare materiell-rechtliche Entscheidungsmaßstäbe mit höherer rechtlicher Verbindlichkeit. So könne die Konfliktlösung im Einzelfall entlastet werden.

3  Nebelsieck knüpfte hieran die Antwort auf die Frage, ob gerichtlicher Rechtsschutz Frieden stiften könne, s. u. II. 4. 4  Mit Blick auf mehrstufige Planungs- und Zulassungsverfahren, wie sie beispielsweise beim Netzausbau in Folge der „Energiewende“ gegeben sind, sprach sich Franke für konzentrierten Rechtsschutz auf der letzten Stufe und gegen phasenspezifischen Rechtsschutz auch auf früheren Stufen aus. Er griff damit eine Diskussion vom Vormittag zwischen dem Referenten Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolfgang Ewer (dessen verschriftlichter Beitrag in diesem Band auf S. 61 ff. zu finden ist) und Priv.-Doz. Dr. Claudio Franzius auf. 5  Verwaltungsverfahrensgesetz idF d. Bekanntm. v. 23.01.2003, BGBl. I S. 102, zul. geänd. durch G. v. 25.07.2013, BGBl. I S. 2749. 6  Bundesnaturschutzgesetz v. 29.07.2009, BGBl. I S. 2542, zul. geänd. durch G. v. 07.08.2013, BGBl. I S. 3154.

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3. Sachfragen – Rechtsfragen Auch das Thema des Verhältnisses von Sachfragen und Rechtsfragen wurde von Rüdiger Nebelsieck ins Gespräch eingebracht, blieb freilich am Rande der Diskussion. Im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einem „mutigen Gesetzgeber“7 führte er aus, dass Fehleranfälligkeit „nicht auf normativer Seite, sondern tatsächlicher Ebene“ gegeben sei. Nebelsieck verwies auf das die Tagung einleitende Referat von Prof. Dr. Dr. Jörg Berkemann, in welchem natur(-schutz-)fachliche Erkenntnisdefizite als Funktionsgrenze des Rechtsschutzes im Umweltrecht bereits angesprochen wurden.8 4. Individualrechtsschutz – überindividueller Rechtsschutz Kern der umweltprozessrechtspolitischen und -wissenschaftlichen Debatten des letzten Jahrzehnts war die Ausweitung des überindividuellen Rechtsschutzes. Folgerichtig wurde das Thema auch bei der Podiumsdiskussion nicht ausgespart – wobei für die thematische Breite der Diskussion spricht, dass das Thema Verbandsklage recht spät angesprochen und vor allem auch im Verhältnis zum Individualrechtsschutz besprochen wurde. Rüdiger Nebelsieck brach insoweit das Eis und prognostizierte, dass die völker- und unionsrechtlichen Vorgaben nicht im Bereich der Verbandsklage, wohl aber im Bereich des Individualrechtsschutzes zu einer Steigerung der Zahl der gerichtlichen Verfahren führen würden. Hierbei verwies er auf das Referat von Rechtsanwalt Dr. Remo Klinger zu aktuellen Entwicklungen bei der umweltrechtlichen Verbandsklage.9 Wolf Friedrich Spieth schloss später an diesen Gedanken an und konstatierte einen Systemwechsel im Umweltprozessrecht über die Verbandsklage hinaus, das heißt: in den Bereich des Individualrechtsschutzes hinein. Nebelsieck verwies in diesem Zusammenhang auf sich andeutende unionsrechtlich angeregte Veränderungen beim Umfang der Begründetheitsprüfung von Individualrechtsbehelfen. Ähnlich wie bei der Normenkontrolle nach § 47 VwGO könnte es dazu kommen, dass nach Überschreiten der Hürde der Klagebefugnis in der Begründetheitsprüfung das gesamte (auch objektive) Umweltunionsrecht zu prüfen sein werde. Peter Franke teilte mit, dass im Sachbereich des Netzausbaus in Folge der „Energiewende“ die Verbandsklage bisher keine große Rolle spiele. Hier stehe der Individualrechtsschutz – vor allem von Enteignungsbetroffenen, die ohnehin einen Vollüberprüfungsanspruch hätten – im Vordergrund. 7  Zur

Diskussion über die Rolle des Gesetzgebers s. u. II. 3. verschriftlichte Form des Vortrags findet sich in diesem Band auf S. 13 ff. 9  Die verschriftlichte Form des Vortrags findet sich in diesem Band auf S. 135 ff. 8  Die



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Mit Bezug auf den insgesamt jedoch erstarkten überindividuellen Rechtsschutz machte Wolf Friedrich Spieth eine neue Machtposition der Umweltverbände aus, welche von diesen auch wahrgenommen werde. Er betonte die damit einhergehende Verantwortung der Verbände. Auf die Nachfrage des Moderators Peter Wysk, ob die Umweltverbände in dieser neuen Konstellation nun zu Partnern der Vorhabenträger würden, antwortete Spieth, dass dies nun „notwendigerweise“ so sein müsse. In ihrem „Schlussplädoyer“ hob Annette Guckelberger hervor, dass beim angezeigten Austarieren des Umweltprozessrechts durch den Gesetzgeber gerade auch das Verhältnis von überindividuellem und individuellem Rechtsschutz klarer gestaltet werden müsse.

II. Grundlegende Fragen des Rechtsschutzes im Umweltrecht Während der Podiums- wie auch insbesondere der Plenumsdiskussion wurden zudem grundsätzlichere Fragen thematisiert. Die Schwierigkeiten der Fortentwicklung des Umweltprozessrechts im Mehrebenensystem von Völker-, Unions- und nationalen Recht (dazu 1.) waren ebenso Gegenstand des Polylogs wie die Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Judikative bei eben dieser Herausforderung (dazu 2.). Der nationale Gesetzgeber wurde intensiv kritisiert (dazu 3.). Ob durch ein so komplexes Rechtsschutzsystem, wie es zur Zeit im Umweltbereich besteht, überhaupt (noch) Rechtsfrieden gestiftet werden könne, fragten sich verschiedene Beteiligte im Verlaufe der Tagung (dazu 4.). 1. Völkerrecht – Unionsrecht – nationales Recht Aarhus-Konvention10, Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie11 und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof, Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz12 – die aktuellen Veränderungen im Umweltprozessrecht ereignen sich vor allem 10  Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteili­ gung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25.06.1998. 11  Richtlinie 2003 / 35 / EG des europäischen Parlaments und des Rates v. 26.05. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85 / 337 / EWG und 96 / 61 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. Nr. L 156 v. 25.06.2003, S. 17. 12  Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz idF d. Bekanntm. v. 08.04.2013, BGBl. I S. 753, zul. geänd. durch G. v. 07.08.2013, BGBl. I S. 3154.

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im normativen Mehrebenensystem von Völker-, Unions- und nationalem Recht. Dass diese Konstellation enormes Konfliktpotential bereithält, war bereits in den Referaten der Tagung herausgestellt worden. Prof. Dr. Dr. Jörg Berkemann brachte das Kernproblem auf den Punkt, als er in der Plenumsdiskussion die – schon erwähnte – Frage danach stellte, ob es nicht schöner wäre, wenn es § 42 (Abs. 2) VwGO gar nicht gäbe, ob dann die Anpassung an Völker- und Europarecht nicht einfacher wäre. Berkemann stellte zudem ein Gedankenspiel an: Denke man sich Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention – welcher Rechtsschutz im Umweltrecht über die vorhabenbezogenen Fälle des UVP-Rechts hinaus fordert – weg, irgendwann würde es dennoch zu Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs wie jener zum Slowakischen Braunbären13 kommen. Der EuGH habe erkannt, dass materielles Umweltrecht allein nichts nütze, sondern flankierend Rechtsschutzmöglichkeiten nötig seien. Auch Moderator Peter Wysk fragte gegen Ende der Diskussion, ob der Filter des § 42 Abs. 2 VwGO nötig sei – er ließ die Frage aufgrund der fortgeschritten Zeit im Raum stehen. In seinem Schlusswort äußerte Wolf Friedrich Spieth Zweifel, ob § 42 (Abs. 2) VwGO unter dem unionsrechtlichen Druck auf Dauer noch Bestand werde haben können. 2. Gesetzgeber – Verwaltungsgerichte Die Anpassung des deutschen Umweltprozessrechts an Völker- und Unionsrecht macht nicht an den Grenzen der Gewaltenteilung Halt. Auf die Frage des Moderators Peter Wysk, ob mehr gesetzliche Vorgaben im Umwelt(-prozess-)recht wünschenswert seien, reagierte Frank Andreas Schendel mit einer Gegenfrage danach, wie viel sich Richter zutrauen würden – gemeint war: wie viel Fortentwicklung des Umweltrechtsschutzes durch richterliche Auslegung und Rechtsfortbildung möglich (und zulässig) ist. Damit war das Verhältnis von Legislative und Judikative bei der Anpassung des Umweltprozessrechts an Völker- und Europarecht angesprochen und sollte die folgende Plenumsdiskussion entscheidend prägen. Bevor Wysk die Diskussion in Richtung des Plenums öffnete, beantwortete er Schendels Frage: Die Verwaltungsgerichte würden nicht nur Einzelfälle entscheiden, sondern „das System suchen“. Dabei würden sie sich selbstverständlich an das Gesetz gebunden fühlen, aber an den „Unzulänglichkeiten des Gesetzes“ leiden. Priv.-Doz. Dr. Claudio Franzius verdeutlichte zu Beginn der anschließenden Plenumsdiskussion, dass die Fortentwicklung des Umweltrechtsschutzes auf der einen Seite durch den Gesetzgeber, auf der anderen Seite aber auch 13  EuGH, Urt. v. 08.03.2011 – C-240 / 09 – Slowakischer Braunbär; vgl. zu diesem Urteil insbesondere den Beitrag von Franzius in diesem Band auf S. 145 ff.



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durch die Verwaltungsgerichte erfolge. Er verwies darauf, dass § 42 Abs. 2 VwGO zwei Halbsätze habe und knüpfte damit an sein Referat vom Nachmittag an.14 Der erste Halbsatz ermögliche die gesetzliche Einführung von Sonderregelungen, während über den zweiten Halbsatz richterliche Auslegung und Rechtsfortbildung bis hin zu einer – Franzius zitierte Prof. Dr. Dr. Jörg Berkemann: – „Notkompetenz der Gerichte“15 zur Umsetzung des Völker- und Unionsrechts relevant würden.16 Rüdiger Nebelsieck brachte das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Luftreinhalteplan Darmstadt17 zur Sprache: Hier habe sich das Gericht in einer Situation befunden, in der es „einen Schritt weiterkommen wollte“. Nebelsieck forderte den im Plenum sitzenden Berkemann zu einer Stellungnahme aus der Sicht eines ehemaligen Bundesverwaltungsrichters auf. Berkemann verdeutlichte daraufhin in einem ausführlichen Redebeitrag die schwierige Situation der Gerichte mit klaren und teilweise sehr grundlegenden Aussagen: So stimme es nicht, dass der Gesetzgeber soziale Konflikte löse.18 Vielmehr beobachteten Richter „laufende Defizite der Legislatur“. Der Richter befinde sich dann in einer Situation, in welcher er vor die Wahl gestellt sei, ob er „sich verweigern und den Kläger zum Wahlkreisabgeordneten schicken soll“ oder ob er Lösungen sucht und letztlich Rechtsfortbildung betreibt. Im zweiten Fall sollten Richter auch klar sagen, dass sie von ihrer „Notkompetenz“ zur Umsetzung von Völker- und Unionsrecht Gebrauch machen würden. 3. Gute Gesetzgebung – „schlechte Gesetzgebung“ Dieses insgesamt negative Bild vom deutschen Umweltprozessrechtsgesetzgeber hatte sich – mit vereinzelten Ausnahmen19 – schon im Verlaufe der Podiumsdiskussion etabliert: Wolf Friedrich Spieth kritisierte, dass der 14  Die

verschriftlichte Form des Vortrags findet sich in diesem Band auf S. 145 ff. DVBl 2013, 1137 (1148): „Handelt der Gesetzgeber rechtswidrig nicht, erwächst den Fachgerichten eine unionsrechtlich inaugurierte Notkompetenz, das Gebotene zu tun.“ 16  Franzius machte jedoch anschließend deutlich, dass er – anders als Berkemann – nicht soweit gehen würde, von einer „Notkompetenz der Gerichte“ zu sprechen. 17  ­BVerwG, Urt. v. 05.09.2013 – 7 C 21.12 – Luftreinhalteplan Darmstadt; vgl. zu diesem Urteil insbesondere den Beitrag von Franzius in diesem Band auf S. 145 ff. 18  Berkemann veranschaulichte diesen Befund anhand der Schilderung einer Bundestagsanhörung, bei der er kaum auf mit- und nachdenkende Zuhörer unter den Abgeordneten gestoßen sei. 19  So hatte Peter Franke die gesetzgeberischen Entscheidungen für die §§ 45 f. VwVfG und für die Konzentration des Rechtsschutzes bei mehrstufigen Planungsund Zulassungsverfahren jeweils positiv bewertet. 15  Berkemann,

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Gesetzgeber die völker- und unionsrechtlichen Vorgaben nur Schritt für Schritt umsetze, was vor dem Hintergrund der Planbarkeitsbedürfnisse der Vorhabenträger20 problematisch sei. Auch Annette Guckelberger machte ein Hinterherhinken des deutschen Gesetzgebers aus und mahnte eine systematisch austarierte Ausgestaltung des Umweltprozessrechts an. Rüdiger Nebelsieck forderte mehr Mut bei der Gesetzgebung. Guckelberger schloss daran an: Der Gesetzgeber solle das „Recht im positiven Sinne gestalten“. Spieth forderte überdies mehr Einflussnahme „in Brüssel“. Überwiegend auf Ablehnung stieß hingegen Frank Andreas Schendels Gedanke einer umfassenden Kodifizierung des Umwelt(-prozess-)rechts. Schendel nannte die frühere „Sendler-Kommission“ zum Umweltgesetzbuch als mögliches Vorbild. Durch wissenschaftliche Beratung könne gesetzgeberische Aktivität motiviert oder gar faktisch erzwungen werden. Peter Franke und Rüdiger Nebelsieck meldeten Zweifel an der umfassenden Kodifizierbarkeit des Umwelt(-prozess-)rechts an. Die Diskutierenden stellten indessen auch heraus, dass das Gesamtproblem nicht allein durch „mutige“ und systematisch ausgewogene Veränderungen des Umweltprozessrechts zu bewältigen sei: Wolf Friedrich Spieth und Peter Franke betonten – wie schon erwähnt21 –, dass auch das materielle Umweltrecht Veränderungen erfahren müsse. Jedoch sei hier ein Abtauchen des Gesetzgebers zu beobachten, so Spieth. Nach dieser intensiven Kritik am nationalen Gesetzgeber versuchte es Prof. em. Dr. Michael Kloepfer mit einem optimistischen Abschluss: Immerhin bestehe die Chance zu Verbesserungen durch künftige Gesetzgebung. 4. Rechtsfrieden Ein gedanklicher Kreis über der Tagung schloss sich, als Rüdiger Nebelsieck auf die Befriedungsfunktion des Rechtsschutzes im Umweltbereich zu sprechen kam. Schon am Vormittag hatte der wissenschaftliche Leiter der Tagung, Prof. em. Dr. Michael Kloepfer, an Peter Wysk die Frage gerichtet, ob durch Rechtsschutz im Umweltbereich noch Frieden gestiftet werden könne. Nebelsieck stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Befriedungsfunktion des Rechtsschutzes auf der einen Seite und dem schon angesprochenen22 Verhältnis von Sachfragen und „Formalia“ auf der anderen Seite her: Dann wenn sich Verwaltungsgerichte intensiv mit der Konfliktlösung in der Sache beschäftigten und sich weniger hinter „Formalia“ 20  s. o.

I. 1. I. 2. 22  s. o. I. 2. 21  s. o.



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versteckten, bestünde eine Chance für Befriedung durch gerichtlichen Rechtsschutz. Frank Andreas Schendel brachte zudem eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung als Befriedungsreserve ins Gespräch und führte so einen Gedanken von Peter Franke23 weiter.

III. „Was soll die Zukunft bringen: mehr oder weniger oder anderen Rechtsschutz im Umweltrecht?“ Zum Abschluss der Podiumsdiskussion bat Peter Wysk die Diskutierenden um eine Antwort auf die Leitfrage der Diskussion: „Was soll die Zukunft bringen: mehr oder weniger oder anderen Rechtsschutz im Umweltrecht?“ 1. Antworten der Diskutierenden Die Antworten der Beteiligten wiesen eine klare Gemeinsamkeit auf: Die Entwicklung hin zu „weniger Rechtsschutz im Umweltrecht“ sah – vor allem angesichts der völker- und europarechtlichen Vorgaben – niemand. Freilich wurde hier nicht immer klar getrennt zwischen der Frage, wie sich der Umweltrechtsschutz entwickeln soll, und jener, wie er sich entwickeln wird. Die Antworten bezogen sich dann eher – der Komplexität des normativen Mehrebenensystems geschuldet – auf die Frage, wie die Akteure der nationalen Rechtsordnung, insbesondere der nationale Gesetzgeber, mit den Vorgaben des Völker- und Unionsrechts umzugehen haben.24 Wiederholt und betont wurden die Forderungen nach mehr Mut und positiver Gestaltungskraft bei der Gesetzgebung (Nebelsieck, Guckelberger), verbessertem materiellem Recht (Franke, Spieth), einer Stärkung der Öffentlichkeitsbeteiligung im Verwaltungsverfahren (Schendel) und intensiverer Konzentration der Gerichte auf die Inhalte bei gleichzeitiger Abkehr von kontraproduktiven prozessualen Beschleunigungselementen (Nebelsieck). 2. Fazit Die Podiumsdiskussion legte verschiedene Gründe für die Hyperkomplexität der Fortentwicklung des Umweltprozessrechts offen: Hervorzuheben sind das Verfangensein im normativen Mehrebenensystem und das schwierig abstimmbare Zusammenwirken von materiellem Recht, Verfahrensrecht und Prozessrecht. 23  s. o.

I. 2. Ausnahme bildete insoweit Spieths Forderung nach mehr Einflussnahme der nationalen Organe in Brüssel. 24  Eine

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Die Schwierigkeiten werden potenziert durch die häufig verschiedenartigen Ansätze im traditionellen nationalen Umweltrecht auf der einen Seite und im Umweltvölker- und -europarecht auf der anderen Seite. Hier rührt letztlich die – in der Diskussion omnipräsent kritisierte – zurückhaltende, nicht mutige (das heißt: feige?) Gesetzgebung im Umwelt(-prozess-)recht her. Wahrscheinlich wäre es wirklich schöner, wenn wir § 42 Abs. 2 VwGO – oder zumindest das zu enge dogmatische Verständnis des subjektiv-öffentlichen Rechts – „nicht hätten“.25 Doch auch abgesehen von dieser Grundentscheidung für die Verletztenklage im deutschen Verwaltungsprozessrecht: Die Diskussion hat gezeigt, dass das deutsche Umweltrecht an verschiedenen Stellen Verbesserungen erfahren kann. Das Feld der verbesserungsfähigen Regelungsbereiche reicht von der sachgerechten Ausgestaltung von verwaltungsprozessrechtlichen Beschleunigungselementen wie der Präklusion über die (weitere) Stärkung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Öffentlichkeitsbeteiligung bis hin zu handhabbaren materiell-rechtlichen – insbesondere auch untergesetzlichen – Regelungen.

25  Dabei steht § 42 Abs. 2 Halbsatz 2 VwGO stellvertretend – und fast schon sinnbildlich – für die verschiedenartigen Ansätze im traditionellen nationalen Umweltrecht auf der einen Seite und im Umweltvölker- und -europarecht auf der anderen Seite. Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass durch einen erweiterten Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts die Anpassung an völker- und unionsrechtliche Vorgaben durchaus unter Beibehaltung des § 42 Abs. 2 Halbsatz 2 VwGO erreichbar ist. Vgl. Hong, JZ 2012, 380 ff.; Franzius, in diesem Band, S. 145 (156 f.); ferner Krüper, in diesem Band, S. 163 (175 ff.).

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Dr. Jörg Berkemann, Ri­BVerwG a. D., Universität Hamburg Prof. Dr. Wolfgang Ewer, Rechtsanwalt, Weißleder Ewer Rechtsanwälte, Kiel Priv.-Doz. Dr. Claudio Franzius, Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Remo Klinger, Rechtsanwalt, Geulen & Klinger Rechtsanwälte, Berlin Prof. em. Dr. Michael Kloepfer, Humboldt-Universität zu Berlin, Präsident des Forschungszentrums Umweltrecht Prof. Dr.  Julian Krüper, Ruhr-Universität Bochum Rico David Neugärtner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Humboldt-Universität zu Berlin Ri­BVerwG Dr. Peter Wysk, Bundesverwaltungsgericht, Leipzig Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer