Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie: Festgabe für Otto Kunze zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428421183, 9783428021185

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Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie: Festgabe für Otto Kunze zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428421183, 9783428021185

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Recht und Rechtsleben in der 80zialen Demokratie

Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie Festgabe für OUo Kunze zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Kurt Ballerstedt, Ernst Friesenhahn, Üswald v. Nell.Breuning

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung, für sämtlllche iBeiträge vorbehalten © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1968 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

Zum Geleit "Gerechtigkeit erhöht ein Volk": dieser uralte Weisheitsspruch trifft gerade in der sozialen Demokratie den tiefsten Sinn des Rechts. Otto Kunze pflegt diesen Spruch, zumal alles Pathos ihm fernliegt, nicht zu zitieren. Gleichwohl ist damit der ethische und politische Gehalt seines breiten beruflichen Wirkens umschrieben. Als leitender Jurist des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat Dr. Kunze an der bedeutenden Entwicklung, die das Arbeitsrecht in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Tarifpraxis durchlüufen hat, zwei Jahrzehnte hindurch beträchtlichen Anteil gehabt. In gleicher Weise gewichtig war seine Stimme im innergewerkschaftlichen Gespräch, wenn es um die Bildung von Rechtsmeinungen oder um die Formulierung rechtspolitischer Forderungen ging. Die von dem Bundeskongreß des DGB in München noch vor kurzem wieder so eindrucksvoll bekundete Erkenntnis, daß die Gewerkschaften nur innerhalb der verfaßten Ordnung unseres Gemeinwesens ihre Aufgabe erfüllen können, hat der Jubilar von jeher mit der ihm eigenen Beharrlichkeit und Überzeugungskraft vertreten. Er hat die Aufgabe der Gewerkschaften stets in dem Sinne umfassend gesehen, daß sie nicht allein die gesellschaftlichen und wirtsch·aftlichen Interessen der Arbeitnehmer zu wahren, sondern damit zugleich an der sozialstaatlichen Rechtsordnung mitzubauen haben. Diese Grundanschauung war auch die Leitlinie seines Wirkens in der Geschäftsführung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften. Weil Dr. Kunze in diesem Sinne seine Arbeit als Jurist stets am Gemeinwohl orientierte, strahlte seine Wirksamkeit weit über den Bereich der Gewerkschaften aus. Als langjähriger Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, als Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen, als Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages, als Mitglied zahlreicher rechtspolitischer Kommissionen, als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat und in so manchen anderen Funktionen hat er seine glänzenden juristischen Fähigkeiten, seine erstaunliche Arbeitskraft in den Dienst staats-, unternehmens- und arbeitsrechtlicher Problemlösungen gestellt. In der großen Zahl seiner wissenschaftlichen Publikationen hat sich ein Teil seiner Tätigkeit innerhalb der Arbeitnehmerorganisationen und in der breiten Öffentlichkeit niedergeschlagen.

VI

Geleitwort

Unbeirrbare Rechtlichkeit der Gesinnung und menschliche Wärme haben dem Jubilar eine große Zahl von Freunden gewonnen. Ein Teil von ihnen hat sich mit den Herausgebern in der Mitarbeit an dieser Festgabe verbunden, um Otto Kunze anläßlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst des DGB ein Zeichen der Verbundenheit zu geben. So gewiß das Gedeihen des Rechts oder sozialer Gebilde niemals allein die Leistung eines Einzelnen sein kann, so sicher ist auch, daß unser gesellschaftliches Leben verkümmern müßte ohne den Einsatz kraftvoller Persönlichkeiten, die sich rückhaltslos dem Dienst am Gemeinwohl verschrieben haben. Für sein Wirken in solchem Sinne möchten Mitarbeiter und Herausgeber dem Jubilar aus Anlaß seines 65. Geburtstages am 3. August 1969 Anerkennung und Dank bekunden. Bonn/Frankfurt, im August 1969 Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

Bundespräsident Dr. jur. Dr. rer. pol. Gustav W. Heinemann, Bonn: Richterwahlausschuß und ehrenamtliche Richter ....................

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Bundesverfassungsrichter a. D. Professor Dr. jur. Dr. jur. h. c. Ernst

Friesenhahn, Bonn:

Die Pressefreiheit im Grundrechtssystem des Grundgesetzes. Ein Diskussionsbeitrag .................................................... 21 Professor Dr. jur. Kurt Ballerstedt, Bonn: Privatrecht und Politik. Zur Frage der politischen Bildung der Juristen 39 Landesminister a. D. Professor Dr. phil. Ludwig Preller, Eppenhain/Ts. Die Gesellschaft, in der wir leben ..................................

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Oberbürgermeister Professor Dr. Willi Brundert, Frankfurt: Kommunale Selbstverwaltung als älteste Form bürgerschaftlicher Mitbestimmung.................................................... 77

Unternehmen Dr. jur. Robert Fischer, Präsident des Bundesgerichtshofes, Karlsruhe: Zur Methode revisionsrichterlicher Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts (dargestellt an Hand der Rechtsprechung zu den Stimmrechtsbindungsverträgen) ............................... 95 Professor Dr. rer. pol. Dr. h. c. Karl Hax, Frankfurt: Betriebswirtschaftliche Deutung der Begriffe "Betrieb" und "Unternehmung" ......................................................... 109 Professor Dr. jur. Konrad Duden, Mannheim: über Unternehmensziele ........................................... 127 Professor Dr. theol. Dr. jur. h. c. Oswald von Nell-Breuning, Frankfurt: Rechtsformzwang für Großunternehmen? .......................... 143 Ministerialdirektor Professor Dr. jur. Ernst Geßler, nonn: Faktische Konzerne? .............................................. 159

VIII

Inhaltsverzeichnis

Professor Dr. jur. Hans Würdinger, Hamburg: Der Begriff Unternehmen im Aktiengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177 Rechtsanwalt Professor Dr. jur. Wolfgang Schilling, Mannheim: Rechtspolitische Gedanken zur GmbH & Co ........................ 189 Wirtschaftsprüfer Rechtsanwalt Dr. Reinhard Goerdeler, Vorstandsmitglied der Deutschen Treuhand-Gesellschaft, Frankfurt: Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen ...................... 209

Arbeitsrecht Ministerialdirektor a. D. Professor Dr. jur. Wilhelm Herschel, Bonn: Die typologische Methode und das Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 225 Professor Dr. jur. Gerhard Müller, Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Kassel: Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Anfechtung der Betriebsratswahl .................................................. 243 Senator a. D. Rechtsanwalt Dr. jur. Adolf Arndt, MdB, Berlin: Thesen zu Artikel 9 Absatz 3 GG .................................. 265 Staatssekretär a. D. Professor Dr. jur. Wilhelm Reuss, Wiesbaden: Koalitionseigenschaft und Tariffähigkeit. Zu einigen kontroversen Grundfragen ...................................................... 269 Bundesarbeitsrichterin Professor Dr. jur. Marie-Luise Hilger, Kassel: Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln in betrieblichen Ruhegeldregelungen ........................................................ 291

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von otto Kunze .. 303

Demokratie

Richterwahlau88chuß und ehrenamtliche Richter Von Gustav Heinemann* 1. Fragestellung

Wenn das Grundgesetz in Art. 92 die rechtsprechende Gewalt "den Richtern anvertraut", so liegt darin mehr als nur die Zuweisung staatlicher Zuständigkeiten an eine Gruppe anonymer Staatsdiener, deren Aufgabe zufällig darin besteht, bei Streitfällen einen verbindlichen Rechts- und Wahrspruch zu fällen. In dem Wort "Anvertrauen" spiegelt sich das Bemühen um ein neues, nämlich demokratisches Verständnis des Richters wider: Der Richter ist "nicht ein Werkzeug in der Hand eines anderen Trägers der Staatsgewalt"t, sondern leitet die Legitimität seiner richterlichen Funktionen unmittelbar aus der Souveränität des Volkes ab, in dessen Namen er Recht spricht. Dieser unmittelbaren Verknüpfung der rechtsprechenden Gewalt mit der Volkssouveränität hat das Grundgesetz durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Richterwahlprinzips, das in Art. 94 Abs. 1 für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, in Art. 95 Abs.2 für die Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes konstituiert ist, sinnfälligen Ausdruck verliehen. Die Auswahl der höchsten Richter ist nicht mehr allein Sache des staatlichen Behördenapparates, sondern wird vom Volk durch seine gewählten Vertreter mitbestimmt und mitverantwortet. Aber noch ein weiteres Element vermag die Rechtspflege, die früher weithin ein sorgsam gehütetes Reservat der Berufsjuristen war, als Äußerung des unter einer gemeinsamen Rechtsordnung geeinten Volkes zu verdeutlichen: Die Wahrnehmung richterlicher Aufgaben durch ehrenamtlich tätige Bürger. Dieses ehrenamtliche Ricbterelement hat seit Inkrafttreten des Grundgesetzes in allen Gerichtszweigen bis hinauf zu den obersten Gerichtshöfen eine zuvor nicht gekannte Stärkung erfahren. Im Bereich der obersten Gerichtshöfe können die ehrenamtlichen Richter beim BundesarbeitsgeriC'ht auf eine bereits durch das Arbeits• Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Max Dietlein, Lehrbeauftragter an der Universität Köln. 1

1"

Vgl. Dernedde, ZJBI 1949, S. 102.

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gerichtsgesetz von 19262 begründete Tradition verweisen. Hinzu kommen die ebenfalls ehrenamtlichen Richter beim Bundessozialgericht sowie die nichtberufsrichterlichen Beisitzer in verschiedenen Fachsenaten des Bundesgerichtshofes, nämlich in den Senaten für Anwaltssachen, für Notarsachen, für Patentanwaltssachen, für Steuerberaterund Steuerbevollmächtigtensachen, im Landwirtschaftssenat und im Dienstgericht des Bundes. Schließlich wird in den Disziplinar- und Wehrdienststrafsenaten des Bundesverwaltungsgerichts eine große Anzahl nichtberufsrichtt!rlicher Beisitzer tätig. Das Nebeneinander von Richterwahlprinzip und ehrenamtlichem Richterelement, die jedes auf seine Weise die Rechtspflege als vom Volke selbst beliehene Gewalt darstellen, ist nicht ohne verfassungsrechtliche Problematik. So ist seit langem die Frage umstritten, ob die in Art. 95 Abs. 2 GG vorgeschriebene Mitwirkung des Richterwahlausschusses auch bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter der obersten Gerichtshöfe geboten sei. Die Staatspraxis hat dieses Mitwirkungserfordernis bisher stets auf die Bestellung der Berufsrichter dieser Gerichtshöfe beschränkt, während die ehrenamtlichen Richter aufgrund von Vorschlagslisten der nach den verschiedenen Gesetzen präsentationsberechtigten Verbände und Körperschaften allein von dem jeweils zuständigen Bundesminister berufen worden sind. Besondere Bedeutung hat diese Frage für die Bundesarbeitsrichter, die von den ~elbständigen Arbeitnehmerorganisationen insbesondere den Gewerkschaften - sowie den Arbeitgebervereinigungen vorgeschlagen werden, sowie für die Bundessozialrichter, für die das Vorschlagsrecht teils bei den Sozialpartnern, teils bei bestimmten Behörden, teils bei den Zusammenschlüssen der Sozialversicherungsträger, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kriegsopfer liegt. Bisher wurden die als Bundesarbeits- oder Bundessozialrichter vorgeschlagenen Personen allein vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berufen. Die Staatspraxis kann sich dabei auf die in Rechtsprechung 3 und Schrifttum4 überwiegend vertretene Ansicht berufen, der Richterwahlausschuß habe von Verfassungs wegen nur die Berufsrichter der obersten Gerichtshöfe zu wählen. Dagegen haben sich vor allem Hamann 5 und Jahn6 gewendet, nach deren Ansicht der Richterwahlausschuß §§ 41 Abs.1, 43 Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 (RGBl I S.507). BGHZ 33, S. 381 f. 4 BetteTmann, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Grundrechte, Bd.III Halbbd.2, S.607; KTeft, DRiZ 1961, S.166; GeigeT, Deutsches Bundesrecht, 20. Lfg., II B 11, Erl. zu § 1 RiWahlG; DeTSch-VolkmaT, ArbGG, 6. Aufi., Anm.2 zu § 42; Dietz-Nikisch, ArbGG, Anm.3 zu § 43 u. a.; unentschieden NippeTdey, BB 1953, S.511. 2 3

" Komm. zum GG, 2. Aufi., Anm. B 2 zu Art. 96.

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DRiZ 1961, S. 315.

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gleichermaßen bei der Berufung der haupt- und ehrenamtlichen Richter eingeschaltet werden muß. 2. Wortauslegung der Verfassung Dem Wortlaut nach, von dem jede Norminterpretation ihren Ausgang nehmen muß, macht Art. 95 Abs. 2 GG - ebenso wie schon vor Inkrafttreten des 16. Änderungsgesetzes7 zum Grundgesetz Art. 96 Abs.2 GG a. F. - keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen Berufs- und ehrenamtlichen Richtern, sondern spricht allgemein von der "Berufung der Richter", an welcher der Richterwahlausschuß mitzuwirken habe. In diesem Zusammenhang ist darauf hingewiesen worden, das Grundgesetz spreche dort, wo es den Begriff "Bundesrichter" verwende 8 , ebenso wie auch andere Rechtsvorschriften9 lediglich die Berufsrichter an lO • Die Verwendung des Begriffs "Bundesrichter" im IX. Abschnitt des Grundgesetzes über "Die Rechtsprechung" würde demnach nicht an die richterliche Funktion, sondern an den berufsrichterlichen Status des betreffenden Personenkreises anknüpfen. Dem wird man zwar folgen können. Nicht verständlich ist jedoch die daraus gezogene Folgerung, im gleichen Sinne müsse alsdann auch der in Art. 95 Abs. 2 GG - früher Art. 96 Abs. 2 S. 1 GG a. F. - verwendete Begriff "Richter" verstanden werden; denn man wird dem Verfassunggeber ohne zureichenden Grund nicht unterstellen können, er habe den systematischen Regeln einer einheitlichen Rechtssprache zuwider im gleichen Abschnitt des Grundgesetzes zur Bezeichnung ein und desselben Tatbestandes unterschiedliche Begriffe geprägt. Bei einer bloßen Wortauslegung der betreffenden Verfassungsvorschriften wird man vielmehr das Wort ,.Richter" in einem umfassenderen Sinne zu verstehen haben als das Wort "Bundesrichter". Allerdings will der Begriff "Richter" im IX. Abschnitt des Grundgesetzes bisweilen auch nur die Berufsrichter des Bundes und der Länder zusammenfassend bezeichnen, wie dies beispielsweise in Art. 97 Abs. 2 GG der Fall ist, der die Entlassung und Amtsenthebung von Richtern behandelt. Soweit die Verfassung unter Richtern aber nur die Berufsrichter versteht, pflegt sie diese Einschränkung im allgemeinen jedoch durch nähere Umschreibungll , durch Verweisung12 oder Gesetz vom 18.6. 1968 (BGBI I, S.657). Vgl. Art. 94 Abs. 1, S. 1, 96 Abs.4, 98 Abs. 1 und 2. 9 §§ 42 Abs. 1, 43 Abs. 1 ArbGG, §§ 38 Abs.2, 45 Abs.2 SozGG, §§ 106 Abs.2, 107 f. BRAO, Anlage I z. BBesG. 10 Abg. Leuze i. d. BT-Sitzung vom 11. 6. 1953, Stenogr. Berichte, 1953, S. 13, 314 u. a. 11 Vgl. Art. 97 Abs.2 GG. 12 Vgl. Art. 98 Abs. 5 GG. 7

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durch den systematischen Zusammenhang eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Daher wird man die Verwendung des Wortes Richter ohne erläuternden Zusatz als Anzeichen dafür nehmen müssen, daß damit Berufs- und ehrenamtliche Richter in gleicher Weise gemeint sind. So besteht denn auch - soweit ersichtlich - kein Streit darüber, daß etwa Art. 92 GG, der die rechtsprechend~ Gewalt den Richtern anvertraut, oder Art. 97 Abs.1 GG, durch den sie für "unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen" erklärt werden, sowie Art. 1.01 Abs.1 S.2 GG (Gewährleistung des gesetzlichen Richters) den Richterbegriff in diesem umfassenden Sinne verstehen13• 3. Systematische Argumente Gegen eine so umfassende Auslegung des Richterbegriffs im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Regelung der Richterwahl ist in der bisherigen Diskussion vor allem die systematische Verbindung zwischen den Sätzen 1 und 2 des Art. 96 Abs.2 GG a. F. - Vorläufer des jetzt geltenden Art. 95 Abs. 2 GG - ins Feld geführt worden14• Während nämlich Satz 1 dieses Absatzes - durch Bezugnahme auf Art. 95 Abs.2 GG a. F. - die Richterwahl für die "Richter der oberen Bundesgerichte" vorschrieb, bestimmte unmittelbar daran anschließend Satz 2, "ihre Dienstverhältnisse" seien durch besonderes Bundesgesetz zu regeln. Aus der sprachlichen Anknüpfung dieses Satzes 2 an den vorangehenden Satz 1 wurde gefolgert, beide Sätze bezögen sich auf den gleichen Personenkreis, nämlich auf die Berufsrichter, weil nur diese in einem regelungsfähigen "Dienstverhältnis" stünden. Dieses Argument vermag wenig zu überzeugen. Das in Art. 96 Abs.2 Satz 2 GG a. F. verwendete Wort "Dienstverhältnisse" ist ebenso wie der Begriff "Öffentlicher Dienst", von dem es sprachlich und inhaltlich abgeleitet ist, einer vom jeweiligen Sinnzusammenhang losgelösten Ausdeutung nicht zugänglich; denn einen einheitlichen Begriff "Öffentlicher Dienst" gibt es nicht15 • Manche Vorschriften verstehen darunter allerdings nur die berufsmäßige Dienstleistung für einen öffentlich-rechtlichen· Dienstherrn16• Die Betonung kann jedoch auch auf dem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis liegen oder aber auf der Verpflichtung zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse. Damit werden jedoch jeweils nur Teilbereiche oder Teilaspekte dessen erfaßt, was dem öffentlichen Dienst im weite13

14

Kreft, DRiZ 1961, S. 166. Kreft, a.a.O., Friesenhahn, in: Festschrift für Richard Thoma, 1950,

S.32 u. v. a. 15 Vgl. BVerfG nOv 1963, S.262. 16 So versteht Art. 33 Abs. 5 GG unter öffentlichem Dienst nur die Berufsbeamten, vgl. BVerfGE 3, S. 186.

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ren Sinne zuzurechnen ist. Sofern nicht der Sinnzusammenhang eine einschränkende Auslegung gebietet, kommt jede öffentlich-rechtliche Dauerbeziehung zwischen einer Einzelperson und einem öffentlichrechtlichen Dienstherrn, aufgrund deren der Einzelne dem Dienstherrn zur Besorgung von Dienstgeschäften verpflichtet ist17 , oder - anders ausgedrückt - jede ständig oder auf eine gewisse Dauer einem öffentlich-rechtlichen Dienstherrn erbrachte Dienstleistung als Öffentlicher Dienst in Betracht. Solche Voraussetzungen sind nicht nur bei einem Berufs-, sondern auch bei einem Ehrenbeamten erfüllt, so daß bei beiden von einem "Dienstverhältnis" gesprochen werden kann18 • Diese Einsicht liegt auch dem Beamtenrechtsrahmengesetz zugrunde, das in Wahrnehmung der Kompetenz des Bundes, Rahmenvorschriften "über die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst stehenden Personen" zu erlassen19, die Rechtsstellung der Ehrenbeamten in seine Regelung einbezogen hat20 • Für ehrenamtliche Richter kann im Grundsatz nichts anderes gelten als für die im Bereich der vollziehenden Gewalt ehrenamtlich tätigen Personen, mit anderen Worten stehen auch die ehrenamtlichen Richter im öffentlichen Dienst und damit in einem Dienstverhältnis. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß ehrenamtliche Dienstverhältnisse rechtlich nicht so stark verdichtet sind wie die der berufsmäßig im Öffentlichen Dienst stehenden Personen. Diese graduellen Unterschiede rechtfertigten jedoch für sich allein wohl kaum, das in Art. 96 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. verwendete Wort "Dienstverhältnisse" ohne weiteres auf die Berufsrichter der oberen Bundesgerichte zu beschränken mit der Folgerung, daß auch Satz 1 dieses Absatzes nur diesen Personenkreis anspreche. Satz 2 des früheren Art. 96 Abs. 2 GG war in diesem Zusammenhang aber vor allem deshalb als überzeugungskräftiges Argument wenig geeignet, weil er nach überwiegender Meinung vom Parlamentarischen Rat lediglich infolge eines redaktionellen Versehens nicht gestrichen worden war21• Aus diesem Grunde hatte die Bundesregierung sich bereits bei der Vorlage des die Neuordnung der Bundesgerichtsbarkeit betreffenden Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes vom 7.6.196022 mit dem vom Bundesrat in seiner 218. Sitzung vom 6.5.1960 17 18

Maunz, Deutsches Staatsrecht, 13. Aufi., S.271. Maunz, a.a;O., S.273; WolfJ, Verwaltungsrecht II, 2. Aufl., S.401.

Vgl. Art. 75 Nr.l GG. Vgl. §§ 3 Abs. 2, 115 BRRG: Die Rechtsstellung der Ehrenbeamten richtet sich nach den allgemeinen beamtenrechtlichen Vorschriften, soweit aus der Ehrenamtlichkeit oder abweichenden Vorschriften nichts anderes folgt. 21 Vgl. Bonner Kommentar Erl. 11 B 2 zu Art.96 GG a. F.; Friesenhahn, a.a.O. 22 BT-Drucksache III/1901. J9

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beschlossenen Änderungsvorschlag einverstanden erklärt, Art. 96 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. zu streichen. Diese Streichung ist allerdings erst durch das 16. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes23 erfolgt. Dazu hat die Amtliche Begründung der Regierungsvorlage vom 20. 2. 196724 ausgeführt, daß diesem Satz "nach allgemeiner Ansicht neben Art. 98 Abs. 1 GG keine selbständige Bedeutung zukommt". Es läßt sich demnach nicht sagen, mit der Streichung des Satzes 2 habe der Gesetzgeber mit der Autorität einer verfassungs ändernden Mehrheit positiv klarstellen wollen, das in Satz 1 dieses Absatzes statuierte Wahlerfordernis beschränke sich nicht - wie zuvor mit Rücksicht auf die in Satz 2 unmittelbar folgenden Worte "ihre Dienstverhältnisse" angenommen worden war - auf die Berufsrichter. Eine solche Ausdeutung würde der erkennbaren Motivation dieser Änderung des Verfassungstextes nicht gerecht. Allerdings war dem Parlament bei der Streichung des Art. 96 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. die bei der Auslegung des Satzes 1 entstandene Streitfrage, in welchen Fällen der Richterwahlausschuß mitzuwirken hat, nicht unbekannt. Sie war nicht nur früher schon wiederholt Gegenstand von Verfassungsbeschwerden25, über die das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht zu entscheiden brauchte, sondern ist auch im Bundestag mehrfach kontrovers erörtert worden26• Man wird bei dem Parlament auch die Kenntnis voraussetzen dürfen, daß in der bisherigen Diskussion der mit den Worten "ihre Dienstverhältnisse" beginnende Satz 2 - ob zu Recht oder zu Unrecht - als systematisches Hauptargument ins Feld geführt worden ist, um die auf die Berufsrichter beschränkte Anwendbarkeit des vorangehenden Satzes 1 darzutun. Wenn der Bundestag trotzdem diesem Argument durch Streichung des Satzes 2 die Grundlage entzogen hat, ohne die umstrittene Rechtsfrage der Beteiligung des Richterwahlausschusses anderweitig zu klären, so liegt die Annahme nahe, daß auch er dem Satz 2 für die Frage, ob Satz 1 nur die Berufsrichter oder auch die ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichtshöfen erfasse, wenig Bedeutung beigemessen hat. 4. Teleologische Gesichtspunkte der Richterwahl 1. Die Frage nach der Richtigkeit der bisherigen Staatspraxis bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichts-

Cksetz vom 18.6.1968 (BGBl I, S.657). BT-Drucksache V11449. Vgl. 1 BvR 68/57 und 1 BvR 963/58. Stenogr. Berichte 1953, S. 13312 ff. und 13491, 1959, S. 3370 f., 1960, S. 7952 ff.; Sitzung des BT-Rechtsausschusses vom 6.11. 1958, Protokoll, S.7. 23 24 25 26

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höfen läßt sich aufgrund einer nur verbalen oder systematischen Auslegung kaum beantworten. Vielmehr wird man sich vor allem an dem mit der verfassungsrechtlichen Verankerung des Richterwahlprinzips verfolgten Sinn und Zweck orientieren müssen. Es besteht allgemeine übereinstimmung darüber, daß die Mitwirkung des Richterwahlausschusses bei der Berufung der höchsten Richter des Bundes deren demokratische Autorität und Legitimation stärken so1l27. Darin liegt eine Abkehr von dem zuvor gehandhabten System, die Bestellung der Richter allein in die Hand der vollziehenden Gewalt zu legen. Der traditionelle Vorrang des zuständigen Ministers bei der Auswahl der Richter sollte durch die Einschaltung eines hierzu parlamentarisch besonders legitimierten Gremiums eingeschränkt werden. Das Anliegen des Richterwahlprinzips, den Richter demokratisch zu legitimieren und die vollziehende Gewalt in ihrer Machtvollkommenheit zu beschränken, ist um so berechtigter, je unangreifbarer der dem Richter um seiner Unabhängigkeit willen eingeräumte Status ist. Mit der rechtlichen Verfestigung seiner Rechtsstellung wächst die Bedeutung, die dem Akt seiner Berufung zukommt. Deshalb läßt sich die Ansicht vertreten, das Wahlerfordernis aus Art. 95 Abs.2 GG müsse sich zuvörderst auf die berufsrichterlichen Mitglieder der obersten Gerichtshöfe beziehen; denn mit der Verleihung ihres Amtes werden sie unabsetzbar und unversetzbar. Demgegenüber erfolgt die Bestellung ehrenamtlicher Richter stets nur auf eine befristete Dauer, sie ist nicht endgültig. Diesen Gedanken mag ein vergleichender Hinweis auf Art. 98 Abs. 4 GG unterstützen, wonach die Länder bestimmen können, daß über die Anstellung ihrer Richter der Landesjustizminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß entscheidet. Hier ist offenbar nur an die Berufsrichter in den Ländern gedacht; denn eine "Anstellung" kommt nach dienstrechtlichem Sprachgebrauch nur bei Berufsbeamten und Berufsrichtern in Betracht28 . Erstreckt Art. 98 Abs.4 GG für den Länderbereich das Wahlprinzip aber nur auf die Berufsrichter, so mag eine gleichartige Beschränkung für den Bereich des Bundes nahe liegen. In diesem Zusammenhang ließe sich noch anfügen, daß auch der actus contrarius der Richterbestellung, nämlich die Entlassung eines Richters wider seinen Willen vor Ablauf der Amtszeit verfassungsrechtlich nur für die Berufsrichter geregelt ist29 . 27 Vgl. Abg. v. Merkatz, in: BT-Sitzung vom 14.7.1955, Stenogr. Berichte 1955, S.2727 C; Abg. Wittrock, in: BT-Sitzung vom 19.2.1959, Stenogr. Berichte 1959, S.3370; Jahn, DRiZ 1961, S.316 u. a. 2S Vgl. § 1 Reichsgrundsätze über Einstellung, Anstellung und Beförderung vom 14.10.1936, RGBI I S.893; § 8 Abs.l Bundeslaufbahn-VO. 29 Art. 97 AbS.2 Satz 1 GG.

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Mögen sich demnach Sinn und Zweck des Richterwahlprinzips erst bei den auf Lebenszeit angestellten Berufsrichtern in ihrer vollen Bedeutung entfalten, so darf dennoch nicht übersehen werden, daß Richterwahl und Bestellung zum Richter auf Zeit sich keineswegs ausschließen. So war bereits in Art. 128 d Abs. 3 des vom Rechtspflegeausschuß des Parlamentarischen Rates am 6. 12. 1948 beschlossenen Entwurfs für die Richter des Obersten Bundesgerichts folgende Bestimmung vorgesehen: "Die Wahl kann auf Zeit oder auf Lebenszeit erfolgen." Im geltenden Recht bestimmt § 4 Abs.2 BVerfGG, daß die Mehrzahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts, die nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden, auf die Dauer von acht Jahren bestellt werden. Auch läßt sic.~ nicht sagen, ehrenamtliche Richter könnten notfalls ihrer richterlichen Funktionen enthoben werden, so daß ihrer Berufung nicht die bei den Berufsrichtern die Einschaltung des Richterwahlausschusses rechtfertigende Bedeutung zukomme 30• Richter auf Zeit, mögen sie hauptberuflich oder ehrenamtlich tätig sein, sind für die Dauer ihrer Amtsperiode ebenso unabsetzbar und unversetzbar wie die Richter auf Lebenszeit; ihre Unabhängigkeit ist lediglich durch die Befristung ihrer Berufung relativiert. Allerdings nehmen die Berufsrichter an den obersten Gerichtshöfen - sei es wegen ihrer größeren Rechtskunde, sei es wegen der Kontinuierlichkeit ihrer richterlichen Tätigkeit - erfahrungsgemäß stärkeren Einfluß auf die Gestaltung der Rechtsprechung als die ehrenamtlichen Richter 31 . Rechtspolitisch mag es daher sachgerecht sein, bei der Bestellung der Berufsrichter durch die Mitwirkung des Richterwahlausschusses Sicherungen einzubauen, auf- die man bei der Auswahl der ehrenamtlichen Beisitzer eher verzichten kann. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht den ehrenamtlichen Richtern, wo immer sie tätig werden, zumindest bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen die gleichen Rechte einräumt wie den Berufsrichtern. Bei den nichtberufsrichterlichen Beisitzern der obersten Gerichtshöfe kommt hinzu, daß sie nicht nach der Art von Schöffen lediglich als Laien ihre praktischen Lebenserfahrungen für die Rechtsfindung verwerten sollen, sondern daß sie sich je nach dem Gerichtszweig durch besondere fachliche Qualifikationen auszeichnen müssen, um als Richter bestellt werden zu können 31l • Eine 30 Vgl. z. B. Abg. Dwers, in: BT-Sitzung vom 11. 6.1953, Stenogr. Berichte 1953, S. 13313. 31 Vgl. Kreft, a.a.O., S.167. 32 Vgl. z. B. § 43 Abs.2 ArbGG, §§ 106 f. BRAO.

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Herabstufung der ehrenamtlichen Beisitzer zu Richtern minderen Grades würde dem demokratisch legitimierten Anliegen, das nichtberufsrichterliche Element in der Rechtsprechung gegenüber früher zu stärken, sicherlich zuwiderlaufen. 2. Dem mit der Einschaltung des Richterwahlausschusses verfolgten Bestreben, den Einfluß der vollziehenden Gewalt zurückzudrängen, mag bei der Bestellung ehrenamtlicher Richter an den obersten Gerichtshöfen indessen ein geringeres Gewicht deshalb zukommen, weil der jeweils zuständige Bundesminister hier nicht frei entscheiden kann, sondern bei der Auswahl an Vorschlagslisten der nach den jeweiligen Gesetzen präsentationsberechtigten berufsständischen Körperschaften, arbeitsrechtlichen Koalitionen, Behörden oder Verbände gebunden ist. Diese Bindung ergibt sich zwar nur aus einfachgesetzlichen Bestimmungen, nicht aus der Verfassung. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß auch schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes der zuständige Minister, soweit er mitwirkte, bei der Berufung ehrenamtlicher Richter durch gesetzliche Vorschlagsrechte von Körperschaften, Verbänden oder sonstigen Stellen Beschränkungen unterworfen war 33 • Man wird nicht unterstellen können, der Parlamentarische Rat habe dieses - vor allem bei den Reichsarbeitsrichtern des früheren Reichsarbeitsgerichts - bewährte Vorschlagsprinzip durch die Bestimmungen über die Richterwahl beseitigen wollen. Aber auch wenn er solche Präsentationsrechte nicht antasten wollte, läßt sich daraus nicht zwingend folgern, für die ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichtshöfen bedürfe es keiner zusätzlichen demokratischen Legitimation durch Richterwahl mehr, weil sie vor ihrer Berufung bereits den Filter anderer vorschlagsberechtigter Gremien durchlaufen haben; denn diese einfachgesetzlichen Vorschlagsrechte schließen eine Mitwirkung des Richterwahlausschusses bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter nicht aus. Zwar hätte der Richterwahlausschuß selbst kein eigenes Präsentationsrecht, wie es ihm derzeit nach § 10 Abs.1 des Richterwahlgesetzes 34 zusteht, sondern wäre an die ihm unterbreiteten Vorschläge gebunden. Innerhalb dieser Vorschläge könnte er jedoch eine eigenverantwortliche Auswahl treffen. Ein solches Zusammenspiel der vorschlagsberechtigten Organisationen und Verbände einerseits und eines parlamentarisch legitimierten Richterwahlausschusses andrerseits ist sogar wiederholt als wünschenswert bezeichnet worden, um die Gefahr des übergreifens einer "Verbändeherrschaft" auf die Dritte Gewalt zurückzudrängen35 • Den Hinter33 Vgl. §§ 36---44, 84 GVG, § 20 Abs.l, § 37 Abs.2, § 43 Abs.l ArbGG 1926, §§ 87, 89 RVO.

Richterwahlgesetz vom 25.8.1950 (BGBI I S.368). Vgl. Arndt im Anwaltsblatt 1957, S. 190 f.; Bettermann, in: BettermannNipperdey-Scheuner, Grundrechte, Bd. III Halbbd. 2, S. 532, 606. 34 35

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grund solcher Empfehlungen bildet eine Präsentationspraxis, wie sie beispielsweise bei der Bestellung der Bundesarbeitsrichter seit längerem geübt wird: Die von Gesetzes wegen vorschlagsberechtigten Organisationen schlagen teilweise jeweils nur so viele Kandidaten als Bundesarbeitsrichter vor, wie beim Bundesarbeitsgericht benötigt werden. Dem auf die Vorschläge gesetzlich angewiesenen zuständigen Bundesminister verbleibt somit keine eigene Auswahlmöglichkeit mehr. Seine Entscheidung über die Berufung der ehrenamtlichen Richter wird damit zu einem reinen Formalakt entwertet. Diese Praxis - mag sie ihren Grund auch darin haben, daß geeignete Kandidaten für das Amt eines Bundesarbeitsrichters nicht in genügender Anzahl zur Verfügung stehen - ist verfassungsrechtlich nicht unbedenklich; denn die Mitwirkung des Staates bei der Bestellung der Richter ist ein konstituierendes Element der rechtsprechenden Gewalt 36 • 3. Bei der Frage nach dem Umfang der Befugnisse des Richterwahlausschusses kann schließlich die verfassungsrechtliche Organisation dieses Ausschusses nicht außer Betracht bleiben. Nach Art. 95 Abs.2 GG besteht er je zur Hälfte aus den für den jeweiligen Gerichtszweig zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die vom Bundestag gewählt werden. In dieser Konstruktion fmdet das föderale Prinzip insofern Ausdruck, als den Ländern durch die Mitwirkung der Länderminister im Richterwahlausschuß bei der Besetzung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt wird. Hier wiederholt sich in abgewandelter Form der föderale Gedanke aus Art. 36 Abs.l Satz 1 GG, wonach auch bei den obersten Behörden des Bundes Beamte aus allen Bundesländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden sind. Im Richterwahlausschuß kann sich diese um des föderalen Prinzips willen gewährleistete Mitbestimmung der Länder in vollem Umfang nur bei den Berufsrichtern auswirken, die im allgemeinen aus den von den Länderministern betreuten Gerichtszweigen kommen. Bei der Bestellung der ehrenamtlichen Richter hat demgegenüber der Richterwahlausschuß, wenn er in seiner Auswahl an die ihm unterbreiteten Vorschlagslisten gebunden ist, keine Möglichkeit, von sich aus dem föderalen Gedanken bei der personellen Zusammensetzung der obersten Gerichtshöfe Geltung zu verschaffen. Hier müßte es vielmehr den vorschlagsberechtigten Organisationen, die insoweit übrigens auch jetzt schon den Wünschen ihrer regionalen Gliederungen Rechnung tragen müssen, überlassen bleiben, bei der Aufstellung der Vorschlagslisten landsmannschaftliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 36

BVcrfGE 18 S.241.

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5. Entstehungsgeschichte des Richterwahlprinzips Die Zweifel, die bei einer am Wortlaut und Sinnzusammenhang des Art. 95 Abs. 2 GG orientierten Auslegung gegen die Richtigkeit der Staatspraxis bestehen bleiben mögen, können auch durch die Heranziehung der Entstehungsgeschichte dieser Regelung nicht restlos behoben werden. Obgleich man davon ausgehen darf, daß der Parlamentarische Rat - vor allem im Hinblick auf die Reichsarbeitsrichter des früheren Reichsarbeitsgerichts - die Möglichkeit einer Verwendung ehrenamtlicher Richter bei den obersten Gerichtshöfen durchaus vor Augen hatte 37 , hat er sich dennoch mit der Frage ihrer Berufung niemals ausdrücklich auseinandergesetzt. Die einzelnen Abgeordneten scheinen keine einheitlichen Vorstellungen über die Befugnisse dieses Ausschusses gehabt zu haben. So führte beispielsweise anläßlich der parlamentarischen Beratung der Bundesrechtsanwaltsordnung das ehemalige Mitglied des Parlamentarischen Rates Dr. Strauß in der Sitzung des Bundestages vom 19. 2. 1959 aus, man habe damals "bei der Richtei.·wahl natürlich nur an diejenigen Richter gedacht, die ihr Richteramt auf Lebenszeit und hauptberuflich ausüben"38. Demgegenüber erklärte der Abgeordnete Wagner in der gleichen Sitzung, er habe seinerzeit im Parlamentarischen Rat eine andere Vorstellung gehabt. Die Erklärung von Dr. Strauß geht allerdings offensichtlich an der Tatsache vorbei, daß - wie schon ausgeführt - die Wahl von Richtern auf Zeit vorübergehend ausdrücklich vorgesehen war und in § 4 Abs.2 BVerfGG geltendes Recht ist. Immerhin zeigen diese entgegengesetzten Äußerungen jedoch erneut, daß bei der Auslegung von Rechtsvorschriften gegenüber der Entstehungsgeschichte besondere Zurückhaltung geboten ist und - wie das Bundesverfassungsgericht stets betont hat - insbesondere den subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung einer Bestimmung kein entscheidender Wert beigemessen werden sollte39• Greift man dennoch auf die Materialien der Art. 95 und 96 GG a. F. zurück, so spricht vieles für die Annahme, daß der Parlamentarische Rat jedenfalls zunächst die Wahl von ehrenamtlichen Richtern durch den Richterwahlausschuß nicht in Betracht gezogen hatte. Die Diskussion um die Fragen, ob die Richter die Befähigung zum Richteramte haben sollten und durch einen Richterwahlausschuß zu wählen seien, ist dabei vornehmlich im Hinblick auf das früher vorgesehene oberste 37 Vgl. Abg. Dr. Arndt, in: BT-Sitzung vom 11. 6. 1953, Stenogr. Berichte 1953, S. 13314. 3R Vgl. BT-Sitzung vom 19.2. 1959, Stenogr. Berichte 1959, S. 3370. 39 BVerfGE 11 S.130; 13 S.268.

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Bundesgericht geführt worden; für die Richter der oberen Bundesgerichte - jetzt oberste Gerichtshöfe - sollte Entsprechendes gelten. Erstmals in der 5. Sitzung des Rechtspflegeausschusses des Parlamentarischen Rates vom 10.11. 1948 ist das Problem der Auswahl der Richter am obersten Bundesgericht erörtert worden40 • In seiner 7. Sitzung vom 6. 12. 1948 beschloß der Ausschuß sodann, seinen Beratungen folgenden Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses zugrunde zu legen41 : Art. 128 d (1) Die Richter des obersten Bundesgerichts müssen das 40. Lebensjahr vollendet haben und die Befähigung zum Richteramt besitzen. (2) Sie werden auf Vorschlag des Bundesjustizministers von einem Richterwahlausschuß gewählt, der aus den Landesjustizministern sowie einer gleichen Anzahl von Mitgliedern sowohl des Bundestages als auch des Bundesrates besteht. Dieser Art. 128 d, der Vorläufer des späteren Art. 95 GG a. F. war, wollte - wie der systematische Zusammenhang des Absatzes 2 mit Absatz 1 zeigte - die Richterwahl offensichtlich auf hauptamtliche Richter beschränken. In der 1. Sitzung des Hauptausschusses wurde der die Richterwahl betreffende Absatz 2 jedoch abgelehnt42 • Daraufhin beschloß der Rechtspflegeausschuß in seiner 9. Sitzung, dem Hauptausschuß zu empfehlen, die Bestellung der Richter einem einfachen Bundesgesetz vorzubehalten43• Diesen Vorschlag legte der Hauptausschuß seiner 2. Beratung vom 15.1.1949 zugrunde". Für die 3. Beratung des Hauptausschusses vom 10.2.1949 empfahl der Allgemeine Redaktionsausschuß, in Absatz 1 des Art. 128 d - nunmehr Art. 128-5 - die Worte "und die Befähigung zum Richteramt besitzen" zu streichen. Diesem Vorschlag folgte der Hauptausschuß in seiner 50. Sitzung. Einen Antrag des Abgeordneten Dr. von Mangoldt, es bei der Fassung der 2. Lesung des Hauptausschusses zu belassen, also die Befähigung zum Richteramt zu verlangen, lehnte der Ausschuß ab45 • Zu diesem abgelehnten Antrag bemerkte der Ausschußvorsitzende Dr. Schmid: "Man sollte nicht ausschließen, daß auch in dem obersten Bundesgericht, wenn der Gesetzgeber es will, Verwaltungsbeamte, unter Umständen sogar Laien sitzen können46 ." In der gleichen Sitzung lag dem Hauptausschuß ein Vorschlag des Fünferausschusses zu Art. 129 Abs.2 vor, der wegen der Wahl der 40 41

42 43

44 45 46

Stenogr. Protokoll, S. 82 ff. Stenogr. Protokoll, S. 1. Vgl. JöR n. F. Bd. 1, S.711. Stenogr. Protokoll, S. 7. Stenogr. Protokoll, S. 465. Stenogr. Protokoll, S. 660. Stenogr. Protokoll, S.666.

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Richter an den oberen Bundesgerichten lediglich auf Absatz 2 des Art. 128-5 verwies und der späteren Fassung des Art. 96 Abs. 2 GG a. F. entsprach. Diese Fassung wurde vom Hauptausschuß in seiner 51. Sitzung endgültig gebilligt. Der Parlamentarische Rat hat demnach in seinen Beratungen die Möglichkeit, die ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichtshöfen in die Richterwahl einzubeziehen, weder ausgeschlossen noch ausdrücklich bejaht. Jedenfalls scheint er sich aber bewußt gewesen zu sein, daß nicht nur bei den oberen Bundesgerichten - jetzt oberste Gerichtshöfe -, sondern ausweislich der oben erwähnten Bemerkung des Vorsitzenden des Hauptausschusses in der 50. Sitzung sogar bei dem ursprünglich vorgesehenen obersten Bundesgericht die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in Betracht komme. Der Gedanke eines Richterwahlausschusses hatte seinen Ausgang von dem Vorbild der damals in Hessen nach Art. 127 Abs.5 der Landesverfassung für Berufsrichter schon bestehenden Richterwahl genommen47 • In Hessen war durch die einschlägige Vorschrift jedoch eindeutig klargestellt, daß die Richterwahl sich nur auf Berufsrichter erstrecke. Die Schöffen und Geschworenen wurden demgegenüber nach damaligem hessischen Gerichtsverfassungsrecht unmittelbar von den Kommunalvertretungen gewählt, so daß sie einer zusätzlichen demokratischen Legitimation nicht bedurften. Rückschlüsse aus dem hessischen Modell auf die Befugnisse des Richterwahlausschusses nach Art. 95 Abs. 2 GG erscheinen danach nicht möglich. Die oftmals aufgestellte Behauptung, nach der Entstehungsgeschichte der Art. 95 und 96 GG a. F. sei die Mitwirkung des Richterwahlausschusses nur bei der Berufung der Berufsrichter beabsichtigt gewesen48 , läßt sich nach dem dargestellten Ablauf der Beratungen im Parlamentarischen Rat nicht belegen.

6. Praktikabilität einer Wahl der ehrenamtlichen Richter 1. Würde man abweichend von der bisherigen Staatspraxis auch die ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichtshöfen der Richterwahl unterwerfen, so ergäbe sich daraus allerdings eine so starke Belastung des Wahlausschusses, daß der Sinn einer solchen Verfahrensweise durch ihre Inpraktikabilität in Frage gestellt sein könnte. In den Jahren 1964 bis 1968 ist der Richterwahlausschuß durchschnittlich 47 Vgl. Abg. SeIbert und Dr. Becker, in: 5. Sitzung des Rechtspfiegeausschusses, Stenogr. Protokoll, S.97. 48 Vgl. Fitting, BABl1953, S.572, 574; Kreft, DRiZ 1961, S.167; DerschVolkmar, ArbGG, 6. Aufl., Er!. 3 zu § 43 u. v. u.

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vier- bis fünfmal im Jahr zusammengetreten. Dabei wurden im Durchschnitt jährlich etwa 16 bis 17 neue Bundesrichter gewählt. Die Wahl der ehrenamtlichen Richter würde den Ausschuß demgegenüber um ein Vielfaches beanspruchen, wenn man die Zahlen der gegenwärtig bei den obersten Gerichtshöfen ehrenamtlich tätigen Richter, die überdies nur auf eine verhältnismäßig kurze Zeitdauer bestellt werden, berücksich tigt: 8 beim Senat für Anwaltssachen (BGH) 5 beim Senat für Notarsachen (EGH) 5 beim Senat für Patentanwaltsachen (BGH) 10 beim Senat für Wirtschaftsprüfersachen (BGH) 10 beim Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen (BGH) 11 beim Landwirtschaftssenat (BGH) 9 beim Dienstgericht des Bundes (BGH) 96 beim Bundesarbeitsgericht 102 beim Bundessozialgericht 205 bei den Disziplinarsenaten des Bundesverwaltungsgerichts 900 bei den Wehrdienststrafsenaten des Bundesverwaltungsgerichts. Der Richterwahlausschuß hätte demnach im Wechsel von jeweils nur wenigen Jahren zusätzlich 1361 ehrenamtliche Richter zu wählen. Er würde dadurch so stark belastet, daß ein dahingehendes Verfassungsgebot nahezu unerfüllbar wäre. Eine Rechtsvorschrift, die von dem Normadressaten Unmögliches verlangt, verdient keine Beachtung. Von diesem Grundsatz her betrachtet wäre Art. 95 Abs. 2 GG im Sinne der herrschenden Staatspraxis auszulegen, sofern andernfalls sein Vollzug an seiner praktischen Undurchführbarkeit scheitern würde. 2. Dieser überlegung wäre allerdings der Boden entzogen, wenn zwischen den verschiedenen Gruppen der an den obersten Gerichtshöfen ehrenamtlich tätigen Richter eine Unterscheidung dahingehend getroffen werden könnte, daß nur ein Teil von ihnen dem Richterwahlprinzip unterworfen wäre. Als Ansatzpunkt einer solchen Aufteilung kann entweder der jeweilige persönliche Rechtsstand der ehrenamtlichen Richter oder aber der Status des Gerichts, an dem sie tätig sind, in Betracht kommen. a) Untersucht man den persönlichen Rechtsstand der in den verschiedenen Gerichtszweigen und Gerichtsstufen ehrenamtlich tätigen Richter, so zeigt sich, daß dieser keineswegs einheitlich ausgestaltet ist. Auf der einen Seite dominiert der Prototyp der ehrenamtlichen "Handelsrichter", die "während der Dauer ihres Amtes in Beziehung auf dasselbe alle Rechte und Pflichten eines Richters" haben49, sich insoH

§ 112 GVG.

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weit also nicht von den Berufsrichtern unterscheiden. Demgegenüber üben etwa die Schöffen nur "während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Amtsrichter aus .. 50• Sie haben demnach nur richterliche Funktionen wahrzunehmen, ohne jedoch ein Amt im statusrechtlichen Sinne zu besitzen, das losgelöst von der ehrenamtlichen Funktionsausübung einer selbständigen rechtlichen Betrachtung zugänglich ist. Alle anderen Erscheinungsformen ehrenamtlicher Richter bewegen sich in ihrem rechtlichen Erscheinungsbild zwischen diesen beiden Prototypen. Ausgehend von dieser Unterscheidung ließe sich daran denken, in dem Richterwahlverfahren einen auf die Begründung des Richterstatus bezogenen Vorgang zu sehen, der auf ehrenamtliche Richter demzufolge nur insoweit anwendbar ist, als ihnen mit der Übertragung richterlicher Funktionen zugleich. ein persönlicher Richterstatus verliehen wird. Will man die ehrenamtlichen Richter nicht schon begrifflich aus dem Anwendungsbereich des Art. 95 Abs. 2 GG herausnehmen, begegnet es jedoch Bedenken, den dort verwendeten Richterbegriff nicht funktionell, sondern statusrechtlich zu interpretieren; denn die Verfassung selbst gibt keinen Anhalt dafür, daß bei den ehrenamtlichen Richtern zwischen solchen im funktionellen Sinne und solchen mit eigenem Richterstatus zu unterscheiden sei. b) Hebt man auf den Status der in Betracht kommenden Gerichtshöfe ab, so war im Hinblick auf die in Art. 96 Abs. 4 GG für die Bundesdisziplinargerichtsbarkeit getroffene Sonderregelung, jedenfalls solange der Bundesdisziplinarhof ein organisatorisch selbständiges Gericht war, die Frage lebhaft umstritten, ob dem letztinstanzlichen Disziplinargericht des Bundes von Verfassungs wegen die Stellung eines oberen Bundesgerichts - jetzt oberster Gerichtshof - zukomme 51 • Verneinte man diese Frage, so entfiel damit die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Richterwahl für die Mitglieder dieses Gerichts; denn Art. 95 Abs. 1 GG zählt - ebenso wie zuvor Art. 96 Abs. 1 GG a. F. - die obersten Gerichtshöfe, deren Richter dem Wahlprinzip unterliegen, abschließend auf. Berücksichtigt man, daß an den Disziplinar- und Wehrdienststrafsenaten des Bundes 1105 nichtberufsrichterliche Beisitzer fungieren, so hätte deren Ausklammerung für die Praktikabilität einer auch auf die ehrenamtlichen Richter an den obersten Gerichtshöfe bezogenen Richterwahl erhebliche Bedeutung. Es verblieben alsdann nämlich - nach dem gegenwärtigen Stand - nur noch 256 ehrenamtliche Richter, die gegebenenfalls zu wählen wären. Abs. 1 GVG. Bejahend: Hamann, Komm. zum GG, 2. Aufi., Anm.4 zu Art.96; verneinend: Bonner Komm., Anm. C 1 b zu Art. 95; vgl. auch Abg. Dr. Arndt, in: BT-Sitzung vom 25. 1. 1961, Stenogr. Ber.ichte 1961, S.7952. roo § 30 51

2 Festgabe Kunze

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In diesem Fall ließe sich kaum noch sagen, die Einschaltung des Richterwahlausschusses bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter scheitere an der Undurchführbarkeit eines dahingehenden Verfassungsgebotes aus Art. 95 Abs. 2 GG. rnfolge der Novellierung der Bundesdisziplinarordnung52 sind indessen die Funktionen des bisherigen Bundesdisziplinarhofes auf die Disziplinar- und Wehrdienststrafsenate des Bundesverwaltungsgerichts übergegangen. Damit sind die letztinstanzlichen Spruchkörper der Bundesdisziplinargerichtsbarkeit organisatorischer Bestandteil eines obersten Gerichtshofes geworden. Verfassungsrechtlich war diese Eingliederung zwar nicht erforderlich, vielmehr beruht sie auf einer Entscheidung des einfachen Gesetzgebers. Da dieser jedoch nicht gehindert ist, die funktionelle Zuständigkeit der in Art. 95 Abs. 1 GG aufgeführten Gerichtshöfe auszuweiten 53 , wird sich eine Ausschaltung des Richterwahlausschusses bei der Berufung der ausschließlich in den Disziplinar- und Wehrdienststrafsenaten des Bundesverwaltungsgerichts tätigen Richter kaum mit der Begründung rechtfertigen lassen, diese Spruchkörper seien nur vom Gesetzgeber gekorener Bestandteil eines obersten Gerichtshofes, nicht aber von Verfassungs wegen errichteter Gerichtshof im Sinne des Art. 95 Abs. 1 GG.

7. Normativwirkung der Staatspraxis Schließlich mag die Frage gestellt werden, ob der bisherigen Staatspraxis, die das Richterwahlprinzip auf die Berufsrichter beschränkt, angesichts der dargelegten Auslegungszweifel normative Kraft beigemessen werden kann. Vorausgesetzt, das Grundgesetz lasse hierfür Raum, würde dies neben der dauernden übung eine gemeinsame Rechtsüberzeugung erfordern, daß diese Handhabung der Richterwahl rechtens sei. Von einer solchen Gemeinsamkeit der überzeugung kann jedoch keine Rede sein. Eine starke Minderheit im Bundestag, die Fraktion der SPD, hat seit 1953 bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Parlament dieser Staatspraxis widersprochen und die Ansicht vertreten, daß auch die nichtberufsrichterlichen Mitglieder der obersten Gerichtshöfe vom Richterwahlausschuß zu wählen seien. Beispielhaft sei auf die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Grewe und Dr. Arndt anläßlich der Beratung des Arbeitsgerichtsgesetzes verwiesen 54, auf die Ausführungen 52 Vgl. § 55 BDO in der Fassung der Bekanntmachung vom 20.7.1967 (BGBI I S.751). 53 BVerfGE 4, S. 398 f. 54 BT-Sitzungen vom 11. und 17. 6. 1953, Sternogr. Berichte, S. 13312 und 13491 f.

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der gleichen Abgeordneten sowie der Abgeordneten Wittrock und Wagner anläßlich der Beratung der Bundesrechtsanwaltsordnungüt" auf die Ausführungen des Abgeordneten Jahn anläßlich der Beratung der Bundesnotarordnung56 und endlich auf die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Arndt und Jahn bei der Beratung über die von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe 57 zweier Gesetze zur Änderung des Grundgesetzes58 • Nimmt man hinzu, daß die der Staatspraxis widersprechende Minderheit des Bundestages nach Art. 93 Abs.1 Nr.2 GG befugt wäre, wegen der bestehenden Zweifel eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu beantragen, so bleibt der bisherigen Staatspraxis für die Entfaltung normativer Wirkung kein Raum. Das letzte Wort zu dieser Problematik wird demnächst das Bundesverfassungsgericht zu sprechen haben.

55 Sitzung des BT-Rechtsausschusses vom 6.11. 1958, Stenogr. Protokoll, S. 7 f., und BT-Sitzung vom 19.2. 1959, Stenogr. Berichte, S.3370. 56 BT-Sitzung vom 26. 10. 1960, Stenogr. Berichte, S.7441. 57 BT-Drucksachen III/1748 und 1901. 58 BT-Sitzung vom 25.7.1961, stenogr. Berichte S.7951.

Die Pressefreiheit im Grundrechtssystem des GrundgesetzesEin Diskussionsbeitrag Von Ernst Friesenhahn

I. Die Deutung des Art. 5 GG und der Pressefreiheit insbesondere gehört zu den umstrittensten Kapiteln unseres Verfassungsrechts, und kaum jemand dürfte noch in der Lage sein, die Unmasse von Kommentaren, Büchern und Abhandlungen zu diesem Thema zu übersehen l • Als Grundthema der Auseinandersetzung, das auch dieses Re• Abdruck eines Referates, das ich auf dem von dem Jubilar als Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen mitorgandsierten Rechtspolitischen Kongreß der SPD in Mainz am 21. 2. 1969 im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft "VerfassungsrechtLiche Fragen der Informations- und Pressefreiheit" gehalten habe. Das Referat, das weder alle Aspekte der Pressefreiheit berücksichtigen - die Fragen der inneren Pressefreiheit wurden zudem in einem besonderen Referat von Roman Herzog behandelt -, noch sich mit den Gegenargumenten hinreichend auseinandersetzen konnte, wird in der zugespitzten, etwas einseitigen Fassung veröffentlicht, in der es als Einleitung zu einer Arbeitsgemeinschaft. gedacht war und zur Diskussion anreizen sollte. Ein wissenschaftlicher Apparat konnte schon aus Raumgründen nicht angefügt werden. Ober den Stand der Kontroversen um Art. 5 GG orientiert gut die Kommentierung dieses Artikels durm Roman Herzog in dem Kommentar zum Grundgesetz von Maunz-Dü'Tig-Herzog.

1 Literaturübersicht bei Herzog, a.a.O. Zu ergänzen wären noch folgende Titel: Helmut Arndt, Die Konzentration in der Presse und die Problematik des Verleger-Fernsehens, Frankfurt a. M.lBerlin 1967; Hugo Berger, Die Pressekonzentration in verfassungsrechtlicher Sicht, in: Archiv für Presserecht, 1968, S. 787 ff.; Dieter Czajka, Pressefreiheit und öffentliche Aufgabe der Presse, Stuttgart/BerlinlKölniMainz 1968; Horst Ehmke, Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform des Pressewesens, Festschrift für Adolf Arndt, Frankfurt 1969; Ernst Forst hoff, Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, Frankfurt 1969; Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher, Monopol und Kommunikation, in: Publizistik, 13. Jg. 1968, S. 137 ff.; Karl Heck, Grundgesetz und Pressekonzentration, dn: Archiv für Presserecht, 1968, S.7Ql ff.; Manfred Kötterhein'Tich, Pressekonzentration und Pressefreiheit, in: Die neue Gesellschaft, 1968, S. 407 ff.; Herbert Krüger, Die öffentlichen Massenmedien als notwendige Ergänzung der privaten Massenmedien, Frankfurt a. MJBerlin 1965; Martin Löffler, Die Pressekonzentration in verfassungsrechtlicher Sicht, 22. Arbeitstagung des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit, Döv 1967, S. 839 f.; Martin Löffler, Die Pressekonzentra-

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ferat bestimmt, stellt sich dabei die Frage, ob Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nur oder in der Hauptsache die Anerkennung eines negatorischen Freiheitsrechtes gegen den Staat bedeutet, oder ob die objektiv-rechtliche Seite eines Verfassungsgrundsatzes im Vordergrund steht, kraft dessen es eine verfassungsrechtlich aufgegebene Pflicht des Staates ist, für ein den Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung entsprechendes Pressewesen zu sorgen, aus dem als Reflex subjektive Berechtigungen herausspringen können2 • In diesem Streit der Meinungen kann man nicht Stellung beziehen, ohne sich einerseits über den Gehalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG klar zu sein, der jedem das Recht verbürgt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, - und ohne andererseits zu bestimmen, was Objekt der in Satz 2 gewährleisteten Pressefreiheit ist. Angesichts der Zauberkunststücke, die mit Art.5 Abs.l Satz 2 vollbracht werden, ist es nicht unwichtig, hervorzuheben, daß der einzige Satz des Grundgesetzes, der sich mit der Presse befaßt, lautet: "Die Pressefreiheit wird gewährleistet."

11. Zunächst zu Art. 5 Abs.l Satz 1 GG vier Thesen: 1. Objekt des Rechts der freien Meinungsäußerung sind nicht nur "Meinungen" im strengen Sinn des Wortes, also wertende Betrachtungen von Tatsachen, Verhaltensweisen und Verhältnissen, sondern auch Wiedergabe von Fakten, Berichte, Nachrichten. Diese Ausweitung erscheint mir unausweichlich, da es kaum möglich ist, eine scharfe Grenze zwischen der Äußerung einer Meinung und der Wiedergabe von Fakten zu ziehen, weil schon in der Auswahl der berichteten Fakten und in der Art und Weise ihrer Darbietung eine Meinung enthalten sein kann. Mit Herzog fasse ich also die Freiheit der Meinungstion bedroht die Pressefreiheit, in: ZRP 1968, S.12 ff.; Helmut Ridder und Ernst Heinitz, Staatsgeheimnis und Pressefreiheit, Bonn 1963 (SPD); Gerd RoeZlecke, Die Garantie der Pressefreiheit und Maßnahmen gegen Pressekonzentration, dn: Der Betriebs-Berater, 1968, S. 1437 ff.; Peter Schneider, Pressefreiheit und Staatssicherheit, Mainz 1968; Axel C. Springer, Marktanteil-Begrenzung?, Stellungnahme zum Schlußbericht der Pressekommission, Nr.4 der "beiträge zur zeitgeschichte" 1968; Ulrich Scheuner. Privatwirtschaftliche Struktur der öffentlichen Aufgabe der Presse, in: Archiv für Presserecht, 1968, S. 725 ff.; Otto WHfert, Es geht nicht nur um Springer, Material und Meinungen zur inneren Pressefreiheit, Mainz 1968. 2 Eine gute kritische übersicht über die Deutungen der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG gibt Eberhard Schwark in Kap. IV und V seines demnächst in der Reihe "Schriften zum öffentlichen Recht" erscheinenden Buches: Der Begriff der "allgemeinen Gesetze" in Art.5 Abs.2 des Grundgesetzes, Berlin 1969.

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äußerung als eine umfassende Rede- bzw. Mitteilungsfreiheit auf. Damit fällt alles darunter, was in einer Zeitung gebracht werden kann, einschließlich auch der Anzeigen. 2. Der verfassungs rechtlich geschützte Freiheitsraum umfaßt nicht nur die Äußerung und die Verbreitung von Meinungen in dem dargelegten weiteren Sinn an sich, sondern auch den Zugang zu den technischen Mitteln, einschließlich aller Vorbereitungshandlungen, um von dieser Freiheit Gebrauch machen zu können. Es wäre sinnlos, das Grundrecht zu gewährleisten, seine Meinung durch Wort, Schrift und Bild frei äußern und verbreiten zu dürfen, wenn es dem Staat freistehen würde, den Zugang zu den technischen Mitteln - Mikrophon, Megaphon, Papier, Druckmaschinen, Farbe, Leinwand usw. - zu erschweren oder zu verhindern. 3. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG regelt nicht nur das Recht des Staatsbürgers zur Äußerung seiner Meinungen (materielle Freiheit), sondern er begrenzt auch die Befugnis der Staatsgewalt, beschränkende Anordnungen bezüglich der Ausübung dieses Rechtes zu treffen (formelle Freiheit)3. Im gegenständlichen Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist es also nicht mehr möglich, zwischen einer materiellen und einer formellen Freiheit zu unterscheiden, wie es hinsichtlich der Meinungsäußerung durch Druck unter der Herrschaft des Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung geschah, dem nach herrschender Meinung eine Schutzfunktion nur bezüglich der materiellen Pressefreiheit zukam, während die sogenannte formelle Pressefreiheit nur im Rahmen einfacher Reichsgesetze gewährt war4 •

4. Während das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eine lange Tradition hat, ist in das Grundgesetz ein neues Grundrecht auf Informationsfreiheit eingefügt worden, bei dessen Formulierung eindeutig die Erfahrungen des totalitären Staates Pate gestanden haben. Dieses Recht wird schon durch die Zusammenfassung in einen Satz in den engsten Zusammenhang mit dem Recht der freien Meinungsäußerung gebracht, so daß es immer in seiner Auswirkung auf die Bildung, Äußerung und Verbreitung von Meinungen gewürdigt werden muß.

IH. Was ist nun das Objekt der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Pressefreiheit? Grundsätzlich sei zur Interpretation der grundl'echtsverbürgenden Normen des Grundgesetzes gesagt, daß sie nicht 3 So die Definition der "formellen Pressefreiheit" bei Häntzschel, Reichspressegesetz, 1927, S.11 Anm.l zu § 1. 4 Häntzschel, a.a.O.

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erfolgen darf ohne Rücksicht auf die verfassungsgeschichtliche Tradition, in der die jeweilige Freiheitsverbürgung steht. Deckt sich der Wortlaut einer Freiheitsverbürgung im Grundgesetz mit einem traditionellen liberalen Freiheitsrecht, ergibt sich weiterhin aus der Entstehungsgeschichte nicht, daß die an der Formulierung des Textes Beteiligten mit den alten Formeln einen völlig neuen Sinn verbanden, erscheint endlich die Freiheitsverbürgung im traditionellen Sinn auch zur Zeit der Verfassungsgebung durchaus sinnvoll, so ist nicht einzusehen, warum von der traditionellen Bedeutung, wenn sie zudem auch dem systematischen Zusammenhang der Freiheitsverbürgung im Grundgesetz entspricht, abgewichen werden muß. Nun ist die Forderung nach Pressefreiheit zwar aus dem Bestreben hervorgegangen, den politischen Zeitungen und den ihnen gleichgestellten Erzeugnissen einen Schutz zu verschaffen. Das war aber nur ein Durchbruchspunkt, und seit langem wird die Pressefreiheit auf jede durch Druck vervielfältigte und in der Öffentlichkeit verbreitete Gedankenäußerung eines Menschen bezogen. Daß dabei jeweils der Rahmen der Freiheit verschieden weit gespannt war, steht auf einem anderen Blatt. Und daß heute andere technische Methoden der Herstellung und Vervielfältigung der Druckerpresse gleichgestellt werden müssen, ist selbstverständlich. Aber ich halte es für unzulässig, die Verbürgung der Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Zeitungen und Zeitschriften oder gar auf die Erzeugnisse der Druckerpresse und anderer Vervielfältigungsmaschinen zu beschränken, die auf die politische Meinungsbildung des Volkes Einfluß haben. Ganz eindeutig erfassen ja auch die Landespressegesetze, die die sogenannte formelle Pressefreiheit im Rahmen der Verfassungsgarantie näher regeln, jedes "Druckwerk".

IV. Vom Boden dieser Prämissen aus ergeben sich nun zwei Folgerungen: 1. Die in Satz 2 gewährleistete Pressefreiheit ist nur ein Unterfall der in Satz 1 gewährleisteten Freiheiten der Informationsbeschaffung, der Meinungsäußerung und der Meinungsverbreitung mittels Schrift.

2. Da das Grundrecht der Pressefreiheit sich auf alle Erzeugnisse der mechanischen Vervielfältigungsapparaturen bezieht, kann es nicht nur gewährleistet sein um der Einwirkung bestimmter Erzeugnisse der Buchdruckerpresse usw. auf die öffentliche, politische Meinungsbildung willen, sondern es hat ganz allgemein das individuelle Bedürfnis nach i\ußerung und Verbreitung von Meinungen und Fakten in der Form des Druckes ohne Rücksicht auf ihren Inhalt zur Grundlage.

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ad 1. Daß auch die Väter der Verfassung die Pressefreiheit zur Freiheit der Meinungsäußerung rechneten, ergibt sich aus Art. 18 GG, wo unter den verwirkbaren Grundrechten "die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1)" aufgeführt wird. Da die Pressefreiheit alles umfassen muß, was in der Presse gedruckt wird, ergibt sich hier übrigens ein weiteres Argument für die oben vorgenommene weite Deutung des Begriffs der Meinung im Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung. Gegenüber Art. 18 kann nicht der erst 1956 eingefügte Art. 17 a GG ins Feld geführt werden. Dort erscheint allerdings unter den für Angehörige der Streitkräfte einschränkbaren Grundrechten nur "das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Art. 5 Abs.l Satz 1 erster Halbsatz) ", also anscheinend unter Ausschluß der Pressefreiheit. Ob und welchen Sinn das gibt, muß ich hier offen lassen. Daß die Verfassungen, die nur die Freiheit der Meinungsäußerung gewäh:cleisten, die Pressefreiheit einschließen, dürfte ebenso selbstverständlich sein, wie es für die Schweizer Staatsrechtslehre selbstverständlich ist, daß die in der Bundesverfassung expressis verbis allein gewährleistete Pressefreiheit auch jede andere Form der Meinungsäußerung ergreift5 • a) Wenn demgegenüber das Bundesverfassungsgericht meint, die Pressefreiheit müsse mehr und etwas anderes bedeuten als die Freiheit der Meinungsäußerung, "da darüber hinaus die institutionelle Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung gewährleistet ist" (BVerfGE 10, 121), so übersieht es, daß bereits nach Satz 1 jeder im Pressewesen Tätige das Recht hat, sich Informationen zu beschaffen, Meinungen zu äußern, Nachrichten und Meinungen durch Schrift = Druck zu verbreiten, also auch selbstverständlich unter Einschluß der Freiheit aller Handlungen, die zur Verwirklichung dieser Rechte vorgenommen werden müssen. Ein darüber hinausgehendes, nicht an dieser Stelle, aber anderen Orts (BVerfGE 20, 176) und auch sonst vielfach postuliertes Recht der Presseleute auf Informationen aus nicht allgemein zugänglichen Quellen, also insbesondere auf Auskünfte von den Behörden, kann sicher nicht verfassungskräftig aus der Gewährleistung der Pressefreiheit abgeleitet werden, was nichts dagegen sagt, ob es nicht durch einfaches Gesetz eingeräumt werden könnte und sollte (vgl. Landespressegesetze). Aber zurück zum Bundesverfassungsgericht. Es meint: "Diese institutionelle Sicherung der Presse als einer der Träger und Verbreiter der öffentlichen Meinung im Interesse einer freien Demokratie schließt das subjektive Recht der im Pressewesen tätigen Personen ein, ihre Meinung in der ihnen geeignet erscheinenI; Zu Art.55 Schweizer Bundesverfassung: Aubert, Traite de DroH Constitutionnel Suisse, 1967, S.734 zu Nr.2085.

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den Form ebenso (!) frei und ungehindert zu äußern wie jeder andere (!) Bürger." Warum den im Pressewesen tätigen Personen die Freiheit der Meinungsäußerung nur als Reftexrecht der institutionellen Garantie zukommen soll, sie also nicht schon unter den Jedermann fallen, dem dieses Menschenrecht (!) in Satz 1 garantiert ist, begründet das Bundesverfassungsgericht mit keinem Wort. Wie schief die Auseinanderreißung von Freiheit der Meinungsäußerung und Pressefreiheit ist, zeigt schließlich der Schlußsatz jenes Abschnittes aus der Begründung der Entscheidung über das Berufsverbot gegen Verleger, Verlagsleiter und verantwortliche Redakteure: "Wenn das Grundrecht der freien Meinungsäußerung für die freiheitliche Demokratie ,schlechthin konstituierend' ist, dann muß das ebenso für das Grundrecht der Pressefreiheit gelten, weil (!) die Presse zur politischen Meinungsbildung entscheidend beiträgt." Dazu wäre zu bemerken, daß erstens das Grundrecht der freien Meinungsäußerung für eine freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend ist ohne Rücksicht auf den Gehalt der Äußerung, insbesondere also ihres Beitrages zur politischen Meinungsbildung, daß zweitens natürlich für in der Presse geäußerte Meinungen nichts anderes gelten kann, und zwar ebenfalls ohne Rücksicht auf ihren Gehalt, daß also drittens die Begründung ("weil die Presse zur politischen Willensbildung entscheidend beiträgt") an dieser Stelle fehlgeht. Ich leugne natürlich nicht den spezifischen Beitrag der Presse zur politischen Meinungsbildung; er wird uns später noch in einem anderen Zusammenhang beschäftigen. Auf dieser Stufe der Erörterung geht es aber zunächst nur darum, die in Art. 5 Abs. 1 verbürgten Grundrechte einander zuzuordnen und systematisch in das Grundrechtssystem des Grundgesetzes einzuordnen. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet übrigens nicht zwischen Freiheit der Meinungsäußerung im privaten und Freiheit der Meinungsäußerung im öffentlichen, politischen Bereich, eine Unterscheidung, die m. E. auch angesichts des einheitlich fixierten umfassenden Grundrechtes nicht zulässig ist. Ob es in anderem Zusammenhang (Schrankenproblem) auf die Intention der Meinungsäußerung und Berichterstattung ankommt, wird uns später beschäftigen. Zu der Deutung der Pressefreiheit durch das Bundesverfassungsgericht in der angezogenen Entscheidung wäre nur noch zu bemerken, was auch sonst für manche Interpretationsversuche gilt: Wo klare Begriffe fehlen, da stellen sich zur rechten Zeit erhaben klingende, aber leider recht nebelhafte und juristisch schwer zu fassende Worte ein: "Institutionelle Eigenständigkeit", "Institutionelle Sicherung"; im Fernsehurteil erscheint dann die "Institutionelle Freiheit" (BVerfGE 12, 261, 262); und schließlich wird im "Spiegel"-Urteil noch das "Institut ,Freie Presse'" geboren (BVerfGE 20, 175). Man legt zunächst in den

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Art. 5 das hinein, was dann als Folgerung herausinterpretiert werden soll! b) Der These, daß die Pressefreiheit in den in Satz 1 verbürgten Freiheiten der Informationsbeschaffung, der Meinungsäußerung und der Meinungsverbreitung enthalten ist, kann nicht entgegengehalten werden, daß dann die besondere Verbürgung der Pressefreiheit in Satz 2 keinen Sinn hätte und dem Verfassunggeber eine überflüssige Verbürgung nicht unterstellt werden dürfe, erst recht nicht, da die Pressefreiheit auch noch durch die Wortwahl "wird gewährleistet" besonders hervorgehoben worden sei. Was zunächst die textliche Gestaltung einer Grundrechtsnorm angeht, so kann aus den jeweils gewählten Worten nicht auf eine mehr oder weniger starke rechtliche Sicherung des jeweils gemeinten Freiheitsraumes geschlossen werden. Alle Normen, die ein Freiheitsrecht zum Gegenstand haben, gewährleisten von Verfassungs wegen einen Bereich der Freiheit vor staatlichem Eingriff in dem jeweils durch den Gesetzesvorbehalt umrissenen Umfang, gleichgültig, mit welchen Worten die Garantien ausgedrückt werden. Weiter wäre zu bemerken, daß man an einen Artikel der Verfassung, also politischen Rechtes, das vielfach in Polemik gegen eine vorangegangene Verfassungsepoche formuliert worden ist, nicht mit den Methoden herangehen kann, mit denen man den Text eines technisch aufs feinste ausgefeilten Gesetzes im Bereich des bürgerlichen oder Strafrechtes interpretiert. In einer Verfassung kann durchaus auch ein logisch überflüssiger Satz stehen, weil es politisch wichtig erschien, einen speziellen Aspekt einer umfassend gewährleisteten Freiheit noch besonders zu erwähnen. Die besondere Erwähnung der Informationsfreiheit und der Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 war nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen Unterdrückungsregimes sicher geboten. Dazu kommt aber weiter, daß die Ausübung der Freiheit der Äußerung und der Verbreitung von Meinungen und Nachrichten durch die im Pressewesen tätigen Personen noch einen besonderen Aspekt dadurch gewinnt, daß sie im Rahmen eines Unternehmens als Beruf erfolgt. Diese Form der Meinungsäußerung ist in spezifischer Weise vergegenständlicht, und die sich daraus ergebenden besonderen Freiheiten der Gründung von Presseunternehmen und des Zugangs zu den Presseberufen, die sich m. E. auch aus der allgemeinen Freiheit der Meinungsäußerung ableiten ließen, erweisen die besondere Verbürgung der Pressefreiheit als nützlich. Die Presse, an die man bei dem Wort Pressefreiheit zunächst denkt, also die meinungsbildende politische Presse, die allerdings nur ein Teil der geschützten "Presse" ist, erscheint als gesellschaftliche Institution zum Nutzen der freiheitlichen

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Demokratie - das ist etwas anderes als eine durch staatliche Normen geschaffene öffentlich-rechtliche Einrichtung - als besonders schutzwürdig und darum erwähnenswert. Weiter könnte es wichtig sein, die Pressefreiheit besonders zu statuieren wegen der überschneidungen zu den Grundrechten der freien Berufswahl und freien Berufsausübung wie der Freiheit des Eigentums; es erhebt sich hier die Frage, ob und in welchem Umfange die Schranken der Pressefreiheit den in den anderen Grundrechtsnormen enthaltenen Gesetzesvorbehalten vorgehen. Die absolute Freiheit der Gründung von Presseunternehmen und des Zugangs zu den Presseberufen werden darum auch in den Pressegesetzen ausdrücklich ausgesprochen. ad 2. Wie oben bereits betont, ist das Grundrecht der Pressefreiheit nicht nur gewährleistet, um die Mitwirkung freier Presseorgane am Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung zu sichern. Man kann also weder seinen Gehalt als subjektives Freiheitsrecht noch eine aus der Gewährleistung des subjektiven Freiheitsrechtes folgende objektive Wertentscheidung ableiten, indem man nur die politische Presse ins Auge faßt. Das geschieht aber weitgehend in den sogenannten institutionellen, objektivierenden Deutungen dieses Grundrechtes. a) Wenn ich in den Pressegesetzen von Berlin und Bremen den lapidaren Satz lese: "Die Presse erfüllt eine öffentliche Aufgabe", dann erscheinen vor meinem geistigen Auge die Zeitungskioske mit ihren Auslagen von Dutzenden von Erzeugnissen der Druckpresse, bei denen man sich doch wirklich fragen muß: Wird da eine öffentliche Aufgabe erfüllt?, - und es handelt sich dabei ja sicher um "Presse", selbst wenn man das Wort enger nimmt, als ich es tue. "Dient" diese Presse "der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" , "dem demokratischen Gedanken", wie man es in den Pressegesetzen von BadenWürttemberg, Berlin, Bremen, Saarland, Schleswig-Holstein und Bayern von der Presse nachlesen kann? Nach dem Hamburger Gesetz "soll" sie der freiheitlichen Grundordnung dienen, nach dem niedersächsischen Gesetz ist sie dazu "berufen", und nach dem nordrheinwestfälischen Gesetz endlich ist sie ihr "verpflichtet". Aber zurück zur "öffentlichen Aufgabe" der Presse. Schleswig-Holstein meint, sie erfülle sie "dadurch, daß sie Nachrichten beschafft, verbreitet, Stellung nimmt oder Kritik übt". Hamburg und Nordrhein-Westfalen sind der Ansicht, daß die Presse "insbesondere" eine öffentliche Aufgabe "dadurch erfüllt, daß sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung teilnimmt". Richtig erscheint mir nur die Formel, die Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland gewählt haben: "Die Presse erfüllt eine öffentliche Aufgabe, wenn sie in AngeZegenheiten von öffentlichem Interesse Nachrichten beschafft und verbreitet, Stel-

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lung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung mitwirkt." Mit dieser "öffentlichen Aufgabe" der Presse kann m. E. aber nur eine gesellschaftliche Funktion eines bestimmten Teiles der Presse beschrieben sein, und man muß sich hüten, daraus irgendwelche rechtlichen Folgerungen für die Pressefreiheit schlechthin abzuleiten. In einem solchen völlig unpräzisen Sinn hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes im "Spiegel"-Urteil von einer der Presse zufallenden "öffentlichen Aufgabe" gesprochen - wobei allerdings diese beiden Worte in Anführungsstriche gesetzt worden sind -, nachdem er dargelegt hatte, daß "eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ein Wesenselement des freiheitlichen Staates ist". Und er fügt dann hinzu, daß diese Aufgabe gerade nicht von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden könne (BVerfGE 20, 174 f.). Im Fernsehurteil hingegen hatte der Zweite Senat in einem präzisen juristischen Sinn die Veranstaltung von Rundfunksendungen als eine öffentliche Aufgabe im Sinne einer Aufgabe der öffentlichen Verwaltung aufgefaßt (BVerfGE 12, 224). Wohltuend unpathetisch bestimmt das "Hessische Gesetz über Freiheit und Recht der Presse", das allerdings aus unserer konstitutionellen Frühzeit (25.6.1949) stammt, aber bei den Novellierungen 1958 und 1966 insofern nicht bereichert worden ist, nur: ,,(1) Die Presse ist frei. Sie ist befugt, sich Nachrichten aus dem In- und Ausland zu beschaffen und sie zu veröffentlichen, Druckwerke herzustellen und zu verbreiten. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Jedermann steht es frei, durch die Presse jede Ansicht zu äußern, zu verbreiten oder zu verteidigen. (3) Niemand darf es verwehrt werden, sich durch die Presse des Inund Auslandes über alle Nachrichten und Meinungen zu unterrichten." Sicher hat die Presse, die an der politischen Meinungsbildung mitwirkt, auf sie einwirkt, indem sie Material zur eigenen Urteilsbildung bereitstellt, Mißstände bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt anprangert, Wünsche für die Gestaltung der Rechts- und Staatsordnung anmeldet, Meinungen zur kritischen Prüfung äußert, in einer freiheitlichen Demokratie eine eminente öffentliche Funktion. Ob man von einer öffentlichen Aufgabe sprechen soll, erscheint mir zweifelhaft, weil darin schon eine für die Freiheit gefährliche Inpflichtnahme anklingt. Jedenfalls aber halte ich es für unzulässig, von diesem Teil des gesamten, durch das Grundrecht der Pressefreiheit geschützten Bereichs aus den subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu bestimmen. b) Ich möchte gegen die übertragung des Begriffs der institutionellen Garantie auf das Pressewesen aber noch ein weiteres Bedenken

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anmelden. Selbst wenn man innerhalb der Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zwei Bereiche unterscheiden könnte - was ich für unzulässig halte -, so würde ich doch Bedenken tragen, auch nur für die politische Presse eine Befugnis des Staates abzuleiten, eine irgendwie geartete öffentlich-rechtliche Ordnung des politischen Pressewesens zu schaffen. Das aber gehört m. E. zum Wesen der institutionellen Garantie. Soweit dieser Begriff feste Konturen hat, kann er auf die Presse nicht übertragen werden. Bei den Prototypen dieser institutionellen Garantie - Berufsbeamtentum und kommunale Selbstverwaltung - handelt E'S sich um vom Staat geschaffene Einrichtungen öffentlich-rechtlichen Charakters. Gerade das aber darf die politische Presse nicht sein. Sie ist und muß bleiben das Produkt freien gesellschaftlichen Handeins, Betätigung der Menschenrechte auf Handlungsfreiheit, Informationsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und der Meinungsverbreitung. Zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht im "Spiegel"-Urteil ausgeführt: "Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf (BVerfGE 20, 175)." c) Auch mit der Garantie eines "Institutes" "Freie Presse" vermag ich nichts anzufangen. Erstens ist "freie Presse" kein vorgegebenes Rechtsinstitut wie etwa das Eigentum oder die Ehe. Und zweitens pflegt das Grundgesetz da, wo es Institute gewährleisten will, das auch deutlich zu sagen, so in Art. 14 Abs. 1 für das Eigentum und in Art. 6 Abs. 1 für Ehe und Familie. Die Pressegesetze gestalten nicht ein Rechtsinstitut "freie Presse", sondern sie ziehen nur Folgerungen aus der Verfassungsgarantie der Freiheit der Presse. Insbesondere können also nicht erst die Gesetze, wie beim Eigentum, Inhalt und Schranken dessen bestimmen, was geschützt ist. In den Pressegesetzen heißt es darum: "Die Freiheit der Presse unterliegt nur den Beschränkungen, die durch das Grundgesetz und in seinem Rahmen durch dieses Gesetz zugelassen sind." Im "Spiegel"-Urteil (BVerfGE 20 S.175 f.) führt das Bundesverfassungsgericht aus, daß mit der Gewährleistung der Pressefreiheit in Art. 5 GG "zunächst - entsprechend der systematischen Stellung der Bestimmung und ihrem traditionellen Verständnis - ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt" werde, "das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichem Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert", daß aber die Bestimmung "zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite" habe. Diese wird dann wie folgt

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bestimmt: "Sie garantiert das Institut ,freie Presse'. Der Staat ist unabhängig von subjektiven Berechtigungen EinzeZner - verpflichtet, in seiner Rechtsordnung überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen. Freie Gründung von Presseorganen, freier Zugang zu den Presseberufen, Auskunftspflichten der öffentlichen Behörden sind prinzipielle Folgerungen daraus; doch ließe sich etwa auch an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten." Daran fällt vielerlei auf. Zunächst einmal wird die objektiv-rechtliche Seite der Gewährleistung eines Freiheitsrechtes einfach behauptet, ohne daß ihr möglicher Gehalt irgendwie aus dem Wortlaut oder dem systematischen Zusammenhang der Bestimmung heraus begründet würde. Sodann wird aus der Gewährleistung einer Freiheit für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen unter der Hand ein "Postulat", der "Freiheit der Presse" Rechnung zu tragen. Träger dieser Freiheit sollen also offenbar nicht alle Bürger oder die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen sein, sondern ein abstraktes Gebilde "Presse". Adressat der Forderung ist der Staat. "Freie Gründung von Presseorganen, freier Zugang zu den Presseberufen" wird dann als "prinzipielle Folgerung" aus dieser objektiven Garantie des Instituts "freie Presse" bezeichnet. In Wahrheit sind es aber offensichtlich subjektive Berechtigungen, die sich aus der Gewährleistung des Freiheitsrechtes ergeben. Oder sollte das Bundesverfassungsgericht etwa wortwörtlich dahin zu verstehen sein, daß das subjektive Grundrecht der Pressefreiheit nur den bereits im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen zustünde und nicht auch den freien Zugang eröffnete? Das würde mir unhaltbar erscheinen, und die Pressegesetze gehen ja auch eindeutig von der "Zulassungsfreiheit" aus und stellen schlicht fest: "Die Pressetätigkeit einschließlich der Errichtung eines Verlagsunternehmens oder eines sonstigen Betriebes des Pressegewerbes darf von irgendeiner Zulassung nicht abhängig gemacht werden." Der freie Zugang wird nicht erst durch die objektiv-rechtlichen Normen geschaffen, sondern die Freiheitsgarantie hindert den Gesetzgeber, den Zugang zu erschweren. Die Existenz einer freien Presse ist also die FoZge der Gewährleistung des subjektiven Freiheitsrechtes. So dann sollen sich "Auskunftspjlichten der öffentlichen Behörden" als eine "prinzipielle Folgerung" aus dem Institut "freie Presse" ergeben. Was aber hat dieser positive Anspruch an die öffentlichen Behörden mit der "Freiheit der Presse" zu tun? Sicherlich kann man ihn auf andere Weise rechtfertigen, aber welche Beziehung er zur Freiheit der Presse haben soll, ist mir schwer verständlich. In demselben Satz wird aber nicht nur die Freiheit von staatlicher Behinderung des freien Zu-

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gangs und die positive Auskunftspjlicht der staatlichen Behörden als Inhalt des Institutes "Freie Presse" behauptet, sondern schließlich erfährt die "Freiheit" noch eine weitere Wendung, wenn sie auch die Pflicht des Staates begründen soll, Gefahren abzuwehren, die einem "freien Pressewesen" aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten. Hier ist also die Freiheit der im Pressewesen tätigen Personen gegeneinander vor einem überragenden gesellschaftlichen Einfluß gemeint. Was aber hat die Pressefreiheit, die Freiheit der Presse, mit ihrer Vielgestaltigkeit zu tun? Auch einem Presseunternehmen, das einen besonders starken Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung auszuüben vermöchte, steht das Grundrecht der Pressefreiheit zu. Und wieso soll dieses Grundrecht für die Mitbewerber auf dem Markt Schutz gegen einen Konkurrenten gewähren, der rechtlich gar nicht in der Lage ist, den freien Zugang zu den Presseberufen und die freie Betätigung in ihnen zu behindern? Weiter kann das verwirrende Jonglieren mit der "institutionellen Freiheit" wohl kaum getrieben werden. d) Die Gefahr der institutionellen Lehren sehe ich darin, daß sie zwangsläufig dem Staat einen viel zu breiten Raum zur positiven Gestaltung des Pressewesens einräumen müssen. Typisch dafür ist die frühere Auffassung von Ridder 6 , der dem Staat einen Auftrag für die Gestaltung des Pressewesens vindizierte, wie er ihm für das Parteiwesen in Art.21 GG erteilt ist. Eine vielgestaltige politische Presse mag für einen demokratischen Staat genauso nötig sein wie die politischen Parteien, weil sie entscheidend zur politischen Meinungsund Willensbildung beiträgt. Für die Gestaltung des Parteiwesens sind aber in Art.21 dem Gesetzgeber ausdrücklich bestimmte Direktiven gegeben. Gerade das enthält Art. 5 nicht für das Pressewesen. Dort ist expressis verbis nur die Freiheit der Presse von staatlicher Lenkung verbürgt. Ein weitergehender Regelungsauftrag, der über die nach Abs. 2 zulässige Schrankenziehung hinausgeht, kann aber ohne irgendeinen Anhalt im Wortlaut des Artikels nicht behauptet werden. Die Parteien sind durch Art. 21 in eine verfassungsrechtliche Position erhoben worden mit Pflichtenbindung; Art. 21 steht im organisatorischen Teil des Grundgesetzes. Wo im Grundrechtsteil dem Staat bestimmte gesellschaftliche Lebensbereiche oder Rechtsinstitute zur Pflege und zum Schutz anvertraut sind mit der Folge, daß der Staat eine Aktivität entfalten muß, um diese Lebensbereiche zu sichern und zur Entfaltung zu bringen, ist es ausdrücklich gesagt. Man hat manchmal den

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"Meinungsfreiheit" in Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte,

Ed. 11, 1954, S. 256 f.

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Eindruck, daß Art. 5 Abs.1 Satz 2 GG in einen verfassungsrechtlichen Grundsatz entsprechend Art. 6 umgedeutet wird, der etwa lauten würde: "Die politische Presse steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat hat für gleiche Wettbewerbsbedingungen und für die Erhaltung einer Vielfalt von selbständigen Meinungsträgern zu sorgen." Den unehelichen Kindern des Art. 6 Abs. 5 würden dann die kleinen Zeitungsverlage entsprechen, denen die gleichen Lebensbedingungen zu sichern wären wie ihren großen Brüdern. Dem Art. 6 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht eine dreifache Bedeutung gegeben (BVerfGE 24, 135): Er "enthält sowohl eine Institutsgarantie wie ein Grundrecht auf Schutz vor störenden Eingriffen des Staates und darüber hinaus eine wertentscheidende Grundsatznorm für das gesamte Ehe und Familie betreffende Recht. In allen diesen Beziehungen ist die Familie als ein geschlossener, eigenständiger Lebensbereich zu verstehen; die Verfassung verpflichtet den Staat, diese Einheit und Selbstverantwortlichkeit der Familie zu respektieren und zu fördern". Aber Art. 5 Abs. 1 ist nun einmal nicht eine solche "Generalnorm", die "ein umfassendes an die Adresse des Staates gerichtetes Schutzgebot statuiert, das weder durch einen Gesetzesvorbehalt noch auf andere Weise beschränkt ist". In ihm ist nun einmal nur die Pressefreiheit gewährleistet. Und das gibt auch einen guten Sinn. Vor allem bedarf es nicht der institutionellen Deutung, um Gesetze zu rechtfertigen, die zur Erhaltung eines für eine lebendige Demokratie unentbehrlichen Pressewesens notwendig sein sollten. e) Ich bestreite nicht, daß die Normen des Grundgesetzes, die ein Freiheitsrecht verbürgen, einen objektiv-rechtlichen Satz mit Verfassungskraft enthalten können, der nicht nur Auslegung und Anwendung der Gesetze bestimmt, sondern auch unmittelbar gesetzgeberisches Handeln erlaubt oder gebietet. Aber bei dem Grundrecht der Pressefreiheit vermag ich keinen solchen Satz zu entwickeln. Die objektive Rechtsordnung muß den gewährleisteten subjektiven Freiheitsbereich achten. Die umfassende Wertentscheidung des Art. 5 Abs.1, die auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schmid-Urteil) die Pressefreiheit nur als wichtigsten Teil der Meinungsäußerungsfreiheit umgreift, mag große Bedeutung für die Auslegung und Anwendung der Gesetze einschließlich auch der schrankenziehenden Gesetze haben, - für die uns heute beschäftigenden speziellen Probleme der politischen Presse ist daraus kein objektiver Verfassungsgrundsatz zu gewinnen. Die gängigen institutionellen Deutungen beachten einerseits nicht den weiten Schutzbereich dieser Garantie und sie deuten außerdem die Sicherung einer gesellschaftlichen Freiheit um in eine verfassungsorganisatorische Einrichtung. 3 Festgabe Kunzc

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V. Die institutionelle Deutung des Art.5 Abs.1 Satz 2 GG wird vor allem betrieben, um ein gesetzgeberisches Einschreiten gegen die Pressekonzentration zu rechtfertigen'T. Dafür halte ich sie aber nicht für erforderlich. Mir scheint, daß man zu billigen Ergebnissen auch kommen kann, wenn man von dem subjektiven Freiheitsrecht und seiner Beschränkung durch die allgemeinen Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG ausgeht. Die einen halten dafür, daß erst solche Gesetze die Pressefreiheit konstituieren und realisieren, die anderen sind der Meinung, daß damit der Pressefreiheit eine zulässige Schranke gezogen wird. Diesen zweiten Standpunkt möchte ich noch kurz entwickeln. 1. Hier nun wird der Unterschied von intentional privater und intentional öffentlicher, politischer Meinungsäußerung und Meinungsbildung aktuell. Die Schranken, die ein allgemeines Gesetz nach Art. 5 Abs. 2 GG den in Abs. 1 verbürgten Grundrechten ziehen kann, müssen für die einzelnen Grundrechte und für deren verschiedenen Ausübungsbereich differenziert werden. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffe in die Pressefreiheit beschränke ich mich jetzt auf die politische Presse, also auf jene Presse, die offensichtlich auch in den Pressegesetzen gemeint ist, wenn von der öffentlichen Aufgabe der Presse gesprochen wird. 2. Nach Art. 20 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Staat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. An zentralen Stellen des Grundgesetzes, wo es um seinen Schutz geht, wird die verfassungmäßige Ordnung als freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet (Art. 10, 11 Abs.2, 18, 21, 87 a Abs.4, 91). Das Volk übt die Staatsgewalt in den Wahlen aus. Von ihrem allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen und gleichen Wahlrecht können die Bürger aber nur dann sinnvoll Gebrauch machen, wenn sie informiert sind. Der informierte Bürger, der selbständig denkt und sich sein Urteil bildet, ist der Garant der freiheitlichen Demokratie. Darum ist ihm in Art. 5 Abs. 1 auch die Informationsfreiheit zugesichert. Die politische Presse ist es nun, die in erster Linie diese Informationen vermittelt. Die Ausübung des Individualgrundrechts der 'T Vgl. dazu den Schlußbericht vom 14. Juni 1968 der Kommission zur Untersuchung der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz von Fresseunternehmen und der Folgen der Konzentration für die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland (sog. Günther-Kommission), Drucksache des Deutschen Bundestages V/3122; Stellungnahme der Bundesregierung zum Schlußbericht der Pressekommission vom 20. Februar 1969, Drucksache des Deutschen Bundestages V/3856; auch den Bericht der Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, funk/Fernsehen und Film vom 25. September 1967 (sog. Michel-Kommission), Drucksache des Deutschen Bundestages V/2120.

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Pressefreiheit hat also grundlegende Bedeutung für den demokratischen Staat. Insofern hat natürlich die Ausnutzung der FTeiheit zur politischen Meinungsäußerung, die Betätigung der PressefTeiheit in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse, politische Bedeutung. Aber ich vermag nicht einzusehen, daß dadurch dieses Abwehrrecht gegen den Staat zu einem Mitwirkungsrecht des status activus werden soll, nach Art des Wahlrechts, das wirklich ein vom Staat gewährtes und gestaltetes Recht ist. Allemal handelt es sich doch um das Gebmuchmachen von der FTeiheit, das der Staat nur in den verfassungsmäßig zugelassenen Grenzen hindern darf. Daß die Schrankenziehung in diesem Bereich die politische Bedeutung der Ausübung der Pressefreiheit für das Gemeinwesen beachten muß, steht auf einem anderen Blatt. Im Parteienfinanzierungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht das "Verfassungsgebot der grundsätzlich staatsfreien und offenen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen" entwickelt, aus dem sich ergibt, "daß es den Staatsorganen grundsätzlich verwehrt ist, sich in bezug auf den Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes zu betätigen" (BVerfGE 20, 99). Für unseren Problembereich ergibt sich daTaus, daß dem Staat nicht nur verwehrt ist, in private Presseunternehmen lenkend oder behindernd einzugreifen - nur das ist der Inhalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 -, sondern daß er sich auch nicht durch eigene Presseunternehmen maßgeblich in den Prozeß der Bildung öffentlicher Meinungen einschalten darf. Dabei können die Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Regierung hier beiseite bleiben. Aus dem Demokratiegebot ergibt sich weiter die Forderung nach einer Vielgestaltigkeit im Bereich des Pressewesens, über deren Erhaltung der Staat wachen muß. Der Bürger muß die Möglichkeit haben, sich möglichst vielseitig zu informieren, um Material für die eigene Meinungs- und Willensbildung zu bekommen. Je mehr selbständige Presseorgane bestehen, die als Medium und Faktor der Meinungsbildung fungieren und unter verschiedener politischer Zielsetzung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse berichten und dazu Stellung nehmen, um so besser wird der politische Prozeß funktionieren. Ich möchte allerdings meinen, daß es eine Illusion ist, zu glauben, daß die Bürger von solcher Möglichkeit in sehr großem Umfang Gebrauch machen würden. Daher würde ich die Notwendigkeit eines vielgestaltigen Pressewesens im Sinne einer möglichst großen Zahl selbständiger Meinungsträger und Meinungsvermittler weniger mit dem Informationsbedürfnis des einzelnen Bürgers rechtfertigen, sondern diese Vielgestaltigkeit als ein objektives Prinzip aufstellen. Sie ist für diejenigen wesentlich, die die Bildung und den Austausch von Meinungen in der Öffentlichkeit stärker zu beeinflussen vermögen. Rundfunk-Kommen-

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tare und Fernsehsendungen z. B. ergänzen das Bild der Zeitung, und dort werden gerade oft die Äußerungen mehrerer Presseorgane nebeneinandergestellt, und sie erreichen auf diese Weise den Bürger. 3. Bei der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit staatlicher Maßnahmen zur Sicherung einer vielgestaltigen politischen Presse muß unterschieden werden zwischen fördernden Maßnahmen, die bestimmten Presseunternehmen zugute kommen, ohne die Freiheit anderer Presseunternehmen zu tangieren, und solchen Maßnahmen, die unmittelbar die Freiheit von Presseunternehmen beschneiden. a) Vorab sei bemerkt, daß man die wirtschaftliche und die publizistische Seite trennen muß. Wenn das Bundesverfassungsgericht im ,,spiegel"-Urteil an der zitierten Stelle sagt: Die Presseunternehmen "stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf" (BVerfGE 20, 175), so meine ich, würde beides zu sehr über einen Kamm geschoren. Allgemeine Regeln über die Grenzen des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der Marktbeherrschung könnten hinsichtlich der rein wirtschaftlichen Seite eines Presseuntemehmens doch genauso Platz greifen wie bei anderen wirtschaftlichen Unternehmen. In welchem Ausmaß hier Art. 12 und Art. 14 GG Beschränkungen zulassen, ist nicht Gegenstand dieses Referates. Nur muß man sich hüten, unter dem Vorwand des Einschreitens gegen wirtschaftlichen Machtmißbrauch in Wahrheit die publizistische Tätigkeit eines Presseunternehmens zu beschneiden. b) Fördernde Maßnahmen für einzelne Presseunternehmen erscheinen unter dem Aspekt der Pressefreiheit, wie ich sie verstehe, problemlos. Sie könnten aber das Verfassungsgebot des staatsfreien gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozesses verletzen, wenn sie in irgendeine Beziehung zu der publizistischen Haltung der Presseorgane gebracht werden. Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, im Rahmen dieses Referates die praktischen Vorschläge einer solchen Förderung zu erörtern. Es sei nur auf die Notwendigkeit hingewiesen, Sicherungen einzubauen, daß solche Maßnahmen wirklich zur Erhaltung einer vielstimmigen politischen Presse eingesetzt werden und nicht etwa als Lenkungsmaßnahme mißbraucht werden. c) Greift der Staat durch Maßnahmen ein, die nicht durch rein wirtschaftlichen Machtmißbrauch, sondern durch übermäßigen publizistischen Einfluß ausgelöst werden, so beschneiden solche Gesetze die Pressefreiheit, und sie müssen sich an Art. 5 Abs. 2 messen lassen. Und hier ergibt sich: Besteht wirklich eine Gefahr, daß der freie gesellschaftliche Prozeß der Meinungs- und Willensbildung durch Meinungsmonopole übermächtiger Pressekonzerne verfälscht wird, dann ist ein

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diese Gefahr bannendes Gesetz ein "allgemeines Gesetz", das zulässigerweise der Pressefreiheit Schranken zieht. Es verhilft dem höherwertigen Rechtsgut der Demokratie zur Geltung. Wenn schon der Schutz der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre in Art. 5 Abs. 2 als Rechtsgüter anerkannt sind, vor denen die Freiheit der Meinungsäußerung und die Pressefreiheit zurücktreten müssen, dann muß das erst recht für die freiheitliche demokratische Grundordnung und die Grundlagen ihres Funktionierens gelten. Es kann nun wiederum nicht Aufgabe dieses Referates sein, Kriterien dafür aufzustellen, wann durch Konzentration im Pressewesen jene Gefahr für die Demokratie erreicht ist, noch die einzelnen Maßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, die in Vorschlag gebracht worden sind. Nur den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit möchte ich noch ausdrücklich betonen.

Privatrecht und Politik Zur Frage der politischen Bildung der Juristen

Von Kurt Ballerstedt

I. Die These, daß Juristenausbildung in der Gegenwart nicht bloß nebenher, sondern in ihrem Geist zugleich politische Bildung sein müsse, begegnet nicht zufällig zwiespältigem Echo und vielfältigem Unbehagen. Die einen bejahen diese Forderung emphatisch und ohne Zögern, weil sie sie im Zusammenhang mit der politischen Geschichte unseres Volkes sehen und als Teil der umfassenden Aufgabe einer durchgängigen Entfaltung des demokratischen Prinzips begreifen1. Andere erheben grundsätzliche Bedenken aus Sorge um die Unabhängigkeit der Rechtspflege, um die neutralisierende Funktion der dritten Gewalt, als deren Fundament die Erhabenheit der Rechtsidee über Haß und Gunst der politischen Bewegungen und Parteiungen erscheint. Manch einer der Hochschullehrer mag sich auch an Max Webers Warnung vor dem Mißbrauch des Katheders für lebensphilosophische, weltanschauliche oder politische Parolen2 erinnern und dadurch in der Meinung bestärkt werden, daß die Universität nicht anders als in striktester Neutralität ihre Lehraufgaben erfüllen könne. Der Zwiespalt der Meinungen hat gewiß tiefgehende Gründe. Das Urteil über das begriffliche Verhältnis zwischen Politik und Recht oder über den Grad politischer Relevanz richterlichen Verhaltens hängt offensichtlich von gewissen Grundansch.auungen, z. B. davon ab, wie man rechtsphilosophisch über Sinn und Geltungsgrund des Rechts denkt oder welche historisch-soziologischen Vorstellungen man sich von dem 1 Dies ist der Gesichtspunkt, unter dem dieser Beitrag mit dem Wirken des Jubilars Otto Kunze und dem Leitgedanken seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbunden ist. In den Dienst einer umfassenden Entfaltung des demokratischen Gedankens hat er namentlich seine Arbeiten zur Mitbestimmung gestellt, wie auch der von ihm maßgebend bestimmte Bericht "Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung" (1968) (vgl. in sb es. S. 67-88) ausweist. 2 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919).

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Kurt Ballerstedt

Werden und Wirken der Rechtsinstitute gebildet hat 3 • Indessen beruhen die Gegensätze sicherlich nicht allein und nicht einmal wesentlich auf Unterschieden in wissenschaftlichen Ausgangspositionen solcher Art; daß überhaupt zwischen Recht und Politik ein Zusa~enhang besteht und daß ein Jurist gelernt haben sollte, sich hiervon im Hinblick auf die jeweiligen Erscheinungen des Rechtslebens Rechenschaft zu geben, wird niemand, von welcher Grundanschauung er auch immer herkommen möge, bestreiten. Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen vielmehr bei der Frage, in welcher Weise das politische Element der Rechtsbildung und Rechtsfindung in den akademischen Unterricht eingeführt werden kann, welcher Methoden, Materialien und Untersuchungen es hierfür bedarf und wieweit die Universität einen politischen Bildungsauftrag hat und ihn gar aus ihrem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis ableiten sollte. In diesen Fragen fehlt es, zumindest unter uns Juristen, weithin noch an klaren Problemstellungen. Die Formel, der junge Jurist solle auf der Universität mit den philosophischen, historischen und soziologischen Aspekten der Rechtsordnung vertraut gemacht werden", ist ebenso unbestreitbar richtig wie nichtssagend. Von anderer Seite wird eine grundstürzende Wandlung des rechtswissenschaftlichen Systems und seine Ablösung durch gesellschaftlich-politische Denkgebilde verlangtll, um die dem politischen Urteilsvermögen des Juristen angeblich hinderliche Kluft zwischen juristischem und sozialwissenschaftlichem Denken zu schließen; aber dann steht man vor der unausweichlichen Alternative, entweder auf die systematische Einheit der Rechtsordnung ersatzlos verzichten zu müssen, oder diese Einheit durch die Allgemeinverbindlichkeit einer gesellschaftlichen Ideologie herzustellen, was freilich mit der geltenden Verfassung der Bundesrepublik unvereinbar wäre. Weithin besteht, wie auch die Verhandlungen des Rechtswissenschaftlichen Fakultätentages zu diesem Abschnitt der Studienreform erwiesen haben 6 , eine gewisse Verlegenheit, und zwar sowohl bei den Hochschullehrern wie bei den Vertretern der studentischen Reformforderungen. Man sollte sich diese Verlegenheit offen eingestehen. Wir sind in der Tat auf die politischen Bildungsaufgaben, die sich den Juristi3 So dürfte etwa die Vorstellung, Rechtsgeschichte sei ein Continuum von Prinzipien, die im Volkscharakter angelegt seien, für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Recht und Politik besondere Bedingungen schaffen. " Empfehlungen des Juristischen Fakultätentages zur Reform der juristischen Referendarprüfung in der Fassung des Beschlusses vom 8.2.1969; vgl. JZ 1969, 227. 11 Vgl. etwa Wiethötter, JZ 1968, Sonderheft Studienreform; S.4. 8 Der Verfasser glaubt dies aufgrund eigener Beobachtungen sagen zu können.

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schen Fakultäten (und wahrlich nicht nur diesen!) im Hinblick auf die Zukunft der sozialen Demokratie in der Bundesrepublik stellen, schlecht vorbereitet. Die Grunde hierfür sind vielfältig und aufs engste mit den Versäumnissen und der Provinzialität des geistig-politischen Lebens in Westdeutschland seit 1945 verflochten. Nur zwei der damit zusammenhängenden Momente seien hervorgehoben. Die Wissenschaft von der Politik und die empirischen Sparten der Rechtswissenschaft - Rechts- und Staats soziologie, Rechtstatsachenforschung, Kriminologie, Verwaltungslehre - sind bei uns in den letzten zwei Jahrzehnten nur mühsam vorangekommen; z. T. steht noch heute der erforderliche Konsensus über Gegenstand und Methode dieser Forschungsrichtungen aus. Infolgedessen fehlt es auf weiten Gebieten an Infonnationen und Materialien, mit deren Hilfe sich im akademischen Unterricht die politisch-sozialen Zusammenhänge des Rechtslebens demonstrieren ließen. Gewichtiger als dieser mehr äußerlich erscheinende Mangel dürfte der Umstand sein, daß die prinzipielle Frage, wieweit und in welchem Sinne es zum wissenschaftlichen Charakter einer jeden Beschäftigung mit Fragen des sozialen Lebens gehört, politischer Natur und Wirkung zu sein'T, noch nicht ernsthaft zur Diskussion gekommen ist. Diese Grundfragen einer gesellschaftlichen Wissenschaftstheorie, einer über das Organisatorische hinausweisenden Hochschulreform, bezüglich der Juristenausbildung aber auch einer Neuorientierung des JuristenstandesS lassen sich naturgemäß nicht nebenher erörtern. Immerhin kann man vielleicht ein Einverständnis über die folgenden Aussagen erzielen. Die Behauptung, daß die wissenschaftlichen Hochschulen bisher eine politisch neutrale, nur "kulturell" zu bewertende Bildungsleistung vollbracht hätten, wird heute wohl von niemandem mehr ernsthaft vertreten. Wir wissen vielmehr, daß die Universitäten, ungeachtet der rein philosophischen Umschreibung ihrer Idee bei W. von Humboldt, Fichte, Schleiermacher9 usw. eine ganz klare Funktion in Entwicklung und Aufbau des preußisch-deutschen Nationalstaats gehabt haben. Nun war freilich die Prägekraft, mit der sie die politische Grundhaltung des akademischen Bürgertums, insbesondere die der Juristen, durch viele Generationen hindurch bestimmt haben, gerade deswegen so wirksam, weil das nationalstaatlich-vaterländische Gedankengut als solches in 7 Was Pleßner, Habermas, Horkheimer. Hennis u. a. über die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft erarbeitet haben, ist bisher noch nicht in hinreichender Breite in das Wissenschaftsverständnis der Hochschullehrer eingegangen. 8 Auch über die Konstanzer Ausbildungserfolge ist bisher noch zu wenig Konkretes bekanntgeworden. 9 Vgl. dazu Weischedel (Herausgeber), Idee und Wirklichkeit einer Universität, 1960, S. 3-202.

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den Unterrichtsprogrammen nicht vorkam; es verstand sich vom Leitbild des Akademikers her und als auszeichnendes Merkmal eines wissenschaftlichen Berufsethos gleichsam von selbst. Der Bildungsvorgang blieb mithin hinsichtlich seiner politischen Wirkungen unreflektiert. Wenn das richtig ist und wenn man weiter zugibt, daß die Grundmaxime jeder Wissenschaft darauf gerichtet ist, zu wissen, was man denkt und tut, so ergibt sich daraus auch bereits der kritische Ansatz für die Zukunft. Alsdann erscheint nämlich die Forderung nach einem Rechtsunterricht legitim, der die politischen Zusammenhänge bewußt macht und das naive Selbstverständnis des Juristen als eines unpolitischen Richters und Normvollstreckers erschüttert. Ebenso wie wir gewohnt sind, in System, Institut und Begriff ideen- und dogmengeschichtliche Linien nachzuzeichnen, so müßte es uns künftig auch selbstverständlich werden, die Gebilde des Rechtsdenkens gewissermaßen als gefrorene politische Bewegung zu begreifen. Die Wohltat institutioneller Absicherung sozialgeschichtlicher Errungenschaften müßte dem Juristen in gleicher Weise lebensvoll bewußt sein wie umgekehrt etwa die Gefahr einer Heiligung von Rechtsinstituten1o• übrigens würde ein kritisches politisches Bewußtsein vermutlich auch ein geeignetes Rüstzeug gegenüber vergröbernden Schlagworten wie "Klassenjustiz" liefern. Man wird fragen, ob die Fähigkeit zu kritischer Reflexion über die gesellschaftlichen Bedingungen des eigenen Wirkens als Ziel politischer Bildung des Juristen genügt. Sollte eine moderne Fakultät nicht vielleicht versuchen, der Juristengeneration von morgen auch eine inhaltlich bestimmte Idealvorstellung ihres Berufs einzupflanzen - z. B. die des "guten Staats- und Gesellschaftsbürgers" oder des auf den Aus10 Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, in: Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 100 ff., 102, hat gesagt, eine politische Theorie müsse, weil sie auf Wahrheit gerichtet sei, immer kritisch sein, da keine politische Ordnung die Freiheit vollkommen verwirkliche. Im gleichen Sinne kann man sagen, daß die politische Haltung des Juristen gegenüber dem geltenden Recht notwendig kritisch sein müsse, weil der Widerspruch zwischen dem positiven Recht und der Idee der Gerechtigkeit unaufhebbar sei. Freilich steht diese kritische Haltung in einem Spannungsverhältnis zu der für den Juristen schlechthin grundlegenden Bindung an Gesetz und Recht. Diese Bindung ist naturgemäß jeweils verschieden eng, je nachdem, ob es sich um die Anwendung geltenden Rechts oder um eine Erwägung de lege ferenda handelt, wobei wiederum zwischen Akten der einfacl1en Gesetzgebung und Verfassungsänderungen unterschieden werden kann. In keinem Fall aber kann der Jurist, wenn er als sokher gehört werden will, den ihm durch die Bindung vorgegebenen Argumentationsrahmen nach seinem Belieben verlassen. Natürlich ist kein Jurist, sofern er damit nicht ihm obliegende Pflichten verletzt, daran gehindert, die ihm durch seinen Beruf zugewiesene gesellsch·aftliche Rolle im Einzelfall abzustreifen, aber er sollte diesen Schritt bewußt und deutlich erkennbar tun. Dazu anzuleiten, gehört auch zu den Aufgaben einer politischen Bildung.

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gleich sozialer Spannungen bedachten "Mittlers" oder des "Kämpfers für ein besseres Recht"? Die Antwort kann, was die akademischen Einrichtungen betrifft, nur ein entschiedenes Nein sein. Politisches oder berufliches Ethos lassen sich inhaltlich durch Institutionen oder Programme so wenig fixieren, wie überhaupt Tugend lehrbar ist. Selbst die theologischen Fakultäten können ihre Aufgabe nicht darin sehen, ihre Absolventen zu glaubensstarken oder gar kirchentreuen Menschen zu machen. Wissenschaft kann geistige Kräfte zwar entbinden, aber nicht binden. Jede wie auch immer formulierte Inhaltsbestimmung des politischen Bildungsziels würde unvermeidlich ideologische Prämissen in sich aufnehmen, also langweilig und steril sein. In Wahrheit bedarf es einer derartigen Inhaltsbestimmung auch gar nicht. Wenn es gelingt, die künftige Juristengeneration wachsam hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkungen ihres eigenen Tuns, hellhörig für die im juristischen Argumentationsmaterial mitschwingenden Obertöne politisch-sozialer Art zu machen, so ist Wesentliches geleistet. Die Voraussetzungen dafür sind gegenwärtig insofern günstig, als die Wachsten unter den Jurastudenten nach einer politologischen Vertiefung ihrer Ausbildung drängenl l • Dadurch werden Bedingungen besonderer Art geschaffen. Nicht nur, daß der Dozent vor Fragen gestellt wird, die er bis dahin vielleicht nur mit akademischem Interesse, nicht aber mit jenem Aktualitätsbewußtsein geprüft hatte, das ihm jetzt abverlangt wird. Vor allem treten ihm die Studierenden nicht in der Haltung des Schülers gegenüber. Vielmehr fühlen sie sich als Träger eines politischen Willens, einer politischen Verantwortung, die der Dozent ihnen schon wegen des Generationenunterschieds nicht abnehmen kann. Er muß sie als politische Partner ernst nehmen, insofern also aus der Rolle des akademischen Lehrers heraustreten. Selbstverständlich muß er, soweit es sich um die Verarbeitung wissenschaftlichen Materials oder um Erfordernisse der intellektuellen Redlichkeit handelt, mit aller magisterlichen Genauigkeit und Autorität fungieren. Aber bei der Formulierung der politischen Wertsetzungen und Entscheidungen bewegt er sich in einer Auseinandersetzung, deren Partner einerseits in der zeitgeschichtlichen Erfahrung, andererseits aber auch in der Lebenserwartung, im Horizont der Hoffnungen und Verantwortungen von ihm unterschieden sindl2 • Das Gebot, daß die Teil11 Der vorliegende Beitrag verwertet Erfahrungen und Einsichten, die der Verfasser während des Winters 1968/69 in einem Colloquium über die politische Funktion der Privatrechtsinstitute gewonnen hat. 12 Man darf das Generationsproblem natürlich nicht in das Schema "gläubige Jugend - skeptisches Alter" pressen. Der Altersunterschied ist aber einfach deswegen ein konstituierendes Faktum, weil politisches Denken zeitgebundenes Denken ist, also nicht ewige Wahrheit sucht, sondern Orientierung angesichts der Probleme und Aufgaben für die nächsten 30, 40 Jahre.

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nehmer sich gegenseitig ernst nehmen, bestimmt nicht nur den Stil derartiger Veranstaltungen, sondern macht sie selbst zu einem politischen Vorgang, nämlich zu einer übung in leibhafter Demokratie. Da ist kein Raum für akademische Unverbindlichkeit, es steht dem Dozenten auch nicht frei, sich hinter dem Burgwall einer "herrschen,den" Lehre zu verschanzen, er muß in offenem Gefecht für seine persönlichen überzeugungen einstehen - nicht, um dafür Gefolgschaft zu fordern, sondern im Sinne eines Diskussionsbeitrages. Dieser persönliche Einsatz des Dozenten ist, sofern es überhaupt die Möglichkeit eines inhaltlich näher bestimmten Ziels der politischen Bildungsarbeit gibt, der einzige legitime Weg dahin. Als Materien, an denen eine politologische Vertiefung der akademischen Juristenausbildung unternommen werden kann, kommen prinzipiell alle Gebiete des geltenden Rechts, aber auch der Rechtsgeschichte, der Rechtsphilosophie oder der Rechtssoziologie in Betracht, selbstverständlich ebenfalls eine Analyse von Vorgängen aus parlamentarischer oder autoritärer Gesetzgebung. Daß nicht jedes Problem und Rechtsgebiet in gleicher Weise geeignet und ergiebig ist, versteht sich. Die im folgenden erörterten Komplexe aus dem Arbeits-, dem Bürgerlichen und dem Wirtschaftsrecht mögen als Beispiele dafür dienen, in welchem Maße gerade systematisch dem Privatrecht zuzurechnende Rechtsgebiete sich als Unterlage politologischer Bemühungen eignen. Das Privatrecht scheint von dem Bereich des Politischen weiter entfernt zu sein als beispielsweise das Staats- oder Völkerrecht. Zum al im Bürgerlichen Recht verbirgt der politische Kern sich auf den ersten Blick hinter einer reich entfalteten Dogmatik. Der PrivatrechtIer ist daher stärker der Gefahr ausgesetzt, die politischen Zusammenhänge und Wirkungen zu übersehen. Es bedarf einer teils geschichtlichen, teils soziologischen Aufbereitung, um den für die Klärung des gesellschaftlichen Bewußtseins der jungen Juristen instruktiven Kern herauszuschälen. Thematisch gruppieren die im folgenden behandelten Komplexe sich um die Stichworte Arbeit, Eigentum, Erbe. Mehr als eine Skizze, die auf Vollständigkeit oder systematische Geschlossenheit keinen Anspruch erheben will, kann dieser in mehr als einer Hinsicht fragmentarische Beitrag schon aus Raumgründen nicht bieten.

II. 1. Arbeitsrechtliche Themen dürften für die politologische Seite der Juristenausbildung schon deswegen besonders geeignet sein, weil der Prozeß der Verrechtlichung des Arbeitslebens, die Umsetzung sozialpolitischer Forderungen in tarifliche oder gesetzliche N armen, sich un-

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ablässig vollzieht und uns zur Besinnung darüber nötigt, wie weit wir in jedem dieser-sozialen Fortschritte auch einen Sieg des Rechts sehen dürfen. Es hat gerade in der Gegenwart, in der die sozialethischen und rechtspolitischen Grundfragen der Gesellschaft&- und Wirtschaftsverfassung wieder in Bewegung zu kommen scheinen, auch als Beitrag zur politischen Bildungsarbeit seinen guten Sinn, an die kurze kämpferische Phase der Arbeitsrechtswissenschaft in den ersten Jahren nach 1918 zu erinnern. Die führenden ArbeitsrechtIer von damals, die sich um die "Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht" scharten, betrachteten das Arbeitsrecht als Beginn eines neuen Rechtsdenkens überhaupt. Die Herauslösung des Arbeitsvertragsrechts aus dem Schuldrecht des BGB, die eigenständige Deutung des Tarifvertrages als Einbruch in das bis dahin als unantastbar betrachtete Normsetzungsmonopol des Staates, die Entwicklung genuin betriebsverfassungsrechtlicher Konstruktionen für das Verhältnis zwischen Betriebsrat, Belegschaft und Arbeitgeber stellten sich als erste, noch unsichere Schritte auf dem Wege zu einem Recht des arbeitenden Menschen dar, das nunmehr gleichwertig neben das in generationenlanger Denkarbeit ausgeformte Recht des Eigentums treten sollte. Wer den überschwang jener sozialistischen Aufbruchsstimmung nicht nachempfinden kann, wird schwerlich in der Lage sein, den sozialgeschichtlichen Sinn der arbeitsrechtlichen Entwicklung im letzten halben Jahrhundert zu begreifen, aber er wird ebensowenig zu einer politologischen Analyse des gegenwärtigen Zustandes der Arbeitsrechtswissenschaft einen Zugang finden. Man kann das heutige Arbeitsrecht wohl eine positivistische Wissenschaft nennen, sofern man unter wissenschaftlichem Positivismus eine Erkenntnishaltung versteht, die nicht mehr nach ihren eigenen Voraussetzungen fragt. Der ArbeitsrechtIer der Gegenwart stellt beispielsweise die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Arbeitsrechts, das im prinzipiellen Sinne wahrhaft ein Recht der Arbeit ist, namentlich im Verhältnis zu dem Recht an den sachlichen Produktionsmitteln oder den Dispositionsbefugnissen über Betrieb und Unternehmung, nicht oder zumindest nicht mit aller grundsätzlichen Schärfe. Der Rechtsstudent erfährt auf der Universität, daß derartige Grundfragen den Juristen "als solchen" nichts angingen; das sei Sache der Sozialphilosophie, der philosophischen Anthropologie oder welcher Disziplin immer. Das in seiner Wissenschaft angelegte Politikum, welches die durch diese Frage notwendigerweise ausgelöste Unruhe bedeutet, bleibt ihm hinter einer angeblich außerhalb seiner Kompetenz liegenden Fachproblematik verborgen. Wohlgemerkt, es ist hier gerade nicht gemeint, daß diese Grundfrage jedes Arbeitsrechts in der industrialisierten Welt in einem ideo-

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logisch vorbestimmten Sinne, etwa mit der Forderung nach überwindung der "kapitalistischen" Wirtschaftsordnung zu beantworten sei; damit wäre sie zu einem Schlagwort erniedrigt. Es kommt überhaupt nicht so sehr auf die Antwort als darauf an, daß sie als Frage ernst genommen wird und den Juristen davor bewahrt, die Unsumme der gewiß nützlichen Reglementierungen, denen Industriearbeit in der Gegenwart aus den verschiedensten Gründen13 unterworfen ist, ohne weiteres mit "Recht" gleichzusetzen. Wer Sozialismus in einem sehr allgemeinen Sinne als eine Gesellschaftsordnung versteht, in der der menschlichen Arbeit unter allen Arten von Gütern der oberste Wertrang beigelegt wird l 4, mag freilich an diesem Prinzip den Gerechtigkeitsgrad des positiven Arbeitsrechts messen. 2. Unter einem anderen, nämlich einem an der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung orientierten Aspekt hat Kahn-Freund seine politische Analyse des Arbeitsrechts in der 1931 veröffentlichten Studie "Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts"15 angelegt. Da das im Arbeitsrecht zu verwirklichende Ideal weder in einem lückenlosen gesetzlichen Normenwerk noch in übereinstimmenden Anschauungen beider Sozialpartner fixiert sei, schaffe die Justiz, sagt Kahn-Freund, sich dieses Leitbild selbst16. Er nennt das die höchstrichterliche Arbeitsrechtsprechung beherrschende Ideal ein "faschistisches Sozialideal". Der Faschismus folge weder dem liberalistischen Grundsatz des freien Spiels der Kräfte noch dem konservativen Leitgedanken einer umfassenden obrigkeitlichen Fürsorge für die wirtschaftlich Schwachen, auch gebe er die Gestaltung des Arbeitslebens nicht dem kollektivistischen Kampf der Arbeitsmarktparteien . anheim; zwar habe der Faschismus eklektizistisch einzelne Elemente aus jeder dieser drei Richtungen in sein System übernommen, sie aber eingeschmolzen in das Prinzip einer hoheitlich disziplinierenden Ordnung17. An drei Komplexen weist Kahn-Freund die Wirksamkeit derartiger Leitgedanken auf: an regulierenden Eingriffen der Rechtsprechung in den Arbeitskampf, wobei vor allem die Analyse des Betriebsbegriffs und die Idee des Wirtschaftsfriedens aufschlußreich erscheinen, an der Wandlung

13 Man denke etwa an Unfallverhütung, Arbeitszeit, äußere Ordnung des Betriebsablaufs, Betriebsbuchhaltung u. dgl. Die Inflation der Rechtsnormen, an sich eine allgemeine Erscheinung unseres heutigen Rechtslebens, ist im Arbeitsrecht besonders stark und, weil es um die gerechte Ordnung menschlicher Arbeit geht, besonders fragwürdig. 14 Der Verlass er übernimmt diese Formulierung aus dem Manifest des russischen Physikers Andrej D. Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle (1968), S. 78. 15 Abhandlungen zum Arbeitsrecht, 7. Heft; wieder abgedruckt in "Arbeitsrecht und Politik", herausg. von Th. Ramm. 16 a.a.O., S. 2. 17 a.a.O., S.5-7.

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des Arbeitsverhältnisses unter dem Einfluß des Postulats der Betrieb~ verbundenheit und einer "Verbeamtung" des Arbeitnehmers, schließlich an der individual-fürsorgerischen Einstellung der Rechtsprechung. Trotz der Veränderungen, die das Arbeitsrecht in den nahezu 40 Jahren seit der Veröffentlichung der Kahn-Freundschen Schrift erfahren hat, besitzt diese Untersuchung ebenso wie die fast gleichzeitig veröffentlichte Studie des Autors über den "Funktionswandel des Arbeitsrechts" für eine politologische Unterweisung des jungen Juristen exemplarischen Wert. Sie bietet Gesichtspunkte und Fragestellungen, die bis heute aufschlußreich geblieben sind. Das gilt auch für das harte Kriterium "faschistisch" ungeachtet des weitverbreiteten Mißbrauchs, der in der Gegenwart mit diesem Ausdruck getrieben wird. Es ist vornehmlich der polemische Gehalt dieses Terminus, den man als erzieherisch und klärend anzusehen hat. Das Wort "Faschismus" fordert uns nämlich zu kritischer Besinnung darüber heraus, welche latenten Gefahren der freiheitlichen Arbeitsverfassung drohen. Wenn Kahn-Freund z. B. die in der Rechtsprechung des RAG entwickelten Gedankengänge über die Treupflicht des Arbeitnehmers als faschistisch bezeichnet hat, so sollte uns dies deswegen zu denken geben, weil wir auf dem Wege zur vollen Entfaltung des Treupflichtgedankens bereits ein erhebliches Stück weitergegangen sind. Die heute im wesentlichen einmütig akzeptierte Formel, daß der Arbeitnehmer sich nach besten Kräften für die Interessen des Arbeitgebers und das Gedeihen des Betriebes einzusetzen und alles zu unterlassen habe, was den berechtigten Interessen des Arbeitgebers schaden könnte18 , gibt sich als Umschreibung der natürlichsten Anstandspflicht. aber eben darin liegt ihre gefährliche Naivität; denn die vermeintliche Pflicht zu optimaler Förderung der Arbeitgeberinteressen läßt sich in Wahrheit nicht aus dem Arbeitsvertrage ableiten, sondern ist rechtlich nur haltbar, wenn man von einer vorgegebenen Deckung zwischen dem Interesse des Arbeitgebers (oder "des Betriebes"!) und dem Gemeinwohl ausgeht. Nun wird zwar wohl niemand aus der Treupflicht jedes Belegschaftsmitgliedes folgern wollen, daß es z. B. den beabsichtigten Erwerb eines Grundstücks für Betriebszwecke zu fördern habe, wenn es dazu durch Verzicht auf die Verfolgung eigener kollidierender Grunderwerbsinteressen in der Lage sei. Es handelt sich offensichtlich um eine fahrlässig zu weit gefaßte Formel. Aber eben diese Fahrlässigkeit dürfte die dahinter stehenden, unreflektierten gesellschaftlichen Anschauungen verraten und politisch relevant sein. Man darf doch nicht glauben, daß die ständige gedankenlose Wiederholung einer Formel, die den Arbeitnehmer in einer Art Untertanenstellung gegenüber dem 18

Vgl. statt Vieler Nikisch, Arbeitsrecht, Bd.1, 3. Aufl., S.446 m. Nachw.

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Arbeitgeber erscheinen läßt, ohne politische Folgen sei. Der aufschreckende Tadel "Faschismus" kann gegen die einschläfernde Wirkung eines falschen Sprachgebrauchs heilsam sein. 3. Zur politischen Bildung des Arbeitsrechtiers gehört es auch, ihn auf der einen Seite gegen scheinbar neutrale, rein juristische Beweisführungen mißtrauisch zu machen und ihn andererseits zur Analyse der gesellschaftlich-politischen Zusammenhänge zu befähigen; recht verstanden, ist bei des freilich nichts anderes, als was lebendige Jurisprudenz ohnehin lehren sollte. Zwei vielerörterte Probleme mögen als Beispiele dienen. a) Das Problem des Lohnrisikos bei arbeitskampfbedingten Betriebsstörungen interessiert hier nicht so sehr im Hinblick auf die Ergebnisse als bezüglich der Lösungswege. Im Ergebnis dürfte nämlich innerhalb der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft jedenfalls darüber weithin Einigkeit bestehen, daß der Arbeitnehmer keinen Lohnanspruch hat, wenn die Betriebsstörung durch einen inländischen Streik verursacht ist19• In den Begründungen zeigen sich hingegen Differenzen. Die Meinung, daß die Lösung des Problems mit den Regelungen der §§ 323, 324 Abs.2, 615 im bürgerlich-rechtlichen System der Leistungsstörungen bestimmt oder zumindest vorgezeichnet sei, wurde bis in die neuere Zeit hinein vertreten20 • Dieser Auffassung stehen, wie bekannt, untereinander nicht voll übereinstimmende Meinungen gegenüber, die auf die kollektivrechtlichen Zusammenhänge abstellen. Die vom BGB ausgehende Lösung nimmt für sich in Anspruch, eine exakt juristische und deswegen über den Verdacht einer politischen Stellungnahme erhabene Begründung zu bieten, während eine arbeitskampfrechtliche Argumentation weit stärker exponiert erscheint. Man sollte aber doch zugeben, daß das Begriffspaar "Unmöglichkeit" - "Annahmeverzug" nur den Schein einer rechtlichen Begründung hergeben kann, weil die Frage, ob § 615 zutrifft, von dem Begriff der dem Dienstverpflichteten obliegenden Leistung abhängt, der seinerseits nicht eindeutig ist21 • Die Negierung eines über die Systematik des BGB hinausweisenden Wertungszusammenhangs ist also sowohl methodisch unbefriedigend wie politologisch eine unzureichende Würdigung des sozialen Konflikts. 181 Vgl. Soergel-Siebert-Wlotzke- Volze, 10. Aufl., § 615 Bem. 31-33 m. Nachw. 20 VgJ. die Nachweise bei Hueck in Hueck-Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. I, 7. Auf!. (1963), S. 349 i. A. Mühlen, Die Schädigung von Drittbetrieben im Arbeitskampf, vergleichende Darstellung der Rechtslage in Deutschland und Frankreich, Diss. Köln, 1967, S. 55 ff. Die Meinung von F. Neumann (vgl. Note 10), S.64, daß § 615 auch die Fälle des kampfbedingten Lohnrisikos regeln sollte, wird durch die Ausführungen Mot.2, 461 ff., und Prot. 2, 279 i., nicht bestätigt. 21 Näher dazu Ballerstedt, AuR 1966, 225.

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Allerdings werden, sobald man den begrifflich sauberen, aber unfruchtbaren Boden der bürgerlich-rechtlichen Systematik verläßt, die der Sache selbst innewohnenden Schwierigkeiten erst voll offenbar. Die wohl als herrschend anzusehende Lehre, wonach der Lohnanspruch stets verloren geht, wenn die Betriebsstörung durch eine dem Arbeitgeber nicht zum Verschulden gereichende inländische Streikhandlung hervorgerufen wird, operiert mit einer Solidaritätshypothese22 • Die angenommene Solidarität umschlingt also nur die im Inland tätigen Arbeitnehmer; selbst innerhalb der EWG greift sie zur Zeit noch nicht über die Grenzen des einzelnen Mitgliedstaates hinaus. Bei Betriebsstörungen infolge von Aussperrungen anderer Arbeitgeber ist die Erhaltung des Lohnanspruchs umgekehrt die Folgerung aus einer unterstellten Solidarität der Arbeitgeber. Ob die jeweils angenommene Interessengemeinschaft tatsächlich besteht, kann im Einzelfall selbstverständlich zweifelhaft sein, aber ebenso klar dürfte sein, daß man auf faktische Gleichrichtung der Interessen im objektiven oder gar im subjektiven Sinne nicht abstellen kann. Da es sich überdies um ein ungeschriebenes Wertungskriterium handelt, sollte der politisch gewissenhafte Jurist sich der Unsicherheit und Unfertigkeit seiner Entscheidungsbehelfe bewußt sein23 • b) Die Rechtsstellung des Betriebsrats ist nicht nur ein Konstruktionsproblem, sondern auch für die Interpretation der betriebsverfassungsrechtlichen Strukturfragen und deren gesellschaftlich-politischen Gehalt von hoher Bedeutung. Den rechtswissenschaftlichen Streitstand zu referieren, ist im vorliegenden Zusammenhang kein Anlaß24• Es kommt hier nur darauf an, die kaum überbrückbare Spannung zwischen den Geboten einerseits der juristischen Systemrichtigkeit und andererseits der gesellschaftlichen Wahrheit der Begriffsbildung her22 Der Ausdruck "Solidarität" wird zwar meist vermieden. Man spricht von der "Sphäre" der AN oder AG. In der Sache wird aber doch darauf abgestellt. 23 Mayer-Maly-Nipperdey, Risikoverteilung in mittelbar von rechtmäßigen Arbeitskämpfen betroffenen Betrieben (1965), wollen das Lohnrisiko für alle kampfbedingten Störungen, also auch bei Aussperrungen, den Arbeitnehmern auferlegen, da auf der anderen Seite den Arbeitgeber stets das kampfbedingte Produktions- und Absatzrisiko treffe; diese Risikoverteilung werde allein dem Prinzip der Waffengleichheit gerecht. Die Berufung auf den Gedanken der Waffengleichheit scheint einen elementar rechtlichen, mithin streng neutralen Gesichtspunkt einzuführen; in Wahrheit dürfte hier einer der von Th. Ramm, RdA 1968, 412, aufgewiesenen Fälle vorliegen, in denen eine politisch relevante Vorentscheidung bereits in der begrifflichen Einordnung vollzogen wird: das Lohnrisiko des Arbeitnehmers und die unternehmerischen Nachteile eines Arbeitskampfes lassen sich ndcht gegeneinanderabwägen; vgl. Ballerstedt, AuR 1966, 225, 223. 24 Vgl. dazu die Übersicht bei Dietz, BetrVG, 4. Aufl., 1967, § 1 Bem.5 bis 28; Neumann-Duesberg, Betriebsverfassungsrecht, 19. und 22. Kapitel

(5. 187 ff., 229 ff.). 4 },'estgabe Kunze

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vorzuheben. Nikisch25 hat das Streben nach Systemrichtigkeit wohl am konsequentesten verfolgt. Er verwendet große Mühe auf den Nachweis, daß der Betriebsrat ein privatrechtliches Amt innehabe, das ihm durch die Wahl übertragen werde und kraft dessen er die gesetzlichen Mitwirkungsbefugnisse aus eigenem Recht innehabe. Er sieht die Stellung des Betriebsrats in Analogie zum Vormund oder Testamentsvollstrekker, ordnet sie also in das systematische Gefüge des BGB ein. Auf den ersten Blick eine bestechende, weil begrifflich kaum angreifbare Lösung: die Schwierigkeiten, die mit der Deutung als Organ, Vertreter oder Repräsentant der Belegschaft oder mit der Annahme substantiell den einzelnen Belegschaftsmitgliedern oder der Belegschaft in ihrer Gesamtheit zustehender Mitwirkungsrechte verbunden sind, scheinen glatt behoben zu sein. Tatsächlich aber bleiben wesentliche Fragen unbeantwortet, so vor allem die, nach welchem leitenden Auslegungskriterium der Inhalt der Mitwirkungsbefugnisse im Zweifelsfall zu bestimmen ist. Das Amt des Testamentsvollstreckers empfängt seine Legitimation und seine inhaltliche Bestimmung innerhalb des gesetzlichen Rahmens der §§ 2203-2219 BGB durch den Willen des Erblassers; das Amt des Vormundes ist der elterlichen Gewalt nachgebildet2G und wie diese am Wohl des Kindes orientiert. Welches sind, wenn der Betriebsrat ein privatrechtliches "Amt" innehat, Quelle und Leitbild seiner Befugnisse und Pflichten? Darf man in der rechtlichen Beantwortung dieser Fragen unterdrücken, daß der Betriebsrat nach seiner sozialpolitischen Funktion Sprecher, Interessenvertreter, Schutz der Belegschaftsmitglieder gegenüber dem Arbeitgeber sein soll? Der Versuch einer politischen Neutralisierung mit Hilfe "rein" juristischer Deutungen muß fehlschagen. Da alles Wirken in nichtprivaten gesellschaftlichen Bereichen auch dann politische Relevanz besitzt, wenn es rechtlich geregelt ist, und da ferner der institutionelle Boden eines derartigen Wirkens bestimmte Bewußtseinsgehalte vermittelt, führt die dem Juristen leicht eingängige Idee, es handele sich um bloßen Normenvollzug, unvermeidlich zu einer Verfälschung des politischen Kräftespiels. Im Betriebsverfassungsrecht kann beispielsweise die Mystifikation des Betriebswohls als obersten Wertes das vielleicht gar nicht bewußt erstrebte Ergebnis sein27 • Arbeitsrecht, Bd. 3, 1966, § 91 (S. 12-24). Beitzke, Familienrecht, 14. Aufl. 1968, § 37 {S.234). § 1 BRG 1920 hatte der Betriebsvertretung eine doppelte Aufgabe: Interessenvertretung der Belegschaft und Unterstützung des Arbeitgebers in der Erreichung der Betriebszwecke, zugewiesen. Zu der hieraus in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung entstandenen Problematik vgl. KahnFreund, a.a.O., S. 9 ff. Das BetrVG hat den Fehler des § 1 BRG vermieden, aber die für die praktische Wirksamkeit des Betriebsrats, insbesondere auch für sein Verhältnis zu den Gewerkschaften höchst wichtige Präzisierung seiner legitimen sozialen Funktion nicht überflüssig gemacht. Bezüglich der 25

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4. Das Arbeitsrecht stellt schließlich auch im Hinblick auf gewisse Besonderheiten der Rechtsfortbildung auf diesem Gebiet hohe Anforderungen an die politische Wachsamkeit der Juristen. Hierbei ist auch, aber nicht in erster Linie, daran zu denken, daß der Staat auf wichtigen Gebieten sich zugunsten tariflicher Normsetzungen der Gesetzgebung enthält. Die bemerkenswerteste Eigentümlichkeit der arbeitsrechtlichen Rechtsfortbildung dürfte vielmehr in dem zwar nicht systematisch, wohl aber rechtssoziologisch besonderen Verhältnis zwischen Richter und Gesetz liegen. Die schwierigen rechtsdogmatischen Fragen, die mit der Bindung des Richters an das Gesetz gemäß Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG verknüpft sind28, müssen hier freilich ebenso beiseite bleiben wie die allgemeine politologische Problematik richterlicher Spruchtätigkeit29• Hervorzuheben ist vielmehr nur, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung in Arbeitssachen aus Gründen, die für das Verhältnis zwischen Staat und Industriegesellschaft tief bezeichnend sein dürften, in manchen Materien die Funktion des Gesetzgebers hat erfüllen müssen. So hat das BAG in seiner Judikatur zum Arbeitskampfrecht ein Normenwerk geschaffen, das der Sache nach, d. h. im verfassungspolitischen Sinne der Gewaltenteilung, Gegenstand eines Arbeitskampfgesetzes hätte sein sollen. In dieser Feststellung liegt indessen nach keiner Seite hin ein Vorwurf, am wenigsten gegenüber dem BAG. Der Bundestag ist in keiner seiner Legislaturperioden mit der Aufgabe befaßt gewesen, ein solches Gesetz zu erlassen, weil bisher keine Regierung und keine Partei sich auf das politische Abenteuer der Einbringung eines derartigen Gesetzentwurfs einlassen konnte. WeIliIl auch der Gedanke des politischen oder des wirtschaftlichen Klassenkampfes nicht mehr das Verhältnis der Sozialpartner zueinander beherrscht, so fehlt es doch gerade gegenüber dem Sozialphänomen des Arbeitskampfes weithin noch an einer Gemeinüberzeugung. Die parlamentarischen Verhandlungen würden daher schwere Auseinandersetzungen mit vielleicht ungewissem Ausgang auslösen können. Unter diesen Umständen ist höchstrichterliche Rechtsschöpfung, vom Sinn des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens aus gesehen, ein zwar nicht idealer, aber doch jedenfalls hilfreicher Ausweg30• Um so Gefahr, daß der Betriebsrat in die Rolle eines "Organs" des Betriebes verfällt, vgl. den von Schnorr, RdA 1968, 452, allerdings unter etwas anderen Aspekten erörterten Fall, das der BR bei der Maßregelung von Belegschaftsmi tgliedem mitwirkt. 28 Vgl. dazu FZume, Richter und Recht, 1967. 29 Von älterem Schrifttum sind hierzu zu nennen Ernst Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929; E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1927; Ludwig Bendix, Zur PsycholOgie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters, Neudruck. 1968. Neuerdings Bemd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 1968. 30 Der Verf. verdankt einem Gespräch mit Prof. Buxbaum-Berkeley Hinweise auf parallele staatssoziologische Probleme in den USA.

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wichtiger ist es dann freilich, daß diese Rechtsfortbildung, ein Politikum eigener Art, sich unter möglichst breiter und intensiver Beteiligung der Offentlichkeit31 vollzieht, wofür es vor allem eines hohen Maßes politischer Bildung der Juristen bedarf. 111. 1. Die schier unerschöpfliche Ergiebigkeit des Eigentums als Gegenstand politologischer Diskussionen und übungen braucht hier angesichts der kardinalen Stellung dieses Instituts im Privatrechtssystem und im gesellschaftlichen Leben allenfalls kurz angedeutet zu werden. Es geht selbstverständlich nicht allein um den gesellschaftskritischen Ansatz, der die Funktion des Eigentums aufgrund des Einsatzes zu unternehmerischer Nutzung von Sachgütern analysiert und in der schlagworthaft vereinfachenden Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit eines der zentralen sozialpolitischen Themen der Gegenwart betrifft. Mindestens in gleicher Weise aufschlußreich ist die Rolle, die das Eigentum seit der Französischen Revolution innerhalb der Systematik des Privatrechts und im Zusammenhang mit der strikten Scheidung von öffentlichem und Privatrecht spielt. In den seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgetragenen ideologischen Auseinandersetzungen spiegelt dieser komplexe Vorgang sich einerseits in Tendenzen zu einer Übersteigerung des Wertrangs, andererseits - im Gegenschlag dagegen - zu einer Verteufelung des Eigentums wider, was beides für das Selbstverständnis des modernen Menschen unter dem Gesichtspunkt der privatrechtlichen Grundlagen seiner Existenz als politisches Wesen bedeutungsvoll erscheint. Schließlich muß die soziale Funktion des Eigentums selbstverständlich auch als Mittel der Güterzuteilung gewürdigt werden.

Angesichts dieser nur in groben Strichen bezeichneten Vielfalt der Aspekte mag man fragen, ob die spezifisch politische Thematik nicht viel enger zu begrenzen sei. Dafür ließe sich anführen, daß die angedeuteten Probleme zum großen Teil schon bisher im akademischen Unterricht zur Sprache kämen, wenn auch jeweils in anderer, je besonderer fachlicher Einordnung. Die Darstellung der Bodenrechtsentwicklung seit der Französischen Revolution gehöre, so könnte man sagen, ins Sachenrecht, von Marx, Proudhon, Stirner oder von der Eigentumslehre des Thomismus, der Reformatoren, der jüngeren 31 Soweit Th. Ramm mit sein~r kritischen Würdigung der Rechtsprechung des BAG in JZ 1964, 494 ff.; 546 ff.; 582 ff., der Notwendigkeit einer solchen öffentlichen Diskussion über die Grundsätze einer lückenfüllenden Rechtsfortbildung hat Rechnung tragen wollen, war dies prinzipiell nicht zu beanstanden; vgl. auch sein Schlußwort JZ 1966, 214.

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Naturrechtsschule oder Hegels handele die Rechtsphilosophie, im Wirtschaftsrecht sei über Karl Renner und die unternehmensrechtliche Problematik des Eigentums vorzutragen, Vermögensbildung und Investivlohn müßten in einer richtig angelegten Vorlesung über Arbeitsrecht besprochen werden, und selbst die Theorie des "Volkseigentums" in den sozialistischen Ländern begegne den Studierenden entweder im Wirtschaftsrecht oder in entsprechenden Sondervorlesungen. Das alles ist, von der herkömmlichen Fächerverteilung aus gesehen, richtig, aber es trifft doch nicht den Kern der Sache. Lassen wir die Frage, wo die Wissenschaft von der Politik zwischen Geschichtswissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft und Philosophie gegenständlich und methodisch ihren Platz finden sollte, hier einmal aus dem Spiel; die politische Bildung der Juristen sollte ohnehin, wie eingangs bemerkt, nicht als fachlicher Sonderzweig, sondern als Teil der rechtswissenschaftlichen Ausbildung betrieben werden. Unabhängig davon, wie die Grundlagen der Politikwissenschaft zu formulieren sind, kommt es darauf an, den sich als Träger eines politischen Willens verstehenden Studierenden bei der Klärung ihres Bewußtseins und ihres Verantwortungsgefühls Hilfestellung mit den Mitteln der Wissenschaft zu geben. Hierbei dienen die aus anderen Fachvorlesungen bekannten Tatsachen und Begriffe als unentbehrliches Material, an dem die spezifisch politischen Zusammenhänge demonstriert werden können. Aber diese Demonstration erfordert, wenn das Ziel politischer Bildung der Juristengeneration von morgen bewußt und planvoll verfolgt werden soll, eine auf diese Zusammenhänge hin angelegte Erörterung, bei der die Fachgrenzen übersprungen werden32 • 2. Grundlegend für jede fruchtbare rechtlich-politische Reflexion über Eigentum ist zunächst eine Besinnung darüber, in welchem Maße 32 Die Notwendigkeit, die aus den verschiedenen Fachbereichen entnommenen Stoffe planmäßig unter politologisch-kritischen Gesichtspunkten zu ordnen, mögen zwei Beispiele beleuchten. K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, 1929 (Neudruck mit Einleitung und Anmerkungen von Kahn-Freund 1965), hat auf marxistischer Grundlage eine in ihrer Art vortreffliche rechtssoziologische Analyse des Privatrechtssystems, namentlich des Eigentums und seiner "Konnexinstitute" geliefert. Will man aber diese bedeutende Untersuchung für die politische Bildungsarbeit nutzbar machen, so bedarf es zunächst einer politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit R.s merkwürdig formaler, ja schemenhafter Definition des Begriffs der Rechtsnorm; vgl. dazu Kahn-Freund, S. 8 ff. - W. Eucken hat in seinen "Grundlagen der Nationalökonomie" (1947) den Zusammenhang zwischen Marktform und Eigentumsmacht in einer auch für den Juristen höchst fruchtbaren Weise aufgewiesen und mit der Deutung der liberalistischen Wirtschafts gesetzgebung als einer "Wirtschaftsverfassung" auf die politische Vorstellungswelt auch zahlreicher Juristen eingewirkt. Aber erst eine kritische Untersuchung der von Eucken verwendeten Begriffe "Eigentum" und "Wirtschaftsverfassung" ergibt fundierte politologische Einsichten.

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die heutige systematische Stellung dieses Instituts das Ergebnis jenes geschichtlichen Entwicklungsabschnitts darstellt, der auch sonst unsere politische und soziale Welt geformt hat, nämlich der Epoche zwischen der Französischen Revolution von 1789 und der russischen Revolution von 1917. Die berühmte Formel: "Le territoire de France est libre comme les personnes qui l'habitent" verknüpft in großartig vereinfachender Weise die Beseitigung des Obereigentums, der grundherrlichen Privilegien, Abgaben und Dienstpflichten mit der Freiheit der Person33• Grundbesitz, nach W. Mosichs34 treffender Formulierung "Raumherrschaft" , ist Eigentum par excellence, Bodenfreiheit mithin das Herzstück der Eigentumsfreiheit. Jene Formel steht zwar im Code rural von 1791, ihr Sinngehalt reicht aber weit über die Bauernbefreiung hinaus. Weder in der Lösung der agraren Sozialprobleme noch etwa in der "Wanderung des Bodens zum besten Wirt" oder der Nutzbarkeit des Bodenwerts als Kreditunterlage noch in der Einebnung der gewerberechtlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land oder der Freiheit der Standortwahl, so wichtig alle diese für die Wirtschaftsordnung grundlegenden Folgen der Zerstörung der feudalen Bodenordnung auch waren, erschöpft sich die politische Bedeutung des mit der Französischen Revolution in Europa eingeleiteten Wandels der Eigentumsordnung. Entscheidend ist, daß das Eigentum zum privatrechtlichen Unterpfand der Bürgerfreiheit wird. Die Durchsetzung des reinen, d. h. von hoheitlichen Befugnissen geschiedenen, aber auch von inhärenten Dienstpflichten befreiten, auf verkehrsfähige Güter beschränkten Eigentumsbegriffs und die Freiheit der Privatperson gehören also politisch zusammen. Die romanistischen Anklänge in unserer Sachenrechtslehre, wie etwa die Definition des Eigentums als pflichtfreies Herrschaftsrecht oder die Übernahme des Satzes "servitus in faciendo consistere nequit" sind ebenso wie andererseits die Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung oder die dingliche Unwirksamkeit vertraglicher Verfügungsverbote (§ 137, 1 BGB) nur die äußere Form, in der die sozialgeschichtlichen Errungenschaften der Französischen Revolution dogmatisch gesichert werden. Systematisch stellt die Eigentumsfreiheit überdies eine der Grundlagen für die strikte Scheidung zwischen Öffentlichem und Privatrecht dar. Das Privatrecht wird als das Feld der selbstmächtigen Person im Rechtssinne konstituiert: erst mit der Eigentumsfreiheit erhält die Vertrags33 Vgl. dazu J. W. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jhdt., 2. Teil, Die Entwicklung des Bodenrechts von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, 1. Hälfte, 1930, S.ll. 34 Mosich, Das Grundeigentum und seine Begrenzung nach §§ 905 und 906 BGB, JheringsJb SO, 255, 259.

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freiheit jene Materie, durch die sie wahrhaft zur Privatautonomie wird 35 • Die nunmehr beherrschende Rolle des "unverletzlichen" Eigentums, das man so häufig, wenn auch systematisch schief "Privateigentum" nennt, spiegelt sich auch in der Rechtsphilosophie wider. Hatte bei Pufendorf und Thomasius die Pflicht am Anfang des Systems gestanden, so legt in der Rechtsphilosophie Hegels - offensichtlich unter dem Einfluß der Ideen VOn 1789 - das Eigentum den Grund für den Aufbau des Ganzen. Auf der ersten Stufe des Rechtsbegriffs, im "abstrakten Recht" wird das Eigentum als die von der Person sich selbst gegebene äußere Sphäre ihrer Freiheit (§ 41) zum Dasein der Persönlichkeit durch die Besitzergreifung der Sache (§§ 44, 51). Daß die gleichsam private Seite der bürgerlichen Freiheit, die Freiheit von Staat und Gesellschaft erst auf der Grundlage entsprechenden Besitzes frei disponibler Güter zum Entfaltungsspielraum der "Persönlichkeit" wird, macht Hegels Ansatz schlagend deutlich 36• 3. Dieses aus den Tiefen des bürgerlichen Selbstgefühls gespeiste Eigentumspathos, das natürlich durch die wachsenden faktischen Nutzungsmöglichkeiten in der sich entfaltenden Verkehrswirtschaft mehr und mehr entfacht wurde, muß man sich vergegenwärtigen, wenn man die heutige politische Eigentumsproblematik erkennen will. Dies nicht deswegen, weil wir im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts über die eigentumspolitische Situation des 19. Jahrhunderts noch nicht wesentlich hinausgekommen wären, sondern im Gegenteil, weil wir nur so die Veränderung Unserer Lage ermessen können. Die EigentumsverherrHchung in dem bürgerlichen Rechtsdenken zwischen 1789 und 1914 hatte sozialrevolutionäre Proteste sehr verschiedenen Inhalts hervorgerufen; das Nein Proudhons37 meinte etwas durchaus anderes als das des Kommunistischen Manifests, und dieser Unterschied verdient auch im Hinblick auf die Gegenwart vermerkt zu werden. Der marxistische Angriff auf das Eigentum an Produktionsmitteln hat in Rußland 1917 35 Vgl. dazu die Darstellung über die Wandlung des Begriffs "Person" in der neueren Privatrechtsgescllichte bei E. Rosenstock, Vom Industrierecht

(1926).

36 Die Ausführungen im Text heben nur das von Hegel an den Anfang gestellte eine Moment des Rechts hervor, wodurch aber nicht das Mißverständnis hervorgerufen werden darf, als wenn Hegel die Pflichtseite des Rechts übersehen habe; vgl. dazu H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1966, S. 60 ff. - Die Verbindung zwischen Eigentum und Persönlichkeitsfreiheit klingt noch an in dem Beschluß des GrZS BGHZ 6, 270,

276.

37 proudhons Schrift "Qu'est ce que la Propriet{~? ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement" erschien 1840/41; vgl. dazu L. von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. 3 (1850), S. 343 ff. Es ist bezeichnend, daß für Proudhon das persönliche Eigentum im Mittelpunkt der Rechts- und Gesellschaftsordnung schlechthin steht.

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zum Siege geführt, wir haben seitdem "sozialistisches Eigentum" als geltendes Recht in einer Reihe von Staaten, eigentumspolitisch interessiert als aktuelles Problem nicht mehr die sozialrevolutionäre Theorie, sondern die aus ihr entwickelte Wirtschaftsordnung. Proudhons Verketzerung des Eigentums als Diebstahl hingegen ist bisher nirgends zur Staats- oder Gesellschaftspraxis geworden, die süße Verlockung des Anarchismus schwebt noch als Utopie über unserer Zukunft, und wir mögen uns fragen, welche irritierende Wirkung sie auf das Rechtsbewußtsein der heute in der Ausbildung stehenden Generation auszustrahlen vermag. In der von den Marxisten in den Mittelpunkt gerückten Frage, ob Kapitaleigentum in der Hand von Privatpersonen sich mit den sozialistischen Wirtschaftszielen verträgt, haben fünf Jahrzehnte nachrevolutionärer Praxis mehr und mehr zu einer Ernüchterung geführt. Die einer konsequent marxistischen Denkweise entsprechende Vorstellung, daß privates Eigentum an Produktionsmitteln naturnotwendig zu "kapitalistischem Profit" mißbraucht werde, aber niemals für gemeinwirtschaftlich nützliche Bedarfsdeckung in Dienst genommen werden könne, findet in der Gegenwart wohl kaum noch überzeugte Anhänger. Auch die Befürworter einer sozialistischen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik betrachten privaten Kapitalbesitz ganz überwiegend nicht als etwas per se Böses, sondern sehen das Eigentum als ein in hohem Maße gesetzgeberisch gestaltbares Institut an. Bereits in Art. 156 WeimRV waren als geeignete rechtliche Formen der Vergesellschaftung neben der überführung in "Gemeineigentum" andere gemeinwirtschaftliche Gestaltungen umschrieben worden, bei denen das Eigentum der betroffenen Personen an den Produktionsmitteln der Rechtszuständigkeit nach erhalten bleiben würde. Art. 15 GG spricht in demselben Sinne von "Gemeineigentum oder anderen Formen der Gemein·· wirtschaft"38. In der hessischen Sozialisierung gemäß Art. 39-41 HessVerf schien allerdings noch einmal der Gedanke zur Geltung kommen zu sollen, daß nur "Eigentum des Volkes", das also nicht Eigentum eines einzelnen, auch nicht des Staates oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts sei, "Vergesellschaftung" im Sinne eines machtfreien, unmittelbaren Dienstes für die Bedarfsdeckung lIdes Volkes" gewährleiste39 • Die Ausführung dieser Ver38 Vgl. im einzelnen H. Krüger, Sozialisierung, Die Grundrechte HIlI (1958), S. 267 ff., ~Ol. Die gleiche Wendung wie in Art. 15 GG findet sich auch in mehreren Landesverfassungen, so in Art. 160 Abs.2 BayVerf. 39 Aus dem reichen Schrifttum ist vor allem zu nennen A. Arndt, Rechtsformen der Sozialisierung, DRZ 1947, 37; ders., SJZ 1947, 415; H. Koch, Rechtsform der Sozialisierung unter besonderer Berücksichtigung der Sozialisierung in Hessen, 1947; UZe, Verfassungsrechtliche Probleme der Sozialisierung, 1947.

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fassungsbestimmung ist im Entwurf stecken geblieben, immerhin eignen die sorgfältigen Vorarbeiten sich vortrefflich als eigentumspolitisches Lehrstück. Freilich dürfte das hessische Material - auch angesichts des Scheiterns des Sozialisierungsplans - ein Beleg für die These sein, daß die gesellschaftlich-politische Funktion der Verfügungsrechte über untemehmerisch genutzte Güter sich nicht mehr mit Hilfe einer das Eigentum dinghaft isolierenden Betrachtung erschließen läßt, sondern nur aus dem Zusammenspiel zwischen Unternehmensrecht und gesamtwirtschaftlichem Lenkungsinstrumentarium abgeleitet werden kann. In den kommunistisch regierten Ländern scheint der Begriff des "Volkseigentums" oder "sozialistischen Eigentums" verschiedene Spielarten aufzuweisen und Wandlungen zu durchlaufen, deren genauere Kenntnis für die politische Bildung der jungen Juristen kaum zu überschätzen ist40 ; denn wie Rechtsgeschichte eine Folge sich wieder und wieder vollziehender Rezeptionen ist, so kann es für die nach der russischen Revolution von 1917 vor sich gehende Entwicklung des Eigentums auch bei uns nicht gleichgültig sein, welche begrifflichen Neubildungen in den unmittelbar von dieser Revolution betroffenen Ländern hervortreten. Der politische Bildungswert einer solchen Rechtsvergleichung dürfte namentlich in der Nötigung liegen, durch die uns fremden ideologischen Einkleidungen hindurch auf den Kern einer Lehre zu stoßen, die nicht von einem Allgemeinbegriff des Eigentums, sondern vom Eigentum an Produktionsmitteln ausgeht und es von vornherein aus den gesellschaftlich-ökonomischen Zusammenhängen heraus definiert. Der angedeutete nachrevolutionäre Entwicklungsverlauf ist freilich nicht dahin zu interpretieren, daß das Rechtsbewußtsein der breiten Massen der Bevölkerung in den nichtsozialistischen Ländern das Großeigentum vorbehaltlos akzeptiere. Je größer der Eigentumskomplex, um so schwächer wird seine gesellschaftliche Rechtfertigung als Korrelat der Persönlichkeitsfreiheit. Der antikapitalistische Affekt, mit dem bereits die Soldaten aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt waren, ist heute zumindest unter der studentischen Jugend, wie man weiß, lebendig - ein Politikum, dessen rationale Erwägung gleichfalls zu den Aufgaben politischer Bildungsarbeit an jungen Juristen gehört. 40 Vgl. Jakobs, Allgemeine Rechtsfragen des Volkseigentums in der SBe;, JZ 1967, 46 mit Nachweisen; zur Entwicklung in Jugoslawien, Pretnllr, Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundzüge des jugoslawischen Unternehmensrechts, ZHR 130 (1968), 130-157. In diesem Zusammenhang ist auch auf den allgemeinen politologischen Wert der von Hensel und Pleyer herausgegebenen Reihe "Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen", hinzuweisen, wovon hier besonders zu nennen ist Paul Hofmann, Subjektives Recht und Wirtschaftsordnung (1968).

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Klingt nicht vielleicht Proudhons spitzfindig begründeter, letztlich aber doch irrationaler Protest in dieser eigentumsfeindlichen Stimmung nach? 4. Im Interesse einer klaren eigentumspolitischen Diskussion ist daran zu erinnern, daß trotz gewisser, oft hervorgehobener Wandlungen des Eigentumsbegriffs und trotz aller ökonomischen Veränderungen der Kern dieses Instituts nach wie vor in der privatrechtlichen Herrschaft über eine Sache besteht und sich darauf beschränkt. a) In der neueren gesellschafts- und unternehmensrechtlichen Diskussion ist es weithin üblich geworden, die kapitalmäßige Beteiligung an einer AG oder GmbH als Eigentum zu bezeichnen41 • Im Sinne des Art. 14 GG ist das ebenso unbestreitbar richtig, wie es nach der Systematik des Sachen- und des Körperschaftsrechts unzutreffend ist. Sofern man der überzeugung ist, daß die Unterscheidung zwischen Herrschaft über Sachen und Mitgliedschaft in einer Personenvereinigung keine blutlose Konstruktion ist, sondern in der elementaren Verschiedenheit der gemeinten Lebenssachverhalte ihren Grund hat, erkennt man die vorgeschlagene Erweiterung des Eigentumsbegriffs leicht als politischen Kunstgriff: sie soll eine Begründung für bestimmte Folgerungen liefern, die sich körperschaftsrechtlich nicht überzeugend dartun lassen. Auch in den Empfehlungen für einen sogenannten "Volkskapitalismus" begegnet man einem solchen erweiterten, die politische Urteilsbildung erschwerenden Eigentumsbegriff. b) Die beherrschende Rolle, die dem Eigentum im geltenden Privatrechtssystem zukommt, hat zur Folge, daß dem Eigentümer unternehmerisch genutzter Güter soziale und ökonomische Positionen zufallen, deren rechtliche Zuordnung zumindest fragwürdig bleibt. Die inzwischen durch Betriebsverfassungsrecht und Kündigungsschutz weitgehend beseitigte Erscheinung, daß dem Eigentümer der Produktionsmittel in Verbindung mit dem Arbeitsvertrage faktische Strafgewalt über die Belegschaftsangehörigen zufällt, hatte bereits K. Renner42 kritisiert. - Auf den aus unternehmerischer Nutzung gezogenen Gewinn soll nach weitverbreiteter Anschauung dem Eigentümer mangels entgegenstehender Vereinbarungen ein natürliches Anrecht zustehen. Aber das Gesetz trifft in seinen freilich lückenhaften Regelungen hierüber keine Bestimmung. §§ 953-957 BGB entscheiden nur die sachen41 VgL dazu die Begründung zum Regierungsentwurf des Aktiengesetzes, Allgemeines, II (S. 93 f. der amtlichen Ausgabe). Allgemein zu der eigentumspolitischen und eigentumsrechtlichen Problematik der Gegenwart: Macht oder Ohnmacht des Eigentums, Bericht über das 7. Europäische Gespräch in Recklinghausen, herausg. von F. Rössling-Güters, 1959; Marburger Gespräch über Eigentum - Gesellschaftsrecht - Mitbestimmung, herausg. von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Marburg, 1967. 42 S. 87 f'f. in der von Kahn-Freund besorgten Neuausgabe (vgl. Note 32).

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rechtliche Frage des Fruchterwerbs, und zwar in § 956 zugunsten des obligatorisch Aneignungsberechtigten, weil in ihm der Unternehmer vermutet wird. § 950 leitet in der herrschenden Auslegung den Eigentumserwerb durch Verarbeitung gleichfalls auf die Person des Unternehmers, weil dieser den Betriebsvorgang beherrscht. Ist der Unternehmer zugleich Eigentümer der Produktionsmittel, so ist es in Wahrheit zumindest eine völlig offene Frage, ob ihm der Gewinn kraft seiner Unternehmertätigkeit oder kraft Eigentums gebührt43 • Rechtspolitisch folgt daraus, daß mit dem Begriff des Eigentums auch unternehmensrechtliche Gestaltungen vereinbar sein würden, die dem Eigentümer als solchen nur einen in bestimmter Weise begrem;ten Anteil an dem Unternehmensergebnis gewähren würden. Man denke etwa an die neuerdings von Redakteuren und anderen Mitarbeitern von Presseunternehmen erhobenen Forderungen nach Beteiligung an dem durch ihre geistigen Leistungen geschaffenen Unternehmenserfolg. Sachherrschaft und Arbeitsleistung in ein angemessenes Bewertungsverhältnis zueinander zu bringen, ist eines der bedeutendsten rechtspolitischen Anliegen unserer Zeit. c) Ebenso wichtig wie die exakte Bestimmung des Eigentumsinhalts als Sachherrschaft, ist die Erkenntnis, daß das Eigentum nach seiner dogmatischen Entwicklung seit 1789 ein Institut des Privatrechts darstellt. Ein aus dieser systematischen Einordnung sich ergebendes Politikum ist z. B. die Folgerung, daß das Eigentumsrecht für die Ordnung von Sachverhalten, die über den herkömmlichen Bereich des Privatrechts hinausliegen, keine zureichende Grundlage abgeben kann. Demgemäß kann die Verfassung von Großunternehmen insoweit, wie sie als Gebilde sozialer oder ökonomischer Macht verfaßt werden sollen, nicht allein vom Eigentum an den Produktionsmitteln her gestaltet werden". IV. 1. Das Erbrecht scheint, zumindest in den Augen der heutigen Studentengeneration, ein weit geringeres politisches Interesse zu verdienen als etwa das Eigentum. Das hat sehr natürliche Gründe. Der Erb43 Auch die bereicherungsrechtliche, nicht unstreitige Frage, ob dem Eigentümer der vom Nichtberechtigten veräußerten Sache auch der durch die Veräußerung über den gewöhnlichen Verkehrswert hinaus erzielte Gewinn gebührt, berührt sich mit dem im Text erörterten Problem (bejahend BGHZ 29, 157, mit der überw. Lehre; kritisch von Caemmerer JR 1959, 462; RGRK § 816 Anm. 16). Im vorliegenden Zusammenhang interessiert indessen nur die Tatsache, daß keine prinzipielle Einigkeit darüber besteht, daß dem Eigentümer bei rechtsgrundlosem unternehmerischen Einsatz durch einen anderen der Gewinn zustehe. 44 VgI. Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung (Note 1), S. 155 ff.

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übergang liegt für junge Menschen in der Regellebensmäßig fern und hat vor allem ganz überwiegend für ihre künftige Lebensstellung keine entscheidende Bedeutung. In der industriellen Arbeitsgesellschaft fällt der Erbfolge materiell in der Tat eine vergleichsweise bescheidene Rolle zu, zumal die Rechtsträger bedeutender Vermögenskomplexe vielfach infolge eigener Rechtspersönlichkeit gegenüber dem Wechsel der Generationen unabhängig sind. überdies ist die geschichtliche Entwicklung im Sinne einer allmählichen Schrumpfung der erbfähigen Güter verlaufen; allzu leicht kann daher das geltende Erbrecht als ein Restbestand erscheinen, dessen zunehmende Bedeutungslosigkeit im Interesse einer Verbesserung der sozialen Start- und der wirtschaftlichen Chancengleichheit nur zu begrüßen sei. Angesichts einer derartigen Geringschätzung dieses Rechtsinstituts darf man die Aufgabe politischer Bildungsarbeit zunächst darin sehen, die Mannigfaltigkeit seiner gesellschaftlichen Funktionen zu verdeutlichen. Grob gesprochen, lassen sich diese Funktionen in drei Gruppen gliedern: sie gehören zur Vermögensordnung oder Familienordnung oder allgemeinen Sozialordnung. Natürlich hängen diese drei Funktionsbereiche untereinander engstens zusammen, so daß die Unterscheidung nur den Sinn einer Akzentuierung des jeweils beherrschenden Gesichtspunktes haben kann. Die gesellschaftlich-politische Relevanz jeder dieser drei Funktionen erschließt sich am klarsten durch die radikale Überlegung: können wir uns eine Gesellschaft wünschen, in der das Erbrecht überhaupt abgeschafft ist? Die bestürzende Fülle von Fragen, die diese Überlegung hervorruft, läßt uns sofort erkennen, daß wir es mit einem Problem zu tun haben, dessen Tragweite das des Prinzips der Chancengleichheit bei weitem übertrifft. Die Vermögensund die Familienordnung wären empfindlich betroffen, und da notgedrungen der Fiskus die Hinterlassenschaften einsammeln müßte, würde die allgemeine Unfähigkeit von Privatpersonen, Erblasser oder Erbe, Vorgänger oder Nachfolger zu sein, die Gesellschaft vollends in eine erblose, nur jeweils der eigenen Generation lebende Masse verwandeln. Selbst wenn die Rechtsordnung großzügig Ersatzlösungen mit Hilfe von Familien- oder sonstigen Stiftungen oder durch geseUschaftsrechtliche Satzungsregelungen zuließe, bliebe als gewichtige Änderung zumindest die, daß an die Stelle einer von Gesetzes wegen wirksamen Nachfolge ausschließlich eine solche kraft Wahl seitens des Scheidenden oder kraft Usurpation seitens des Nachrückenden träte. Der Prozeß einer Schrumpfung des Volumens erbfähiger Güter würde also nicht ohne tiefgreifende Rückwirkungen auf die Gesellschaftsstruktur unbegrenzt fortschreiten. 2. Mehr als diese allgemeine Erkenntnis gibt freilich die prinzipielle Erwägung nicht her. Sie rechtfertigt insbesondere nicht eine konser-

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vative Haltung im Hinblick auf die Funktion des Erbrechts für die Vermögensordnung, also als Ergänzung des Eigentums. In der Vergangenheit hat das Erbrecht, wie bekannt, namentlich in der Agrarwissenschaft ein vieldiskutiertes Thema gebildet. Die Versteinerung des Großgrundbesitzes, insbesondere mit Hilfe des Fideikommißrechts, stellte jede fortschrittliche Agrarpolitik genauso vor schwierige Aufgaben wie andererseits die Grundbesitzzersplitterung durch Realteilungen. Freilich gehören diese Themen ebenso wie der Kampf gegen den Grundbesitz der "toten Hand" oder andererseits die Erbhofgesetzgebung als rechtspolitische Fragen der Vergangenheit an; die Bodensperre zu beheben oder die Unteilbarkeit der bäuerlichen Familienwirtschaft zu sichern, ist im Zeitalter des Mansholt-Plans nicht mehr aktuell. In der gewerblichen Wirtschaft spielt zwar die Erhaltung der Unternehmenseinheit im Erbgang bei den Personalgesellschaften eine gewichtige praktische Rolle, sie bildet als solche aber kein politisches Problem. Mithin bleibt in vermögensrechtlicher Hinsicht wohl nur die Frage, ob um einer verbesserten Chancengleichheit willen eine wirtschaftliche Beschränkung des Erbübergangs - z. B. durch Erhöhung der Erbschaftsteuer - anzustreben ist. Unternehmensrechtlich ist einmal zu beachten, daß jede expropriative Sozialisierung zwangsläufig den Kreis der erbfähigen Güter verengt. überdies müssen wir auch in diesem Zusammenhang beachten, daß das Unternehmenseigentum nur insoweit, wie man es als privates Herrschaftsrecht zu betrachten hat, vererblich sein kann. Daraus folgt, daß bei Großunternehmen45 , bei denen die Leitungsbefugnis nicht ohne weiteres als Ausfluß des Eigentums angesehen werden kann, auch ihre Vererbung systemwidrig erscheinen muß. 3. Auch im Funktionszusammenhang zwischen Erbrecht und Familienordnung geht es nicht allein um Erfordernisse der individuellen Gerechtigkeit, sondern sehr wohl auch um Fragen von allgemeiner gesellschaftlich-politischer Tragweite. Die Erhaltung des "splendor familiae" war fraglos auch ein auf die feudale Gesellschaft bezogener Zweck der Familienfideikommisse. Das Bauerntum bietet gleichfalls Beispiele: In Gebieten mit gewohnheitsmäßig oder rechtlich ungeteilter Vererbung pflegt nicht nur die Stellung des Erblassers als Familienoberhaupt stärker zu sein als bei Realteilungssitte, sondern die stabilere Besitzverteilung prägt auch sonst die betreffende Agrargesellschaft in bestimmter Weise 46 • Das Maß der Testierfreiheit hat, wie nicht näher dargelegt zu werden braucht, gleichfalls erhebliche Bedeutung 45 Vgl. Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung (Fußnote 1), S. 165. 46 BalleTstedt, Erbrecht, Erbsitten und Grundbesitzzersplitterung in Polen (1939), S, 4 ff. m. Nachw.

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für das Verhältnis der Generationen zueinander und damit für den Gesellschaftsaufbau. Anschauungsmaterial für das Studium der politisch relevanten Zusammenhänge findet sich ferner vor allem in der Familienrechtsentwicklung der jüngsten Zeit. Der für den Regelfall geltende erbrechtliche Ausgleich des ehegüterrechtlichen Zugewinns hat durch die Vergrößerung der Erbquote des überlebenden Ehegatten eine Änderung gebracht, die mit der Verstärkung der Stellung des Lebensgefährten gegenüber den Blutsverwandten zugleich einem Wandel der grundlegenden gesellschaftlichen Anschauungen Rechnung tragen sollte. Das allmähliche Zurücktreten der blutsmäßigen Bindungen, das man wohl nicht allein aus der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung erklären kann, gehört zu den im stillen wirkenden Veränderungen der Sozialstruktur, von denen der politisch aufmerksame Jurist Notiz nehmen sollte. Eine Vertiefung in diese allgemeinen Zusammenhänge erscheint schon deswegen geboten, weil bei der seit Jahren anstehenden Reform des Rechts der unehelichen Kinder auch die erbrechtspolitischen Grundfragen in Bewegung kommen. Aus den überaus komplexen Zusammenhängen sei hier nur ein Punkt hervorgehoben. Bei der Frage, ob ein uneheliches Kind auch nach seinem Vater erbberechtigt sein soll, stoßen nicht nur der Schutz der Familie und der des Unehelichen hart aufeinander. Vielmehr wird auch die Frage akut, wieweit das Faktum blutsmäßiger Abstammung für sich allein ausreichen kann, um ein gesetzliches Erbrecht neben solchen Personen zu rechtfertigen, die in aller Regel mit dem Erblasser durch Lebensgemeinschaft verbunden sind47 • Insofern stellt also das Unehelichen-Erbrecht sich als eine Forderung dar, die der allgemeinen Tendenz einer Zurückdrängung der Blutsbindung zuwiderläuft. Freilich ist damit nur nochmals bestätigt, wie vielfältig und schwierig dieses gesetzgeberische Problem ist. Vielleicht sollte man sich klar machen, daß einer der wesentlichsten Gesichtspunkte, die für eine Erbberechtigung des Unehelichen sprechen, nicht in dem Gedanken individuell verbesserter materieller Ausstattung des Unehelichen liegt, sondern in der Bedeutung, die der Zuerkennung der Erbenstellung als Statussymbol zukommt: wer von der Erbfolge ausgeschlossen ist, die den anderen Blutsverwandten eröffnet ist, erscheint als gesellschaftlich Deklassierter. In einer erbrechtlichen Regelung, die bei den ehelichen Abkömmlingen auf die - in der Regel, aber nicht immer vorhandene - lebensmäßige Verbundenheit mit dem Erblasser nicht abstellt, sondern das Blutsband genügen läßt, wirkt die Versagung einer 47 A. Knur, Die Auswirkungen der Reform des Unehelichenrechts auf den Unternehmensbereich; Der Betrieb 1969. S. 203 ff.

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Erbberechtigung des Unehelichen wie ein soziales Unwerturteil. Nicht so sehr vom Standpunkt der individuellen, als von dem der sozialen Gleichberechtigung, also unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Gesellschaftsstruktur, erscheint das Erbrecht des Unehelichen im Prinzip gerechtfertigt48.

48 Man darf in diesem Zusammenhang wohl an das Negerproblem in den USA erinnern: infolge der Negierung der Negerfamilie durch die weiße Bevölkerung und der Versagung von qualifizierten Tätigkeiten gegenüber farbigen ]'achkräften kommt der farbige Mann nicht in die Rolle des Familienoberhauptes und Erblassers, seine Kinder wachsen erblos auf. Wer erblos ist, bleibt deklassiert. Der Verfasser verdankt nähere Hinweise auf diese Zusammenhänge brieflichen Mitteilungen von E. Rosenstock-HüssyFour WeHs (Norwich, Vt).

Die Gesellschaft, in der wir leben Von Ludwig Preller Persönliche Gespräche mit Otto Kunze haben gegen Ende des Jahres 1968 immer wieder zur Frage nach der Gesellschaft unserer Tage und damit nach der Demokratie in ihr geführt. Das Thema ist wahrhaft umfassend und vielschichtig. Es kann selbstverständlich in einem kurzen Beitrag in keiner Weise ausgeschöpft oder wissenschaftlich durchdrungen werden. Dem Charakter dieser Festschrift dürften aber einige Bemerkungen über Institutionen und ihren soziologischen Gehalt entsprechen. Ich gedenke zunächst die Lage zu behandeln, in der sich unsere Gesellschaft befindet, dann die Form unserer im Grundgesetz begründeten Demokratie, um vornehmlich auf die Verbindung zwischen Herrschenden und Beherrschten einzugehen, auf Parteien, die AußerparZamentarische Opposition und das "Rätesystem"; am Schluß soll endlich gefragt werden, "was zu tun" sei.

I. Die Lage Zum Gemeinplatz ist bereits geworden, daß unsere Gesellschaft nicht nur jungen und nicht nur studierenden jungen Menschen frag-würdig geworden ist. überall wird vom "Unbehagen" in diesem letzten Drittel unseres Jahrhunderts gesprochen. Unbehagen setzt voraus, daß es etwas gibt, was behagen, in dem man sich wohlfühlen könnte. Das Eigenartige, Verblüffende ist, daß die Bundesdeutschen wie die Bevölkerung der meisten hochindustrialisierten Staaten in einer Gesellschaft leben, die bisher noch nie einen so allgemeinen und ausgebreiteten Wohlstand erreicht hat. Gewiß, die Unterschiede zwischen dem, was man "reich" nennt, und dem, was sich "arm" fühlt, dürften in der Relation nicht viel geringer sein als in früheren Jahrhunderten. Aber da sich das Gesamtniveau ganz wesentlich gehoben hat, kann sich "arm" von heute mit dem "arm" von vor hundert Jahren nicht vergleichen und vor allem: die große Gruppe der Arbeitnehmer lebt ganz ohne Zweifel auch und gerade relativ in materiellen Lebensumständen, die noch vor fünfzig Jahren fast utopisch erschienen wären. Ludwig Neundörfer hat im Sozialenquete-Bericht (Rz. 94 ff.) nachgewiesen, daß 5 Festgabe Kunze

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schon 1961/62 die gehobene Arbeiterschaft sich in ihrem Einkommen der mittleren Angestelltenschaft stark angenähert und sogar das Klein-Unternehmertum überflügelt hat: ein Drittel der Arbeiter hat ein Einkommen wie die mittlere Gruppe der Angestellten und der kleinen Unternehmer, ein weiteres Drittel der Arbeiter lag schon 1961/62 bei einem Jahreseinkommen über 9800 (bis 15000 DM). Die einkommensmäßige Integration der Arbeiter, ebenso der Angestellten, ist also - wohl unaufhaltsam - seit zehn Jahren im Gange. Hier setzt nun die Frage nach dem Unbehagen ein. Ist dies nicht eine Gesellschaft, in der es sich, sogar ohne Neidkomplexe, leben läßt? Schaut man näher zu, so werden gerade auch viele Arbeiter und Angestellte ein Wohlbefinden nicht leugnen können; das Auto, der Fernsehapparat, der Kühlschrank, und zwar im eigenen Hause, sind nicht mehr unerreichbare Status-Symbole. Materiell, werden sehr viele zugeben, geht es uns recht erträglich, vor allem wenn ein Familieneinkommen zusammenfließt. Wer allerdings tiefer gräbt, entdeckt auch und nun besonders sowohl bei Arbeitern wie bei Angestellten ein Unbehagen anderer Art. Es kommt vom Arbeitsplatz her. Da ist einmal die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, die Angst um ihn, die sich plötzlich in der Rezession 1967 auch als politisch überaus relevant erwies. Da ist - von der Öffentlichkeit weniger vermerkt, aber an den Arbeitsplätzen ständig erlebt und diskutiert - die Unsicherheit, wie lange noch in der erlernten Tätigkeit gearbeitet und mit dem bisherigen Einkommen gerechnet werden kann. Jeder dritte Arbeitnehmer ist heute schon nicht mehr in seinem erlernten Berufe tätig. Wenn z. B. in einem Industriezweig wie der Tabakverarbeitung1 die Gesamtbeschäftigtenzahl zwischen 1961 und 1966 um nicht weniger als 30 Ofo sank, in der Textilindustrie um 12 %, so wiegen die damit verbundenen Erlebnisse und Schicksale psychologisch schwerer als die reale absolute Zahl von 16100 bzw. 73 700 weniger Beschäftigten. Aber auch dem, der fern vom betrieblichen Geschehen steht, muß es gravierend erscheinen, wenn nach jenen Untersuchungen in 30 Industriezweigen die Zahl der Arbeiter von 1961 bis 1966 um nicht weniger als 417 600 sank. Natürlich gab es andere Industriezweige, in denen sich die Arbeiterzahl hob. Aber entscheidend für den Wandlungsprozeß, der die gesamte Arbeitnehmerschaft erfaßt hat, war das zugleich überall zu beobachtende starke Ansteigen der Zahl der Angestellten. Innerhalb der Angestelltenschaft allerdings wurde eine deutliche Umschichtung erkennbar: nur eine kleine Minderheit ist heute noch "Stellvertreter des Unternehmers", 1 Nach den aus amtlichen Zahlen für das dritte Automationsgespräch der IG Metall, Dortmund 1968, errechneten Werten, und zwar nach dem Protokoll der Tagung; der gedruckte Bericht ,ist in Vorbereitung.

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die überwiegende Mehrheit ist mit routinemäßigen Verwaltungstätigkeiten beschäftigt bzw. sie sinkt in der Folge der Automation auf solche Tätigkeiten herab. Hinter diesen Zahlen verbergen sich menschliche Erschütterungen, deren Ausstrahlungen weit über die Betroffenen hinaus ein allgemeines Bewußtsein der Unsicherheit erzeugen. Das gilt für eine Arbeitnehmerschaft. die heute über 80 Ofo aller Erwerbspersonen ausmacht. Dazu kommt weiteres. Innerhalb der Landwirtschaft wird zusätzlich zur bereits erfolgten Reduzierung (von 25 c/o der Erwerbsbevölkerung 1950 auf etwa 10 Ofo 1968) vom Bundeswirtschaftsministerium bis 1980 eine weitere Verringerung um 900000 oder um mehr als ein Drittel erwartet; innerhalb der EWG muß nach Mansholt die Hälfte aller Bauern in dieser Zeit ihren Hof aufgeben bzw. andere Tätigkeiten ergreifen. Dafür nimmt der Sektor der Dienstleistungen ständig zu: er soll innerhalb der OECD sich bis 1980 bis auf 40 Ofo erhöhen, in den USA hat er bereits die Grenzmarke von 50 Ofo überschritten. Diese wenigen Zahlen bedeuten, daß alle Vorstellungen über die gewohnte Gesellschaftsstruktur gewaltig umgekrempelt werden müssen, und daß so gut wie niemand sich in seiner erlernten Tätigkeit an seinem gegebenen Arbeitsplatz, ja an seinem langjährigen Wohnort sicher fühlen kann. Die Gesellschaft. in der wir leben, befindet sich für die große Mehrzahl ihrer Angehörigen in einem Fluß, dessen Richtung und Intensität dem einzelnen verborgen und gerade deshalb um so unheimlicher erscheinen. Mehr noch: die gewaltige Arbeitszerlegung, auf der unsere hochindustrialisierte Zivilisation beruht, stempelt den Großteil der Beschäftigten zu Routinearbeitern; was heißt, daß diese Menschen den größeren Abschnitt ihres täglichen Daseins ohne wesentliche Selbstbestimmung verbringen und diese erst in ihrer Freizeit aufleben lassen können - wenn sie nicht zu müde dazu sind. Ich wiederhole, dies alles vollzieht sich gemeinsam mit einem bescheidenen Wohlstand, der mehr materielle Wünsche erfüllen läßt als je zuvor. ß. Demokratie

Für die Menschen dieser Gesellschaft also gilt es, Demokratie zu gestalten. Otto Kunze hat kürzlich auf der Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund 2 darauf hingewiesen, daß Demokratie zwar "Herrschaft des Volkes" heiße, ein Volk aber "niemals selbst wirklich 2 Otto Kunze, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie aus der Sicht der Gewerkschaften, in: Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Probleme der modernen Demokratie, hrsg. von Helmut Duvernell, BerUn 1968, S. 101 ff.



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herrschen" könne, sondern "es wird immer beherrscht". Die Herrschaft des Volkes beschränke sich auf die Teilnahme an Wahlen von Repräsentanten für das Parlament. Kunze benutzte diese Bemerkung, um auf die Notwendigkeit weiterer Instrumente zur Integrierung des Staatsbürgers in Gesellschaft und Staat hinzuweisen. In der Tat können die Formalien der parlamentarischen Demokratie - so fortschrittlich sie im Grundgesetz festgelegt sind - nicht genügen, um den Staatsbürger an ihrem Funktionieren zu interessieren. Das Grundgesetz hat deshalb erstmalig auch die Parteien als Mittler der "politischen Willensbildung des Volkes" genannt (Art. 21,1). Otto Kunze hat, wie erwähnt, weiter auf die sogenannten Interessenverbände - hier Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, und zwar ausdrücklich auch mit ihren ideellen Interessen - hingewiesen, deren Vorhandensein u. a. "dem Staatsbürger die Möglichkeit (gibt), seiner Stimme Gehör im politischen Konzert zu verschaffen und der Vielheit seiner Interessen sichtbaren Ausdruck zu verleihen". Man könnte und müßte - weiter die Kirchen und andere Gruppierungen nennen, über die es zu "Willensbildungen" kommt. Nimmt man allerdings die zweifellos mindestens meinungs-, wohl aber auch entscheidend willens-bildenden Massenmedien hinzu, so offenbart sich plötzlich der unsichere Grund solcher Willensbildungen. Während die Interessenverbände gar nicht, die Parteien, Kirchen usw. nur wenig die Ziele ihrer Intentionen leugnen oder verbergen, geschieht die Meinungsbildung über die Massenmedien anscheinend objektiv. Aber eben dieser Anschein trügt - bestenfalls werden sogenannte übergeordnete Standpunkte des "Gemeinwohls" oder ähnlich farblose Gesichtspunkte vorgeschützt, um höchst gesellschafts-relevante eigennützige Ziele zu verdecken. In der Tat sind aber derartige allgemeingültige Ziele essentiell für das Funktionieren einer Demokratie. J oseph Schumpeter ist überzeugt, "daß eine demokratische Regierung nur dann mit vollem Vorteil arbeitet, wenn alle wichtigen Interessen nicht nur in ihrer Treue zum Land praktisch einmütig sind, sondern auch in ihrer Treue zu den Strukturprinzipien der bestehenden Gesellschaft" 3. Und er fährt fort: "Ihre Funktionsfähigkeit kann völlig aufhören, sobald Interessen und Ideale mit betroffen sind, über welche die Menschen Kompromisse ablehnen." Das war 1928; schon vorher hatte Hermann Heller noch präziser festgestellt, daß "Mehrheit Verpftichtungskraft nur innerhalb einer Ganzheit (hat) "4. 3 Joseph SchumpeteT, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufi., München 1950, S.469. 4 Wilfried Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie; Rotbuch 10, Berlin 1968, S. 18.

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Es erhellt, wie entscheidend neben den formellen Grundgegebenheiten einer Demokratie der Prozeß der Bildung einer einhelligen Meinung über die "Strukturprinzipien der bestehenden Gesellschaft" ist. Einer solch einhelligen Meinung braucht der vielbeschworene "Pluralismus" als Grundlage einer Demokratie nicht entgegen zu stehen. über Gesellschaftsentwicklungen lassen sich selbstverständlich höchst verschiedenartige Meinungen vertreten. Einhellig muß nur die Auffassung sein, daß diese Gesellschaft sich in Entwicklung befindet und welche allgemeinen Ziele diese Entwicklung ansteuert. Ist diese Norm bestritten, kann selbst eine Mehrheitsauffassung nicht mehr auf demokratische Zustimmung rechnen. Gerade dies dürfte aber der Zustand unserer gegenwärtigen Gesellschaft sein. Einmal vollzieht sich jener eingangs geschilderte Prozeß einer Umstrukturierung der industriellen Werte und damit der Formprinzipien der bisherigen Berufsstruktur zwar rapid, jedoch von der Öffentlichkeit fast unvermerkt und unregistriert unter der Decke einer allgemeinen Wohlstandsentwicklung. Selbst der Ausdruck "zweite industrielle Revolution" wird ja noch bestritten, geschweige denn, daß erkannt und anerkannt wird, wie stark diese faktische Revolution das Bewußtsein eines großen Teiles der Bevölkerung erneut von Sicherheit auf Unbestimmtheit umlenkt - des erlernten Berufes, der erkorenen Wohnstätte, der geregelten Zukunft. Diese Umkrempelung scheint nun aber - und das ist der zweite wichtige Faktor der derzeitigen Entwicklung - nur einen Teil der Bevölkerung zu betreffen; einen Teil zudem, dessen Integrierung in Gesellschaft und Staat durchaus noch nicht abgeschlossen ist. Da ist vor allem die Arbeitnehmerschaft, speziell auch die Arbeiterschaft, die außer ihrer inneren Umstrukturierung sogar bereits eine absolute zahlenmäßige Abnahme zu verzeichnen hat. Da ist der bäuerliche Bereich, der erst recht einen - von den Interessenvertretungen zudem als ungerecht dargestellten - gewaltigen Strukturwandel erfährt. Auf diesen Prozeß aber, ja sogar auf diese Gruppen, ist die Demokratie, wie sie sich aus der Revolution des Bürgertums 1789 entwickelt hat, im Grunde nicht ausgerichtet. Schumpeter weist auf eine von Voltaire gegebene Definition des "Volkes" hin: " ... le peuple, la plus nombreuse, la plus utile, la plus vertueuse meme, et par consequent, la plus respectable partie des hommes, composee de ceux qui etudient des loix et les sciences, des negocians, des artisans ...6." Für dieses "Volk", d. h. praktisch für das Bürgertum, wurde die Demokratie des 19. Jahrhunderts konzipiert, und auch das 20. Jahrhundert glaubt mit ihr seine neuen Aufgaben erfüllen zu können. Gerade dies aber ist 6

'Schumpeter, a.a.O., S. 386, Anm. 9.

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nicht "stimmig" und deshalb "passen" manche Erscheinungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens nicht recht in eine Form der Demokratie, die weder für eine Arbeitnehmergesellschaft noch für eine sich auflösende Agrarstruktur gedacht war. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Wilfried Gottschalch6 , der meint, die bürgerlich·· demokratischen Verfassungen gäben zwar dem Arbeitnehmer "ein gewisses Maß an ,politischer' Macht, jedoch nahezu keine ,gesellschaftliche' Macht". Aber auch wer geneigt ist, weniger scharf zu urteilen, wird zugeben müssen, daß z. B. die Verfassungsgarantie für das Eigentum (Art. 14 GG) - auch wenn "Eigentum verpflichtet" - umfassender und einschneidender ist als die Regelung des Art. 12 für die Arbeit, in dem selbst die Andeutung einer Garantie oder eines "Rechtes auf Arbeit" (wie in Art. 163 Abs.2 der Weimarer Verfassung) fehlt. Die erbitterten Angriffe gegen eine Neuformung der wirtschaftlichen Mitbestimmung in einer "Unternehmensverfassung"T zeigen, daß hier ein neuralgischer Punkt unseres derzeitigen Verfassungslebens angerührt worden ist: jene zwar verfassungsmäßig postulierte "Verpflichtung" eines Eigentums, das jedoch einseitig im Sinne bürgerlich-kapitalistischer Auffassung als ein "Strukturprinzip der bestehenden Gesellschaft" - nämlich allein die unternehmerische Funktion der Kapitalbesitzer legitimierend - erhalten bleiben soll. Und noch ein Drittes - das sogleich noch näher zu beleuchten ist verschärft die Diskrepanz zwischen einer "bourgeoisen" parlamentarischen Demokratie und einer solchen Demokratie in einer Arbeitnehmergesellschaft: mit Hilfe des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts konnte die Arbeitnehmerschaft - wie dies Lassalle erhofft und gefordert hatte - in das Parlament eindringen. Verwaltung und Justiz hingegen blieben und bleiben dieser Arbeitnehmerschaft weithin entzogen. Nach wie vor sind diese beiden - schon auf Grund des weithin fortbestehenden Bildungsmonopols - Domäne des diese Bereiche beherrschenden Bürgertums. Diese Festungen sind noch nicht erobert. Und die - leider auch von den Arbeitnehmereltern nicht selten gepflegte - Bildungs-, Begriffs- und Gedankenwand zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern verschärft die Kluft nur und läßt Verwaltung und Justiz weithin fern von den Wert- und Wortvorstellungen der Arbeitnehmerschaft bleiben. Die Denkkategorien in ihnen, wie sie an der erwähnten unterschiedlichen Behandlung von Eigentum und Arbeit im Grundgesetz demonstriert worden sind, gehen mehr vom Besitz und kaum von der Arbeit aus, nicht vom ArbeitsGottschakh, a.a.O., S. 12. Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung. Ein Bericht, erstattet von Erik Boettcher, Karl Hax, Otto Kunze, Oswald von NellBreuning, Heinz-Dietrich Ortlieb, Ludwig Preller; Berlin 1968. 6

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platz und seinen Bedingungen, sondern vom Produktivkapital und seinen Erfordernissen. Der Streit um die Enteignungsbestimmungen im Städtebau-Förderungsgesetzentwurf des Bundeswohnungsbauministers ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eng und im Sinne des vorigen Jahrhunderts der Eigentumsbegriff von einflußreicher Seite immer noch gesehen und rechtlich wie verwaltungsmäßig durchzuhalten versucht wird. Das führt in einer "ArbeitnehmergeselIschaft" notwendig zu Diskrepanzen im Alltag, auch in der Verwaltung und in der Justiz.

m.

Herrschende und Beherrschte

Es fragt sich somit, ob die aus dem vorigen Jahrhundert übernommenen Formen einer Demokratie, die mit Arbeitnehmern nicht rechnete, für die heutige Arbeitnehmergesellschaft zureichend, ob sie geeignet sind, die Interessen - besser gesagt, die immanenten Ziele und Notwendigkeiten - von 80 % der Gesellschaft durchzusetzen. Dazu wäre die Bildung eines Bewußtseins erforderlich, das nicht nur den Zielsetzungen dieser 80 % adäquat ist, sondern das zugleich den gegenwärtigen Prozeß einer gewaltigen Umformung der Gesellschaft versteht und politische Konsequenzen aus ihr zieht. Das müßte ein doppelseitiger Vorgang sein. Die Lage der heutigen Gesellschaft müßte allen ihren Mitgliedern wahrhaft "bewußt" sein bzw. werden, und zugleich müßten die politischen Repräsentanten der Gruppierungen dieser Gesellschaft nicht nur um diese Lage wissen, sondern auch gewillt sein, die notwendige Entwicklung dieser Gesellschaft in Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz politisch nachzuvollziehen. Das ist, wie wir täglich erfahren, nicht nur sowohl auf seiten der Staatsbürger wie auf seiten ihrer Repräsentanten schwierig, sondern es setzt vor allem intensive Kommunikation zwischen den Staatsbürgern und ihren Repräsentanten voraus. Jeder weiß, daß hier das ungelöste Problem unserer parlamentarischen Demokratie angesprochen ist. Die politische Bewußtseinsbildung der Staatsbürger ist zumindest in dieser Bundesrepublik schwach, die Kommunikation ihrer Repräsentanten mit ihnen ist es ebenfalls. Im ersten Punkt schieben sich anonyme, aber um so mehr gesteuerte Meinungsbildungsmittel ein. Im zweiten Punkt fehlt es an Zeit, aber häufig auch an Fähigkeit intensiver Verbindung zu den Staatsbürgern. Aber viel entscheidender als diese Mängel scheint die Diskrepanz der Interessen der einzelnen Staatsbürger und ihrer parlamentarischen Repräsentanten. Diese Repräsentanten werden zwangsläufig vor die großen, umfassenden generellen Fragen und Aufgaben gestellt (von der Verfolgung persönlicher Interessen wird hier geschwiegen). Den Staatsbürger hingegen inter-

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essiert das ihn und seine Umgebung betreffende Spezielle. Die meinungsbildenden Kommunikationsmittel, besonders soweit sie auf Massenauflagen abgestellt sind, bestärken diese Horizontbegrenzung noch, indem sie das Sensationell-Spezifische pflegen ("Bild sah den Kindesmörder ", "Farah zittert um ihr Glück", "Torhüter Schulze weint"). Auch das politisch Typische hieran - Todesstrafe, Beziehungen zum Iran - wird unter das begrenzte Blickfeld subsumiert. Der "Volksvertreter" dagegen muß genau umgekehrt das Grundsätzliche erwägen, für das das Spezielle bestenfalls Material ist. Zwischen diesen Grundhaltungen fehlt in der formalen Demokratie, wie sie etwa im Grundgesetz festgelegt ist, das Gelenk.

IV. Parteien Zwar hat das Grundgesetz diese Aufgabe offenbar den Parteien zugedacht, die "bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken" sollen. Aber die damit postulierte Willensbildung "des Volkes" kann bei Honoratiorenparteien schon ex definitione nicht entstehen. Und eine Partei, wie die SPD, konnte zwar diese Fähigkeit einmal entwickeln und durchexerzieren, solange sie Weltanschauungs- und soziologisch Arbeiterpartei war, in deren Ortsgruppen eine lebhafte und bis in die Spitze der Partei wirksame Diskussion gepflegt wurde. Unterdessen hat sich jedoch ergeben, daß die "Arbeiterschaft" von 1895: 56,9 Ofo aller Erwerbspersonen (darunter zu einem Drittel Landarbeiter) auf 1967: 46,6 Ofo ab gesunken ist. Von dieser Arbeiterschaft ist - wie bisher, so auch weiterhin - ein immerhin größerer Teil politisch-konfessionell gebunden und somit mindestens zur Zeit für die SPD noch nicht erreichbar. Die Angestelltenschaft aber, die 1967: 27,5 % (einschließlich der Manager) stellte, ist auch heute noch politisch für die SPD unsicheres Land. Begründete Aussicht auf eine absolute Mehrheit im Parlament hat somit nur eine SPD, die sich zur "Volkspartei" entwickelt hat, wie dies im Godesberger Programm geschehen ist. Damit muß aber' der innige Kontakt des früheren WeltanschauungsAbgeordneten zu seinen Wählern sehr gelockerten Formen der Verbindung weichen. Das zeigt sich in nichts deutlicher, als in dem Aufbegehren gerade der auch heute noch die SPD als Weltanschauungspartei begreifenden, politisch meist über ihr Einzelschicksal hinaus bewußten Parteimitglieder gegen die Politk der SPD in den letzten Jahren, die ihnen nicht "arbeiterfreundlich" genug war. Gerade dieses - mindestens schiefe - Argument macht erneut deutlich, wie sehr selbst in einer "Mitgliederpartei" wie der SPD dem Gelenk zwischen der politischen Erlebniswelt des Einzelmitgliedes und -wählers und den führenden Repräsentanten· das öl der Beweglichkeit abgeht.

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V. Außerparlamentarische Opposition

In diese, von der formalen Demokratie nicht beachtete Lücke ergießt sich nun aber die "Außerparlamentarische Opposition", wer immer dies auch sei. Sie hat zwei Wurzeln. Die eine ist zeitgebunden, hat aber vielleicht erst zum Erstarken dieser Gruppen beigetragen. Diese Wurzel nährt sich aus dem anscheinenden oder offensichtlichen Fehlen einer Alternative zur Regierungspolitik, das, soweit die SPD und ihr Eintritt in die Große Koalition in Betracht kommen, nicht erst 1966, sondern bereits fast zehn Jahre vorher wirksam wurde. Die andere Wurzel geht in größere Tiefen. Sie ist die Resultante der Vermischung der nach der klassischen Lehre scharf zu trennenden Gewalten von Legislative, Exekutive und Justiz. Schon der Staatsrechtler, Politikwissenschaftler und Gewerkschaftler Franz Neumann hat (1934 im Exil) auf die "ungeheure Machtstärkung der Exekutive" hingewiesen, die nicht nur soziologisch die faktische Herrschaft des Bürgertums kennzeichne, sondern auch objektive Folge der "technischen Kompliziertheit und Vielfältigkeit der modernen Verwaltung" sowie eines "Eigenlebens, der Kollegialitäts-Struktur der Beamtenschaft" sei, so daß die Exekutive zusammen mit der Justiz einen "Gegenstaat" bilde, der das (ehemals gedachte) "übergewicht des Parlaments endgültig zerstört und Verwaltung und Justiz ein entscheidendes Übergewicht gibt"s. Für Neumann folgt daraus übrigens auch ein Übergewicht von Verwaltung und Justiz - und vor allem ihrer politisch-einseitigen Zusammensetzung - über "ein Parlament, in welchem die Arbeiterbewegung maßgeblichen Einfluß hat". Ähnliches ist bereits oben angedeutet worden. Natürlich kann man sagen, daß der Wirklichkeitsgehalt der Neumannschen Feststellungen sich seit der Weimarer Zeit vermindert hat. Aber jeder, der im Parlament tätig war, weiß um das Übergewicht an (Detail-)Wissen der Bürokratie, die dem Abgeordneten, der politische Allgemeinziele verfolgt, das Leben schwer macht, und nicht selten das theoretische Verhältnis von (politisch) Führenden und (administrativ) Dienenden schon bei der Gesetzgebungsarbeit fast in sein Gegenteil umkehrt, von der Durchführung der so entstandenen Gesetze gegenüber dem "Volke" ganz zu schweigen (nur die Verwaltungsgerichtsbarkeit vermag hier ein begrenztes Paroli zu bieten). Auf diese Wurzel verminderter, ja fast umgekehrter Kontrolle zwischen den drei Gewalten und damit auf ein praktisches Versagen der formal gedachten Demokratie greift die Außerparlamentarische Opposition zurück. Natürlich nicht bewußt und artikuliert, sondern gefühlsmäßig und mit soziologischen Worten wie "Establishment" und "Manipulation" und "Umfunktionieren", die nur zum Teil einem - kaum S

Abgedruckt in Gottschaleh, a.a.O., S. 53 ff.

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verdauten - Herbert Marcuse entstammen, dessen Schriften überdies die meisten seiner Verehrer durchaus nicht ständig unterm Arm tragen. Was indes aus dieser, tieferen, Wurzel berechtigt stammt, ist das Bewußtsein jenes Auseinanderklaffens von Herrschaft und Beherrschten, das eben nicht "Demokratie" im Sinne einer "Herrschaft des Volkes" ist und auch nicht sein kann. Als "Establishment" werden allerdings dabei fälschlich alle "Arrivierten" verstanden, eine Perspektive, die sich immer für alle noch nicht Arrivierten ergibt, die sich - was die jungen Menschen noch nicht wissen können - aber fatalerweise "am Tage nach der Revolution" schlagartig in ihr Gegenteil verkehrt.

VI. Rätesystem Richtig erkannt ist also von der Außerparlamentarischen Opposition die Verkümmerung des Gelenks zwischen Herrschenden und Beherrschten. Zu prüfen ist, ob der wieder aufgekommene Vorschlag eines "Räte systems" (fälschlich oft als "Rätedemokratie" bezeichnet) dem t~el abhelfen könnte. Ich glaube dies nicht. Soweit auf die Sowjets zurückgegriffen wird, übersehen die Verfechter dieses Gedankens, daß diese Räte sich aus den Betrieben rekrutierten oder aus "der Arbeiterschaft", somit dem demokratischen Gedanken einer Beteiligung des ganzen Volkes an der Herrschaftsausübung widersprechen, zu welchem "Volk" doch wohl z. B. auch "die Frauen" (nämlich weithin Hausfrauen) gehören, die beim Rätesystem völlig vernachlässigt werden. Erst recht leidet das aus der Pariser Kommune hergeleitete Prinzip der jederzeitigen Abberufbarkeit der "Repräsentanten" daran, daß es die oben erwähnte Tatsache der verschiedenartigen Interessen des am Speziellen orientierten einzelnen und des das Ganze wahrnehmenden Repräsentanten nicht einkalkuliert. Was am Rätegedanken auch heute noch - oder wieder - interessant erscheint, ist seine Durchlässigkeit vom "Unten" zum "Oben". Vielleicht haben dies die "Clubs" im gaullistischen Frankreich aufgenommen.

Vß. Was ist zu tun? Unser - mehr als kursorischer und insofern wahrhafter - "tour d'horizont" durch die Gefilde der parlamentarischen Demokratie hat zweierlei ergeben. Einmal, daß der Gedanke dieser Demokratie aus einer Zeit stammt, in der das Bürgertum um seine - und nur um seine - politischen Interessen kämpfte. Ob und in welcher Form diese Art Demokratie ein brauchbares Instrument für eine "Arbeitnehmergesellschaft" darstellt, harrt noch der Prüfung. Allzu schnell haben die früheren Arbeiterführer im Gefolge Lassalles diese Demokratie

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als die ihre übernommen - bis in die Gegenwart hinein. Verfassungswirklichkeit und Verfassungsgefühl zeigen jedenfalls an, daß weder in der Idee noch ihrem Ideal nach die "Volksherrschaft" Realität ist. Als vielleicht zentraler Mangel wurde das Fehlen oder wenigstens das Versagen des "Gelenks" erkannt, jenes "missing link" zwischen den Beherrschten mit ihren speziellen Wünschen und den Herrschenden und ihrer übergreifenden Einsicht. Daß dabei die bestehenden MassenKommunikationsmittel und ihre vom Gewinn geleitete Meinungsfabrikation eine verhängnisvolle Rolle spielen, ist sicher sehr gravierend, aufs Ganze gesehen aber nur eine - wenn auch schlimme und Demokratie gefährdende - Randerscheinung. Auch wenn sich dies ändern oder verbessern ließe, bleibt der Mangel an Kontakt zwischen "Oben" und "Unten", der im System liegt, somit durch begrüßenswerte Einzelaktionen von Abgeordneten und von Neu-Orientierungen in den Parteien nur unvollkommen und jedenfalls kaum systemgerecht geändert werden kann. Auch eine Wahlrechts-Neuordnung dürfte daran nichts ändern, abgesehen davon, daß ihr Ziel, die alternative Herrschaft der verbleibenden beiden Parteien, für die SPD mit Sicherheit erst zu einem Zeitpunkt - nach zwei oder drei Wahlen? - erreicht würde, der für unsere akut gefährdete Demokratie zu spät, also tödlich sein müßte. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß unsere schnellebige Zeit Generationen überspielt und nicht nur einem "cultural lag", sondern ebenso einem "political lag" unterliegt. Denkt man schließlich den Vorschlag eines zusätzlichen "Rätesystems" durch, so könnten die in Frankreich unter der de Gaulleschen Autokratie aufgekommenen "Clubs" vielleicht Ansatzpunkte eines von "unten" nach "oben" pulsenden politischen Lebens geben. Fest scheint mir nur eines zu stehen: die formale Demokratie, wie sie in Anlehnung an die bürgerliche Demokratie des vorigen Jahrhunderts erneut im Grundgesetz festgelegt worden ist, reicht für die kommenden Zeiten nicht aus. Sie läßt für die Gesellschaftsumformung, deren strukturelle Grundlegung wir zur Zeit erleben, zu wenig politischen Aktionsraum - nicht zuletzt, weil der seit zwanzig Jahren führenden konservativen Partei in der Bundesrepublik keine wirksame - nämlich allein verantwortliche - Alternative gegenüber steht. Dieser nicht nur in den realen Verhältnissen der Bundesrepublik liegende, sondern aus dem System der festgelegten demokratischen Form sich ergebende Mangel nötigt dazu, das System als solches neu zu überdenken.

* Natürlich weiß ich: dies sind keine praZlsen Vorschläge; dies ist sicher für viele in manchen oder allen Punkten schief gesehen und

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zweifellos nur Splitterkram an Gedanken. Zumal dem Juristen mag eine politisch-soziologische Argumentation nicht genügen, mag der Gesamtkonzeption dieser Festschrift, die institutionelle Rechtsgestaltung zu behandeln, nicht ausreichend Rechnung getragen worden sein. Aber ich schreibe aus einer tiefen Sorge heraus, daß wir den Zeitpunkt für eine "Verfassung des 20. Jahrhunderts", wie ich sie schon auf dem 3. Eüropäischen Gespräch in Recklinghausen 1955 als dringendes Erfordernis unserer Zeit bezeichnet habe (S. 255), verpassen. Und ich weiß, daß Otto Kunze für diese Sorge volles Verständnis hat.

Kommunale Selbstverwaltung als älteste Form bürgerschaftlicher Mitbestimmung Von Willi BTundeTt 1. Die Aktualität der Mitbestimmung Zu einer der anspruchsvollsten Forderungen unserer Zeit gehört die These von der "Demokratisierung" des politischen Lebens. Diese Forderung wird neuerdings in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit unverkennbar zunehmender Intensität erhoben. Geht man von der ursprünglichen Bedeutung aus, die der Begriff "Demokratie" beinhaltet, so verbirgt sich hinter der Forderung nach einer größeren Demokratisierung im Grunde das Verlangen nach weitgehender "Mitgestaltung" oder - in der aktuellen Sprache - nach "mehr Mitbestimmung". Dadurch ist der Begriff der Mitbestimmung in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit außerordentlich bedeutungsvoll geworden. Diese Aktualität beschränkt sich jedoch nicht auf lautstarke oder nur leere Demonstrationen. Im Gegenteil: Parteien, Gewerkschaften und parlamentarische Körperschaften haben die Forderung nach Mitbestimmung im gesellschaftlichen Bereich aufgegriffen und streben eine bindende gesetzliche Regelung an. Das geschieht aus der Erkenntnis, daß der Demokratie die Mitbestimmung als soziologisches Phänomen immanent ist, aber ebensosehr auch in der Gewißheit, daß es angesichts der Gesellschaftsstruktur unserer Zeit und unter Berücksichtigung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen unabdingbar ist, "mehr Mitbestimmung" als einen stabilisierenden Faktor zu verankern. Der materielle Inhalt der Mitbestimmung ist keine Erkenntnis unserer Zeit. Er ist seit langem bekannt und bedeutet in seiner allgemeinen Form nichts anderes als das Recht der Bürger, an der unmittelbaren Gestaltung ihrer Lebensbereiche, insbesondere jener Teilbereiche des öffentlichen Lebens einen direkten Beitrag zu leisten, die sie besonders berühren und in denen sie aufgrund ihres eigenen Interesses in besonderer Weise aktiv tätig werden wollen. Wird dieses Bestreben zu einem System ausgestaltet, so muß es sich zwangsläufig als Ordnungssystem sukzessive auf die strukturelle Entwicklung der gesamten Gesellschaftsordnung auswirken.

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Gegenwärtig wird der Begriff der Mitbestimmung im Hinblick auf nahe Gesetzgebungsarbeit vorwiegend in einer sehr viel engeren Bedeutung verwendet. Es werden insoweit zusätzliche Rechte der Arbeitnehmer zur Mitbestimmung bei Unternehmensentscheidungen verstanden. Die hierauf gerichtete Diskussion wird vordringlich von den Gewerkschaften, aber auch von den politischen Parteien geführt. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer als festen Bestandteil in die Unternehmensverfassung einzubauen, ist eine der aktuellsten gesetzgeberischen Aufgaben, die in der näChsten Zukunft bewältigt werden müssen. Dabei geht es keineswegs in erster Linie um die Mitbestimmungsrechte bestimmter Organisationen oder Institutionen (z. B. der Betriebsräte oder der Gewerkschaften). Gemeint ist vor allem die Mitbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers selbst, die Mitbestimmung sowohl am Arbeitsplatz als auch innerhalb einer Arbeitsgruppe, ausgehend von der ihr eigenen Grundidee, daß jeder einzelne Arbeitnehmer die Möglichkeit haben soll, auf seine Arbeitsbedingungen durch eigene Entscheidung Einfluß zu nehmen. Diese Grundidee ist beispielsweise auch im Grundsatzprogramm der SPD (Godesberger Programm) ausgedrückt, in dem es heißt: "Demokratie aber verlangt Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben und in der gesamten Wirtschaft. Der Arbeitnehmer muß aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden." Aber auch dieser jetzt für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vordergründige Gedanke ist seinem Inhalt nach keine Erkenntnis aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Seine erste gesetzliche Regelung findet sich in dem nach 1918 ergangenen, damals neuartigen Betriebsräterecht. Die dem Mitbestimmungsgedanken entgegengerichtete Entwicklung nach 1933 und der Wiederaufbau der Demokratie aus den Trümmern des Jahres 1945 bedingten zwangsläufig, diese Überlegungen neu aufzugreifen und sie - ihrer hervorragenden Bedeutung als einer wesentlichen Grundlage des demokratischen Staatswesens entsprechendin zunehmendem Maße positiv weiterzuentwickeln, bis hin zu einem weitgehenden Betriebsräterecht und einem bereits beachtlich ausgeweiteten Recht der Personalräte in der öffentlichen Verwaltung. Darüber hinaus wurde nach 1945 erstmals die einfache Mitbestimmung im Aktienrecht sowie die qualifizierte Mitbestimmung für die Montanindustrie gesetzlich verankert. über das Arbeits- und Wirtschaftsrecht hinaus ist die Mitbestimmung inzwischen zu einem vielfältigen Postulat auch anderer gesellschaftlicher Kräfte innerhalb unseres Staates geworden. Das gilt für den Bereich der Schulen und Universitäten ebenso wie beispielsweise

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für die Organe der beiden großen Kirchen - insbesondere der evangelischen Synoden -, die neuerdings vor der Notwendigkeit stehen, im Zuge einer Demokratisierung auch des Kirchenlebens Mitbestimmung in ihr Ordnungssystem einzubeziehen. Mitbestimmung ist m. E. zweifelsfrei ein Grundelement der demokratischen Gesellschaftsordnung. Unter solchem Aspekt bedeutet sie nichts anderes als die Aktivierung des Bürgers, nicht nur seine allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte im herkömmlichen Sinn - wie z. B. das Wahlrecht - wahrzunehmen, sondern darüber hinaus in einem für ihn spezifischen Lebensbereich in einer gestalterischen Weise mitzuwirken.

2. Die Wurzeln des kommunalen Selbstverwaltungsrechts Die Mitbestimmung mit der Sinngebung und Zielsetzung, den Bürger zu aktivieren, hat ihre älteste Wurzel im Leben der Gemeinden. Aufgrund der engen Verbindung zwischen Bürger und Gemeinde wurden den Bürgern schon vor Jahrhunderten Rechte eingeräumt, die sie in die Lage versetzten, innerhalb der Gemeinden das kommunale Leben mitzubeeinflussen. Das ist nur zu natürlich. Denn die Gemeinde ist die Erscheinungsform der über die Familie hinausgehenden, mit öffentlichem Charakter ausgestatteten Lebensgemeinschaft, die dem Bürger am nächsten steht und von deren Problemen er direkt berührt wird. Keine andere öffentlich organisierte Lebensgemeinschaft strahlt ihre Wirkung so unmittelbar auf den Bürger aus wie die Gemeinde. Daher haben sich Bedürfnis und Anspruch des Bürgers auf Mitbestimmung auch in keinem anderen öffentlichen Bereich so frühzeitig in konkreter Form durchgesetzt wie eben innerhalb des Rechts der Gemeinden. Die Stadtrechte des Mittelalters und die Rolle der Bürger in der Wahrnehmung öffentlicher Ämter wie vor allem die Struktur der Hansestädte sind hierfür typische Beispiele1 • Kennzeichnend für die geschichtliche Entwicklung von den ersten Siedlungen bis hin zu dem Stadtbegriff im Sinne unseres heutigen Sprachgebrauchs ist die Tatsache, daß erst die Einrichtung von Wochenmärkten, die Ausgestaltung der Selbstverwaltung und die Ausstattung mit Autonomie, also mit der Befugnis, zur Regelung der eigenen Angelegenheiten Recht zu setzen, und - damit verbunden - die Begründung eines Stadtrechtes zur Vollendung der mittelalterlichen 1 Vgl. das berühmte "Magdeburgische Recht" oder die bekannten Reformationen der Städte, z. B. Nürnberger Refonnation (1479), Wonnser Refonnation (1498), Erste Frankfurter Reformation (1509), Freiburger Stadtrecht (1520).

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Städte geführt haben. Nur auf dieser Grundlage konnte das Rechtssprichwort entstehen: "Stadtluft macht frei." Der mit den Freiheitsrechten, die sich aus der Autonomie der Städte und ihrer besonderen Privilegien ergaben, ausgestattete Einwohner wurde zum selbstbewußten Bürger. Die verfassungsrechtliche Entwicklung der Städte - von landesherrlichen Einwirkungen insbesondere zu Beginn der Städteentwicklung abgesehen - ist im wesentlichen geprägt durch genossenschaftliche und körperschaftliche Vorstellungen. Das aus dem deutschen, nicht dem römischen Recht resultierende genossenschaftliche Prinzip beruht auf der konkreten Gesamtheit der Bürgerschaft als der personellen Grundlage der Gemeinden. Das tragende Element der genossenschaftlichen Gliederung waren die Stände, die Kaufleute und die Handwerker mit ihren Zünften. Daneben aber setzte unabdingbar die Entwicklung zum Körperschaftsprinzip ein, d. h. zur Entwicklung eines eigenständigen Rechtssubjektes, einer abstrakten, selbständigen Rechtseinheit neben der Gesamtheit der Bürger2 • Bei dieser Fortentwicklung zur Körperschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit hat sich im allgemeinen der Rat der Stadt allmählich zu einem von der Bürgerschaft unabhängigen Organ verfestigt und zeitweilig auch obrigkeitliche Funktionen wahrgenommen. Das genossenschaftliche Element blieb im Grunde unabhängig davon erhalten. So zeigt sich die mittelalterliche Stadt in ihrer Blüte als eine meist funktionierende Verbindung von Gossenschaftsund Körperschaftsprinzip. In ihrer Spitze, im Rat, war sie körperschaftlich organisiert, während daneben die vielfältige genossenschaftliche Gliederung erhalten blieb und letzten Endes den Nährboden für eine Fortentwicklung in der Selbstverwaltung im heutigen Sinne dargestellt hat. Schon im elften Jahrhundert traten Ausschüsse, Geschworene und Stadtschöffen in Erscheinung. Ihre Existenz neben dem Rat der Stadt blieb naturgemäß nicht ohne Auswirkungen, nicht ohne Machtkämpfe um die Teilnahme am Stadtregiment. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Stadt Speyer, die gegen Ende des 12. Jahrhunderts von Heinrich VI. beauftragt wurde, jährlich wechselnd 12 Bürger mit der Verwaltung der Stadt zu betrauen. Entsprechende Regelungen finden sich später auch in anderen Bischofsstädten. Hier sind erste, urkundlich bestätigte Formen der bürgerschaftlichen Mitbestimmung durch Wahl zu verzeichnen. Später wurden die genossenschaftlichen Vorstellungen durch das Körperschaftsprinzip, verbunden mit einem eigennützigen Obrigkeitsdenken 2 Vgl. Becker, Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart, Handbuch der Kommunalen W.issenschaft und Praxis - 1. Band, Kommunalverfassung, BerlinJGöttingenJ Heidelberg 1956, S. 62 ff. (71).

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der Herrschenden überwuchert. So wird beispielsweise im Konföderationsbeschluß der Hanse aus dem Jahre 1418 der Rat als eine die Bürgerschaft regierende Obrigkeit bezeichnet. Daneben blieben die - nach vorübergehender Lockerung - wieder verstärkt einsetzenden Machtbestrebungen der Landesherren von großem Einfluß auf die weitere Entwicklung, die letztlich in den Absolutismus mündete. Im Zeitalter des Absolutismus ist infolge der meist uneingeschränkten Einflußnahme der Landesherren der genossenschaftliche Gedanke nahezu zum Erliegen gekommen. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Städte wurden im Sinn der landesherrlichen Bestrebungen umgewandelt. Der Merkantilismus hatte die Voraussetzungen geschaffen, um die Heere und das Berufsbeamtentum zu gestalten und durch neue Wirtschaftsformen die Monopolstellung der Staatsbetriebe, d. h. der landesherrlichen Unternehmungen, herbeizuführen. Wirtschaftspolitik, Kriegs- und Steuerpolitik haben territoriale Zielsetzungen an die Stelle der ursprünglich genossenschaftlich gekennzeichneten Aufgaben der Städte gesetzt. Die überwindung des Absolutismus in Europa um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mußte zwangsläufig in eine neue Aktivierung des bürgerschaftlichen Elements umschlagen. Auf die dann einsetzende Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung sind die Reformvorstellungen des Freiherrn vom Stein von großem Einfluß gewesen, die allerdings ohne die vorangegangene Französische Revolution kaum durchsetzbar gewesen wären. Im Absolutismus galt der Mensch nur als ein von der Obrigkeit abhängiger Untertan. Dieser Zustand wurde durch die Französische Revolution beendet. Die zündende Parole ,.Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", ein humanistisches Weltbild symbolisierend, begleitete die Erneuerung des Menschen zu einem freien und selbstbewußten Bürger. Damit wurde der Schritt vom Untertan des Absolutismus zum demokratischen Staatsbürger eingeleitet. Im historischen Rückblick wird deutlich, daß Freiherr vom Stein, aufbauend auf der "Französischen Revolution", nur in dieser Zeit, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, seine Städtereform durchsetzen konnte. Die Zielsetzung Freiherr vom Steins mag häufig mißverstanden worden sein3 ; niemand ist dagegen gefeit, daß seine Vorstellungen abstrahiert und aus der Zeitbezogenheit des Beurteilers heraus interpretiert werden. Wesentliche Grundlagen der Aufgaben aber, die er sich selbst gestellt hat, lassen sich schon der Nassauer Denkschrift von 3 Vgl. hierzu auch Julius von Gierke, ..Die erste Reform des Freiherrn vom Stein", Rede vom 18.1.1924 in der Universität Halle-Wittenberg; Neu-

druck 1957.

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18074 entnehmen. Sie basieren auf einer Situationsanalyse, wie sie beispielsweise in dem Immediat-Bericht vom 9.11. 18085 gegeben wird. "Der Bürger hatte weder Kenntnis vom Gemeinwesen noch Veranlassung, dafür zu wirken ... Eifer und Liebe für die öffentlichen Angelegenheiten, aller Gemeingeist, jedes Gefühl, dem Ganzen ein Opfer zu bringen, mußten verlorengehen. Selbst Bürger zu sein, ward längst nicht einmal mehr für Ehre gehalten. Man erwartete dagegen alles vom Staat, ohne Vertrauen in seine Maßnahmen, ohne Enthusiasmus für seine Verfassung6 ." Demgegenüber betont er das Selbstbewußtsein des mit Verantwortung ausgestatteten Bürgers als notwendige Voraussetzung des staatlichen Fortschritts: "Man muß bemüht sein, die ganze Masse der in der Nation vorhandenen Kräfte auf die Besorgung ihrer Angelegenheiten zu lenken, denn sie ist mit ihrer Lage und ihren Bedürfnissen am besten bekannt, und auf diese Art nimmt die Verwaltung eine dieser Lage gemäße Richtung und kommt in übereinstimmung mit dem Zustand der Kultur der NationT." Seiner Reform lag die große, sittliche Idee zugrunde, ein freies und eigenkräftiges Staatsbürgertum zu schaffenS. Die Eigenverantwortlichkeit der Städte ist durch die Steinsche Städteordnung auf eine neue Grundlage gestellt worden. Die im Rahmen einer Betrachtung über die Selbstverwaltung herausragenden Kennzeichen der Steinschen Städteordnung sind die Stadtverordnetenversammlung, die nicht mehr nach Klassen, Zünften oder Verbänden, sondern von der gesamten Bürgerschaft auf der Grundlage von Stimmbezirken gewählt wird, sowie die sogenannten gemischten Deputationen aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung, die in zahlreichen Verwaltungsangelegenheiten Beschlußzuständigkeiten hatten. Die Funktionstrennung zwischen Stadtverordnetenversammlung und Magistrat entspricht in übertragener Form dem Grundsatz der Gewaltentrennung von Montesquieu. Mit seiner Reform hat Freiherr vom Stein sich eindeutig gegen die politische Lethargie der Bürgerschaft gewendet, und zwar im Sinne einer Einordnung des Bürgers in das Gemeinschaftswesen, in dem er 4 VgI. Botzenhart, Freiherr vom Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, Stuttgart 1936, Bd. Ir, S. 210. I) a.a.O., S. 567 fr. e a.a.O., S.569. T a.a.O., Stuttgart 1932, Bd. IrI, Aufsätze und Bemerkungen über mancherlei Gegenstände, S. 525. 8 VgI. Julius von Gierke, a.a.O., S.34.

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lebt, in die Stadt. Der Erfolg der Steinschen Reform hat Auswirkungen weit über Preußen hinaus gehabt und auch auf die Neuordnung der kommunalen Selbstverwaltung in anderen Ländern eingewirkt (z. B. § 3 des Württembergischen Verwaltungsedikts von 1823: "Jede Gemeinde hat das Recht, alle auf den Gemeindeverband sich beziehenden Angelegenheiten zu besorgen, ihr Gemeindevermögen selbständig zu verwalten und die Ortspolizei im Umfang des Ortes und seiner Markung nach den bestimmten Gesetzen zu handhaben" - oder im Vorspruch der Hessischen Gemeindeordnung von 1821, wo als Zielsetzung genannt wird, "die Angelegenheit der Gemeinden auf der Grundlage eigener, selbständiger Verwaltung ihres Vermögens durch von der Gemeinde Gewählte unter der Oberaufsicht des Staates zu ordnen"). 3. Der Begriff der kommunalen Selbstverwaltung

Zur Zeit der Reform des Freiherrn vom Stein war der Begriff "Selbstverwaltung" noch nicht bekannt. Man hat ihn umschrieben und u. a. von einer "freien, selbständigen Verwaltung", von der "Mitwirkung der Beteiligten", von der "Teilnahme am Gemeinwesen" gesprochen9 • Später wird der Begriff Selbstverwaltung im Zusammenhang mit der Vermögensverwaltung verwendet. Artikel 64 der Verfassung von Oldenburg 1848 garantiert "das Recht der freien Selbstverwaltung", und in der preußischen Gemeindeordnung von 1850 heißt es im § 6: "Jeder Gemeinde steht die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten zu." Der Rechtsbegriff der Selbstverwaltung ist in seinem formalen und materiellen Gehalt vielfach untersucht wordenlO , insbesondere auch im Hinblick darauf, daß man bei anderen mit Gesetzesautonomie ausgestatteten juristischen Personen des öffentlichen Rechtes - den Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts (z. B. Universitäten, neuerdings Rundfunk- und Fernsehanstalten) - ebenfalls von "Selbstverwaltung" spricht. Unter dem umfassenden Begriff der Selbstverwaltung wird man die eigenverantwortliche Erfüllung gemeinschaftlicher öffentlicher Aufgaben durch rechtsfähige öffentliche Verbände mit eigenen Organen zu verstehen haben, die dem Staat eingegliedert sind und seiner Aufsicht unterliegen. Die kommunale Selbstverwal110 Vgl. Becker, Die Selbstverwaltung als verfassungsrechtliche Grundlage der kommunalen Ordnung in Bund und Ländern, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, BerlinlGöttingenlHeidelberg 1956,

S. 113 ft. (115). 10 Vgl. Becker, Die Selbstverwaltung als verfassungsrechtliche Grundlage

der kommunalen Ordnung in Bund und Ländern, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, BerlinlGöttingenlHeidelberg 1956, S.113ft.

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tung ist dementsprechend als die eigenverantwortliche Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Bereich der Gemeinde zu definieren. Grundsätzlich sind zwei Aufgabenbereiche bei den kommunalen Behörden zu unterscheiden: a) die Selbstverwaltungsangelegenheiten und b) die Auftragsangelegenheiten. In den Bereich der Selbstverwaltungsangelegenheiten fallen alle Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft, die einen öffentlichen Charakter haben, z. B. der Straßenbau, das Siedlungswesen, das Verkehrswesen (Straßenbahnen, U-Bahnen), die Wohlfahrtseinrichtungen (Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime), das Fürsorgewesen. Dieser Aufgabenbereich wird von den Kommunalverwaltungen in eigener Verantwortung wahrgenommen und ist somit der eigentliche Tätigkeitsbereich der kommunalen Selbstverwaltung. Die Aufsicht des Staates erstreckt sich lediglich auf die Beachtung und Einhaltung der Gesetze, also auf eine Normenkontrolle. Wesentlich stärker ausgeprägt ist das Aufsichtsrecht des Staates im Bereich der Auftragsangelegenheiten. Hier ·führen die Kommunen staatliche Aufgaben im Auftrag des Staates aus und sind bei der Ausführung an die Weisungen der staatlichen Aufsichtsbehörde gebunden. Von "Selbstverwaltung" kann nicht mehr gesprochen werden. 4. Die kommunale Selbstverwaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Grundlage für die Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in das 20. Jahrhundert hinein bildet die Steinsche Städtereform von 1808 und die daran anschließende Entwicklung in den Ländern des Deutschen Reichsgebietes. Hierbei waren vor allem in bezug auf den politischen Inhalt des Begriffs der Selbstverwaltung die liberalen und rechtsstaatlichen Entwicklungstendenzen des 19. Jahrhunderts entscheidend. Wie immer aber auch das Selbstverwaltungsrecht in den einzelnen Ländern gestaltet wurde, der Grundgedanke der Steinschen Städtereform blieb durch alle Veränderungen und Einschränkungen, die das Gesetz· von 1808 im Laufe eines Jahrhunderts erfuhr, wirksam erhalten: Erweckung von Gemeinsinn des Bürgers durch Tätigkeit für das Wohlsein der Stadt und innere Belebung der städtischen Verwaltung durch Teilnahme der Bürger an ihrl l• An der landesrechtlichen Regelung des Gemeindeverfassungsrechts wurde sowohl nach der Reichsgründung von 1871 als auch in der Wei11 Vgl. Gerhard Ritter, Stein - Eine politische Biographie, 3. Aufl., stuttgart 1958, S. 270.

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marer Republik nach 1918 festgehalten. Im Gegensatz zur Verfassung des Kaiserreichs waren jedoch in der Verfassung von Weimar in den Artikeln 127 und 17 Abs. 2 das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden garantiert und die Wahlrechtsgrundsätze für die Wahl der Volksvertretung auch für die Gemeindewahlen verbindlich verankert. Gerade durch die Anordnung in der Verfassung, die Wahlen zum Reichstag und die Wahlen zu den Bürgervertretungen in den Gemeinden nach denselben rechtlichen Grundsätzen durchzuführen, wird erstmalig durch eine verfassungsrechtliche Aussage die Verbindung zwischen Selbstverwaltung und Demokratie deutlich. Auf diese Weise wurde die kommunale Selbstverwaltung als ein wesentlicher Bestandteil in die demokratische Staatsordnung einbezogen. Unverkennbar ist auch, daß dieses Prinzip zu einer Politisierung der Selbstverwaltung beigetragen hat. Denn in den Gemeindevertretungen saßen als Vertreter der Bürger nicht mehr die Abgesandten der Zünfte, der Stände oder anderer Bürgervereinigungen, sondern prinzipiell Vertreter der politischen Parteien. Diese Entwicklung löste zwangsläufig eine Wechselwirkung bei den politischen Parteien aus, die sich angesichts der neuen politischen Aufgabenstellung wesentlich mehr als früher mit kommunalen Fragen sowohl im Grundsätzlichen als auch im Detail befassen mußten. Der Demokratisierungsprozeß im kommunalen Selbstverwaltungsbereich, der durch die verfassungsmäßigen Wahlrechtsgrundsätze für die Gemeindewahlen eingeleitet wurde, hat seine wesentliche Auswirkung in einer Umschichtung der Bürgerrepräsentanten in den Gemeindevertretungen gehabt. In der liberalen Epoche, unter einem Wahlrecht, das kein Verhältniswahlrecht war, konnten die Gemeindevertretungen durch die vielfach anzutreffende Exklusivität ihrer Mitglieder gelegentlich den Charakter eines Honoratiorenvereins annehmen. Das Verhältniswahlrecht dagegen führte zu einer Beseitigung aller Vorrechte, die sich aus Vermögensbesitz oder Stand ergaben. Es verwirk4ichte verfassungsrechtlich und faktisch die Gleichberechtigung aller Bürger, auch wenn dieser Umwandlungsprozeß sich nicht überall reibungslos vollzogen hat. In der Zeit der wirtschaftlichen Krise, besonders ab 1930, kam als Novum hinzu, daß es nicht immer gelungen ist, die widerstrebende wirtschaftliche Interessenpolitik der politischen Kräfte zu überbrücken. Das führte gegen Ende der Weimarer Republik vielfach zur Einsetzung von Staatskommissaren in den Gemeinden, wodurch die Genehmigungsvorbehalte zugunsten des Staates zum Nachteil der kommunalen Selbstverwaltung beträchtlich vermehrt wurden. Mit der übernahme der Staatsgewalt durch die nationalsozialistischen Machthaber endete 1933 in Deutschland de facto die kommunale

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Selbstverwaltung. Der Grund liegt auf der Hand: mit der zentralistischen und antidemokratischen Grundhaltung eines totalen Staates ist es nicht zu vereinbaren, andere Träger öffentlicher Gewalt mit eigener Selbstverwaltung anzuerkennen. Der totale Herrschaftsstaat kann die auch nur theoretische Möglichkeit nicht zulassen, daß solche mit Selbstverwaltungsbefugnis ausgestatteten anderen Träger öffentlicher Gewalt den staatlichen Zielsetzungen entgegenwirken. Die Aufhebung der kommunalen Selbstverwaltung wurde dementsprechend analog der Praxis in den übrigen Lebensbereichen des Staates nach dem bekannten Grundsatz der Gleichschaltung im Sinne der NS-Ideologie vollzogen. Die trotzdem erlassene Deutsche Gemeindeordnung vom 30.1.1935 kann lediglich als legales Mäntelchen gewertet werden, das jedoch den antidemokratischen Grundcharakter nicht zu verhüllen vermochte. In dieser Gemeindeordnung wurde das Führerprinzip, das dem materiellen Inhalt der Selbstverwaltung entgegengesetzt ist, verankert und auch die Entscheidungsbefugnis der formal noch fortexistierenden Körperschaftsorgane beseitigt. In ihrer Funktion konnten die kommunalen Körperschaften allenfalls als Beratungsorgane gelten. Die Staatstheoretiker sprachen damals vielfach von der Verwirklichung der "Deliberation" .

5. Die Regelung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts in der modernen Staatsordnung . Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Sie ist aufgebaut auf dem gleichberechtigten Nebeneinander von Bund, Ländern und Gemeinden. Dadurch wird die kommunale Selbstverwaltung als ein tragendes Element des Staates anerkannt. Artikel 28 GG enthält eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Nach Art. 28 Abs.2 GG muß den Gemeinden das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Ein gleiches Recht ist auch den Gemeindeverbänden im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches zuerkannt. Artikel 28 Abs. 1 enthält den Grundsatz der Volksvertretung, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehen muß. Die eigentliche Garantie des kommunalen Selbstverwaltungsrechtes befindet sich in Art. 28 Abs. 3 des Grundgesetzes, wo es heißt: "Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht." 'Analoge und ergänzende Bestimmungen zu dieser grundgesetzlichen Regelung finden sich in allen Länderverfassungen. Eines der typischen

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Beispiele hierfür ist die eindeutige Formulierung des Art. 137 der Verfassung des Landes Hessen: "Die Gemeinden sind in ihrem Gebiet unter eigener Verantwortung die ausschließlichen Träger der gesamten örtlichen öffentlichen Verwaltung. Sie können jede öffentliche Aufgabe übernehmen, soweit sie nicht durch ausdrü"kliche gesetzliche Vorschrift anderen Stellen im dringenden öffentlichen Interesse ausschließlich zugewiesen sind." Diese Hinweise sollen zur Erläuterung des Grundprinzips genügen. Deutlich wird die Funktion der kommunalen Selbstverwaltung in zweierlei Weise: a) Die mit Selbstverwaltung ausgestatteten Gemeinden stellen eine tragende Säule des demokratischen Bundesstaates dar; b) das demokratische Prinzip der Mitbestimmung des Bürgers wird durch das Wahlsystem und die Organisationsform der kommunalen Selbstverwaltung gewährleistet. Damit ist eine Zielsetzung verwirklicht, die unter demokratischen Aspekten mit der kommunalen Selbstverwaltung zwangsläufig verbunden ist: die Aktivierung des Bürgers. Seine unmittelbare Anteilnahme an den Angelegenheiten seiner Gemeinde und damit am Schicksal seines engsten Daseinsbereiches ist die sicherste Garantie für ein gesundes Selbstbewußtsein des Staatsbürgers, ohne die ein demokratischer Staat auf die Dauer nicht lebensfähig ist. Denn die innere Stabilität einer Demokratie hängt von der Verpflichtung ab, die der einzelne Bürger dem öffentlichen Gemeinwesen gegenüber auf sich zu nehmen bereit ist. Der bewußte Staatsbürger, d. h. der tätige, der mitarbeitende Bürger trägt die Demokratie. Die kommunale Selbstverwaltung kann ihre funktionale Aufgabe wirkungsvoll nur dann erfüllen, wenn sie der Mitwirkung und der Unterstützung der Bürger gewiß ist. Sie ist so stark, wie ihre Bürger bereit sind, sie durch Aktivität und Initiative mitzutragen. Auf der intensiven Zusammenarbeit zwischen Bürger und Verwaltung beruht letzten Endes auch der Erfolg jeder Kommunalpolitik. Die dadurch gewährleistete Stabilität in der Gemeinde überträgt sich zwangsläufig auf die funktionsfähigkeit des Staates; die Wechselwirkung ist evident.

6. Die Vielfältigkeit der Gemeindeverfassungen in der Bundesrepublik Bei einer Betrachtung des kommunalen Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland wird häufig in kritischem Sinn auf die Vielfältigkeit in der Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung

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in den einzelnen Ländern hingewiesen. Eine solche kritische Betrachtung ist richtig als objektive Feststellung von Tatsachen. Trotzdem kann daraus kein Argument gegen die kommunale Selbstverwaltung abgeleitet werden. Sie kann sich nur gegen die äußere Form richten. Der Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung wird davon nicht berührt. Nach dem totalen Zusammenbruch am Ende des zweiten Weltkrieges mußte im Zuge des Wiederaufbaues der demokratischen Staatsordnung auch das kommunale Selbstverwaltungsrecht neu gestaltet werden. Weitgehend wurde an das überlieferte Gemeinderecht aus der Zeit vor 1933 angeknüpft. Nach 1945 bestand eindeutig von Anfang an die Tendenz, den neuen demokratischen Staat föderativ aufzubauen. Es lag daher nahe, auch das Gemeindeverfassungsrecht wieder landesrechtlich zu regeln. Das ist geschehen. Bei aller Vielfältigkeit in der Ausgestaltung zeigt die Gegenüberstellung der Gemeindeverfassungen in den elf Bundesländern deutlich die volle übereinstimmung in der Grundidee der Selbstverwaltung. Die Unterschiede bestehen lediglich in der formalen Ausgestaltung, in der Bezeichnung und in einzelnen Funktionen der gemeindlichen Körperschaften, teilweise im Wahlsystem und in der Wahldauer, vor allem in der Wahl und Zuständigkeit der Oberbürgermeister (Bürgermeister) und der Landräte in den Landkreisen. Eine Sonderstellung nehmen die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen ein. Sie sind einerseits Bundesländer mit der für die Länder typischen Aufgabenstellung; andererseits erfüllen sie wesenseigene Aufgaben der Gemeinden. Vergleicht man die übrigen Bundesländer im Hinblick auf ihr Gemeindeverfassungsrecht, so ergeben sich wesentliche Unterschiede zwischen den Ländern der ehemaligen britischen Besatzungszone und den übrigen Ländern. In den Ländern der britischen Besatzungszone hat nach 1945 eine außerordentlich starke Angleichung an das englische Gemeinderecht stattgefunden. Im Gegensatz zu der früheren Regelung und dem Kommunalrecht in den anderen Bundesländern ist der Oberbürgermeister nicht die Spitze der Verwaltung, sondern der Vorsitzende des Gemeinderates und damit der politische Repräsentant der Gemeinde. An der Spitze der Verwaltung dagegen steht der Oberstadtdirektor. Eine entsprechende Aufteilung der Funktionen gilt in den Landkreisen für die Landräte und die Kreisdirektoren. In den übrigen Bundesländern tritt die Anknüpfung an frühere Rechtsregelungen stärker in Erscheinung. In Hessen und SchleswigHolstein bildet die Magistratsverfassung das entscheidende Element im kommunalen Verwaltungsrecht. In Rheinland-Pfalz und im Saar-

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land besteht die Bürgermeisterverfassung, und in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg ist die süddeutsche Ratsverfassung das Kernstück des neuen Gemeindeverfassungsrechts. Sowohl bei der Magistratsverfassung als auch bei der Bürgermeisterverfassung und der süddeutschen Ratsverfassung steht - bei allen Differenzierungen im einzelnen - der Oberbürgermeister an der Spitze der Gemeindeverwaltung. Seine funktionellen Beziehungen zum Stadtparlament (Stadtverordnetenversammlung oder Rat) als der gewählten Vertreter der Bürger, seine Amtszeit und vor allem das Wahlverfahren sind jedoch unterschiedlich geregelt. Als eine gemeinsame Auswirkung aller Gemeindeverfassungen zeigt sich die den demokratischen Prinzipien entsprechende Politisierung der Bürgerschaftsvertretungen. Die Parteien kommen ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, auch im kommunalen Bereich nach. Der Bürger selbst übt seine Einflußnahme und Mitwirkung bei der Gestaltung des kommunalen Geschehens nicht nur unmittelbar, sondern zusätzlich auch mittelbar über die Parteien aus. Es muß als ein außerordentlich positives Kernstück aller Gemeindeverfassungen herausgestellt werden, dieser Entwicklung nicht entgegenzuwirken, sondern sie zu fördern. 7. Die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die modeme Gesellschaft Die funktionale Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die modeme Gesellschaft erstreckt sich nicht nur auf den Staatsbürger und auf sein Verhältnis zu den öffentlichen Gemeinwesen. Es werden darüber hinaus Aufgaben für die Fortentwicklung der Gesellschaft zu erfüllen sein, die sich aus der AufgabensteIlung für die Gemeinden ergeben. Auf einen kurzen Nenner gebracht bestehen diese Aufgaben darin, die Daseinsvorsorge für den Menschen in nahezu allen Lebensbereichen zu schaffen. Das kann am einleuchtendsten demonstriert werden am Beispiel der Leistungen der deutschen Städte und Gemeinden nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands im Mai 1945. Die große Aufgabe der Gemeinden war es, zunächst zu enttrümmern und dann wiederaufzubauen. In der ersten Phase der Enttrümmerung und des Wiederaufbaues mußte zwangsläufig viel improvisiert werden, vor allen Dingen in den wichtigsten kommunalen Wirkungsbereichen, wie z. B. Wohnraumbeschaffung, Inbetriebnahme von Krankenhäusern, Schulen und Versorgungseinrichtungen. Dieser ersten Phase folgte sehr bald die zweite eines planvollen Wiederaufbaues, die es zuließ und auch notwendig machte, die Grundsätze der modemen Städte-

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und Verkehrsgestaltung aufzugreifen und weitgehend zu verwirklichen. Dieser Prozeß vollzog sich in einer Zeit wachsender Wirtschaftskonjunktur und einer intensiven Verstärkung der allgemeinen Motorisierung. Eine wesentliche Rolle bei der Aufgabenerfüllung durch die Gemeinden spielt dabei die Finanzierung. Die Gemeinden haben finanziell anfangs die Hauptlast des Wiederaufbaues tragen müssen. Sie haben ihre Aufgabe auch damals erfüllt, wenn auch auf Kosten einer außerordentlich starken Verschuldung; denn zur Finanzierung der Investitionen mußte mangels ausreichender eigener Steuerquellen der Kreditmarkt frühzeitig in Anspruch genommen werden. Die Gemeinden, vor allem die Großstädte, mußten unbestreitbar früher als Bund und Länder Fremdkapital aufnehmen. Besonders die Großstädte standen unter dem Druck der großen Verkehrsdichte vor der Notwendigkeit, großzügige Verkehrslösungen in Angriff zu nehmen und zu verwirklichen, wie beispielsweise den Bau von U-Bahnen oder kostenintensiven Straßenüber- und -unterführungen. Darin liegt die wesentliche Ursache für die im Vergleich zu Bund und Ländern übermäßige Verschuldung der Gemeinden. Die Phase des Wiederaufbaues ist heute weitgehend abgeschlossen. Der Kommunalpolitik stellt sich die neue Aufgabe, den Bürgern die Daseinsvorrichtungen zur Verfügung zu stellen, die sie in einer modemen Industriegesellschaft berechtigterweise beanspruchen können. Dazu gehört die Lösung der Probleme unseres Massenverkehrs ebenso wie die Bereitstellung moderner Schulen, Bildungs- und Kulturstätten, die Verbesserung der Sozialleistungen ebenso wie die Strukturförderungsmaßnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Siedlungspolitik um nur einige wichtige Aufgabengebiete zu nennen. Alle diese Probleme müssen mit neuen Erkenntnissen und neuen Methoden einer modernen Lösung zugeführt werden. Daher ist es auch notwendig, mit Mut und Entschlossenheit neue Wege zu gehen. Angesichts dieser Gesamtsituation ist die Forderung nach einer Verbesserung der Finanzsituation der Gemeinden und nach einem aufgabengerechten Finanzausgleich zwischen. Bund, Ländern und Gemeinden nur allzu gerechtfertigt. Es darf nicht verkannt werden, daß die kommunale Selbstverwaltung, also die eigenverantwortliche Erfüllung von Aufgaben durch die Gemeinden, an eine Finanzausstattung geknüpft sein muß, die in ihrem Umfang den gestellten Aufgaben entspricht. Die eigenverantwortliche Wahrnehmung der gemeindlichen Aufgaben setzt notwendig ein Steueraufkommen voraus, das die Gemeinden in die Lage versetzt, auch wirklich eigenverantwortlich handeln zu können. Kommunale Selbstverwaltung als Inbegriff bürgerschaftlichen Gestaltungswillens braucht zwangsläufig einen ausreichenden Spielraum

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finanzieller Unabhängigkeit, d. h. ein bestimmtes Volumen selbständiger Steuereinnahmen. Wird dagegen den Gemeinden die finanzielle Eigenständigkeit entzogen, so kann das unübersehbare strukturelle Auswirkungen auf unser demokratisches Staatswesen haben. Die Verantwortung für die Erhaltung und Weiterentwicklung unserer Demokratie, deren eine wichtige Grundlage die kommunale Selbstverwaltung ist, zwingt uns, solchen Entwicklungstendenzen von vornherein entgegenzuwirken. Damit erfüllen wir eine der ursprünglichsten Forderungen der Bürger: Im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung .. mitzubestimmen".

Unternehmen

Zur Methode revisionsrichterlicher Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrerhts dargestellt an Hand der Rechtsprechung zu den Stimmrechtsbindunpveririigen

Von Robe,.t Fische,.

I.

Die Fortbildung des Gesellschaftsrechts hat in der Zeit seit den großen Kodifikationen am Ende des vergangenen Jahrhunderts eine Entwicklung genommen, die m. E. die ihr gebührende Beachtung und Würdigung noch nicht gefunden hat. Diese Entwicklung fällt in eine Zeitspanne, die durch eine umfassende Veränderung unseres wirtschaftlichen Lebens gekennzeichnet ist und zu unternehmerischen Gestaltungs- und Organisationsformen geführt hat, wie sie am Ausgang des vergangenen Jahrhunderts noch von niemandem vorausgesehen oder vorausgeahnt werden konnte. Diesen tiefgreifenden, das gesamte Wirtschaftsleben erfassenden Veränderungen konnten Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bei der rechtlichen Würdigung und Beurteilung im wesentlichen ausreichend Rechnung tragen, ohne daß es - vom Aktienrecht abgesehen - bisher besonderer gesetzgeberischer Maßnahmen bedurft hätte. Das erscheint aus heutiger Sicht außerordentlich bemerkenswert und beleuchtet auf diesem Teilgebiet zugleich in einer bezeichnenden Form das Verhältnis, in das auf diese Weise Rechtsprechung, Rechtswissenschaft und Gesetzgebung in diesem Jahrhundert zueinander geraten sind und in dem sie sich jetzt befinden. Bemerkenswert erscheint mir diese Entwicklung vor allem deshalb, weil sie sich ganz allmählich vollzogen, im Grunde genommen bei allen Beteiligten niemals Widerspruch gefunden hat und heute als ziemlich selbstverständlich empfunden wird. Fragt man nach den Gründen, die diese besondere Entwicklung bei der Fortbildung des Gesellschaftsrechts möglich gemacht haben, so ist dabei in erster Linie auf das einzigartige und vorzügliche Zusammenwirken von Vertragspraxis, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hinzuweisen. Auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts hat von jeher die

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Vertragspraxis eine hervorragende Rolle gespielt. Beste Vertreter des Anwaltsstandes haben als rechtliche Berater von Unternehmen mit einem erfahrenen Blick für die Bedürfnisse der Wirtschaft die erforderlichen Verträge entworfen und dabei von jeher eine lebhafte Phantasie, aber auch ihre große Kenntnis gesellschaftsrechtlicher Probleme bei der Gestaltung der einzelnen Vertragsbestimmungen bewiesen. Hand in Hand damit ging die systematische Erfassung des Rechtsstoffs, der sich durch die Vertragspraxis ständig erweiterte und sich den neu auftretenden Bedürfnissen der Wirtschaft anpaßte, durch vorzügliche Vertreter der RechtswissenISChaft, die meist ebenfalls in einer engen Verbindung mit der Wirtschaftspraxis standen und sich infolgedessen bei ihren Arbeiten auch nicht in unfruchtbare und rein rechtstheoretische Auseinandersetzungen verstrickten. Mit diesem vorzüglichen Rüstzeug, wie es wohl kaum während der langen Zeitspanne für ein anderes Rechtsgebiet zur Verfügung stand, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Entscheidung gesellschaftsrechtlicher Fragert arbeiten können und sich auch ihrerseits bemüht, bei ihren Entscheidungen den Blick für die Rechtswirklichkeit möglichst offen zu halten und demgemäß die Fortbildung des Rechts an den sich weiter entwickelnden tatsächlichen Verhältnissen in der Wirtschaft auszurichten. Auf diese Weise gelang es der Vertragspraxis, der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung, in einem fruchtbaren Zusammenwirken das Gesellschaftsrecht so fortzubilden, daß es noch heute den Erfordernissen der modernen Wirtschaft im wesentlichen gerecht zu werden vermag. Dabei oblag der Rechtsprechung die besondere Aufgabe, mit großer Behutsamkeit die Tragfähigkeit neuer gesellschaftsrechtlicher Gestaltungs- und Erscheinungsformen zu prüfen und sich dabei in hohem Maß der Verantwortung bewußt zu sein, die gerade sie gegenüber der Rechtssicherheit im Sinn einer steten und weiter fortschreitenden Rechtsentwicklung zu erfüllen hat und die angesichts des großen Einfallreichtums von Vertragspraxis und Rechtswissenschaft auf diesem Gebiet nicht immer leicht zu meistern ist. Für die höchstrichterliche Rechtsprechung ergab sich aus dieser Entwicklung im Laufe der Zeit in zunehmendem Maß eine höchst eigenartige Lage, der sie sich heute bei der Rechtsfortbildung m. E. stets bewußt sein muß. Die Anerkennung und Ausbildung neuer Rechtsformen und Rechtsgestaltungen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts drängt bei der sich vollziehenden Rechtsentwicklung in einem besonderen Maß zu einer Verfestigung, da nur so die Aufgabe einer stetigen Anpassung des lebenden Rechts an die Erfordernisse unseres Rechts- und Wirtschaftslebens bewältigt werden kann. Dabei spielt es auf diesem Gebiet eine ganz wesentliche Rolle - und das ist ein Umstand, den ein Richter bei der Rechtsprechung auf dem Gebiet des

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Gesellschaftsrechts sich m. E. stets vor Augen halten muß -, daß es die Rechtsprechung hier mit Verträgen zu tun hat, die auf lange Zeit geschlossen werden und die für eine lange Zeit die Grundlage der jeweiligen gesellschaftsvertraglichen Unternehmensform bilden sollen. Die Vertragschließenden müssen sich darauf verlassen können, daß sie in den folgenden Jahren in ihren Vorstellungen und Erwartungen nicht getäuscht werden, die sie im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bei ihrer Vertragsgestaltung gehegt haben und die für sie dabei maßgeblich waren. Die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts ist daher genötigt, im Interesse der Rechtssicherheit die Stetigkeit einer sich fortbildenden Rechtsentwicklung besonders im Auge zu behalten. Sie ist daher hier in einem sehr viel stärkeren Maße als auf anderen Rechtsgebieten an die Ergebnisse ihrer eigenen Rechtsprechung gebunden; sie darf also nach Möglichkeit die Erwartungen einer von ihr selbst eingeleiteten Entwicklung nicht enttäuschen. Sie muß Entwicklungstendenzen, die sich in der modernen Vertragspraxis abzeichnen und die zumeist von einem neu auftretenden Bedürfnis oder Zweck bestimmt werden, aufmerksam beobachten und auf ihre allgemeine Bedeutung für alle Beteiligten und damit auf ihre Schutzwürdigkeit prüfen. Sie wird dabei gut tun, bei der etwaigen Anerkennung solcher neuen Gestaltungsformen zunächst eine besondere Zurückhaltung zu üben und auf die Besonderheit des zu entscheidenden Einzelfalles abzustellen, also allgemeine, namentlich systematisierende Ausführungen zu unterlassen. Sie sollte die systematische Einordnung der von ihr entschiedenen Einzeltatbestände vielmehr der kritischen Prüfung durch die Rechtswissenschaft überlassen und erst mit Hilfe dieser Prüfung die Tragfähigkeit ihrer Einzelentscheidungen innerhalb eines allgemeinen rechtlichen Rahmens untersuchen. Denn es ist eine Erfahrungstatsache, daß es im Grunde für einen Richter in den meisten Fällen unmöglich ist, schon an Hand eines Einzelfalles zu beurteilen und zu entscheiden, welche Bedeutung und Tragweite. seine erste Entscheidung für eine sich anbahnende neue Rechtsentwicklung haben wird. Andererseits muß die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts bemüht sein, die von ihr eingeleitete Rechtsentwicklung an Hand ihres eigenen Rechtsmaterials zu gegebener Zeit, nämlich dann, wenn sich die Folgen und die Tragweite ihrer Entscheidungen übersehen lassen und etwa zunächst bestehende Zweifel überwunden werden können, zu einem irgendwie gearteten Abschluß zu bringen. Dabei muß sie sich darüber im klaren sein, daß sie im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit an diese so zum Abschluß gebrachte Rechtsentwicklung in Zukunft selbst gebunden ist. Daher sollte die Rechtsprechung bestrebt sein, die von ihr anerkannte und bestätigte Rechtsentwicklung in eine rechtlich mög7 Festgabe Kunze

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lichst einfache Form zu kleiden, damit sie für die Rechtsanwendung und Rechtspraxis auch praktikabel ist. Das ist nach meinem Eindruck eine besondere Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Die Bedeutung dieser Aufgabe für unser ganzes Rechtsleben tritt offen zutage, wenn man sich einzelne, in stetiger Rechtsentwicklung anerkannte Rechtsfiguren wie die Einmanngesellschaft, die fehlerhafte Gesellschaft oder die GmbH und Co vergegenrwärtigt, die die Rechtsprechung hinfort als auch für sie verbindliches Recht hinnehmen muß und die deshalb in ihrer rechtlichen Ausgestaltung für die Rechtsanwendung praktikabel sein müssen.

11. Im folgenden möchte ich an Hand eines einzelnen Rechtsinstituts dartun, wie sich nach meinem Eindruck und nach meiner eigenen revisionsrichterlichen Erfahrung eine solche Entwicklung zur allmählichen Ausbildung und Anerkennung eines neuen Rechtsinstituts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung vollzieht und wie dabei die einzelnen Abschnitte dieser Entwicklung nach meiner Überzeugung zu beurteilen sind. Diese Beurteilung möchte ich an Hand der Behandlung, die die Abstimmungsvereinbarung im Rahmen des Gesellschaftsrechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfahren hat, vornehmen, nachdem diese Entwicklung nach meiner Ansicht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. Mai 19671 einen gewissen Abschluß gefunden hat. Die erste Entscheidung des Reichsgerichts aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zu dieser Frage läßt recht deutlich erkennen, wie stark die Ablehnung des Revisionsgerichts gegenüber dieser neuen Erscheinungsform in der Gestaltung der Willensbildung innerhalb der Aktiengesellschaften und der Gesellschaften m.b.H. damals gewesen ist, eine Ablehnung, die sich im Grunde genommen m. E. nur damit erklären läßt, daß dem Gericht solche Abstimmungsvereinbarungen noch ziemlich fremd und in ihrer Tragweite von ihm auch nicht zu übersehen waren. Nur so sind die starken, reichlich emotional anmutenden Worte zu verstehen, mit denen in dieser Entscheidung die Wirksamkeit solcher Vereinbarungen verneint wird, Worte, die zwar recht kategorische Sätze, aber doch wohl keine rechtliche Begründung in einer jener Zeit gemäßen Art enthalten2 • Diese gefühlsmäßig be1

2

BGHZ 48, 163. RGZ 57, 205, 208: Es "widerspricht der Idee der Gesellschaft, des Ver-

trauensamtes und der Rechtsordnung, durch private Abkommen einzelner Gesellschafter eine rechtliche Bindung und zwangsweise Verpflichtung eines Gesellschafters des Inhalts zuzulassen, den hier die Kläger in Anspruch

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gründete Ablehnung und das ihr zugrunde liegende Mißtrauen erscheinen aus heutiger Sicht deshalb auffallend, weil solche Abstimmungsvereinbarungen wohl schon damals im Wirtschaftsleben eine ziemliche Verbreitung und im Schrifttum eine ausgesprochen sachliche und zudem positive Beurteilung gefunden hatten3• Man wird dieser Entscheidung m. E. nur dann gerecht werden können, wenn man sie in einen anderen Zusammenhang stellt, sie nämlich in Verbindung bringt mit der sich damals abzeichnenden Entwicklung, mit der das Reichsgericht begann, der Bildung und der Ausübung der Mehrheitsherrschaft innerhalb der Aktiengesellschaft mit einer größeren Kritik zu begegnen und ihr eine bewertende Beurteilung zuteil werden zu lassen. Ich glaube, daß nur von hier aus das offensichtliche Mißtrauen zu erklären ist, das das Reichsgericht in der ersten Entscheidung dieser "neuen" Erscheinungsform bei der Bildung der Mehrheitsmeinung entgegengebracht hat. Die sodann folgende Entscheidung des Reichsgerichts liegt noch auf derselben Linie 4 ; sie ist aber deshalb gleichwohl bemerkenswert, weil sie in ihren Worten sehr viel verhaltener und pragmatischer klingt und überdies schon die Möglichkeit einer Einschränkung des zunächst allgemein aufgestellten Satzes über die Unwirksamkeit von Abstimmungsvereinbarungen anzudeuten schein~. Ferner ist bei dieser Entnehmen. .,. In solcher Weise darf niemand einen anderen und sich selbst in die Betätigung seines freien Willens hindern". 8 Vgl. dazu JOTdan, Die Strafbarkeit des Stimmenkaufs im Aktienrecht, 1897, S.55/56; Risse, Die Neuerungen im deutschen Aktienrecht, 1899, S.81; Staub, Komm. z. HGB, 6./7. Aufl., 1900, § 317, Anm.8 (m. w. N.). 4 RGZ 69, 134, 137: "Gegen die guten Sitten verstößt die vertragliche Bindung des Gesellschafters einer GmbH, seine Rechte als Gesellschafter und insbesondere sein Stimmrecht unter Hintansetzung seines eigenen Willens nur nach dem Wdllen eines Dritten auszuüben, und zwar jedenfalls dann, wenn in dem Gesellschaftsvertrag die übertragung der Geschäftsanteile von der Genehmigung eines Gesellschaftsorgans abhängig gemacht wird. (Betrifft also einen Fall der Umgehung eines Veräußerungsverbots.) I) Wenn das Revisionsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils von einem allgemeinen Rechtssatz ausgeht und seine Anwendung sodann entsprechend der vorliegenden F'allgestaltung auf den gegebenen Sachverhalt einschränkt oder die Möglichkeit einer solchen Einschränkung ausdruckLich andeutet, dann sollte das Revisionsgericht das m. E. nur dann tun, wenn es an Hand des zu entscheidenden Falles bereits irgendwelche Bedenken oder sogar ernsthafte Bedenken gegen eine Anerkennung des Rechtssatzes in seiner allgemeinen Wirksamkeit hat. Das gilt auch für allgemeine Formulierungen wie "es kann hier offen bleiben, ob ..." oder "es braucht hier ndcht entschieden zu werden, ob ... ", da solche Formulierungen nach ihrem gesamten Zusammenhang in der juristischen Öffentlichkeit den Eindruck erwecken können, daß sie zugleich eine irgendwie geartete Aussage zur Sache zum Ausdruck bringen sollen. Das gilt namentlich dann, wenn die Entscheidung auf einen allgemeinen Rechtssatz aus einer früheren Entscheidung desselben oder auch eines anderen Senats des Revisionsgerichts zurückgreift. Will sich also das Revisionsgericht entsprechend der vorliegenden F'allgestaltung nur auf diesen Fall beschränken, so 7·

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scheidung hervorzuheben, daß sie zur Annahme der Sittenwidrigkeit nur eine Aussage und nicht eine Begründung enthält und daß sie insofern verhältnismäßig farblos wirkt. Zudem enthält der einschränkende Zusatz einen anderen Rechtsgedanken, da die Annahme einer etwaigen Umgehung des Veräußerungsverbots nicht eine Frage der Sittenwidrigkeit, sondern eine solche des Verstoßes gegen den ~sellschaftsvertrag ist. So gesehen stellt diese Entscheidung m. E. nicht eine einfache Fortsetzung der mit RGZ 57, 205 eingeleiteten Rechtsprechung dar, sondern läßt in ihrer knappen Formulierung erkennen, daß die allgemeine Frage nach der Wirksamkeit von Abstimmungsvereinbarungen offenbar noch irgendwie in der Schwebe gehalten werden sollte6 • Mit der Entscheidung RGZ 107, 67, 70 wird gegenüber der Beurteilung von Abstimmungsvereinbarungen eine neue Entwicklung eingeleitet. Diese Entscheidung stellt in meinen Augen in mancherlei Hinsicht einen Neubeginn dar. Das ist zunächst in der Sache ganz offensichtlich, da hier die Wirksamkeit von Stimmrechtsverträgen unter den Aktionären bejaht wird. Ebenso bedeutsam ist aber auch die Form der Begründung, die für diese Ansicht gegeben wird. Die Entscheidung sieht davon ab, das Problem der Stimmrechtsverträge in ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Tragweite aufzuwerfen oder an bisherige Entscheidungen des Reichsgerichts zu dieser Frage in irgendeiner Form anzuknüpfen. Die Begründung wirkt in ihrer nüchternen und schlichten Form fast beiläufig. Das ist für die höchstrichterliche Rechtsprechung typisch, wenn sie vorsichtig und abwartend rechtliches Neuland betritt und deshalb bewußt davon absieht, in irgendeiner Hinsicht die Grenzen für die Tragweite dieser Entscheidung abzustecken. Dabei ist hervorzuheben, daß die überaus anspruchslos wirkende Entscheidung RGZ 107, 67, 70 bereits die entscheidenden ~sichtspunkte für die spätere Rechtsprechung enthält, nämlich den Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit, der insoweit durch die Besonderheiten des Aktienrechts keine Einschränkungen erleidet, sowie den Hinweis, daß eine vereinbarungswidrig abgegebene Stimme die Stimm abgabe selbst nicht ungültig macht. Schließlich ist zu bemerken, daß sich die Entscheidung -- im Unterschied zu vorausgegangenen Entscheidungen - jeder bewertenden Beurteilung gegenüber Stimmrechtsverträgen enthält. Das ist offenbar durch die veränderte Wirtschaftslage in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, aber auch durch die Besonderheit des hier zur Entist es angemessen, wenn es den allgemein gehaltenen Rechtssatz überhaupt nicht erwähnt oder in den Kreis seiner rechtlichen Betrachtungen nicht ausdrücklich einbezieht. 6 Wieweit hierbei die Tatsache von Bedeuhmg gewesen ist, daß zwischen dem Urteil RGZ 57, 205 und dem Urteil RGZ 69, 134 die Entscheidung gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten auf den II. Zivil senat des Reichsgerichts übergegangen war, kann heute nur schwerlich noch beurteilt werden.

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scheidung stehenden Sachverhalts bedingt, bei der die Stimmrechtsbindung der damals vom Reichsgericht als notwendig empfundenen Stärkung der Verwaltung gegen Überfremdungsgefahren von außen diente. In der Folgezeit verfestigte sich die Rechtsprechung auf der Grundlage der soeben genannten Entscheidung. Dabei ist hervorzuheben, daß anfangs die grundsätzliche Frage, ob AbstimmungsvereiIl!barungen überhaupt wirksam sind, gar nicht besonders aufgegriffenT, sondern erst allmählich wieder erwähnt und näher erörtert wird8 • Durch diese Art der Behandlung vollzieht sich die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarungen fast problemlos, ohne daß sich das Reichsgericht genötigt sah, in einer umfassenden rechtlichen Begründung zu den Fragen Stellung zu nehmen, die es selbst in seinen ersten Entscheidungen aufgeworfen hatte. Das hatte zur Folge, daß es der Rechtswissenschaft allein überlassen blieb, die rechtssystematische Einordnung dieses Rechtsprechungsergebnisses vorzunehmen, eine Lösung, die m. E .. das rechte Verhältnis zwischen den Aufgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft deutlich macht. Diese Rechtsprechung war m. E. nur dadurch möglich, daß der geseIlschaftsrechtliche Senat des Reichsgerichts in der Zeit, in der sich diese Rechtsprechung verfestigte, offenbar genügend Erfahrungen mit der Bedeutung und der tatsächlichen Tragweite der in der Rechtswirklichkeit weit verbreiteten Abstimmungsvereinbarung gemacht hatte und dabei wohl zu der Überzeugung gekommen war, daß solche Vereinbarungen als Mittel des Machtmißbrauchs doch nicht so gefährlich seien, wie es das zunächst angenommen hatte, und daß die inzwischen verfeinerte Rechtsprechung zur Annahme eines Machtmißbrauchs genügend rechtliche Möglichkeiten bot, um unvertretbaren Vorkommnissen auf diesem Gebiet zuvorzukommen". So gesehen ermöglichte es die inzwischen erworbene Erfahrung des Fachsenats auf diesem Gebiet, die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarungen durch die Rechtsprechung herbeizuführen. Wie hoch eine solche Erfahrung des jeweiligen Fachsenats des Revisionsgerichts einzuschätzen T Vgl. RGZ 112, 273. RGZ 119, 386; 133, 95; JW 1927, 2992. 9 Typisch dafür ist die Entscheidung RG HRR 1936 Nr.747, in der mit einer großen Sicherheit dargelegt wird, daß man Mißbräuchen bei Abstimmungsvereinbarungen in ausreichendem Maße auf anderem Wege begegnen könne. Mit dieser Entscheidung ist das Reichsgericht, so hat man den Eindruck, zu der gefestigten überzeugung gelangt, daß man der Abstimmungsvereinbarung wegen etwaiger Mißbräuche nicht grundsätzlich selbst die rechtliche Anerkennung zu versagen brauche und daß andererseits diese rechtliche Anerkennung auch geboten sei, weil sie in vielen Fällen schutzwerten Interessen der Abstimmungsberechtigten diene. 8

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ist, und wie sehr gerade dadurch der einzelne Fachsenat des Revision~ gerichts in die Lage versetzt wird, auf seinem Gebiet einer gesunden Fortentwicklung des Rechts zu dienen, macht im Bereich der Abstimmungsvereinbarungen die Entscheidung des VII. Zivilsenats des Reichsgerichts in RGZ 131, 179 deutlich, eines Senats, der mit gesellschaftsrechtlichen Rechtsfragen nicht befaßt war. Diese Entscheidung zeigt nichts von der nüchternen und pragmatischen Art der seit dem ersten Weltkrieg ergangenen Entscheidungen des II. Zivilsenats, sondern greift auf die stark tönenden Worte der Entscheidung RGZ 57, 205 zurück und läßt sich von einer allgemein gehaltenen Abneigung und einem dadurch genährten Mißtrauen gegenüber einer Abstimmungsvereinbarung leiten. Diese Entscheidung enthält im Grunde genommen nur ein pauschal gehaltenes Unwerturteil und läßt gerade darin die feh& lende Erfahrung des erkennenden Senats auf diesem Gebiet deutlich werden. Mit der neuen Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Abstimmung~ vereinbarungen, die insoweit den Gegebenheiten in der Rechtswirklichkeit gerecht wurde und sich damit auf den Boden der Tatsachen stellte, trat eine neue Frage in den Vordergrund der Betrachtung, nämlich die Frage, ob eine solche Vereinbarung dem Berechtigten einen im Wege der Klage durchsetzbaren Anspruch auf Erfüllung der Abstimmungsverpflichtung gewähre. Auch bei der Beantwortung dieser Frage zeigte das Reichsgericht eine ausgesprochene Zurückhaltung, nach meinem Empfinden auch hier aus dem Gefühl heraus, daß das Gericht vorläufig noch nicht recht abzusehen vermochte, welche Folgerungen sich aus einem solchen Erfüllungszwang im einzelnen ergeben könnten. Für die Behandlung dieser Frage ist die Entscheidung RG JW 1927, 2992 m. E. besonders kennzeichnend. Denn in dieser Entscheidung treten die Beweggründe sehr deutlich zutage, die für die zurückhaltende Beurteilung des Reichsgerichts in "diesem Zusammenhang maßgebend sind. Diese Beweggründe sind weniger solche rein juristischer Art als solche, die von der Sorge bestimmt werden, die Anerkennung eines durchgreifenden Vollstreckungszwangs könne den Charakter der Abstimmung und die vorausgehende Beratung der einzelnen Beschlußgegenstände tiefgreifend verändern, ohne daß im einzelnen abzusehen sei, wohin eine solche Entwicklung führen könne. Nur so läßt sich m. E. erklären, daß das Reichsgericht hier in einer gleichsam idealisierend anmutenden Betrachtung ausführt, in welcher Weise es sich den Verlauf einer Gesellschafterversammlung bis zur eigentlichen Abstimmung vorstellt, und daß es sodann im Anschluß an diese Ausführungen der Sorge Ausdruck gibt, der Ablauf der Versammlung in dem gekennzeichneten Sinn könnte durch die Anerkennung eines durchgreifenden Vollstreckungszwangs beeinträchtigt und sogar we-

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sentlich verändert werden lO • Der eigentliche Beweggrund für diese Stellungnahme verflüchtigt sich in den folgenden Entscheidungen in zunehmendem Maß und findet sodann nur noch in einer recht allgemein gehaltenen, im Grunde ziemlich nichtssagenden Bemerkung seinen Ausdruck, die selbst einen recht geringen juristischen Gehalt aufweist, aber immerhin den anfangs klar herausgestellten Beweggrund für diese Stellungnahme noch erkennen läßt. Es handelt sich dabei um die anschließend immer wiederkehrende Formel, ein solcher Erfüllungszwang stelle einen unzulässigen Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversammlung darl l• Dabei muß sich der sachkundige gesellschaftsrechtliche Senat des Reichsgerichts nach meiner Überzeugung über die Fragwürdigkeit gerade dieser Begründung im klaren gewesen sein, da sie als solche ganz deutlich erkennen läßt, daß sie letzten Endes einen Widerspruch in sich darstellt und auf lange Sicht nicht aufrechterhalten werden konnte12• Denn die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung und namentlich die Zubilligung eines Schadensersatzanspruchs wegen Nichterfüllung sowie die Zulässigkeit einer Sicherung solcher Vereinbarungen durch Festsetzung einer Vertragsstrafe13 sind im Rechtssinn bereits ein Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversammlung; dabei kann unter diesem Gesichtspunkt die unmittelbare oder nur mittelbare Wirkung eines solchen Eingriffs nicht von entscheidendem Gewicht sein. Man wird m. E. aus der Art dieser nur noch formelhaften Begründung den Schluß ziehen müssen, daß das Reichsgericht einfach noch nicht das Wagnis auf sich nehmen zu können glaubte, die letzten Schritte zur vollen Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung zu gehen, und daß es das Gericht daher für richtiger hielt, vorläufig noch auf dem eingeschlagenen Weg stehen zu bleiben. Dabei mag es für diesen Entschluß des Reichsgerichts auch eine Rolle gespielt haben, daß die im Schrifttum lebhaft behandelte Frage nach einer Anerkennung des Vollstrekkungszwanges noch keine Klärung gefunden hatte und daß es nach den im Schrifttum vertretenen Ansichten bis dahin noch offen geblieben war, ob ein Vollstreckungszwang unter Anwendung des § 887, des § 888 oder des § 894 ZPO zu geschehen habe 14• 10 Die lehrhafte Entscheidung versucht, die Verhältnisse in der Rechtswirklichkeit idealisierend, offenbar einen erzieherischen Einfluß auf die Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse auszuüben, ein Unterfangen, auf das sich der ReVlisionsrichter nicht einlassen sollte. 11 Vgl. RGZ 133, 90, 95/96; 160, 257, 262; 170, 358, 372. Die in den früheren Entscheidungen RGZ 112, 273; 119, 386 des weiteren angeführten Gesichtspunkte für die vom Reichsgericht vertretene Meinung sind wohl mit Rücksicht auf die Gegenargumente des Schrifttums im Laufe der Zeit fallengelassen worden. 12 In dieser Hinsicht ist namentlich die Entscheidung RGZ 133, 90, 95/96 besonders aufschlußreich. 13 So schon seit RGZ 112, 273, 280 und seit RGZ 133, 90, 95.

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Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts, die sich zur Begründung ihrer Stellungnahme auf eine formelhafte, in ihrem juristischen Gehalt fragwürdige Begründung zurückgezogen hatte und sodann auf ihr beharrte, erweckt den Eindruck, als ob das Revisionsgericht der lebhaft geführten Auseinandersetzung des Schrifttums über die Frage nach einem unmittelbaren Vollstreckungszwang keine Beachtung geschenkt hat. Dieser Eindruck ist m. E. jedoch falsch. Aus meiner eigenen revisionsrichterlichen Erfahrung möchte ich vielmehr aus diesem auffallenden Schweigen den Schluß ziehen, daß das Reichsgericht aus seiner eigenen Sicht noch nicht die Zeit für gekommen hielt, in eine umfassende und klärende Auseinandersetzung zu den verschiedenen im Schrifttum geäußerten Meinungen zu treten. Denn eine solche Auseinandersetzung setzt eigene Klarheit und Sicherheit über den künftig einzuschlagenden Weg voraus und kann von dem Revisionsgericht sinnvoll erst dann vorgenommen werden, wenn es zu der Überzeugung gelangt ist, diese Voraussetzungen für seine eigene Meinungsbildung zu besitzen. Das mag für den Außenstehenden eigenartig oder auch unbefriedigend erscheinen, ist aber nach meiner Erfahrung im Interesse einer sich stetig vollziehenden Rechtsentwicklung nicht zu umgehen. Ich meine, daß es doch wohl besser ist, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung sich so lange eine Zurückhaltung bei der Rechtsfortbildung auferlegt, solange sie noch nicht mit der erforderlichen Sicherheit absehen zu können glaubt, ob eine Fortbildung in einem Einzelfall möglich oder sogar geboten ist. Zu dieser Zurückhaltung gehört es gegebenenfalls auch, vorerst von einer umfassenden Auseinandersetzung mit den im Schrifttum geäußerten Gegenstimmen Abstand zu nehmen, weil eine solche Auseinandersetzung allzu leicht abschließenden Charakter annimmt und überdies zu einer - vielleicht nicht oder noch nicht gewollten - Verfestigung der bisher vertretenen Rechtsprechung für die Zukunft führt.

III. Im Zuge dieser ganzen, viele Jahrzehnte währenden Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 29. Mai 1967 15 zu verstehen, die nunmehr einen gewissen Abschluß bei der rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarungen für die Rechtsprechung gebracht hat. Für das rechte Verständnis dieser Entscheidung sind m. E. mehrere Gesichtspunkte von Bedeutung. Die erste Frage war die, ob an einer rechtlichen Anerkennung der Abstimm~ngsvereinbarung, so wie sie 14 15

Vgl. dazu die Nachweise bei Peters, Ziv. A. 156, 311 ff.

BGHZ48,163.

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sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts durchgesetzt hatte, festgehalten werden sollte. Die Beantwortung dieser Frage erschien dem Senat verhältnismäßig leicht. In der zurückliegenden Zeit waren keinerlei durchschlagende Gründe hervorgetreten, einer solchen im Wirtschaftsleben weit verbreiteten und allgemein anerkannten Vereinbarung die rechtliche Anerkennung zu versagen. Sie hatte sich in den Jahrzehnten dieses Jahrhunderts so sehr eingebürgert und war so sehr ein fester Bestandteil unseres Rechtslebens geworden, daß sogar die Frage hätte aufgeworfen werden können, ob nicht der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung überhaupt gebunden war, dieser in den beteiligten Wirtschaftskreisen allgemein vertretenen, bis dahin auch rechtlich anerkannten Überzeugung Rechnung zu tragen16• Jedenfalls lag aus den zurückliegenden Jahren ein so umfangreiches Erfahrungsmaterial über die Abstimmungsvereinbarungen vor, daß es für den erkennenden Senat ohne besonderes Wagnis möglich war, die rechtliche Anerkennung dieser Vereinbarungen zu bestätigen. Diese rechtliche Anerkennung findet ihre Grundlage in der den Vertragschließenden eingeräumten Vertragsfreiheit und setzt damit voraus, daß ihr irgendwelche Besonderheiten der gesellschaftsrechtlichen Zusammenschlüsse nicht entgegenstehen. Denn nur unter diesem Gesichtspunkt könnte die Vertragsfreiheit irgendwelchen Beschränkungen unterliegen, die für die Abstimmungsvereinbarung von rechtlicher Bedeutung sein würden. Solche Beschränkungen sind hier jedoch nicht zu erkennen, im Gegenteil, die Erfahrung aus der zurückliegenden Zeit hat gezeigt, daß für die Abstimmungsvereinbarung durchaus triftige sachliche und wirtschaftliche Gründe angeführt werden können17 • Bei dieser Rechtslage muß für die Frage nach der rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarungen im Rahmen der Zwangsvollstreckung von dem allgemeinen Grundsatz ausgegangen werden, daß rechtlich anerkannte Vereinbarungen auch einem Erfüllungszwang im Wege der Zwangsvollstreckung zugänglich sind und daß für besondere Ausnahmen von diesem Grundsatz, wie sie den sogenannten Naturalverbindlichkeiten eigentümlich sind, hier mangels hinreichender rechtlicher Anknüpfungspunkte kein Raum ist. Das nötigt schon nach allgemeinen rechtlichen Grundsätzen zu der Anerkennung eines Erfüllungszwangs auch bei der Abstimmungsvereinbarung. Unter diesem Gesichtspunkt wird der innere Widerspruch deutlich, unter dem die abweichende Stellungnahme und Begründung des 16 Vgl. insoweit auch die Regelung in § 136 Abs.3 AktG, aus der entnommen werden kann, daß Abstimmungsvereinbarungen, soweit sie nicht einen in dieser Bestimmung besonders aufgeführten Fall erfassen, rechtlich vnrksam sind. . 17 So schon RGZ 133, 90, 96; RG HRR 1936 Nr.747.

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Reichsgerichts zu dieser Frage leiden. Denn wenn, wie das Reichsgericht gemeint hatte, ein Eingriff in die freie Willensbestimmung der Gesellschafterversammlung nicht statthaft und deshalb bei der Abstimmungsvereinbarung ein Erfüllungszwang im Wege der Zwangsvollstreckung nicht zulässig ist18 , dann richtet sich diese Begründung gegen die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung selbst. Denn diese rechtliche Anerkennung stellt in jedem Fall einen irgendwie gearteten äußeren Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversammlung dar, weil sie eine Sanktionswirkung auslöst, die auf die Willensbildung der verpflichteten Gesellschafter nicht ohne Einfluß sein kann, und weil das Reichsgericht diese Sanktion zudem durch die Zubilligung von Schadensersatzansprüchen und Vertragsstrafen noch besonders betont hatte. In Wirklichkeit hatte sich das Reichsgericht bei seiner widersprüchlichen Begründung in einer wirklichkeitsfremden Betrachtung selbst verfangen. Es hat sich nicht zu der Erkenntnis durchringen können, daß seine Annahme von der freien Willensbildung in der Gesellschafterversammlung sich nicht mit den praktischen Erfahrungen und Gepflogenheiten in der Rechtswirklichkeit vereinbaren ließ und daß deshalb seine Annahme ein wirklichkeitsfremdes Postulat darstellte, dem nur bestimmte, aber der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstellungen zugrunde lagen. Bei dieser Sachlage mußte der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung zur Anerkennung auch eines positiven Erfüllungszwangs bei der Abstimmungsvereinbarung gelangen und damit der rechtlichen Anerkennung solcher Vereinbarungen die ihr gebührende rechtliche Wirksamkeit verleihen. Schwieriger war die sich daran anknüpfende Frage, in welcher rechtlichen Form dieser positive Erfüllungszwang anzuerkennen sei. Bei der Beantwortung dieser Frage boten sich die drei im Schrifttum bereits eingehend erörterten und geprüften Vollstreckungsmöglichkeiten an, nämlich der Erfüllungszwang nach § 888 ZPO, der nach § 887 ZPO sowie der nach § 894 ZPO. Bei der Auswahl unter diesen drei hier in Betracht kommenden Möglichkeiten hat sich der Bundesgerichtshof für den Erfüllungszwang nach der Vorschrift des § 894 ZPO entschieden. Diese Vorschrift enthält in ihrer rechtlichen Ausgestaltung die klarste und einfachste Regelung des Vollstreckungszwangs, weil durch sie das mit der Vollstreckung bezweckte Ziel unmittelbar erreicht wird. Die Vorschriften der §§ 888, 887 ZPO geben demgegenüber eine Lösung, die nur mittelbar und damit in einer weniger wirksamen Weise dem Vollstreckungszwang genügen kann, weil in ihrem Anwendungsbereich eine andere Gestaltung nicht möglich ist. Bei dieser Sachlage lag die 18

Vgl. zuletzt RGZ 170, 358, 372.

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Entscheidung für den Erfüllungszwang nach § 894 ZPO m. E. nahe, ja sie war im Interesse eines wirksamen Vollstreckungsschutzes geboten, wenn sich keine durchschlagenden rechtlichen Bedenken gegen eine Anwendung des § 894 ZPO bei einer Abstimmungsvereinbarung ergeben. Diese Bedenken könnten, wie auch im Schrifttum dargelegt wird, lediglich aus den Besonderheiten des Abstimmungsvorgangs, und hier wohl auch nur bei einer Abstimmung in einer Gesellschafterversammlung, hergeleitet werden. Solche Bedenken gründen sich letzten Endes auf der idealisierenden Betrachtungsweise des Reichsgerichts und damit auf einer Beurteilung, die nur schwerlich der Rechtswirklichkeit entspricht. Der Bundesgerichtshof hat geglaubt, diesen Bedenken keine entscheidende Bedeutung beimessen zu können, weil sie wohl auf einem Restbestand des alten Mißtrauens gegenüber der Abstimmungsvereinbarung beruhen, das in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erst in einer langen Entwicklung abgebaut werden konnte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Anerkennung eines Vollstreckungszwangs nach § 894 ZPO für die Abstimmungsvereinbarung wohl als die abschließende Lösung dieser langen Entwicklung, die zu der Institutionalisierung einer voll wirksamen und vollstreckungsfähigen Abstimmungsvereinbarung in unserem Rechtsleben geführt hat. Für manchen Kritiker mag dabei vielleicht ein Rest von Zweifel bleiben, ob sich diese Lösung auch im Rechtsleben praktisch bewähren wird. Das wird sich erst in Zukunft mit Sicherheit beurteilen lassen. Einen solchen Rest von Unsicherheit wird die Rechtsprechung bei der Rechtsfortbildung wohl stets in Kauf nehmen müssen; der Rechtsprechung erwächst daraus die besondere Verpflichtung, die Bewährung ihrer eigenen Entscheidung im praktischen Rechtsleben kritisch im Auge zu behalten. IV. Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarung vermittelt m. E. ein recht anschauliches Bild davon, in welcher Weise die Rechtsprechung zur Anerkennung neuer Rechtsfiguren gelangt, welche Beweggründe sie dabei im einzelnen leiten können und wie sie langsam Mißtrauen, Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber einer vorerst noch nicht zu übersehenden Entwicklung abbaut. Dabei sind Vorsicht und Mißtrauen m. E. durchaus gerechtfertigte Beweggründe einer sich zunächst zurückhaltend zeigenden Rechtsprechung, wenn sie sich anschickt, rechtliches Neuland zu betreten. In diesen Fällen hat es sich nach meiner Erfahrung bewährt, wenn die Rechtsprechung ohne besondere Erörterung der rechtlichen Problematik mit dem Versuch beginnt, die im Einzelfall sinnvolle und gerechte Entscheidung zu finden und die

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Begründung möglichst einfach und anspruchslos zu gestalten19 • Weiterhin lehrt die Entwicklung, daß Entscheidungen, die belehrend auf die Gestaltung der Rechtswirklichkeit einzuwirken suchen, ihre Aufgabe verfehlen. In dieser Hinsicht beschränkt sich die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung darauf, über die Beachtung gesetzlicher Verbote oder über die Berücksichtigung schutzwerter Interessen der etwa Betroffenen zu wachen. Nur in diesem Bereich sollte die Rechtsprechung etwaigen Übergriffen oder Mißbräuchen entgegentreten und insoweit auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Rechtswirklichkeit Einfluß nehmen20 • Am Ende wird die Rechtsprechung die Aufgabe, eine eingeleitete Rechtsentwicklung in einer möglichst klaren und einfachen Form zum Abschluß zu bringen, nicht aus dem Auge verlieren dürfen; das wird nach aller Erfahrung ohne ein gewisses, freilich möglichst gering zu haltendes Wagnis nicht möglich sein21 • Ich habe dieses Wagnis bei einer anderen Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, nämlich bei der rechtlichen Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft und ihrer näheren rechtlichen Ausgestaltung, in den ersten zehn Jahren seit Bestehen des Bundesgerichtshofes als Revisionsrichter wiederholt empfunden, und von einem solchen Wagnis wird sich der Revisionsrichter nach meiner überzeugung niemals völlig frei halten können.

In diesem Sinne halte ich die Entscheidung RGZ 107, 67 für vorbildlich. In diesem Sinne halte ich die Entscheidung RG JW 1927, 2992 für verfehlt. 21 In diesem Sinne muß m. E. die Entscheidung BGHZ 48, 163 verstanden 19 20

werden.

Betriebswirtschaftliche Deutung der Begriffe "Betrieb" und "Unternehmung" Von KaTl Hax

I. Fragestellungen der Rechtswissenschaft Otto Kunze stellt in seinen Untersuchungen zur Betriebs- und zur Unternehmensverfassung mehrfach fest, daß es eine "allseits anerkannte Definition" des Begriffes "Unternehmen" nicht gebe, daß vielfach die Worte "Betrieb" und "Unternehmen" bedeutungsgleich verwendet werden, obgleich in der Wirklichkeit und auch in der rechtlichen Behandlung der Tatbestände gewichtige Unterschiede zwischen bei den Organisationsformen des Wirtschaftslebens bestünden. Seine Aufforderung, dieses Verhältnis zu klären, richtet sich nicht wie bei den älteren Vertretern des Arbeitsrechts an die Nationalökonomen, sondern an die Betriebswirtschaftslehre, die das Wort "Betrieb" einerseits als Wissenschaftsbezeichnung verwendet und sich andererseits vorwiegend als eine Lehre von der Unternehmung verstehtl. Fritz Rittner hat sich bei der Analyse der Begriffe "Unternehmen" und "freier Beruf" zu der Frage geäußert, ob es der Rechtswissenschaft erlaubt sei, Begriffe aus fremden Fachbereichen eigenständig zu definieren. Er setzt sich dabei mit der Ansicht von Gieseke auseinander, der Jurist könne Begriffe aus anderen Wissenschaftsbereichen, etwa aus den Naturwissenschaften, der Nationalökonomie und der Soziologie, lediglich übernehmen und müsse sich damit begnügen, deren Bedeutung im" Rahmen der jeweiligen Gesetzesvorschriften zu kommentieren. Rittner vertritt demgegenüber zum mindesten für die Begriffe aus dem Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft einen anderen Standpunkt. Der Jurist müsse bei der Übernahme dieser Begriffe gewissermaßen einen Transformationsprozeß vollziehen. Er solle etwa beim Begriff des Unternehmens fragen, welches der "rechtliche Sinngehalt" des Unternehmens sei, welche Funktion es in der Rechtsordnung habel!. Der Auffassung Rittners ist grundsätzlich zuzustimmen. Der lOtto Kunze und Alfred Christmann, Wirtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit, Bd. 1, Köln 1964, S.22-24. II Fritz Rittner, Unternehmen und freier Beruf als Rechtsbegriffe, Tübingen 1962, S.6-12.

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Jurist muß bei Begriffen aus der gesellschaftlichen und ökonomischen Sphäre sagen, wie er die jeweiligen Erscheinungen im Rahmen der Rechtsordnung begreift. Dabei wird er aber zunächst einmal fragen, welchen Inhalt die übernommenen Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch und in der zuständigen Fachwissenschaft haben. Erst dann kann er sie auch juristisch in widerspruchsfreier Weise einordnen. Dieses Problem ergibt sich für die Juristen u. a. bei den Begriffen "Betrieb" und "Unternehmung". Sie werden im Handels- und Gesellschaftsrecht, im Steuerrecht, im Wettbewerbsrecht sowie im Arbeitsrecht vielfach gebraucht, aber nicht einheitlich definiert. Ihre Bedeutung wechselt je nach dem rechtlichen Zusammenhang, in den sie gestellt werden. Das erklärt und rechtfertigt in gewissem Umfange die Auffassung Giesekes, der sich auf die Kommentierung der Begriffe im jeweiligen Gesetzestext beschränken möchte. Erhebliche praktische Bedeutung hat die Frage vor allem im Rahmen des Arbeitsrechts gewonnen. Anstoß dazu gaben das Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 1920 und das ergänzende Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat vom 15.2. 1922. Durch diese Gesetze wurde ein Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in betrieblichen Angelegenheiten geschaffen, d. h. eine Verfassung des Betriebsbereiches. Die Juristen standen also vor der Frage, wie dieser Betriebsbereich konkret abzugrenzen sei. Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß die Betriebsräte das Recht erhielten, Vertreter in die Aufsichtsräte der Aktiengesellschaften zu entsenden. Es war unbestreitbar, daß damit der dem Betrieb übergeordnete Bereich der Unternehmung erfaßt wurde. Die Betriebsverfassung wurde also schon damals ergänzt durch erste Ansätze einer Unternehmensverfassung. Das gilt in verstärktem Maße von dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. 10. 1952. Eindeutig ist aber dieser übergang auf die Sphäre der Unternehmung in den Montanmitbestimmungsgesetzen von 1951 und 1956, die den Arbeitnehmern grundsätzlich paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat zugestehen und über den Arbeitsdirektor auch eine unmittelbare Beeinflussung der Geschäftsleitung ermöglichen3 • Das ursprünglich auf den Bereich des Arbeitsrechts beschränkte Problem der Betriebsverfassung weitet sich auf diese Weise aus zur Forderung nach einer Unternehmensverfassung. Diese Frage ist insofern von großer politischer Bedeutung, als die Forderung nach einer ausgebau3 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. 5. 1951. Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 7.8.1956 (Holding-Novelle).

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ten Betriebsverfassung zwischen den Sozialpartnern wesentlich weniger umstritten ist als die Forderung nach einer Unternehmensverfassung, d. h. nach Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei wirtschaftlichen Entscheidungen auf der Unternehmensebene. Dabei stellt sich wiederum die alte Frage nach einer Abgrenzung von Betrieb und Unternehmung. Wo liegt die Grenze zwischen beiden Bereichen? Eine Klärung dieser Frage könnte dazu beitragen, die Diskussion um die "Mitbestimmung" zu versachlichen. Es geht dabei nicht einmal darum, eine Einigung zwischen den divergierenden Auffassungen herbeizuführen. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn die Fronten klarer herausgearbeitet werden könnten, wenn man die Prämissen erkennt, auf denen die Gesprächspartner aufbauen. Eine solche Klärung soll im folgenden versucht werden, indem die Begriffe "Betrieb" und "Unternehmung" vom Standpunkt der Wirtschaftswissenschaften aus überprüft werden. Die ältere juristische Literatur hat sich in dieser Frage vor allem auf nationalökonomische Literatur gestützt, z. B. auf Sombart. Dagegen ist die Auseinandersetzung in der Betriebswirtschaftslehre bisher kaum berücksichtigt worden. Das ist deshalb auffallend, weil die beiden Begriffe, die den Juristen so viele Probleme aufwerfen, gewissermaßen im Mittelpunkt dieses Faches stehen. Es hat hier in den letzten Jahrzehnten heftige Auseinandersetzungen zwischen zwei Richtungen gegeben, von denen die eine mehr den "betriebswirtschaftlichen" Aspekt (Nicklisch, Schmalenbach, Schmidt) und die andere mehr den "privatwirtschaftlichen" Aspekt der Unternehmung (Leitner, Rieger) betonte. Diese Diskussion hat sich zwar noch bis in die Gegenwart hinein fortgesetzt·. Inzwischen ist aber doch eine so weitgehende Klärung eingetreten, daß man es wagen kann, eine "herrschende Meinung" zu formulieren, die dem Juristen bei der Lösung seiner Verfassungsprobleme im Bereich von Betrieb und Unternehmung nützlich sein könnte. ß. Betrieb und Unternehmuni in der Betriebswirtschaftslehre

Es wurde schon gesagt, daß sich die Betriebswirtschaftslehre heute in erster Linie als Lehre von der Unternehmung versteht. Darin kommt die Synthese zum Ausdruck, die sich aus dem Kampf der Meinungen um den Charakter der Lehre ergeben hat. Die Aufgabe, vor die die Betriebswirtschaftslehre gestellt ist, besteht nunmehr in der Entwicklung einer umfassenden Theorie der Unternehmung. Das ist nicht selbstverständlich, weil nämlich die Nationalökonomie neben 4 Der Betrieb in der Unternehmung. Festschrift für Wilhelm Rieger zu seinem 85. Geburtstag. Herausgegeben von Johannes Fettel und Hanns Linhardt, Stuttgart 1963.

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ihre makro ökonomische Theorie eine mikroökonomische Theorie gestellt hat, die das Verhalten der einzelnen Wirtschaftseinheiten beschreiben und erklären soll. In diesem Zusammenhang verwendet man ebenfalls die Bezeichnung "Unternehmenstheorie". Eine Abgrenzung gegenüber der Betriebswirtschaftslehre sucht man dadurch herbeizuführen, daß man diese auf den engeren Bereich des Betriebes und der Betriebstechnik beschränken möchte. Diese Auffassung ist aber in einer Marktwirtschaft, in der die Planungs- und Entscheidungsgewalt dezentralisiert ist und die "unternehmerische Entscheidung" zur ausschlaggebenden Funktion des Unternehmers wird, nicht haltbar.

1. Ableitung des Betriebsbegriffes aus der Organisationslehre Erwin Jacobi hat 1926 den Begriff des Betriebes in einer Form definiert, die heute noch in der Rechtswissenschaft weitgehend akzeptiert wird. Betrieb in objektivem Sinne ist danach die "Vereinigung von persönlichen, sachlichen und immateriellen Mitteln zur fortgesetzten Verfolgung eines von einem oder von mehreren Rechtssubjekten gemeinsam gesetzten technischen Zweckes"s. Es ist nicht beabsichtigt, diese Definition im einzelnen zu analysieren. Hervorgehoben werden soll lediglich der organisatorische Aspekt, der ihr zugrunde liegt. Das ist nicht erstaunlich, weil die Rechtswissenschaft weitgehend den Charakter einer Organisationslehre besitzt. .Daraus ergibt sich eine enge Beziehung zur Betriebswirtschaftslehre, die sich ebenfalls intensiv mit Organisationsproblemen auseinandersetzen muß und starke Impulse aus der allgemeinen Organisationslehre bezogen hat. Es liegt deshalb nahe, den Betriebsbegriff aus der Organisationslehre abzuleiten. Der Begriff der Organisation beruht auf dem Begriff des Systems. Ein System ist, verglichen mit einer bloßen Menge, durch eine bestimmte Ordnung charakterisiert. Bei der Organisation treten noch zwei Merkmale hinzu, einmal daß es sich nicht lediglich um eine Zusammenordnung von Sachen handelt, sondern daß immer auch ein Einsatz menschlicher Arbeitskraft erfolgt, zum anderen die ebenfalls durch Menschen bestimmte Zielsetzung, die Ausrichtung auf einen Zweck. Organisation ist also ein zielgerichtetes System oder ein Zweckgefüge. Zur Abgrenzung von Zwecksetzungen oder Aufgabenstellungen kurzfristigen Charakters betont man in der Regel die Dauerhaftigkeit als zusätzliches Merkmal organisatorischer Einheiten ("fortgesetzte Werkverrichtung"). Organisation wäre demnach die Zusammenfassung von Menschen und materiellen Hilfsmitteln im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel. Die Zielsetzung kann dabei unterschiedlichen Charakter 5 Erwin Jacobi, 1926, S.9.

Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, Leipzig

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tragen; es kann sich etwa um politische, religiöse, wissenschaftliche, soziale oder auch wirtschaftliche Ziele handeln. Man könnte nun jede organisatorische Einheit ohne Rücksicht auf ihre spezifische Aufgabe als Betrieb bezeichnen. Das wäre dann der weiteste Betriebsbegriff. Er hat vermutlich den Vertretern des Arbeitsrechts vorgeschwebt, die das Eingegliedertsein in einen Betrieb als Merkmal des Arbeitnehmerbegriffes verwenden wollten; denn in jede Organisation sind Menschen eingegliedert, die heute überwiegend Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechtes sein werden6 • Diese weite Fassung des Betriebsbegriffes entspricht aber nicht dem Sprachgebrauch: dann wären z. B. Kirchen, Parteien und wissenschaftliche Gesellschaften ebenfalls Betriebe. In der Regel beschränkt man den Begriff des Betriebes auf den ökonomischen Bereich. Man unterscheidet also zwischen Organisationen mit wirtschaftlichen und mit nichtwirtschaftlichen Zielsetzungen. Betriebe wären dann alle Organisationen mit wirtschaftlichen Zielsetzungen (Einzelwirtschaften). Wirtschaftliche Zielsetzungen können aber den Produktionsbereich oder den Konsumtionsbereich betreffen. Der Begriff der Einzelwirtschaft umfaßt also sowohl reine Produktionseinheiten als auch reine Konsumeinheiten. Die Konsumeinheiten werden als Haushalte bezeichnet. Es ist darüber gestritten worden, ob nicht auch die Haushalte als Betriebe anzusehen seien. Das ist im Hinblick auf die historische Entwicklung durchaus nicht abwegig. Denn am Anfang stand die "autarke Hauswirtschaft", die alle Produktions- und Konsumvorgänge für die in ihr zusammengeschlossene Gruppe von Menschen in sich vereinigte. Die wirtschaftliche Entwicklung führte aber zu einer "Entleerung" des Haushaltes, zu einer fortschreitenden Ausgliederung der Produktionsvorgänge, so daß sich bei modellmäßiger Betrachtung schließlich auf der einen Seite reine Konsumeinheiten und auf der anderen Seite reine Produktionseinheiten ergeben. Die Konsumeinheiten bezeichnet man als Haushalte und die Produktionseinheiten als Betriebe. Dieser dritte Betriebsbegriff bezieht sich also lediglich auf solche wirtschaftlichen Einheiten, die der Produktion dienen. Dabei ist allerdings Produktion nicht im technischen Sinne zu verstehen, etwa als Umformung oder Umwandlung von Stoffen, sondern im wirtschaftlichen Sinne, nämlich als Wertschöpfung. Einheiten dieser Art werden auch als Wirtschaftsbetriebe bezeichnet und daraus wurde die Bezeichnung "Betriebswirtschaftslehre" abgeleitet, nämlich 6 Nach herrschender Meinung liegt eine Organisation nur dann vor, wenn mindestens zwei Menschen zusammenwirken, weil nur in diesem Falle das Problem der Koordination auftaucht. Der Einmannbetrieb - Alleinbetrieb im Sinne von Sombart - wäre dann noch keine Organisation. Die Abstellung des Organisationsbegriffes auf das Merkmal der Koordination ist aber zu eng. Hier wird ein weiterer Organisationsbegriff verwandt, der lediglich auf das Zusammenwirken von Menschen (auch nur eines Menschen) und Sachen abstellt.

8 Festgabe KunzE'

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als Lehre vom Wirtschaftsbetrieb. Der Wirtschaftsbetrieb in diesem Sinne ist eng verwandt mit dem Begriff der Unternehmung, aber nicht ohne weiteres identisch, wie sich noch zeigen wird. Im Arbeitsrecht wird der Begriff des Betriebes noch enger gezogen. Darauf deutet in der Definition Jacobis der Hinweis auf den "technischen Zweck" des Betriebes hin. Der Wirtschaftsbetrieb braucht zur Realisierung seiner wirtschaftlichen Ziele einen technischen Apparat. Das wird am deutlichsten beim Industriebetrieb mit seinen technischen Werkstätten, gilt aber auch für den Handelsbetrieb mit seinen Einrichtungen zur Beschaffung, Lagerung und verkaufsgerechten Zusammenstellung der gehandelten Waren. Wir erhalten so vier Betriebsbegriffe von unterschiedlichem Umfang: 1. Betrieb als organisatorische Einheit schlechthin ohne Rücksicht auf das verfolgte Ziel 2. Betrieb als organisatorische Einheit mit wirtschaftlicher Zielsetzung (Einzelwirtschaften des Produktions- und Konsumbereichs) 3. Betrieb als organisatorische Einheit mit wirtschaftlicher Zielsetzung, aber beschränkt auf den Produktions-(Wertschöpfungs-) Bereich (Wirtschaftsbetrieb) 4. Betrieb als organisatorische Einheit mit technischer Zielsetzung.

Die beiden ersten Betriebsbegriffe haben lediglich logisch-systematische Bedeutung. Für unsere überlegungen kommen allein der dritte und vierte Begriff in Frage; ihre Analyse wird uns unmittelbar auf das hier interessierende Problem der Abgrenzung von Betrieb und Unternehmung führen. 2. Die Genesis des Unte-rnehmensbegriffes

Die Vieldeutigkeit sozialwissenschaftlicher Begriffe erklärt sich zu einem erheblichen Teil aus dem ständigen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, der zu einer laufenden Anpassung der Begriffsbildung zwingt. Die Begriffe haben genau wie die zugrunde liegenden Erscheinungen dynamischen Charakter. Das gilt in besonderem Maße für den Unternehmensbegriff. Als wesentliches Merkmal der Unternehmung betrachtet man heute die Marktverflochtenheit. Ziel des "autarken Betriebes" war die Selbstversorgung; Ziel der Unternehmung ist das Arbeiten "für andere", also die Belieferung des Marktes. In der Regel handelt es sich um eine zweiseitige Verflechtung, nämlich nach der Beschaffungs- und nach der Absatzseite hin. Es gibt allerdings auch Unternehmen, die scheinbar oder wirklich nur nach einer Seite hin mit dem Markt verflochten sind, etwa Bergwerksunternehmen

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nur nach der Absatzseite hin und Einkaufsgenossenschaften nur nach der Einkaufsseite hin. Die starke Betonung der Marktverflochtenheit hat vielfach die Frage aufkommen lassen, ob solche Wirtschaftseinheiten noch als Unternehmen angesehen werden könnten. Das ist natürlich eine überspitzung; entscheidend ist die Intensität der marktwirtschaftlichen Verflechtung schlechthin. Wenn man die Marktverflochtenheit allein als Merkmal der Unternehmung ansieht, dann gäbe es heute in den marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften nur noch Unternehmungen. Auch in früheren Epochen hätte es praktisch keine wirklichen "Betriebe" gegeben, denn die Betriebe des Altertums und des Mittelalters waren alle mehr oder minder marktverbunden. Der Begriff der Unternehmung taucht aber erst mit dem Ausgang des Mittelalters auf. Sombart sieht in ihr ein Geschöpf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, das im wesentlichen durch die folgenden drei Merkmale gekennzeichnet ist. Es handelt sich bei diesem neuen Typ des Wirtschaftsbetriebes erstens um die übernahme neuartiger Risiken, etwa in der Form des Fernhandels oder der massenhaften Produktion für einen anonymen Markt anstelle der handwerklichen Kunden- oder Auftragsproduktion. Das zweite Merkmal ist das Gegenstück zum ersten, nämlich der Wille, alle Gewinnchancen voll auszunutzen (Erwerbsprinzip oder Prinzip der Gewinnmaximierung). Das dritte Merkmal besteht in der Entwicklung eines betont geldmäßigen und kapitalmäßigen Denkens, das seinen vollkommensten Ausdruck in der doppelten Buchführung gefunden hat. Diese Merkmale werden heute genereller erfaßt in dem Tatbestand einer rationalen und zugleich dynamischen Wirtschaftsführung, welche die Unternehmung von den "nichtkapitalistischen" Wirtschaftsbetrieben mit traditionalen Führungsmethoden und statischer Zielsetzung unterscheidet. In dieser Sicht erscheint die Unternehmung lediglich als eine historische Erscheinungsform des Wirtschaftsbetriebes. Insofern ist also der Wirtschaftsbetrieb als der umfassende Begriff anzusehen, während der Begriff der Unternehmung nur bestimmte Erscheinungsformen des Wirtschaftsbetriebes bezeichnet, nämlich die "kapitalistisch" ausgerichteten Wirtschaftsbetriebe. Die Merkmale, nach denen diese Abgrenzung vorgenommen wurde, wechselten dabei. Soweit man das Gewinnstreben in den Vordergrund stellte, wurden öffentliche "Unternehmen" mit "gemeinnütziger" Zielsetzung ausgeklammert. Im Hinblick auf die wirkliche oder angebliche Begrenzung des Gewinnstrebens und auf die traditionellen Formen der Wirtschaftsführung sprach man in der Landwirtschaft sowie im Handwerk bewußt von "Betrieben" und nicht von "Unternehmen". Dabei wurde in der Regel auch ein Zusammenhang mit dem Kaufmannsbegriff des HGB hergestellt. 8'

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Als eigentlicher Unternehmer gilt dabei der "Vollkaufmann" mit seiner Firma, welche die Verselbständigung des Betriebes gegenüber der privaten Sphäre des Inhabers zum Ausdruck bringt, und der Verpflichtung zur Buchführung, die als rechtliche Sanktionierung der Kapitalrechnung erscheint. Unternehmungen wären dann also nur die kaufmännischen Wirtschaftsbetriebe im Gegensatz zu den nichtkaufmännischen Betrieben. Ernst Walb bezeichnete deshalb seine Lehre, die sich lediglich auf die Unternehmungen beziehen sollte, als kaufmännische Betriebswirtschaftslehre; Leitner und Rieger sprachen wegen der damit verbundenen Beschränkung auf den Bereich der Privatwirtschaft von Privatwirtschaftslehre.

3. Betrieb und Unternehmung in der modernen Unternehmenstheorie a) Funktionale Betrachtungsweise Wenn die heutige Betriebswirtschaftslehre sich als Lehre von der Unternehmung versteht und wenn ihre zukünftige Aufgabe in der Entwicklung einer umfassenden Unternehmenstheorie besteht, dann ist für sie der Unternehmensbegriff von zentraler Bedeutung. Es hat sich hier schon eine weitgehende Klärung vollzogen, so daß man es wagen kann, die Auffassung zu formulieren, die offenbar als "herrschend" anzusehen ist. Sie umfaßt zwangsläufig auch das Verhältnis des Unternehmensbegriffes zum Betriebsbegriff, da beide eng miteinander verbunden sind. Es ist dabei allerdings zwischen einer funktionalen und einer institutionellen Betrachtungsweise zu unterscheiden. Im ersten Falle wird nach den Funktionen des jeweiligen Bereiches gefragt, im zweiten Falle nach den äußeren Erscheinungsformen der Funktionsbereiche. In der arbeitsrechtlichen Literatur wird der Betrieb durch seine Zwecksetzung charakterisiert. Man spricht von dem ihm gesetzten technischen Zweck oder spezieller von den zu verfolgenden "arbeitstechnischen" Zwecken. Diese Zwecke werden auch als "unmittelbare" Zwecke bezeichnet, im Gegensatz zu den "entfernteren" Zielen, welche die Unternehmung verfolgt7. Diese entfernteren Ziele werden in unterschiedlicher Weise definiert. Jacobi spricht von der "Befriedigung eines Bedürfnisses". Rittner sieht die Aufgabe des Unternehmens darin, daß "der Mensch mit Waren und gewerblichen Leistungen versorgt" werde8 • Nikisch und Hueck sprechen von wirtschaftlichen, ideellen oder kultu7 Vgl. dazu Jacobi, a.a.O., S.9; Arthur Nikisch. Arbeitsrecht, 3. Auft., 1. Bd., Tübingen 1961, S. 148-157; Alfred Hueck, in: Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Auft., Berlin 1963, 1. Bd., S.91-97.

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Rittner, a.a.O., S.17.

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rellen Zwecken, welche die Unternehmung verfolge im Gegensatz zu den technischen Aufgaben des Betriebes. Man könnte in diesem Sinne den Betrieb als technische Einheit definieren im Gegensatz zur Unternehmung als einer wirtschaftlichen Einheit, wobei das Unternehmen als übergeordnete Einheit die Arbeitsaufgabe des Betriebes festsetzt'. Dieser Auffassung ist auch in betriebswirtschaftlicher Sicht grundsätzlich zuzustimmen. Sie bedarf aber noch der Konkretisierung, wenn man die Bereiche des Betriebes und der Unternehmung eindeutig voneinander abgrenzen möchte. Im Zusammenhang damit ist eine Ausweitung des Unternehmensbegriffes erforderlich, damit neben der privaten Unternehmung auch die öffentliche Unternehmung erfaßt wird. In der Marktwirtschaft hat jedes Unternehmen eine doppelte Aufgabe. Witte-Hauschildt sprechen in diesem Zusammenhang von Gewinnkonzeption und Leistungskonzeption10 • Die Aufgabe der privaten Unternehmung ist es, Gewinne zu erzielen. Im Modell der Marktwirtschaft ist dieses Ziel aber nur dadurch zu realisieren, daß die Unternehmung nützliche Dienste für Dritte, in der Regel für einen ausgedehnten Kreis von Leistungsempfängern, erstellt. Leistungskonzeption und Gewinnkonzeption sind insofern untrennbar miteinander verbunden. Wilhelm Rieger hat diesen Tatbestand in ironischer Absicht einmal so fomlUliert: Das Unternehmen müsse, um sein eigentliches Ziel, nämlich den maximalen Gewinn zu realisieren, "notgedrungen" produzieren. Aus der Dominanz der Gewinnkonzeption folgt, daß sich die Unternehmung in ihrer Leistungskonzeption möglichst elastisch verhalten muß. Sie wird sich am Wandel der Marktverhältnisse laufend und rechtzeitig anzupassen versuchen, ihre Produktionsprogramme und Produktionsmethoden ändern, wenn das im Hinblick auf die Erhaltung oder Erhöhung der Kapitalrentabilität erforderlich erscheint. Diese überlegungen gelten auch für öffentliche Unternehmungen, selbst wenn sie "gemeinnützige" Zwecke verfolgen, also keine Gewinnabsicht haben oder sogar Zuschüsse erfordern. Sie sind allerdings anders als private Unternehmen in bezug auf die Leistungskonzeption stärker zielgebunden. Sie können ihr Leistungsprogramm nicht ändern, wenn seine Weiterführung von den für die Zielsetzung maßgebenden politischen Instanzen "im öffentlichen Interesse" als erforderlich angesehen wird. Neben dieser Leistungskonzeption müssen sie aber 9 Herbert W. Köhler spricht etwas mißverständlich von der "wirtschaftlichen oder, noch weiter gefaßt, arbeitstechnischen" Aufgabe, die dem Betrieb als Erfüllungseinheit von dem Träger der wirtschaftlichen Planungsund Entscheidungsgewalt gestellt wird. Dieser Träger ist in der Verkehrswirtschaft die Unternehmung. Vgl. Herbert W. Köhler, "Betrieb" und "Unternehmen" in wirtschaftsverfassungsrechtlicher Sicht. JZ 1953, 71~718. 10 Eberhard Witte und Jürgen Hauschildt, Die öffentliche Unternehmung im Interessenkonflikt, Berlin 1966, S. 81 ff.

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genauso wie die privaten Unternehmen eine finanzielle Konzeption verfolgen. Das braucht keine Gewinnkonzeption zu sein; ganz allgemein handelt es sich um die ständige Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichtes. Dabei geht die öffentliche Unternehmung nach ähnlichen Prinzipien vor wie die private Unternehmung, d. h. sie bemüht sich, die ihr gesetzte Zielgröße entweder zu maximieren oder zu minimieren. Ihr Ziel kann z. B. sein, bei gleicher Leistung die anfallenden Kosten und damit den von dem öffentlichen Träger zu deckenden Zuschußbedarf zu minimieren. Es geht also hier um Verlustminimierung, die nichts anderes ist als das Gegenstück zur Gewinnmaximierung. Das Ziel der Gewinnmaximierung ist vielfach auch bei öffentlichen Unternehmen gegeben, nur daß die "Nebenbedingungen", unter denen dieses Ziel angestrebt werden kann, bei ihnen gewöhnlich eine größere Bedeutung haben als bei privaten Unternehmen. Für unsere überlegungen ist lediglich die Unterscheidung zwischen Leistungskonzeption und finanzieller Konzeption von Bedeutung, wobei die letztere vorwiegend als Gewinnkonzeption formuliert wird. Hier liegt nämlich der Ansatzpunkt für eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen betrieblichen Funktionen und Unternehmensfunktionen. Die Leistungskonzeption ist nämlich eindeutig eine Angelegenheit des Betriebes, die finanzielle Konzeption dagegen eine Angelegenheit des Unternehmens. Bei privaten Unternehmen dominiert die finanzielle Konzeption, in der Regel als Gewinnkonzeption. Im Hinblick auf diese finanzielle Zielsetzung formuliert das Unternehmen die Leistungskonzeption, die dem Betrieb als Aufgabe übertragen wird. Bei öffentlichen Unternehmen hat die Leistungskonzeption ein stärkeres Gewicht mit Rücksicht auf die gemeinwirtschaftlichen Aufgaben, die diesen Unternehmen durch politische Instanzen gestellt werden. Ausschlaggebend ist aber letzten Endes ebenfalls die finanzielle Funktion, denn ohne Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichtes läßt sich auch ein öffentliches Unternehmen im Zeitalter der Geldwirtschaft nicht durchführenl l• 11 Den Juristen mag es überraschen, daß die Dominanz der finanziellen Konzeption - im engeren Sinne der Gewinnkonzeption - nicht nur für die private, sondern auch für die öffentliche Unternehmung postuliert wird. Er wird geneigt sein, die Deckung eines volkswirtschaftlichen Bedarfs, d. h. also die Leistungskonzeption, als die primäre Aufgabe der Produktionswirtschaften anzusehen. Zu berücksichtigen ist aber dabei, daß es nicht nur auf Art und Umfang, sondern auch auf die Rationalität der Bedarfsdeckung ankommt. Diese mißt man aber in einer Marktwirtschaft, die sich der Geldrechnung bedient, am finanziellen Ergebnis. Das gilt für alle wirtschaftl:ichen Unternehmungen, nicht nur für diejenigen, die auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind, sondern auch für Unternehmen mit gemeinnütziger Zielsetzung. Diese Unterscheidung ist nicht identisch mit der Aufgliederung in private und öffentliche Unternehmen, denn auch öffentliche Unternehmen können auf Gewinnerzielung abgestellt sein und private

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Wenn die Leistungskonzeption Angelegenheit des Betriebes ist, dann ist damit auch die Zielsetzung des Betriebes eindeutig technischer Art; denn die Erstellung von Leistungen, etwa die Herstellung bestimmter Produkte oder die Erstellung von Verkehrsleistungen, ist eine technische Aufgabe. Insofern ist der Betrieb also eine technische Einheit, deren sich die Unternehmung zur Realisierung ihrer finanziellen Ziele bedient. Dabei muß allerdings der Begriff der Technik in einem sehr weiten Sinne verstanden werden12• Es zählen dazu nicht nur die Produktionstechnik der industriellen Betriebe, sondern auch der gesamte Warenfiuß in den Handelsbetrieben und darüber hinaus auch alle Verfahrenstechniken, die in den Büros angewandt werden, von den Schreibarbeiten über die Buchführung bis hin zur elektronischen Datenverarbeitung. Alles was gegenständlich und sichtbar ist, die zusammenarbeitenden Menschen und die sachlichen Hilfsmittel, ist Bestand des Betriebes. Die Unternehmung ist dagegen weitgehend abstrakt; konkret ist dabei eigentlich nur der Unternehmer1 3 • Der Betrieb hat sehr unterschiedliche technische Möglichkeiten, seine Leistungskonzeption zu gestalten, sei es im Hinblick auf das Produktionsprogramm oder auf die Produktionsmethoden. Welche dieser Alternativen gewählt wird, darüber entscheidet die Unternehmensleitung. Sie wird jene Alternative wählen, die im Hinblick auf das finanzielle Ziel der Unternehmung optimal ist. Aber diese Wahlvorgänge und die ihnen zugrunde liegenden überlegungen sind rein abstrakter Natur. Soweit sie sich konkretisieren, sind wir bereits im Bereich des Betriebes. Die Unternehmung ist, so gesehen, lediglich der Bereich der ökonomischen Entscheidung; dem entspricht die Definition des Unternehmers als "decision maker". b) Institutionale Betrachtungsweise Betrieb und Unternehmung als Funktionen, als Inbegriff von Tätigkeiten, sind immer in irgendeiner Form institutionell verankert und werden so zu Tätigkeitsbereichen. Unternehmen können gemeinnützige Ziele verfolgen, d. h. auf Gewinnerzielung verzichten. 12 Entsprechend bei Fritz Brecher. Das Unternehmen als Rechtsgegenstand, Bonn 1953, S. 117 ff. 13 Ähnlich bei Fritz Brecher, a.a.O., S. 119 und bei Curt Eisfeld, Zur Lehre von der Gestaltung der Unternehmung, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N. F., 3. Jg. (1951), S.300. "Gegenständlich" ist dabei allerdings nicht nur auf Sachen beschränkt, sondern erfaßt alle Strukturelemente des betrieblichen Geschehens, d. h. neben den Sachen auch die Dienstleistungen der beteiligten Menschen sowie immaterielle Werte, wie Produktionserfahrungen, technisches Wissen, Patente, die gut eingespielte Organisation nach innen und zum Markte hin. Vgl. dazu den Betriebsbegriff bei Jacobi, a.a.O .. S.9.

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Am einfachsten ist das wegen seines konkreten Charakters am Beispiel des Betriebes nachzuweisen. Es handelt sich hier um eine Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Arbeitsaufgabe verbunden sind. Diese bedienen sich vielfältiger sachlicher Hilfsmittel, durch die sich zwangsläufig eine gewisse räumliche Gebundenheit, ein bestimmter Standort ergibt. Der Betrieb ist also eine soziale Einheit und zugleich eine technische Einheit. Beide Merkmale sind untrennbar miteinander verknüpft, denn die Einheit der sozialen Gruppe wird allein durch die gemeinsame technische Aufgabe hergestellt. Der Betrieb bildet - abgesehen von dem Grenzfall des Einmannbetriebes - immer eine soziale Gruppe, die charakterisiert ist durch ihre hierarchische Struktur. Diese ergibt sich notwendig aus der Zweckausrichtung der Gruppe; der Zweck läßt sich in der Regel nur in einem System der über- und Unterordnung verwirklichen. Die Gruppe braucht einen Leiter, der Anordnungsrechte besitzt. In dieser Gruppe konkretisiert sich das für unsere Wirtschaftsordnung charakteristische Arbeitgeber/Arbeitnehmer-Verhältnis. Für das Funktionieren der Gruppe sind also die Probleme von Autorität und Disziplin von ausschlaggebender Bedeutung14• Um eine derartige Gruppe, die für sich einen selbständigen Betrieb darstellt, von anderen gleichartigen Gruppen abzugrenzen, hat man den Begriff der Betriebsgemeinschaft formuliert. Sie wird von den Vertretern des Arbeitsrechts als Interessengemeinschaft zwischen den Gruppenangehörigen interpretiert - im Gegensatz zu einer Vermögens- oder einer Gewinngemeinschaft -, wobei sich das gemeinschaftliche Interesse aus der allen gemeinsam gesetzten Arbeitsaufgabe ergibt. Diese Gemeinsamkeit der Interessen ist die eigentliche Rechtsgrundlage für die Mitwirkung und Mitbestimmung aller Gruppenangehörigen, also auch der Arbeitnehmer, an der Ordnung des Arbeitsablaufes im Betrieb, wie sie in den gesetzlichen Bestimmungen über Betriebsräte und Betriebsverfassungen geregelt wurde t5 . Der Betrieb wird nicht nur in persönlicher Beziehung, sondern auch als Sachzusammenhang konstituiert durch die ihm gesetzte technische Aufgabe. Zu einem einheitlichen Betrieb zählen alle Betriebsstellen, die durch einen zusammenhängenden technischen Prozeß miteinander verbunden sind. Allerdings bedarf diese allgemeine Formulierung noch der Konkretisierung. Denn der technische Zusammenhang zwischen den Betriebsstellen kann von unterschiedlicher Intensität sein. 14 Vgl. dazu Oswald von Nell-Breuning, Unternehmensverfassung. In: Das Unternehmen in der Rechtsordnung. Festschrift für Heinrich Kronstein. Herausgegeben von Kurt H. Biedenkopf, Helmut COing und E. J. Mestmäcker, Karlsruhe 1967, S.47--48. 15 Hueck, a.a.O., S.95.

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Bei welchem Intensitätsgrad kann man noch von einem einheitlichen Betrieb sprechen und wann liegen selbständige Betriebe vor? Man knüpft dabei an zwei Merkmale an. Das erste ist die einheitliche technische Leitung; dieses Merkmal reicht allerdings nicht aus, da wir in jedem Unternehmen und in den ihm eingeordneten Betrieben eine Leitungshierarchie haben. Auch die unselbständige Betriebsabteilung, z. B. die Reparaturwerkstätte, hat einen Meister als technischen Leiter und wird dadurch noch nicht zu einem selbständigen Betrieb. Hinzu kommt als zweites Merkmal der räumliche Zusammenhang, zumindest die räumliche Nähe. Sie ist ein Indiz dafür, ob in den verschiedenen räumlich zusammenliegenden Betriebsstellen tatsächlich ein zusammenhängender technischer Prozeß abläuft. Bei großer räumlicher Entfernung der Betriebsstellen voneinander muß man annehmen, daß der technische Zusammenhang den erforderlichen Intensitätsgrad nicht erreicht, daß es sich also um selbständige Betriebe handelt. Die Betonung des räumlichen Zusammenhanges für die Angrenzung eines Betriebes ergibt sich aber nicht allein aus der Frage nach der Eigenständigkeit der technischen Aufgabenstellung, sondern auch im Hinblick auf soziale Erfordernisse. Offenbar spielt dabei die Vorstellung mit, daß eine Betriebsgemeinschaft sich nur in einer Gruppe von Menschen bilden könne, die sich von Angesicht kennen, also nur in einer primären Gruppe (face-to-face-group) im soziologischen Sinne. Diese Voraussetzung ist aber nur gegeben, wenn die einzelnen Betriebsstellen, die als einheitlicher Betrieb behandelt werden sollen, räumlich eng miteinander verbunden sind. Die Bedeutung dieses soziologischen Merkmals zeigt sich bei der räumlichen Zusammenfassung mehrerer Produktionsstufen innerhalb eines Werkkomplexes, etwa der Roheisengewinnung, der Stahlproduktion und der Herstellung von Walzprodukten in einem Hüttenwerk. Arbeitsrechtlich wird man das ganze Hüttenwerk in der Regel als einen einheitlichen Betrieb ansehen und behandeln. Sicherlich bestehen hier zum Teil sehr enge technische Zusammenhänge; deren Intensität kann sich aber, z. B. im Walzwerksbereich, erheblich vermindern. Wenn der gesamte Werkkomplex arbeitsrechtlich als einheitlicher Betrieb behandelt wird, dann ist dabei die soziologische Betrachtungsweise offenbar ausschlaggebend. Die Praxis verwendet in diesem Falle den Begriff des Betriebes oft in einem engeren Sinne als das Arbeitsrecht. Adolf Müller unterscheidet in den Allgemeinen Regeln zur industriellen Kostenrechnung zwischen Betrieb (technischer Fertigungsbereich mit eigener technischer Leitung und geschlossenem Erzeugungsprogramm) und Werk (Zusammenfassung örtlich zusammenhängender Betriebe zu einer Verwal-

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tungseinheit)16. Der Betrieb ist dabei in erster Linie Abrechnungseinheit, d. h. ein selbständiger Abrechnungsbezirk im Rahmen des betrieblichen Rechnungswesens. Ein solcher Abrechnungsbezirk braucht im technischen Sinne nicht selbständig und unabhängig von den vorgeschalteten und nachgeschalteten Betriebseinheiten zu sein. Das zeigt sich besonders deutlich bei einem Hüttenwerk, bei dem die Werkstoffe auf allen Produktionsstufen kontinuierlich ("in einer Wärme") bearbeitet werden. Hier ist das Werk diejenige technische und soziale Einheit, die arbeitsrechtlich als Betrieb anzusehen ist. Entscheidend ist in diesem Falle der soziologische Aspekt: die Angehörigen des Hüttenwerkes betrachten sich als eine Gemeinschaft, deren gemeinsame Interessen durch die gemeinsame technische Aufgabe bestimmt werden. Die Unternehmung ist wegen ihres abstrakten Charakters institutionell nicht so leicht abzugrenzen wie der Betrieb. Man kann dabei einmal anknüpfen an ihr Verhältnis zum Betrieb und zum anderen an ihre Rechtsform, an die Rechtseinheit, die in der Firma zum Ausdruck kommt. Der Betrieb ist für das Unternehmen ein notwendiges Instrument, wenn es seine finanziellen Ziele realisieren will. Ein Unternehmen ohne einen solchen betrieblichen Unterbau ist nicht vorstellbar. Dabei kann, institutional gesehen, das Unternehmen nur über eine einzige Betriebsstätte verfügen oder auch mehrere selbständige Betriebe in seinen Dienst stellen. Demgemäß unterscheiden wir einbetriebliche und mehrbetriebliche Unternehmen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß es nicht möglich ist, die Unternehmung völlig losgelöst vom Betrieb als eigenständige Institution zu betrachten. In diesem Falle wäre sie eine bloße Entscheidungseinheit, aber kein soziales Gebilde. Ursprüngliches soziales Gebilde ist sicherlich der Betrieb. Aber die Betriebsangehörigen sind gleichzeitig Unternehmensangehörige, da das Unternehmen den Betrieb umfaßt. Dieser Zusammenhang kommt in mehrbetrieblichen Unternehmen in der Einrichtung des Gesamtbetriebsrats zum Ausdruck. Funktionallassen sich betriebliche und unternehmerische Tätigkeit eindeutig voneinander trennen; institutional ist aber die Trennung von Betrieb und Unternehmen nicht möglich, weil jedes Unternehmen konkret immer nur durch seinen Betrieb oder seine Betriebe verkörpert wird. Dazu kommt, daß betriebliche und unternehmerische Tätigkeit auch im Hinblick auf den persönlichen Träger untrennbar miteinander verknüpft sind. Unternehmerische Entscheidungen werden nicht nur durch die Unternehmensleitung gefällt. Das beweist die Delegation von Ent16 Allgemeine Regeln zur industriellen Kostenrechnung, Stuttgart 1942, S.50.

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scheidungsgewalt, die ein selbstverständliches und unentbehrliches Instrument der Unternehmungsführung ist. Diese Delegation vollzieht sich nicht nur im Verhältnis der oberen zur mittleren Führungsebene, sondern in abgestufter Form bis hinunter auf die Betriebsebene. Bei dezentralisierter Organisation überläßt man den ausführenden Kräften vielfach Entscheidungen, die sich nicht nur auf die technische Rationalität ihrer Werkverrichtung beziehen, sondern weitgehend auch auf die ökonomische Rationalität. Das zeigt sich schon daran, daß man Entgeltsysteme entwickelt hat, bei denen wirtschaftlich richtiges Verhalten über die rein technische Leistung hinaus zusätzlich entlohnt wird. Das Unternehmen ist also keine abstrakte Entscheidungseinheit oberhalb der Betriebssphäre; unternehmerische Funktionen sind vielmehr eng mit den betrieblichen Tätigkeiten verknüpft, und zwar sowohl sachlich als auch personell. Eine weitere Möglichkeit, die Unternehmung umfangmäßig zu bestimmen, ist die Rechtsform. Alle Geschäfte und Tätigkeiten, die unter der Firma des Rechtsträgers abgewickelt werden, gehören zu diesem Unternehmen. Wenn man aber die Unternehmung in erster Linie als Entscheidungseinheit betrachtet, dann kommt es für seinen Umfang weniger auf den rechtlich-formalen Rahmen an, als auf die Reichweite der tatsächlichen Entscheidungsgewalt. Für derartige Einheiten hat das Aktienrecht den Begriff des Konzerns entwickelt. Er umfaßt mehrere rechtlich selbständige Unternehmen, die durch eine einheitliche Leitung zusammengefaßt sind, wobei Leitung identisch ist mit Entscheidungsgewalt. Der Konzern ist aber nur eine Erscheinungsform dieser Gebilde, die den Rahmen des ursprünglichen Unternehmensbegriffes sprengen. Genannt seien daneben die multinationale Unternehmung, die Betriebsstätten oder abhängige Unternehmen in den verschiedensten Teilen der Welt besitzt, oder das Konglomerat-Unternehmen, das eine Fülle unterschiedlichster Einzel-Unternehmen in sich vereinigt. Bei einem solchen Konglomerat behalten die darin zusammengefaßten Unternehmen vielfach ihre volle Entscheidungsfreiheit im untemehmerischen Bereich, etwa in bezug auf Produktionsprogramme und Investitionen. Gefordert wird von ihnen lediglich ein möglichst hoher finanzieller Erfolg. Die Einzelunternehmen sind also in einem solchen Falle nicht nur rechtlich, sondern auch wirtschaftlich weitgehend selbständig. Man wird hier fragen müssen, ob die übergeordneten Gebilde, z. B. multinationale Unternehmen oder Konglomeratunternehmen noch. als Unternehmen im üblichen Sinne bezeichnet werden können, insbesondere ob sie den Charakter eines sozialen Gebildes haben, dessen Angehörige sich als eine Gemeinschaft analog der Betriebsgemeinschaft empfinden können? Diesen Gemeinschaftscharakter kann man ohne weiteres bejahen bei einem einbetrieblichen Unternehmen. Bei mehr-

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betrieblichen Unternehmen bestehen kaum Bedenken, wenn die Leistungsstruktur des Ganzen eine gewisse Einheitlichkeit aufweist. Das gilt auch für den Fall, daß dieses Unternehmen nicht als rechtliche Einheit, sondern konzernmäßig organisiert ist. In allen diesen Fällen besteht neben den Betriebsgemeinschaften, die in den einzelnen räumlich verbundenen Betriebsstellen gegeben sind, noch eine umfassende Unternehmensgemeinschaft (ein Unternehmensverband), die durch einen Gesamtbetriebsrat oder durch Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsorgan repräsentiert werden kann. Wo aber der nationale und der branchenmäßige Rahmen so weit gesprengt wird wie bei den oben genannten Formen, wird es kaum möglich sein, noch von einem einheitlichen sozialen Gebilde zu sprechen. Hier ergibt sich eine ganz neuartige Problematik, die weit über eine Mitwirkung der Arbeitnehmer im betrieblichen Bereich oder dem üblichen Unternehmungsbereich hina usgreift17• III. Schlußfolgerungen für das Betriebs- und das Untemehmensverfassungsrecht Bei der Diskussion um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer unterscheidet man zwischen der Mitbestimmung in personellen und sozialen Angelegenheiten auf der einen und der wirtschaftlichen Mitbestimmung auf der anderen Seite. Die erste wird weitgehend gleichgesetzt mit betrieblicher Mitbestimmung18, die durch eine Betriebsverfassung zu regeln ist, die zweite mit der Mitbestimmung im Unternehmen, die Aufgabe einer Unternehmensverfassung wäre. Es wird vielfach die Auffassung vertreten, eine Mitbestimmung in der Unternehmung, d. h. also die wirtschaftliche Mitbestimmung, sei mit der Eigentums17 Man hat versucht, die wirtschaftliche Verknüpfung dieser Unternehmen höherer Ordnung mit Hilfe der Bilanz zu erfassen. In diesem Zusammenhang spricht man von dem Unternehmen als Bilanzeinheit. Die Bilanzeinheit ist dann aber nichts anderes als eine Eigentfunereinheit; Ziel der Bilanzaufstellung ist die Ermittlung des Eigenkapitals, das den Wert des Eigentums darstellen soll. Dabei kann es sich aber um eine bloße Verm.ägensmasse handeln, bei der ein Zusammenhang lediglich durch den gemeinsamen Eigentümer gegeben ist. Man wird deshalb mit Recht bezweüeln, ob eine Eigentümer- und Bilanzeinheit dieser Art als Unternehmen bezeichnet werden kann. 18 Neuerdings fordert man als Alternative zur wirtschaftlichen Mitbestimmung eine Verstärkung der "Mitbestimmung am Arbeitsplatz". Im Hinblick darauf hat Nell-Breuning eine Stufenleiter des Mitbestimmungsrechtes entwickelt, die mit der Mitbestimmung am Arbeitsplatz beginnt und über die betriebliche Mitbestimmung zur Mitbestimmung in der Unternehmung und der Mitbestimmung in der Volkswirtschaft führt. In der Regel meinen aber die Vertreter einer verstärkten Mitbestimmung am Arbeitsplatz eine Ausdehnung der betrieblichen Mitbestimmung. Vgl. dazu Oswald von Nell-Breuning, Mitbestimmung, Frankfurt a. M. 1968, S.21-25.

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ordnung oder den Grundsätzen unserer Wirtschaftsordnung nicht vereinbar. Rechtfertigen ließe sich in diesem Rahmen lediglich eine Mitbestimmung im betrieblichen Bereich. Auf Grund unserer vorangegangenen Analyse über die Stellung von Betrieb und Unternehmung in der modernen Unternehmenstheorie soll geprüft werden, ob es möglich und tragbar ist, beide Bereiche eindeutig voneinander zu trennen und auf diese Weise die Mitbestimmung auf den betrieblichen Bereich zu beschränken. Falls das bejaht würde, müßte allerdings auch das bestehende Betriebsverfassungsgesetz geändert werden, da es mit seinen Vorschriften über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (§§ 76 und 77) über den Betriebsbereich hinaus in den Unternehmensbereich übergreift. Es soll auf Grund unserer Analyse zunächst geprüft werden, ob die eindeutige Abgrenzung zwischen Betriebs- und Unternehmensbereich möglich ist. Gedanklich läßt sich zwar eine klare Unterscheidung zwischen betrieblichen und unternehmerischen Funktionen machen. Institutionell ist aber eine solche Grenzziehung unmöglich, weil das Unternehmen sich immer nur in seinen Betrieben konkretisiert. Auch personell ist die Trennung nicht durchführbar; denn Entscheidungen wirtschaftlicher Art werden nicht nur durch die Unternehmensleitung gefällt, auch nicht allein durch das Management im weitesten Sinne (oberste, mittlere und untere Führungsschicht), sondern in gewissem Umfang auch durch ausführende Kräfte, die keine Leitungsfunktionen irgendwelcher Art ausüben. Insoweit sind also technische und ökonomische Aktivitäten untrennbar miteinander verknüpft und das gemeinsame Interesse der Beteiligten bezieht sich also nicht nur auf den technischen Bereich (des Betriebes), sondern auch auf den ökonomischen Bereich (der Unternehmung). Selbst wenn man aber von der Annahme ausgeht, der betriebliche Bereich ließe sich sowohl sachlich als auch personell eindeutig von dem Unternehmensbereich trennen, dann wäre noch zu prüfen, ob eine Beschränkung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf den Bereich des Betriebes vertretbar ist. Unsere Analyse hat ergeben, daß die finanzielle Konzeption der Unternehmung gegenüber der Leistungskonzeption dominiert. Dem Betrieb werden die Aufgaben und Ziele durch das Unternehmen gesetzt. Die für die Existenz des Betriebes maßgebenden Entscheidungen fallen also in der Unternehmung. Wenn man die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf den Betriebsbereich beschränkt, dann schließt man die Belegschaft praktisch von allen wirklich bedeutungsvollen Entscheidungen aus. Das gilt auch für die Entscheidungen, die für die Gestaltung des Betriebsablaufs bestim-

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mend sind. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer würde sich lediglich auf die Folgewirkungen derartiger Entscheidungen beziehen. Eine solche Regelung ist aber mit dem Gedanken der Interessengemeinschaft aller Betriebsangehörigen nicht vereinbar. Es ist insofern kein Zufall, daß man schon im Betriebsrätegesetz von 1920 und noch deutlicher im Betriebsverfassungsgesetz von 1952 den Arbeitnehmern über die betriebliche Mitbestimmung hinaus die Möglichkeit gegeben hat, bei Entscheidungen im Rahmen der Unternehmung mitzuwirken. In beiden Fällen beschränkte sich der Gesetzgeber also nicht auf die Verfassung des Betriebes, sondern ergänzte sie durch Ansätze zu einer Verfassung der Unternehmung. Das Problem liegt darin, ob man diese Ansätze weiterentwickeln und die Betriebsverfassung durch eine systematisch ausgebaute Unternehmensverfassung ergänzen soll. Dabei entstehen schwierige Probleme aus der Entwicklung, die das Unternehmen in den letzten Jahrzehnten genommen hat und die in der Entstehung des Großunternehmens, des Konzerns, des multinationalen Unternehmens und des Konglomerat-Unternehmens sichtbar werden. In diesen Gebilden erscheint die Repräsentation des Arbeitnehmerinteresses nur als Sonderfall, neben dem die Vertretung anderer Interessen, insbesondere die des öffentlichen Interesses, verstärkte Bedeutung gewinnt. Die Unternehmensverfassung ist dann nicht allein eine Angelegenheit von Anteilseignern und Arbeitnehmern. Notwendig ist vielmehr eine pluralistische Unternehmensverfassung, in der alle legitimen Interessen an dem Unternehmensgeschehen gebührende Berücksichtigung finden 19 •

19 Otto Kunze, Von der wirtschaftlichen Mitbestimmung zur Unternehmensverfassung. In: Gewerkschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1963,

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trber Unternehmensziele Von Konrad Duden Die folgenden Zeilen wollen einem Anliegen dienen, das auch den Jubilar immer beschäftigt hat: wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Gedanken aufeinander abzustimmen. Als Gegenstand wählen wir ein Thema, das wirtschaftswissenschaftlich neuerdings lebhaft diskutiert wird, in der Rechtswissenschaft dagegen eher vernachlässigt erscheint; die Zielsetzung von Wirtschaftsunternehmen.

1. Die Wirtschaftswissenschaft versteht Wirtschaften als Befriedigung menschlicher Bedürfnisse mit Mitteln, die knapp sind und darum zu größtmöglicher Bedürfnisdeckung methodisch, rational, "optimal" eingesetzt werden müssen. Hier handelt es sich um das objektive Ziel, den Sinn wirtschaftlichen Handeins überhaupt. Etwas anderes sind die subjektiven Zielsetzungen derjenigen, die wirtschaften. Die Betriebswirtschaftslehre ist wohl längere Zeit ziemlich unkritisch vom Modell des eindeutig erwerbswirtschaftlich interessierten Eigentümer-Unternehmers ausgegangen, der nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse anderer ausgeht, sondern umgekehrt diese als Mittel nimmt, seinen Besitz zu mehren, d. h. seine eigene Bedürfnisbefriedigung zu bessern, und zwar soviel als möglich ("Gewinnmaximierung"). Gelingt ihm dies nicht, kümmert ihn die Bedürfnisbefriedigung der anderen nicht und er läßt das Wirtschaften. Es wird angenommen, daß dann andere an seine Stelle treten, die es vielleicht sogar besser machen. Der Gesamtwirtschaftserfolg kommt doch zustande. Die Bedürfnisbefriedigung aller geschieht durch objektive Gesetzmäßigkeiten, die sich ohne ihren Willen aus dem Wirtschaften der vielen einzelnen Wirtschafter ergeben. Makro- und Mikroökonomie, Volks- und Betriebswirtschaft sind zwei Welten. Diese Position ist von mehreren Seiten her in Frage gestellt wordenl • Erstens ergab die Beobachtung der Wirtschaft, auch ohne den Blick in die Geschichte und auch ohne Heranziehung anderer als der uns 1 Vgl. zum folgenden v. a. Edmund Heinen, Das Zielsystem der Unternehmung, 1966 und Kirsch, Gewinn und Rentabilität, 1968 mit Einführung durch E. Heinen.

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vertrauten Wirtschaftssysteme, unterstützt durch Psychologie und Soziologie, vielleicht sogar Anthropologie, daß die Zielvorstellungen wirtschaftender Menschen sehr mannigfaltig sind. Neben das Erwerbsstreben treten Macht- und Prestigestreben, Fürsorgestreben und anderes. Dabei brauchte man aus dem Kreis der Eigentümer-Unternehmer noch gar nicht herauszutreten. Zweitens hat man begonnen, als einen wichtigen Zweig der Wirtschaft die Wirtschaftsbetriebe der öffentlichen Hand ebenso zum Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zu machen wie die "privaten", und es zeigte sich, daß hier neben der auch vorkommenden Erwerbstendenz ein ganz anderes Prinzip herrscht. Sie zielen unmittelbar darauf, bestimmte Bedürfnisse der Menschen bestimmter Kreise zu befriedigen. Sie beherrscht nicht das "Erwerbs"-, sondern das "Bedarfsdeckungs"- oder das "Dienstprinzip"2. Vor allem an historischen Beispielen (zunftmäßige Wirtschaft und ähnliches) zeigt man dazu noch drittens den Typ einer Unternehmung, die nicht öffentlich nach der Inhaberschaft und auch nicht zu einer öffentlichen Bedarfsdeckung geschaffen ist, die aber nicht "erwerbswirtschaftlich" arbeitet, jedenfalls wenn man darunter das Streben nach der "Maximierung" des Erfolgs versteht wie die Betriebswirtschaftslehre das herkömmlich tat und vielleicht darum tun muß, weil sich möglicherweise nur von diesem Maximierungspostulat quantitativ auf einzuschlagende Methoden schließen läßt - es sei dahingestellt, ob dies zutrifft -. Man spricht von einem "Angemessenheitsprinzip" und stellt es als drittes neben Erwerbs- und Dienstprinzip 3. Mir scheint, daß viertens hier neuerlich noch ein ganz anderer Typ der Zielsetzung von Unternehmungen aufzuführen wäre: Die Zielvorstellung der Erwerbsunternehmung (s. oben) liegt ganz in ihr selbst oder bei ihrem Inhaber; gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge spielen für sie grundsätzlich keine Rolle, es sei denn als Daten für ihre Entscheidungen. Die "berufsständische" Unternehmung mit dem "Angemessenheitsprinzip" erscheint schon stärker von vornherein in die Gesamtwirtschaft eingebunden. Die öffentliche Unternehmung will ein öffentliches Bedürfnis, Bedürfnisse vieler befriedigen; der Kreis derer, denen sie dient, kann kleiner oder größer sein - Straßenbahn X, Bundesbahn! -, doch ist sie wohl auch in der größten Spezies immer noch mit ihrer Zielsetzung in einem Kontrast zur 2 Vgl. Karl Oettle, 'Ober den Charakter öffentlich-rechtlicher Zielsetzungen, Z. f. handelswissenschaftliche Forschung, N. F. Heft 3/1966. 3 Vgl. Erich Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, 19. Auflage, S. 463 ff. (wo aber anstelle des "Dienstprinzips" das "Prinzip plandeterminierter Leistungserstellung" erscheint); Oettle, a.a.O., S. 252, 254 und

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Gesamtwirtschaftsführung; sie ist auch deren Gegenstand wie die vielen kleineren Wirtschaftseinheiten aller Arten. Aber nun taucht ein Fall auf, bei dem dieser Kontrast ganz zu verschwinden scheint. Ich denke an das im Markt, also neben Erwerbsunternehmen, gemeinwirtschaftlich arbeitende Unternehmen, wie es insbesondere Walter Hesselbach vorstellt. Seine Zielsetzung soll nichts anderes sein als die Durchsetzung gesamtwirtschaftlicher Ziele, durch Vorbild, durch Wettbewerb als "Gegenmacht gegen Marktverkrustung", zur Beseitigung von Oligopolrenten, als Test- oder Bahnbrecher-Unternehmen, als Helfer der (makroökonomischen) staatlichen Wirtschaftspolitik, die sie sogar teilweise ersetzen kann, wodurch sie den "staatsfreien Raum" erweitert". Bei uns ist ein solcher wirtschaftspolitischer Einsatz öffentlicher Unternehmen oder Beteiligungen bis heute eine Ausnahme. Anderswo aber wird er schon systematisch und einheitlich durchgeführt mit vielen Einzelunternehmen5 • 2. Bis hierher handelt es sich um beobachtete Unterschiede der Zielsetzungen - "Oberziele" im Gegensatz zu spezielleren wie Rendite, Sicherheit u. dgl. -, aus denen die Betriebswirtschaftslehre unterschiedliche Empfehlungen für das Verhalten des Wirtschaftenden ableiten kann. Die ursprüngliche Einfachheit der Prämissen wird aber offenbar noch in ganz anderer Weise gestört: Bis hierhin sind der das Ziel setzende Wirtschaftende und der Empfänger der betriebswirtschaftlichen Empfehlungen identisch, und ferner wird die Zielsetzung als beständig, nicht wechselnd gedacht. Dieses Subjekt ist der Kapital einsetzende lJ,nd über das Wirtschaften mit ihm bestimmende Eigentümer-Unternehmer. Soweit er dem Erwerbsprinzip folgt, geht es um das Ergebnis dieses Kapitaleinsatzes für ihn. Die Empfehlungen der Betriebswirtschaftslehre sind an einer bestimmten Entwicklung seines "Residualfaktorhaushalts" orientiert, für den alle Leistungen an Andere, im Unternehmen Arbeitende und Dritte, nur Negativposten bilden. Nun aber trennen sich Kapitalinhaberschaft und Unternehmensführung. Der Vorgang ist so oft beschrieben worden, daß wir auf ihn selbst nicht mehr einzugehen brauchen. Die Rechtsvergleichung lehrt, daß die wirtschaftliche Korporation, die die meisten großen Unternehmen trägt und die bei uns sehr lange rein als Kapitaleignergemeinschaft gedacht und ausgebildet war, anderswo von Anfang an nicht so einfach verstanden wurde, vielmehr diese Spannung Gesellschafter " Vgl. W. Hesselbach, Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Der Beitrag der Gewerkschaften zu einer verbraucherorientierten Wirtschaftspolitik, 1966 und Das nicht erwerbswirtschaftlich orientierte Marktunternehmen in Festschr. v. Eynern, 1967, S. 457 ff. r; Vgl. z. B. Reimer Schmidt in Planung III (s. Arun. 16), S. 291 ff. 9 Festgabe Kunze

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(Kapitalgeber) - Unternehmensleiter von vornherein enthielt8 • Hier ist es nun gar nicht mehr der Eigentümer-Unternehmer, ein Einzelner oder eine noch als Aktionseinheit denkbare kleine Eigentümer-Gruppe, sondern ein viel komplizierteres Gebilde, dessen wirtschaftliches Verhalten normiert werden soll. Es wird weiter kompliziert durch das Miteintreten der Arbeitnehmer in die Willensbildung, möglicherweise auch von Vertretern des politischen Gemeinwesens. Es handelt sich um ein "politisches System", in dem sich mehrerlei Interessen und Strebungen begegnen; es ist unter Umständen umkämpft, Veränderungen der Einfiußstärken ausgesetzt. Und der Bezugspunkt der quantitativen Rezepturen ist nun nicht mehr ein einfacher "Residualfaktorhaushalt", sondern ein "Maximierungszentrum", das eine Mehrheit von "Residual"- und "Kontrakt-Faktor-Haushalten" repräsentiere. Die Leistungen für andere als den oder die Kapitaleigner, z. B. an die Arbeitnehmer, sind in Wahrheit nicht mehr einfach Negativposten im Gegensatz zum Kapitalgewinn. Umgekehrt erscheint die Ausschüttung an die Kapitaleigner eher auch als einer der Negativposten der Unternehmung statt als das Positivum, auf das alles hinstrebt. Nur die Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung, wie sie heute gesetzlich vorgeschrieben sind, gehen noch rein vom Kapitaleignerhaushalt aus; die eigentlich heute gebotene Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung der Unternehmung im ganzen gibt es noch nicht. 3~ Die beschreibende Betriebswirtschaftslehre zeigt also auf, daß es in der Wirtschaft die verschiedensten Zielsetzungen von Einzelwirtschaften gibt und daß auch das Subjekt - dessen E.c.tscheidungen dann durch die Empfehlungen der Betriebswirtschaftslehre bestimmt werden sollen - verschiedener Art sein kann, was auf die Formulierung dieser Empfehlungen zurückwirkt. M. a. W., für die Betriebswirtschaftslehre als eine an gewandte, normative Wissenschaft, die sagt, wie man handeln soll, was sie wohl als ihre Hauptaufgabe jetzt wie früher versteht - wie die Medizin die Therapie auf der Grundlage ihrer Diagnose, der Anatomie usw. -, sind die Zielsetzungen und das "politische System" der Unternehmungen, von denen die Zielsetzungen ausgehen, Daten, auf die sich ihre Untersuchung und Empfehlung gründet.

Welche Zielsetzungen aber möglich sind und welche "politischen Systeme" in den Unternehmungen bestehen können, ist nicht mehr 8 Zum Gedanken des dreifachen Vertrags in der Korporation (Gesellschafter - Gesellschafter, Gesellschafter - Gesellschaft und noch Gesellschaft - Staat) vgl. z. B. v. FaUcenhausen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Mehrheitsherrschaft nach dem Recht der Kapitalgesellschaften, 1967, 159 ff. (Rez.Duden, RabelsZ 32, 1968, 572). 7 Vgl. z. B. Kirsch, a.a.O., S. 103 ff.

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Sache dieser Wissenschaft. Es ist klar, daß es Sache andrer Normen ist, hierauf die Antwort zu geben. Es kann sich um "rechtsfreien Raum" handeln, möglicherweise durch Sitte und Brauch in gewissen Beziehungen geordnet. Es gibt aber auch rechtliche Regelungen der Zielsetzungen der Einzelwirtschaften, wie andererseits der Gesamtwirtschaft - siehe unser Stabilisierungsgesetz von 1967 -. Und es gibt bekanntlich die rechtliche innere Ordnung der Unternehmen, "Betriebs"-Verfassung im weitesten Sinne, insbesondere natürlich einschließend die berührten Fragen nach der Arbeitnehmer-Mitbestimmung wie schon die nach dem Verhältnis von Kapitaleigner und Management. Hier beschäftigen wir uns des näheren weder mit der rechtlichen Vnternehmensorganisation noch mit makroökonomischen rechtlichen Zielgeboten, vielmehr nur - in der Parallele zu der erwähnten Bemühung der Betriebswirtschaftslehre - mit rechtlichen Bestimmungen der Zielsetzung der einzelnen Wirtschaftsunternehmen. 4. Wir haben im Recht, speziell soweit es vom Wirtschaften handelt, Bestimmungen über Zielsetzungen von verschiedener Art: a) Von alters her gibt es kategoriebildende Zielbegriffe. Sie sind Tatbestand bestimmter Normen, die an Bestehen oder Nichtbestehen der in Rede stehenden Zielsetzung bestimmte Rechtsfolgen knüpfen. Der Verein mit wirtschaftlicher Zielsetzung - wie immer man diese des näheren definiert - hat nicht die Gründungsfreiheit gemäß § 21 BGB. Eine Vereinigung, die nicht die Wirtschaft ihrer Mitglieder fördern, sondern nur selbst wirtschaften will, kann nicht Genossenschaft im Sinne des GenG werden (§ 1 GenG). Und so fort. Im älteren Privatrecht unseres Bereichs war die Bindung bestimmter Rechtsformen an bestimmte Zielsetzungen der Beteiligten noch häufiger als heute. Im österreichischen aBGB setzt z. B. das Gesellschaftsrecht der Art. 1175 ff. den Erwerbszweck voraus; §§ 705 ff. BGB und Art. 530 des schweizerischen Obligationsrechts dagegen sind anwendbar auf jedes Handeln zu gemeinsamem Zweck, gleich welcher Art dieser ist. Wir berühren hier ein allgemeines Problem des Vereins- und GeseIlschaftsrechts, darüber hinaus des Organisationsrechts überhaupt. Das Recht schwankt, geht vor und zurück vor der Frage, ob den Rechtsgenossen bestimmte Formen ihrer OrganisatIon mehr nach ihrem Belieben oder mehr unter der Voraussetzung geboten werden sollen, daß sie diese Formen zu bestimmten Zwecken verwenden wollen. Der italienische Codice Civile, der das Gesellschaftsrecht in sein Buch V über die "Arbeit" einordnet, kennt wieder nur die Gesellschaft, auch die "einfache", mit wirtschaftlichem Zweck (Art. 2247 ff.). Unsere privatrechtliche rechtsfähige Stiftung nach §§ 80 ff. BGB und Landes9·

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recht steht für alle Zwecke zur Verfügung. Pleimes aber sah darin den Erfolg von "Irrwegen der Dogmatik des Stiftungsrechts" im 19. Jahrhundert: so der Titel seiner Schrift von 1939 (veröffentlicht 1954). Auf diesem Irrweg habe man den Unterschied von "Anstalts"- und "Hauptgeld"- (gleich "Kapital"-)Stiftung verwischt, in welchen beiden Typen das ältere Recht verschiedene Stiftungsaufgaben mit verschiedenen Rechtsformen verband. Neuerlich haben wir eine ähnliche Diskussion in bezug auf die Rechtsform, in der öffentliche Unternehmen geführt werden sollen, und zwar weil _. und soweit - die Tendenz der Aktivität dieser Unternehmen anders sei als die für Handelsgesellschaften mindestens unterstellte. In den fünfziger Jahren diskutierte man lebhaft, und interessanterweise stellt man nach einer Pause heute wieder nachdrücklich die Frage8 , ob nicht für diese Zwecke, neben Eigenbetrieb und Zweckverband eine weitere öffentlich-rechtliche Organisationsform zur Verfügung gestellt werden solle, und zwar zur Ersetzung der auch in diesem Bereich immer beliebter werdenden AG oder GmbH, - wobei offen bleibt, ob man diese Formen dann für diese Fälle verbieten oder ebenfalls noch zur Verfügung halten will. Immer kommt der Wunsch zum Ausdruck, die Rechtsformen möglichst fest bestimmten Lebenssachverhalten zuzuordnen, und diese sieht man wesentlich gekennzeichnet durch die Zielrichtung der agierenden Personen. b) Von anderer Art sind imperative Zielvorschriften, die, wenn bestimmte Sachverhalte gegeben sind, d. h. speziell bestimmte Organisationen bestehen, die Ausrichtung von deren Tätigkeit in bestimmtem Sinne fordern: § 70 Abs. 1 AktG 1937 und auch noch § 71 Abs. 1 des 1958 vom Bundesjustizministerium veröffentlichten Referentenentwurfs des neuen AktG forderten (in der Fassung von 1958) die "Leitung der Gesellschaft wie das Wohl des Unternehmens, seiner Arbeitnehmer und der Aktionäre sowie das Wohl der Allgemeinheit es fordern". Im Regierungsentwurf von 1960 verschwand diese Zielvorschrift, und zwar, nach der Begründung des Entwurfs, als eine Selbstverständlichkeit, die nicht ausgesprochen werden müsse. Der DGB in seinen Vorschlägen vom 1. 2. 1961 und die SPD im Bundestag verlangten die Wiederaufnahme, und zwar in einem für alle Organe der AG geltenden, den Einzelabschnitten "Vorstand", "Aufsichtsrat" und "Hauptversammlung" vorangestellten Paragraphen mit der überschrift "Gesellschaft und Unternehmen". Danach sollte "die Gesellschaft das Unternehmen 8 Siehe OettZe. Die ökonomische Bedeutung der Rechtsform öffentlicher Betriebe, A. f. Ö. u. fr. U., Bd. 8, 1967, Heft 3, S. 193 ff. (S.224 Anm. 31, Zitate älterer Literatur); auch M. C. BTemme, Die Gemeinde als Aktionär, Heidelberger Diss. 1965, S. 198 ff.

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unter Berücksichtigung des Wohles seiner Arbeitnehmer, der Aktionäre und der Allgemeinheit betreiben". In der dritten Lesung des Gesetzes wurde im Sinne der Regierungsvorlage entschieden (19. 5. 1965, BT. Prot. 9217/9). In der Debatte wurde gegen die Aufnahme der Bestimmung, außer daß sie überflüssig sei, nur eingewandt, das Rangverhältnis der genannten Ziele sei unklar. Zweifellos war verschiedenes an der alten und der vorgeschlagenen neuen Formulierung nicht klar. Mestmäcker hat nachdrücklich auf die Unbestimmtheit der in § 70 enthaltenen Gemeinwohlklausel hingewiesen und auf einen höchst interessanten Versuch des Amerikaners Gardiner Means, eine solche Tendenzbestimmung wirtschaftlich zu konkretisieren, und zwar von der Höhe der anzustrebenden Kapitalverzinsung her9 • Auch die geläufige These, § 70 sei als Anwendung des Art. 14 Abs.2 GG zu verstehen, ist fragwürdig. Muß nicht die Bindung des Eigentums präziser konkretisiert werden10? Ist überhaupt eine solche Ausrichtung der Wirtschaftsunternehmen im Gefüge der durch das GG bestimmten Gesamtrechtsordnung nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Einwirkung auf das Kapital-"Eigentum" verständlich, hat nicht vielmehr das Unternehmen unter dem GG eine andere, dem Eigentum gegenüber eigenständige Bedeutung? Wir brauchen hier nicht zu versuchen, den nicht mehr bestehenden § 70 und das, was als Interpretationsgrundsatz von ihm in das AktG 1965 übergegangen sein soll, besser als bisher gelungen zu erläutern. Die in Rede stehende Norm interessiert uns hier nur als Typ eines Imperativs für eine Zielsetzung, die Wirtschaftsunternehmen anzunehmen geboten wird. Außerdem ist von symptomatischer Bedeutung für unser Problem, welche Schwierigkeiten das Verständnis dieser Norm uns bis heute bereitet. e) So dann haben wir drittens Bestimmungen, die nicht selbst in eine bestimmte Richtung weisen, sondern fordern, daß bei Errichtung der Organisation in ihrem Statut die Richtung, ihr "Zweck", bestimmt werde, nebst. Bestimmungen darüber, ob und wie man etwa diese "Zweck"-Setzung ändern kann, z. B. §§ 57 Abs.1 und 33 Abs.1 BGB (Verein), § 87 BGB und Landesrecht (Stiftung). Implicite sagen Entsprechendes §§ 705, 726 BGB und 105, 161 HGB für die Personengesellschaften. Hier taucht die bekannte Frage auf, wie diese Vorschriften über den "Zweck" der Organisation sich zu solchen über den "Gegenstand 11 In: Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und statistik (Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik), 1964, S. 116 tr. 10 So Westermann, Die Verantwortung des Vorstands der AG, in Freundesgabe für Vits 1963, S. 251 ff. gegen BVerfG 14, 263 ff. (Feldmühle-Fall betr. §§ 9, 15 UmwG), auch Würdinger, Aktien- und Konzernrecht, 1966, §21 IV 2.

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des Unternehmens" verhalten (z. B. §§ 23 Abs. 3 Nr.2, 179 Abs.2 S.2 AktG, § 3 Abs. 1 Nr.2 GmbHG, §§ 6 Nr.2, 16 Abs. 2 GenG). Das Aktienund GmbH-Recht spricht nur vom "Gegenstand des Unternehmens", das Vereins-, Personengesellschafts- und Stiftungsrecht nur vom "Zweck", das Genossenschaftsrecht von beidem: "Zweck" der Genossenschaft ist immer "Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs" (§ 1 GenG); der "Gegenstand des Unternehmens" kann sehr unterschiedlich bestimmt werdenlOB. d) Schließlich sieht man noch eine ganz andere - vierte - Art von "Zweck"- oder Ziel-Bestimmung als im AktG zwar nicht ausgesprochen, aber vorausgesetzt an, nämlich autonomes Wirtschaften, gleich was "Gegenstand des Unternehmens" ist. Dieses "autonome Wirtschaften werde in neuestens rechtlich detailliert geregelter Weise aufgehoben oder eingeschränkt durch Einordnung in einen Konzern (§§ 18, 291 ff. AktG) 11. 5. Hören wir nun wieder hinüber zur Zieldiskussion der Betriebswirtschaftslehre, so werden einige Präzisierungen unserer einschlägigen rechtlichen Bestimmungen m. E. ohne weiteres möglich: a) Was man tun will oder soll, welcher Art - objektiv (vgl. zu 1) -die geplante Aktivität sein, man handeln soll, ist eines. Das ist der "Gegenstand des Unternehmens", aber auch der "Zweck" des Vereins, der Stiftung. Will der Verein wirtschaften, so fällt er unter § 22, nicht § 21 BGB, gleich welches "Ziel" im Sinne jener wirtschaftswissenschaftlichen "Ziel"diskussion man sich setzt, ob man möglichst Gewinn machen oder altruistisch andern dienen oder volkswirtschaftlich nützlich wirken will usf. Von hier gesehen ist die gern gelästerte Formulierung der §§ 21, 22 BGB gar nicht so schlecht: Wenn der "Zweck" des Vereins auf einen "wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb" gerichtet ist, so ist klar, daß dies der "Gegenstand" der Vereins aktivität ist. b) Etwas anderes aber ist die Tendenz, die Widmung, der Animus, die "Wirtschaftsgesinnung" 12, in der gehandelt werden soll. Hier gibt es das "Erwerbsprinzip", "Dienstprinzip", die Absicht, unmittelbar das Gemeinwohl zu fördern und noch andere Tendenzen (vgl. oben). Cui bono wird gewirtschaftet? Dies will die "Ziel"-Diskussion der Betriebswirtschaftslehre klären, um darauf ihre Empfehlungen, wie man hier und dort wirtschaften soll, zu gründen. Haben wir Rechtsvorschriften, die in diesem Sinne Zielsetzungen gebieten? lOn Hierzu u. a. ZöUner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, München u. Berlin 1963, S. 23 ff.; Ballerstedt JuS 1963, 254. 11 Vgl. z. B. Fischer, Großkomm. AktG § 16 Anm. 11, Würdinger, a.a.O.,

§ 56 I.

12 Vgl. z. B. Kunze, Die AG als Rechtsform für öffentliche Unternehmen, DöWi Heft 3/57, S. 9 ff.

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Es ist klar, daß eben in diesem Sinne § 70 AktG 1937 und die erwähnten Entwurfsvorschriften von 1960 und später gedacht waren. Nur daß sie das Ziel wenig, vielleicht zu wenig, konkretisierten. Eine Betriebswirtschaftslehre konnte aus der so umschriebenen Zielbestimmung kaum etwas ableiten - es sei denn, man präzisierte sie, etwa in der von Means versuchten Weise (vgl. oben) - ! Wir haben in der Tat in § 70 AktG 1937 eine rechtliche "Oberziel"-Fixierung gehabt, zumindest hat man sie mit dieser Bestimmung versucht. Die Vorschrift war nur unter diesem Gesichtspunkt untauglich, weil zu unbestimmt. Können wir sie tauglich machen, oder ist ein anderer Weg zu gehen? Auf gleicher Linie, aber schon besser konkretisiert, liegt § 1 GenG, insofern er den Genossenschaften vorschreibt, "den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder zu fördern". Aber hier sind Gegenstand und Tendenz der Tätigkeit eigentümlich verschränkt. Die Förderung soll durch einen "gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb" eben der Genossenschaft geschehen. Es muß also eine Tätigkeit der Art sein, die den Genossen in einem Gewerbe oder in anderer Tätigkeit oder nur in ihrer Haushaltswirtschaft nützt. Damit bezeichnet § 1 in allgemeiner Weise den Gegenstand der Tätigkeit der Genossenschaften: jede einzelne Genossenschaft kann in diesem Rahmen den speziellen "Gegenstand ihres Unternehmens" bestimmen. Zugleich aber ist das subjektive Ziel, die Tendenz der Tätigkeit, festgelegt, und zwar im Sinne des "Dienstprinzips". Möglich wäre auch, in entsprechender Art einem Kreis von Personen oder anderen Unternehmen erwerbswirtschaftlich zu helfen, mit dem Ziel, durch diese Hilfeleistung und die Vergütung dafür größtmöglichen Nutzen für das eigene Unternehmen zu erzielen. Aber eine Genossenschaft mit solcher Gewinnerzielungsabsicht wäre keine Genossenschaft mehr. Die Aktivität der Genossenschaft ist rechtlich in beiderlei Weise normiert. c) Jenseits dieser Unterscheidung liegt - drittens - die oben bereits kurz gestreifte Frage, ob nicht unausgesprochener "Zweck" der Aktiengesellschaft - und wohl grundsätzlich auch anderer Handelsgesellschaften - ihre Autonomie sei. Hier geht es nicht um Gegenstand und Tendenz, Wirtschaften und dessen "Ziel", sondern darum, ob das Unternehmen selbst das eine und das andere, den Tätigkeitsgegenstand und das anzustrebende Ziel - Gewinnmaximierung (in der eigenen Rechnung) oder nützliche Leistungen für andere oder noch etwas anderes oder eine Kombination dieser Ziele - bestimmt oder ob sie von anderer Stelle verbindlich für es gesetzt werden: "Autonomie" gegen "Heteronomie", auch "Organprinzip". Eine Parallele besteht in dieser Hinsicht zwischen öffentlichen Betrieben, denen die Trägerkörperschaft die Aufgaben setzt, und Konzernunternehmen,. denen die Kon-

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zernleitung sie vorschreibt13. Nicht mehr die Art der Normierung der Tätigkeit interessiert hier, sondern wer die Norm setzt. 6. Gibt es also verschiedene - autonom oder heteronom bestimmte - Zielsetzungen unserer Wirtschaftsunternehmen, so fragt sich doch noch, ob diese Zielwahlfreiheit rechtlich begrenzt ist, sei es durch die Verfassung, sei es durch "einfache" Gesetze. Wir sind einerseits verfassungsmäßig festgelegt auf einen "sozialen Rechtsstaat«l4. Andererseits haben wir gesetzlich eine Wettbewerbsordnung formuliert - hier sei dahingestellt, wieweit gemäß Verfassungsgebot -, die autonome Wirtschaftseinheiten fördert - im Einklang mit einer der Prämissen der Betriebswirtschaftslehre111. Es könnte also nicht wohl die ganze Wirtschaft in einen einzigen Konzern - gleich welcher Inhaberschaft - zusammengeschlossen werden oder in einen einzigen Bundes-Eigenbetrieb mit vielen Abteilungen. Aber wie steht es mit dem Nebeneinander von "privaten" (oder öffentlichen) Unternehmen mit "Erwerbsprinzip" und öffentlichen (oder privaten) mit "Dienstprinzip" und dazu solchen mit VolkswirtschaftspolitikPrinzip (s. oben) und noch anderen? Wir wollen hier nur auf die Möglichkeit der Begrenzung der Zielwahl der Unternehmen durch Gesetze über die Gesamtwirtschaftsordnung hinweisen, welche Begrenzung allerdings in unserer Ordnung sicher nicht eng sein kann. Dazu noch eine Bemerkung über die Möglichkeit von Unternehmen mit nationalökonomischer Zielsetzung: Für "freigemeinschaftliche" Unternehmen mit solcher Tendenz (Hesselbach, s. oben) ist wohl zweifelsfrei Raum. Warum sollte für solche der öffentlichen Hand nicht grundsätzlich gleiches gelten? Warum sollte die öffentliche Hand nicht dieses marktkonformste Mittel zur Regulierung der Gesamtwirtschaft einsetzen dürfen statt Marktpolizei-Mitteln? Für einen fairen Wettbewerb sorgt das UWG, bei dessen Anwendung auch auf Kapitalbeschaffungs-, Garantie- und sonstige mit der Inhaberschaft möglicherweise zusammenhängende Bedingungen Bedacht zu nehmen ist. Eine verbreitete abweichende Auffassung ("Subsidiaritätsprinzip", "ultima ratio")16 erscheint mir zu 13 Vgl. Oettle, a.a.O. (1967), S.216. 14 Vgl. zur Bedeutung der einschlägigen GG-Artikel für die Wirtschaftsordnung v. a. Ballerstedt, Grundrechte und Grundpflichten der Unternehmer, in: Gestaltwandel der Unternehmung, 1954 (Nürnberger Hochschulwoche 1953), S. 65 ff. und Wirtschaftsverfassungsrecht in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, III 1, 1958, S. 1 ff. lli Siehe z. B. über die Wesensmerkmale der Unternehmung E. Kosiol, Die Unternehmung als wirtschaftliches Aktionszentrum (rde-Reihe Nr.256/257) 1966, S. 17 ff. 16 Vgl. G. Nikolaysen, Planungseinsatz öffentlicher Unternehmen und EWG-Vertrag (Art.90) in: Planung III (J. M. Kaiser) 1968, S. 311 ff. (321):

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eng. Auch hier geht es ja - vgl. Hesselbach für seinen Bereich - um Schaffung "staatsfreien Raums", insofern nicht hoheitlich, sondern in den Formen des allgemeinen Privatrechts gearbeitet wird. Es ist ein weiterer Schritt von autoritärer zu kooperativer Ordnung der Gesamtwirtschaft, wie er schon in der halbautonomen Stellung von Bahn, Post, Bundesbank und zahllosen öffentlich-rechtlich organisierten Kreditinstituten getan ist17• Das ist schwerlich im Widerspruch zu Grundgedanken des GG. Verständlich ist, daß die Betriebswirte zur engeren Auffassung neigen18 • Solche Aktivitäten stören die Homogenität des Wirtschaftssystems und erschweren dadurch die Arbeit der Wirtschaftswissenschaft; aber die Modelltreue der Wirtschaft ist nicht verfassungsmäßig festgelegt. 7. Stellen wir nun die schon berührte Frage, ob und wie wir den möglichen Zielsetzungen von Wirtschaftsunternehmen bestimmte Organisationsformen zuordnen können, so ergibt sich: In der Genossenschaft haben wir einen Organisationstyp, der einer bestimmten Art von wirtschaftlicher Aktivität und zugleich einer bestimmten Tendenz des Wirtschaftens zugeordnet ist. Wie aber steht es mit anderen Organisationsformen? Woher können überhaupt Determinanten zur Prägung einer wirtschaftenden Organisation genommen werden? - Die Tendenz des Wirtschaftens, z. B. "Erwerbs"- oder "Dienst"-Prinzip, kann nur eine dieser Determinanten liefern. Daneben gibt es andere: a) Außer Variationen der Zielsetzungen gibt es in der Wirtschaft auch viele Variationen der möglichen Mittelbeschaffung. Für die Wahl der Rechtsform der Unternehmung ist z. B. wichtig, ob an die Börse gegangen werden soll und mit welcher Art von Titeln. Heute hängt in sehr vielen Fällen die Entscheidung über die Verwendung der AGForm hiervon ab, in dem Sinne, daß bei Bejahung dieser Frage alle anderen Formen ausscheiden, während man bei ihrer Verneinung frei bleibt und auch die AG wählen kann. b) Die Organisation prägt immer auch ein "politisches System" der Unternehmung. Auch das angestrebte oder umgekehrt reprobierte "politische System" ist mögliche Determinante der Entscheidung über die Organisationsform. Will man die Größe des Kapitaleinsatzes zur Wirkung bringen, geht es nicht mit der Genossenschaft und nicht so gut mit den Personengesellschaften. Will man keine Arbeitnehmerob es eine solche Verpflichtung gibt, entscheiden die EWG-Mitgliederstaaten je für sich. 17 Vgl. z. B. Duden, Der Gestaltwandel des Geldes und seine rechtlichen Folgen, 1968, S. 22 ft. 18 Siehe z. B. OeWe, a.a.O. (1966, S.246; 1967, S. 220 ff.).

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mitbestimmung, muß man gerade die Form der Personengesellschaft wählen. Auch künftig werden vermutlich die Rechtsformen, sofern sie nur irgendwie aus den heute bestehenden fortentwickelt werden, noch gewisse Unterschiede in der Organisation der Willensbildung auch hinsichtlich des Verhältnisses von Kapitaleignern und Arbeitnehmern begründen19• c) Auch die Art der Einordnung des Einzelunternehmens in die Gesamtwirtschaft kann für die Formentscheidung Bedeutung haben. Das ist heute besonders klar im Hinblick auf die unterschiedlichen Publizitätspfiichten der Unternehmen verschiedener Rechtsformen. d) Erst recht ist schließlich die Wahl der Rechtsform u. U. abhängig von der Situation des Unternehmens in Hinsicht auf seine Autonomie oder Abhängigkeit. Das ist am deutlichsten im Bereich der öffentlichen Wirtschaft: Engere oder losere Bindung an die öffentliche Körperschaft? Wie beim "gemischten" Unternehmen? 8. Die bisherigen Ausführungen mögen erkennen lassen, daß es für Wirtschaftsunternehmungen verschiedenste Zielsetzungen, Tendenzen ihrer Tätigkeit, gibt und geben darf und daß zweitens bestimmten Tendenzen schon darum im allgemeinen nicht bestimmte Rechtsformen zugeordnet werden können, weil sachgemäß die rechtliche Organisation der Unternehmen noch von anderen Bestimmungsgründen abhängig zu machen ist. Daraus folgt, das sei nur kurz erwähnt, die Unvernünftigkeit der Abgrenzung des "Gewerbe"- und somit auch des Handelsrechts durch das Merkmal der "Gewinnerzielungsabsicht", also, wenn man mit diesem Merkmal Ernst macht, was man freilich schon lange nicht mehr tut, einer ganz bestimmten Tendenz des Wirtschaftens, die im Grunde alle "Dritten", an die das "Gewerbe"- und das Handelsrecht doch vor allem denken, gar nichts angeht. Theoretisch ist das wohl schon geklärt11o ; die Praxis wird sich anschließen. Weiter folgt aus dem Gesagten, daß es nicht sehr förderlich erscheint, besondere Formen des "öffentlichen Unternehmens" neben den schon gegebenen zu entwickeln. Auch öffentliche Unternehmen können verschiedene Zielsetzungen haben, ihren Kapitalbedarf auf verschiedene Weise decken wollen usw. Es ist auch die Frage, ob ihnen, von bestimmten gesetzlichen Spezialvorschriften wie z. B. §48 RHO abgesehen, die schlichte Erwerbs-, d. h. Gewinnmaximierungstendenz 19 Vgl. hierzu o. Kunze, Unternehmenssphäre und Privatsphäre im pluralistisch verfaßten Personalunternehmen, in: Festschr. Gleitze, 1968, S. 385 ff. 20 Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf P. Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965, S. 186 ff.

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verboten ist. Warum soll eigentlich die öffentliche Hand nicht einen Teil der Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf diesem Weg beschaffen dürfen - der in den sozialistischen Ländern die Haupteinnahmequelle bildet -? Dafür können die Steuern geringer sein: also in anderer Beziehung keine Erweiterung, sondern eine Beschränkung des Staates. Es ist auch kein Grund, das "gemischtwirtschaftliche" Unternehmen durch derartige Formenzwänge - wenn mehr geschehen soll als eine Erweiterung des Formenangebots - zu behindern, desgleichen das marktbeeinflussende öffentliche. Allgemein folgt aus der Feststellung der Vielzahl der möglichen Unternehmens-Zielsetzungen: Für jede Variante oder Kombinationsvariante der Zielsetzung eine besondere Rechtsform anzustreben, ist ausgeschlossen. Grundsätzlich anzustreben ist vielmehr eine einzige, vielfältig modifizierbare Rechtsform des Wirtschaftsunternehmens, die unter allen berührten Gesichtspunkten - "Oberziel", Mittelbeschaffung, innere Ordnung, größere oder geringere Autonomie usf. - die gegensätzlichen und die Misch-Fälle aufnehmen kann und auch Veränderungen dieser Determinanten verträgt. Die Ausformung zwingender Untertypen mit Sonderetiketten für den Rechtsverkehr mit Dritten kann nötig bleiben. Aber die Gesamttendenz sollte klar sein: nicht viele starre Formen, sondern eine variable! 9. Nun aber tritt dieser Forderung gegenüber, daß die größere Klarheit und Bewußtheit der Zielsetzung der Unternehmen, die wir mit der Parallele zur Betriebswirtschaftslehre auch für die rechtliche Betrachtung herbeiführen wollten, notwendig dazu führen muß, daß grundsätzlich in jedem Unternehmen auch rechtlich klar sein sollte, mit welcher Tendenz man eigentlich hie et nune operiert. Will man Gewinnmaximierung? Bedienung bestimmter Bedürfnisse mit angemessener Kapitalverzinsung? Bloße Fortführung im Interesse der im Unternehmen Tätigen? Die merkwürdige, heute übliche Undeutlichkeit dieser Unternehmens tendenzen kann doch eigentlich auf die Dauer nicht befriedigen. Wollen wir aus den angegebenen Gründen den verschiedenen Zielsetzungen nicht bestimmte Rechtsformen zuordnen, so muß, soll jene Klarheit des Ziels erreicht werden, anderswie eine Zielentscheidung erfolgen. Und gibt es eine Zielentscheidung in diesem Sinne, so muß es auch eine Kompetenz zu dieser Entscheidung geben. In dieser Hinsicht besteht in der Zuständigkeitsordnung unserer heutigen Unternehmens-Organisations-Formen eine überraschende Lücke. Wer setzt eigentlich, Autonomie der Unternehmung vorausgesetzt, ihr "Oberziel" fest? Wer ändert es gegebenenfalls? Die Unklarheit dieser Zuständigkeit hängt natürlich zusammen mit der bis heute gewöhnlichen und hingenommenen Unklarheit der Zielsetzung selbst.

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Bis heute erfolgen gerade diese wichtigsten Entscheidungen selten explizit. Mit zunehmender Bewußtmachung der Zielsetzungen wird sich das ändern; die Zieltheorie der Betriebswirtschaftslehre wird dazu bei tragen21. Gehört diese Zielbestimmung in die Satzung der AG, GmbH usw. wie ihr "Gegenstand des Unternehmens" und kann man sie in gleicher Weise wie diesen ändern? Gehört sie zur "Geschäftsführung"? Oder ist sie umgekehrt so elementar, daß sie von Anbeginn, auch unausgesprochen, festliegt und nur von allen Beteiligten gemeinsam geändert werden kann22 ? Sind, jetzt oder de lege ferenda, die Arbeitnehmer an ihr beteiligt? Gegebenenfalls die Vertreter des Allgemeininteresses? Vor 1937, unter dem HGB, war in AG-Satzungen die Bestimmung häufig, daß der Aufsichtsrat die "Grundsätze" oder "Richtlinien der Geschäftspolitik" festsetze, während der Vorstand über die einzelnen Maßnahmen zur ihrer Durchführung entscheide, möglicherweise über Einzelmaßnahmen bestimmter Art nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats. Solche Grundsatz- oder Richtlinienkompetenz in bezug auf die "Geschäftspolitik" ist wohl mehr als die "Ziel"-Bestimmung in unserem Sinne; auch das Festlegen der Strategie, des "marketing" zur Erreichung des gegebenen Ziels, z. B. der "Gewinnmaximierung", gehört wohl dazu. Auch dieser weite Begriff hat in der heute geltenden Zuständigkeitsordnung der AG keinen Platz mehr. Man kann dem Aufsichtsrat diese Grundsatzkompetenz nicht mehr geben23• Es ist höchst zweifelhaft sogar, ob man entsprechende Grundsatz-GeschäftspolitikEntscheidungen des Vorstandes gemäß § 111 Abs.4 Satz 2 AktG 1965 von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig machen kann: Sind derartige Entscheidungen eine "bestimmte Art von Geschäften" im Sinne dieser Vorschrift des AktG? Der Begriff "Geschäftspolitik" scheint in unser Gesellschaftsrecht, das sich so minutiös mit den Kompetenzen zur Herbeüührung der einzelnen Maßnahme-Entscheidungen beschäftigt, noch nicht eingegangen24 ; erst recht ist das nicht der Fall mit dem spezielleren des "Ziels" der Geschäftsführung, wie wir es in Anlehnung an die einschlägige Diskussion der Betriebswirte besprachen. Der Jubilar hat das Probien gesehen, als er für öffentliche Unternehmen einerseits die Ausschaltung der AG-Form ablehnte, andererseits aber eine Kompetenz des - Kapitaleigner und ArbeitnehVgl. z. B. Kirsch, a.a.O., S. 105/106. Entsprechend der Annahme von R. Fischer, Großkomm. AktG § 16 Anm. 11 in der Autonomiefrage (vgl. oben zu 4 a). 23 Vgl. Z. B. Schmidt, in: Großkomm. AktG 1961, § 95, Anm.18. 24 Vgl. dagegen z. B. aus den USA einen Satz wie diesen von Hornstein, Corporation Law and Practice, I 1959, § 431 (S.526): "Directors ordinarily formulate the policy of the corporation ... They are expexted to delegate or assign to officers the duty of actually operating the corporation." 21 22

über Unternehmensziele

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mer repräsentierenden - "Aufsichtsrates" (der dann erst recht mehr wäre als sein Name sagt) forderte, solche "Richtlinien der Geschäftspolitik" festzulegen, die "die Führung des Unternehmens entsprechend einer bestimmten Wirtschaftsgesinnung gewährleisten"lIlI! 10. Schließlich wird die Bedeutung der Frage nach der Formulierung des Ziels und nach der Zuständigkeit zu seiner Bestimmung für die einzelnen Unternehmen noch erhöht durch die vordringende Anerkennung der Möglichkeit, ja Notwendigkeit gesamtwirtschaftlicher "Planung". Das ist zunächst klar für öffentliche Unternehmen, an die sich die Frage nach der Bestimmung ihres Verhaltens im Hinblick auf dergleichen Gesamtzielsetzungen zuerst richtet. Vielleicht ist das Erarbeiten einer klaren Zielkonzeption für diejenigen öffentlichen Unternehmen am dringlichsten, die einen "kombinierten Aufgabenbereich" Erwerbswirtschaft und öffentliche Daseinsvorsorge - habenll6 • Dasselbe gilt aber letzten Endes für alle Unternehmen, gleich welcher Inhaberschaft und welchen Gegenstands, von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung, die ja alle an gesamtwirtschaftlicher Verantwortung teilhaben - vgl. oben zum AktG -, insofern quasi öffentliche Unternehmen sindllT und aus der Objektrolle der Makroökonomie in die aktive Teilnahme an ihrer Regelung hineinwachsen. Sie müssen darum ihre Ziele definieren oder es muß geklärt werden, von wem und wie sie festzulegen sind.

Hier scheint mir eine wichtige wirtschafts- und unternehmens rechtliche Aufgabe gegeben, zu deren Lösung die Wirtschaftswissenschaft helfen kann.

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a.a.O. (s. Anm. 12). VgI. H. Stukenberg, in: Planung III (s. Anm.16), S.387.

IlT VgI. Z. B. O. Kunze, Die Verfassung großer Unternehmen als gesellschaftspolitisches System, in: Festschrift v. Eynern, 1967, S. 189 ff.

Rechtsformzwang für Großunternehmen? Von Oswald v. NeU-Breuning Als wir die Mitbestimmung einführten, haben wir - so lautet mindestens die herrschende, auch vom Gesetz selbst gebrauchte Sprechweise - an die Rechtsform des Unternehmens angeknüpft. Das Mitbestimmungsgesetz vom 21. 5. 1951 findet nur auf "diejenigen Unternehmen Anwendung, welche in Form einer Aktiengesellschaft, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer bergrechtlichen Gewerkschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit betrieben werden" (§ 1 Abs.2); ähnlich beziehen sich die §§ 76-77a BVG auf Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, bergrechtliche Gewerkschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit, auf Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sowie auf Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften; man könnte sie kurz als die aufsichtsratspflichtigen oder doch aufsichtsratsfähigen Rechtsformen zusammenfassen. (In § 77a BVG begegnet auch schon der - wie sich zeigen wird - fragwürdige Begriff des "herrschenden Unternehmens".)

Unternehmer und Unternehmen Unternehmer ist nach unserem Sprachgebrauch nicht nur, wer als Leiter eines Unternehmens etwas "unternimmt", sondern auch der Inhaber (oder in juristisch unsauberer Sprechweise der Eigentümer) eines Unternehmens1 . Vielleicht wird man sagen können: Denkt man bei der Einzahl "der Unternehmer" vorwiegend an den unternehmerisch tätigen Menschen, also an den funktionellen Unternehmerbegriff, so zielen wir, wenn wir uns der Mehrzahl "die Unternehmer" bedienen, meist auf die Unternehmensinhaber als soziologische Gruppe, d. i. auf den soziologischen Unternehmerbegriff. Diese zweifache Bedeutung 1 Meist dürfte dabei mitverstanden sein, daß dieser Unternehmer kraft Inhaberschaft "sein" Unternehmen auch selbst leitet, also zugleich Unternehmer im funktionellen Sinne ist. Aber auch wenn das nicht zutrifft (z. B. bei dem minderjährigen Erben, für den ein Vormund oder Testamentsvollstrecker das Unternehmen leitet), bezeichnet unser Sprachgebrauch ihn als Unternehmer, müssen wir, wenn nach dem Unternehmer gefragt wird, ihn nennen. - Auf den andersartigen Unternehmerbegriff des Umsatzsteuerrechts ist in diesem Zusammenhang nicht einzugehen.

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der Bezeichnung "Unternehmer" tritt besonders deutlich darin zutage, daß "selbständige" Unternehmer, die sowohl im funktionellen als auch im soziologischen Sinn "Unternehmer" sind, dazu neigen, den sich ihnen soziologisch verwandt fühlenden "beauftragten" Unternehmern (Managern), weil sie nur im funktionellen, nicht im soziologischen Sinn "Unternehmer" sind, die Anerkennung als gleichrangig, als Unternehmer im Vollsinn des Wortes, zu versagen. Nichtsdestoweniger wird diese zweifache Bedeutung immer wieder übersehen, was zu endlosen Mißverständnissen Anlaß gibt, indem Aussagen, die auf den Unternehmer im funktionellen Sinn zutreffen, fälschlich auf den Unternehmer im soziologischen Sinn bezogen werden und umgekehrt. - Noch viel weniger hat sich im öffentlichen Bewußtsein durchgesetzt, daß auch die Bezeichnung "Unternehmen" mehrdeutig ist; daraus entspringen Unklarheiten und Mißverständnisse, die nicht nur zu endlosen Scheingefechten führen, in denen leeres Stroh gedroschen wird, sondern sich auch in Politik und Gesetzgebung störend auswirken. Unternehmer im Sinn von Inhaber eines Unternehmens kann jemand offenbar nur sein, wenn ein Unternehmen etwas ist, das man "innehaben" kann. Innehaben im Rechtssinne kann man nicht Personen, sondern nur Gegenstände; folgerecht kann das "innegehabte" Unternehmen auch nichts anderes sein als etwas Gegenständliches, ein Inbegriff von Sachen und Rechten, näher hin solcher von wirtschaftlichem Wert (" Geldeswert") , wobei dieser Inbegriff auch negative Werte, m. a. W. Belastungen und Verbindlichkeiten umfassen kann. Anders ausgedrückt: das Unternehmen in diesem Sinne ist der Inbegriff alles dessen, was in der Bilanz dargestellt zu werden pflegt oder jedenfalls darstellbar ist. Weder der Inhaber noch die Leitung noch die Arbeitskräfte (Belegschaft) erscheinen in der Bilanz; allenfalls werden Pensionszusagen an leitende Angestellte oder Rückstellungen für die Altersversorgung der Belegschaft bilanziert sein, aber niemals die versorgungsberechtigten Personen selbst; sie gehören nicht zum so verstandenen Unternehmen, stehen außerhalb desselben. Das Verhältnis zwischen dem Unternehmer als demjenigen, dem die in der Bilanz ausgewiesenen Sachen gehören oder Rechte zustehen und der aus den Verbindlichkeiten in Anspruch genommen werden kann, und dem so verstandenen Unternehmen ist das Verhältnis von Subjekt und Objekt; er ist das Subjekt des Unternehmens, dieses selbst ist bloßes Objekt. Das Unternehmen erschöpft sich jedoch nicht in dem, was die beiden Seiten der Bilanz ausweisen. Nicht die Bilanzposten (Aktiven und Passiven) unternehmen etwas; sie sind vielmehr nur das materielle (ökonomische) Substrat, dessen diejenigen, die etwas unternehmen, sich bedienen. Etwas unternehmen können immer nur lebendige Men-

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schen, indem sie sich an solchen Aktiven und Passiven oder mittels ihrer betätigen. Ein winzig kleines Unternehmen (Bauchladen!) mag der Inhaber allein betreiben können; schon für ein mittleres Unternehmen bedarf es nicht nur einer größeren Menge von Aktiven und Passiven als Substrat, sondern erst recht einer größeren Zahl von Menschen, die sich in irgendeiner Weise miteinander verbinden, um unter einheitlicher Leitung das Unternehmen zu betreiben. So verstanden ist das Unternehmen kein bloßes Objekt, keine bloße Summe oder gar nur ein Saldo von Vermögenswerten, sondern ist selbst ein Subjekt, ein Verbund von Menschen: da ist ein Mensch oder ein ganz kleiner Kreis von Menschen, der das Ganze leitet; da ist ein einzelner oder eine Mehrzahl von Menschen, die Sachmittel oder Geld beistellen; da ist eine Vielzahl von Menschen, die in verschiedenen Stufen und Graden anordnende und ausführende Arbeit leisten; erst sie zusammen machen das lebendige Unternehmen aus2 ! In welchem Sinn aber verstehen wir "Unternehmen", wenn wir nach seiner Rechtsform3 fragen? Die Antwort ist verblüffend: weder als Objekt im Sinne des Inbegriffs bilanzmäßig darstellbarer Vermögenswerte noch als Subjekt im Sinne des Verbundes aller derer, die das lebendige Unternehmen ausmachen; unter der Rechtsform des Unternehmens verstehen wir ein Drittes, nämlich die Rechtsgestalt, die der Inhaber dieser Vermögenswerte 4 gewählt hat, um in ihr oder unter ihr das Unternehmen zu betreiben. Ist dieser Inhaber eine physische Person (Einzelkaufmann!), dann unterscheiden wir mühelos zwischen ihm als Privatperson und dem unter seiner "Firma" laufenden Unternehmen; er ist kein Unternehmen, sondern hat ein Unternehmen und wird danach "Unternehmer" genannt; ist der Inhaber dagegen juristische Person, die als solche nicht leibt und lebt, dann verwechseln wir diese mit dem Unternehmen oder setzen sie mit ihm in eins. Niemand 2 Die Sachverhalte, um die es hier wie auch an weiteren Stellen geht, sprachlich einwandfrei auszudrücken, ist nicht ganz leicht. Immer wieder fällt man in die überkommene Denkweise zurück und erliegt damit der Gefahr, auch in den von ihr geprägten irreführenden Sprachgebrauch zurückzufallen; sehr oft ist man gezwungen, sich umständlicher Umschreibungen zu bedienen, weil alle verfügbaren termini schon vergriffen, d. h. anderweitig in Anspruch genommen sind. Wenn es unserem AktIengesetz an konsequent durchgehaltener Tenninologie gebricht oder gar in das Betriebsverfassungsgesetz Vorschriften über (gleichviel ob echte oder unechte) wirtschaftliche Mitbestimmung im Unternehmen sich eingesprengt finden, so ist das ganz gewiß nicht von ungefähr. 3 Das Mitbestimmungsgesetz spricht nur davon, daß die Unternehmen "in Form" einer AG usw. betrieben werden (a.a.O.), was für seinen Zweck vollauf genügt; hier scheint es zweckmäßig, sie ausdrücklich als "Rechtsform" zu kennzeichnen. 4 Man könnte auch sagen: der "Saldoträger", ist es doch derjenige, auf dessen Rechnung und Gefahr das Unternehmen betrieben wird, dessen Vermögen mit dem (Aktiv-)Saldo wächst bzw. sich verkleinert.

10 Festgabe Kunze

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verwechselt (namentlich bei der Publikumsgesellschaft) die Aktionäre mit dem Unternehmen; die Aktiengesellschaft als solche dagegen betrachten und bezeichnen wir nicht als Inhaberin des Unternehmens, sondern als das Unternehmen selbst, setzen sie in eins mit "ihrem" Unternehmen, dies sogar mit der durchaus schlüssigen Folge, daß zwar der Einzelkaufmann nicht nur ein, sondern auch mehrere Unternehmen haben kann, die Aktiengesellschaft dagegen nicht - kann sie doch nicht wohl mehrere Unternehmen sein! Was dies angeht, ist die sogar ins Aktiengesetz eingedrungene Redeweise vom "herrschenden" Unternehmen verräterisch. Hier bedarf es keines Eingehens auf die von H. Kronstein5 behandelte, ebenso interessante wie schwierige Problematik; es genügt festzustellen, daß herrschaftliche Beziehungen (herrschen und beherrscht werden) nur zwischen Personen möglich sind. So sind denn auch die konzernrechtlichen Beziehungen, denen das Aktiengesetz 1965 erstmalig die gebührende Aufmerksamkeit schenkt, Beziehungen der juristischen (und gegebenenfalls auch physischen) Personen. Zwischen Unternehmen untereinander wie auch zwischen Unternehmen und Markt bestehen Beziehungen faktischer Machtüberlegenheit oder faktischer Abhängigkeit; herrschaftliche Beziehungen im Rechtssinne sind zwischen Unternehmen, wie sie bis heute verstanden und rechtlich als von einem Inhaber innegehabte Objekte gestaltet sind, denkgesetzlich ausgeschlossene. Die Rechtsform, an die wir bei Einführung der Mitbestimmung angeknüpft haben, ist also gar nicht, wie die gebräuchliche, auch vom Gesetz selbst an gewandte Sprechweise vortäuscht, die Gestalt des Unternehmens als Rechtsgebilde, sondern ist das rechtliche Gewand, in das der Inhaber, d. i. derjenige, der sein Vermögen oder Teile desselben dem Unternehmen als "Betriebsvermögen" (!) widmet, sich gekleidet hat und in dem er das Unternehmen betreibe. Unverkennbar hat unsere Gesetzgebung, als sie für die Mitbestimmung an die Rechtsform anknüpfte, einen Fehlgriff getan: sie griff 5 In seiner Studie "Die abhängige juristische Person", München-BerlinLeipzig 1931. 6 Marktmacht ist ein vollziehbarer, Marktbeherrschung dagegen, wenn man den Worten ihren Sinn läßt, ein unvollziehbarer Begriff; auch die beliebte Hypostasierung des Anonymus "Markt" vermag daran nichts zu ändern. 7 Der steuerrechtliche Begriff "Betriebsvermögen" ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die Bezeichnungen Betrieb und Unternehmen unterschiedslos und geradezu auswechselbar gebraucht werden. Dazu kommt, daß der Sprachgebrauch - inkonsequent, wie er nun einmal ist - uns zwar gestattet, einen Betrieb zu "betreiben", aber nicht ein Unternehmen zu "unternehmen"; wir müssen es ebenfalls "betreiben". (Eine Reise kann man "unternehmen" und in diesem Sinne wäre die "unternommene" Reise ein "Unternehmen", aber eben kein Unternehmen in dem hier gemeinten Sinne.)

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nach dem Unternehmen, was sie aber in die Hand bekam, war nicht das Unternehmen, sondern dessen Inhaber oder Träger. Man sollte ihr diesen Fehlgriff aber nicht allzu sehr zum Vorwurf machen, denn unser überkommenes Handelsrecht hat sie geradezu unwiderstehlich auf den Irrweg gedrängt, oder schonender ausgedruckt: das ihr vom Handelsrecht gegebene Vorbild war allzu verführerisch. Schon bei den Personalgesellschaften behandelt das HGB nicht nur die gesellschaftsrechtlichen Beziehungen der Gesellschafter untereinander, sondern auch deren Befugnisse in bezug auf die Geschäftsführung, gleichbedeutend mit ihren Befugnissen in bezug auf das Unternehmen. Da Rechte und Pflichten der Geschäftsführung ausschließlich bei den Gesellschaftern liegen, ist das Unternehmen eindeutig Objekt und in gar keiner Weise Subjekt dieser Rechte und Pflichten. Folglich sind auch alle Bestimmungen, die die Geschäftsführung betreffen, kein Unternehmensrecht und schon gar nicht Unternehmensverfassung; sie sind schlicht und recht Gesellschaftsrecht und gar nichts anderes als das, allerdings Gesellschaftsrecht im Hinblick auf das Unternehmen und von höchster Bedeutung für das Unternehmen. Bei der juristischen Person, die in der Aktiengesellschaft ihre vollkommenste Ausbildung erfahren hat, finden wir das gleiche nur in noch verstärktem Maße. So regelt beispielsweise das Aktiengesetz nicht nur die gesellschaftsrechtlichen Beziehungen der Aktionäre untereinander und wie sie die für die juristische Person unentbehrlichen Organe bestellen; es befaßt sich vielmehr eingehend auch mit diesen Organen selbst und deren Funktionen; diese sind jedoch nur zum kleineren Teil Funktionen gegenüber dem Verein der Aktionäre (z. B. Einberufung der Hauptversammlung und Berichterstattung an sie); zum weitaus größeren Teil dagegen sind es Funktionen in bezug auf das Unternehmen. Die bis in die letzten Feinheiten· gehende Regelung dieser letzteren Funktionen durch das Aktiengesetz erweckt geradezu unvermeidlich den trügerischen Schein, als handele es sich um Organe, mit denen das Gesetz das Unternehmen ausstatte und auf diese Weise handlungsfähig mache, als seien Aufsichtsrat und Vorstand Organe des Unternehmens; die Eigenverantwortlichkeit, die das Aktiengesetz dem Vorstand zuerkennt (§ 76 Abs.1), ist noch ganz besonders dazu angetan, diesen Eindruck zu verstärken8 • Nichtsdestoweniger sind Aufsichtsrat und Vorstand eindeutig Organe der juristischen Person und gar nichts anderes; diese allein ist Subjekt; sie als Inhaberin "betreibt" ein Unternehmen, aber sie ist kein Unternehmen. Im Falle der "ab8 über diesen § 76, Abs. 1, vor allem über das, was er im Gegensatz zu dem durch ihn ersetzten § 70, Abs. 1 AktGes 1937 nicht mehr enthält oder besagt, ist so viel debattiert worden, daß man sich scheut, darauf zurückzukommen. Nichtsdestoweniger scheint es angebracht, nachdrÜcklich zu unter-

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hängigen" juristischen Person ist zudem das von dieser betriebene ,.beherrschte" Unternehmen streng genommen gar kein "Unternehmen" mehr, sondern nur ein unselbständiges, nur rechtlich-formal "verselbständigtes" (!) Glied eines umfassenden Unternehmens-Komplexes, m. a. W. nur noch ein Betrieb. Damit aber sind wir auf eine ganz neuartige Erscheinung gestoßen, die dazu nötigt, die ganze bisherige Denk- und Vorstellungsweise erneut zu überprüfen. Ohne sie zu sprengen schien mit der klaren Unterscheidung zwischen Unternehmen und Inhaber ein entscheidender Fortschritt, wenn nicht gar ein Durchbruch vollzogen. Der Fortschritt soll nicht in Frage gestellt werden, aber ein Durchbruch ist es noch nicht. Auch bei klarer und hellbewußter Erkenntnis der inhaltlichen Verschiedenheit des Unternehmens und seines vermögensrechtlichen Subjekts blieb die vermeintlich selbstverständliche und darum unbewußte Vorstellung unerschüttert, der Ausdehnung oder dem äußeren Umfang nach stimmten das Unternehmen und sein vermögensrechtliches Subjekt überein; gegenüber der Außenwelt hätten beide die gleichen Grenzen, und anders könne es gar nicht sein. Ist jedoch das "Unternehmen" der abhängigen juristischen Person in Wahrheit nur ein Betrieb, der als solcher Glied des Unternehmens eiDes anderen, im vorliegenden Fall also des Unternehmens der herrschenden juristischen Person ist, dann müssen wir uns auch von dieser Vorstellung lösen und uns mit der Möglichkeit ihres Gegenteils vertraut machen: die Grenzen des Unternehmens und seines vermögensrechtlichen Subjekts brauchen sich nicht notwendig zu decken; bei der heutigen Lage der Dinge sind solche Grenzüberschneidungen gar nicht einmal selten. Die offenbar unser ganzes Handelsrecht prägende, auch im Aktiengesetz 1965 keineswegs grundsätzlich überwundene Vorstellung, jedes Unternehmen habe sein vermögensrechtliches Subjekt; wo ein solches Subjekt, da auch ein Unternehmen; wo mehrere Subjekte, da ebensoviele Unternehmen, ist widerlegt und läßt sich nicht länger halten. Man wende nicht ein, es handele sich hier nur um Ausnahmefälle, die die Regel bestätigen; ganz im Gegenteil: gerade bei unsern großen Unternehmen haben wir es in den seltensten Fällen (wenn überhaupt!) mit einheitlichen Rechtssubjekten zu tun; in der Regel sind sie vermögensrechtlich vielfältig und tief gegliederte Komplexe. Der Komplex als Ganzes ist keine vermögensrechtliche Einheit; er tritt daher auch im Rechtsverkehr nicht in Erscheinung; Geschäfte der Konzernstreichen, daß der Vorstand, wenn überhaupt, so jedenfalls sehr viel weniger "die Gesellschaft", d. i. den Verein der Aktionäre, als vielmehr - was die Wortfassung des § 70 AktGes 1937 verdeutlichte - das von der juristischen Person der Aktiengesellschaft betriebene Unternehmen "unter eigener Verantwortung ... zu leiten" hat.

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spitze verpflichten (rechtlich) nur die Spitze, ebenso Geschäfte der verschiedenen Konzernglieder jeweils nur diese selbst, nicht den Gesamtkonzern, der eben eine Faktizität, aber kein vennögensrechtliches Einheitsgebilde und schon gar nicht eine juristische Person ist. Die reale Identifizierung von Unternehmen als Teilnehmer am Rechtsverkehr in seiner Eigenschaft als vennögensrechtliches Rechtssubjekt und Unternehmen als leibhaftes Sozialgebilde in der Entfaltung seines Lebens nach innen und außen, seines inneren Kräftespiels und seiner Interaktionen mit der Außenwelt (die sich beileibe nicht in Akten des ökonomischen Tauschverkehrs erschöpfen!) ist hinfällig geworden. Solange Wirtschaft mit Handel, Wirtschaftswissenschaft mit Katallaktik gleichgesetzt werden konnte oder dc..ch wurde, lag diese Identifikation nahe; sie beherrscht auch heute noch weitestgehend die Vorstellungen, ist aber restlos überholt9 • Eine Mitbestimmung, die sich an das hält, was wir die "Rechtsform" des Unternehmens zu nennen pflegen. greift also nicht nur einmal, sondern gleich doppelt fehl: nicht nur, daß sie - wie bereits festgestellt - statt des Unternehmens, das sie greifen will, dessen Inhaber ergreift; vielleicht hat obendrein dieser "Inhaber", den sie in den Griff bekommen hat, das Unternehmen, das da mitbestimmt oder verfaßt werden soll, gar nicht inne, sondern verfügt nur über ein in vieler Hinsicht fragwürdiges vennögensrechtliches Gebilde, unter Umständen mehr eine Attrappe als eine Realität10• Ist es im Ernst unser Ziel, nicht Attrappen, sondern realen Gebilden eine Verfassung zu geben und sie so "in Verfassung" zu bringen, dann ist die Frage nach der Rechtsfonn oder gar die Absicht, sie in eine bestimmte Rechtsfonn zu zwingen, gegenstandslos; ein solcher Versuch griffe letztlich ins Leere. "Verfaßt" werden sollen ja unserer Absicht nach nicht vennögensrechtliche Gebilde, die, sei es wirklich, sei es nur dem leeren Scheine nach, ein Unternehmen "betreiben", sondern - daraus haben wir nie einen Hehl gemacht - die wirtschaftlichen Machtkörper, nicht zuletzt gerade diejenigen, deren Aufbau sich als ein kunstvolles, vielleicht sogar undurchsichtiges Geflecht oder Gefüge solcher vennögensrechtlicher GebiJde darstellt, das ihnen als Betriebsmittel, als willenloses Räderwerk dient, wo es also nicht die vennögensrechtlichen Rechtsträger sind, die 91 Auch die Marktwirtschaft schon gar eine "soziale Marktwirtschaft" wäre völlig mißverstanden, wenn man die Wirtschaft sich in den Tauschvorgängen des Marktes erschöpfen lassen wollte; so bedeutsam der Markt für die Wirtschaft ist - er ist nicht die Wirtschaft -- so wenig wie die ISteuerungsapparatur das Auto ist. 10 Sucht man einen schlagenden Beweis dafür, wohin man mit diesem Ansatz der Mitbestimmung kommt, dann lese man den bezeichnenderweise bereits mehrfach geänderten, auch sprachlich mehr als unglücklichen § 15 MBErgGes vom 7.8. 1956!

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das Unternehmen "betreiben", sondern es sich genau umgekehrt verhält: das Unternehmen (der Konzern) "betreibt" sie! Ist es denn aber - das erweist sich dann als die entscheidende Frage - überhaupt möglich, ein solches Gebilde, das keine vermögensrechtliche Einheit und noch weniger eine juristische Person ist, in eine Verfassung einzufangen? Mit Begriffen und Denkformen des Vermögensund Gesellschaftsrechts kann das offenbar nicht gelingen; diese finden hier nichts, das sie greifen und woran sie sich halten könnten. Nichtsdestoweniger ist das wirtschaftliche Machtgebilde des Konzerns im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Raum eine Tatsache, und Tatsachen müssen sich fassen und greifen lassen. Müßte man dar an verzweifeln, dann bliebe in der Tat nichts anderes übrig, als entweder die Konzerne ungeschoren zu lassen, womit die ganze Mitbestimmung zur Farce entwürdigt würde, oder sie zu zwingen, sich vermögensrechtlich zu vereinheitlichen, beispielsweise so, daß die Konzernspitze (Muttergesellschaft) alle Tochter- und Enkelgesellschaften, aber auch alle durch Beherrschungsverträge u.a.m. konzerngebundenen Gebilde, im Wege der Verschmelzung oder wie immer in sich aufnähme. Die vermögensrechtliche Vereinheitlichung kann (ex definitione) nur darin bestehen,daß das Ganze in eine einheitliche Rechtsform eingebracht wird; erzwungene vermögensrechtliche Vereinheitlichung bedeutet daher den Zwang, eine solche Rechtsform anzunehmen, deren Wahl jedoch frei bleibt. So bestünde zwar ein Zwang zur Rechtsform, aber· kein "Rechtsformzwang" in dem Sinne, daß alle in ein und dieselbe Rechtsform hineingezwungen würden. Ob ein solches Vereinheitlichungsgebot, gleichbedeutend mit dem unbedingten Verbot jeglicher Art von Konzernen, sinnvoll, ob es in praxi durchzusetzen sein würde, braucht hier nicht untersucht zu werden; was jedoch den Rechtsformzwang im Sinne einer für alle vorgeschriebenen Rechtsform angeht (wie beispielsweise Hypothekenbanken nur in der Rechtsform der AG oder KGaAkt betrieben werden dürfen), so wären wir durch Vereinheitlichungsgebot dieser Frage auf die denkbar bequemste Weise überhoben: die zwangsWeise zu schaffenden Einheitsgebilde würden sich zweifellos alle für die am vollkommensten ausgebildete Rechtsform, also diejenige der Aktiengesellschaft, entscheiden; die Einheitlichkeit der Rechtsform würde sich von selbst einstellen und brauchte gar nicht eigens vorgeschrieben zu werden. Nach unserem heutigen Stand der Erkenntnis sind alle solchen Überlegungen überholt. Heute wissen wir, daß es für das, worum es uns hier geht, auf die vermögensrechtliche Gestalt, ja auch nur darauf, daß das Gebilde überhaupt irgendeine vermögensrechtliche Gestalt besitze oder annehme, nicht ankommt. Es hat sich als möglich, ja als nicht ein-

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mal allzu schwierig erwiesen, eine logisch sauber durchkonstruierte und in praxi funktionsfähige Unternehmensverfassung auszuarbeiten ganz unabhängig von der vermögensrechtlichen Gestalt des Unternehmens, ja unabhängig auch davon, ob es überhaupt in vermögensrechtlicher Gestalt besteht oder nicht. Die Besorgnis, Unternehmen in irgendwelchen vermögensrechtlichen Rechtsformen oder gar der Einkleidung in den Mantel einer vermögensrechtlichen Rechtsgestalt ermangelnde Konzerne ließen sich nicht "verfassen", bedrückt uns nicht mehr. Die Aufgabe, auch Konzerne jeder denkbaren Struktur - ausgenommen vielleicht den Fall des Gleichordnungskonzerns mit zwei völlig gleichgeordneten Spitzen wie Uni/Lever oder Royal Dutch/Shell11 - mit einer Verfassung zu versehen, ist gelöst und damit als lösbar erwiesen: contra factum non valet argumentum. Aber, wie gesagt, das ist eine nur langsam gereifte Erkenntnis; es ist noch nicht allzu lange her, daß wir so weit sind. Als vor reichlich einem Jahrzehnt auf Grund des von der Stiftung Mitbestimmung dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften Ende 1957 erteilten Forschungsauftrags12 dessen juristischer Beraterkreis unter Führung von Otto Kunze sich an die Arbeit machte, waren wir mehr oder weniger alle noch gewohnt, in den ausgeschliffenen Gedankenbahnen zu denken, die seinerzeit dazu geführt hatten, die Mitbestimmung bei den Organen der Kapitalgesellschaften anzusetzen. Folgerecht haben wir unseren Überlegungen zunächst den Fall der vermögensrechtlichen Einheit, näherhin den Fall der Aktiengesellschaft, zugrunde gelegt und uns gefragt: wie müssen wir über das, was im Mitbestimmungsgesetz vom 21. 5. 1951 vorliegt, hinausgehend die Rechtsgestalt der Aktiengesellschaft weiter ausgestalten, um das in sie gekleidete Unternehmen aus einem (qualifiziert) "mitbestimmten" zu einem im Vollsinn des Wortes "verfaßten" Unternehmen zu machen? Sehr bald wurde uns klar: mit einer ausschließlich in die Organe der AG eingebauten Mitbestimmung ist die Aufgabe nicht zu meistern; um das in die Rechtsgestalt der AG gekleidete Unternehmen in Verfassung zu bringen, reichen die Organe der AG, auch wenn man die Hauptversammlung der Aktionäre einbeziehen wollte, schlechterdings nicht aus; darüber hinausgehend sind eigene Unternehmensorgane erforderlich. So gingen wir denn daran, wenn man so sagen darf, auf die 11 Sind wirklich zwei gleichgeordnete Spitzen vorhanden, dann handelt es sich auch im Grunde um zwei engstens mit einander verbundene, aber doch wesentlich selbständige, d. h. auf die laufende freiwillige Verständigung angewiesene Konzerne, deren jeder für sich genommen sich ohne weiteres "verfassen" läßt. 12 Der Wortlaut des Forschungsauftrags ist abgedruckt in Kunze-Christmann, Wdrtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit. Bd. I. S. 19 (BundVerlag, Köln 1964).

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weiterhin mit dem Unternehmen identifizierte AG eigene Mitbestimmungs- oder Unternehmensorgane aufzupfropfen. Dabei war sorgsam zu prüfen, welche Funktionen, weil es sich um eigene Angelegenheiten der Aktionäre handelte, bei den Organen der AG zu verbleiben hatten, und welche hinfort nicht mehr von den Organen der Vermögensträgerin, sondern von entsprechenden Organen des Unternehmens wahrzunehmen seien. Da bereits die Organe der klassischen AG im Hinblick auf die Funktionen, die sie für das Unternehmen leisten sollten, entwickelt worden waren, lag es nahe, die unternehmenseigenen Organe, die nunmehr diese Funktionen übernehmen sollten, diesem Vorbild nachzubilden. (Ob und inwieweit unter diesen Umständen die Organe der AG selbst zurückgebildet oder einzelne von ihnen ganz entbehrt werden könnten, brauchten wir im Zusammenhang unserer Aufgabe nicht näher zu untersuchen; immerhin könnte man beispielsweise überlegen, ob die Hauptversammlung sich durch ein schriftliches Abstimmungsverfahren nach dem Vorbild der Briefwahl ersetzen ließe oder ob man mit einem nebenamtlich tätigen Vorstand auskommen könnte u.a.m.) Als wir an die Arbeit gingen, lag der Regierungsentwurf für das am 6. 9. 1965 verkündete Aktiengesetz bereits vor. So lag es nahe, ihn lind nicht mehr das noch in Geltung stehende Aktiengesetz 1937 unseren überlegungen zugrunde zu legen. Welche aktienrechtlichen Bestimmungen müssen wir umgestalten und vor allem, was müssen wir an neuen Vorschriften hinzufügen, um das von der AG betriebene Unternehmen in Verfassung zu bringen, aus der qualifiziert mitbestimmten eine "verfaßte" AG zu machen? Die in die Organe der AG eingebaute Mitbestimmung mußte aus ihnen herausgelöst und neue unternehmenseigene Organe mußten geschaffen werden. Das Ergebnis unserer Arbeit war ein Gesetzgebungswerk, das sich engstens an den Aufbau des Aktiengesetzes anschloß, nahezu dessen gesamten Inhalt - entsprechend abgewandelt - übernahm und in großem Umfang sogar dessen Wortlaut beibehielt; neu hinzu kamen die Vorschriften über die Organe des Unternehmens, die weitgehend dem Vorbild der im Aktiengesetz ausführlich geregelten Organe der Gesellschaft, insbesondere Aufsichtsrat und Vorstand, nachgebildet werden konnten. Diese Arbeit liegt seit Jahren abgeschlossen vor (und ruht in einer Schublade); die Aufgabe, das in der Rechtsform der AG betriebene, qualifiziert mitbestimmte Unternehmen zum verfaßten Unternehmen in der Rechtsform der AG fortzuentwickeln war gelöst; das in aktienrechtIicher Form betriebene Unternehmen war - so verstanden wir selbst das Ergebnis unserer Arbeit - "verfaßt"; darum sollte es nach unserer Absicht auch firmieren als XY AG mit dem Zusatz in Klammern ("Verfaßtes Unternehmen").

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Wir hatten an der Arbeit viel gelernt. Befriedigt über diesen ersten Erfolg wollten wir einen Schritt weiter tun. Nunmehr galt, die Beschränkung der Mitbestimmung auf die in kapitalgesellschaftlicher Form betriebenen Unternehmen, mit der wir uns nie abgefunden hatten, zu überwinden; wie für die Publizitätspflicht, so durfte auch für die Mitbestimmung nicht die gewillkürte Rechtsform des Unternehmens maßgeblich sein, sondern einzig und allein die Größe und Bedeutung des Unternehmens. Dies wog um so schwerer, als gerade die Spitzen der größten Unternehmenskomplexe geflissentlich eUe kapitalgesellschaftliche Rechtsform meiden und sich mit Vorliebe als Kommanditgesellschaften od. dgl. zu etablieren pflegen. Um die ganz großen Machtgebilde als solche und nicht bloß ihre kapitalgesellschaftlich organisierten Untergliederungen in Verfassung zu bringen, mußte es gelingen, aus dem Kreis der Kapitalgesellschaften auszubrechen; wir mußten einen Weg finden, um auch die in anderer Rechtsform betriebenen Unternehmen zu erfassen. Was mußte da der nächste Schritt sein? Was wir für den Fall der AG zustande gebracht hatten, die insoweit als repräsentatives Beispiel für Kapitalgesellschaften überhaupt genügte, das mußten wir - so schien es uns wenigstens zunächst auch für alle anderen, nicht-kapitalgesellschaftlichen Rechtsformen eine nach der anderen erarbeiten. Um den Stier gleich bei den Hörnern zu packen, begannen wir mit dem - wie uns gleichfalls zuerst schien - schwierigsten Fall des Einzelkaufmanns (der heute vielleicht in keinem Groß- oder Größt-Unternehmen mehr vorkommende Fall war damals bei Krupp noch von aktueller Bedeutung). Wo wir es mit einer juristischen Person als Trägerin des im Unternehmen "arbeitenden" Vermögens zu tun haben, ist dank dieser vermögensrechtlichen Rechtsform das "Risikokapital" so eindeutig umgrenzt, daß kein anderes Vermögen durch den etwaigen Mißerfolg des Unternehmens in (unmittelbare) Mitleidenschaft gezogen werden kann. Damit entfallen alle Probleme und Verwicklungen, die sich aus der persönlichen Haftung ergeben. Haben wir es dagegen mit dem Unternehmen eines Einzelkaufmanns oder einer Personalgesellschaft zu tun, dann haftet er bzw. haften die Gesellschafter für die Verbindlichkeiten des Unternehmens auch mit ihrem übrigen, nicht dem Unternehmen gewidmeten Vermögen, ja noch darüber hinaus persönlich, d. h. sind rechtlich gehalten, notfalls ihre Arbeits- und Erwerbskraft einzusetzen, um die Gläubiger zu befriedigen. Wer persönlich für Geschäfte haftet, der muß frei darüber entscheiden können, welche Verbindlichkeiten er eingeht und welche nicht; ihm Geschäfte gegen seinen Willen aufzuzwingen geht schlechterdings nicht an. Eine Unternehmensverfassung, die

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dem persönlich haftenden Inhaber des Unternehmens die volle Herrschaft über die Geschäfte entzöge, scheidet aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit von vornherein aus den überlegungen aus; der Einführung einer solchen Unternehmensverfassung muß daher die Freistellung von der persönlichen Haftung vorausgehen. Dazu aber gibt es praktisch nur den einen Weg: das im Unternehmen "arbeitende" Vermögen des Einzelkaufmanns oder der Personalgesellschaft muß in gleicher Weise verselbständigt, als "Sondervermögen" aus dessen bzw. deren Gesamtvermögen ausgegrenzt werden, wie das Vermögen der juristischen Person der AG gegenüber demjenigen der Aktionäre verselbständigt und letzteres im Verhältnis zur juristischen Person der AG fremdes Vermögen ist. Mit einigem Scharfsinn und einigen Kunstgriffen ließ sich dafür eine praktische Lösung finden. Ein anderes Problem war nicht minder gewichtig. Die AG kann durch Kapitalerhöhung dem Unternehmen neues Kapital zuführen; der Einzelkaufmann dagegen kann nicht mehr als sein (Rein-)Vermögen als Kapital in das Unternehmen hineinstecken. Ist daher ein Einzelkaufmann Inhaber des Unternehmens, dann muß die Unternehmens·· verfassung, um wachsenden Kapitalbedarf des Unternehmens zu decken, andere Vorkehrungen treffen als bei der verfaßten AG. Oder verallgemeinernd: soll ein und dieselbe Unternehmensverfassung auf Unternehmen mit unterschiedlicher Rechtsform des vermögensrechtlichen Subjekts anwendbar sein, dann muß sie, um wachsendem Kapitalbedarf des Unternehmens Rechnung zu tragen, eine Mehrzahl von Lösungen anbieten, die den unterschiedlichen Möglichkeiten dieser Rechtsformen entsprechen. Das Kernproblem im Fall des Einzelkaufmanns aber war ein anderes: das verfaßte Unternehmen braucht Organe; bei der AG fanden wir Organe vor, die als Vorbild für die Unternehmensorgane dienen und die wir in Unternehmensorgane umwandeln konnten. Der Einzelkaufmann dagegen braucht keine Organe und hat daher auch keine; noch mehr: er kann keine Organe haben; sobald er solche hätte, wäre er nicht mehr Einzelkaufmann13• Also mußten wir zunächst einmal für das Unternehmen des Einzelkaufmanns Organe entwickeln, wobei wir uns so eng wie möglich an das Vorbild der verfaßten AG hielten; alsdann· mußten wir zusehen, wie unser Einzelkaufmann in diese Organisation des verfaßten Unternehmens einzubeziehen oder er mit ihr zu überziehen oder in anderer Ausdrucksweise, wie ihm die Unterneh13 Ob im steuerrechtlichen Sinn das Unternehmen eines Einzelkaufmanns Organträger sein kann oder nicht, ist eine positiv-rechtliche Frage, die der Gesetzgeber nach seinem Ermessen, ggf. sogar für verschiedene Steuern verschieden regeln kann. Organe eines Einzelkaufmanns und daher dieser selbst als Organ träger sind begriffliche Widersprüche.

Rechtsformzwang für Großunternehmen?

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mensverfassung "überzustülpen" wäre. Auch diese Aufgabe wurde gelöst; vor allem aber erschlossen sich uns bei der Arbeit an ihr neue und wichtige Erkenntnisse. Solange wir uns mit der zu verfassenden AG beschäftigten, hatten wir immer noch im Sinne der herkömmlichen Denkweise uns vorgestellt, Gegenstand unserer Bemühungen sei eben diese AG und das (vermeintlich) mit ihr identische und daher auch von uns mit ihr identifizierte Unternehmen. Beim Einzelkaufmann verbietet sich diese Identifizierung. Die juristische Person der AG besteht immerhin als solche überhaupt nur um des von ihr betriebenen Unternehmens willen; der "Gegenstand des Unternehmens" (§ 23 Abs. 3 Ziff. 2 AktGes) ist ihr einziger Daseinszweck. Der Einzelkaufmann besteht und lebt als physische Person völlig unabhängig von dem Unternehmen; ihn sozusagen mit Haut und Haaren in das Unternehmen einzubinden, wie wir das mit der juristischen Person der AG ohne jedes Bedenken oder richtiger, ohne uns dessen überhaupt bewußt zu werden, getan hatten, geht beim Einzelkaufmann schlechterdings nicht an. In das verfaßte Unternehmen einbinden können wir nur seine Vermögenseinlage und ihn selbst nur in seiner Eigenschaft als deren Einleger. So ähnelt sein Verhältnis zum verfaßten, d. h. mit eigenen Organen ausgestatteten Unternehmen in mancher Hinsicht mehr dem Verhältnis des Großoder Alleinaktionärs als demjenigen der juristischen Person der AG zum Unternehmen. Hatten wir in unserem ersten Modell die qualifiziert mitbestimmte AG zur "verfaßten" AG ausgebaut, so konnte es jetzt nicht darum gehen, analog auch den Einzelkaufmann zum "verfaßten" Einzelkaufmann auszubauen, sondern sein bisher überhaupt noch nicht wirtschaftlich mitbestimmtes, auch von den §§ 76-77a BVG nicht betroffenes Unternehmen zum "verfaßten" Unternehmen fortzuentwickeln und zwischen ihm und dem durch diese Umgestaltung ihm ferner gerückten Unternehmen die Verbindung herzustellen, die ihm den gebührenden Einfluß in den Organen des Unternehmens oder auf deren Besetzung sichert. Hatten wir uns bis dahin immer noch durch die uns vorschwebende Identifizierung von Unternehmen und vermögensrechtlichem Subjekt narren lassen, so gingen uns jetzt die Augen auf und wir erkannten klar: diese Identifizierung stimmt nicht; sie ist die Ursache aller Irrungen. Erst mit dieser Erkenntnis war der Weg frei, um eine Unternehmensverfassung zu entwerfen, die von Hause aus ganz und gar unabhängig ist nicht allein von der Rechtsform des vermögensrechtlichen Subjekts, sondern - folgerecht zu Ende gedacht - auch davon, ob überhaupt ein seinem Umfang (seiner Ausdehnung) nach mit dem Unternehmen sich deckendes vermögensrechtliches Subjekt vorhanden ist, ob die Außengrenzen des Unternehmens und des oder der ver-

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mögensrechtlichen Subjekte übereinstimmen oder sich überschneiden und durchkreuzen. Das war der Durchbruch. Wenn meine Erinnerung treu ist, dann kann man nicht sagen, es sei uns plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen; bei mir war es jedenfalls ein langsames Reifen der Einsicht, bis sie zum guten Schluß in voller Klarheit vor Augen stand14• Fertig bis ins einzelne und letzte ausgearbeitet lagen nunmehr vor die bereits in die Schublade abgelegte "verfaßte AG" und - schon mit gewissen Ausblicken auf mögliche andere "Fälle" - der Fall des Einzelkaufmanns, dieser jedoch - darin besteht der grundlegende Unterschied zur AG - eben nicht als der "verfaßte Einzelkaufmann", den es nicht gibt und nicht geben kann, sondern als das "verfaßte Unternehmen eines Einzelkaufmanns" 111. Um ganz sicher zu sein, wirklich alles bedacht und nichts übersehen zu haben und allen denkbaren Fällen und Bedürfnissen gerecht geworden zu sein, hätte man vorsichtshalber das, was wir für die AG und den Einzelkaufmann durchexerziert haben, an allen denkbaren oder vorkommenden Rechtsformen des vermögensrechtlichen Subjekts durchexerzieren müssen. Lägen alle - oder doch alle praktisch bedeutsamen - Modelle in dieser Weise ausgearbeitet vor, dann ließe sich leicht ein Überblick gewinnen, der gestatten würde, die redaktionstechnische Entscheidung zu treffen: was läßt sich - bildhaft ausgedrückt - als allen Fällen gemeinsam vor die Klammer setzen und was kommt an Differenzierungen oder Varianten in der Klammer zu 14 Ehrlichkeit und Dankbarkeit gebieten, hier des maßgeblichen Anteils zu gedenken, den Herbert W. KöhleT an diesem Fortschritt der Erkenntnis hat. Niemand hat so klar und so früh wie er, nämlich schon in den 1950er Jahren, in seinen Veröffentlichungen, namentlich in Zs. f. d. ges. Stw., in JurZtg, BB u. a. m., den Unterschied zwischen dem Unternehmen als sozialem und ökonomischem Gebilde und dem vermögensrechtlichen Subjekt und die daraus folgende "rechtstheoretische Trennung von Unternehmensverfassung und Gesellschaftsrecht" herausgearbeitet und für die Unternehmensträger die "völlig fTeie RechtsfoTmwahl" gefordert (JurZtg 1956, 140). - Wenn hier in den fußnoten auf steuerrechtliche Begriffe und Vorschriften Bezug genommen wird, so liegt auch das ganz in der Linie KöhleTs, der nicht zuletzt an Hand offenbar nicht fiktiver, sondern aktueller, von ihm zu bearbeitender Steuerfälle die Begriftsklärung vorangetrieben hat. 15 Für die Verfassung eines in der Rechtsform der AG betriebenen Unternehmens stehen demnach überraschenderweise zwei Lösungen zur Wahl: einmal die zuerst von uns erarbeitete "verfaßte AG", zum andernmal - analog zum Fall des Einzelkaufmanns - das "verfaßte Unternehmen einer AG". Ob es vorzuziehen sei, alle Unternehmen über einen Kamm zu scheren oder den in der Rechtsform der AG betriebenen Unternehmen auch die Sonderform der "verfaßten AG" anzubieten, darüber brauchten wir uns nicht entscheiden; auf jeden Fall aber ist auch in bezug auf die Unternehmensverfassung ein "Rechtsformzwang" zum mindesten nicht zwingend geboten.

Rechtsformzwang für Großunternehmen?

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stehen? So weit haben wir die Arbeit nicht getrieben. Ein solcher Aufwand an Zeit und Mühe hätte sich nur rechtfertigen lassen, wenn wir unmittelbar vor der Verantwortung gestanden hätten, einen zur parlamentarischen Verabschiedung reifen Gesetzentwurf vorzulegen. Dafür war und ist offenbar auch heute noch die Zeit, d. h. die öffentliche Meinung, die Einsicht der politisch verantwortlichen Kreise noch nicht reif. So haben wir die Arbeit nur so weit vorangetrieben, wie es zu unserer Selbstverständigung notwendig war. An der Grenze angekommen, wo wir nicht mehr grundlegend neue Erkenntnisse gewinnen, sondern nur bereits gewonnene Erkenntnisse technisch ausformen konnten, haben wir die Arbeit abgebrochen. Wichtiger als an den technischen Modalitäten eines Entwurfs zu arbeiten, der zur Zeit noch keine Aussicht hat, vom Gesetzgeber aufgegriffen und verwirklicht zu werden, ist heute die Öffentlichkeitsarbeit: ins öffentliche Bewußtsein die Erkenntnis einzuführen, was ein Unternehmen wirklich ist und wie durch die rechtliche Gestaltung dem Ausdruck gegeben werden kann, was ein Unternehmen in einer freien Gesellschaft und freien Wirtschaft sein kann und sein soll. Solange nicht nur unsere Gesetzgebung, sondern auch die allgemein herrschende Denkweise nicht von der Rechtsform des vermögensrechtlichen Subjekts loskommt, liegt für diejenigen, die wirtschaftliche Mitbestimmung in allen Großunternehmen fordern, die Versuchung nahe, diese in diejenige Rechtsform hineinzuzwingen, in der die bestehende Mitbestimmungsgesetzgebung oder eine Gesetzgebung ähnlichen Typs auf sie anwendbar ist: Verwirklichung der wirtschaftlichen Mitbestimmung auf dem Wege über den Rechtsformzwang. Ob dieser Weg so einfach zu gehen ist, wie diejenigen, die mit ihm liebäugeln, anzunehmen geneigt scheinen, mag hier auf sich beruhen. Immerhin sei die Frage erlaubt, wie man sich das wohl vorstellt, gegen den Willen der widerstrebenden Beteiligten eine Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft oder einen Konzern in eine vermögensrechtliche Einheit zu verwandeln. Hier ist zu dieser Frage nur so viel zu sagen: daß wir seinerzeit die wirtschaftliche Mitbestimmung an die Rechtsform des vermögensrechtlichen Subjekts angeknüpft haben, war nach damaliger Lage der Dinge wohl der einzige Weg, auf dem man verhältnismäßig einfach und rasch zum Ziele kommen konnte; darum ist es nicht nur entschuldbar oder verzeihlich, sondern es war richtig, diesen Weg zu gehen. Heute diesen fehlerhaften Ansatz nicht nur beizubehalten, sondern ihn durch den Rechtsformzwang zum Grundsatz zu erheben, ließe sich auf gar keine Weise rechtfertigen. Lassen wir dem vermögensrechtlichen Subjekt die Freiheit, die ihm zweckmäßig oder passend erscheinende Gestalt zu wählen; für die Verfassung des Unternehmens als des Verbundes der

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durch den Einsatz ihrer Arbeit und der durch den Einschuß von Vermögen oder Vermögensteilen kooperierenden Partner darf die Rechtsform des vermögensrechtlichen Subjekts keine Rolle spielen; die Verfassung des Unternehmens hat sich davon unabhängig einzig und allein auszurichten an den Lebensbedürfnissen des Unternehmens selbst.

Faktische Konzerne? Von ETnst GeßleT Wer wie der Verfasser dieses Beitrages Gelegenheit gehabt hat, mit unserem Jubilar in Kommissionen zusammenzuarbeiten, in zahlreichen Sitzungen mit ihm zu diskutieren, weiß, welchen Wert er auf streng logische Gedankenführung, auf äußerste Prägnanz in der Begriffsbildung legt. Mancher Diskussion, die -sich zu verlaufen drohte, hat er mit seinen Bemerkungen wieder Weg und Ziel gewiesen. Oft waren es nur wenige Sätze, fast beiläufig erscheinende Bemerkungen, die jedoch offenbarten, wie sorgfältig unser Jubilar das Problem durchdacht hatte. Ein klassisches Beispiel dürfte eine Bemerkung unseres Jubilars auf dem 42. Deutschen Juristentag sein. Schilling1 hatte vorgeschlagen, für die Begründung von Konzernverhältnissen den Vertrags- und Schriftzwang einzuführen, und dabei vom "Konzernvertrag"2 gesprochen. Der Ausdruck fand allgemeine Zustimmung. Alle Redner benutzten ihn. Schließlich meldete sich unser Jubilar zu Wort 3 und erhob gegen ihn Bedenken. "Wenn ein solcher Vertrag abgeschlossen wird, wird aus den Beziehungen zwischen den beiden Unternehmen, die den Vertrag schließen, ein Konzern. Aber der Umkehrschluß darf nicht gezogen werden. Es kann auch ohne diesen Vertrag. ein Konzern vorhanden sein. Deshalb bitte ich zu überlegen, ob wir diesen Vertrag nicht doch besser anders bezeichnen sollten." Das Aktiengesetz 1965 hat den Ausdruck "Konzernvertrag" nicht übernommen. Es hat den Konzernvertrag "Beherrschungsvertrag" (§ 291 Abs. 1 AktG) genannt. Ob dieser Ausdruck besser ist, ist zweifelhaft. Er vermeidet zwar die von unserem Jubilar befürchtete Fehldeutung des Ausdrucks "Konzernvertrag" , läßt aber dafür andere Gedankenverbindungen aufkommen, die auch nicht gerechtfertigt sind. Es wird dies in anderem Zusammenhang untersucht werden. Hier steht zur Debatte die Richtigkeit der Bemerkung unseres Jubilars, daß ein Konzern auch ohne einen "solchen Vertrag" vorhan1 Sitzungsbericht Verhandlungen Band II/F, Dritte Abteilung, S. 37 ff. 2 a.a.O., S. 38, 39. 3 a.a.O., S.87.

des

42. Deutschen

Juristentages,

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den sein kann. Gibt es nach dem Aktiengesetz 1965 neben dem "vertraglichen Konzern", dem auf einem Beherrschungsvertrag oder auf einer Eingliederung beruhenden Konzern (§ 18 Abs. 1 Satz 2 AktG) , den sogenannten "faktischen Konzern"? Die Antwort auf die Frage erscheint so selbstverständlich, daß man die Frage fast nicht zu stellen wagt. Die gesamte konzernrechtliche Literatur zum Aktiengesetz hat bisher den faktischen Konzern neben den vertraglichen Konzern gestellt und nicht nur seine Möglichkeit, sondern auch seine rechtliche Zulässigkeit bejaht. Wir haben doch jetzt die §§ 311-318 AktG, den Zweiten Abschnitt des Ersten Teils des Vierten Buches des Aktiengesetzes. Die Begründung zum Regierungsentwurf4 sagt zu ihm: "Seine Vorschriften sind das Kernstück der Regelung des sogenannten faktischen Konzerns", nachdem zuvor 5 festgestellt ist: "Der Entwurf enthält daher im Dritten Buch besondere Vorschriften, die bereits als Grundzüge einer Konzernverfassung angesehen werden müssen. Er unterscheidet hierbei - anknüpfend an die schon im Referentenentwurf vorgesehene Lösung - grundlegend zwischen Konzernverfassungen, die durch ein besonderes Vertragsverhältnis, den sogenannten Beherrschungsvertrag, unter einheitlicher Leitung zusammengefaßt sind, und Konzernen, die lediglich kraft tatsächlicher Beherrschungsmacht geleitet werden." Es besteht ferner Einigkeit darüber - auch Mestmäcker teilt diese Ansicht6 - , daß das Aktiengesetz davon abgesehen hat, seinen Konzernbegriff von einer bestimmten Organisationsform abhängig zu machen. Dennoch hat Mestmäcker dem Dritten Teil seines Beitrages zu der Festschrift von H. Kronstein die überschrift gegeben "Faktische Konzerne?"7. Seine Ausführungen müssen dahin verstanden werden, daß er in den §§ 311, 317 AktG "Schranken für die Ausübung beherrschenden Einflusses" sieht, die "eine einheitliche Leitung ausschließen können"s. Damit hat Mestmäcker die Zulässigkeit des faktischen Konzerns in Zweifel, wenn nicht gar in Abrede gestellt. Mestmäcker leitet, wenn ich ihn richtig verstehe, seine Zweifel aus folgenden Thesen ab: Die Konzernbildung, d. h. die Zusammenfassung mehrerer Unternehmen unter einheitlicher Leitung (§ 18 Abs. 1 AktG) , beruhe regelmäßig auf einer maßgebenden Beteiligung des herrschenden UnternehAktG, § 311, S.407. AktG, Vorbem. z. Dritten Buch Begr. RegE, S.374. "Zur Systematik des Rechts der verbundenen Unternehmen im neuen Aktiengesetz", in: Festschrift für H. Kronstein, S.129 ft., hier S.130. 7 a.a.O., S. 139. S a.a.O., S.147. 4 5 6

KropjJ, KropjJ,

Faktische Konzerne?

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mens an der abhängigen Gesellschaft9 • Mit Hilfe des beherrschenden Einflusses aus der Beteiligung werde die Verwaltung der abhängigen Gesellschaft umgebildet und deren Bindung an die Weisungen der herrschenden Gesellschaft erreicht. Die Konzernbildung führe somit wirtschaftlich zu einer "neuen Unternehmenseinheit"IO. Demgegenüber enthielten die §§ 311 ff. AktG keine Änderung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung in der abhängigen Gesellschaft. Es ergäben sich nur gewisse "Modifikationen aus der in § 311 vorgesehenen Möglichkeit, gesellschaftsschädliche Einflüsse im Einzelfall durch Ausgleich der Nachteile zu legitimieren"ll. Dem sei die Haftung sowohl der Organe der abhängigen Gesellschaft als auch des herrschenden Unternehmens und die seiner gesetzlichen Vertreter angepaßt, wobei die Haftung nach § 317 AktG gegenüber der aus § 117 AktG schärfer sei. Aus dieser Regelung der Verantwortlichkeit seien die Grenzen für die Ausübung des beherrschenden Einflusses abzuleiten und zu entscheiden, "ob der beherrschende Einfluß bis zur einheitlichen Leitung im Sinne von § 18 Abs.l Satz 1 gesteigert werden darf"12. Im Unterordnungskonzern setze die einheitliche Leitung "unternehmerische Planung bei ungeteiltem Unternehmensrisiko voraus"l:!. Sinn und Zweck der §§ 311 ff. AktG verpflichte dagegen das herrschende Unternehmen, die abhängige Gesellschaft so zu leiten, als ob sie unabhängig seil4 • Die Schranke, die damit der Ausübung des beherrschenden Einflusses gesetzt sei, könne eine einheitliche Leitung ausschließen, wenn sie "dazu führen würde, die abhängige Gesellschaft als selbständiges Unternehmen so umzugestalten, daß das unternehmerische Eigeninteresse als Maßstab für die Begrenzung des beherrschenden Einflusses unvollziehbar würde"15. Da § 311 AktG nicht nur Rechtsgeschäfte, sondern auch Maßnahmen erfasse, sei es "irreführend", in der von § 311 Abs.2 AktG zugelassenen Kompensation nachteiliger Maßnahmen die Gewährleistung der einheitlichen Leitung zu sehenl6 • Soweit Mestmäcker. Seine Ausführungen können, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, nur dahin verstanden werden, daß er den faktischen Konzern nach dem Aktiengesetz zwar für rechtlich zulässig, aber im Rahmen der Schranken, die die §§ 311 ff. AktG für die Ausübung des beherrschenden Einflusses setzen, eine einheitliche Leitung im Sinne des § 18 Abs.l AktG für rechtlich nicht möglich hält. 9 a.a.O., S. 132. 10 a.a.O., S. 133 und S. 145. 11 a.a.O., S. 141. 12 a.a.O., S. 142. 13 a.a.O., 5.145. 1" a.a.O., 5.146. 15 a.a.O., 5.147. 16 a.a.O., 5.147.

11 Festgabe Kunze

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Mit der Bedeutung der §§ 311 ff. AktG für den faktischen Konzern hat sich bereits Kropff17 näher befaßt. Er ist entgegen Mestmäcker der Ansicht, daß das Aktiengesetz mit den §§ 311 ff. "die Ausübung von tatsächlicher Konzernleitungsmacht rechtlich ermöglichen"18 wollte, und sieht in ihnen im Einklang mit der Begründung zum Regierungsentwurf19 "die Ansätze zu einer Konzernverfassung für den faktischen Konzern". Da die bei den Aufsätze ungefähr zur gleichen Zeit erschienen sind, konnte Kropff sich nicht mit den Ausführungen von Mestmäcker und dieser sich nicht mit denen von Kropff befassen. Es sei deshalb hier der Frage nochmals, besonders auf die Ausführungen von Mestmäcker ausgerichtet, nachgegangen. Dabei soll zunächst untersucht werden, ob der faktische Konzern nach dem Aktiengesetz überhaupt rechtlich zulässig, und sodann, üb er nach den Einzelvorschriften der §§ 311 ff. AktG rechtlich möglich ist. Gegen diese Zweiteilung können zwar Bedenken erhoben werden, weil in der rechtlichen Unmöglichkeit rückwirkend eine rechtliche Unzulässigkeit gesehen werden kann. Dennoch soll so vorgegangen werden, weil dadurch die Rechts- und Sachlage klarer hervortritt. Das Vorgehen hat nichts zu tun mit dem von Mestmäcker beanstandeten, "die einheitliche Leitung als zulässig vorauszusetzen, um dann ihre Grenzen zu bestimmen"~o. Auch in meiner früheren VeröffentlichungU habe ich die einheitliche Leitung nicht als zulässig vorausgesetzt, sondern aus den gesetzlichen Vorschriften "gefolgert"~2. Es soll nachstehend nichts vorausgesetzt oder unterstellt werden. Auszugehen ist von § 18 Abs. 1 Satz 1 AktG. Er enthält die Begriffsbestimmung für den Unterordnungskonzern. Danach liegt ein Konzern vor, wenn ein oder mehrere Unternehmen, die zwar rechtlich selbständig, aber abhängig sind, unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefaßt sind. Zusammenfassung mehrerer Unternehmen und deren einheitliche Leitung durch das herrschende Unternehmen sind also die bei den Voraussetzungen für das Bestehen eines Konzerns im Sinne des Aktiengesetzes. Das Aktiengesetz hat damit den Konzerntatbestand nicht an eine bestimmte "Rechtsform der Konzernierung" geknüpft, insbesondere 17

"Der faktische Konzern als Rechtsverhältnis", in: DB 1967, 2147 ff. und

2204 ff.

18 a.a.O., S.2208. 101 Vgl. Anm.4 und 5. 20 a.a.O., S. 143. 21 "Probleme des neuen Konzernrechts", in: DB 1965, 1691 u. 1729, hier

1729, 1730. ~2

Was auch Mestmäcker, a.a.O., S.142 anerkennt.

Faktische Konzerne?

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nicht an den Abschluß eines Beherrschungsvertrages. Das ergibt sich eindeutig aus § 18 Abs.1 Satz 2 AktG. Dort ist der Beherrschungsvertrag nur als ein Fall der Konzernierung genannt. Das Gesetz sieht es also als durchaus möglich an, daß auch andere Tatbestände die Erfordernisse des Zusammenschlusses unter einheitlicher Leitung erfüllen können. Mestmäcker meint, durch das Erfordernis der einheitlichen Leitung würden die Unternehmen "zu einer neuen unternehmerischen Einheit zusammengeschlossen", "die einheitliche Leitung werde dadurch definiert, daß die Gesellschaft, die ihr unterstellt ist, aufhört, ein selbständiges Unternehmen zu betreiben", sie werde ein unselbständiges Glied innerhalb eines Gesamtunternehmens23 • M. E. ist ein "ungeteiltes Unternehmensrisiko" nicht Voraussetzung für das Bestehen ~ines Konzerns. Begrifflich kann jedenfalls ein Konzern auch bei "Teilung" des Unternehmensrisikos vorliegen. Die einheitliche Leitung setzt nur die einheitliche unternehmerische Planung voraus. So soll bei mindestens einem deutschen Konzern trotz einheitlicher Leitung jede Konzerngesellschaft ihr eigenes Unternehmensrisiko zu tragen haben. Auch Mestmäcker erkennt an, daß die einheitliche Leitung ganz verschiedene Bereiche des unternehmerischen Handeins erfassen kann, daß dies von der Art der wirtschaftlichen Beziehungen des Konzerns und der Technik der Konzernleitung abhängt24• Das ist auch der Standpunkt des Aktiengesetzes. Es hat bewußt davon abgesehen, Ausmaß und Form der einheitlichen Leitung näher zu bestimmen26 • Dem Wesen der einheitlichen Leitung kann nur das Erfordernis der Abstimmung der Geschäftspolitik der Konzerngesellschaften und sonstiger grundsätzlicher Fragen aufeinander entnommen werden26 • Dem Konzernbegriff liegt auch nicht per se der Gedanke der neuen Unternehmenseinheit mit ungeteiltem Unternehmensrisiko zugrunde. Die Wirtschaft hat für die Konzernbildung und für die Konzernleitung vielfältige Formen, sehr enge und sehr lose, entwickelt. Es würde dieser Entwicklung widersprechen, jetzt den Konzernbegriff auf die Fälle des engen Unternehmenszusammenschlusses mit ungeteiltem Unternehmensrisiko zu beschränken. Sie mögen den Regelfall bilden. Dem rechtlichen Konzernbegriff lag jedoch von jeher in übereinstimmung mit dem wirtschaftlichen die weitere Auffassung zugrunde. Für unser Problem kommt es jedoch darauf nicht entscheidend an. Hier genügt die Feststellung, dan § 18 AktG für die Konzernierung 28 24 25 26

11·

a.a.O., S. 145/146. a.a.O., S. 145. Vg!. RegEBegr. Kropff, AktG § 18, S.33. Vgl. Anm.25.

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keine Rechtsform vorschreibt. Der von Schilling27 geforderte Vertragsund Schriftzwang ist nicht Gesetz geworden. Damit läßt § 18 AktG, wenn auch nicht ausdrücklich. den faktischen Konzern zu. Nach ihm kommt es nur darauf an, ob die beiden tatsächlichen Erfordernisse, Zusammenschluß von Unternehmen und einheitliche Leitung, vorliegen. Mangels einer ausdrücklichen Vorschrift über die Zulässigkeit ist damit jedoch noch nichts Endgültiges über die rechtliche Zulässigkeit des faktischen Konzerns gesagt. Seine Unzulässigkeit könnte sich aus anderen Vorschriften des Aktiengesetzes, sei es unmittelbar oder nur mittelbar, ergeben. Kropff28 ist der Frage nachgegangen, ob sich aus der eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft durch den Vorstand, durch die Schadensersatzpflicht für die Benutzung des Einflusses auf die Gesellschaft aus § 117 AktG, durch das Verbot, Gewinn verdeckt auszuschütten, die Unzulässigkeit des faktischen Konzerns ergibt. Er hat aus § 311 AktG den Schluß gezogen, daß die Frage zu verneinen ist. Angesichts seiner sehr überzeugenden Ausführungen, denen, abgesehen von für die Grundfrage unwesentlichen Nuancen über das Verhältnis zwischen §§ 311 und 117 AktG 29, beigetreten werden kann, kann hier davon abgesehen werden, darauf nochmals einzugehen. Diese Vorschriften bilden auch nicht die Grundlage der Ansicht von Mestmäcker. Er leitet seine gegenteilige Ansicht vielmehr aus § 311 AktG und den Haftungsmaßstäben der §§ 317,318 AktG ab. Sie stellen in der Tat den Angelpunkt dar, wie ja auch Kropff § 311 AktG den Vorrang gegenüber §§ 76, 117, 57 Abs.l, § 58 Abs.5 AktG einräumt. Deshalb sei auf ihre Bedeutung näher eingegangen. Sicherlich besagt § 311 AktG ebensowenig wie § 18 AktG ausdrücklich etwas über die Zulässigkeit des faktischen Konzerns. Er verbietet ihn aber auch nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. Die Bedeutung, der Sinn und Zweck des § 311 AktG werden nun verkannt, wenn vornehmlich auf seinen ersten Halbsatz Gewicht gelegt und dem zweiten Halbsatz zunächst einmal nur nebensächliche Bedeutung beigelegt wird. Gäbe es den zweiten Halbsatz nicht, so könnte aus dem ersten Halbsatz ein Verbot des faktischen Konzerns hergeleitet werden. Denn der erste Halbsatz verbietet, den Einfluß auf die abhängige Gesellschaft zu für diese nachteiligen Geschäften zu benutzen. Die Herausstellung dieses Verbotes an erster Stelle war nötig, weil § 311 AktG nicht nur den faktischen Konzern, sondern auch den weitergehenden Tatbestand der Abhängigkeit von Gesellschaften erfaßt. Durch den zweiten Halb27 Vgl. Anm.2. 28 Vgl. Anm.17. 29 Vgl. dazu Verfasser in DB 1965, 1729.

Faktische Konzerne?

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satz wird jedoch dem Verbot seine absolute Wirkung genommen. Damit wird dem Sinn und Zweck des § 311 Abs.1 AktG nur gerecht, wer ihn nicht in seiner negativen, sondern in positiver Fassung liest. Ein herrschendes Unternehmen darf von seinem Einfluß gegenüber einer abhängigen Gesellschaft Gebrauch machen, wenn etwaige Nachteile, die der abhängigen Gesellschaft dadurch zugefügt werden, ausgeglichen werden. In § 311 AktG wird eine zu Fehlschlüssen führende Gedankenrichtung hineingelegt, wenn gesagt wird, "ihr Wortlaut verweist zunächst (! - also nicht endgültig?) auf die Verpflichtung des herrschenden Unternehmens, die abhängige Gesellschaft so zu leiten, als ob sie unabhängig wäre"30. § 311 enthält diese Verpflichtung nicht oder jedenfalls nur sehr bedingt "zunächst" . Wenn einer Gesellschaft gegen Ausgleich Nachteile zugefügt werden können, soll sie zwar im wirtschaftlichen Ergebnis "so stehen, wie sie stehen würde, wenn sie E'in unabhängiges Unternehmen wäre". Das ist aber etwas ganz anderes als die Verpflichtung, sie so zu leiten, als ob sie unabhängig wäre. Diese Verpflichtung könnte dem faktischen Konzern entgegenstehen. Die bloße Ausgleichspflicht schließt ihn dagegen nicht aus. Ob § 317 AktG diese Wirkung hat, wird unten zu untersuchen sein. Da § 311 kein absolutes Verbot der Einflußnahme vorsieht, weder "zunächst" noch "endgültig" die herrschende Gesellschaft verpflichtet, die abhängige Gesellschaft wie eine unabhängige Gesellschaft zu führen, scheint mir meine frühere Feststellung31 zutreffend. § 311 AktG schließt die einheitliche Leitung und damit den faktischen Konzern nicht aus. Er gestattet vielmehr sogar "die Rechtslage, die Würdinger für die Leitung eines Konzerns für ausreichend, aber auch für geboten hält"32. Jedenfalls läßt sich aus § 311 AktG nichts herleiten, was gegen die rechtliche Zulässigkeit des faktischen Konzerns spricht. Das könnte nur geschehen, wenn er ein Verbot der Einflußnahme enthalten würde. Ebensowenig läßt sich etwas gegen die rechtliche Zulässigkeit des faktischen Konzerns aus § 317, genauer gesagt § 317 Abs.2 AktG, entnehmen. Die Vorschrift befreit ausdrücklich von einer Schadensersatzpflicht (§ 317 Abs.1) wegen Benutzung des Einflusses zur Vornahme nachteiliger Geschäfte. In einer solchen Vorschrift kann niemals ein Verbot der rechtlichen Zulässigkeit des faktischen Konzerns liegen. Aus der Feststellung, daß die §§ 311, 317 AktG der rechtlichen Zulässigkeit des faktischen Konzerns nicht entgegenstehen, folgt allera.a.O., 5.146. a.a.O., DB 1965, 1730. .'12 a.a.O., DB 1965, 1729; vgl. auch Wiirdinger, Aktien- und Konzernrecht, § 60 I am Ende. Der Hinweis von Würdinger, daß "dies insbesondere für dezentralisierte Konzerne" gilt, scheint mir entgegen Mestmäcker, a.a.O .• 5. 142, Anm.29, nicht bedeutsam. 30

81

50 Mestmäcker,

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dings noch nicht, daß der faktische Konzern auch rechtlich möglich ist. Das hängt, wie Mestmäcker mit Recht bemerkt, von den Haftungsmaßstäben ab. Sind die Schranken für die Ausübung des beherrschenden Einflusses durch §§ 311, 317 AktG so eng gezogen, daß sie eine einheitliche Leitung ausschließen, so wäre damit der faktische Konzern nach dem Aktiengesetz rechtlich nicht möglich. Aus der rechtlichen Unmöglichkeit würde sich auch eine rechtliche Unzulässigkeit ergeben; die abstrakt aus §§ 311, 317 AktG hergeleitete Zulässigkeit würde durch die einengenden Schranken ihres Inhalts beraubt. Deshalb bedarf es eines Eingehens auf die Schranken, die sich aus §§ 311, 317 AktG für die Ausübung des beherrschenden Einflusses ergeben. Hier steht im Vordergrund § 311 Abs.2 AktG. Mit seiner Auslegung im einzelnen hat sich Kropff 33 näher befaßt, weshalb darauf nicht näher eingegangen zu werden braucht. Hier interessiert nur, ob § 311 Abs. 2 AktG eine Schranke für die Ausübung des beherrschenden Einflusses darstellt und deshalb für die Frage, ob der faktische Konzern rechtlich möglich ist, von Bedeutung ist. Eine Schranke für die Ausübung des beherrschenden Einflusses im eigentlichen Sinne stellt er nicht dar. Er regelt näher den Ausgleich für nachteilige Geschäfte oder Maßnahmen. Aus § 311 Abs. 1 AktG könnte entnommen werden, daß Nachteile sofort auszugleichen sind. Demgegenüber eröffnet Abs. 2, wenn während des Geschäftsjahres kein tatsächlicher Ausgleich erfolgt ist, die Möglichkeit, diesen noch weiter hinauszuschieben. Er fordert nur in Gestalt eines Rechtsanspruchs die Festlegung, wann und wodurch der Nachteil tatsächlich ausgeglichen werden soll. Er gestattet also, den sofortigen tatsächlichen Ausgleich durch einen zeitlich gesetzlich nicht befristeten rechtlichen Ausgleich zu ersetzen. Das Erfordernis des rechtlichen Ausgleichs kann zwar im weiteren Sinne auch als eine Schranke für die Ausübung des beherrschenden Einflusses angesehen werden. Die Zufügung von Nachteilen ohne Gewährung eines Ausgleichs ist damit nicht zugelassen. Damit ist die Ausübung des beherrschenden Einflusses in dieser Richtung begrenzt. Diese Blickrichtung würde aber dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gerecht. Durch sie sollen gerade die Möglichkeiten, beherrschenden Einfluß auszuüben, erweitert werden. Ein sofortiger tatsächlicher Ausgleich würde die Behandlung der im Konzern zusammengeschlossenen Unternehmen als Unternehmenseinheit einengen. Er würde einer unternehmerischen Planung, bei der Gewinne und Verluste, Aufwendungen und Erträge der Konzernunternehmen, wenn auch nicht endgültig, so doch für bestimmte Zeiträume "verlagert" werden, entgegen33

Vgl. Anm.17, insbesondere DB 1967, 2152.

Faktische Konzerne?

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stehen. § 311 Abs.2 AktG gestattet demgegenüber diese Verlagerung, zwar nicht endgültig, aber doch für eine in das Ermessen der Konzernleitung gestellte Frist. Sie kann zeitweilig den tatsächlichen Ausgleich durch einen rechtlichen ersetzen. Damit stellt § 311 Abs. 2 - jedenfalls rechtlich für die Bildung faktischer Konzerne dar.

keine Schranke

Bei § 311 Abs. 2 AktG kann vielmehr allein die Frage aufgeworfen werden, ob die Notwendigkeit, den rechtlichen Ausgleich irgendwann einmal tatsächlich auszugleichen, rein tatsächlich gesehen, den Zusammenschluß von Unternehmen unter einheitlicher Leitung zu einem faktischen Konzern so behindert, daß der Zusammenschluß keinen Sinn hat und deshalb von ihm abgesehen wird. Ob § 311 Abs. 2 AktG in diesem Sinn rein tatsächlich eine einheitliche Leitung ausschließt, soll untersucht werden, nachdem geprüft worden ist, ob die haftungsrechtlichen Vorschriften eine einheitliche Leitung verhindern. Dort soll auch auf die Frage eingegangen werden, ob der "Grundsatz der ex-ante-Beurteilung der Einzelmaßnahmen" die einheitliche Leitung ausschließt34• Als eine Schranke für die Ausübung beherrschenden Einflusses könnte sich in erster Linie § 317 AktG erweisen. Er statuiert eine Schadensersatzpflicht für das herrschende Unternehmen (Abs. 1) und für seine gesetzlichen Vertreter (Abs. 3). Die Bedrohung mit Schadensersatzansprüchen kann das herrschende Unternehmen veranlassen, von der Bildung eines faktischen Konzerns, von einer Zusammenfassung der Unternehmen unter einheitlicher Leitung abzusehen, wenn praktisch in jedem Fall der Ausübung vop. einheitlicher Leitung die Schadensersa tzpflich teingreift. Das ist jedoch nicht der Fall. § 317 Abs. 1 und 3 AktG sehen die Schadensersatzpfiicht nur vor, wenn das herrschende Unternehmen zu einem nachteiligen Rechtsgeschäft, einer nachteiligen Maßnahme veranlaßt hat, "ohne daß es den Nachteil bis zu dem Ende des Geschäftsjahres tatsächlich ausgleicht oder der abhängigen Gesellschaft einen Rechtsanspruch auf einen zum Ausgleich bestimmten Vorteil gewährt". Es ist also nicht jede Ausübung des beherrschenden Einflusses mit Schadensersatzpflicht bedroht, ja selbst nicht einmal die Veranlassung zu einem nachteiligen Rechtsgeschäft oder einer nachteiligen Maßnahme. Denn selbst bei einer solchen Veranlassung hängt die Schadensersatzpflicht davon ab, daß der abhängigen Gesellschaft bis zum Ende des Geschäftsjahres weder tatsächlich noch rechtlich ein Ausgleich gewährt ist. Damit ist die unternehmerische Planung der herrschenden Gesellschaft, selbst wenn sie zunächst einmal die Zufügung 84

Vgl. Mestmäcker, a.a.O., S. 147.

Ernst Geßler

168

von Nachteilen für die abhängige Gesellschaft vorsieht, völlig frei und nicht mit Schadensersatzpflichten belastet. Erst zum Ende des Geschäftsjahres muß sich die herrschende Gesellschaft Rechenschaft ablegen, welche Nachteile sie der abhängigen Gesellschaft zugefügt hat, und sich über deren Ausgleich klar werden. Auch hinsichtlich des Ausgleichs ist sie in ihren Dispositionen frei. Sie bestimmt Art und Weise des Ausgleichs, Barzahlung oder Gewährung von Sachleistungen oder von anderen Vorteilen. Sie bestimmt auch den Zeitpunkt des tatsächlichen Ausgleichs. Dabei hat natürlich die weite Hinausschiebung des tatsächlichen Ausgleichs Einfluß auf dessen Höhe. Er muß auch insoweit angemessen sein. Gewährt sie der abhängigen Gesellschaft auf den so gesetzlich festgelegten Ausgleich einen Rechtsanspruch, entsteht weder für sie noch für ihre gesetzlichen Vertreter, die das Rechtsgeschäft oder die Maßnahme veranlaßt haben, eine Schadensersatzpflicht. Nach Mestmäcker3 :; soll sich aus §§ 311, 317 AktG die Verpflichtung für die herrschende Gesellschaft ergeben, die abhängige Gesellschaft so zu leiten, als ob sie unabhängig wäre. Bereits oben ist dargelegt, daß § 311 AktG sie dazu nicht verpflichtet. Dies kann auch nicht § 317 AktG entnommen werden. Anscheinend ist § 317 Abs.2 der Anlaß zu der Fehldeutung. Nach ihm tritt die Ersatzpflicht nach Absatz 1 nicht ein, wenn auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsführer einer unabhängigen Gesellschaft das Rechtsgeschäft vorgenommen, die Maßnahme getroffen oder unterlassen hätte. Aus diesem Satz kann eine Verpflichtung, die abhängige Gesellschaft wie ein unabhängiges Unternehmen zu leiten, nicht herausgelesen werden. Der Sinn des § 317 Abs.2 AktG ist, wie sein Wortlaut und auch die Begründung zum Regierungsentwurf ergeben, ein ganz anderer. Nach § 317 Abs. 1 AktG besteht eine Pflicht, der abhängigen Gesellschaft den Schaden zu ersetzen, der ihr durch von der herrschenden Gesellschaft veranlaßte Geschäfte oder Maßnahmen entsteht, sofern nicht ein Ausgleich gewährt wird. Nun gibt es Geschäfte, die sich in der Planung nicht als nachteilig darstellen, nachher sich aber für die abhängige Gesellschaft nachteilig auswirken. Nach § 317 Abs.1 AktG müßte die herrschende Gesellschaft, wenn sie die abhängige Gesellschaft zu diesem Geschäft veranlaßt hat, Ersatz leisten, sofern sie den Nachteil nicht nach Abs. 1 ausgleicht. Damit würde die herrschende Gesellschaft im Gegensatz zu den Geschäftsführern der abhängigen Gesellschaft mit einer Haftung für fehlgeschlagene Geschäfte oder Maßnahmen belastet werden. Diese Haftung für fehlgeschlagene Geschäfte, für das unter35

a.a.O., S. 146.

Faktische Konzerne?

169

nehmerische Wagnis, soll sie grundsätzlich nicht treffen. Sie soll bei der ihr nach § 311 AktG gestatteten Einflußnahme auf die abhängige Gesellschaft nicht besser, aber auch nicht grundsätzlich schlechter stehen als die Geschäftsführer der abhängigen Gesellschaft. Hätten diese das nachteilige Geschäft vorgenommen, träfe sie keine Ersatzpflicht, wenn sie bei dessen Vornahme die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers angewandt hätten. Ebenso soll die herrschende Gesellschaft stehen. Allerdings mit dem Unterschied, daß bei ihr nicht der allgemeine Maßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers gilt, sondern der eines Geschäftsführers einer unabhängigen Gesellschaft. Während sich sonst ein Geschäftsführer bei der Bemessung seiner Sorgfaltspflicht auch auf die besonders gelagerten Verhältnisse bei seiner Gesellschaft berufen kann, soll dies der herrschenden Gesellschaft nicht gestattet sein86 • Sie wird von der Haftung für das Unternehmensrisiko nur befreit, wenn das Geschäft auch ein Geschäftsführer einer unabhängigen Gesellschaft getätigt hätte. Handelt es sich bei dem nachteiligen Geschäft um ein Geschäft, das im Interesse der abhängigen Gesellschaft lag, hat diese Einschränkung keine Bedeutung. Die herrschende Gesellschaft haftet für das fehlgeschlagene Geschäft nicht. Anders kann der Fall liegen, wenn es sich bei dem für die abhängige Gesellschaft nachteiligen Geschäft um ein Geschäft handelt, das letztlich im Interesse der herrschenden Gesellschaft vorgenommen wurde oder das zwar wirtschaftlich durchaus vernünftig erschien, an dem aber gleichwohl die abhängige Gesellschaft kein Interesse hatte. Ein solches Geschäft hätte der Geschäftsführer einer unabhängigen Gesellschaft nicht vorgenommen. Dann wird die herrschende Gesellschaft nicht von dem Geschäftsrisiko entlastet. Dies wäre aber auch nicht gerechtfertigt. Denn, wenn die herrschende Gesellschaft in ihrem Interesse liegende risikoreiche Geschäfte durch die abhängige Gesellschaft durchführen läßt oder sie zu Geschäften veranlaßt, die sie ohne den Rat oder die Weisung nicht vorgenommen hätte, muß sie bei deren Fehlschlägen das Risiko tragen. Sie kann damit die abhängige Gesellschaft auch dann nicht belasten, wenn das Geschäft "nach den Verhältnissen der abhängigen Gesellschaft vernünftig und gerechtfertigt war". Der Nachteil ist gemäß § 311 Abs. 2 AktG auszugleichen oder nach § 317 Abs. 1 Schadensersatz zu leisten. Nur um diese Befreiung von der Haftung für fehlgeschlagene Geschäfte handelt es sich in § 317 Abs.2 AktG. "Diese Einschränkung der Haftung beläßt für den nicht auf einem Beherrschungsvertrag be86 a. M. Würdinger, a.a.O., § 60 III I, S. 313, dessen Beispiel richtig ist, dessen Formulierung aber zu weit geht; Baumbach-Hueck, AktG, § 317,

Anm.6.

EmstGeßler

170

ruhenden faktischen Konzern Raum, in dem die Konzernleitung ausgeübt werden kann, ohne eine Haftung für fehlgeschlagene Geschäfte oder Maßnahmen auszulösen37 • Mehr darf in § 317 Abs.2 nicht hineingelesen oder aus ihm über den Wortlaut hinaus entnommen werden. Mestmäcker hat diesen Sinn und Zweck auch an anderer Stelle38 klar hervorgehoben. Anscheinend hat er sich jedoch dann durch den Satz in der Begründung des Regierungsentwurfes, die gesteigerte Verantwortlichkeit "soll verhindern, daß ein herrschendes Unternehmen die mit einem Beherrschungsvertrag verbundene Leitungsmacht in Anspruch nimmt, ohne einen solchen Vertr:ag abgeschlossen zu haben"39, den er seinen Ausführungen gegenüberstellt40 , irreleiten lassen. Dieser Satz stellt keine Begründung für die jetzige Fassung der §§ 311, 317 AktG dar. Er bezieht sich auf den Regierungsentwurf. Dessen § 300 Abs.3 ließ als Ausgleich nur Vorteile aus einem Vertrag zu, "der mit dem nachteiligen Rechtsgeschäft oder der nachteiligen Maßnahme so eng zusammenhängt, daß sie wirtschaftlich als ein einheitliches Geschäft anzusehen sind". Durch die Änderung des Ausgleichs in § 311 Abs. 2 AktG sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Beziehung kann deshalb dieser Satz nicht mehr als Begründung für die nunmehr für den Ausgleich getroffene Regelung in § 317 Abs.2 AktG herangezogen werden. Eine Untersuchung darüber, ob die haftungsrechtlichen Vorschriften eine einheitliche Leitung im Sinne von § 18 Abs.1 AktG ausschließen oder beschränken, muß auch § 318 AktG, die besondere Haftungsnorm für die Verwaltungsmitglieder der abhängigen Gesellschaft, einbeziehen. Nach § 318 AktG haften diese, kurz gesagt, für eine Verletzung ihrer Berichtspflichten hinsichtlich der nachteiligen Geschäfte und Maßnahmen. Die Auslegung der Vorschrift bereitet Schwierigkeiten. Ihr Wortlaut läßt nicht erkennen, ob es sich bei ihr um eine Sondernorm wegen Verletzung bestimmter Pflichten handelt, neben der die allgemeinen Haftungsvorschriften (§§ 93, 116 AktG) bestehen bleiben, oder ob die Vorschrift die sonstige Haftung der Verwaltungsmitglieder auf die Verletzung dieser Pflichten beschränkt41 • Nach dem Ausschußbericht42 soll § 318 AktG die Haftung auf die Verletzung der Berichtspflichten "beschränken". Die abhängige Gesellschaft könne nachteilige Geschäfte vornehmen "auch wenn die Nachteile nicht im gleichen Geschäft ausgeglichen werden". An der Bemerkung im Ausschußbericht ist sicher37

38 39

Kropfj, AktG, § 317, Begr. RegE S.419.

a.a.O., S. 141.

Kropfj, AktG, § 317, Begr. RegE S.418.

a.a.O., S.l42. Vgl. hierzu von Godin-Wilhelmi, AktG, § 318 Anm. 1; Bau.mbach-Hu.eck, AktG, § 318 Anm.7. 411 Kropfj, AktG, § 318, S.420. 40 41

171

Faktische Konzerne?

lich soviel richtig, daß die Geschäftsführer der abhängigen Gesellschaft - generell gesehen - ihre Sorgfaltspflicht nicht verletzen, wenn sie auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens ein nachteiliges Geschäft ohne sofortigen tatsächlichen oder rechtlichen Ausgleich vornehmen. Das folgt aus § 311 AktG, insbesondere aus dessen Absatz 2. Bei einer anderen Auslegung würde § 311 Abs. 2 seinen Sinn verlieren. Es soll ja gerade, wenn auch unter den besonderen Voraussetzungen des § 311 Abs.2 AktG, die abhängige Gesellschaft zu nachteiligen Geschäften veranlaßt werden können. Dem würde eine Schadensersatzpflicht ihrer Geschäftsführer, weil sie sich auf das nachteilige Geschäft eingelassen haben, widersprechen. Andererseits erfordert dieser Zweck des § 318 nicht eine Befreiung der Geschäftsführer von ihrer allgemeinen Sorgfaltspflicht und die Beschränkung ihrer Haftung auf Verletzungen der Berichtspflicht. Weshalb sollen die Geschäftsführer nicht wegen Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht haften, wenn sie die herrschende Gesellschaft nicht auf die Gefahren eines risikoreichen Geschäftes, die sie auf Grund der besonderen Kenntnis der Sachlage besser beurteilen können, aufmerksam machen, sondern sich auf die stillschweigende Ausführung beschränken? Ebenso muß es, da sie nicht verpflichtet sind, den Weisungen der herrschenden Gesellschaft zu folgen, als ihre Pflicht angesehen werden, dem herrschenden Unternehmen zu sagen, daß sie ein bestimmtes Geschäft als nachteilig für ihre Gesellschaft ansehen und einen Ausgleich verlangen müßten. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sie sofort für einen Ausgleich sorgen müssen oder ob der Hinweis auf die Ausgleichspflicht genügt43 • Befindet sich die herrschende Gesellschaft in Vermögensverfall oder erscheint aus sonstigen Gründen der Ausgleich nicht gesichert, verletzen sie gleichfalls ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie, ohne auf einen sofortigen Ausgleich oder dessen Sicherung zu bestehen, ein nachteiliges Geschäft ausführen"4. Durch § 318 AktG ist deshalb die Haftung der Verwaltungsmitglieder nach §§ 93, 116 AktG nicht völlig aufgehoben, sondern nur beschränkt worden. Damit kann für die hier behandelte Frage, ob die haftungsrechtlichen Maßstäbe einen faktischen Konzern ausschließen, festgestellt werden, daß die haftungsrechtlichen Vorschriften für die Geschäftsführer der abhängigen Gesellschaft in der Abwandlung, die sie durch § 318 AktG erfahren haben, keine Grenze für die Ausübung des beherrschenden Einflusses aufstellen, die eine einheitliche Leitung im Sinne von § 18 AktG ausschließt. 43 Vgl. hierzu Baumbach-Hueck, AktG, § 318 Wilhelmi, AktG, § 318 Anm. 1.

Anm.7 und "Von Godin-

" Vgl. auch Verf. in DB 1965, 1729/1730 und KTOpff, DB 1967, 2151.

172

Ernst Geßler

Mestmäcker scheint dennoch der Ansicht zu sein, daß es einen "Konfliktsbereich gibt, innerhalb dessen der erstrebte Schutz der abhängigen Gesellschaft und ihre Unterstellung unter die einheitliche Leitung unvereinbar sind"45. Wenn ich ihn recht verstehe, sieht er ihn in dem Beitrag, den die abhängige Gesellschaft zum Gesamtertrag des Konzerns leistet. Dieser Beitrag sei "betriebswirtschaftlich nicht isolierbar"46, müsse jedoch ebenso ausgeglichen werden, wie alle für die abhängige Gesellschaft nachteiligen Maßnahmen47 . Hier versage die Haftungsregelung. Die faktische Durchsetzung der einheitlichen Leitung dürfe jedoch "nur gewährleistet werden, wenn den Vermögensinteressen aller Beteiligten unabhängig von der gewählten Rechtsform der Konzernierung der gleiche Schutz zuteil wird"48. Es ist Mestmäcker ohne weiteres zuzugeben, daß sich der Beitrag eines Konzernunternehmens zum Gesamtertrag des Konzerns nicht in dem Wert der einzelnen von ihm erbrachten Leistungen, der einzelnen vorgenommenen oder unterlassenen Maßnahmen erschöpft. Er kann darüber hinausgehen, er wird dies sogar sehr oft. Es ist auch richtig, daß sich "der Wert dieses Beitrages" nicht ermitteln läßt, da er nicht isolierbar ist. Infolgedessen findet auch insoweit kein "isolierter" Ausgleich statt. Es bleibt jedoch die Frage, ob wegen dieser "Lücke" der faktische Konzern als unzulässig angesehen werden muß. Insoweit ist zunächst einmal festzustellen, daß, ebenso wie der Beitrag des einzelnen Konzernunternehmens mangels Isolierbarkeit unberücksichtigt bleiben muß, auch der "Beitrag" des Konzerns zu dem Ertrag der abhängigen Gesellschaft nicht berücksichtigt werden kann und auch nicht berücksichtigt wird. Beide Teile haben Vorteile von der Konzernbildung, die ihren Ursprung in der Konzernzugehörigkeit haben. Sie können und brauchen nicht ausgeglichen zu werden. Das Problem, daß von einer Konzernbildung alle Konzernunternehmen auch Vorteile allgemeiner Art haben und diese wertmäßig im einzelnen nicht feststellbar sind, ist bei der parlamentarischen Behandlung des Aktiengesetzes gesehen worden49 • Der Vorteil, den die abhängige Gesellschaft durch die Einbeziehung in den Konzern hat, ist von der Wirtschaft immer wieder als Argument dafür vorgetragen worden, daß eine "Einzelabrechnung", wie sie ursprünglich der Entwurf in sehr scharfer Form, jetzt das Gesetz etwas abgemildert, vorsieht, nicht gerecht sei. Letztlich lasse sich erst bei Beendigung des 45 46 47 48

a.a.O., S. 143. a.a.O., S. 146. a.a.O., S.147. a.a.O., S.146 und 147/148. 49 Vgl. KroptJ, DB 1967, 2750, der dort über die Vernehmung der Sachverständigen berichtet.

Faktische Konzerne?

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Konzernverhältnisses feststellen, wer Vorteile und wer Nachteile gehabt habe. Der Gesetzgeber hat diesen Einwänden jedoch nicht Rechnung getragen, sondern hat den Einzelausgleich, und auch diesen nur in zeitlich begrenzter Weise (§ 311 Abs.2 AktG), vorgeschrieben. Damit hat er eindeutig festgelegt, daß es bei den Beziehungen zwischen herrschendem Unternehmen und abhängiger Gesellschaft nicht auf die durch die Konzernbildung von der einen oder der anderen Gesellschaft geleisteten "Beiträge", sondern auf die einzelnen Geschäfte und Maßnahmen ankommt. Nur sie sind deshalb auch zum Gegenstand des Abhängigkeitsberichts gemacht worden (§§ 312, 313 AktG). Die allgemeinen, nicht "isolierbaren" Vor- und Nachteile der Konzernbildung, die "Beiträge" der einzelnen Konzernunternehmen zum Gesamtertrag hat er bewußt außer acht gelassen und ohne Bewertung und Prüfung kompensiert. Bei der Abrechnung unter Konzernunternehmen ist letzte Gerechtigkeit - Ausgleich aller nur irgendwie in Betracht kommenden Vor- und Nachteile - nicht erreichbar. Es bliebe nur das Gegenteil, das Verbot der Konzernierung. Davon aber hat der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik abgesehen. Es ist auch nicht richtig, daß sich dann - was nicht angenommen werden könne - die gesetzliche Regelung auf die bloße Sicherung "formalordnungsmäßiger Beziehungen zwischen herrschender und abhängiger Gesellschaft" beschränken würde. Die gesetzliche Regelung geht tatsächlich weit darüber hinaus. Sie ist bestrebt, im Rahmen des betriebswirtschaftlich Möglichen die materielle Gleichwertigkeit zu sichern. Die Ansicht von Albach 50 , daß Vor- und Nachteile der Konzernierung nur durch eine Gesamtbetrachtung zu ermitteln sind, berücksichtigt nicht, daß in weitem Umfange Einzelbetrachtungen möglich sind. Der Gesetzgeber hat sich mit diesen begnügt und bewußt nicht isolierbare Vor- und Nachteile außer Betracht gelassen. Diese Einzelbetrachtung und Bewertung läßt sich auch bei den von Mestmäcker angeführten Maßnahmen51 durchführen, die lIder wertenden Prüfung im Hinblick auf das Eigeninteresse der abhängigen Gesellschaft unterliegen". Auch deren Vor- und Nachteile können dem Vermögen der abhängigen Gesellschaft zugerechnet werden. Zuzugeben ist, daß es sich dabei nicht um exakte Berechnungen handeln kann, sondern nur Schätzungen in Betracht kommen. So läßt sich der "Wert" einer Arbeitsteilung zwischen verbundenem Unternehmen zunächst einmal anhand der ersparten Aufwendungen einerseits und der übernommenen Aufwendungen andererseits ermitteln, der "Wert" einer Stillegung von Betrieben gleichfalls anhand von ersparten Aufwendungen, der entgangenen Gewinne oder Verluste, des Wertes der ander60 51

Neue Betriebswirtschaft, 1966, 203/205. a.a.O., S. 147.

Ernst Geßler

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weit einsetzbaren freigewordenen Arbeitskräfte oder Sachanlagen feststellen. Im Einzelfall mag sich dann noch für das eine oder das andere Unternehmen ein Vorteil ergeben, der geschätzt werden muß. Nicht anders verhält es sich bei der Feststellung der Nachteile, die durch eine unterlassene Modernisierung, oder der Vorteile, die durch eine Spezialisierung der Produktion oder des Vertriebs entstehen. Auch wenn die abhängige Gesellschaft durch die einheitliche Leitung wesentlich umgestaltet wird, lassen sich doch immer die dadurch entstandenen Vor- und Nachteile ermitteln und dem Vermögen der abhängigen Gesellschaft zurechnen. Es besteht schließlich auch kein Widerspruch zwischen dem Grundsatz der "ex-ante-Beurteilung der Einzelmaßnahmen" und dem "Erfordernis der Anrechenbarkeit möglicher Vor- und Nachteile zum Vermögen der abhängigen Gesellschaft"52. Kropff ö3 hat sich mit der Bedeutung der ex-ante-Beurteilung näher befaßt. Es sei hier darauf verwiesen und nur folgendes hinzugefügt. Der Grundsatz der ex-an teBeurteilung versteht sich von selbst. Nur auf seiner Grundlage ist ein Ausgleich von Vor- und Nachteilen möglich. Es kann nicht immer wieder, wenn sich neue Umstände herausstellen, "nach-ausgeglichen" werden, um jeder Gesellschaft den neuesten Vor- oder Nachteil zuzurechnen. Der Ausgleich von Vor- und Nachteilen ist wie jedes sonstige Geschäft zwischen zwei Vertragspartnern ein Geschäft, das jeder auf der Grundlage seiner Erkenntnisse und Erwartungen am Verhandlungstage abschließt, von dem beide Vertragspartner aber erst nach endgültiger Abwicklung feststellen können, für wen es nun wirklich vorteilhaft war. Das ist das jedem Geschäft innewohnende Risiko. Sache der Geschäftsführer der abhängigen Gesellschaft ist es, das bei Vornahme des Geschäfts in ihm liegende Risiko beim Ausgleich sich möglichst erstatten zu lassen. Weder die materiell-rechtliche Vorschrift über das Gebot des Ausgleichs von Nachteilen (§ 311 AktG) noch die haftungsrechtlichen Vorschriften für die Ausübung eines beherrschenden Einflusses bei Fehlen eines Beherrschungsvertrages (§§ 317, 318 AktG) stehen daher der rechtlichen Zulässigkeit oder der rechtlichen Möglichkeit, einen faktischen Konzern zu bilden, entgegen. Es bleibt vielleicht noch eine Frage offen. Sie hat in der parlamentarischen Beratung54, insbesondere bei der Anhörung der Sachverständigen, eine große Rolle gespielt. Macht das Erfordernis des (rechtlichen) Ausgleichs innerhalb einer Rechnungsperiode (§ 311 Abs. 2 52 Mestmäcker, a.a.O., 8.147. i;3

54

Kropf!, DB 1967, 2150/215l. Vgl. Anm.49.

Faktische Konzerne?

175

AktG) eine einheitliche Leistung tatsächlich unmöglich? Die Sachverständigen haben gemeint, daß zum Ausgleich der durch eine Konzernierung entstehenden Nach- und Vorteile, den sie im Grundsatz anerkannten, eine längere Zeit zugestanden werden müsse. Der Ausgleich innerhalb einer Rechnungsperiode lasse eine vernünftige unternehmerische Planung, die auf längere Sicht abgestellt sein müsse, nicht zu. Diese Stellungnahme der Sachverständigen beruht auf einer Verkennung des Inhalts der jährlichen Ausgleichspfiicht. Sie erfordert nur, daß zum Ende einer Rechnungsperiode die einer abhängigen Gesellschaft zugefügten Nachteile festgestellt und diese entweder tatsächlich oder durch Gewährung eines Rechtsanspruches auf einen späteren Ausgleich "ausgeglichen" werden. Dadurch wird aber in eine langfristige unternehmerische Planung nicht eingegriffen oder diese gar tatsächlich unmöglich gemacht. Dies wäre vielleicht der Fall gewesen. wenn der Ausgleich in der Rechnungsperiode tatsächlich hätte erfolgen müssen. Dann könnten praktisch keine Vermögensverlagerungen, Einsetzung bei der einen Gesellschaft nicht unbedingt erforderlicher Mittel bei einem anderen Unternehmen, keine Verkäufe zu Vorzugspreisen usw. stattfinden. Bei einem alsbaldigen tatsächlichen Ausgleich könnten sich diese Maßnahmen einer Konzernpolitik nicht auswirken. Sie wären wertlos. Da aber nur ein rechtlicher Ausgleich nötig ist, steht für den tatsächlichen ein längerer Zeitraum zur Verfügung, den die Parteien selbst bestimmen. Während dieser Zeit kann Konzernpolitik betrieben und den Konzerninteressen Vorrang vor den Interessen der einzelnen Konzernunternehmen eingeräumt werden. Auch der Verrechnung eines zunächst vereinbarten Ausgleichs mit anderen Vorteilen, die die abhängige Gesellschaft später erhält, steht nichts im Wege. § 311 AktG verbietet nur eine endgültige Vermögensverlagerung zu Lasten der abhängigen Gesellschaft, läßt aber Raum für eine vorübergehende. Damit macht er eine Konzernpolitik, eine einheitliche unternehmerische Planung für mehrere zusammengeschlossene Unternehmen auch nicht tatsächlich unmöglich. Nach dem Aktiengesetz kann deshalb auch ohne einen Beherrschungsvertrag "ein Konzern" vorhanden sein5 :>.

1i5

Vgl. die in Anm.3 wiedergegebene Äußerung unseres Jubilars.

Der Begriff Unternehmen im Aktiengesetz Von Hans WiiTdingeT I. 1. Der Begriff "Unternehmen", den das Aktiengesetz in den §§ 15 ff. und in anderen Vorschriften, insbesondere auch im Dritten Buch verwendet, ist zu einem Zentralbegriff des Aktienrechts geworden. Zutreffend sagt Rasch1 ; "Wenn das Aktiengesetz in § 15 von in Mehrheitsbesitz stehenden und mit Mehrheit beteiligten, von herrschenden und abhängigen, von Konzern- und wechselseitig beteiligten Unternehmen sowie von den Vertragsbeteiligten eines Unternehmensvertrages spricht, so macht es damit den Begriff des Unternehmens zum Grundmerkmal der Tatbestände verbundener Unternehmen."

Das Aktiengesetz hat diesen Begriff jedoch nicht definiert; in der Amtlichen Begründung zu § 15 ist gesagt: "Von einer Umschreibung des Unternehmensbegriffs sieht der Entwurf angesichts der großen praktischen Schwierigkeiten ab." Die Klärung desselben ist daher der Interpretation überlassen. Die zahlreichen Äußerungen im Schrifttum haben in vieler Beziehung Aufklärung gebracht2 • In wesentlichen Fragen aber sind die Meinungen noch geteilt. 2. a) Es fragt sich, nach welchen Gesichtspunkten die Definition zu orientieren ist. Zutreffend sagt Rasch a.a.O., S.37, daß der Unternehmensbegriff als juristischer Begriff "durch spezifisch juristische Kriterien" gekennzeichnet sein müsse, die wirtschaftswissenschaftliche Terminologie daher nicht verwendbar sei. Es ergibt sich aber, daß auch in den Gesetzen der Begriff Unternehmen nicht einheitlich verwendet wird. Dieses beruht darauf, daß die Zielsetzungen der Gesetze verschieden sind. So ist beispielsweise weder der Unternehmensbegriff Deutsches Konzernrecht, 4. Aufl., 1968, S. 36. Vgl. KrOPff, BB 1965, 1285; Leo, AG 1965, 352; Havermann, WP 1966. 30; Schäfer, BB 1966, 229 und NJW 1967, 1741; Bölsenkötter, DB 1967, 1098; MüUer-Rieker, WP 1967, 197; Jahnberg-Schlaus. AG 1967, 33; Huber, ZHR Bd.131, S.249; Ratsch, JZ 1966, 501, 554; MüUer-Rieker, WP 1967, 197 ff.; Haberlandt, in Möhring-Schwartz, Die AG und ihre Satzung, 2. Aufl., 1966, S.284; Möhring, NJW 1967, 1; Bachelin, Der konzernrechtliche Minderheitsschutz, 1969, S. 7 ff. 1 2

12 Festgabe Kunze

178

Hans Würdinger

des Umsatzsteuerrechts noch jener des GWB für das Aktienrecht verwendbar3 • b) Der aktienrechtliche Unternehmensbegriff ist aus dem Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften des Aktiengesetzes zu entnehmen; er ist ein aktienrechtlicher Zweckbegriff. Ebenso wie die in den §§ 15 ff. AktG enthaltenen Definitionen Zweckbegriffe sind, nämlich dazu bestimmt, jene Tatbestände zu umschreiben, an welche das Gesetz wegen ihrer Eigenart bestimmte Rechtsfolgen knüpft, ist auch der in ihnen verwendete Unternehmensbegriff zweckgebunden, weshalb seine Bedeutung aus den mit ihm verbundenen rechtlichen Konsequenzen zu ermitteln ist, in welchen der Gesetzeszweck sich offenbart. 3. a) Eine Analyse der einschlägigen Vorschriften des Aktiengesetzes ergibt, daß der Begriff Unternehmen selbst in diesem Gesetz nicht einheitlich verwendet wird. Ohne weiteres ist ersichtlich, daß, wenn § 23 Abs.3 Nr.2 AktG von dem in der Satzung zu bestimmenden "Gegenstand des Unternehmens" spricht, hier die Bedeutung des Wortes "Unternehmen" eine andere ist als etwa in den §§ 15 ff. AktG; denn mit dem in der Satzung anzugebenden Gegenstand des Unternehmens meint das Gesetz den Tätigkeitsbereich der Gesellschaft; dieser aber braucht ein Unternehmen im eigentlichen Sinne nicht zu sein. b) Die Analyse ergibt zum andern, daß im Hinblick auf die §§ 16 bis 18 AktG zwei Grundtatbestände zu unterscheiden sind, nämlich einerseits, ob die AG an einem anderen Unternehmen beteiligt ist oder dieses beherrscht, oder umgekehrt, ob die AG ihrerseits von einem Unternehmen beherrscht wird. Es zeigt sich, daß im letzteren Fall der Unternehmensbegriff durch materielle Gesichtspunkte bestimmt wird, im ersteren Fall durch formelle.

11. Es sei zunächst der Tatbestand in Betracht gezogen, daß eine AG ein Unternehmen beherrscht. Die hierauf sich beziehenden Einzelvorschriften bezwecken nicht einen Schutz des abhängigen Unternehmens, vielmehr sollen durch sie Manipulationen der herrschenden AG verhindert werden, welche bei solcher Situation möglich sind, welche das Gesetz aber mißbilligt. 1. Das gilt von § 136 Abs.2 AktG. Wenn nach dieser Vorschrift ein von der AG abhängiges Unternehmen das Stimmrecht aus Aktien der 3

Für das GWB ist im Bericht des wirtschaftspolitischen Ausschusses zu

§ 73 (jetzt § 98) gesagt: "Der Begriff Unternehmen, wie er in diesem Gesetz

gebraucht wird, läßt sich nicht aus anderen Vorschriften, z. B. des Steuerrechts, entnehmen, sondern ist neu geprägt; maßgebend für die Auslegung ist Sinn und Zweck des Gesetzes."

Der Begriff Unternehmen im Aktiengesetz

179

Gesellschaft nicht ausüben darf, so will das Gesetz damit verhindern, daß die Verwaltung der AG über das abhängige Unternehmen in die eigene HV hineinregiert. a) Angesichts dieses Zweckes ist es offensichtlich ohne Bedeutung, ob das abhängige Unternehmen überhaupt ein Unternehmen im eigentlichen Sinne ist. Die Vorschrift gilt auch dann, wenn die AG alle Anteile einer GmbH besitzt, deren Vermögen nur aus Aktien der Gesellschaft besteht, mittels welcher die AG - wie es früher geschehen ist - lediglich die Majorität in ihrer eigenen HV sichern will. Abhängiges Unternehmen im Sinne des § 136 Abs.2 AktG ist also jedes von der AG beherrschte Rechtssubjekt, auch wenn es kein Unternehmen betreibt, wobei in diesem Falle als Beherrschungsmöglichkeit praktisch wohl nur die Beteiligung der AG an diesem Rechtssubjekt in Betracht kommt. Da zum andern das Hineinregieren in die eigene HV eine Manipulation ist, welche die rechtliche Organisation der AG betrifft, ist es auch bei der herrschenden AG ohne Belang, ob sie ein Unternehmen im eigentlichen Sinne betreibt oder nicht. b) Die Definition des § 17 AktG umfaßt auch Abhängigkeiten, die nicht durch Beteiligung begründet sind. Nach RG 167, 49 liegt eine Abhängigkeit vor, wenn das herrschende Unternehmen über Mittel verfügt, die es ihm ermöglichen, das abhängige Unternehmen seinem Willen zu unterwerfen, wobei es gleichgültig ist, welche Mittel hierzu befähigen. Während nun die auf Beteiligung beruhende Abhängigkeit bestehen kann, wenn das beherrschte Rechtssubjekt ein leerer Mantel ist, ist eine nicht auf Beteiligung beruhende Abhängigkeit, mag sie durch Vertrag oder durch wirtschaftliche Gegebenheiten begründet sein, nur bei einem Unternehmen im eigentlichen Sinne denkbar. Es ergeben sich indessen Zweifel, ob auch eine nur auf wirtschaftlichen Umständen beruhende Abhängigkeit im Rahmen des § 136 Abs.2 AktG noch zu berücksichtigen ist. Hier nämlich gerät das legislatorische Postulat konkreter Sachgerechtigkeit, welche auch die Berücksichtigung solcher Abhängigkeiten gebietet, mit dem Postulat der Rechtsklarheit, welche für das Funktionieren der Rechtsordnung von gleich hohem Rang ist, in Kollision. Da eine Verletzung des in § 136 Abs.2 AktG statuierten Gebotes der Stimmenthaltung die Anfechtbarkeit des HVBeschlusses zu begründen vermag, widerspricht es dem Erfordernis der Rechtssicherheit, diese Sanktion von der nur schwer meßbaren Abhängigkeit wirtschaftlicher Art, die nicht auf Beteiligung beruht, abhängig zu machen. 2. a) In den §§ 71 Abs. 4, 56 Abs. 1 und 2 AktG tritt das Gesetz dem Erwerb von Aktien der Gesellschaft durch ein von ihr abhängiges bzw. 12°

180

Hans Würdinger

durch ein in ihrem Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen entgegen. Zweck dieser Vorschriften ist die Sicherung des Gesellschaftskapitals. b) Auch hier ist es unerheblich, ob die herrschende AG ein Unternehmen betreibt und ob auch das abhängige Rechtssubjekt ein Unternehmen im eigentlichen Sinne ist; andererseits ist zu beachten, daß das Vermögen der Gesellschaft durch einen Aktienerwerb des abhängigen Rechtssubjektes nur dann gefährdet wird, wenn die herrschende Gesellschaft an ihm finanziell beteiligt oder gegenüber dem abhängigen Subjekt ausgleichspflichtig ist. Wenn jedoch eine solche finanzielle Verbindung nicht besteht, dann ist eine auf sonstigen Gründen beruhende Abhängigkeit des Unternehmens im Lichte dieser Vorschrift ohne Belang. 3. Eine ähnliche Interpretation des Begriffes abhängiges Unternehmen trifft für § 165 Abs.4 AktG zu, wonach dem Abschlußprüfer ein Recht auf Auskunft auch gegenüber einem von der Gesellschaft ab.· hängigen Unternehmen zusteht. Besitzt die zu prüfende Gesellschaft eine juristische Person als leeren Mantel, so kann das die Aufmerksamkeit des Prüfers in besonderer Weise wecken, während das Recht auf Auskunft gegenüber einem Unternehmen im eigentlichen Sinne, dessen Abhängigkeit nicht auf Beteiligung beruht, problematisch erscheint. 4. Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, alle einschlägigen Vorschriften zu analysieren; es sei jedoch festgehalten, daß in mehreren Bestimmungen, welche die Abhängigkeit eines Unternehmens von der AG betreffen, ein Unternehmen im eigentlichen Sinne gar nicht vorzuliegen braucht, daß der Schutzzweck des Gesetzes vielmehr auch die Einbeziehung einer mittels Beteiligung beherrschten Rechtsperson gebietet, die nur ein leerer Mantel ist; daß es ferner auch bei der herrschenden AG unerheblich ist, ob sie ein Unternehmen im eigentlichen Sinne betreibt oder nicht. Andererseits ist bei Abhängigkeiten, die nicht auf Rechtsgründen beruhen, sondern welche durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt sind, Zurückhaltung bei der Anwendbarkeit der vorgenannten Vorschriften geboten. Mag das herrschende Unternehmen in der Lage sein, dem wirtschaftlich abhängigen Unternehmen die Geschäftsbedingungen zu diktieren, so wird es mangels finanzieller Beteiligung an der Substanz dieses Unternehmens an Einwirkungen auf innerbetriebliche Vorgänge desselben, auf welche die genannten Vorschriften sich beziehen, in aller Regel nicht interessiert sein. Eine andere Beurteilung ergibt sich bei dem umgekehrten Sachverhalt, wenn ein Unternehmen eine AG beherrscht.

Der Begriff Unternehmen im Aktiengesetz

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IH. 1. Mit den Vorschriften, welche daran anknüpfen, daß eine AG abhängig ist und beherrscht wird, hat das Aktiengesetz keineswegs alle Fälle einer faktisch bestehenden Herrschaftsmacht über eine AG erfaßt. Die einschlägigen Vorschriften, insbesondere die §§ 18 Abs.1, 20, 291, 311 AktG beschränken sich vielmehr darauf, daß die AG unter der Herrschaftsmacht eines "Unternehmens" steht. a) Die Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften hat ihren guten Grund. Mit diesen Vorschriften trägt das Gesetz einer Gefahrenlage Rechnung, welche nach Auffassung des Gesetzgebers typischerweise dann gegeben ist, wenn das die AG beherrschende Subjekt ein "Unternehmen" ist; und die Gefahr, welcher das Gesetz begegnen will, besteht darin, daß das herrschende Unternehmen seine Herrschaftsmacht dazu benutzt, die von ihm abhängige Gesellschaft zugunsten seines eigenen Geschäftsinteresses nachteilig zu beeinflussen, also die AG dem eigenen Interesse dienstbar zu machen. Eine solche Gefahr wird vom Gesetz dann nicht als gegeben erachtet, wenn die Gesellschaft beherrscht wird von einem privaten Aktionär. Hier wird angenommen, daß das Interesse dieses Aktionärs, da er sein Geld in der Gesellschaft anlegt, jenem der Gesellschaft normalerweise nicht entgegengesetzt seie• Die Gefahr nachteiliger Einflußnahme besteht nach Auffassung des Gesetzes in rechtspolitisch beachtenswerter und deshalb einer Regelung bedürftiger Weise also nur dann, wenn das herrschende Subjekt ein "Unternehmen" ist. Eine solche Situation besteht typischerweise bei vertikal gegliederten Konzernen, bei welchen das herrschende Unternehmen durch seine Beteiligungen Unternehmen verschiedener Produktionsstufen zusammenfaßt, indem es mittels seines Einflusses sich einerseits für den eigenen Betrieb eine günstige Versorgung mit Rohstoffen oder Energie sichert, und indem es andererseits den weiterverarbeitenden Unternehmen den Bezug der eigenen Fabrikate auferlegt und auch in anderer Weise auf die Produktion derselben bestimmenden Einfluß ausübt. Eine gleiche Situation besteht aber auch bei internationalen Konzernen, bei denen die Muttergesellschaft in verschiedenen Ländern Tochtergesellschaften derselben Produktionsart unterhält, wobei die Begünstigung oder Benachteiligung der einzelnen Tochtergesellschaften vor allem durch das Markt~efälle oder durch steuerliche Verschiedenheiten bedingt ist. 40 Aus diesem Grunde wurde der Vorschlag Flumes, Grundfragen der Aktienrechtsreform, 1960, S.45, diese Vorschriften auch auf Nichtunternehmen ,auszudehnen, abgelehnt.

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b) Wesentlich für die Auslegung des Unternehmensbegriffs ist also dieses, daß das herrschende Subjekt ein eigenständiges, gegenüber der abhängigen Gesellschaft fremdes Geschäftsinteresse verfolgt, wobei es in der Lage ist, dieses Interesse gegenüber der abhängigen Gesellschaft durchzusetzen. Die Ausübung solcher Herrschaftsmacht entweder zu legalisieren (§ 308 AktG) oder zu beschränken (§§ 311 ff. AktG) , ist der Zweck der §§ 291 ff. AktG. Auch die Mitteilungspflicht des § 20 AktG ist auf den Beteiligungserwerb durch ein "Unternehmen" beschränkt; weil das Unternehmen seine eigenständigen Interessen möglicherweise auch gegenüber der AG verfolgen wird, sollen die Aktionäre und die Öffentlichkeit über den Beteiligungserwerb des Unternehmens rechtzeitig unterrichtet werden. c) Der Unternehmensbegriff ist nach dem Gesagten durch materielle Elemente bestimmt, nicht aber durch formelle. Es ist daher nicht möglich - wie es häufig geschieht5 - , eine Kapitalgesellschaft eo ipso als "Unternehmen" zu bezeichnen, weil das Gesetz sie als Formkaufmann und als Handelsgesellschaft qualifiziert, selbst wenn sie kein Unternehmen im wirtschaftlichen Sinne betreibt. Die Qualifikation des § 6 HGB hat nur Bedeutung für die Anwendbarkeit des HGB, nicht aber für die Anwendbarkeit der §§ 291 ff. AktG. Eine Kapitalgesellschaft ist demnach nur dann ein "Unternehmen" im Sinne der §§ 291 ff. AktG, wenn ihre Tätigkeit als Unternehmen im Sinne des AktG zu qualifizieren ist. 2. Will man aus dem dargelegten Zweck der einschlägigen Vorschriften des AktG den Begriff Unternehmen definieren, so sind folgende Gesichtspunkte bestimmend: a) Als erstes Element ist wesentlich, daß das herrschende Unternehmen nur dann ein Unternehmen ist, wenn es im Hinblick auf die Interessen der beherrschten Gesellschaft eigenständige wirtschaftliche Interessen verfolgt. Nur wenn diese Voraussetzung vorliegt, kann die Gefahr bestehen, daß das herrschende Unternehmen die AG diesen seinen eigenen Interessen, welche für die beherrschte AG fremde sind, dienstbar macht. b) Das eigenständige wirtschaftliche Interesse muß Erwerbszweck sein. Dieser ist ein eigenständiger, wenn er der "Dividendenerwartung" aus der Beteiligung selbständig gegenübersteht. c) Der eigenständige Erwerbszweck muß verfolgt werden, indem er gerade dadurch sichtbar wird. Erforderlich ist also eine nach außen erfolgende planmäßige Teilnahme am Wirtschaftsverkehr. /) Vgl. z. B. Huber, ZHR Bd. 131, S. 249 f.; BacheIin, Der konzemrechtliche Minderheitsschutz, 1969, S.9; Raisch, JZ 1966, 555.

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d) In Zusammenfassung dieser Erfordernisse kann das "Unternehmen" definiert werden: "Unternehmen im Sinne der §§ 18 Abs. 1, 20, 291, 311 AktG ist die einen eigenen, gegenüber dem Dividendenbezug aus Beteiligung eigenständigen Erwerbszweck verfolgende und nach außen hin ausgerichtete planmäßige Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr." 3. Es fragt sich indessen, ob mit dieser Definition des Unternehmensbegrüfs der Anwendungsbereich der einschlägigen Vorschriften des AktG voll ausgeschöpft ist. Problematisch ist diese Frage in Ansehung der Holdinggesellschaft, die kein eigenes wirtschaftliches Unternehmen betreibt, sondern deren Tätigkeit sich auf die "Verwaltung" der ihr Vermögen bildenden Beteiligungen beschränkt. Die häufig gebrauchte Vokabel "Verwaltung" hat dabei einen schillernden und unscharfen Inhalt. Beschränkt die Holding ihre Tätigkeit auf die normale Ausübung der Aktienrechte und auf die Einziehung der Dividende, um sie ihren eigenen Aktionären auszuschütten, dann bedeutet die Holding lediglich eine Effektensubstitution; sie steht in solchem Falle einem privaten Aktionär gleich, der sein Vermögen in mehreren Gesellschaften angelegt hat. Fälle solcher Art können entstehen, wenn die öffentliche Hand Beteiligungen in eine neu errichtete Gesellschaft einbringt, um deren Aktien im Publikum zu streuen. Die Verwaltung der Holding nimmt hier gegenüber den Beteiligungsgesellschaften lediglich die Interessen ihrer eigenen Aktionäre wahr, sie verfolgt aber nicht ein eigenständiges, gegenüber den Gesellschaften heterogenes Interesse. Eine solche Holding ist weder Konzerngesellschaft noch herrschendes Unternehmen im Sinne der §§ 17 und 18 AktG. 4. Die Problematik des Unternehmensbegriffs besteht jedoch dann, wenn die Holding an mindestens zwei Gesellschaften beteiligt ist und diese Beteiligungsgesellschaften unter ihrer Leitung zusammenfaßt, insoweit also das Erfordernis des Konzernbegriffs in § 18 Abs.1 und 2 AktG erfüllt. Hier ist sehr wohl die Möglichkeit gegeben, daß die Holding unter ihren Beteiligungsgesellschaften die eine der anderen dienstbar macht. Soll aus diesem Grunde auch die geschäftsleitende Holding den §§ 20, 291 ff., 311 ff. AktG unterliegen, dann müßte auch die Geschäftsleitung als solche als Unternehmen im Sinne des AktG erachtet werden. a) Gegen ein solches Verfahren ließe sich nicht der Einwand des logischen Denkfehlers erheben, der darin bestehe, daß das Unternehmen Tatbestand der Rechtsnorm sei, mithin seinerseits die Rechtsfolge

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bedinge, also nicht umgekehrt von der Rechtsfolge her erst bestimmt werden könne. Ein solcher Umkehrschluß nämlich ist dann geboten, wenn das Gesetz mit den einschlägigen Vorschriften eine bestimmte Gefahrenlage regeln wollte, den Tatbestand dieser Gefahrenlage aber lediglich mit einer Vokabel ohne bestimmten Inhalt zusammengefaßt hat. Bereits die Ausführungen unter II haben ergeben, daß der Begriff Unternehmen im Gesetz als ein erst auszufüllender Blankettbegriff verwendet wird, der aus dem Anwendungsbereich der rechtlichen Konsequenzen zu bestimmen ist. b) Folgender Einwand könnte aus § 18 Abs.1 AktG abgeleitet werden. Wenn dort als Konzern dieses definiert wird, daß ein herrschendes und ein abhängiges Unternehmen unter der Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefaßt werden, so setze die Zusammenfassung auch beim herrschenden Subjekt ein Unternehmen im eigentlichen Sinne voraus. In der Tat würde eine Holding ohne eigenen Betrieb, die nur an einer Gesellschaft beteiligt ist und diese leitet, kein Unternehmen sein; sie stünde dem privaten Aktionär gleich, der mittels seiner Beteiligung auch das Schicksal der Gesellschaft bestimmt. Werden von der Holding unter ihrer Leitung aber zwei oder mehrere andere Gesellschaften zusammengefaßt - nur in diesem Falle ist die vom Gesetz betroffene Gefahrenlage gegeben -, so steht § 18 Abs. 1 AktG nicht entgegen; denn diese Vorschrift spricht nur von der Zusammenfassung unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens, nicht aber von der "wirtschaftlichen Eingliederung" des abhängigen Unternehmens in jenes der herrschenden Gesellschaft, wie die körperschaftssteuerliche Organschaft es erfordert. e) Nicht durchschlagend ist ferner der Einwand, § 18 Abs. 2 AktG bestätige, daß die nur gesch.äftsleitende Tätigkeit kein Unternehmen sei und daß es - so wird gesagt - einen Gleichordnungskonzern kaum geben könne, würde man auch sie als Unternehmen qualifizieren8 •

Aus § 18 Abs.2 AktG ergibt sich nur dieses, daß die einheitliche Leitung nicht per se eine Abhängigkeit i. S. der §§ 17, 18 Abs. 1 AktG begründet und eine solche auch nicht zur Voraussetzung hat; § 18 Abs.2 AktG sagt dagegen nicht, daß einheitliche Leitung kein Unternehmen sei; diese Vorschrift setzt vielmehr voraus, daß eine einheitliche Leitung ausgeübt wird, obgleich keine Abhängigkeit besteht. Da hier die einheitliche Leitung nicht, wie in den Fällen der Abhängigkeit, auferzwungen werden kann, sie vielmehr in der Regel auf Konsens beruht, z. B. auf Austausch von Vorstandsmitgliedern, auf Interessengemeinschaftsvertrag oder auf Gründung eines gemeinsamen Geschäftsführungsorgans, ist hier jene faktische Macht, welche die Abhängigkeit im ß

So z. B. Bölsenkötter, DB 1967, 1098.

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Sinne der §§ 17, 18 Abs. 1 AktG begründet, und die Gefahr der Außerkraftsetzung des selbständigen Funktionierens der Gesellschaftsorgane und ihrer Verantwortlichkeit nicht gegeben. Aus diesem Grunde bildet der Gleichordnungskonzern rechtspolitisch kein Problem. Ein Gleichordnungskonzern ist hiernach sog-ar denkbar, wenn die leitende Instanz selbst ein Unternehmen ist und Mehrheitsbeteiligungen an den geleiteten Gesellschaften besitzt, sofern die mit den Beteiligungen verbundene Abhängigkeitsvermutung widerlegt worden ist. Auch in solchem Falle kann die Leitung nicht auf Macht beruhen, sondern nur auf Konsens oder darauf, daß alle beteiligten Gesellschaften wegen gegenseitiger wirtschaftlicher Kohärenz zu einer kooperativen Verständigung in ihrer Geschäftsführung genötigt sind. Anders ist die Lage bei der Holding, die mittels ihrer Beteiligungen zu herrschen vermag. Es ist nun gerade diese auf faktischer Herrschaftsmacht beruhende Unternehmensleitung, der das Gesetz mit den §§ 291 ff., 311 ff. AktG Rechnung trägt; sie sind daher auch auf die Holding anzuwenden. d) Es mag fraglich sein, ob der Abschluß eines Beherrschungsvertrages durch die nur geschäftsleitende Holding wirtschaftlich sinnvoll ist. Die Holding könnte die den freien Aktionären der beherrschten Gesellschaft zu gewährende Dividendengarantie, da sie eines eigenen Geschäftsbetriebs entbehrt, nur aus den Dividenden entrichten, welche sie von der anderen Gesellschaft bezieht. Ist es jedoch der Sinn des Beherrschungsvertrages, das beherrschte Unternehmen einem anderen Unternehmen dienstbar zu machen, so ist es ohne Belang, ob das beherrschte Unternehmen jenem der herrschenden Gesellschaft selbst untergeordnet wird oder einem dritten Unternehmen, welches von der Holding ebenfalls beherrscht und geleitet wird. Deshalb spricht § 308 AktG davon, daß die Weisungen den Belangen des herrschenden Unternehmens selbst oder auch den Belangen eines anderen Unternehmens dienen können, welches mit der herrschenden Gesellschaft oder mit dem beherrschten Unternehmen konzernverbunden ist. Eine andere Frage ist es, ob die Holding ein körperschaftssteuerliches Organschaftsverhältnis begründen kann. Durch den zur Zeit dem Bundestag vorliegenden "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Körperschaftssteuergesetzes und anderer Gesetze"7 soll die Organschaft, falls Organgesellschaft eine AG oder KoAG ist, mit den aktienrechtlichen Organisationsformen, nämlich mit dem Beherrschungs- und 7 Bundestags-Drucksache V/3017; dazu Grund, Deutsche Steuerzeitung 1968, 222; KreiZe, Deutsches Steuerblatt 1968, 456.

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Gewinnabführungsvertrag und mit der Eingliederung in Einklang gebracht werden. Entsprechend den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen setzt die Organschaft die finanzielle, organisatorische und wirtschaftliche Eingliederung der Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers voraus. Die finanzielle Eingliederung liegt nach dem Entwurf vor, wenn der Organträger am Kapital der Organgesellschaft mit mehr als 50 Ofo beteiligt ist. Eine Zurechnung von Anteilen im Sinne des § 16 Abs.4 AktG findet hierbei nicht statt. Die organisatorische Eingliederung ist nach dem Entwurf stets, andererseits wohl auch nur gegeben, wenn die AG oder KoAG als Organgesellschaft die Leitung ihres Unternehmens durch einen Beherrschungsvertrag dem Organträger unterstellt oder wenn die Organgesellschaft eine nach §§ 319 ff. AktG eingegliederte Gesellschaft ist. Die wirtschaftliche Eingliederung hingegen ist gesetzlich nicht bestimmt; ihre Bedeutung ist bestritten, und es ist bisher zweifelhaft, ob die organschaftliche Eingliederung eines Unternehmens in eine nur unternehmensleitend tätige Holding anzuerkennen sei8 • Es sind jedoch Bestrebungen im Gange, nunmehr auch die Holding, welche, ohne ein eigenes Unternehmen zu betreiben, lediglich eine geschäftsleitende Tätigkeit ausübt, als möglichen Organträger anzuerkennen. Hier sei lediglich darauf hingewiesen, daß der aktienrechtliche Unternehmensbegriff den steuerrechtlichen nicht präjudiziert. e) Würde man der geschäftsleitenden Tätigkeit der Holding die Qualifikation, Unternehmen im Sinne des AktG zu sein, absprechen, dann wäre der Holding der Abschluß eines Beherrschungsvertrages verwehrt. Der Registerrichter hätte die Eintragung eines solchen Vertrages abzulehnen, wobei eine gleichwohl erfolgte Eintragung der Wirksamkeit desselben jedoch nicht entgegenstehen könnte9 • Die Holding würde ferner den §§ 311 ff. AktG nicht unterliegen, da auch diese Vorschriften voraussetzen, daß das herrschende Subjekt ein Unternehmen ist. Ihre Haftung würde sich nur aus § 117 AktG ergeben. Auch die §§ 16 und 17 AktG und die mit ihnen verbundenen Konsequenzen würden entfallen, da auch diese Vorschriften nur für den Fall gelten, daß das mit Mehrheit beteiligte bzw. herrschende Subjekt ein Unternehmen ist. Die von der Holding auf Grund ihrer Beteiligungen unter ihrer Leitung zusammengefaßten Unternehmen wären ein Gleichordnungskonzern im Sinne des § 18 Abs.2 AktG, und dieses, obgleich die Holding mittels ihrer Beteiligungen zu beherrschen vermag. 8 Vgl. dazu neuestens Telkamp, Die wirtschaftliche Eingliederung als Tatbestandsmerkmal der steuerlichen Organschaft, in DB 1969, 669. e Vgl. Wilrdinger, Aktien- und Konzemrecht, 1966, 5.262.

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Jeder faktische Abhängigkeitskonzern, den das Gesetz mit den

§§ 311 ff. regeln will, könnte sich alsdann dieser Regelung dadurch

entziehen, daß das herrschende Unternehmen seine Beteiligungen in einen leeren GmbH-Mantel einbringt und nunmehr über diesen die Leitung ausübt. Vor diesem Argument müssen m. E. alle gegenteiligen Meinungen kapitulieren.

Es ist mithin auch die geschäftsleitende Tätigkeit der Holding als Unternehmen im Sinne des AktG zu erachten, mag die Holding auch eines eigenen Geschäftsbetriebs entbehren.

Rechtspolitische Gedanken zur GmbH & Co Von Wolfgang Schilling Eine bedeutsame Aufgabe der Rechtsgestaltung in der sozialen Demokratie ist es, allen Arten von Unternehmen die ihnen gemäßen Rechtsformen bereitzuhalten. Nachdem die Reform des Aktiengesetzes einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der großen Unternehmen und der Konzerne geleistet hat, richtet sich der Blick mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Rechtsformen den kleinen und mittleren Unternehmen, denen der Kapitalmarkt nicht geöffnet ist, zur Verfügung stehen. Genügen die gesetzlichen Formen, also oHG, KG und GmbH, den Bedürfnissen dieser Unternehmen? Offenbar nicht, denn hier hat das Rechtsleben eine weitere Form geschaffen, die GmbH & Co KG (i. f. GmbH & Co genannt). Allen Angriffen und Verdächtigungen trotzend hat sie seit zehn Jahren einen Siegeszug angetreten\ zwar nicht wie einst die GmbH durch die Welt, aber doch durch die Bundesrepublik. Die Erscheinungsformen der GmbH & Co sind verschieden. Zielinski2 , Hesselmanns und Wiethölter4 haben sie beschrieben. Wie die Untersuchung von Zielinski zeigt, war sie ursprünglich stärker als heute eine Rechtsform für Unternehmensverbindungen. Heute dürfte ihre unternehmensrechtlich wichtigste und meistverbreitete Erscheinungsform die eines Rechtskleids für mittelständische Unternehmen sein, bei denen die GmbH einziger Komplementär ist, ihr im wesentlichen nur die Geschäftsführung der KG obliegt und die Gesellschafter beider Gesellschaften ganz oder teilweise identisch sind. Mit dieser Erscheinungsform beschäftigen sich die folgenden Ausführungen allein. Drei Fragen bewegen uns. Was ist die GmbH & Co (1), wieso ist es zu ihr gekommen (Il) und was ist rechtspolitisch zu ihr zu sagen (IIl bis V)? Der VersuCh einer vorläufigen und fragmentarischen Antwort auf diese Fragen soll auch ein Beitrag zum Unternehmensrecht sein, dem immer das besondere Interesse Otto Kunzes gegolten hat. 1 Vgl. H. M. Sch.midt, Ist der Siegeszug der GmbH & Co noch aufzuhalten?, GmbH-Rdsch 65,7. 2 Grundtypenvermischung und Handelsgesellschaftsrecht, 1925. 3 Handbuch der GmbH & Co, 10. Aufl., S. 25 ff. 4 Referat auf der Kölner Arbeitstagung 1967, abgedruckt, in: "Aktuelle Probleme der GmbH & Co", Köln 1967.

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Wolfgang Schilling I.

1. Die GmbH & Co ist nach innen und außen Personen-, nicht Kapitalgesellschaft. Die Gesellschafter stehen in unmittelbaren gesellschaftsvertraglichen Beziehungen zueinander. Gesamthänderisch sind sie Träger des Gesellschaftsvermögens. Es ist ihnen unmittelbar zugeordnet und beim Ausscheiden oder Eintritt eines Gesellsch~fters gilt das An- oder Abwachsungsprinzip.

Im Außenverhältnis ist die Gesellschaft zwar weitgehend verselbständigt (vgI. unten III 3), aber die Gesellschafter haften den Gläubigern unmittelbar persönlich, beschränkt auf ihre Einlage. Steuerlich sind die Gesellschafter Mitunternehmer, die den von der Gesellschaft erzielten Gewinn als Einkünfte aus Gewerbebetrieb versteuern. 2. Ohne diese wesentlichen Merkmale einer Personengesellschaft zu verlieren, hat sich die GmbH & Co in zwei Punkten von dem gesetzlichen Leitbild entfernt: Einmal ist ihr Komplementär eine juristische Person, damit unsterblich und mittelbar die Drittorganschaft ermöglichend. Zum andern haftet keine natürliche Person den Gläubigern unbeschränkt. Ist die GmbH & Co deshalb eine Mischform zwischen Personen- und Kapitalgesellschafts? Das ist nur äußerlich richtig, indem sie die Rechtsform der GmbH mit der der KG verbindet. Wenn aber mit dem Begriff der Kapitalgesellschaft kapitalistische und kollektivistische Elemente verbunden werden, so steht die GmbH & Co diesen so fern wie die oHG oder KG und jenen nicht näher als die KG. Ist sie also etwas Neues, Eigenständiges oder doch wenigstens eine übergangsform zu etwas Neuern? Darauf spielt Hesselmann an, wenn er seinem Handbuch ein Wort von Otto v. Gierke über die moderne Assoziation (die freie, zum Unterschied von der obrigkeitlich privilegierten Korporation) vorausschickt: Sie sei reich an Übergangsformen und Zwischengestaltungen, die nur eine vollendetere Rechtsbildung vorbereiteten6 • Für Wiethölter 7 ist die GmbH & Co in Wahrheit nicht eine Verbindung von GmbH und KG, sondern deren überwindung und überholung. Ähnlich will Brechers in ihr nicht nur die Summe bekannter, begrifflich isoliert gedachter Elemente, sondern ein Organisationsverhältnis durchaus eigener Art sehen, durch das die Unterscheidung von Kapital- und Personengesellschaft überholt werde. I)

6

7 8

So GessleT, Entwicklungstendenzen im Gesellschaftsrecht, BB 68. 719. Das deutsche Genossenschaftsrecht (1868), Band I, S. 652. Wie in Anm. 4, S. 16 und 34. Festschrift für Alfred Hueck, 1959, S. 234.

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3. Die Rechtmäßigkeit einer solchen Neubildung ist zu bejahen. Es gibt im Gesellschaftsrecht keinen Typenzwang, der sie verbieten würde9 • Die Typen sind vom Rechtsleben geschaffen worden und die Fortentwicklung des Rechts schafft neue, die die Typenreihe bereichern10 • In diesem Sinne kann man von einem Prinzip der offenen Typenreihe sprechen. Es kann sich vielmehr nur darum handeln, ob durch die GmbH & Co schutzwürdige Interessen verletzt werden. Im Gesellschaftsrecht sind das vor allem die Interessen der Minderheit und der Gläubiger. So sind Minderheits- und Gläubigerschutz die Kernpunkte des Konzernrechts im neuen Aktiengesetz. In den individualistischen Verhältnissen des kleinen und mittleren Unternehmens liegt der Minderheitsschutz bei der Vertragsgestaltung. Hierin unterscheidet sich die GmbH & Co weder von der GmbH noch von der KG. Ob schutzwürdige Interessen der Gläubiger verletzt werden, soll unter III untersucht werden. 4. Die Vertragsgestaltung der GmbH & Co verlangt ein hohes Maß von Sorgfalt. Denn es werden zwei Gesellschaften für ein Unternehmen gebildet und miteinander verbunden. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: In dem einen Fall sind die Gesellschafter der geschäftsführenden GmbH ganz oder teilweise andere Personen als die Kommanditisten oder die Beteiligungen bei beiden Gesellschaften sind verschieden, etwa in der Weise, daß bei der Umwandlung einer KG in eine GmbH & Co die früheren persönlich haftenden Gesellschafter die Anteile der nunmehr als Komplementär fungierenden GmbH allein oder mehrheitlich besitzen.

Der andere Fall ist in der Praxis häufiger: Alle Gesellschafter sollen an beiden Gesellschaften im gleichen Verhältnis beteiligt sein. Hier muß für eine einheitliche Willensbildung in beiden Gesellschaften Vorsorge getroffen werden. Einmal in der .Richtung, daß die verhältnismäßige Beteiligungsgleichheit gewahrt wird. Es muß daher in den Gesellschaftsverträgen bestimmt werden, daß beiden Gesellschaften nur die gleichen Gesellschafter mit einer verhältnismäßig gleichen Be90 Ballerstedt, 75 Jahre GmbH-Gesetz, GmbH-Rdsch 67, 66 (70) und Mertens, Die Einmann-GmbH & Co KG und das Problem der gesellschaftsrechtlichen Grundtypenvermischung, NJW 66, 1049 ff., dieser gegen Kuhn, Strohmanngründung bei Kapitalgesellschaften, Tübingen 1964; ferner Mertens, GmbH & Co und Gesellschaftsrechtsdogmatik, GmbH-Rdsch 67, 45. In seiner noch unveröffentldchten Schrift "Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften" vertritt H. P. West ermann den Standpunkt, daß das Personengesellschaftsrecht von einem numerus clausus der gesetzlichen Rechtsformen ohne gleichzeitigen Typenzwang beherrscht ist. 10 Vgl. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953, S.269 unter Berufung auf Stoll und

Heck.

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teiligung angehören dürfen. Sodann müssen die möglichen Fälle des Ausscheidens und des Eintritts von Gesellschaftern (durch Veräußerung, Vererbung, Pfändung von Anteilen) in beiden Verträgen mit dem gleichen Ergebnis geregelt werden. Entsprechende Verpflichtungen sind in beiden Verträgen festzusetzen. Entgegen Mertens11 meine ich, daß so die Beteiligungsgleichheit gesichert werden kann12 • Im Falle der Beteiligungsgleichheit muß die Einheitlichkeit der Willensbildung weiter dadurch gewährleistet werden, daß jeder Gesellschafter das verhältnismäßig gleiche Stimmrecht hat und daß für den gleichen Beschlußgegenstand, z. B. Vertragsänderung oder Zustimmung zur Veräußerung der Beteiligung, die gleiche Mehrheit (oder Einstimmigkeit) gilt. Zweckmäßigerweise wird dabei die Beteiligung der GmbH an der KG stimmrechtslos gemacht. Weitere Zweifelsfragen, die sich aus der verschiedenen gesetzlichen Regelung bei der Gesellschaften ergeben, müssen bedacht und möglichst durch vertragliche Regelung ausgeräumt werden. Gilt für den Geschäftsführer der GmbH, den man auch den mittelbaren Geschäftsführer der KG nennt13, ausschließlich GmbH-Recht oder in einzelnen Beziehungen auch KG-Recht, besonders, wenn er Kommanditist ist? Kann z. B. ein Gesellschafter-Geschäftsführer, auch wenn der Vertrag schweigt, entsprechend §§ 117, 127 HGB nur aus wichtigem Grund abberufen werden14 ? Gilt für die Sorgfaltspflicht des KommanditistenGeschäftsführers § 43 GmbHG oder die mildere Vorschrift des § 708 BGB? Können ihm bei Beteiligungsgleichheit die Kommanditisten - als Gesellschafter der GmbH - mit einfacher Mehrheit gemäß § 47 Abs. 1 GmbHG Weisungen für die Geschäftsführung erteilen oder ist ihr Mitwirkungsrecht bei dieser auf § 164 HGB beschränkt? Kann mit anderen Worten die KG-rechtliche Weisungsfreiheit der GmbH als Komplementärin der KG durch das GmbH-Recht überspielt werden? Richtet sich das Prüfungs- und Auskunftsrecht der Gesellschafter nach KG- oder GmbH-Recht? Man sieht, mit Formularverträgen kommt man bei der GmbH & Co nicht weit. 5. So drängt sich der Wunsch nach einer "Einheitsgesellschaft" auf. Sudhoff14a bezeichnet so (treffenderweise aber eben auch nur in Anführungszeichen) die GmbH & Co, bei der die KG einzige Gesellschafterin der GmbH ist. Der von Mertens15 verwendete Ausdruck "EinNJW 66, 1052 ohne nähere Begründung. Ebenso Hesselmann wie in Fußn.3, S.232; Sudho[f, Die gesellschaftsrechtliche Problematik der GmbH & Co KG, NJW 67, 2133 u. 2181 (2184). 13 Hesselmann wie in Fußn.3, S.100. Der Ausdruck stammt von Cahn, GmbH & Co, Kommanditgesellschaft, Leipzig 1922. 14 Wie dies für die einem Kommanditisten erteilte Prokura angenommen wird, BGH 17, 392. Ha Der Gesellschaftsvertrag der GmbH & Co, München 1967. § 8, S. 47 ff.. 15 NJW 66,1049. 11 12

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mann-GmbH & Co KG" sollte der GmbH & Co vorbehalten bleiben, hinter der nur eine Person steht, die einziger Kommanditist und einziger GmbH-Gesellschafter ist. Aber die "Einheitsgesellschaft" ist eben keine. Sie bringt uns dem Ziel einer einheitlichen gesellschaftsrechtlichen Konzeption nur insofern näher, als die Gesellschafter nur eine Beteiligung, nämlich bei der KG, haben16• Es bleiben zwei verschiedene Gesellschaftsformen für ein Unternehmen. Nur die Klammer zwischen beiden ist stärker. Die Wahrung der Beteiligungsgleichheit macht keine Sorge mehr. Aber neue und größere Schwierigkeiten und rechtliche Bedenken kommen hinzu. Sie liegen in zweierlei Richtung: a) Es entsteht das Problem der Einlagenrückgewähr (bei der GmbH), wenn die KG die Geschäftsanteile von den Kommanditisten käuflich erwirbt und dafür das von der GmbH als Einlage bei der KG eingezahlte Stammkapital verwendet17 • Gründet die KG die GmbH und verwendet für die Einzahlung Kommanditeinlagen, die sie dann wieder als Einlage der nunmehr in die KG als Komplementärin eintretenden GmbH zurückerhält, so wird das Haftkapital der Gesellschaften zum Schein verdoppelt. Das Kapital wechselseitig beteiligter Gesellschaften ist in dem Bruchteil nicht vorhanden ("illusionär"), der dem Produkt der Quotienten der gegenseitigen Beteiligungen entspricht18 • Fischer19 hat hierzu die Frage einer Täuschung des Rechtsverkehrs und der sich hieraus ergebenden Haftung der Beteiligten aufgeworfen. Die vorstehenden Bedenken entfallen, wenn die Kommanditisten die Geschäftsanteile der GmbH als Einlage einbringen, also ohne daß dadurch der KG Mittel entzogen werden20 , und wenn die GmbH entweder keine Kapitaleinlage bei der KG leistet oder aus Mitteln, die das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen (§ 30 GmbHG) übersteigen21 • b) Ein weiteres Problem ist das der Funktionsfähigkeit der "Einheitsgesellschaft". Erfolgt doch die Willensbildung bei der GmbH durch sie selbst als Organ der einzigen Gesellschafterin, der KG. Ich gebe Mertens22 gegen Gonnella23 darin recht, daß sie deshalb noch nicht Sudhoff wie in Fußn.14a, S.54. Vgl. das von GonneUa, DB 65, ll65 gebildete und von Sud hoff, S.4P, behandelte Beispiel. 18 Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, Karlsruhe 1964, S.189 zu Fußn. 63-65. s. auch die RegEBegr zu § 19 AktG 1965. 19 Aktuelle Probleme der GmbH & Co (s. Fußn. 4), S. 5. 20 Sudhoff, S. 54. 21 Hesselmann, Handbuch, S.233. 22 NJW 66, 1053. 23 DB 65, ll65. 16 17

13 Festgabe Kunze

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einer Keinmanngesellschaft24 gleichzuachten ist. Der Satz des Reichsgerichts (RGZ 103, 64), auf den sich Gonnella stützt, wonach der Wille der Gesellschaft unmöglich mitbestimmend sein könne bei Beschlüssen, die gerade erst ergeben sollen, was die Gesellschaft will, gilt jedenfalls dann nicht, wenn die Willensbildung auf die Kommanditisten übertragen wird25 • Das kann in beiden Gesellschaftsverträgen geschehen, bei der GmbH aber kraft zwingenden Rechts26 nicht für Satzungsänderungen. Für sie sind die Gesellschafter, also die KG, vertreten durch die GmbH, ausschließlich zuständig. Die Geschäftsführer können unter Bruch der internen Bindungen mit Wirkung nach außen die Satzung ändern, sich also der GmbH "bemächtigen". Deren Funktionsfähigkeit nach außen wird dadurch nicht berührt. Den Gesellschaftern (oder übrigen Gesellschaftern) steht es offen, mit Hilfe des Gerichts ihr Recht wiederherzustellen. Wird man deshalb auch nicht sagen können, daß die "Einheitsgesellschaft" bei entsprechender Vertragsgestaltung gegen die Rechtsordnung verstößt und damit unzulässig ist, so sind mit ihr doch Unsicherheiten verbunden, die ihre Wahl nicht ratsam erscheinen lassen27 • Sie ist nicht "der Weisheit letzter Schluß" (Sudhoff, S.55).

H. Wie kam es zu dieser Rechtsentwicklung? Was sind die Gründe für die Beliebtheit der GmbH & Co? 1. Der historische Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Fragen ist die Entstehungsgeschichte der GmbH. Es ist bekannt, daß zwei entgegengesetzte Richtungen um die gesetzliche Gestaltung dieser neuen Gesellschaftsform rangen28 • Die einen wollten die "kleine AG", zwar ohne Aktie, aber die Gesellschafter auf den Kapitalbeitrag beschränkend. Die anderen erstrebten die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung, nach innen wie die oHG personalistisch-individualistisch gestaltet, nach außen mit beschränkter Haftung aller Gesellschafter. Charakteristisch für diese letztere Richtung ist der Entwurf Oechelhäusers29 , der im Anhang wiedergegeben ist. Die Mehrzahl der befragten Handelskammern und die Ältesten der Berliner Kaufmann-

Vgl. Schmidt-Goerdeler in Hachenburg, Komm. z. GmbHG § 33 Anm. 21. Vgl. dazu ausführlich Sudhoff, S. 50 ft'. 26 SChiUing in Hachenburg § 53 Anm. 38. 27 Die führenden Werke von Hesselmann (S. 233), Sudhotf (S. 55) und Böttcher (Die GmbH & Co 1966, S. 32 und 40) raten deshalb auch davon ab. 28 Vgl. dazu Ballerstedt wie in Fußn.9 mit weiteren Nachweisen. 29 Abgedruckt im Anhang zu Wieland, Handelsrecht H. 1931, S.399. 24

25

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schaft befürworteten diese individualistisch gestaltete Gesellschaftsform 30• Der Gesetzgeber entschied sich für die andere, die kleine AG. Aber die Praxis, das Rechtsleben folgte ihm nicht. Theorie und Wirklichkeit der GmbH klaffen auseinander30 • In der Rechtswirklichkeit überwiegen bei ihr die Elemente der Personengesellschaft31• Die individualistische Gestaltung, der das Gesetz nur eine dürftige Grundlage gab, hat sich durchgerungen32 • In vielen Gesellschaftsverträgen sind besondere, auf die Persönlichkeit eines Gesellschafters zugeschnittene Rechte und Pflichten statuiert. Bei weitaus der Mehrzahl sind die Geschäftsführer Gesellschafter, ist die Gesellschafterzahl klein, ist die Veräußerung des Geschäftsanteils vinkuliert. Oft finden sich Bestimmungen, die eine Zersplitterung der Anteile im Erb- oder Veräußerungsfall verhindern sollen. Lehre und Rechtsprechung haben durch die Zulassung von Ausschließung und Austritt das personalistische Element verstärkt33• Mag auch das Gesetz diese Entwicklung durch die Gestaltungsfreiheit nach innen ermöglicht haben, so berührt es uns heute doch merkwürdig, daß sich der Gesetzgeber dem Wunsche der Kaufmannschaft verschloß. Diese Haltung beruhte auf der Vorstellung, daß der individualistische Charakter der oHG nur eine Konsequenz der unbeschränkten Haftung sei und mit deren Beseitigung seine grundsätzliche Berechtigung verliere 34• Die oben geschilderte personalistische Entwicklung der GmbH und mehr noch der Erfolg der GmbH & Co haben diese Vorstellung als irrig erwiesen. Schon Wieland 35 hatte darauf hingewiesen, daß nicht das Haftungsverhältnis den Gegensatz individualistischer und kapitalistischer Form bestimmt, sondern wirtschaftliche Gesichtspunkte, "der innere Gegensatz von Privatunternehmung, in der der einzelne mit seiner gesamten Persönlichkeit beteiligte Unternehmer herrscht, und Kollektivunternehmung, in der die Masse der nur mit Kapital beteiligten Unternehmungsbesitzer den Ausschlag gibt". 2. So lernen wir aus der Entstehungsgeschichte des GmbH-Gesetzes, daß es schon vor einem Dreivierteljahrhundert der vom Gesetzgeber 30 Jutta Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH, Berlin 1966, S.15; dieselbe, Die beschränkte Haftung in Theorie und Wirklichkeit, GmbHRdsch 67, 71. 31 Gessler, Probleme der GmbH-Rechtsform, GmbH-Rdsch 1966, 102. 32 Hachenburg, Komm. z. GmbHG, 5. Aufl.., 1926 und 6. Aufl., 1956, Allg. Einl. Anm. 1. 33 Vgl. zu dieser Entwicklung auch Robert Fischer, Die personalistische GmbH als rechtspolimsches Problem, Festschrift für Walter Schmidt, Berlin 1959, S.117. 34 Entwurf I, S. 33/34, zitiert bei Limbach (Fußn.30), S. 111. 35 Handelsrecht I (1921), S.484.

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nicht berücksichtigte und nicht verstandene Wunsch der Kaufmannschaft war, eine Gesellschaftsform zu haben, die die Merkmale der Personengesellschaft (vgl. oben I 1) beibehielt, aber die beschränkte Haftung aller Gesellschafter erlaubte. Wenn das zu einer Zeit geschah, in der einem unbeschränkt persönlich haftenden Unternehmer der Gedanke an sein Risiko noch nicht den Schlaf raubte, so kann dieser Wunsch heute nicht Zeichen einer Unternehmermüdigkeit, eines Rückgangs an Vitalität, einer Dekadenz des mittelständischen Unternehmers sein. Denn die Risiken und die Unübersichtlichkeit des Geschäfts sind seitdem gewaltig gewachsen. Das Eigenkapital ist - nicht oder selten aus Verschulden der Gesellschafter, sondern als Kriegsfolge - weithin zu klein. Arbeitsteilige Wirtschaft und Spezialisierung bringen oft Abhängigkeit von wenigen Abnehmern und vergrößern so das Risiko. Demgegenüber festigt sich das Großunternehmen immer mehr, indem es sein Kapital erhöht und durch Diversifikation die Risiken verteilt und damit vermindert. Der kleine Unternehmer sieht das und weiß: dort haftet niemand persönlich und unbeschränkt. 3. Andererseits hielten die damaligen Verfechter der Personengesellschaft m.b.H., also insbesondere der Kaufmannsstand, an den personalistischen Elementen der oHG fest. Sie wollten auf die unmittelbaren Rechtsbeziehungen der Gesellschafter zueinander und zum Gesellschaftsvermögen nicht verzichten. über die Gründe hierfür ist nichts bekannt. Man kann sie nur vermuten und muß dabei auch Erkenntnisse von heute zu Rate ziehen. Sicher war es von Gewicht, daß man mit der Form der oHG und KG vertraut war, daß sie sich bewährt hatte. Aber man spürte doch wohl auch die größere Nähe der Gesellschafter untereinander und zum Unternehmen, die die rechtliche Konstruktion der Personengesellschaft gewährt. Beide Gedankengänge spielen insbesondere bei Familiengesellschaften eine Rolle. Heute mögen wirtschaftliche Gründe stärker sein. Es ist das vor allem die Elastizität der KG in formeller und finanzieller Hinsicht, die Formlosigkeit der Gründung, Kapitalveränderung und Auflösung, die Erleichterung von Entnahmen und der Auszahlung ausscheidender Gesellschafter gegenüber der GmbH. Die GmbH & Co bietet darüber hinaus noch die Vorteile des unsterblichen Geschäftsführers in der Form einer juristischen Person und damit zugleich die Möglichkeit der Drittorganschaft. Für die Umwandlung vieler Familiengesellschaften von der KG in die GmbH & Co ist das der entscheidende Gesichtspunkt. Das alles zusammengenommen spricht gegen die Behauptung, die GmbH & Co sei nur eine steuerlich verhinderte GmbH und unterläge diese nicht der doppelten Besteuerung durch Körperschaftsteuer für

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ihren Gewinn und Einkommensteuer für ihre Ausschüttungen, so gäbe es keine GmbH & Co. 4. Die Betrachtung zeigt: Die GmbH & Co hat ihren eigenen Stellenwert unter den Gesellschaftsformen. Sie ist der unvollkommene und unvollendete Versuch, mit den vorhandenen Mitteln - also de lege lata - dem unternehmerischen Mittelstand das zu geben, was ihm der Gesetzgeber verweigerte: die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie ist keine hybride ErscheinungS6, sondern der Ausdruck eines elementaren Wunsches. Sie ist weniger ein künstliches Gebilde aus der juristischen Retorte 37 als die GmbH, trägt sie doch die gewachsenen Züge der oHG. Die "Einheitsgesellschaft" , bei der die GmbH-Anteile bei der KG liegen (oben I5), ist nicht eine Ausgeburt überspitzter Kautelarjurisprudenz, sondern ein unsicherer und tastender Schritt zur Einheit, zur einen Gesellschaft für ein Unternehmen, bei der die GmbH nur Instrument der eigentlichen Gesellschaft, der KG, ist. In der gleichen Richtung liegt der Vorschlag Böttchers38 einer GmbH ohne Einlage, ohne Geschäftsführungsbefugnis, ohne Stimmrecht und ohne Gewinnanteil, nur mit einer Haftungsrisiko-Entschädigung*'. Übrigens kennen wir den "angestellten" Komplementär ohne Einlage und Stimmrecht und mit Haftungsfreistellung als Figur der kapitalistischen KG schon lange. Auch sie ist - wie der Rektorfall (BGH 45, 204) - Ausdruck des unerfüllt gebliebenen Wunsches nach der Personengesellschaft m.b.H. Für die steuerliche Beurteilung der GmbH & Co ergibt sich aus den gewonnenen Erkenntnissen eine klare Richtung: Mit dem BFH ist sie ertragsteuerlich als KG anzuerkennen. Nicht dagegen kann der Begründung des Urteils des gleichen Gerichts vom 17.3.1966 gefolgt werden, wonach die GmbH als alleinige Komplementärin der GmbH & Co das "Gepräge" gebe. Richtig wiederum erscheint das BFH-Urteil vom 3.12 1964, wonach die GmbH & Co auch gesellschaftsteuerlich nicht als Kapitalgesellschaft behandelt werden kann und deshalb § 6 Abs. 1 Z. 4 KapVerkStG als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz verfassungswidrig ist. Das Bundesverfassungsgericht ist in seinem Beschluß vom 2.10.1968 dem nicht gefolgt mit der Begründung, infolge der im Bereich des Gesellschaftsrechts zugelassenen Grundtypenvermischung könnten bei entsprechender Vertragsgestaltung Personengesellschaften entstehen, die in ihrer rechtlichen Struktur den Kapitalgesellschaften So Lutter wie Fußn. 18, S. 40 Fußn. 5. So H. M. Schmidt, GmbH-Rdsch 65, 8. 38 Referat auf der Kölner GmbH & Co-Tagung, abgedruckt wie in Anm. 4. 39 Wiethölter (wie in Fußn. 4) verurteilt das S. 42 Fußn. 72 als "zu üppige Konstruktionsphantasie der Praxis". 36

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stark angenähert seien. Für die GmbH & Co als Rechtskleid des mittleren und kleinen Unternehmens gilt das nicht. Die typisierende Betrachtungsweise, die auch das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle seines Beschlusses als für das Steuerrecht maßgeblich ansieht, muß sich nach diesem bei der GmbH & Co vorherrschenden Typ richten. Das Bundesverfassungsgericht führt weiter an, der Vorteil der beschränkten Haftung aller Gesellschafter rücke die GmbH & Co rechtlich und wirtschaftlich in die Nähe einer Kapitalgesellschaft. Hier klingt die Vorstellung an, die als widerlegt gelten darf (vgl. oben II 1 am Ende und unten III 3), daß das Haftungsverhältnis die Rechtsform bestimme. Die Gleichung: beschränkte Haftung aller Gesellschafter = Kapitalgesellschaft, unbeschränkte Haftung eines oder mehrerer Gesellschafter = Personengesellschaft stimmt nicht.

IH. Was ist rechtspolitisch zur beschränkten Haftung aller Gesellschafter einer Personengesellschaft zu sagen? 1. Als sich herausstellte, daß die GmbH sich im Rechtsleben nicht nach den Vorstellungen des Gesetzgebers als kleine AG entwickelte, sondern das personalistische Element bei ihr überwog, insbesondere bei der Mehrzahl die Geschäftsführung in den Händen der Gesellschafter lag, bekämpfte man sie mit dem Satz: Keine Herrschaft ohne Haftung. Dieser Satz kann aber weder de lege lata noch rechtspolitisch Anspruch auf Geltung erheben40 • Für die Personengesellschaften hat der BGH im Rektor-Fall (BGH 45, 204) mit Recht darauf hingewiesen, daß es sich bei der dispositiven gesetzlichen Regelung, wonach Unternehmensleitung und persönliche Haftung in einem inneren und unmittelbaren Zusammenhang zueinander stehen, nicht um einen zwingenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatz handelt. Für die von ihren Gesellschaftern geführte GmbH hat sich dieser Zusammenhang ebensowenig durchgesetzt. Schließlich kann sich auch der Einzelkaufmann durch die Einmann-GmbH Haftungsbeschränkung verschaffen4oa • Rechtspolitisch gesehen entspricht die Verknüpfung von Unternehmensführung und unbeschränkter Haftung nicht dem heutigen Rechtsdenken, das in der Regel Haftung von Verschulden abhängig macht. Jutta Limbach41 und Wiethölter42 haben auf tiefere Zusammenhänge 40 Dazu neuerdings ausführlich Hofmann, Unbeschränkte Kommanditistenhaftung und gesetzliche Wertung, NJW 69, 577. 40a Vgl. Schilling, Die Einmanngesellschaft und das Einzelunternehmen m.b.H., JZ 53, 161. 41 Wie in Fußn.30, S.l07 ff. und GmbH-Rdsch 67, 73 f. 42 Wie in Fußn. 4, S. 37 ff.

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des Problems mit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung unserer Zeit aufmerksam gemacht und von dorther die notwendige Verknüpfung von Herrschaft und Haftung abgelehnt. In anderem Zusammenhang (Testamentsvollstreckung für den persönlich haftenden Gesellschafter-Erben) hat Wiedemann43 dies ebenfalls getan und Siebert44 folgend die Richtigkeit des umgekehrten Satzes, nämlich "keine Haftung ohne Herrschaft" betont, der m. E. aber auch nicht zwingend ist. Bei gerechter Anwendung des Satzes "keine Herrschaft ohne Haftung" müßte man auch die Leiter von Kapitalgesellschaften, die nicht Gesellschafter sind, unbeschränkt für das Unternehmensrisiko haften lassen. Es besteht kein durchgreifender Grund, zwischen bei den in der Haftungsfrage einen Unterschied zu machen. Die beteiligten Geschäftsführer pflegen keine riskanteren Geschäfte einzugehen als die unbeteiligten, oder umgekehrt. Wenn aber niemand daran denkt, diese - z. B. die Vorstände großer Publikums-Aktiengesellschaften - für das Unternehmensrisiko haftbar zu machen, dann verbietet sich das auch für jene. Vielmehr gibt die Organhaftung des Kapitalgesellschaftsrechts, § 43 GmbHG, § 93 AktG, mit ihrer Abgrenzung von Sorgfaltspflichtverletzung und Unternehmensrisiko45 auch für unsere Frage den rechtspolitisch richtigen Maßstab. Das bedeutet: Ein Unternehmer kann nicht gezwungen werden, für das allgemeine Unternehmenswagnis, das er, will er Geschäfte machen, eingehen muß, persönlich einzustehen. 2. Die Bedeutung der unbeschränkten persönlichen Haftung ist umstritten. Wieland schrieb 1921 46 : "Vermöge der unbeschränkten Haftung werden die Mitglieder mit ihrer gesamten Persönlichkeit mit den Schicksalen des Unternehmens verflochten. Sie gewährt einen Schutzdamm gegen leichtsinniges Spekulieren und spornt die Genossen zur gegenseitigen überwachung an." Das ist die interne Seite der persönlichen Haftung, die Bremswirkung. Sie kann durch Kontrollbestimmungen im Gesellschaftsvertrag ersetzt werden. Auch bei kleineren Unternehmen werden heute unternehmerische Entschlüsse sorgfältig vorbereitet und beraten. Die Gläubigerschutzwirkung ist mehr potentiell als aktuell. In größeJnsolvenzfällen spielt sie kaum eine Rolle 47 • Konkursstatistiken helfen 43 Die übertragung und Vererbung von MitgHedschaftsrechten bei Handelsgesellschaften, München u. Berlin 1965, S. 327 ff. 44 Festschrift für Alfred Hueck (1959), S. 334 f. 45 Vgl. Schilling in Großkomm. z. AktG 37 § 84 Anm. 15; Mestmäker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, Karlsruhe 1958, S. 213. 46 Handelsrecht I, S. 836. 47 Ebenso Ballerstedt, ZHR 128 (1966), S. 122 und Wiethölter wie in Fußnote 4, S. 36.

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nicht weiter, weil sie über die Insolvenzursachen nichts aussagen i8. Wäre das Unternehmen auch gestrandet, wenn in dem einen Fall die unbeschränkte persönliche Haftung eines Gesellschafters bestanden hätte? Warum fallierte es in dem anderen Fall trotz unbeschränkter persönlicher Haftung? Das läßt sich statistisch nicht erfassen. Die persönliche Haftung soll deswegen nicht gering geachtet werden. Sie bleibt mit dem klassischen Bild des Eigentümer-Unternehmers verbunden. Aber dieses klassische Bild ist eben weithin nicht mehr gültig. So ist heute die unbeschränkte persönliche Haftung keine Frage des Prinzips, sondern der Zumutbarkeit. 3. Die auf ihre Einlage beschränkte Haftung aller Gesellschafter setzt nicht eigene Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft voraus49 • Diese kann mit und ohne Rechtspersönlichkeit gedacht und konstruiert werden. Für die GmbH wurden ursprünglich beide Meinungen vertreten/m, ebenso für die oHG 51 • In der romanistischen Rechtswissenschaft ist die Frage heute noch für beide Gesellschaften umstritten, wird aber jeweils für beide einheitlich beantwortet50 • Nach Wieland52 ist das Ergebnis der neueren Rechtsentwicklung (1921), daß sämtliche Handelsgesellschaften Gesellschaften seien, insofern sie sich auf Vertrag gründen, Gemeinschaften zu gesamter Hand, insofern ihr Vermögen gemeinsames Vermögen der Mitglieder ist, juristische Personen, insoweit sie nach außen nach gewissen Richtungen hin nach Art selbständiger Rechtsträger rechtlich behandelt werden. Der einheitlichen Betrachtungsweise Wielands, die in den romanistischen Ländern gilt, wird man für das deutsche Recht nicht folgen können63 • Die Anschauung der GmbH als Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, der oRG und KG als Personengesellschaft ohne eine solche hat sich gefestigt. Dazu mag auch die unterschiedliche steuerliche Behandlung beigetragen haben. Wir verdanken aber Wieland die Erkenntnis, daß der Unterschied ein relativer, kein absoluter ist. Die juristische Persönlichkeit ist eine DenkforID, ein Konstruktionsmittel, das Abstufungen zuläßt. Je mehr der einzelne hinter dem Ganzen zurücktritt, desto unbeschränkter ist die Fiktion, desto vollkommener ist die gedachte juristische Persönlichkeit. Der Staat erscheint ganz unabhängig von der Zahl seiner Mitglieder und der Dauer ihrer Zugehörigkeit. Das gilt weitgehend auch für die Aktiengesellschaft, je größer die Zahl der Aktionäre desto mehr. Je individualisti48 49 50 51 62

63

WiethölteT wie Fußn. 4, S. 43 f. WiethölteT wie Fußn. 4, S. 37. Schilling in Hachenburg Komm. z. GmbHG, § 13 Anm.2. Hueck, oHG, § 3 IV. Handelsrecht I, S. 425. Ebenso Hueck wie in Fußn.51, S.23 Fußn. 12.

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scher aber eine Gesellschaft gestaltet ist, desto beschränkter ist die Fiktion verwertbar. Um im Rechtsverkehr bestehen zu können, bedarf jede Handelsgesellschaft nach außen hin einer gewissen Geschlossenheit. Sie ist der oHG in § 124 HGB verliehen worden. Die offene Handelsgesellschaft kann unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen. Im Prozeß ist sie parteifähig. Das bedeutet eine Verselbständigung des Gesellschaftsvermögens nach außen54, ohne daß dadurch die innere Verbundenheit der Gesellschafter beeinträchtigt würde. Die oHG wird deshalb als übergangsform bezeichnet55, als Vorstufe der juristischen Person56 oder als Rechtspersönlichkeit zweiter Ordnung:;". Oder man sagt, sie ist mehr als eine Gesamthand und weniger als eine Rechtsperson58 • Das alles gilt unabhängig von der Haftungsregelung. 4. Die beschränkte Haftung aller Gesellschafter setzt aber natürlich voraus, daß jeder Gesellschafter ein bestimmtes Kapital für den Geschäftsbetrieb zur Verfügung stellt und dies auch öffentlich kundgibt. Das ist bei der GmbH & Co nicht weniger als bei der GmbH und der KG der Fall, nicht selten sogar mehr l>9. IV. Wenn schutzwürdige Interessen nicht verletzt werden, so bedarf es keiner weiteren rechtspolitischen Rechtfertigung der GmbH & Co. Es gibt aber weitere Rechtfertigungsgründe. Teilweise sind sie (oben II 2 und 3) schon berührt worden. 1. Die GmbH & Co als "freiheitlichste Gesellschaftsrechtsform"60 erhöht die Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit des Unternehmens. Diese zu stärken, ist ein rechtspolitisch wertvolles Ziellli. 2. Es gilt ferner, die Wettbewerbsfähigkeit der mittelständischen Unternehmen gegenüber den Großunternehmen durch Chancengleichheit zu erhalten. Wenn diesen bei durch bessere Kapitalausstattung und Diversifikation verringertem Risiko die auf das Gesellschaftsvermögen beschränkte Haftung gewährt wird, kann sie jenen nicht vorent5' 55 56 5T

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Vgl. R. Fischer in Großkomm. HGB. 3. Aufl. 1967, § 105 Anm.41. Hueck wie in Fußn. 51; Baumbach-Duden, HGB, Einf. vor § 105 Anm.l C. Coing in Staudinger, Ein!. vor § 21 Anm. 5. Müller-FreienfeIs, Ac.P 156 (1957), S.527. Brecher wie in Fußn. 8, S. 247; vg!. auch Kämmerer, Die Rechtsnatur

der offenen Handelsgesellschaft, NJW 66, 801. 59 Mertens, GmbH-Rdsch 67, 47. 60 Wiethölter wie in Fußn.4, S. 14. 61 Das wird auch in der amt!. Begr. zum Umwandlungssteuergesetz (A. Allg. Teil I, Die Zielsetzung des Entwurfs), Drucksache 292/68 des Bundesrats, S. 8, anerkannt.

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halten werden. Das ist ein dem Gläubigerschutz gleichwertiger Gesichtspunkt. 3. Der "unsterbliche" Geschäftsführer in der Person der Komplementär-GmbH mit der Möglichkeit der Drittorganschaft macht das Unternehmen unabhängiger vom Schicksal des einzelnen Gesellschafters. Andererseits bleiben die der Personengesellschaft eigentümlichen unmittelbaren Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander und zum Gesellschaftsvermögen (oben Il und II 3) erhalten. 4. Insgesamt ist mit Gessler62 das wirtschaftliche Bedürfnis für eine der GmbH & Co entsprechende Personengesellschaft zu bejahen und mit Barz63 zu sagen, daß die GmbH & Co heute durchaus legitime Bedürfnisse des Wirtschaftsorganisationsrechts erfüllt. Sie kann als Testinstrument für die Aufrechterhaltung d~r Privatautonomie64 in einem Teilgebiet des Gesellschaftsrechts gelten und sie läßt uns mit Otto v. Gierke und Hesselmann65 hoffen, daß sie eine vollendete re Rechtsbildung vorbereitet.

V. Wenn ich zum Schluß noch einige Gedanken anfüge, wie eine solche "vollendete re Rechtsbildung" als Rechtsgestaltung des Gesetzgebers aussehen könnte, so bedeutet das nicht, daß sie die GmbH & Co als Rechtsgestaltung der Privatautonomie verdrängen und ersetzen soll. Das kann und soll sie aus einem doppelten Grunde nicht: Die GmbH & Co (und die AG & Co) in ihren jetzigen und künftigen Erscheinungsformen bleibt notwendig als Mittel der Kooperation und Konzentration sowie genossenschaftlicher Zusammenschlüsse66 • Sie soll aber auch weiterhin den einzelnen Unternehmen als Rechtsform in freier Wahl mit anderen zur Verfügung stehen. Sie hat dabei die Chance, ihrerseits zu einer vollendeteren Rechtsbildung fortzuschreiten. "Das Recht hat dem Leben zu dienen und muß die entsprechenden Formen zur Verfügung stellen67. " Aufgabe des Gesetzgebers wäre es, daneben eine Personengesellschaft mit beschränkter Haftung aller Gesellschafter zu schaffen und damit einen alten Wunsch der mittelständischen Wirtschaft zu erIn "Aktuelle Probleme der GmbH & Co" (vgl. Fußn. 4), S. 3. Die Reform des GmbH-Rechts, GmbH-Rdsch 63, 124 (126). 04 So Wiethölter wie in Fußn.4, S.47. 65 Siehe oben zu Fußn. 6. 66 Beispiele bei Wiethölter wie Fußn. 4, S; 30 und Böttcher, SteuerberaterJahrbuch 1966/67, S.147. 67 BGH9, 164. 62 63

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füllenfi7a • Neben dieser neuen Rechtsform würden auch die alten, gesetzlich geschaffenen, also oHG, KG und GmbH, bestehen bleiben und ihre Berechtigung behalten, die GmbH insbesondere für die vielen anderen Zwecke, die sie neben ihrer Bedeutung als personalistische Unternehmensform hat. Diese anderen Zwecke könnten dann vielleicht sogar bei einer GmbH-Reform in den Vordergrund gestellt werden. Wenn Wiethölter 68 sagt, die Reformarbeit müsse die GmbH an die KG angleichen, so würde ich also eher von einer Zweiteilung der GmbH-Reform sprechen, im Sinne des von Wieland erwähnten Hachenburgschen Vorschlags, "wonach den Beteiligten zwei Typen einer GmbH zur Auswahl gestellt werden, der eine den Bedürfnissen von Gesellschaften nach Art der oHG und KG, der andere von Vereinigungen kapitalistischer oder genossenschaftlicher Struktur (Kartelle usw.) entsprechend" 69. 1. Die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers wäre es, für die neue Gesellschaftsform eine angemessene Haftungsregelung zu finden. Sie müßte in einem abgewogenen Verhältnis zu der Haftungsregelung der "Nachbargesellschaften" KG, GmbH & Co und GmbH stehen. Dabei würde ich im rechtspolitischen Gewicht der Haftung zwischen KG und GmbH & Co keinen Unterschied machen. Anstelle der Haftung einer oder mehrerer natürlicher Personen tritt das Garantiekapital der GmbH. Im übrigen haften bei beiden die Kommanditisten, jeder auf seine Haftungssumme beschränkt, den Gläubigern unmittelbar (Außenhaftung, §§ 171, 172 HGB). Demgegenüber besteht bei der GmbH die gesamtschuldnerische, subsidiäre Innenhaftung aller Gesellschafter für die gesamten Stammeinlagen (§ 24 GmbHG).

Für die neue Gesellschaftsform sind folgende Lösungen denkbar: a) Die Haftung gemäß dem Entwurf Oechelhäusers (s. Anhang), d. h. gesamtschuldnerische Außenhaftung aller Gesellschafter für das gesamte eingetragene Kapital. Das bedeutet eine Kumulation der KGund GmbH-Haftung und erscheint mir zu hart und zu grob. b) Die GmbH-Regelung, d. h. gesamtschuldnerische Innenhaftung aller Gesellschafter für Ausfälle bei der Aufbringung des Stammkapitals. Unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes ist aber die Außenhaftung vorzuziehen, bei der der Gläubiger jederzeit selbst zu67a Neuerdings kommt dieser Wunsch wieder in einem Vorschlag de lege ferenda von Wetter zum Ausdruck: Die Kommanditgesellschaft mit beschränkter Haftung (K GmbH) BB 68, 734. Dazu kritisch H. M. Schmidt, BB 69, 341 mit Gegenstellungnahme von Wetter, S.342. Anders als ich vertritt Wetter den Standpunkt, daß eine solche neue Gesellschaftsform die GmbH & Co Überflüssig mache. 68 Wie in Fußn. 4, S. 42. 69 Wieland, Handelsrecht II (1931), S.399.

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greifen kann. Sie entspricht auch mehr dem Leitbild der Personengesellschaft, zu dem die unmittelbare Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern gehört. e) Die KG-Regelung, also Außenhaftung, aber beschränkt auf das eigene Einlageversprechen jeden Gesellschafters (mit Einlage ist im folgenden immer die im Handelsregister eingetragene Haftsumme gemeint). Das erscheint mir zu schwach im Vergleich zur KG, bei der dazu noch die unbeschränkte persönliche Haftung einer natürlichen Person kommt, und zur GmbH & Co, bei der zusätzlich noch das Stammkapital der Komplementär-GmbH zur Verfügung steht. d) Die richtige Lösung könnte in einer Regelung erblickt werden, die die Haftungsverhältnisse der GmbH & Co zugrunde legt. Das wäre eine Kombination (nicht eine Kumulation) der KG- und der GmbHHaftung. Es wird ein Mindestkapital mit Mindesteinzahlung wie bei der GmbH festgesetztti 9a, für das gemäß dem Oechelhäuserschen Entwurf gesamtschuldnerische Außenhaftung besteht; dazu müssen ohne Mindesthöhe - Zusatzeinlagen entsprechend den Kommanditeinlagen mit Außenhaftung jeden Gesellschafters für seine Einlage versprochen werden. 2. Weitere Fragen des Gläubigerschutzes: a) Bei Sacheinlagen gilt die KG-Regelung: Der Gesellschafter wird nur in Höhe des wahren Wertes der eingebrachten Gegenstände befreit70 • Die unter 1 d) skizzierte Haftung gilt auch hierfür, also solidarische Haftung für das Mindestkapital und Einzelhaftung für die Zusatzeinlage. b) Diese differenzierte Haftung soll auch bestehen bei Rückzahlung der Einlagen. Das gilt auch für die Entnahme von Gewinnanteilen bei durch Verlust gemindertem Kapitalanteil, entsprechend Oechelhäusers § 6 (für das Mindestkapital) und § 172 Abs. 4 S. 2 HGB (für die Zusatzeinlagen). Entnahmen und Verlustanteile werden zuerst auf die Zusatzeinlage angerechnet, bei deren Erschöpfung auf die Einlage zum Mindestkapi tal. e) Wenn die GmbH-Reform Bestimmungen für Gesellschafterdarlehen bringt71 , so müssen entsprechende Bestimmungen für die Personengesellschaft m.b.H. erwogen werden. 89a

Ähnlich WetteT wie in Fußn.67a.

BGH 39, 329; WeipeTt in RGR Komm. z. HGB, 2. Aufl., § 171 Anm.13; SchlegelbeTgeT-Gessler, Komm. z. HGB, 4. Aufl., § 171 Anm. 13; vgl. dazu auch Rob. FischeT, Die personalistische GmbH als rechtspolitisches Problem, Festschr. f. Walter Schmidt (1959), S. 117 (136 f.). 71 Vgl. GessleT, GmbH Rdsch 66,109; Referentenentwurf §§ 47 f. 70

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d) Die Geschäftsführer haben zu Beginn eines jeden Jahres dem Handelsregister den Stand der Einlagekonten (Einzahlungen, gegebenenfalls gemindert durch Verlustanteile und Entnahmen) in Summa, also aller Gesellschafter zusammen, nicht für jeden Gesellschafter einzeln, mitzuteilen. Das ist ein Ausgleich für die gegenüber der GmbH erleichterte Entnahme- und Abfindungsmöglichkeit. e) Bringt die GmbH-Reform Vorschriften über die Publizität des Jahresabschlusses72 , so ist eine entsprechende Regelung zu erwägen. 3. Weiterer überlegungen, die hier nur angedeutet werden können, bedarf die Ausgestaltung des Innenverhältnisses. Hier soll wie bisher weitgehende Vertragsfreiheit herrschen. Die Drittorganschaft soll ermöglicht werden72a • Soll aber im übrigen Modell der dispositiven gesetzlichen Regelung die oHG (so Oechelhäuser) oder die KG sein? Im ersteren Fall wäre z. B. allen Gesellschaftern die Geschäftsführungsbefugnis zu geben, mit der Maßgabe, daß einige oder alle durch den Gesellschaftsvertrag von der Geschäftsführung ausgeschlossen werden können. Im letzteren Fall stünde keinem Gesellschafter die Befugnis kraft Gesetzes zu, der Gesellschaftsvertrag könnte sie aber verleihen, mit der Folge, daß sie nur aus wichtigem Grund entzogen werden kann. Das Mitwirkungs-, Auskunfts- und Prüfungsrecht der nicht geschäftsführenden Gesellschafter wäre zu regeln. Kündigung, Tod und Konkurs eines Gesellschafters sollen nicht zur Auflösung der Gesellschaft, sondern zum Ausscheiden des Gesellschafters führen. 4. Steuerlich ist die Personengesellschaft m. b.H. Mitunternehmergemeinschaft wie die oHG, KG und GmbH & Co, bei der die Einkünfte den Gesellschaftern zugerechnet werden und (nur) der Einkommensteuer unterliegen. Anhang

Der Oechelhäusersche Entwurf einer Gesellschaft mit beschränkter Haftbarkeit vom Februar 1884 (abgedruckt in Wieland Handelsrecht H, S. 399) §1 Eine Handelsgesellschaft mit beschränkter Haftbarkeit ist vorhanden, wenn zwei oder mehr Personen ein Handelsgewerbe oder sonstiges Unternehmen unter gemeinschaftlicher Firma betreiben und bei sämtlichen Gesellschaftern die Beteiligung, mit Ausschluß jeder weiteren persönlichen Haftung, auf bestimmte Vermögenseinlagen beschränkt ist. 72

72a

Vgl. Gesster wie in Fußn.71, S. 110; Referentenentwurf §§ 152 ff. Ebenso Wetter wie in Fußn. 67a.

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Jede Firma muß den Zusatz .. mit beschränkter Haftbarkeit" (oder in Abkürzung: mbH) enthalten. Zur Gültigkeit des Gesellschaftsvertrages oder jeder Abänderung desselben bedarf es der schriftlichen Abfassung. §2

Auf die Gesellschaften mit beschränkter Haftbarkeit finden die Bestimmungen Buch II Titel I des Handelsgesetzbuchs (AHGB) über die offenen Handelsgesellschaften Anwendung, insofern sie nicht durch nachfolgende Bestimmungen abgeändert oder ergänzt werden. §3

In der Anmeldung beim Handelsgericht (§ 86 des Handelsgesetzbuches) ist die Höhe des Grundkapitals anzugeben, auf welches sich die Gesamthaftbarkeit der Gesellschafter beschränken soll, ebenso die Beteiligung jedes einzelnen Gesellschafters. Desgleichen ist der Anmeldung beizufügen: a) eine Abschrift des Gesellschaftsvertrages in beglaubigter Form, b) die schriftliche Erklärung, daß mindestens die Hälfte des Gesellschaftskapitals bar eingezahlt oder in bestimmten Vermögensobjekten in die Firma eingebracht sei; im letzteren Falle ist ein Inventarium dieser Vermögensobjekte beizufügen. Auch diese Anlagen sind von sämtlichen Gesellschaftern persönlich vor dem Handelsgericht zu unterzeichnen oder in beglaubigter Form einzureichen (§ 88 des AHGB). §4

In der Veröffentlichung des Handelsgerichts (§ 13 AHGB) muß die Höhe des Gesellschaftskapitals, auf welches sich die Gesamthaftbarkeit der Gesellschafter beschränkt, angegeben werden. §5

Die Gesellschafter haften für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft solidarisch, jedoch nur bis zur Höhe des eingetragenen Grundkapitals (3). Waren also die Einlagen nicht voll eingezahlt, so sind sämtliche Gesellschafter für alle nicht einbezahlten Beträge solidarisch verhaftet. §6

Bis zur Wiederergänzung des durch Verlust verminderten Grundkapitals dürfen die Gesellschafter weder Zinsen noch Gewinn beziehen. Wird den vorstehenden Bestimmungen entgegengehandelt, so haften die Gesellschafter für die Rückerstattung verteilter Beträge solidarisch. §7

Wird das Grundkapital, sei es durch Erhöhung der Einlagen der ursprünglichen Gesellschafter, sei es durch Hinzutritt neuer Gesellschafter, über den zum Handelsregister angemeldeten Betrag erhöht, so ist dies sofort beim Handelsgericht anzumelden und von diesem zu veröffentlichen.

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Das gleiche Verfahren findet statt, wenn durch Austritt eines Gesellschafters oder infolge einer Vereinbarung sämtlicher Gesellschafter das eingetragene Grundkapital (§ 3) vermindert werden soll. Eine solche Veränderung des Grundkapitals durch Zurückzahlung oder Erlaß von Einlagen darf nicht vor Ablauf eines Jahres nach der Eintragung in das Handelsregister erfolgen. Für die Erstattung früher zurückgezahlter oder erlassener Beträge haften die Gesellschafter solidarisch. §8

Der Tod oder die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen eines der Gesellschafter, oder die eingetretene rechtliche Unfähigkeit eines der Gesellschafter zur selbständigen Vermögensverwaltung (§ 121,2 und § 3 des AHGB) hat nur dann die Auflösung der Gesellschaft zur Folge, wenn dieselbe im Gesellschaftsvertrage ausbedungen ist, oder der verstorbene Gesellschafter mit ausgeschriebenen Einlagen im Rückstand war und die Erben desselben oder die übrigen Gesellschafter sich weigern, die solidarische Haftbarkeit (§ 7) für seine Beteiligung am Gesellschaftskapital fortbestehen zu lassen.

Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen Von Reinha'rd GoerdeZer 1. Einleitung Zu dem weitgespannten Interessenbereich Otto Kunzes auf dem Gebiet des Unternehmensrechts und des Gesellschaftswesens gehört auch seine Mitwirkung in der Studienkommission des Deutschen Juristentages auf dem engeren Gebiete des Stiftungsrechts, An den von dieser Kommission erarbeiteten "Vorschlägen zur Reform des Stiftungsrechts .. t hat er mit Engagement zur Sache mitgewirkt, im Redaktions.. ausschuß hat er immer wieder zu sprachlicher Klarheit und juristischer Akribie gedrängt. Der so von ihm miterarbeitete Bericht liegt seit nunmehr einem Jahr der Öffentlichkeit vor; ob die dort gegebenen Anregungen die gesetzgebenden Organe des Bundes zu baldigem Handeln veranlassen, bleibt abzuwarten. Mit dem Bericht ist ein weiterer Schritt in der seit 1945 belebten Diskussion um die Rechtsform der Stiftung getan und damit zugleich eine Bilanz gezogen. Die Kommission hat aus wohlüberlegten Gründen darauf verzichtet, im einzelnen auf die zahlreiche seit 1945 erschienene Literatur (Handbücher, Loseblattsammlung, Dissertationen, Aufsätze)2 einzugehen. Vor allem konnten auch viele Fragen, die mit der unternehmerischen Betätigung einer Stiftung zusammenhängen, nicht in den Bericht aufgenommen werden. 2. Die grundsätzliche Frage nach der Zulässigkeit I

Wie auf dem 44. Deutschen Juristentag in Hannover 1962, so hat sich auch in der Kommission3 eine einheitliche Meinung über die Grundfrage, ob die Stiftung überhaupt im unternehmerischen Bereich Verlag C. H. Beck, München 1968 (Zitierweise: DJT-Stiftungsrecht). Wegen der Publikationen sei u. a. verwiesen auf H. Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Teil I: Geschichte des Stiftungsrechts, Tübingen 1963; Strickrodt, Stiftungs recht, Baden-Baden 1962 sowie ferner auf die Literaturverzeichnisse bei H. Berndt, Stiftung und Unternehmen, Verlag Neue Wirtschaftsbriefe, Heme/Berlin, Buchreihe 4134 - 1969; U. Pavel, Eignet sich die Stiftung für den Betrieb erwerbswirtschaftlicher Unternehmen?, Bad Homburg v. d. H. / Berlin / Zürich 1967; H. L. Steuck, Die Stiftung als Rechtsform für wirtschaftliche Unternehmen, Berlin 1967; T. Schiller, Status und Rolle der Stiftungen, unveröff. Diss. Bonn 1968. 3 DJT-Stiftungsrecht, S.43. t

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hierfür wurde auch im Interesse der Einheitlichkeit der Begriffsbildung der Ausdruck "Unternehmensträger-Stiftung" gewählt - tätig sein dürfe, nicht gebildet. Ballerstedt" hatte in dem dem Juristentag erstatteten Gutachten als Leitbild für die Stiftungsrechtsform die "Stiftung des öffentlichen Wohls" vorgeschlagen; er hatte damit die "Würdigkeit des Stiftungsrechts" gefordert. Er ist der Auffassung, daß die Stiftung als Rechtsform eines Unternehmens bei einer Reform des Stiftungsrechts grundsätzlich nicht in Betracht gezogen werden sollte. Mestmäcker5 hatte sich in seinem Referat für die Zulässigkeit jedes gesetzmäßigen Zwecks ausgesprochen, ohne Rücksicht auf dessen Würdigkeit; bezüglich der Unternehmens stiftungen hat sich jedoch Mestmäcker den Bedenken Ballerstedts angeschlossen. Seiner Meinung nach sollten Stiftungen, deren Zwecke auf den Betrieb eines Unternehmens gerichtet sind, grundsätzlich nicht zugelassen werden; eine Ausnahme möchte er nur dann machen, "wenn der nicht im Betriebe des Unternehmens bestehende Hauptzweck der Stiftung in anderer Rechtsform nicht verwirklicht werden könnte". Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder hat sich jedoch für die Zulässigkeit von Unternehmensträger-Stiftungen ausgesprochen. Für diese Entscheidung der Mehrheit, die im einzelnen noch differenzierte Auffassungen zum Ausdruck brachte, war vor allem die überlegung maßgeblich, daß, abgesehen von der Verfolgung unsittlicher und gesetzwidriger ZweckeS, die Zulassung aller Zwecke bei Stiftungserrichtungen zu befürworten sei. Die Frage nach der Zulässigkeit der Stiftungszwecke wird auch für die weiteren Arbeiten an einer Gesetzesreform von entscheidender Bedeutung sein. Dabei wird der Gesetzgeber insbesondere zu bedenken haben, ob er sich dem von der Studienkommission vorgeschlagenen Normativsystem für die Stiftungserrichtung anschließen will oder ob er es bei dem gegenwärtigen Konzessionssystem beläßt. Geht man von dem Gedanken aus, daß die mit der Stiftungsgründung verbundene Schaffung eines neuen Rechtssubjektes sich im Rahmen der heute geltenden Privatautonomie hält, so ist ein Grund für die Beschränkung der zulässigen Stiftungszwecke nicht zu sehen7 • Diese überlegungen führen dazu, eine unternehmerische Tätigkeit von Stiftungen in Zukunft zuzulassen. Dabei kann man auch die Frage dahingestellt sein lassen, ob diese Tätigkeit nur Mittel zum Zweck ist (Er" Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Bd. I, 5. Teil, Tübingen

1962, S. 37 11.

ebd., Band II, Teil G, S. 17 fi. DJT-Stiftungsrecht, S.21; diskutiert und abgelehnt wurde eine Generalklausel wegen Mißbrauch der Wahl der Stiftungsrechtsreform; vgl. hierzu Mestmäcker, a.a.O., S.16 und GoerdelerlUlmer, Die AG 1963, S.293. 7 GoerdelerlUlmer, Die AG 1963, S. 295 fi.; dort auch weiteres über den inzwischen seit der Entstehung des BGB eingetretenen Wandel in der Rechtsauffassung. 5

6

Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen

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zielung von Erträgen zur Erfüllung von außerhalb des Unternehmens liegenden Stiftungszwecken) oder ob die Stiftungszwecke selbst auch auf die Verfolgung untemehmerischer Ziele gerichtet sind8 • Soweit die untemehmerische Betätigung über den Rahmen der allgemeinen Vermögensverwaltung hinausgeht, wird man eine satzungsmäßige Fixierung des Gegenstands der untemehmerischen Tätigkeit verlangen müssen. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung des Stiftungszwecks, der nach den neuen Landesstiftungsgesetzen notwendiger Inhalt jeder Stiftungssatzung ist9 • Wenn im folgenden auf einige Probleme der untemehmerischen Betätigung von Stütungen näher eingegangen wird, so geschieht dies im wesentlichen auf der Grundlage des heute gültigen Stiftungsrechts10• 3. Theorie und Praxis

Die Studienkommission hat es im Zuge ihrer Erörterungen über die Ausgestaltung eines neuen bundeseinheitlichen Stiftungsgesetzes bedauert, daß sich als Folge der landesrechtlichen Zersplitterung unseres Stiftungswesens und wegen des Fehlens von Stiftungsregistem die Stiftungswirklichkeit weitgehend einer sicheren Beurteilung entziehtl l. Andererseits kann aber nicht verkannt werden, daß sich aus den verschiedenen sogenannten Stiftungsinitiativen der beiden letzten Jahrzehnte das bisherige Dunkel über das Stiftungswesen zu erhellen beginnt. Es ist dabei einmal zu erwähnen, daß die neueren stiftungsrechtlichen Arbeiten immer weitergehend die bestehenden Stiftungen an Hand ihrer Satzungen und Organisationen in ihre Betrachtungen einbezogen haben12• Zum anderen haben die großen wissenschaftlichen Stiftungen und die diesen vergleichbaren wissenschaftlichen Institutionen, beginnend mit einer im November 1964 in Berlin abgehaltenen Stiftungskonferenz, eigene Recherchen angestellt, die in nächster Zukunft zu Veröffentlichungen über Bestand und Rechtsgrundlagen, 8 § 1 des Statuts der Carl-Zeiss-Stiftung (bei David, Die Carl-Zeiss-Stiftung, Heidenheim an der Brenz 1954, S. 32) erwähnt den letzteren Zweck neben anderen ausdrücklich. 9 Die entsprechende Satzungsbestimmung würde sich den Bestimmungen über den "Gegenstand des Unternehmens" bei Kapitalgesellschaften annähern. 10 Die Frage, ob unser heutiges Stiftungsrecht Bundes- oder Landesrecht ist und ob der Bundesgesetzgeber zu einer Kodifikation befugt ist, hat schon den 44. Deutschen Juristentag beschäftigt; BalIerstedtlSalzwedel, Gutachten, Tübingen 1962, haben die Kodifikationsbefugnis des Bundes grundsätzlich bejaht. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 26.4. 1968 (NJW 1969, S. 339) auch die staatliche Genehmigung als bundesgesetzliche Regelung angesehen. 11 DJT-Stiftungsrecht, S.13. 12 Vgl. oben Anm.2.

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Wirken und Umfang von Stiftungen in den europäischen Ländern führen werden13• Die bisher bekanntgewordenen Einzelheiten über bestehende Stiftungen (und in gewissem Umfang die Institutionen, die als Ersatzformen für Stiftungen anzusprechen sind) lassen trotz Fehlens einer zentralen Erfassung genügend Aufschlüsse zu, um die Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen zu erkennen. 'Die bisher bekanntgewordene Stiftungswirklichkeit und die erschienene Literatur zeigen deutlich, daß bei den unternehmensbezogenen Stiftungen Stiftungsrecht, GeseIlschaftsrecht, Steuerrecht und Betriebswirtschaft in einem besonders engen Zusammenhang stehen. Von den Erfordernissen aller dieser Disziplinen her muß im Einzelfall die Frage entschieden werden, ob die Errichtung einer Stiftung im Zusammenhang mit einem Unternehmen in Betracht kommen kann. Man würde eine vorschnelle Entscheidung treffen, wollte man in dem oft zitierten Beispiel des Fehlens für die Unternehmensführung geeigneter Nachkommen unterschiedlos in der Einsetzung einer Stiftung als Erbin die alleinige oder auch nur eine befriedigende Lösung im Hinblick auf die Zukunft des betroffenen Unternehmens sehen; das gilt insbesondere für den Gedanken, die Stiftung als unmittelbare Inhaberin des Unternehmens - wie z. B. bei der Carl-Zeiss-Stiftung - einzusetzen14• Die nur auf das Unternehmen bezogene Stiftung, die auch satzungsgemäß keine anderen Zwecke verfolgt als den Betrieb des Unternehmens, war schon immer als Ausnahme anzusehen15• Man kann in der Tat Zweifel haben, ob ein Stiftungszweck, der sich auf den Betrieb eines Unternehmens beschränkt, der Institution der Stiftung entspricht. Sieht man wie Ballerstedt16 die Stiftungsidee am ehesten in dem Wirken der Stiftung für Zwecke der Allgemeinheit, die über jedes Unternehmensinteresse hinausgehen, verwirklicht, so ist eine Beschränkung der Stiftungszwecke ausschließlich auf den Unternehmensbereich abzulehnen. Zieht man darüber hinaus in Betracht, daß der Gesetzgeber für die unternehmerische Betätigung Rechtsformen besonderer Art zur Verfügung gestellt hat, so liegt die überlegung nahe, daß der Zweck einer Stiftung sich nicht in der Führung eines Unternehmens erschöpfen sollte. Mit anderen Worten: die unternehmerische Betätigung einer Stiftung entspricht nur dann der Rechtsform, wenn ein über den unternehmerischen Zweck hinausgehender weiterer Zweck verfolgt wird. Diese weiteren Zwecke können sowohl 13 Einen weitgehenden Einblick in die amerikanischen Stiftungen gibt die Arbeit von Klaus Neuhoff, Baden-Baden 1968; im dort beigegebenen Anhang A IV sind besonders die "Betrieblichen Stiftungen" aufgeführt. 14 Vgl. die Kritik bei U. Pavel, a.a.O., S. 146. 15 Vgl. die Feststellungen bei Ballerstedt/SaZzwedeZ, a.a.O., S. 21 ff. 16 BaZlerstedt/SaZ1:WedeZ, a.a.O., S. 38 ff.

Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen

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gemeinnützige, also der Allgemeinheit dienende, als auch engere, soziale und die Belegschaft des Unternehmens fördernde sein. Ich möchte allerdings nicht so weit wie Mestmäcker gehen, der die unternehmerische Betätigung der Stiftung nur dann zulassen will, wenn dieser weitergehende Zweck der Stiftung (Hauptzweck) in anderer Rechtsfonn nicht verwirklicht werden könnte, abgesehen davon, daß die von Mestmäcker geforderte Abgrenzung in der Praxis schwerlich getroffen werden kann. Nach diesen überlegungen erscheint eine Konstruktion sinnvoll, bei der sich die Stiftung darauf beschränkt, die Anteile an einer dazwischengeschalteten Kapitalgesellschaft zu halten, die ihrerseits die unmittelbaren unternehmerischen Funktionen wahrnimmt. Diese Gestaltung wird erfahrungsgemäß schon heute wegen der damit verbundenen praktischen Vorteile gewählt. In bezug auf das Unternehmen beschränkt sich die Stiftung dann in aller Regel auf die Vermögensverwaltung, aus deren Erträgnissen sie die ihr durch die Satzung vorgeschriebenen Zwecke gegenüber Dritten (nicht gegenüber dem Unternehmen) erfüllen kann. Diese Grundkonzeption erfüllt zugleich die betriebswirtschaftlichen Erfordernisse, insbesondere bezüglich der Finanzierung. Darüber hinaus läßt sich im Rahmen dieser Trennung von Stiftung und Unternehmen auch zumeist eine optimale steuerliche Gestaltung finden; soll die Stiftung entsprechend ihrer satzungsgemäßen Zielsetzung die Anerkennung der steuerlichen Gemeinnützigkeit finden, so ist ohnedies die Beschränkung auf eine vermögensverwaltende Tätigkeit angezeigt17• Folgt man diesen überlegungen, so wird die selbst gewerblich tätige Stiftung, insbesondere als Alleininhaberin eines Unternehmens (Einzelkaufmann), weniger im Vordergrund des Interesses stehen; dies schließt nicht aus, daß für überschaubare Größenordnungen und in gewissen Gewerbezweigen die gewerblich sich betätigende Stiftung auch heute noch wirtschaftlich sinnvoll und damit vertretbar ist. 4. Die Stiftung als Träger von Vermögen, insbesondere von Unternehmen

Die Entscheidung, eine Stiftung im unternehmerischen Bereich als Vermögensträger einzusetzen, wirkt sich in sehr verschiedenen Richtungen aus. Betrachtet man die Zukunft, so ist vor allem zu beachten, daß das in die Stiftung gegebene Vermögen zunächst als auf die Dauer 17 Vgl. § 6 Abs.l GemVO und Abschn.17 Abs.3 KStR; unbeschadet davon verbleibt der gemeinnützigen Stiftung die Möglichkeit einen - insoweit steuerpflichtigen - wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zu unterhalten.

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dort gebunden zu betrachten ist (Prinzip der toten Hand). Einige der neueren Stiftungsgesetze befassen sich mit der Frage der Vermögenserhaltung ausdrücklich und verlangen die ungeschmälerte Erhaltung der Substanz oder aber sie schreiben, wie das Bayerische Stiftungsgesetz Art. 14, eine bestimmte Vermögensanlage vor1S • Der Stifter muß sich also darüber im klaren sein, daß mit der übertragung des Vermögens auf eine Stiftung eine dauernde Vermögensbindung eintritt19 • Fraglich kann nur sein, ob eine Vermögensumschichtung den Stiftungsorganen erlaubt sein darf etwa der Art, daß die Stiftung sich von den aus Anlaß der Stiftungserrichtung eingebrachten Anteilen an einer Kapital- oder Personengesellschaft trennen darf. Dies ist eine rein stiftungsrechtliche Frage, die aus dem Wortlaut der Satzung und gegebenenfalls ihrer Auslegung unter Berücksichtigung des Stifterwillens zu beantworten ist, soweit nicht ausdrückliche gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Eine unternehmensbezogene Stiftung sollte hier den Organen einen, gegebenenfalls engumgrenzten, Entscheidungsspielraum belassen, weil gerade die wirtschaftliche Entwicklung des betreffenden Unternehmens im Zeitpunkt der Stiftungserrichtung schwer zu übersehen ist und eine spätere, anderweitige Entscheidung nicht ausgeschlossen werden sollte. Dabei stellt sich die Frage, ob dieser Entscheidungsspielraum nur durch besondere satzungsmäßige Ermächtigungen geschaffen werden oder ob dieser Spielraum der Geschäftsführungs- und Verwaltungsbefugnis der Stiftungsorgane, begrenzt durch Stiftungssatzung und Stifterwille, innewohnt. Dies gilt besonders für Beschlüsse über den Abschluß von Unternehmensverträgen, die Durchführung von Fusionen und Kooperationen, aber auch für Maßnahmen der Kapitalbeschaffung20 , soweit die Stiftungsorgane hier im Rahmen der Eigentümer-(Gesellschafter-)Stellung überhaupt zu wirken berufen sind. In diesem Zusammenhang ist auch eine überlegung über die Dauer der Stiftung anzustellen. Das durch das Stiftungs geschäft entstandene neue Rechtssubjekt (Stiftung) wird in der Mehrzahl der Fälle für eine zeitlich unbegrenzte Dauer errichtet; jedoch kann sich der satzungsmäßige Zweck auch auf die Durchführung einer bestimmten Aufgabe beschränken; desgleichen kann die Stiftung von vornherein oder bis zum Eintritt einer Bedingung errichtet werden. In diesen Fällen sollte der Stifter in der Satzung regeln, wie nach Erreichung des Stiftungs18 Die Studienkommission hat davon abgesehen, insoweit entsprechende Vorschriften dem Gesetz vorzuschlagen; vgl. DJT-Stiftungsrecht, S.25. 19 Eine Rückübertragung des Vermögens auf den Stifter ist eine Frage der Satzung oder einer Satzungsänderung. 20 Ist die Stiftung gemeinnützig, stellen sich hier besondere steuerliche Probleme insoweit, als die Stiftung ihre Erträge nicht für die als gemeinnützig anerkannten Zwecke ausgibt; vgl. Meilicke, FR 1967, S.153.

Probleme bei Untemehmensträger-Stiftungen

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zwecks bzw. der sonstigen Beendigungsgründe über die Verwendung des Stiftungsvermögens entschieden werden soll. Auch die Studienkommission hält für die Reform an der Möglichkeit, Stiftungen mit unbegrenzter Dauer zuzulassen, fest2 \ für Stiftungen mit unbegrenzter Dauer gelten die bundesrechtlichen und landesrechtlichen Endigungsgründe 22• Von der grundsätzlich unbegrenzten Dauer der Stiftungen gehen auch die landesrechtlichen Stiftungsgesetze aus, wenn sie die ungeschmälerte Erhaltung des Stiftungsvermögens anordnen und nur in Ausnahmefällen die Inanspruchnahme des Stiftungsvermögens zur Verwirklichung der Stiftungszwecke zulassen23• In den USA wird, vorwiegend aus steuerlichen Gesichtspunkten, seit dem letzten Jahrzehnt eine zeitliche Begrenzung der Stiftung auf 25 Jahre durch den Gesetzgeber in Erwägung gezogen. Mögen auch in den USA die Voraussetzungen im Stiftungsrecht und Stiftungswesen von den unseren sehr verschieden sein, so läßt sich trotzdem nicht verkennen, daß mit der dort erwogenen Befristung der Stiftung ein völlig neues Element in die Diskussion hineingetragen worden ist. Verfolgt man den Gedanken einer zeitlichen Begrenzung von Stiftungen, so ist in jedem Falle eine differenzierende Betrachtungsweise angebracht. Eine solche Begrenzung ist vielleicht dann nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn es sich um Stiftungen handelt, die besondere staatliche Begünstigung (z. B. steuerliche) genießen. Hier kann es im Einzelfall einmal vertretbar sein, daß nicht nur die Erträgnisse, sondern auch das Vermögen innerhalb einer gewissen Zeitspanne für die Verwirklichung des Stiftungszwecks eingesetzt werden. Wollte man diesen Gedanken jedoch auf alle Stiftungen ausdehnen, so würde man gerade die Errichtung von Unternehmensträger-Stiftungen verhindern, die in aller Regel im Interesse einer Stabilisierung der Verhältnisse auf eine lange Zeitdauer angelegt sind24• Eine der bedeutsamsten Folgen der Stiftungserrichtung kann sich auf dem erbrechtlichen Gebiet ergeben, wenn die Stiftung zum Erben eingesetzt wird. Der Erblasser und Stifter muß sich darüber Rechenschaft ablegen, wie Pflichtteilsansprüche oder Pflichtteilsergänzungsansprüche seitens der Stiftung erfüllt werden können und wie diese durch den Abschluß von Erb- und Pflichtteilsrecht-Verzichtsverträgen DJT-Stiftungsrecht, S.17. Hierzu vgl. Soerge~-Siebert, 10. Aufi., § 87 BGB Rn. 2 ft., vgl. DJT-Stiftungsrecht, S. 34 f. 23 Vgl. § 6 Abs.1 Niedersächs. Stiftungsgesetz vom 24. Abs. 1 Rheinland-Pfälz. Stiftungsgesetz vom 22. April 1966; sisches Stiftungsgesetz vom 4. April 1966; Art.10 Bayer. vom 24. November 1954. 24 Kritisch auch Ballerstedt/SaZzwedeZ. a.a.O., S.51. 21 22

für die Reform Juli 1968; § 14 § 6 Abs. 1 HesStiftungsgesetz

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überhaupt vermieden werden können25• Besteht der Gegenstand des Nachlasses aus einem Unternehmen oder Anteilen an einer Kapitaloder Personengesellschaft, der auf die Stiftung als Erben übergeht, so wiegt die Geltendmachung von Pflichtteils ansprüchen um so schwerer, als diese in bar durch den belasteten Erben, die Stiftung, zu erfüllen sind. Der geplante übergang des Unternehmens auf die Stiftung kann daher auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere die Liquidität der Stiftung und damit des Unternehmens außerordentlich beengen; einer solchen Situation sollte man gerade eine Stiftung, deren Aufgabe nach der hier entwickelten Grundkonzeption das Wirken nach außen sein sollte, nicht aussetzen.

5. Die Stiftung als Unternehmen im Gesellschaftsrecht Die unternehmensbezogene Tätigkeit von Stiftungen ist in der Literatur vorwiegend vom Standpunkt des Stiftungsrechts aus beurteilt worden. Dabei war zunächst, von dem Modell der Carl-Zeiss-Stiftung ausgehend, den Fragen Aufmerksamkeit geschenkt, wie sich die stiftungsrechtlichen Vorschriften des BGB (ergänzt durch landesrechtliche Vorschriften über die Stiftungsaufsicht) mit den Vorschriften des HGB über den Einzelkaufmann in Einklang bringen lassen und wie eine zweckmäßige, diesen Vorschriften entsprechende Stiftungsunternehmensverfassung gestaltet werden könne. Seit dem 44. Deutschen Juristentag 1962 hatte sich die Fragestellung auf die grundsätzliche Zulässigkeit der Unternehmensträger-Stiftung verschoben. Fast gleichzeitig setzte die Auseinandersetzung mit der steuerlichen Problematik unternehmensbezogener Stiftungen ein, und insbesondere aus der steuerlichen Sicht stellte sich die Frage, ob nicht andere gesellschaftsrechtliche Gestaltungen als die ~elbst gewerblich tätige Stiftung die gestellte Aufgabe besser erfüllen können26• Die Einstellung der Finanzverwaltung zu manchen Einzelproblemen und das Finanzierungsproblem drängten ebenfalls in diese Richtung. Damit ist die Stiftung als Rechtsform in die Problemkreise des Handelsrechts, Steuerrechts, Wettbewerbsrechts gestellt, und es erhebt sich die Frage nach ihrer Unternehmensqualität. Im folgenden soU kurz auf die Problematik des Unternehmensbegriffs im Aktienrecht eingegangen werden. Da der Unternehmensbegriff im Aktiengesetz 1965 nicht näher definiert wird, ist zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Unternehmensträger-Stiftung "Unternehmen" i. S. des Aktiengesetzes 1965 sein kann. Dabei ist zu beachten, daß 26 §§ 2303 11. BGB; Goerdeler, in: Offene Welt, Stiftungspolitik, Köln u. Opladen 1966, S. 379. 28 Vgl. die Arbeit von U. Pavel, a.a.O., S. 29 ff.

Probleme bei Untemehmensträger-Stiftungen

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unter den Begriff der Unternehmensträger-Stiftung, so wie er hier verstanden wird und wie ihn die Studienkommission definiert hat27, unterschiedliche Konstruktionen fallen. Es kann sich nämlich um eine Stiftung handeln, die selbst ein Unternehmen als Inhaber betreibt oder die persönlich haftende Gesellschafterin einer OHG oder einer KG ist oder Kommanditist einer KG ist oder die auJ ein Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluß ausüben kann. Es würde naheliegen, schon aus der Bezeichnung Unternehmensträger-Stiftung zu schließen, daß die Stiftung selbst hier Unternehmensqualität haben müsse. Das trifft aber in dieser Allgemeinheit nicht zu. Die Stiftungskommission hat es für den Begriff der Unternehmensträger-Stiftung ausdrücklich als unerheblich angesehen, ob die Stiftung selbst konzernrechtlich als Unternehmen anzusehen ist. Für die Qualifikation der Stiftung als Unternehmen gelten vielmehr grundsätzlich die überlegungen, die allgemein für die Begriffsbestimmung der §§ 15 ff. AktG anzuwenden sind28 • Eine Stiftung, bei der unmittelbar ein nach außen hin hervortretender Geschäftsbetrieb oder gar Gewerbebetrieb vorliegt, ist nach allen Auffassungen, die zum Unternehmensbegriff vertreten werden, als Unternehmen zu qualifizieren. In diesem Falle tritt die Stiftung als Einzelkaufmann im Wirtschaftsleben auf. Gleiches hat zu gelten, wenn die Stiftung als persönlich haftender Gesellschafter an einer OHG oder KG beteiligt ist; es besteht nämlich übereinstimmung, daß der Unternehmensbegriff erfüllt ist, wenn ein Handelsgewerbe betrieben wird, wenn eine Eintragung im Handelsregister vorliegt oder wenn die Kaufmannseigenschaft kraft Gesetzes gegeben ist29 • Zweifel können auftauchen, wenn sich die Stiftung als Kommanditist an einer KG beteiligt oder wenn sie Anteilseigner an einer Kapitalgesellschaft ist, die ihrerseits unternehmerisch tätig wird. Hier ergibt sich die schwierige Frage, ob ein Unternehmen bereits dann vorliegt, wenn unmittelbar oder mittelbar ein beherrschender Einfluß auf ein anderes Unternehmen ausgeübt werden kann. Ohne die Streitfrage zwischen dem funktionalen und institutionellen Unternehmensbegriff30 hier weiter zu vertiefen, möchte ich mich der Auffassung anschließen, daß der Begriff des Unternehmens durch das Vorhandensein einer organisier27

Vgl. DJT-Stiftungsrecht, S.42.

:zs Ausführliche Literaturnachweise finden sich z. B. bei Mii.Her-Rieker,

WPg 1967, S. 198. 29 Statt vieler Adler-DüTing-Schmalz, 4. Aufl., Vorbem. zu §§ 311--313 Tz. 10 und 11; ähnlich Baumbach-Hueck, 13. Aufl., § 15 Rn.3. 30 Vgl. z. B. für den funktionalen Begriff KropfJ, BB 1965, S. 1285 f., andererseits für den institutionellen Begriff Havermann, in: Beiträge zum neuen Aktienrecht, Sonderdruck WPg 1966, S. 187 ff.; vermittelnd Raisch, JZ 1966, S. 554 ff.

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ten Wirtschaftseinheit gekennzeichnet ist, die über die Wahrnehmung der Interessen eines Anteilseigners hinausgehen muß 31 • Legt man diesen Unternehmensbegriff zugrunde, wird man bei der Stiftung, die als Kommanditist an einer KG oder als Anteilseigner an einer Erwerbskapitalgesellschaft beteiligt ist, die Unternehmenseigenschaft nur dann bejahen können, wenn die Beteiligung in der Hand der Stiftung eigenen wirtschaftlichen Interessen dient. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn die Stiftung einen eigenen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb hat, dem die Beteiligung dient oder wenn sie die Unternehmenspolitik mehrerer Gesellschaften beherrscht und koordiniert, und zwar in einer nach außen als organisierte Wirtschaftseinheit hervortretenden Art und Weise. Zu den oben genannten weiteren Beteiligungsfällen ergäbe sich: beschränkt sich die Stiftung hinsichtlich ihrer Beteiligung (an einer Kapitalgesellschaft wie AG oder GmbH) auf die einem Gesellschafter zustehenden Einflußmöglichkeiten, bewegt sie sich in den Bahnen reiner Vermögensverwaltung, die das Vorliegen eines Unternehmens ausschließen. Die Wahrnehmung der Gesellschafterrechte braucht sich dabei nicht auf die Ausübung der Gewinn- und Stimmrechte beschränken, vielmehr kann der (Groß-)Aktionär im Rahmen einer Vermögensverwaltung auch andere Funktionen gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen, z. B. überwachung der Geschäftstätigkeit im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft oder Mitwirkung bei unternehmenspolitischen Maßnahmen, soweit die Gesellschafter hierzu berufen sind (Zustimmung zu Unternehmensverträgen, Mitwirkung bei der Finanzierung, z. B. bei Kapitalerhöhungen usw.). Etwas einschränkender vertritt auch Kropff32 als Vertreter des funktionellen Unternehmensbegriffs die Auffassung, daß eine Stiftung, die nicht nach ihrer Verfassung auf unternehmerisches Handeln hin angelegt ist und sich auf die Entgegennahme der Dividende beschränkt, nicht als mit Mehrheit beteiligtes Unternehmen i. S. des Aktiengesetzes angesehen werden braucht, auch wenn sie die Mehrheit der Anteile besitzt. Aber auch dann, wenn die Stiftung aufgrund ihrer Beteiligung beherrschenden Einfluß auf eine Gesellschaft nehmen würde, erfüllt sie so lange den Unternehmensbegriff nicht, als mit dieser ihrer Einflußnahme nicht eigenständige wirtschaftliche Interessen verbunden sind, also die Beteiligung dem Interesse ihres eigenen Betriebs dienstbar gemacht wird 33 • 31 So Müller-Rieker, a.a.O., S. 199 f.; etwa in gleicher Linie liegt Raisch, a.a.O., 5.155, wenn er von einem "Minimum äußerer Veranstaltung bzw. äußerer Kundmachung" spricht, sowie Adler-Düring-Schmaltz, 4. Aufl., Vorbem. zu §§ 311-313 Tz. 11.

32

33

BB 1965, S. 1285.

Vgl. Müller-Rieker, WPg 1967, S.200.

Probleme bei Unternehmensträger-Stiftungen

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Auch aus steuerlicher Sicht ist die Frage, ob eine Stiftung als Unternehmen zu qualifizieren ist, von Bedeutung. Die Steuervergünstigung für gemeinnützige Stiftungen ist davon abhängig, daß bei einer Stiftung eine wirtschaftliche Betätigung34 nicht vorliegt, so daß sich Unternehmenseigenschaft und Steuerbegünstigung regelmäßig ausschließen; allerdings kann auch eine gemeinnützige Stiftung einen - steuerpflichtigen - wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb haben und insoweit auch Unternehmen i. S. des Aktienrechts sein. In der Regel wird man sagen können, daß die steuerlich als gemeinnützig anerkannten Stiftungen keine Unternehmen sind, da diese Anerkennung das Nichtvorliegen gewerblicher Aktivität voraussetzt. Zwingend dürfte jedoch dieser steuerliche Ausgangspunkt nicht sein. Im Zusammenhang mit den unternehmensbezogenen Stiftungen ist auch auf Stiftungen zu verweisen, die die Funktion einer Unterstützungskasse, Pensionskasse oder sonstigen Hilfskasse im Rahmen eines Unternehmens oder eines Konzerns (Trägeruntemehmen) haben und die steuerbefreit sind (vgl. z. B. § 4 Abs. 1 Ziff. 7 KStG). Es ist gelegentlich anzutreffen, daß solche Stiftungen Aktien des Trägerunternehmens besitzen36 ; dann stellt sich für die Anwendung aktienrechtlicher Vorschriften, insbesondere § 20 (Mitteilungspflicht), § 71 (Besitz von Aktien des Trägerunternehmens) und §§ 151 ff. (Ausweisvorschriften für den Jahresabschluß) die Frage, ob diese Stiftungen "Unternehmen" sind. Die Frage ist zu verneinen. Diese Stiftungen sind nämlich nach der Art ihrer Zweckbestimmung nur soziale Hilfseinrichtungen, die schon aus steuerlichen Gründen sich nur vermögensverwaltend betätigen können. Würde allerdings dieser Rahmen gesprengt und etwa über die damit erlaubte Ausübung der aus den Aktien fließenden GeseIlschafterrechte ein Einfluß auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft (Trägeruntemehmen) ausgeübt, so wäre auch trotz gegebener steuerlicher Anerkennung eine solche Stiftung als "Unternehmen" anzusehen. Hierbei kann auch der satzungsmäßigen Zusammensetzung der Organe der Stiftung rechtliche Bedeutung zur Beurteilung der aufgeworfenen Frage beizumessen sein; ist etwa vorgesehen, daß die die Stiftung vertretenden Organe ausschließlich vom Trägerunternehmen bestellt werden, so kann dieser Umstand seinerseits das Gesamtbild der Stiftung dahingehend bestimmen, daß die soziale Hilfseinrichtung als "Unternehmen" anzusehen ist. Hält sich die Stiftung in der tatsächlichen Handhabung an die Grundsätze der Vermögensverwaltung 34 Die Finanzverwaltung sieht in dem Besitz einer Mehrheitsbeteiligung an einer Kapitalgesellschaft dann einen "steuerschädlichen" wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, wenn Einfluß auf die laufende Geschäftsführung der Kapitalgesellschaft ausgeübt wird (Abschn. 17 Abs. 3 KStR). ~ Wegen der Art der Vermögens anlagen dieser Kassen vgl. Berndt, a.a.O., S.56 mit weiteren Nachweisen.

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einer sozialen Hilfseinrichtung (U-Kasse usw.) und werden ihre Organe nicht einseitig vom Trägerunternehmen bestellt, so ist die Unternehmensqualifikation einer solchen Stiftung nicht gegeben. Die Unternehmereigenschaft wird auch nicht etwa dadurch begründet, daß man die Stiftung in ihrer Eigenschaft als Sozialeinrichtung als ein Rechtssubjekt ansieht, in das bestimmte Funktionen des Trägerunternehmens lediglich ausgegliedert sind. Die Unternehmensqualifikation des Trägerunternehmens stempelt nicht gleichzeitig auch die Sozialeinrichtung (Stiftung) zum Unternehmen, wenn sie sich auf die reine Vermögensverwaltung beschränkt und damit nicht die eigentlichen unternehmerischen Ziele des Trägerunternehmens verfolgt. Die hier für Sozialeinrichtungen in der Rechtsform der Stiftung vertretene Auffassung kann nicht in gleicher Weise für andere Rechtsformen gelten. Hat z. B. die Unterstützungskasse die Rechtsform der GmbH, so schlägt hier für die Annahme der Unternehmensqualifikation der Grundsatz durch, daß rechtlich selbständige Gebilde, die Kaufmann i. S. des HGB sind, als Unternehmen im aktienrechtlichen Sinne anzusprechen sind. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise mag nicht befriedigend erscheinen; man wird sie jedoch hinnehmen müssen, solange es eine eindeutige gesetzliche Charakterisierung des aktienrechtlichen Unternehmensbegriffes nicht gibt und man statt dessen gewisse grundsätzliche Anhaltspunkte 36 aufstellen muß. 6. Die Unternehmensträger-Stiftung im Steuerrecht

Es ist eine allseits anerkannte Tatsache, daß in unserer Gesellschaftsordnung Stiftungen bei Verfolgung gemeinnütziger Zwecke (im weitesten Sinne) steuerliche Vergünstigungen zu gewähren sind. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob die Stiftungsfreudigkeit und das Wachstum von Stiftungen vor allem in den Ländern vorzufinden sind, die besonders weitgehende Steuerbefreiungen kennen37 , Jedenfalls wird man feststellen können, daß eine weitgehende gesetzliche Steuervergünstigung und deren großzügige Handhabung durch die Finanzbehörden dem Entstehen von Stiftungen förderlich ist; das gilt insbesondere in bezug auf die Erbschaftsteuer. Deshalb werden in denjenigen Ländern, die eine nur geringe Steuerbegünstigung kennen, die Bestrebungen nach einer Verbesserung der steuerlichen Situation nicht abreißen. Andererseits erscheint es als eine fast zwangsläufige Folge, daß in Ländern mit weitgehender Steuerbefreiung die Gefahr von Mißbräuchen akut wird und Anlaß geben kann, Einschränkungen zu Vgl. oben Anm.29. Vgl. hierzu O. Hahn, Die Besteuerung der Stiftungen, Baden-Baden 1966, S.23. 36 37

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erwägen38 • Diesem Gesichtspunkt sollten sogenannte Stiftungsinitiativen in genügendem Maße Rechnung tragen. In der Bundesrepublik Deutschland sind die steuerlichen Aspekte bei Errichtung und Bestehen von Stiftungen verschiedentlich untersucht und dargestellt worden 39• Wie schon oben bei der Erörterung des Verhältnisses von Stiftungs- und Gesellschaftsrecht erwähnt, ergeben sich aus den Grundregeln des Steuerrechts, besonders aus den Vorschriften über die Gemeinnützigkeit, für die Errichtung und die Tätigkeit unternehmensbezogener Stiftungen wichtige überlegungen. Wer für die von ihm errichtete Stiftung die Anerkennung als gemeinnützig erreichen will, muß diese Stiftung nach der Satzung und der tatsächlichen Handhabung so einrichten, daß sie keinen Einfluß auf die laufende Geschäftsführung des Unternehmens ausübt40 • Damit scheidet das von der Stiftung selbst als Einzelkaufmann betriebene Unternehmen aus dem Kreis der steuerbefreiten Stiftungen, von Zweckverwirklichungsbetrieben abgesehen4 !, aus. In gleicher Weise sind Stiftungen zu beurteilen, die unmittelbar persönlich haftende Gesellschafter oder auch nur Kommanditist einer Personengesellschaft sind, weil mit diesen gesellschaftsrechtlichen Stellungen notwendig eine steuerschädliche Eigenschaft als Mitunternehmer verbunden ist. Aber auch die mehrheitliche oder hundertprozentige Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft führt bei Einflußnahme auf deren laufende Geschäftsführung zur Versagung der steuerlichen Gemeinnützigkeit der Stiftung. Stiftungssatzung und Unternehmenssatzung (Gesellschaftsvertrag) und die tatsächliche Handhabung müssen mindestens diese Grundregeln beachten, um für die verschiedenen Steuern die Vergünstigung der Steuerbefreiung zu erhalten 42 • Darüber hinaus führt der durch die steuerliche Gemeinnützigkeit gegebene weitgehende Zwang, die Stiftungserträge im Sinne der Stiftungszwecke zu verausgaben, einerseits dazu, zu überlegen, ob die Stiftung in bestimmtem Umfang43 steuerunschädlich auch Erträge thesaurieren darf, andererseits dazu, dem Unternehmen durch Vorschriften über die Gewinnverwendung in dessen Satzung genügend Spielraum für die Selbstfinanzierung zu belassen. 38 Vgl. Neuhoff, a.a.O., S. 102 ff. und S. 142 ff. mit Hinweisen auf die Kongreßuntersuchungen, zu letzteren siehe auch U.S. News and World Report, 1969, S. 84 f. 39 Vgl. etwa die in Anm.2 genannten Publikationen sowie die Offene Welt, Stiftungs politik, Köln und Opladen 1966, S. 377-404 (GoerdelerlSchad und Diskussion) sowie GoerdelerlUlmer, BB 1964, S. 975. 40 Abschn. 17 Abs. 3 KStR. 41 § 7 GemVO; hierzu Schad, a.a.O., S.390. 42 Die Praxis der beteiligten Verwaltungen (für die Genehmigung der Stiftung und für die steuerliche Anerkennung) ist hier schon von Anfang an koordinierend tätig; vgl. DJT-Stiftungsrecht, S.4l. 43 Vgl. Meilicke, FR 1967, S.153.

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Reinhard Goerdeler

Während der soeben behandelte Fragenkreis sowohl bei Errichtung der Stiftung als auch bei deren Tätigkeit von Bedeutung für die Anerkennung der steuerlichen Gemeinnützigkeit ist, bezieht sich die abschließende Problemstellung nur auf die Errichtung einer steuerlich zu begünstigenden Stiftung bzw. deren spätere Vermögensdotierung. Entgegen ausdrücklicher Vorschrift (§ 7 EStDV) hatte sich bei der Zuwendung von Betrieben, Teilbetrieben oder gesellschaftsrechtlichen Beteiligungen die Finanzverwaltung auf den Standpunkt gestellt, daß diese Vorgänge entweder beim Stifter zu einer steuerpflichtigen Gewinnrealisierung führen müßte oder daß eine Versteuerung sofort oder später bei Abgang aus der steuerbefreiten Stiftung bei dieser vorzunehmen sei; die Steuerbehörden wendeten dabei bestimmte allgemeine Grundsätze an, die beim übergang von Vermögen in die steuerbefreite Sphäre gelten sollen, und fanden sich insoweit durch mehrere Urteile des BFH44 bestätigt. Ob diese steuerliche Situation durch das im Entwurf vorliegende Zweite Steueränderungsgesetz 196845 eine Änderung erfahren wird, steht nicht mit Sicherheit fest. Denn die dort vorgesehene Regelung, daß Wirtschaftsgüter bei Entnahmen für Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen, die zudem noch wissenschaftlichen und Volksbildungszwecken dienen müssen, nur mit dem bisherigen Buchwert beim Stifter anzusetzen sind, führt nicht unbedingt dazu, die gleiche steuerliche Behandlung auch bei Zuwendung von Betrieben, Teilbetrieben und Beteiligungen anzunehmen. Doch wird sich der bisherigen steuerlichen Praxis und Rechtsprechung zumindest der Grund·· gedanke der zu erwartenden Neuregelung entgegensetzen lassen.

Absrhließende Bemerkung Die Unternehmensträger-Stiftungen verdienen in unserer Gesellschaftsordnung Aufmerksamkeit und gebührende Anerkennung sowohl im Rahmen der Reform des Stiftungs rechts als auch durch die steuerliche Gesetzgebung und Praxis. Die Probleme, die sich bisher stellten, dürften durch das ausgiebige Schrifttum genügend dargelegt sein. Es gilt, wenn man die Stiftungsidee, wie sie heute auch in ihrer Polarität zum Staat gesehen wird 46 , wachhalten und auch stärken will, mit Energie und Maß die notwendig erscheinenden Regelungen, aber nur diese, anzustreben. 44 Vom 16.3.1967 in DB 1967, S.929 und vom 14.4.1967 in DB 1967, S.1158; vgl. ferner Offene Welt, Stiftungspolitik, a.a.O., S. 379 f. und 389 f. mit weiteren Hinweisen. 45 Bundesratsdrucksache 23/69. 46 Vgl. Gambke, Offene Welt, Stiftungspolitik, a.a.O., S.413.

Arbeitsrecht

Die typologische Methode und das Arbeitsrecht Von Wilhelm Hersehel Wer einen Praktiker des Rechts mit einem Beitrag zu einer Festschrift ehren möchte, dürfte nicht immer gut beraten sein, wenn er ein methodologisches Thema wählt: dem Gefeierten mag das deplaciert erscheinen, ja noch schlimmere Mißverständnisse sind möglich. Bei Otto Kunze besteht diese Gefahr nicht. In den fast drei Jahrzehnten, während deren wir uns in Mittel- und Westdeutschland immer wieder beruflich und menschlich begegnet sind, habe ich ihn als einen Juristen schätzen gelernt, der sowohl um der Rechtsstaatlichkeit willen wie aus innerem Bedürfnis angelegentlich bemüht ist, mit bewußter methodologischer Strenge seine Gedanken zu entwickeln1 . Deshalb besteht die begründete Hoffnung, daß ihm ein Thema aus diesem Bereich willkommen ist, und da wir uns meist auf dem Boden des Arbeitsrechts trafen, mag auch dieses in die Betrachtung einbezogen werden. Dabei lautet die Überschrift über dem nachstehenden Aufsatz nicht "Die typologische Methode im Arbeitsrecht", sondern "Die typologische Methode und das Arbeitsrecht". Das beruht auf folgender Erwägung: obgleich das Arbeitsrecht dringend der typologischen Methode bedarf, hat diese bisher in ihm leider noch nicht so recht Fuß fassen und namentlich nicht in das Bewußtsein vieler Arbeitsrechtier eindringen können. In dieser Hinsicht ist das sonst fortschrittliche und vorbildliche Arbeitsrecht noch sehr im Rückstand. Darüber vermögen auch die unten zu 2 angeführten Beispiele nicht hinwegzutäuschen. Freilich - man darf Methodenfragen nicht überbewerten; denn die beste Methode verbürgt noch nicht eine richtige Erkenntnis, aber sie sichert und kontrolliert den zum Ziele führenden Weg, dessen sich der Wissenschaftler oft bereits "in seinem dunklen Drange" bewußt ist. Deshalb gehört es zum wissenschaftlichen Denken als Vorfrage, sich auf die anzuwendende Methode zu besinnen, und das wiederum verlangt es auch, sich mit unserem traditionellen Methodenmonismus kritisch auseinanderzusetzen. Was das typologische Denken anlangt, so ist man 1 Siehe etwa die eindrucksvolle Abhandlung von atto Kunze über "Das Verhältnis des dispositiven Gesetzesrechts zum Tarifvertrag", in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 1 (1964), S. 119 ff.

15 Festgabe Kunze

226

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sich, wie schon erwähnt, im Arbeitsrecht bisher über die Notwendigkeit seiner stärkeren Betätigung nur vereinzelt klar geworden, und wo das geschah, stand es oft im Zusammenhang mit der Frage, welche Organisationen tariffähig sind. Bei diesem Problem - schreibt Alfred Hueck 2 - handle es sich nicht um Begriffsmerkmale, die vom Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit ein für allemal genau fixiert seien, so daß, um Rechtsunsicherheit zu vermeiden, u. U. eine strenge Auslegung und eine formale Anwendung der aufgestellten Grundsätze geboten wäre; sondern es müsse stets vom Wesen und Zweck der Koalition und des Tarifvertrages ausgegangen und geprüft werden, ob die beanstandete Eigenschaft eines Verbandes ihn für die Erfüllung dieser Zwecke ungeeignet erscheinen lasse. Auch sei die historische Entwicklung zu berücksichtigen, was bei einem repräsentativen Verbande, der seit vielen Jahrzehnten mit Erfolg Tarüverträge abgeschlossen habe, ohne daß sich Unzuträglichkeiten ergeben hätten oder seine Tariffähigkeit beanstandet worden wäre, sehr wesentlich ins Gewicht fallen müsse. Koalitionen und Tarifverträge hätten sich unabhängig vom Gesetz aus den Bedürfnissen der Praxis entwickelt. Der Gesetzgeber habe erst sehr spät eingegriffen. Es sei Aufgabe des Rechts und insbesondere, soweit hier gesetzliche Vorschriften fehlten, der Rechtsprechung, diese Entwicklung entsprechend den praktischen Bedürfnissen zu fördern und notfalls in die richtigen Bahnen zu lenken, nicht aber sie aus formalistischen Erwägungen zu hemmen und gesunde, sozialberechtigte und auf eine lange historische Entwicklung zurückblickende Organisationen zu vernichten oder doch vom Arbeitsleben auszuschließen. Alfred Hueck nimmt so dann auf ältere Ausführungen Nipperdeys 3 Bezug. Nipperdey sagt durchaus zutreffend, daß die aufgestellten Merkmale zwar grundsätzlich von allen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu erfüllen seien, daß dies aber nicht bedeute, sie seien in alle Ewigkeit in diesem Sinne kanonisiert. Sie entsprächen im allgeme.inen der gegenwärtigen historisch entstandenen Situation. Man dürfe aber nicht an gewissen, zumeist soziologisch bedingten Funktionswandlungen im kollektiven Arbeitsrecht vorübergehen. Neuerdings hat Nipperdey diese Erwägungen in ein schärferes methodologisches Licht gerückt und dabei die Ungeeignetheit des klassifikatorischen Denkens mit den Worten hervorgehoben: "Wer hier die Dinge abstrakt, rationalistisch, begriffsjuristisch oder gar weltanschaulich-politisch, wunschdenkend, Zweckmäßigkeitserwägungen anstellend betrachtet, kommt zu unrichtigen Ergebnissen. Bestimmte Phänomene, ~ 3

Alfred Hueck. RdA 1956, S. 45 f. Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd.2, 6. Aufl., S. 79 fl'.

Die typologische Methode und das Arbeitsrecht

227

vornehmlich des historisch-sozialen Bereiches, können mittels einer solchen Betrachtungsweise trotz aller logischen Präzision nur verkannt werden. Denn dieser Rationalismus ist geschichtsblind, er abstrahiert von der historischen Herkunft des Phänomens, er betrachtet es als ein jäh vom Himmel gefallenes. Ein Phänomen, wie das der Koalition, ist nicht verstanden, wenn es positivistisch mit den möglichen Auslegungs- und Rechtsanwendungsmethoden zur Klärung der Frage: was ist das? angegangen wird. Entscheidend ist vielmehr die Frage nach der Intention der Sache. Nur wer das Telos sieht, versteht das Phänomen, beides, historische Herkunft und intentierte Zukunft, also eine Gesamtschau, konstituieren das Wesen des jeweiligen geschichtlichen Phänomens. Die durch die phänomenologische Methode (E. Husserl') ins Bewußtsein gerückte ,Intentionalität' als Wissen davon, worauf ,die Dinge aus sind', gehört zum Phänomen selber und ist nicht etwa eine nachträglich hinzugefügte Interpretation. Daher kommt es auf das von der rationalistisch-abstrakten Methode als unerheblich vernachlässigte Selbstverständnis, hier der Koalition, entscheidend an. Wer das erkannt hat, kann als Koalitionen nur die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände ansehen, und zwar so, wie sie nach ihrer natürlichen Herkunft, nach dem Gesetz, ,nach dem sie angetreten', und nach ihrer Intentionalität bestehen und wie sie sich selbst verstehen6 ." Soweit sich Nipperdey gegen die begriffsjuristische Methode wendet, ist ihm zuzustimmen; aber auch zu dem positiven Teil seiner Aussage verdient er Beifall. Nur sollte man hierbei nicht stehenbleiben.

Nipperdey beruft sich auf die Phänomenologie. Diese aber hat Beziehungen zur Typologie. So ist der Phänomenalist Erich J aensch einer der Begründer der charakterologischen Typenlehre 6 • Es sei nur an seine grundlegende Abhandlung über "Methoden der psychologischen Typenforschung"7 erinnert. Eine weitere Brücke besteht insofern, als sich Nipperdey mit besonderem Nachdruck für die Verwertung der sozialen Adäquanz im Zivilrecht eingesetzt hat. Das sozialadäquate Maß ist indessen nichts anderes als die Anforderungen, "die an einen normalen, ordentlichen und verständigen Menschen in der zu beurteilenden konkreten Situation im Rahmen des sozialen Zusammenlebens ge4 Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung Edmund Husserls vgl. Peter Bamm, Werke in zwei Bänden, Zürich 1967, S.902. 6 Nipperdey, RdA 1964, S.361 zu 1.; Hueck-Nipperdey wie N 3, 7. Aufl., S.82. Vg!. hierzu Herschel, Verhandlungen des 46. Deutschen Jur.istentages, Essen 1966, Bd. II D, S.7; a. M. Richardi, Kollektivgewalt und Individual-

wille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, München 1968, S. 5 f. zu 3. e Gerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 283. 7 Erich Jaensch, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Abt. I, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 108, S. 11ft. lS'

228

Wilhelm Herschel

stellt werden können"s. Das bedeutet aber mit anderen Worten, daß das Verhalten des Rechtssubjekts an einem bestehenden Menschentyp gemessen werden muß. Hiermit stehen wir schon mitten in der Typologie. Denn es gehört zum Wesen des Typus, daß er "ein Vergleichsmaß gegenüber der Wirklichkeit" darstellt9 • Wie nebenbei bemerkt sei, ist etwas völlig anderes gemeint, als man im Auge hat, wenn man von Typisieren, insbesondere beim Steuerrecht, spricht. Solchen Falles handelt es sich um den Gegensatz zur Individualität10 und es geht darum, von besonderen Umständen des Tatbestandes abzusehen und so um der Vereinfachung oder um der Praktikabilität willen Ungleiches gleich zu behandeln. Ob das zutiefst mit dem konkreten Ordnungsdenken im Sinne der Lehre von earl Schmitt zusammenhängt11, sei dahingestellt. Heute fragt es sich, inwieweit die Staatsorgane in derartiger Weise typisieren dürfen, "ohne dadurch in Konflikt mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichberechtigung ... zu geraten"12. Mit dem BVerfG13 muß man das, wie nicht weiter dargelegt werden kann, für zulässig halten, solange die Willkürgrenze14 nicht überschritten wird. Übrigens geht man gerade auch im Steuerrecht heute mit dem Problem behutsam um: dort ist "die typisierende Betrachtungsweise in die Nähe des sog. prima-facieBeweises gekommen"15. Wie gesagt, stellt das Steuerrecht nur einen, wenn auch einen qualitativ und quantitativ gewichtigen Anwendungsfall dar. So ist im Privatrecht die abstrakte Schadensberechnung, soweit es sich bei ihr um "die Zubilligung des typischen Aufwandes"16 handelt, nichts anderes als solche Typisierung. Dieser Problemkreis bleibt im folgenden beiseite. S Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufi., S. 1295. 9 Strunz, Studium Generale, 1951, 5.412. VgI. N 22. Zur Typenlehre im allgemeinen vgI. Erich Heyde, Forschungen und Fortschritte, 1941, S. 220 ff.; Egbert Gerken, Archiv für Rechts- und SOzialphilosophie, Bd. 50, S. 367 ff. 10 Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München 1964,

S. 351 ff.

11 So Maunz, Zeitschrift der Akademie für Deutsches Rech!t, 1937, 5.680 ff., insbesondere 5.683. Differenzierend Dannbeck, Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1938, S. 808 ff. 12 BAG, AP Nr.72 zu Art.3 GG, BI. 118 v. - Siehe auch Mayer-Maly, RdA 1968, S. 432 ff. 13 BVerfG Bd.17, 5.1 [23] mit Hinweisen. Zustimmend SeuffeTt, BB 1968, 5.1258 zu 2. Ablehnend Tipke, NJW 1968, 5.2084 bei N.37. 14 BVerfG Bd. I, S. 14 (Leitsatz 18). Auch das BAG bejaht in diesem Rahmen die Möglichkeit des Gesetzgebers, eine typisierende Regelung zu schaffen (BAG, AP Nr. 16 zu § 76 BetrVG, BI. 522 v zu II 1 a). 15 Tipke-Kruse, RAO, 2. und 3. Aufi., Bem.49 zu § 1 StAnpG. 16 von Caemmerer, Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Bd. 127, 5.251.

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1. Der Typus

Omnis definitio in iure civili periculosa est (Javolenus, D. 50, 17, 202). Die Bedeutung des typologischen Denkens für die Rechtswissenschaft im allgemeinen hat Radbruch17 mit folgenden Worten gekennzeichnet: "Gerade diese Inadäquanz der juristischen Begriffe zur Wirklichkeit, diese Ignorierung aller Zwischentöne, jedes holden Ungefährs, die schroffe Ablehnung jedes ,sowohl - als auch' oder ,mehr oder minder' sind es ja, welche vielen ... das Recht ... so abstoßend machen ... Das heute noch herrschende Rechtsdenken steht ... grundsätzlich auf der Seite der klassifizierenden Methode." Dieser klassifizierenden und definitorischen Methode ist die typologische gegenüberzustellen: "Die Bildung eines rechtlichen Typus vollzieht sich ähnlich wie die eines Begriffes. Während der Begriff aber durch eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften, die stets vorhanden sein müssen, definiert und deshalb bestimmt und festbegrenzt ist, kennt der Typus keine geschlossene Anzahl der ihn konstituierenden Merkmale, sondern lediglich eine Vielzahl von typischen Merkmalen, die im Einzelfall in sehr verschiedener Intensität vorliegen können, aber nicht unbedingt vorliegen müssen. Beim Typus wird daher nicht ,definiert', sondern ,beschrieben'. Man ,subsumiert' nicht unter ihn, sondern man ,ordnet' ihm bestimmte Erscheinungen ZU18." Ähnlich äußert sich Raisch19 : "Bei dem Gebilde des Typusbegriffs liegt der ,Ton' in einem ,mehr oder weniger ausgeprägt'; es wird nach bestimmten ,Ordnungsprinzipien' eine ,Reihenordnung' aufgestellt: sie ermöglicht es, ,die Objekte, denen die betreffende Eigenschaft in irgendeiner Ausprägung zugeschrieben werden kann, reihenartig anzuordnen, indem man von zwei Objekten etwa dasjenige, das die Eigenschaft in geringerem Grade besitzt, vorangehen läßt, und solche Objekte, die die Eigenschaft im gleichen Grade besitzen, an die gleiche Stelle setzt' (vgl. Hempel-Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, 1936, S. 22, und v. Kempski, Studium Generale 1952, 205 ff. [211]). Der Gegensatz zum Typusbegriff ist der klassifikatorische Begriff, dem ein Sachverhalt nur dann zugeordnet werden kann, wenn er alle Elemente des klassifikatorischen Begriffes aufweist." Insofern besteht eine gewisse Verwandtschaft mit der finalen Handlungslehre: auch bei ihr kann die Zuordnung eine gewisse Rolle spie17

Radbruch, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, Bd.12,

S.49. 18 19

von Hülsen, JZ 1967, S. 630 f. zu 4. Raisch, JZ 1966, S.504 N.27.

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Wilhelm Hersehel

len20. Das braucht indessen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden. Während nun bei der abstrakten Definition der Schwerpunkt auf dem Begrifflichen und dem Rubrizierenden liegt, tritt beim Typus der messende Charakter hervor21. Der Typus ist eben ein ordnender Relationsbegriff22. Schon Goethe bezeichnete den Typus als einen Vergleichskanon. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß der Typus etwas völlig anderes ist als der Topos. Die Topik ist eine Technik des Problemdenkens, eine "Kunst des Auffindens und Verwertens von Gesichtspunkten und Argumenten bei der Behandlung nicht streng deduktiv zu lösender Probleme"28. Hingegen ist der Typus ein Pendant zum abstrakten Begriff. Deshalb hat der Typus auch nichts mit dem unbestimmten Rechtsbegriff gemein2", weil dieser ja nur ein Sonderfall innerhalb der Kategorie abstrakter Begriffe ist. Erst recht unterscheidet sich das typologische Denken von dem strukturalistischen Denken im Sinne von Levi-StTauss.

"Es ist kein Geheimnis, daß das Erscheinen des neueren Typusbegriffes im Bereiche von Wissenschaft und Bildung vielfach geradezu als eine Befreiung von den spanischen Stiefeln der scholastisch befangenen Klassenbegriffs-Logik empfunden worden ist. Neben den ... zweifellos beachtenswerten positiven Kennzeichen (Gegenständlichkeit, Erfahrbarkeit bzw. Anschaulichkeit u. dgl.) ist es in hervorragendem Maße bekanntlich die dem Typus zugesprochene GTadabstufbaTkeit der Merkmale, ... welche im Zusammenhang mit den ,fließenden Grenzen' zwischen den Individuen und zwischen den Gattungen ganz besonders gefeiert wird im Hinblick auf die lähmend erscheinende Starrheit, Dürftigkeit und Blässe des engeren Klassenbegrüfs. In der Tat, vergleicht man einmal - um es an einem schlagenden Beispiel zu erläutern - den ,Typus Kaufmann' mit dem ,Begriff Kaufmann', dann wird die Unterschiedlichkeit außerordentlich klar. Auf der einen Seite die lebensvolle Ganzheit der für den Kaufmann typischen Eigenschaften wie Genauigkeit, Berechnung, Entschlußfähigkeit, Zähigkeit, Weitsicht usw., auf der anderen Seite die nüchtern knappe Begriffsbestimmung des Kaufmanns als ,derjenigen ... Person, die ein Handelsge20 Watennann, Die Ordnungsfunktionen von Kausalität und Finalität im Recht, BerUn 1968, S. 149 f. 21 Eugen Seiterich, Die logische Struktur des Typusbegri1'fs bei William Stern, Eduard Spranger und Max Weber, Diss. Freiburg 1930, S.62. 22 Hempel-Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, Leiden 1936, S. 111 ff. Vgl. N.9. 23 Engisch, Einführung in das Juristische Denken, 3. Aufl., S. 246 N. 263. 24 Raisch, Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsreeht, Bd. 128, S. 163.

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werbe betreibt' (HGB); ferner dort die je nach Individualität des einzelnen Kaufmanns relative Abstufung der Eigenschaften nach Zahl und Grad im Sinne des Leitsatzes ,fester Kern, keine festen Grenzen!' (KretschmerF· " Mit der typologischen Methode arbeitet man vornehmlich dort, wo die klassifikatorische Methode versagt. Wem die Typologie nicht exakt genug erscheint, möge bedenken, daß man lernen muß, "von keiner Wissenschaft eine größere Strenge zu verlangen, als ihr Gegenstand es zuläßt"26. Schon Aristoteles27 hat gelehrt, daß wir uns "mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoff entspricht" und daß wir uns bescheiden müssen, nur "so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt". Jede Erkenntnismethode muß ja überhaupt dem zu erkennenden Gegenstand entsprechen28 . Wir stoßen damit an die natürliche Grenze des Erkenntnisvermögens, die der Mensch im Bewußtsein seiner Vernunft nur allzu leicht zu ignorieren versucht ist. Unser Problem hat eine gewisse, wenn auch entfernte Ähnlichkeit mit der von Werner Heisenberg erarbeiteten Unschärferelation. Man sollte sich allgemein des weisen Ausspruches von La Rochefaucauld erinnern: "Le plus grand defaut de la penetration n'est pas de n'aller point jusqu'au but, c'est de le passer9 ." Jedenfalls vermag die typologische Methode in vielen Fällen mehr zu leisten als jede andere. Das Aufstellen einer abstrakten Definition des Säugetiers z. B. ist nicht förderlich, weil diese zu weit und deshalb inhaltsleer geraten muß. Wie gering ist ihr Aussagewert, wenn sie auch den unterirdisch grabenden Maulwurf, die Fledermaus sowie die Robbe umfaßt und umfassen muß! Der Übergang von der klassifikatorischen zur typologischen Methode ist kein Rückfall in unwissenschaftliches Denken, sondern die notwendige Rückkehr einer unbefangenen Betrachtungsweise auf höherer geläuterter Ebene - notwendig insbesondere dort, wo das Bedeutsame in dem gattungsmäßig Erfaßbaren überhaupt nicht enthalten ist. Es ist nicht schwer, zahlreiche Beispiele für Typen anzuführen. So gibt es die physiognomischen Typen, etwa das besonders ausgeprägte fränkische Gesicht29a • Beispiele sind aber auch - um nur einige wenige 25 26

Erich Heyde, Studium Generale 1952, S.244 zu 6. Seiterich wie N.21, S.31. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 2. Vgl. Grimm, JZ 1965, S.438

27 bei N.37. 28 Ernst Wolf in Festschrift für Erich Molitor, S. 1 f. 29 La Rochefoucauld, Reftexions ou sentences et maximes morales Nr.377, Ausgabe von Louis Martin-Chouffier, 1950, S.300. 29a Hellpach in Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Abt. B, 2. Abhandlung, S.3.

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Wilhelm Herschel

wahllos herauszugreifen - das Virus, der Renaissance-Mensch, der Jäger, der Gelehrte, der mittelalterliche Dom, das niedersächsische Bauernhaus, das Wilhelminische Zeitalter. Andere Beispiele sind uns schon begegnet und werden uns noch begegnen. Obgleich Typen sehr häufig vorkommen und oft genug als wissenschaftliche Werkzeuge unseres Denkens verwendet werden, ist die Wissenschaft vom Typus leider noch wenig entwickelt. "Wer sich nach Schriften der Typologik umsieht, wird über die geringe Ausbeute seines Suchens um so mehr überrascht sein, als die Verwendung des Fachausdrucks ,Typus' fast ungeheuerlich zugenommen hat. Zwar ist der Begriff Typus nach seiner nachdrücklichen übernahme in den fachwissenschaftlichen Sprachgebrauch (im Anfang des 19. Jahrhunderts) bald darauf auch Gegenstand logischer Prüfung geworden und geblieben. Aber ihr Ertrag ist trotz beachtlicher Ansätze - ganz abgesehen von dem geringen Umfang - noch wenig befriedigend30 ." Das hat sich bis heute nur wenig geändert. Nichtsdestotrotz kann man der typologischen Methode nicht entraten, wobei wir von einem Idealtypus im Sinne der Lehre Max Webers absehen31• Die Unverzichtbarkeit der Typenforschung hat der Psychiater Kretschmer für sein eigenes Fachgebiet so dargetan: "Denn Zahlenwerte sind immer nur Skelette, exacte Sicherung. Der Arzt wie der Menschenkenner aber werden immer das klar erfassende anschauliche Typenbild in den Vordergrund stellen, das, was der geschulte Praktiker mit einem Blick umgreift: Körperbau, Psychomotorik, seelischen Ausdruck in eine plastische Ganzheit zusammengefaßt - eben das ist es, was ins volle Menschenleben hineinführt 32." Das gilt grundsätzlich für alle Zweige der Wissenschaft. Ansatzpunkt ist die Erkenntnis, daß der Typus Ausdruck einer Gemeinsamkeit ist 33 . Er ist ein "Komplex von Merkmalen"34. Jedoch wird er nicht aus einzelnen Merkmalen gebildet; er ist vielmehr eine Integration von Einzelheiten, ein Merkmal-Ganzes35 . Jeder Typus in dem hier allein interessierenden Sinne wird durch einen Denkprozeß der Wirklichkeit entnommen36 • Er wird nicht konstruiert, sondern von den erkennenden Menschen vorgefunden und festgestellt 37 • 30 Erich Heyde wie N.25, S.236 zu 2; Hempe!-Oppenheim wie N.22, S.7. 31 Bernhard Pfister, Die Entwicklung zum Idealtypus, Tübingen 1928. 32 Kretschmer, Studium Generale, 1951, S.401. 33 William Stern, Die differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, 3. Aufl., S. 169. 34 Strunz wie N. 9, S. 402. 35 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin 1960, S. 340. 36 Mezger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufi., § 20 Irr. 37 Erich Heyde wie N. 25, S.239.

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Die Art seiner Gewinnung ist nicht die begriffliche, sondern die anschauliche Abstraktion. Im Anschluß an Heinrich Maier schreibt Kretschmer: "Es gibt zwei Arten von Abstraktionen: begriffliche und anschauliche. Der erste Schritt zur Ermittlung des Wesens ist die summarische Intuition des Ganzen. Der Typus ist ein komparativ-anschauliches Allgemeinbild; sein Wesen ist kein Allgemeinbegriff, sondern das Bild. Zwar ist die Typik eine Gegenstandsform des abstrakten Denkens, aber ihr Wesen ist nur dem anschaulichen Vorstellen zugänglich. Der Typus steht in der Mitte zwischen Individuum und Begriff3S." Und ebenfalls in Anlehnung an Heinrich Maier sagt Engisch, die begriffliche Abstraktion bemühe sich, die Welt in eine Vielheit diskreter Begrifflichkeiten aufzulösen, während die anschauliche Abstraktion die ganze anschauliche Fülle des Wirklichen in eine Totalität von Bildern, die eben nur dem anschaulichen Vorstellen erreichbar seien, auszuschöpfen suche39• "Der klassifikatorische Begriff umfaßt, wenn er richtig gebildet ist, alle von ihm gemeinten Einzelfälle. Sie sind in ihm enthalten. Anders der Typus: er repräsentiert eine Gruppe in der Weise, daß er diejenige in der Mitte stehende Form hervorhebt, welche mit allen anderen die meiste Ähnlichkeit hat, so daß diese als nach verschiedenen Seiten divergierende Variationen eines mittleren Typus betrachtet werden können4o ." Daher sind die Grenzen des Typus flüssig; der Typus ist eben offen, er ist kein Klischee. "Das soll besagen, daß die ihn bildenden Merkmale nicht eine geschlossene Zahl bilden in dem Sinne, daß er nur dann vorliegen könne, wenn alle diese Merkmale im Einzelfalle gegeben sind. Der Typus ist, anders ausgedrückt, nicht im strengen Sinne ,definiert'. Von den Zügen, die insgesamt als ,typisch', d. h. als für diesen Typus charakteristisch angesehen werden, kann im Einzelfall der eine oder der andere fehlen oder in seiner Bedeutung eingeschränkt sein, ohne daß damit die Zugehörigkeit dieses Individuums zum Typus bereits in Frage gestellt zu sein braucht ... Nicht das Vorhandensein oder Fehlen eines einzelnen Zuges entscheidet, sondern ,das Gesamtbild'. Das ist wiederum die Stärke - und zugleich die Schwäche der Typologie41." Die letzte Bemerkung leitet bereits zu der besonderen Art der Verwendung des Typus in der wissenschaftlichen Arbeit über. Auch dabei zeigen sich wesentliche Unterschiede zum Begriff. Wie wir bereits sahen, ist der Typus Ausdruck einer Gemeinsamkeit. Ist dieser Ausdruck gewonnen, so läßt sich von hier aus das Einzelne 38 390

Kretschmer wie N.32, S.406. Engisch in Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissen-

schaften, philosophisch-historische Klasse, Heidelberg 1953, S.260. 40 Sigwart, Logik, Bd. 2, 4. Au1I., S. 764. 41 Larenz wie N. 35, S. 343.

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geistig erfassen; denn: "in gewissem Sinne ist jeder Typus Zwischenglied auf dem Wege vom Allgemeinsten zum Einmaligen42 ." Wenn nun der Typus nicht durch begriffliche Abstraktion, sondern durch Anschauung erarbeitet wird, so schließt das bereits aus, daß man ihm das Konkrete subsumieren und dadurch Erkenntnisse gewinnen kann. Auch seine Offenheit und die mit ihr verbun.dene Flüssigkeit seiner Grenzen sowie der Umstand, daß dieses oder jenes Merkmal fehlen kann, steht dem entgegen. Nichtsdestoweniger bietet sich uns im Typus ein Erkenntnismittel hohen Ranges dar. Der "Begriff wird definiert, d. h. durch die (erschöpfende) Angabe seiner (stets unabdingbaren) Merkmale festbegrenzt. Ein (offener) Typus ~ann dagegen nur durch Aufzeigen seiner Einzelzüge gerade in ihrem sinnvollen Zusammenhang beschrieben werden. Unter den definierten Begriff werden Einzelerscheinungen dadurch, daß die sämtlichen Merkmale des Begriffs an ihnen nachgewiesen werden, subsumiert. Sie ,unterfallen' dann dem Begriff. Dem Typus wird die Einzelerscheinung nicht ,subsumiert', sonder ,zugeordnet', und zwar dadurch, daß sie als ihm (mehr oder weniger) ,entsprechend' erkannt wird. Was dem Begriff unterfällt, erscheint im Hinblick auf ihn als ,gleich', was dem Typus entspricht, braucht ihm nur ,ähnlich' zu sein"43. Das ist aber noch nicht alles. Dem Typus ist es nämlich vorbehalten, etwas zu leisten, was wir dem Begriff nicht abverlangen dürfen. "Wir verstehen jetzt ... , wie der menschliche Geist auf Grund bloßer Kenntnis von je besonderem Typ, d. h. von. ganzheitlichem Allgemeinem, ohne also schon seine Vielgliedrigkeit im einzelnen erkannt zu haben, in der Lage ist, Typus-Ganzheit da und dort wiederzufinden, wie das jeder kunstgeschichtlich ungeschulte Reisende versichert, der historisch bedeutsame Städte besichtigt, und jeder Menschenkenner bestätigt, der auch ohne irgendwelches psychologisches Wissen z. B. den schizophrenen Typ aus einer Menschengruppe herausfindet. Ja, es wird auch begreifbar, wie es möglich ist, bis dahin noch nicht festgestellte Typen, wie z. B. ,das fränkische Gesicht', oder bislang noch gar nicht feststellbare Typen, wie den sozialpsychologisch so beachtenswerten Typ des ,Vertriebenen' oder des ,Heimkehrers', überhaupt erst als solchen zu entdecken, ohne daß doch derartige Typen-Ganzheiten etwa in ihren einzelnen, für sie typischen Eigentümlichkeiten zuvor erkannt worden wären". 11

Vergegenwärtigt man sich, was im Vorstehenden über Wesen, Erarbeitung und Verwertung des Typus gesagt worden ist, so liegt es 42 Pfahler, System der Typenlehren (= Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsband 15), 4. Aufl., S. 36. 43 Larenz wie N. 35, S. 343. 44 Erich Heyde wie N.25, S.238.

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nahe, zu vermuten, daß die Typologie auch als Erkenntnismittel der Rechtswissenschaft eine wichtige Rolle spielt. Das ist in der Tat so, wie wir unten an Beispielen sehen werden. Gerade für das Recht, das mlt der Ordnung des dynamischen Lebens in seiner Fülle feiner und feinster übergänge zu tun hat, ist die typologische Methode unentbehrlich. Nur sie ermöglicht es, die erforderliche Lebensnähe der Entscheidung in einem wissenschaftlich-methodologisch abgesicherten Verfahren zu gewinnen. Denn der Typus "ist eine Denkform, die eine wirklichkeitsgetreuere Erfassung der juristischen Lebenserscheinungen ermöglicht, als sie mit Hilfe abstrakter Rechtsbegriffe erreicht werden kann. Der Typus ist die Einbruchstelle für das tatsächliche Rechtsleben, an der die soziologische Betrachtungsweise auf die juristische Dogmatik nicht nur befruchtend einwirkt, sondern wo sie sich mit ihr zu lebensnahen Rechtsvorstellungen verbinden kann"45. "Immer wieder wärmt die ,Typenjurisprudenz' - besonders in Zeiten sozialen Umbruchs, aber nicht nur dann - die starre Kälte des Rechts auf; und immer wieder erstarren die Typen zu Klassen46 ." Diese Worte Hans J. Wolffs sind eine wertvolle Bestätigung typologischen Arbeitens in der Rechtswissenschaft, aber ebenso eine beachtenswerte Mahnung und eine eindringliche Warnung vor Rückfällen in das klassifikatorische Denken da, wo dieses unangebracht ist. Gerade die dem Juristen gestellte Aufgabe der Rechtssicherheit führt ihn nur allzu oft in die Versuchung, sich an den Strohhalm begrifflicher Abstraktion auch dort zu klammern, wo allein das Arbeiten mit anschaulicher Abstraktion das adäquate Mittel zur Meisterung der Probleme wäre. Dieser Gefahr muß man resolut in das Auge sehen, um ihr gegenüber bestehen zu können, ohne nach der einen oder anderen Seite hin methodologisch zu übertreiben. Vielleicht wäre ein bewußteres typologisches Denken auch dazu angetan, die grassierende falsche und gefährliche, oft sophistische Verwendung des Operierens mit der angeblichen Struktur von Dingen und Begriffen auf das Maß des Vertretbaren zurückzuführen. Wenn der Jurist von Typologie hört, denkt er vielleicht zuerst an die Tätertypen des Strafrechts, z. B. an den des Mörders. Besonders lehrreich ist der Tätertyp des Zuhälters: dem Zuhältertum kann man, wenn überhaupt, weder polizeilich noch strafrechtlich ohne das Arbeiten mit dem Tätertyp beikommen, insbesondere wenn man einer sachlich nicht gerechtfertigten Ausdehnung des Zuhältereideliktes entgehen wil147. Nicht weniger sind wir bei der Beleidigung auf die Typologie 45 Diederichsen, MDR 1964, S. 890 f. Vgl. auch Karl-Heinz Strache, Das Denken in Standards (= Schriften zur Rechtstheorie, Heft 12), Berlin 196B, passim; Rode, JR 1968, S. 401 ff. 46 Hans J. WollJ, Studium Generale, 1952, S. 202. 47 RGSt Bd. 73, S. 183.

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angewiesen. Hier ist es notwendig, "daß die Auslegung und Anwendung des Begriffs ganz wesentlich im Hinblick auf den Lebenstypus der Beleidigung geschieht, daß also von Rechts wegen das als Beleidigung gilt, was nach der maßgeblichen Lebensanschauung eine ,typische' Beleidigung ist, weshalb z. B. Takt- und Rücksichtslosigkeit sowie abfällige Äußerungen über Dritte in engstem Familienkreise nicht als ,Beleidigungen' anzusehen sind"48. Von hier ist nur ein Schritt zu der Erkenntnis, daß, wie bereits gesagt, auch die Lehre von der sozialen Adäquanz typologischer Art ist. Der Kaufmannstyp wurde ebenfalls schon erwähnt. Man spricht auch von den Typen Handelsvertreter, Handelsmakler, Kommissionär, Spediteur und Frachtführer49 • Auch die Konzentration im Sinne des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen (vgl. etwa § 23 GWB) stellt einen Typus dar. Man redet ferner von Staatstypen50• Die heute staats- und verwaltungsrechtlich so bedeutsame Subvention kann nur in typologischer Betrachtungsweise erfaßt werden51• Ebenfalls kann man im Bürgerlichen Recht der typologischen Methode nicht entraten. Dafür einige Beispiele! Das BAG stellt zutreffend bei der Frage, ob ein Rechtsverhältnis ein Dauerschuldverhältnis sei, auf den Typus "Dauerschuldverhältnis" ab 52. Desgleichen muß man den schuldrechtlichen Austauschvertrag als Typus ansehen und daraus Folgerungen ziehen58 . übrigens rechnet BaTtholomeyczik54 mit gutem Grund Typizität zu den Merkmalen eines jeden Rechtsinstituts. Dasselbe gilt vom Gemeinschaftsverhältnis55 • Die Lehre vom Drittschaden kann nur "mit dem Aufbau einer sorgfältigen Typologie"56 gefördert werden. Bei der Einordnung eines Vertrages unter die benannten Vertragsarten entscheidet die Zugehörigkeit zu einem Typus57 • Die Geschäfte des täglichen Lebens im Sinne des § 196 BGB bilden einen weiteren TypUS58 • Trotz der Bedenken, die J. St. Mill in seinem "System der deduktiven und induktiven Logik" im Jahre 1843 gegen den Typusbegriff vorgeEngisch wie N.39, S.277. Brüggemann, Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Bd.131, S. 2 f. - Zu Typen im Gesellschaftsrecht vgl. Fabricius, in: 48

49

Gedäcbtnissch.rift für Rudolf Schmidt, S. 183 f. 60 Herbert Krüger, in: Festschrift für Hermann Jahrreiss, S. 233 fi. 51 Ipsen nach einem Bericht von Hermann Weber, NJW 1966, S.2348 zu II. 62 BAG, AP Nr.4 zu § 196 BGB unter 5 mit Hinweis auf Wilhelm Maus. 53 Canaris, Die Feststellung von Lücken .im Gesetz (= Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3), BerUn 1964, S. 123 bei N. 224. 54 Bartholomeyczik, in: Festschrift für Hans earl Nipperdey, Bd. 1 (1965), S. 171 unten. 55 Canaris wie N.53, S.152 N.37. 116 Kollhosser, AcP Bd. 166, S. 304 zu 2. 61 Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd.2, S. 508 N.43. 58 BAG wie N.52 BI. 214 v.

Die typologische Methode und das Arbeitsrecht

237

legt hatte, fand der Typus bald in allen modernen Wissenschaften in den Naturwissenschaften wie in den Geisteswissenschaften - eine Heimat, namentlich in den Wissenschaften, die individualisierend arbeiten müssen. "Es gehört zu den bedeutsamsten Erscheinungen in der neueren Entwicklung der Wissenschaften, daß in den verschiedenen Gebieten, Zoologie, Botanik, Kristallographie, Chemie, Sprachwissenschaft, der nämliche Begriff beinahe gleichzeitig auftaucht", womit der Typus gemeint ist59• Ohne die typologische Methode kommt keine Wissenschaft mehr aus. Auch da, wo es sich um die Erfassung der körperlichen Welt der Dinge handelt, ist, wie wir bereits gesehen haben, Typologie notwendig. So schreibt der Mainzer Botaniker Wilhelm Troll60 : "Eine Typologie der Infloreszenzen also hat an die Stelle der bloßer Deskription verhafteten Gliederungsversuche zu treten."

2. Typen im Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht liefert uns eine überreiche Musterkollektion von Typen. Schon die Rechtsfigur des Arbeitnehmers - übrigens auch ihrer heute so wichtigen einzelnen Berufsbilder - kann man ohne die typologische Methode nicht in den Griff bekommen61 • Das zeigt sich z. B. deutlich in der Abhandlung von Nikisch 62 zur rechtlichen Stellung der Rote-Kreuz-Schwestern. Ausdrücklich stellt Wiedemann 63 den Typus des Arbeitnehmers dem nicht brauchbaren Arbeitnehmerbegriff gegenüber. Innerhalb des Arbeitnehmertypus kann die - freilich immer mehr problematisch werdende - Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten nur typologisch durchgeführt werden; aber auch die Grenzziehung zu den arbeitnehmerähnlichen Personen hin kann nur so vor sich gehen6 ", wie sich mittelbar aus einer neueren Abhandlung von Maus 65 ergibt. Sogar der für das Arbeitsrecht zwar nicht wesentliche, aber meist bedeutsame Lohn kann nur als der Typus des spezifisch funktionalen Einkommens des Arbeitnehmers gedacht werden66 • Zu nennen wären ferner das böswillige Unterlassen einer ander61:1 Wundt, Logik, Bd. 2, 3. Aufl., S. 55. Auch die Gelehrten des Ostens kommen ohne den Typus nicht aus; siehe etwa Tscheboßsarow, Sowjetwissenschaft 1968, S. 1191 fI. M Wilhelm TroU, Die Infloreszenzen, Jena 1964, S.2. 61 LAG Bremen, AP Nr.2 zu § 65 PersVG Bremen. 62 NikisCh, in: Festschrift für Alfred Hueck, S. 4 fI. 63 Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, Karlsruhe 1966, S. 16 oben. 64. Rother, RdA 1966, S.303 zu 11 a; Spielbilchler, Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht 1969, S. 1 fI. 65 Maus, RdA 1968, S. 369 !'f. 66 Herschel, Sozialer Fortschritt 1965, S.127 Linksspalte oben; ders., AP Nr.4 zu § 195 BGB unter 1; Wilhelm Reuss, Gutachten in Schriftenreihe des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Heft 14, Stuttgart 1968, S.88; ArbGer. Hildesheim, BB 1968, S.996.

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Wilhelm Herschel

weitigen Verwendung der Arbeitskraft (§§ 615 Satz 2 BGB, 9 Buchst. b KSchG) und der wichtige Grund zur außerordentlichen Kündigung. Es ist der beachtliche Versuch gemacht worden, den "typischen Arbeitnehmerschaden" als Element in das Arbeitsrecht einzuführen67• Die definitorische Methode versagt des weiteren vor dem Tendenzbetrieb, so daß das BAG - allerdings unausgesprochen - hier in casu die Zuordnung zu einem Typus vornimmt68 • Daß dies wichtig ist, erkennt man leicht, wenn man den Aufsatz von Neumann-Duesbe-rg69 über Presseverlage und Druckereien als Tendenzbetriebe in methodologischer Sicht kritisch liest. Für den Handwerksbetrieb hat das BVerwG70 in ständiger Rechtsprechung entschieden, "daß sich allgemeingültige Abgrenzungsmerkmale kaum festlegen lassen, daß vielmehr die Frage, ob ein Gewerbebetrieb zum Bereich der Industrie oder des Handwerks zu rechnen ist, ... nur nach der Gesamtstruktur des Betriebes wird entschieden werden können". Das kommt der typologischen Methode mindestens sehr nahe. Namentlich im kollektiven Arbeitsrecht darf man sich von der abstrakt-rubrizierenden Methode, die so häufig größere Zuverlässigkeit vortäuscht, aber vor der Wirklichkeit versagt, nicht beirren lassen; man darf nicht der Sklave dieser uns so oft narrenden Art geistiger Arbeit werden und muß deshalb manche Probleme mit der typologischen Methode angehen. Bezüglich des Koalitionsbegriffes wurden schon in der Einleitung unseres Beitrags Worte von Alfred Hueck und Nipperdey zitiert, die in diese Richtung deutlich weisen. Nicht minder stellt Maus71 bei Erörterung des Koalitionsbegriffes auf die Typik ab. Zutreffend spricht TomandtT2 von "der Typik der gewerkschaftlichen Kampfrnaßnahmen". Und wo gefragt wird, ob ein Arbeitskampf den Anforderungen fairer Kampfführung genügt, empfiehlt es sich, nicht zu klassifizieren, sondern zu prüfen, ob der Typus des fairen Arbeitskampfes gegeben ist. Die Unzulässigkeit des Abwerbens von Arbeitskräften kann sinnvoll nur "aus dem Charakter des Gesamtverhaltens des Abwerbenden"'{3 beurteilt werden, also wiederum nur typologisch. Im Recht des Hausarbeitstages dürfen "zur Konkretisierung des Begriffs des eigenen Hausstandes im Falle der alleinstehenden Frau ... lediglich solche Ge67 68 69 70

71

Oehmann, Betrieb 1964, S. 555. Herschel, ArbRBI "Tendenzbetrieb: Entscheidungen 2", Anm. unter 2. Neu.mann-Duesberg, BB 1967, S.549. BVerwG, AP Nr. 6 zu § 1 HandwO. . Maus, TVG, Bem.67 zu § 2, (8.312). Vgl. auch Herschel, ArbRBl. "Ta-

rifvertrag II: Entscheidungen 7" unter 1 b. 72 Tomandl, Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes, Wien 1965, S.3. 73 OLG München, AP Nr.2 zu § 611 BGB Abwerbung, BI. 398 r.

Die typologische Methode und das Arbeitsrecht

239

sichtspunkte herangezogen werden, die mit den typischerweise auftretenden Belastungen der Frau zusammenhängen"74. Eine stärkere Zuwendung zur typologischen Methode brächte eine bedeutende Hilfe in den Eingruppierungsstreitigkeiten, namentlich in denen des öffentlichen Dienstes. Was wir heute dort erleben, ist eine etwas gewaltsame, substanzarme und den wahren Vorgang verschleiernde Anwendung des definitorischen Verfahrens. Das Unbefriedigende des überlieferten Vorgehens liegt so sehr auf der Hand, daß sich an dieser Stelle nähere Ausführungen erübrigen; es sei nur auf die zutreffenden und lehrreichen Ausführungen von Gröbing75 verwiesen. So sollte man von der "typischen Aufgabenzuteilung"78, von dem "Typus des Büroangestellten"77 usw. ausgehen. Es ist eine Pflicht intellektueller Redlichkeit, einzugestehen, daß sich hier unter der viel praktizierten scheinbaren Subsumtion eine Zuordnung zu Typen verbirgt, und daraus die nötigen Folgerungen zu ziehen. Auch den Begriff der Sozialversicherung vermag man nur typologisch zu erfassen. Das BVerfG will unter Sozialversicherung alles verstehen, was der Sache nach sich als Sozialversicherung darstel1t78. Das ist nichts anderes als der Typus der Sozialversicherung. Begriffliche Abstraktion würde zu unannehmbaren Ergebnissen führen. So würde z. B. die gesetzliche sogenannte Unfallversicherung, die ja keine Versicherung, sondern ein Umlageverfahren ist, aus dem Begriff der Sozialversicherung ausscheiden, obgleich diese zum Typ der Sozialversicherung gehört. Hier zeigt sich die Bedeutung dessen, daß - anders als beim klassifikatorischen Begriff - beim Typus das eine oder andere Merkmal im Tatbestand fehlen kann. Nicht minder lassen sich die Einbeziehung selbständiger Berufe, der Arbeitslosenversicherung sowie des Kindergeldes nur auf diese Weise mit Sicherheit erreichen. Daß es innerhalb der Sozialversicherung zahlreiche Fälle notwendiger Typologie gibt, bedarf keines Wortes. Wie will man z. B. anders den Wegeunfall (§ 550 RVO) bestimmen? Endlich sei an die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als Institution erinnert. Würde man an sie die Sonde einer Definition legen, die auf begrifflicher Abstraktion beruht, so wäre ihr Charakter als Selbstverwaltungskörperschaft zu verneinen. Das hieße aber, die soziologische Wirklichkeit durch abstraktes Denken verzerren. Das Arbeiten mit dem Typus kann man wiederum in diesem 74 Farthmann, AP Nr.26 zu § 1 HausarbTagsGNordrhein-Westfalen, Anm. a. E. gegen BAG. 75 Gröbing, AP Nr. 3 zu §§ 22, 23 BAT. Anschauungsmaterial auch in BAG, AP Nr.7 zu §§ 22, 23 BAT. 78 Crisolli, AP Nr.3 zu § 1 TVG Tarifverträge: BAVAV BI. 70 zu 1 Abs. 1. 77 Herschel, SAE 1967, S.71 zu 2. 78 BVerfG Bd.ll, S.105.

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Falle als befreiend empfinden; denn es gestattet die Zuordnung zu dem Typus der Selbstverwaltung, eine Zuordnung, die allein den wirklichen Gegebenheiten, den praktischen Bedürfnissen und dem Wollen des Gesetzgebers gerecht wird. Damit mag die Anführung von Beispielen79 beendet werden; denn ein - sich geradezu aufdrängendes - Mehr führte zu einer unangemessenen Inanspruchnahme der wertvollen Seiten dieser Festschrift. Aus diesem Grunde muß auch von einer eingehenden Behandlung der mitgeteilten Beispiele abgesehen werden. übrigens entspricht das dem bescheidenen Ziel dieser Abhandlung: sie will nur nachdrücklich dazu anregen, besorgt zu sein, daß die sonst so zeitnahe Lehre vom Arbeitsrecht in dieser Beziehung nicht hinter der methodologischen Entwicklung, die sich in anderen Wissenschaften, namentlich bei der Jurisprudenz, vollzogen hat, zurückbleibt, und man hat Grund zu der Annahme, daß eine solche Mahnung gerade auch im Sinne unseres Jubilars Dtto Kunze liegt. Auf fast allen Gebieten des Lebens stehen wir heute einem erstaunlichen Tempo der Entwicklung gegenüber, das dem älteren Beobachter kaum faßbar ist. So konnte man es sich noch vor wenigen Jahren nicht anders vorstellen, als habe die Schule traditionsgemäß den Auftrag, ein enzyklopädisches Wissen zu vermitteln. Heute ist an dessen Stelle allenthalben das sogenannte exemplarische Lernen getreten. Das Rad der Zeit dreht sich auch im Raume der Methodologie. Als das RG im Jahre 1879 eines der ersten seiner Urteile vorlegte und darin den Begriff der Eisenbahn bestimmte80 , war das ein definitorisch-artistisches Meisterwerk. Es ist geschmacklos, heute darüber zu spotten. Schließlich kann man sogar den "Erlkönig" und andere hervorragende Schöpfungen der Dichtkunst so rezitieren, daß sie zu Mitteln platter Erheiterung degradiert werden. Richtig ist aber, daß jene Definition schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr als eine brauchbare Handreichung erscheint. Wir würden es vorziehen, mit dem vielgestaltigen Typus der Eisenbahn zu arbeiten. Die heutige Zeit, in der die übertreibungen der klassifikatorischen Methode schon in der modernen Poesie behandelt werden - man lese etwa Musils "Mann ohne Eigenschaften" oder Frischs "Andorra" -, ist 79 Weitere Beispiele siehe bei Herschel, ArbRBI "Tarifvertrag II: Ent·· scheidungen 7" unter 1 b (Typus der Gewerkschaft) sowie ArbuR 1966, S. 9(\ ("Verwaltung" einer Wohlfahrts einrichtung). Als Beispiel aus einem angrenzenden Gebiet sei der Typus des Vertragshändlers erwähnt (Peter Ulmer, Die Stellung des Vertragshändlers im Französischen Recht (= Abhandlungen aus dem Gesamten Bürgerlichen Recht, Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Heft 37), Stuttgart 1968, S. 1. 80 RGZ Bd. 1, S.247 (252). Der BGH spricht vom "Berufstyp" des sog. angestellten Kraftfahrers (NJW 19t19, S.666, Nr.6).

Die typologische Methode und das Arbeitsrecht

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wirklich reif, die Diskussion über dieses methodologische Problem, insbesondere auch im Arbeitsrecht, fortzusetzen und zu einem guten Ende zu führen. Dazu bedarf es freilich, wie angedeutet, mancherlei schwieriger Überlegungen. Hierbei sollte man die alte, wenn auch nur mit erheblichen Einschränkungen richtige, Volksweisheit nicht vergessen: Probieren geht über Studieren. Wer den Schritt wagt, dort, wo es am Platze ist, bewußt zur typologischen Methode überzugehen und sich ihrer bei der Entscheidung praktischer Fälle zu bedienen, wird auch von dieser Seite her zu der Erkenntnis der Grenzen der ~ub­ sumtion unter einen Begriff und der Vorteile der Zuordnung zu einem Typus gelangen.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Anfechtung der Betriebsratswahl* Von Gerhard Müller Der Betriebsrat ist gewählter Repräsentant der Belegschaft. Seine Wahl ist im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) u.nd in der zu diesem Gesetz ergangenen Wahlordnung (WO) geregelt. Der Wahl geht oft ein regelrechter Wahlkampf voraus. Bei der Wahlanfechtung handelt es sich nach den bisherigen Erfahrungen in der Mehrzahl der Fälle nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber, sondern um einen Streit zwischen rivalisierenden Arbeitnehmergruppen. In der Praxis schlägt sich dies z. B. darin nieder, daß sich der Anfechtungsantrag nicht gegen den Betriebsrat oder den Arbeitgeber richtet, sondern ausdrücklich gegen eine rivalisierende Gewerkschaftl • So gesehen erscheint die Wahl anfechtung oft als eine Fortsetzung des Wahlkampfes mit anderen Mitteln. Das stellt das Gericht vor die Aufgabe, auch nur den Anschein einer Verfälschung des Wählerwillens zu vermeiden. Der Wählerwille trägt die Bildung und Zusammensetzung des konkreten Betriebsrats. 1. Fehlerhaftigkeit der Wahl

Mängel der Betriebsratswahl können nicht schrankenlos, sondern im Grundsatz nur nach Maßgabe des § 18 BetrVG, insbesondere innerhalb der dort vorgesehenen Frist, bei Gericht geltend gemacht werden. über die Wahlanfechtung haben nach § 2 Abs.1 Nr.4 Buchst. a ArbGG die Gerichte für Arbeitssachen zu entscheiden, und zwar nach §§ 8 Abs.1, 80 Abs.1 ArbGG im Beschlußverfahren. Weist die Wahl ausnahmsweise so schwerwiegende Mängel auf, daß in Wirklichkeit überhaupt nicht von einer Wahl gesprochen werden kann, so ist sie nichtig. Dies kann, in der unten behandelten betriebsverfassungsrechtlichen Art und Weise, aber im gegebenen Falle auch von jedermann zu jeder Zeit als Vorfrage in jedem Verfahren geltend gemacht werden. • Die Abhandlung versucht, eine systematisch-dogmatische Betrachtung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Anfechtung der Betriebsratswahl zu geben. 1 Vgl. BAG 17, 165 [167] = AP Nr.14 zu § 18 BetrVG = BB 65, 1068. 16·

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Gerhard Müller

Der im Rahmen des Betriebsverfassungsrechts gestellte Antrag, die Unwirksamkeit einer Betriebsratswahl festzustellen, macht sowohl die Nichtigkeit als auch die Anfechtbarkeit der Wahl geltend. Die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen und die Zulässigkeit des Beschlußverfahrens für die Wahlanfechtung gilt auch für eine beantragte Feststellung der Nichtigkeitl!. Ob und inwieweit die Vorschriften über die Anfechtung der Betriebsratswahl auch für andere Wahlen, z. B. die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat (§§ 76 ff. BetrVG) gelten, ist hier nicht zu behandeln. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird nur insoweit berücksichtigt, als sie sich mit der Auslegung der für die Betriebsratswahl geltenden Vorschriften beschäftigt.

2. Wahlanfechtungsverfahren a) Anfechtungsantrag

Angefochten wird die Betriebsratswahl durch den Anfechtungsantrag eines Anfechtungsberechtigten an das Arbeitsgericht, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle. Der Antrag richtet sich gegen den Betriebsrat. Jedoch ist die unrichtige Bezeichnung des Anfechtungsgegners unschädlich, wenn das Arbeitsgericht dem Betriebsrat die Anfechtung alsbald zuste11t3 • Zur Wahrung der Anfechtungsfrist reicht auch der Eingang des Antrags beim örtlich unzuständigen Arbeitsgericht aus4 • Das Gesetz schreibt eine Begründung des Anfechtungsantrags nicht ausdrücklich vor. Gleichwohl hat das Bundesarbeitsgericht dem Regelungskomplex entnommen, der Antragsteller müsse für seine Wahlanfechtung innerhalb der Anfechtungsfrist jedenfalls solche Gründe vortragen, die geeignet seien, Zweifel an der nach den betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften zu beurteilenden Ordnungsmäßigkeit der durchgeführten Wahl zu begründen. Eine Begründung, die sich ausschließlich auf Bereiche außerhalb des Betriebsverfassungsrechts bezöge, stehe in keiner Beziehung zu derjenigen Ordnung, aus der heraus allein die Möglichkeit einer Anfechtung der Betriebsratswahl gegeben sein könne. Der Antragsteller müsse einen betriebsverfassungsrechtlich erheblichen Tatbestand vortragen. Hierzu genüge der Vortrag nicht, 2 BAG 16, 1 [6] = AP Nr.3 zu § 4 BetrVG = BB 64, 883 = NJW 64, 1873; BAG 15, 235 [236/237] = AP Nr.6 zu § 3 BetrVG = BB 64, 174 = NJW 64, 1338. 3 BAß 17, 165 [168] = AP Nr.14 zu § 18 BetrVG = BB 65, 1068. 4 BAG AP Nr. 10 zu § 76 BetrVG.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

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eine Gewerkschaft habe sich bei der innerhalb ihrer Organis'ation durchgeführten Vorbereitung der Betriebsratswahl undemokratisch verhalten, insbesondere den in "Vorwahlen", die unter den Gewerkschaftsmitgliedem durchgeführt worden seien, zum Ausdruck gekommenen Willen der Gewerkschaftsmitglieder nicht beachtet. Denn dadurch, daß ein wahlberechtigtes GewerkschaftSmitglied nicht als Kandidat auf die Liste der Gewerkschaft gesetzt worden sei, sei weder dieses Mitglied noch ein anderer Arbeitnehmer in der Ausübung seines aktiven oder passiven Wahlrechts beeinträchtigt wordenli• Natzel stimmt der Entscheidung insoweit zu und will ihr entnehmen, nur wer die Schlüssigkeit seines Antrages darlege, könne auf eine Sachentscheidung hoffen6 • Das Bundesarbeitsgericht verlangt aber weniger. Es genügt, wenn der vorgetragene Sachverhalt Anlaß zu der Ansicht geben kann, es sei gegen Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts verstoßen worden. Damit reicht es jedenfalls aus, wenn in dem substantiierten Tatsachenvortrag nicht die Rechtsbeeinträchtigung, sondern nur die Möglichkeit einer Rechtsbeeinträchtigung dargetan wird. Neumann-Duesberg hat zu der Entscheidung angemerkt, bei der gegebenen Antragsbegründung habe der Verdacht nahegelegen, daß bei der Aufstellung der Vorschlagslisten gegebenenfalls Druck auf die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ausgeübt worden sei. Damit habe der Antrag die Möglichkeit einer Verletzung des § 19 BetrVG dargetan und sei zulässig gewesen7. Die Kritik Neumann-Duesbergs läßt nicht klar hervortreten, ob sie sich in erster Linie gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wendet, die Gewerkschaften seien im Rahmen der Betriebsratswahl im Grundsatz zur Ausübung der Verbandsgewalt berechtigt auf diese Frage soll später eingegangen werden -, oder ob sie eine grobe Anwendung der Verbandsgewalt, wie sie nach der Rechtsp!"echung des Bundesarbeitsgerichts unzulässig wäre, hier als genügend wahrscheinlich ansieht. Neumann-Duesberg zieht bei der Erörterung des Begründungszwanges Parallelen zum Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und zum Verwaltungsgerichtsprozeß. In beiden Verfahrensarten ist gegen eine "vorsorgliche" Anfechtung nichts Entscheidendes einzuwenden. Mit der Bedeutung des Betriebsrates in der Betriebsverfassung und im Hinblick auf die leistungsgemeinschaftliche Ordnung des Betriebes wäre es aber unvereinbar, zur Wahrung der Anfechtungsfrist einen unbegründeten oder nur vage begründeten, vorsorglich gestellten Antrag zuzulassen und dem Antragsteller die D 6 7

BAG 17, 165 [168-171] = AP Nr.14 zu

Natzel, SAE66, 23. Neumann-Duesberg,

§

18 BetrVG = BB 65, 1068.

Anmerkung zu AP Nr.14 zu § 18 BetrVG.

246

Gerhard Müller

Möglichkeit zu geben, noch nach Ablauf der Anfechtungsfrist nach Anfechtungsgründen zu suchen und diese gegebenenfalls nachzuschieben. Nach der Grundtendenz der angeführten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts müssen ganz entfernt liegende Möglichkeiten eines Rechtsverstoßes unberücksichtigt bleiben. b) Amtsermittlungsgrundsatz

Da über die Anfechtung im Beschlußverfahren zu entscheiden ist, gilt der Grundsatz der Amtsermittlung. Inwieweit dieser im einzelnen die Parteiherrschaft einschränkt, ist streitig und erscheint durch die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts noch nicht restlos geklärt. Terminologisch kann man zwischen der Offizialmaxime, wie sie sich etwa im Strafverfahren entwickelt hat, der Amtsermittlung, bekannt aus Verwaltungsprozeß und freiwilliger Gerichtsbarkeit, und der Parteimaxime des Zivilprozesses unterscheiden. Vergleichsweise nimmt das Gericht bei der Amtsermittlung auf den Gang des Verfahrens weit mehr Einfluß als nach der Parteimaxime, aber weniger als bei der im Strafprozeß herrschenden Offizialmaxime. Zur Wortverwendung ist allerdings hervorzuheben, daß die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts auch den im Beschlußverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz als Offizialmaxime bezeichnen. Für die Stellung des Gerichts gegenüber den Beteiligten sind drei Bereiche zu unterscheiden, nämlich die Bestimmung des Streitgegenstandes, des Tatsachenstoffes und der Beweismittel. Zum Beweisrecht ist es wohl allgemeine Ansicht, daß das Gericht, soweit der Grundsatz der Amtsermittlung gilt, an unstreitigen Parteivortrag nicht gebunden ist, sondern bei eigenem Zweifel Beweis zu erheben hat. Desgleichen kann es auch über die Beweisanträge der Beteiligten hinausgehen. Die Bestimmung des Streitgegenstandes obliegt dagegen auch nach dem Grundsatz der Amtsermittlung den Beteiligten. Der Antragsteller entscheidet, ob er die Wahl überhaupt anfechten will; er ist nach § 18 BetrVG zur Anfechtung berechtigt, aber nicht verpflichtet. Entschließt er sich zur Anfechtung, so kann er sie auf selbständige Teile der Betriebsratswahl beschränken, z. B. auf die Wahl einer Gruppe oder die Wahl eines bestimmten Betriebsratsmitgliedes8 • Die Anfechtung kann auch in der Weise beschränkt werden, daß nur die Feststellung des richtigen Wahlergebnisses begehrt wird, etwa bei 8

BAG AP Nr. 11 zu § 18 BetrVG

=

BB 60, 444.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

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fehlerhafter Auszählung der Stimmen. Dann ist die Wahl auf sonstige Mängel nicht zu untersuchen9 • Zweifelhaft ist, inwieweit das Gericht privates Wissen zum Anlaß für Nachforschungen nehmen darf, insbesondere ob das Gericht einen Sachverhalt berücksichtigen kann, den die Beteiligten nicht vorgetragen oder später fallengelassen haben. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu zunächst ausgeführt, wenn das Arbeitsgericht im Laufe des Wahlanfechtungsverfahrens auf Mängel des Wahlverfahrens stoße, die zur Anfechtung berechtigten, so müsse es diesen Mängeln auch dann nachgehen, wenn die Beteiligten ihre Anfechtung auf sie nicht gestützt hätten10• Vorsichtiger heißt es in einer späteren Entscheidung, der Senat habe in BAG 4, 176 ausgesprochen, daß das Gericht nicht befugt sei, von sich aus neuen Streitstoff in ein Beschlußverfahren einzuführen. Das geschehe aber nicht, wenn ein Gericht auch gegen den derzeitigen Willf!n des Anfechtenden einen früher vorgetragenen Anfechtungsgrund berücksichtige. Dieser Anfechtungsgrund werde nämlich nicht durch das Gericht in das Verfahren eingeführt, sondern sei durch die Antragstellerin selbst eingeführt worden. Sodann wird der in AP Nr.3 zu § 18 BetrVG aufgestellte Rechtssatz, stoße das Gericht im Laufe des Verfahrens auf Anfechtungsgründe, die bisher nicht geltend gemacht worden seien, so seien diese gleichwohl zu berücksichtigen, ausdrücklich bestätigt. Hieraus folgert das Bundesarbeitsgericht, daß es der Anfechtende nicht in der Hand habe, etwa nachträglich von ihm selbst geltend gemachte Anfechtungsgründe zurückzuziehenl1• Die angeführte Entscheidung BAG 4, 176 besagt, obwohl im Beschlußverfahren der §§ 80 ff. ArbGG der Amtsbetrieb herrsche, sei der Senat nicht gehalten, noch in dritter Instanz Aufklärung zu schaffen. Es entspreche vielmehr dem Wesen des Rechtsbeschwerdeverfahrens, daß das Gericht dritter Instanz unter Zugrundelegung des festgestellten Sachverhalts sich auf eine rechtliche Nachprüfung beschränke, ohne von sich aus neuen Streitstoff in das Verfahren einzuführen12• Es kann somit nicht angenommen werden, das Bundesarbeitsgericht habe durch die Zitierung vorgenannter Entscheidung in BAG 12, 244 BAG 1, 166 [167/168] = AP Nr. 2 zu § 76 BetrVG = BB 54, 995 AP Nr.10 zu § 76 BetrVG = BB 60, 1167 = NJW 60, 2165; BAG AP Nr.11 zu § 18 BetrVG = BB 60, 444; BAG 19, 76 [79] = AP Nr.15 zu § 76 BetrVG = BB 66, 1393 = NJW 67, 75; BAG 26. November 1968 - 1 ABR 7/68 -, zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung und im Nachschlagewerk vorgesehen. 10 AP Nr.3 zu § 18 BetrVG = BB 58, 1245. 11 BAG 12, 244 [250/251] = AP Nr. 10 zu § 13 BetrVG = BB 62, 447. 12 BAG 4, 176 [180/181] = AP Nr. 7 zu § 76 BetrVG = BB 57, 928 = NJW 57, 1574. 9

= NJW 55, 237; BAG

248

Gerhard Müller

[250] abweichend von der an gleicher Stelle angeführten Entscheidung BAG AP Nr.3 zu § 18 BetrVG die Berücksichtigung von Anfechtungsgründen ausschließen wollen, die die Parteien niemals vorgetragen haben. Für diese Auslegung spricht, daß in einer jüngeren Entscheidung zur Zurückziehung von Anfechtungsgründen nur noch AP Nr. 3 zu § 18 BetrVG angeführt wird. Das Gericht habe sämtliche Anfeclitungsgründe, auf die das Gericht im Laufe eines ordnungsgemäß in Gang gebrachten Verfahrens stoße, von Amts wegen zu berücksichtigen, gleichgültig, ob sich die Beteiligten darauf berufen hätten oder nicht. Daraus ergebe sich, daß ein Anfechtungsgrund auch später nicht wirksam fallengelassen werden könne13• Neumann-Duesberg gibt in seiner Anmerkung zu AP Nr. 10 zu § 13 BetrVG zu bedenken, ob sich das Arbeitsgericht nicht im Interesse des Betriebsfriedens auf die Prüfung derjenigen Gründe beschränken müsse, auf die der Antragsteller seinen Gestaltungsantrag stütze. Ähnlich wie im Eheverfahren sollen also keine Vernichtungsgründe von Amts wegen beachtet werden. Für eine derartige Einschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes findet sich im Gesetz keine Stütze. Sie dürfte auch durch die Friedensfunktion nicht verlangt werden. Besteht Frieden, sind sich die Beteiligten also über die Gültigkeit der Wahl einig geworden, kann der Antragsteller gemäß § 81 Abs.2 Satz 1 ArbGG seinen Antrag zurücknehmen und das Gericht an weiteren Nachforschungen hindern. Ob die Beteiligten daneben die Möglichkeit haben, den Rechtsstreit durch Vergleich zu beenden und so jede weitere gerichtliche Aufklärung abzuwenden, ist allerdings zweifelhaft. Zwar ist auch im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren durch den Grundsatz der Amtsermittlung der Abschluß eines Vergleiches nicht grundsätzlich ausgeschlossen14• Es bleibt jedoch zu überlegen, ob nicht·die Besonderheiten der Wahlanfechtung mit ihrem dem Gericht obliegenden Ziel einer Gestaltung einen Vergleich ausschließen. Sind die Beteiligten aber über die Gültigkeit der Wahl uneins, so daß ein Vergleich oder eine Antragsrücknahme gar nicht in Frage steht, so kann die übereinstimmende Unterdrückung eines bestimmten Anfechtungstatbestandes doch wohl nur den Sinn haben, das Gericht zur Entscheidung einer bestimmten Rechtsfrage zu zwingen. Insoweit ist 13

1873.

BAG 16, 8 [15] = AP Nr.4 zu § 4 BetrVG = BB 64, 963 = NJW 64,

14 BAG 15, 54 [55] = AP Nr.8 zu § 81 ArbGG Nr. 9 zu § 81 ArbGG = BB 64, 262.

=

BB 64, 262; BAG AP

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

249

es aber gefestigte Rechtsprechung, daß die Parteien auch im Rahmen des Beschlußverfahrens das Gericht zur Entscheidung abstrakter Rechtsfragen nicht nötigen könnenl5 • Auch im Wahlanfechtungsverfahren ist ein besonderes Interesse der Beteiligten an der Klärung bestimmter Rechtsfragen nicht anzuerkennen. Soweit das Gesetz ein berechtigtes Interesse an selbständiger Klärung einer bestimmten Vorfrage bejaht, stellt es hierfür ein besonderes Verfahren zur Verfügung. So können der Arbeitgeber, jeder beteiligte Betriebsrat oder Wahlvorstand oder jede im Betrieb vertretene Gewerkschaft eine Entscheidung des Arbeitsgerichts darüber beantragen, ob ein Nebenbetrieb oder ein Betriebsteil selbständig ist oder zum Hauptbetrieb gehört (§ 17 Abs. 2 BetrVG). c) Anfechtungsberechtigte

§ 18 BetrVG nennt als Anfechtungsberechtigte mindestens drei wahlberechtigte Arbeitnehmer des Betriebes, jede im Betrieb vertretene Gewerkschaft und den Arbeitgeber. Im Betrieb vertreten ist eine Gewerkschaft, wenn ihr zumindest ein Arbeitnehmer des Betriebes angehört; sie braucht nicht durch drei wahlberechtigte Mitglieder im Betrieb vertreten zu sein16•

Kein Anfechtungsrecht hat nach § 18 BetrVG der einzelne Arbeitnehmer. Es kann also derjernge Betriebsangehörige, der bei korrekter Wahlausführung in den Betriebsrat gewählt worden wäre, nicht von sich aus die Wahl anfechten. Er muß sich vielmehr dazu noch mit zwei anderen Arbeitnehmern zusammentun, oder er muß seine Gewerkschaft oder auch den Arbeitgeber zur Wahlanfechtung veranlassen1'f. Desgleichen ist der Wahlvorstand als solcher zur Anfechtung nicht berechtigt, auch wenn er etwa von einer unzulässigen Wahlbeeinflussung erst nachträglich Kenntnis erhält. Das ergibt sich aus den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts zur Stellung des Wahlvorstandes. Dieser gehöre nicht zu den Beteiligten des Anfechtungsverfahrens. Sein Amt erlösche vielmehr mit der Durchführung der Wahl, und er werde mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses und der Einberufung der konstituierenden Betriebsratssitzung funktionslos18 • Als zur Anfechtung berechtigte Gewerkschaft im Sinne des § 18 BetrVG ist auch die örtliche Verwaltungsstelle einer Gewerkschaft BAG AP Nr.2 zu § 80 ArbGG mit weiteren Nachweisen = DB 62, 1576. BAG 10, 154 [157] = AP Nr.2 zu § 16 BetrVG = DB 61, 208. 17 BAG AP Nr.3 zu § 27 BetrVG = BB 56, 593 = NJW 56, 1175. 18 BAG AP Nr. 1 zu § 29 BetrVG = BB 58, 557 vgl. auch BAG 1, 43 = AP Nr. 1 zu § 24 BetrVG = BB 54, 685; BAG AP Nr. 11 zu § 76 BetrVG = BB 63, 140. 15 16

250

Gerhard Müller

jedenfalls dann anzusehen, wenn sie gemäß der Satzung der Gewerkschaft zur Anfechtung berechtigt ist19• d) AnfechtungsfTist

Nach § 18 BetrVG kann die Anfechtung der Wahl nur binnen einer Frist von vierzehn Tagen, vom Tage der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an gerechnet, erfolgen. Für die Bekanntgabe des Wahlergebnisses schreibt § 19 der Wahlordnung vor, sobald die Namen der Betriebsratsmitglieder endgültig feststünden, habe der Wahlvorstand sie durch zweiwöchigen Aushang in gleicher Weise bekanntzumachen wie das Wahlausschreiben. Bekanntgabe des Wahlergebnisses im Sinne des § 18 BetrVG und damit Beginn der Anfechtungsfrist ist nicht etwa das Ende des zweiwöchigen Aushanges, sondern gemäß § 187 Abs. 1 BGB der erste Tag nach Beginn des Aushanges. So hat das Bundesarbeitsgericht zu einem Fall, in dem der Aushang am 27. Oktober 1956 am Schwarzen Brett angeschlagen worden war, ausgeführt, der Aushang sei demgemäß spätestens am 30. Oktober 1956 erfolgt und die Anfechtungsfrist damit am 13. November 1956 abgelaufen20 • Die Anfechtungsfrist ist nach dem Gesetz in unmittelbare Beziehung zur Gültigkeit der Betriebsratswahl gesetzt. Bei ihr handelt es sich somit um eine materiell-rechtliche Frist21• Eine nicht rechtzeitig angefochtene Wahl ist deswegen, von dem Ausnahmefall der Wahlnichtigkeit abgesehen, nach materiellem Recht von Anfang an gültig. Der so gewählte Betriebsrat ist rechtmäßig in seinem Amt. Wird ein Anfechtungsantrag wegen Fristversäumnis zurückgewiesen, so liegt darin keine prozessuale Entscheidung, sondern eine Entscheidung in der Sache selbst. Deshalb sind die Tatsachen, aus denen sich die Einhaltung der Anfechtungsfrist ergibt, vom Tatsachengericht festzustellen. In der Rechtsbeschwerdeinstanz können die diesbezüglichen Feststellungen nicht nachgeholt werden. Das Rechtsbeschwerdegericht kann nur die für die Wahrung einer prozessualen Frist notwendigen tatsächlichen Feststellungen selbst treffen. e) An!echtungsgTünde

Als Anfechtungsgründe nennt § 18 BetrVG den Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren. In den meisten Wahlanfechtungsverfahren waren bis19 20

21

1873.

BAG AP Nr. 15 zu § 18 BetrVG = BB 66, 1063. BAG AP Nr.1 zu § 6 BetrVG = BB 58, 627. BAG 16, 1 [8] = AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG = BB 64, BB3

NJW 64,

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

251

her insoweit zwei Fragen zu entscheiden, erstens, ob eine bestimmte Wahlvorschrift verletzt war, zumeist eine Frage der Auslegung dieser Vorschrift, und zweitens, ob diese Vorschrift für die Wahl wesentlich ist. Im folgenden wird der Schwerpunkt auf die zweite Frage gelegt, also auf die Frage, welche Vorschriften als wesentlich anerkannt wurden. aa) Wahlverfahren Zu den Wahlvorschriften rechnen nicht nur die Vorschriften für die eigentliche Betriebsratswahl, sondern auch die Vorschriften über die im Gesetz vorgesehenen Vorabstimmungen. Auch die Anfechtungsgründe, die das durch die Vorabstimmung eingeleitete Wahlverfahren betreffen, können mit der Wahlanfechtung noch innerhalb der Frist des § 18 BetrVG geltend gemacht werden. Das Bundesarbeitsgericht hatte dies aus der Vorschrift des § 1 Abs.4 der Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz hergeleitet22• § 1 Abs.4 Wahlordnung, wonach Entscheidungen des Wahlvorstandes nur zusammen mit der Betriebsratswahl angefochten werden konnten, ist inzwischen durch Art. 1 Nr.2 der Verordnung vom 7. Februar 1962 (BGBl. I S. 64) aufgehoben worden. Somit kann nunmehr auch die Entscheidung des Wahlvorstandes isoliert angefochten werden. Damit hat der Gesetzgeber den gegen die Gültigkeit dieser Vorschrift erhobenen Bedenken Rechnung getragen. Es spricht aber nichts dafür, daß der Gesetzgeber zugleich die Möglichkeit, derartige Mängel erst im Rahmen der Wahl anfechtung zu rügen, beseitigen wollte. Es dürfte vielmehr wenigstens grundsätzlich die Möglichkeit bestehen, etwa bei einer unrichtigen Wählerliste zunächst den Ausgang der Wahl abzuwarten und nur bei ungünstigem Wahlausgang die Wahl anzufechten. Der innere Zusammenhang zwischen den Vorabstimmungen und der Betriebsratswahl bleibt zu beachten. Es wäre auch. wohl untunlich, dem durch eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift einen Riegel vorzuschieben. Eine derartige Änderung würde die Regelung der Anfechtungsfrist für den gegebenen Fall zwar scharf umschreiben, aber eben auch entgegen einer Einheitlichkeit des Sachverhaltes einseitig einengen.

Weiterhin hat das Bundesarbeitsgericht auch die Vorschriften über die Bestellung des Wahlvorstandes zu den Wahlvorschriften gerechnet. Wurde der Wahlvorstand vom früheren Betriebsrat nach Ablauf der Amtszeit bestellt, so ist dies ein Anfechtungsgrund 23• 22 23

766.

BAG 12, 244 [246] = AP Nr. 10 zu § 13 BetrVG = BB 62, 447. BAG I, 317 [320] = AP Nr.l zu § 18 BetrVG = BB 55, 317 = NJW 55,

252

Gerhard Müller

Das Bundesarbeitsgericht hat ferner den § 3 Abs.2 Buchst. g WO als wesentliche Wahlvorschrift anerkannt. Nach dieser Bestimmung müssen Wahlvorschläge vor Ablauf von zwölf Arbeitstagen seit dem Erlaß des Wahlausschreibens beim Wahlvorstand eingereicht werden; der letzte Tag dieser Frist ist im Wahlausschreiben bekanntzugeben. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu ausgeführt, diese Vorschrift könne nicht dahin verstanden werden, es sei dem Wahlvorstand überlassen, die Frist von zwölf Arbeitstagen beliebig zu verkürzen, etwa dahin, daß die Listen immer "vor" Ablauf des zwölften Arbeitstages eingereicht sein müßten. Es komme auf den Ablauf des zwölften Arbeitstages an. Ob es insoweit auf den Ablauf des Kalendertages oder das Ende der normalen täglichen Arbeitszeit ankomme, bleibe offen. Jedenfalls könne die Frist aber nicht vor dem Ablauf der Dienstzeit des ganz überwiegenden Teiles der Belegschaft in dem betreffenden Betrieb an dem betreffenden Tag enden. Ende diese Dienstzeit um 17 Uhr, so dürfe der Wahlvorstand das Ende der Frist nicht auf 16 Uhr festlegen und eine um 16.01 Uhr eingereichte Liste zurückweisen 24 • Das Bundesarbeitsgericht hat es auch als Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften angesehen, wenn die. im Wahlausschreiben angegebene Zeit für die Stimmabgabe nachträglich geändert werde und hiervon nicht alle Arbeitnehmer, und seien es auch nur die wegen Urlaub und Krankheit abwesenden, unterrichtet würden. Die Entscheidung nimmt nicht dazu Stellung, ob bei einer Benachrichtigung sämtlicher Betriebsangehöriger die nachträgliche Änderung des Termins für die Stimmabgabe zulässig ist 25 • Auffarth hält a.a.O. letzteres für möglich. Das ist zumindest zweifelhaft. Der Termin für die Stimmabgabe ist nach § 3 Abs. 2 Buchst. k WO im Wahlausschreiben durch Aushang bekanntzugeben. Wird die Zeit für die Stimmabgabe verlegt, verkürzt oder verlängert, ohne daß dies durch Aushang während der vorgeschriebenen Fristen bekanntgegeben würde, so ist der Wahltermin jedenfalls nicht ordnungsgemäß nach § 3 WO bekanntgemacht. Die in § 3 WO vorgeschriebene Bekanntmachung soll aber nicht nur sicherstellen, daß die Arbeitnehmer tatsächlich Kenntnis erhalten, sondern sie gewährt auch allen Arbeitnehmern eine möglichst gleichmäßige und rechtzeitige Kenntnisnahme. Bei jeder anderen Form der Benachrichtigung ist es möglicherweise nicht auszuschließen, daß einzelne Arbeitnehmer erst so spät Kenntnis erhalten, daß sie sich nicht mehr entsprechend einrichten können. Hier bestünde die Möglichkeit zu Wahlmanipulationen. Es spricht somit viel dafür, die Bestimmung des § 3 Abs. 2 Buchst. k WO auch hinsichtlich 24

25

BAG AP Nr. 11 zu § 18 BetrVG = BB 60, 444. BAG AP Nr. 13 zu § 18 BetrVG (mit Anm. Auffarth)

BB 60, 824.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

253

einer späteren Verlängerung der Wahlzeit als wesentliche Wahlvorschrift anzusehen und auf ihrer strengen Einhaltung zu bestehen. Das Bundesarbeitsgericht hat es zunächst offen gelassen, ob das Verbot der Wahlbeeinflussung in § 19 Abs.2 BetrVG zu den Vorschriften über das Wahlverfahren selbst gehört. Der dort zum Ausdruck gekommene Grundsatz rechtfertige allerdings dann die Anfechtung der Wahl wegen Fehlerhaftigkeit des Wahlverfahrens, wenn Handlungen, die mit jener Vorschrift verboten sind, geradezu zum Bestandteil des Wahlverfahrens gemacht worden seien. Das Wahlverfahren sei jedenfalls mangelhaft, wenn die nach § 19 Abs. 2 BetrVG verbotenen Mittel in dem Wahlverfahren zur Beeinflussung einer unbestimmten Vielzahl von Wählern angewendet wurden und damit als Bestandteil des Wahlverfahrens in Erscheinung träten. Dies sei namentlich dann der Fall, wenn durch die Fassung der zur Abstimmung gestellten Frage, durch Aufnahme von Zusätzen in diese Frage oder durch sonstige Verfahrensmaßnahmen der Wähler mit den Mitteln des § 19 Abs. 2 BetrVG habe dazu veranlaßt werden sollen, seine Stimme in einer bestimmten Richtung abzugeben26 • In der soeben angeführten Entscheidung hat das Bundesarbeitsgel'icht es im Einzelfall als unzulässige Beeinflussung durch Versprechen von Vorteilen angesehen, daß der Angestelltengruppe durch Verbindung einer Abstimmung nach § 12 Abs. 1 BetrVG über eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Verteilung der Sitze auf Arbeiter und Angestellte mit der Abstimmung nach § 13 Abs. 2 BetrVG über die Gemeinschaftswahl für den Fall der Gemeinschaftswahl eine günstigere Sitzverteilung als die gesetzliche in Aussicht gestellt wurde. Die Entscheidung ist insoweit auf Kritik gestoßen. Küchenhoff27 und Fitting-Kraegeloh-Auffarth28 halten der Entscheidung entgegen, unter dem Versprechen eines unzulässigen Vorteils seien nur unsachliche, an den Egoismus des einzelnen appellierende Leistungen zu verstehen. Da jedoch von der Gruppensituation immer Einflüsse auf das einzelne Gruppenmitglied ausgehen, was Küchenhoff selbst einräumt, und diese Einflüsse durch eine zusätzliche Gestaltung in nicht tragbarer Weise intensiviert werden können, erscheint es nicht angängig, den grundlegenden Begriff der unzulässigen Wahlbeeinflussung dergestalt einzuengen. Küchenhoff meint weiterhin, die Entscheidung verhindere praktisch eine Gemeinschaftswahl, wenn nicht sichergestellt werden könne, daß 28

BAG 4, 63 [67/6B] = AP Nr. 1 zu § 19 BetrVG = BB 57,291 = NJW!i7,

27

Anm.

10B6. 28

zu AP Nr. 1 zu § 19 BetrVG. BetrVG, B. Aufi., § 19 Anm. 16.

254

Gerhard Müller

keine, insbesondere die schwächere Arbeitnehmergruppe irgendwie benachteiligt werde. Hierzu ist es aber nicht notwendig, der schwächeren Gruppe eine größere Anzahl von Sitzen zuzubilligen, als sie bei der Gruppenwahl nach § 10 BetrVG erhalten würde. Im übrigen verstößt die Benutzung einer abweichenden Sitzverteilung als Lockmittel nicht nur gegen den vom Bundesarbeitsgericht angeführten § 19 BetrVG, sondern auch gegen § 10 und möglicherweise auch gegen § 12 BetrVG. Die durch § 10 BetrVG vorgeschriebene Verteilung der Sitze auf die Gruppen der Arbeiter und Angestellten hat mit der Frage, ob die Arbeitnehmer nach Gruppen getrennt oder gemeinsam wählen (§ 13 Abs.2 BetrVG), nichts zu tun. Denn auch bei gemeinsamer Wahl bleibt die vorgeschriebene Verteilung der Sitze maßgebend29 • Es liegt nahe, daß auch die nach § 12 Abs. 1 BetrVG bestimmte abweichende Regelung schlechthin sowohl für die Gruppenwahl als auch für die Gemeinschaftswahl gelten muß. Man könnte argumentieren, die abweichende Bestimmung über die Sitzverteilung dürfe nicht an eine Bedingung geknüpft werden, insbesondere nicht an die Bedingung, daß sich die Mehrheit der Arbeitnehmer gemäß § 13 Abs. 2 BetrVG für die Gemeinschaftswahl ausspreche oder gar daß eine bestimmte Liste bei der Gemeinschaftswahl siege. Ausdrücklich anerkannt hat das Bundesarbeitsgericht das Recht der Gewerkschaften, sich im Rahmen des § 19 BetrVG in die Vorbereitungen zur Betriebsratswahl einzuschalten, Wahlpropaganda zu betreiben und auf ihre Mitglieder, sogar unter Androhung des Ausschlusses, dahin einzuwirken, daß diese keine Listen konkurrierender Gewerkschaften unterstützen. Auch die Gewerkschaften dürften im Rahmen des § 19 Abs. 2 BetrVG auf die Betriebsratswahl Einfluß nehmen. Das ergebe die Entstehungsgeschichte des § 76 BetrVG; die Rechtslage der Wahl der Arbeitnehmer zum Aufsichtsrat liege gegenüber der Rechtslage bei den Betriebsratswahlen völlig gleich. Verboten sei demnach den Gewerkschaften nur eine Beeinflussung der in § 19 Abs.2 BetrVG genannten Art. Es könne aber nicht als unzulässige Behinderung oder als unzulässige Beeinflussung angesehen werden, wenn eine Gewerkschaft auf ihre Mitglieder unter Androhung des Ausschlusses aus der Gewerkschaft einwirke, in bestimmtem Sinne bei der Wahl tätig zu werden. Es liege zwar nahe zu sagen, daß der Ausschluß aus der Gewerkschaft in materieller und ideeller Hinsicht nachteilig sei, daß damit also ein Nachteil angedroht werde. Eine derartige Betrachtungsweise berücksichtige aber weder das Verhältnis der Gewerkschaft zu 29 Fitting-Kraegeloh-Auffarth, BetrVG, § 10 Anm. 4; Dietz, BetrVG, 4. Aufl., § 10 Anm. 1; Galperin-Siebert, BetrVG, 4. Aufl., § 10 Anm.2.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

255

ihren Mitgliedern noch die Tatsache, daß die Gewerkschaften zur Wahrnehmung ihrer eigenen Belange befugt seien30 • Dieckhoff (Mensch und Arbeit 1961, 154) meint, das Bundesarbeitsgericht habe hier die Verbandsdisziplin höher gewertet als die Wahlfreiheit. Eine derartig allgemeine Wertung hat das Bundesarbeitsgericht in der angeführten Entscheidung jedoch nicht vorgenommen. Hier wird nach der Art des Verbandes und der Intensität der Verbandsgewalt unterschieden. Würde z. B. eine politische Partei mit dem Ausschluß ihrer Mitglieder drohen, wenn diese bei der Betriebsratswahl nicht die Liste einer mit der Partei sympathisierenden Gewerkschaft wählen, so könnte eine derartige Partei sich nicht auf eine angebliche Sanktionierung der Verbandsgewalt in der angeführten Entscheidung berufen. Diese Entscheidung berücksichtigt nämlich ausdrücklich die im Grundgesetz und im Betriebsverfassungsrecht anerkannte Bedeutung der Koalitionen für das Arbeitsleben. Zum anderen dürfte es auf die Intensität des Verbandszwanges ankommen. Würde der Verbandszwang mit Hilfe von relativ und gleichzeitig absolut überhöhten oder gar ruinösen Vereinsgeldstrafen ausgeübt, so wäre dies durch die Entscheidung, so wie sie vorliegt, nicht gedeckt. Es geht nicht an, die Freiheit der Koalition oder die Freiheit des einzelnen generell höher zu bewerten, vielmehr ist der Widerstreit zwischen Koalitions- und Individualinteresse im Einzelfall abzuwägen, wie dies die angeführte Entscheidung tut. Hervorzuheben ist, daß in dieser Entscheidung ausdrücklich offen bleibt, ob die Gewerkschaft auch die Unterstützung freier oder gemischter Listen mit dem Ausschluß bedrohen darf s1. Andererseits scheint mir das Bundesarbeitsgericht mit dieser Entscheidung die Zulässigkeit gewerkschaftlcher Vorwahlen bejaht zu haben, obgleich dieses Problem nicht ausdrücklich angesprochen wird. Die bereits angeführte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, nach der ein Hinweis auf gewerkschaftliche Vorwahlen nicht als ein betriebsverfassungsrechtlich relevanter und damit als Antragsbegriindung ausreichender Tatbestand angesehen wurde, brauchte daher auf die allgemeine Zulässigkeit derartiger Vorwahlen nicht mehr einzugehen. Offen geblieben ist lediglich die Frage, ob diejenigen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer, die mit der auf Grund von gewerkschaftlichen Vorwahlen aufgestellten Liste ihrer Gewerkschaft unzufrieden sind, mit Verbandszwang daran gehindert werden dürfen, eine eigene Liste aufzustellen. Auch hier würde ich dazu neigen, die Frage nicht generell zu entscheiden, sondern die Besonderheiten des Einzelfalles zu berück30

BAG 10, 223 ff. = AP Nr.2 zu § 19 BetrVG = BB 61, 330 = NJW 61,

31

BAG 10, 223 [231].

894.

256

Gerhard Müller

sichtigen, z. B. etwa, ob die dann zu befürchtende "Spaltung der Gewerkschaftsstimmen" in besonderem Maße einer konkurrierenden Gewerkschaft zugute käme. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof zu cliesem Problemkreis entschieden, es sei nicht der Sinn des § 19 Abs.2 BetrVG, der Verbandsautonomie überhaupt keinen Raum zu lassen und damit einer Gewerkschaft auch das weitere Verbleiben solcher Mitglieder im Verband aufzuzwingen, die bei einer Betriebsratswahl ihre Gewerkschaft und deren satzungsmäßige Zielsetzungen in einer mit ihrer weiteren Mitgliedschaft nicht zu vereinbarenden Weise offen bekämpften. Deshalb seien Fälle denkbar, in denen der Ausschluß eines Mitgliedes wegen seines Verhaltens bei den Betriebsratswahlen gerechtfertigt sein könne 32• Manche Formulierungen dieser Entscheidung legen andererseits die Annahme nahe, der Bundesgerichtshof neige bei der Lösung des Interessenwiderstreits zwischen Koalitionsinteresse und Wahlfreiheit stärker der Wahlfreiheit zu als das Bundesarbeitsgericht. Ob und inwieweit sich hier eine Divergenz anbahnt, die zur Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nötigen könnte, bleibt abzuwarten. In einem weiteren vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Falle hatte die Antragstellerin geltend gemacht, die Angestellten seien durch den Arbeitgeber in ihren Wahlentschlüssen rechtswidrig beeinflußt worden, da der Arbeitgeber bei der Vorwahl nach § 13 Abs.2 BetrVG entgegen der von der DAG ausgegebenen Parole zur Wahlenthaltung den Angestellten habe mitteilen lassen, Wahlrecht bedeute auch Wahlpflicht. Neumann-Duesberg und Dietz wollen der Entscheidung die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts entnehmen, es sei unbedenklich, wenn bei einem Aufruf der Gewerkschaft zur Wahlenthaltung der Arbeitgeber auf die Wahlpflicht hinweise 33• Damit erscheint mir die Entscheidung mißverstanden. In ihr heißt es, nach den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses habe der kaufmännische Direktor der beteiligten Arbeitgeberin lediglich vier oder fünf Abteilungsleiter angerufen und ihnen aufgetragen, dafür Sorge zu tragen, daß die Tatsache der Wahl überall bekannt werde. Er habe sich jeder Stellungnahme für oder gegen die Gruppen- oder Gemeinschaftswahl enthalten und eine gleiche Haltung den Abteilungsleitern anempfohlen. Zwar habe er den Abteilungsleitern noch beiläufig seine persönliche Meinung, daß Wahlrecht Wahlpflicht sei, mitgeteilt. Dazu, daß diese Be32 BGHZ 45, 314 NJW 66, 1751. 33

= BGH AP Nr.5 zu

§ 19 BetrVG

= BB 66, 860 =

Neumann-Duesberg, Anm. zu AP Nr. 10 zu § 13 BetrVG; Dietz, BetrVG,

4. Aufl., § 19 Anm. 8.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

257

merkung weitergegeben worden wäre, sei aber keine Feststellung getroffen84 • Das Bundesarbeitsgericht hat also die Rüge der Antragstellerin, der Arbeitgeber habe in die Wahl eingegriffen, tatbestandsmäßig nicht als erwiesen angesehen, und letztlich wohl die Frage, ob der Vortrag der Antragstellerin rechtlich schlüssig war, offen gelassen. Inwieweit ein Arbeitgeber sich in die Wahlpropaganda vor einer Betriebsratswahl einschalten und sich gar für die Wahl einer bestimmten Liste aussprechen darf, ist vom Bundesarbeitsgericht bisher noch nicht entschieden. Insoweit ercheint es aber ohne weiteres denkbar, daß der Arbeitgeber sich überhaupt nicht in die Wahl einschalten darf. Hierfür würde sprechen, daß die Antragsrechte nach den §§ 15 Abs. 2. 16 Satz 2 BetrVG nicht dem Arbeitgeber, wohl aber der Gewerkschaft zustehen. Andererseits steht das Antragsrecht des § 17 Abs. 2 und das Anfechtungsrecht des § 18 BetrVG nicht nur der Gewerkschaft, sondern auch dem Arbeitgeber zu. Aber selbst wenn man deshalb davon ausgeht, auch für den Arbeitgeber gelte wie für die Gewerkschaften nur die Grenze des § 19 BetrVG, so wird man doch berücksichtigen müssen, daß sich der einzelne Arbeitnehmer in einem ganz anderen Maße der Macht des Arbeitgebers ausgesetzt fühlt als der Macht der Gewerkschaften, die immerhin die Aufgabe haben, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Während es deshalb der Gewerkschaft freisteht zu erklären, die Wahl einer bestimmten Liste werde als Angriff auf sie selbst aufgefaßt, wird dem Arbeitgeber u. U. sogar schon eine derartige Äußerung nach § 19 BetrVG verwehrt sein. Zur strengen Unparteilichkeit ist nach dem Bundesarbeitsgericht der Wahlvorstand verpflichtet. Er hat sein Verhalten, insbesondere die Anfertigung der Stimmzettel, so einzurichten, daß der Wähler seine Stimme unbeeinflußt durch die Art und die Mittel des Wahlverfahrens abgeben kann. Werden Stimmzettel verwendet, bei denen die Wahl durch Ankreuzen eines Kreises zu erfolgen hat, und ist einer der mehreren Kreise merklich stärker als der andere ausgedruckt, so stellt dies einen Verstoß gegen den Grundsatz der freien Wahl dar. Der Wähler kann unbewußt gerade diesen Kreis ankreuzen, er kann aber auch die stärkere Ausdruckung erkennen und ihr dann folgen oder sich ihr im Gegenteil widersetzen35• Zu den wesentlichen Vorschriften über das Wahlverfahren hat das Bundesarbeitsgericht auch die Vorschriften über Form und Inhalt der Listen gerechnet. Bei der unrichtigen Angabe der Gruppenzugehörigkeit auf der Liste müsse der Wahlvorstand eine derartige Liste zuu BAG 12, 244 [248 f.] = AP Nr.10 zu § 13 BetrVG = BB 62. 447.

315 BAG, 14. Januar 1969 1 ABR 14/68 -, zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung und im Nachschlagewerk vorgesehen.

17 Festgabe Kunze

258

Gerhard Müller

rückweisen. Ein Anfechtungsgrund sei nur gegeben, wenn der Wahlvorstand dies schuldhaft nicht getan habe 36• Zöllner (SAE 62, 244) ist darin zuzustimmen, daß es bei dieser Begründung letztlich offenbleibt, ob als Wahlanfechtungsgrund die objektive Fehlerhaftigkeit der Liste oder die Verletzung der Prüfungspflicht angesehen wurde. Neumann-Duesberg (Anm. zu AP Nr.10 zu § 13 BetrVG) hält einen objektiven Verstoß für ausreichend. In der eben angeführten Entscheidung vom 14. Januar 1969 - 1 ABR 14/68 heißt es, es komme nicht darauf an, ob der stärkere Ausdruck eines Kreises auf dem Wahlzettel beabsichtigt war und insbesondere der Wahlbeeinflussung dienen sollte. Entscheidend sei, ob dadurch eine Wahlbeeinflussung objektiv möglich gewesen sei. Entsprechend müßte auch eine objektiv unrichtige Angabe über die Gruppenzugehörigkeit auf dem Wahlzettel, wenn sie objektiv für eine Wahlbeeinflussung geeignet ist, zur Anfechtung berechtigen, auch wenn dem Wahlvorstand ein Vorwurf nicht gemacht werden kann. bb) Beeinträchtigung des Wahlrechts Nach § 18 BetrVG kann die Anfechtung der Betriebsratswahl auf eine Beeinträchtigung des aktiven oder passiven Wahlrechts gestützt werden. In den bisher vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streitfällen ging es zumeist darum, ob der Wahlvorstand die Gruppe der leitenden Angestellten nach § 4 Abs.2 Buchst. c BetrVG richtig abgegrenzt oder den Betriebsbegriff des § 3 BetrVG zutreffend angewandt hatte. Damit geht die Bedeutung dieser Rechtsprechung über die eigentliche Wahlanfechtung hinaus und soll insoweit hier nicht behandelt werden. Zum passiven Wahlrecht hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, es stelle einen Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht dar, wenn eine Liste vom Wahlvorstand zu Unrecht zurückgewiesen worden sei. Die Entscheidung betrifft einen Wahlvorschlag, der wegen Verletzung der Sollvorschrift des § 6 Abs.3 WO, nach der die Vorschlagsliste mindestens doppelt soviel Bewerber aufweisen muß als in dem Wahlgang Betriebsratsmitglieder zu wählen sind, vom Betriebsrat zurückgewiesen worden war. Auf dem Wahlvorschlag sei zwar nur ein einziger Bewerber genannt worden, das aber mache den Wahlvorschlag nicht ungültig. Die Vorschlagsliste habe nicht gegen § 8 WO verstoßen. Die Zurückweisung von Vorschlagslisten sei hier abschließend geregelt. Selbst wenn der Wahlvorstand die Vorschlagsliste beanstandet hätte und die Unterzeichner dieser Liste hätten 36

BAG 12, 244 = AP Nr.10 zu § 13 BetrVG = BB 62, 447.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

259

gleichwohl nur einen Kandidaten benannt, hätte der Wahlvorstand diese Liste nicht zurückweisen dürfen37 • Soweit sich das Bundesarbeitsgericht mit einer Beeinträchtigung des aktiven Wahlrechts befaßt hat, ging es im wesentlichen um die Frage, ob diese Beeinträchtigung auf das Ergebnis der Wahl Einfluß haben konnte. f) Kausalität § 18 BetrVG gibt auch bei groben Verstößen gegen Wahlvorschriften kein Anfechtungsrecht, wenn durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflußt werden konnte.

Hier genügt die theoretische Möglichkeit der Beeinflussung des Wahlergebnisses. Es muß nicht der Nachweis erbracht werden, daß der Verstoß gegen Wahlvorschriften tatsächlich auch im konkreten Einzelfall das Wahlergebnis beeinfiußt habe38• Das Gesetz wählt eine negative Formulierung: Die Anfechtung entfällt nur dann, wenn festgestellt werden kann, daß das Wahlergebnis nicht beeinflußt werden konnte. Die vom Bundesarbeitsgericht verwandte positive Formel von der theoretischen Möglichkeit einer Beeinflussung besagt dasselbe, auch hinsichtlich der objektiven Beweislast. Die positive Formulierung legt zwar die Vermutung nahe, die Anfechtung entfalle nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts, wenn die theoretische Möglichkeit der Beeinflussung weder festgestellt noch widerlegt werden könne. Damit würde aber verkannt, daß auch in diesem Falle eine Beeinflussung immerhin möglich war. Das Bundesarbeitsgericht hat demgemäß ausdrücklich entschieden, bei einem derartigen non liquet müsse die Anfechtung Erfolg haben39 • Bei der Anwendung dieser Rechtssätze auf den Einzelfall ist aber immer wieder zweifelhaft, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit als theoretische Möglichkeit ausreicht. Die im Gesetz verwandte negative Formulierung scheint eine nicht so hohe Wahrscheinlichkeit für die Anfechtung genügen zu lassen als die vom Bundesarbeitsgericht gewälte positive Formulierung der theoretischen Möglichkeit. Deutlicher als abstrakte Umschreibungsversuche zeigen die vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fälle, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit verlangt wird. BAG 17, 223 [228] = AP Nr. 11 zu § 13 BetrVG = BB 65, 988. as BAG 12, 244 [252] = AP Nr.l0 zu § 13 BetrVG = BB 62, 447; vgl. auch BAG 16, B [16/17 und 21] = AP Nr.4 zu § 4 BetrVG = BB 64, 963; BAG AP Nr. 13 zu § 18 BetrVG = BB 60, 824. 39 BAG I, 317 [322] = AP Nr.l zu § 18 BetrVG = BB 55, 317 = NJW 55, 766. 37

17°

260

Gerhard Müller

In der bereits angeführten Entscheidung zur falschen Bezeichnung der Gruppenzugehörigkeit heißt es, es sei ohne weiteres denkbar, daß sich Wähler dadurch in ihrer Stimmabgabe hätten beeinflussen lassen, wieviele Arbeiter einerseits und Angestellte andererseits sich auf einer Vorschlagsliste befanden. Eine solche theoretische Möglichkeit zur Beeinflussung des Wahlergebnisses genüge40 • In der oben angeführten Entscheidung zur nachträglichen Verlegung des Wahltermins heißt es, es sei durchaus denkbar, daß ein von der Verlegung nicht benachrichtigter Urlauber, wenn er eine Nachricht über die Verlängerung der Wahlzeit erhalten hätte, doch noch zum Betrieb gekommen wäre, um seine Stimme abzugeben. Das gleiche möge für den einen oder anderen der nicht benachrichtigten Kranken gelten. Vielleicht wäre dann das Wahlergebnis ein anderes gewesen, als es tatsächlich gewesen sei. Denn im Streitfall sei es auf eine einzige Stimme angekommen, da die eine Liste 218, die andere Liste 217 Stimmen erhalten habe. Es sei also möglich, daß, wenn auch nur ein Urlauber oder auch nur ein Kranker eine Mitteilung über die Verschiebung der Wahlzeit erhalten hätte und darauf zur Wahl gegangen wäre, das Wahlergebnis ein anderes gewesen wäre4 t, Zu einem anderen Fall, in dem drei Arbeitnehmer zu Unrecht von der Wahl ausgeschlossen worden waren, hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, es bestünden keine Bedenken anzunehmen, daß diese drei Personen sich in keinem Fall, und zwar weder aktiv noch passiv, an der Wahl beteiligt hätten. Es sei nicht bestritten, daß sie sich nicht einmal danach erkundigt hätten, ob sie in der Wahlliste standen. Zudem hätten sie unwidersprochen das Schreiben der Arbeitgeberin in Empfang genommen, nach dem diese sie zu den leitenden Angestellten zählte. Die Nichtaufführung dieser drei Personen in der Wählerliste sei somit bei Würdigung jener beiden Umstände ohne Einfluß auf das Wahlergebnis geblieben42 • Alfred Hueck wendet in seiner Anmerkung zu AP Nr.4 zu § 4 BetrVG hiergegen ein, es sei in Wirklichkeit nicht auszuschließen, daß die drei Arbeitnehmer dennoch gewählt haben könnten, wenn sie davon Kenntnis erlangt hätten, daß der Wahlvorstand sie entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin als wahlberechtigt ansehe. Es dürfte sich um. einen ausgesprochenen Grenzfall handeln. Die Ausübung des passiven Wahlrechts scheint auch Hueck bei dieser Sachlage als ausgeschlossen anzusehen. Auf die Ausübung des aktiven Wahlrechts kam es bei dem Wahlergebnis nicht an. In der Entscheidung 40 41

42

1873.

BAlG 12, 244 [252] = AP Nr.1O zu § 13 BetrVG = BB 62, 447. BAG AP Nr. 13 zu § 18 BetrVG = BB 60, 824. BAG 16, 8 [17] = AP Nr.4 zu §4 BetrVG = BB 64, 963 = NJW 64,

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

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ist mitgeteilt, daß die eine Liste 172 Stimmen, die andere 133 Stimmen erhalten habe, so daß auf die ersten Listen zwei Mandate, auf die zweite Liste ein Mandat entfielen. Bei dieser Sitzverteilung wäre es auch dann verblieben, wenn die drei Arbeitnehmer die zweite Liste gewählt hätten. Trotz dieses Stimmergebnisses stellt das Bundesarbeitsgericht aber in eben dieser Entscheidung zu einer, ebenfalls von der Wahl ausgeschlossenen Gruppe von Arbeitnehmern fest, es müsse noch geklärt werden, ob nicht der eine oder andere Fahrsteiger wahlberechtigt gewesen sei. Denn das Landesarbeitsgericht habe es als möglich bezeichnet, daß der eine oder andere Fahrsteiger bei der Wahl kandidiert und dadurch vielleicht das Wahlresultat beeinflußt hätte"3. Die Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts ist somit zu unterscheiden. Die Werbekraft eines Kandidaten soll offensichtlich eine Rolle spielen können. Entsprechend heißt es in einer anderen Entscheidung, es sei nicht auszuschließen, daß die Nichtzulassung der Antragsteller zur Wahl das Wahlergebnis insofern beeinflußt habe, als möglicherweise einer der Antragsteller kandidiert hätte und auch gewählt worden wäre"". Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist somit bei einer unberechtigten Versagung des Wahlrechts zunächst zu prüfen, ob der vom Wahlrecht Ausgeschlossene sein aktives oder passives Wahlrecht ausgeübt hätte. Kann die Möglichkeit, daß der Zurückgewiesene sich passiv zur Wahl gestellt hätte, ausgeschlossen werden, nicht aber die Möglichkeit einer aktiven Wahlbeteiligung, so ist weiterhin zu prüfen, ob bei dem Wahlergebnis die Stimmzahl der Zurückgewiesenen das Wahlergebnis beeinflußt haben könnte. Bei eindeutigem Wahlausgang wird dies zu verneinen sein. Besteht dagegen die Möglichkeit, daß der Zurückgewiesene das passive Wahlrecht ausgeübt hätte, so wird das Wahlergebnis in aller Regel hierauf beruhen. Es kann wohl niemals mit ausreichender Sicherheit gesagt werden, wieviele Stimmen der Zurückgewiesene auf sich vereinigt und damit anderen Kandidaten mit dem Ergebnis ihrer Niederlage entzogen hätte. Die Frage nach der Ursächlichkeit stellt sich nicht nur bei der Versagung des Wahlrechts, sondern auch bei anderen Wahlverstößen. So hat das Bundesarbeitsgericht zu einem Fall, in dem die Gruppenzugehörigkeit der Kandidaten in der Wahlliste falsch angegeben war, ausgeführt, es sei durchaus möglich, daß durch die falsche Bezeichnung der Gruppenzugehörigkeit das Wahlergebnis geändert worden sei. Es sei ohne weiteres denkbar, daß sich Wähler dadurch in ihrer Stimmabgabe "3 BAG 16, 8 [21]. BAG 16, 1 [8] = AP Nr. 3

44

zu § 4 BetrVG

=

BE 64, 883.

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Gerhard Müller

hätten beeinflussen lassen, wieviele Arbeiter einerseits und Angestellte andererseits sich auf einer Vorschlagsliste befanden. Eine solche theoretische Möglichkeit zur Beeinflussung des Wahlergebnisses genüge4S • Wie schwierig die Kausalitätsbetrachtungen im Einzelfall werden können, zeigt die bereits angeführte Entscheidung zur Verbindung der Vorabstimmung nach § 13 Abs.2 BetrVG mit einer Abstimmung über eine von § 10 BetrVG abweichende Sitzverteilung gemäß § 12 BetrVG. Das Landesarbeitsgericht habe zu Unrecht erwogen, aus der Tatsache, daß die Antragstellerin, eine der DAG angehörige Gewerkschaft, keine Vorschlagslisten mehr eingereicht habe, nachdem in unzulässiger Weise Gemeinschaftswahlen beschlossen worden waren, folge auf jeden Fall, daß selbst bei Annahme eines Verstoßes gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren die Anfechtung nicht möglich sei. Wenn die Antragstellerin im Hinblick auf das stimmenmäßige übergewicht, das bei gemeinsamer Wahl der Arbeiter und Angestellten die Arbeiterschaft haben würde, von der Aufstellung eigener Vorschlagslisten Abstand genommen habe, so beruhe dies gerade auf dem durch unzulässige Wahlbeeinflussung zustande gekommenen Abstimmungsergebnis in den Vorabstimmungen. Das Landesarbeitsgericht habe nicht auf die Entwicklung abstellen dürfen, die eingetreten sei, nachdem in einem mangelhaften Wahlverfahren Gemeinschaftswahlen und in diesem Falle eine erhöhte Sitzzahl für die Angestellten beschlossen worden sei; es hätte vielmehr prüfen müssen, wie die Betriebsratswahl hätte auslaufen können, wenn es nicht zur Gemeinschaftswahl gekommen, sondern der neue Betriebsrat der gesetzlichen Regel entsprechend in Gruppenwahl gewählt worden wäre. Dann sei es durchaus möglich, daß in diesem Falle die antragstellende Gewerkschaft eigene Wahlvorschläge aufgestellt hätte und mit diesen auch zum Zuge gekommen wäre46 • 3. Wahlnichtigkeit

a) Materielles Recht Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist im BetrVG nicht ausdrücklich geregelt. Bei einer Wahl anfechtung haben die Gerichte für Arbeitssachen dennoch von Amts wegen zu prüfen, ob die Betriebsl'atswahl nichtig ist41 • Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist, was schon eingangs kurz erwähnt wurde, im Interesse des Vertrauens- und 45 46

1086.

BAG 12,244 [252] = AP Nr.l0 zu § 13 BetrVG = BB 62,447. BAG 4, 63 [74/75] = AP Nr.l zu § 19 BetrVG = BB 57, 291 = NJW 57,

47 BAG 15, 235 = AP Nr.6 zu § 3 BetrVG = BB 64, 174 = NJW 64, 1338; BAG 16, 1 = AP Nr.3 zu § 4 BetrVG = BB 64, 883 = NJW 64, 1873.

Das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung der Betriebsratswahl

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Bestandsschutzes gewählter Betriebsräte nur ausnahmsweise, und zwar dann anzunehmen, wenn gegen die Wahlvorschriften so grob und offensichtlich verstoßen ist, daß auch der Anschein einer Wahl nicht mehr vorliegt48. Dabei kommt es auf den Eindruck eines Betrachters an, der die Betriebsinterna kennt49• Von einem offensichtlichen Verstoß gegen Wahlvorschriften könne bei der Versagung des aktiven und passiven Wahlrechts zur Betriebsratswahl nicht gesprochen werden, wenn ernsthafte und erst nach näherer überlegung von der Hand zu weisende überlegungen zu der Entscheidung des Wahlvorstandes geführt hätten. Außerdem spräche es gegen die Offensichtlichkeit eines Verstoßes, wenn die Ansicht des Wahlvorstandes von den beiden Vorinstanzen gebilligt worden seir.o. Entsprechend hat das Bundesarbeitsgericht in steter Rechtsprechung ausgeführt, wenn der Kreis der Wahlberechtigten wegen einer Verkennung des Betriebsbegriffes vom Wahlvorstand unrichtig gezogen worden sei, begründe dies in der Regel keine Nichtigkeit51• Daraus folgt aber nicht, daß der Wahlvorstand bei der Aufstellung der Wählerliste willkürlich oder leichtfertig verfahren darf. Das zeigen die Ausführungen in der zuletzt genannten Entscheidung (BAG 15, 235 [241]). Wenn die elf Außendienstmitarbeiter entgegen einer etwa zehnjährigen übung nunmehr von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen worden seien, so genüge das, um die Nichtigkeit der Wahl erkennen zu lassen. Hier habe erheblich mehr vorgelegen als eine Begriffsverkennung. Hinsichtlich der elf Außendienstmitarbeiter sei vielmehr im gesamten Verlauf des Verfahrens keine auch nur halbwegs plausible Erklärung für das mit einer alten Tradition brechende Verhalten des Wahlvorstandes gegeben worden. Angesichts dieses Sachverhalts habe jeder objektive Beobachter der Vorgänge zu der Auffassung kommen müssen, daß hier in hohem Maße willkürlich und ordnungswidrig vorgegangen worden sei. Das habe die Nichtigkeit der Wahl zur Folge, ohne daß es darauf ankomme, ob hierdurch das Wahlergebnis beeinflußt worden sei. Letztere Frage spiele nur im Falle der Wahlanfechtung eine Rolle. Im Falle der Nichtigkeit kann von einer Wahl und damit von einem Wahlergebnis nicht gesprochen werden. Damit stellt sich im Falle der Nichtigkeit die Frage nach der Beeinflussung des Wahlergebnisses 48 BAG 15, 1 [6] = AP Nr.3 zu § 4 BetrVG = BB 64, 883 = NJW 64, 1873; BAG I, 317 [319] = AP Nr.l zu § 18 BetrVG = BB 55, 317 = NJW 55, 766. 49 BAG 15, 235 = AP Nr.6 zu § 3 BetrVG = BB 64, 174 = NJW 64, 1338. 150 BAG 16, 1 [617] = AP Nr.3 zu § 4 BetrVG = BB 64, 883 = NJW 64, 1873. 151 BAn 14, 82 [88] = AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG = BB 63, 601 = NJW 63; 1325; BAG 15,235 = AP Nr.6 zu § 3 BetrVG = BB 64, 174 = NJW 64, 1338.

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überhaupt nicht. In diesem Sinne dürfte die angeführte Entscheidung zu verstehen sein. Entsprechend ist bei einer nach § 19 Abs. 2 BetrVG unzulässigen Wahlbeeinflussung die Wahl nur dann nichtig, wenn eine so grobe Wahlbeeinflussung vorliegt, daß auch von dem Anschein einer Wahl überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann52• b) Verfahren

Die Wahlnichtigkeit kann betriebsverfassungsrechtlich von jedermann, ohne daß eine Beschränkung hinsichtlich Form und Frist bestünde, jederzeit geltend gemacht werden53 • Hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen und der Zulässigkeit des Beschlußverfahrens ist das Erforderliche bereits unter Ziff. 1 gesagt. 4. E1':gebnis

Insgesamt betrachtet vermittelt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Anfechtung der Betriebsratswahl den Eindruck, daß die gesetzliche Regelung sich durchaus bewährt hat. Soweit das Gesetz Raum für Zweifel läßt, konnte die Rechtsprechung weitgehend Klarheit schaffen. Bei der Vielfalt des Lebens ist es aber nur zu natürlich, daß auch weiterhin immer wieder Fälle zu entscheiden sind, deren Lösung im Gesetz nur undeutlich vorgezeichnet ist. Bei einer etwaigen Neuregelung der Betriebsverfassung sollte der Gesetzgeber darauf achten, jeweils klarzustellen, inwieweit es auf die Mehrheit der Stimmberechtigten oder die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ankommen soll. Gesetzliche Bestimmungen über die Stellung der Gewerkschaften und des Arbeitgebers im Wahlkampf vor Betriebsratswahlen scheinen mir nicht notwendig. Es wird die Aufgabe der Rechtsprechung sein, hier wirksam unterstützt von der Arbeitsrechtswissenschaft, unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines jeden Einzelfalls zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen.

511

BAG 4, 63 [67] = A.P Nr. 1 zu § 19 BetrVG

53

BAG AP Nr. 3 zu § 27 BetrVG.

1086.

BB 57, 291

=

NJW 57,

Thesen zu Artikel 9 Absatz 3 GG Von Adolt Arndt 1

Die Koalitionsfreiheit gewährleistet die Möglichkeit, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Unmittelbar ein unablösbarer Teil des Bildens ist die Mitgliederwerbung, um durch das zahlenmäßige Anwachsen der Koalition ihre Schlagkraft zu erhöhen. 2

Außerdem gewährleistet die Koalitionsfreiheit darüber hinaus den Kembereich eines Tarifvertragssystems, weil das kollektive Arbeitsrecht ein Ziel der Garantie ist. 3 Das Gegenstück zur Koalitionsfreiheit ist die Koalitions-Unfreiheit. Bis zur Gewerbeordnung 1869 dominierte nicht eine "negative Koalitionsfreiheit", sondern die Koalitions-Unfreiheit; denn es war strafbar, Koalitionen zu bilden. Eine "negative Koalitionsfreiheit" ist ein juristisches Gespenst. 4

Eine Koalition ist frei gebildet, wenn die in Betracht kommenden Arbeitnehmer ihr fernbleiben können. Es ist daher zwar richtig, daß die Freiheit einer Koalitionsbildung die Möglichkeit voraussetzt, ihr fernzubleiben, aber es ist falsch, daraus den Schluß zu ziehen, die Befugnis zum Fernbleiben müsse ebenso mit Rang und Kraft eines Grundrechts ausgestattet werden wie die von der Verfassung gewährleistete Gründungsfreiheit.

5 Art. 9 Abs. 3 GG erwähnt aus gutem Grunde nicht die Möglichkeit, das Bilden einer Koalition zu unterlassen. Denn verfassungskräftig gesichert soll allein das Handeln sein, also die Beteiligung an der Koalition.

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AdolfAmdt

6 Das sogenannte Fernbleiberecht - richtiger gesagt: die rechtliche Möglichkeit, sich nicht an einer Koalition zu beteiligen - genießt Schutz nur nach Maßgabe der verfassungsmäßigen Ordnung. Denn unmittelbar durch Verfassungsrecht sichert Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich das Verwirklichen einer Koalition, nicht ihre Nicht-Verwirklichung. Es wäre sinnwidrig, der Koalitionsfreiheit als einzigem Grundrecht ausdrücklich eine Drittwirkung beizulegen und Abreden für nichtig, Maßnahmen für rechtswidrig zu erklären, welche das Recht, eine solche Vereinigung zu bilden, einschränken oder zu behindern suchen, gleichwohl aber dem, der durch ein Fernbleiben von einer Koalition am meisten zu ihrer Behinderung beiträgt, dafür noch verfassungsrechtlichen Schutz einzuräumen. 7

Die Grundrechtsnormen der Verfassung sind Grundwert-Entscheidungen. Der Art. 9 Abs. 3 GG konstituiert die Grundentscheidung, daß Koalitionen von Wert sind und sie deshalb als Verfassungsgüter zu schützen sind. Die Entscheidung, daß es für die Gemeinschaft wertvoll ist, die Koalitionsfreiheit durch das Bilden von Koalitionen zu verwirklichen, würde sinnlos, wollte man behaupten, es sei ebenso wertvoll, die Koalitionsfreiheit nicht zu verwirklichen, also keine Koalitionen zu bilden.

8 Der Verfassunggeber sah sich außers~nde, zeitgerecht auch die sozialen Grundrechte zu konstituieren. Deshalb proklamierte er in Art. 20 Abs. 1 GG das Sozialstaatprinzip. Dieses Prinzip bildet eine Legitimitätsgrundlage des Staates. Ihm ist für die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. 9

Der Entwicklung der Sozialstaatlichkeit soll es dienen, daß der Staat einen Raum der Gesetzgebung frei ließ, damit die ArbeitnehmerKoalitionen zusammen mit den Arbeitgebern im Bereich der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen selbstverantwortlich Recht setzen können. Die Chance der Arbeitnehmerschaft, durch Gegenmacht zur Macht der Arbeitgeber und notfalls mittels des Arbeitskampfes auf dem Wege zum Sozialstaat fortzuschreiten, steht dem Risiko gegenüber, daß die beteiligten Arbeitnehmer selber ihre Koalition (ihre Gewerkschaft) gründen und funktionsfähig machen müssen und daß sie im Arbeitskampf ihre ganze Existenz einzusetzen haben. Wird die Ausgewogen-

Thesen zu Artikel 9 Absatz 3 GG

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heit von Chance und Risiko gestört, indem man die sogenannte Tarifmacht verkürzt, so belastet man die Arbeitnehmerschaft evident mit einer Ungerechtigkeit. Der Staat geriete in Gefahr, eine seiner Legitimitätsgrundlagen zu verlieren.

10 Arbeitgeber und Arbeitnehmer können nicht formal "gleich"behandelt werden. Darum ist Schutzgut allein oder doch in allererster Linie die Arbeitnehmer-Koalition, d. h. die Gewerkschaft. Die Koalitionsfreiheit der Arbeitgeber dient mit dazu, die Wirksamkeit der ArbeitnehmerKoalition zu erleichtern. Die Koalitionsfreiheit ist keine Erfindung des Gesetzgebers, sondern eine Selbsthilfe der Arbeitnehmerschaft, die von ihr unter Entbehrungen mit Müh und Not in jahrzehntelangem Ringen erkämpft wurde. Ihre geschichtliche Voraussetzung ist die Übermacht der Kapitalgeber (Arbeitgeber) infolge ihres Eigentums an den Produktionsmitteln. Zur Selbsthilfe der Arbeitnehmerschaft will der Staat durch die Grundwert-Entscheidung des Art. 9 Abs.3 GG beitragen. 11 Arbeitnehmerschaft und Gewerkschaft sind nicht voneinander trennbar. In ihrer Gewerkschaft als ihrer Selbstdarstellung sind die Arbeitnehmer koaliert. Die Koalitionen können um so mehr ihrem Sinn entsprechen, je stärker sie, auch an Mitgliederzahl, sind. Das Werben um Mitglieder ist unmittelbar eine Verwirklichung der Koalitionsfreiheit, also ein wesentlicher und unablösbarer Bestandteil des ständigen Koalitionsgründens.

12 Sollen die Koalitionen (Gewerkschaften) nicht infolge Mitgliederschwundes zur Erfüllung ihrer Aufgaben unfähig werden, darf ihnen nicht die Freiheit beschnitten werden, für ihre Mitglieder Vorteile auszuhandeln, die denen entgehen, die entgegen dem Solidaritätsprinzip der Koalition fernbleiben. Die Koalitionszugehörigkeit ist ein sachgerechtes und zulässiges Merkmal, das beim Arbeitsentgelt Berücksichtigung finden darf.

Koalitionseigenschaft und Tariffähigkeit Zu einigen kontroversen Grundfragen

Von WilheZm Reuß Das Thema verlangt eine Stellungnahme zu zwei Fragen: Welche Koalitionen sind tariffähig? und: Können andere Gebilde als Koalitionen tariffähig sein? I. Der Koalitionsbegriff

Bevor diese Fragen beantwortet werden können, muß der Begriff der Koalition klargestellt werden. Wie über so vieles im kollektiven Arbeitsrecht herrschen auch hierüber Meinungsverschiedenheiten. Nipperdey, der bis zur 6. Auflage (einschließlich) seines Lehrbuchs1 unterschieden hat zwischen Koalitionen im weiteren Sinne, wozu alle Vereinigungen und Verabredungen zur gemeinsamen Wahrnehmung der Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmer-Interessen zur Regelung der allgemeinen Arbeitsbedingungen gehören, und Koalitionen im engeren Sinne, zu denen er nur Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften rechnen wollte, hat in der 7. Auflage2 diese Auffassung ausdrücklich aufgegeben und erkennt unter Zugrundelegung der phänomenologischen Methode nur die auf Dauer angelegten freiwillig in privatrechtlicher Form gebildeten Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Tarifverträge abzuschließen sich zur satzungsgemäßen Aufgabe stellen, als Koalitionen an, also die von ihm früher als Koalitionen im engeren Sinne bezeichneten. Dietz3 rechnet zu den Koalitionen alle Zusammenschlüsse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur gemeinsamen Interessenwahrung, auch die nur zu vorübergehenden Zwecken gebildeten, bemerkt aber dazu, daß es eine andere Frage ist, ob "nur auf die Dauer gerichteten, also körperschaftlich organisierten Verbände 1 2

Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., Bd. H, S. 57 ff.

a.a.O., S. 82, so schon in "Zur Methode der Bestimmung des KoaUtionsbegriffs, Koalition und Arbeitskampf" , RdA 1964, S. 361 f. und Hueck-Nipperdey, Grundriß des Arbeitsrechts, 4. Aufl., S. 166 ff. 3 Dietz, Die Koalitionsfreiheit, Bettermann-NipperdeY-Scheuner. Die Grundrechte, Bd.III 1, S. 417 ff. (426 ff.).

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tariffähig sind"·. Nach Richardi5 , der sich ausdrücklich gegen die phänomenologische Methode wendet6 , braucht die Koalition "sich nicht einmal eine korporative Verfassung zu geben, sondern kann ohne besondere Organisation zu einem vorübergehenden Zweck gebildet werden". Neuerdings hat Ramm7 den Koalitionsbegriff eingehend behandelt, an Hand der historischen Entwicklung der Koalitionsfreiheit die unterschiedlichen Auffassungen des Koalitionsbegriffs untersucht mit dem Ergebnis, daß es einen einheitlichen Koalitionsbegriff nicht gäbe. Es bestehe die Gefahr, daß die juristische Terminologie als Werkzeug der Rechtsfortbildung in bestimmter politischer Richtung mißbraucht werde, man tue daher gut daran, "auf die Begriffe Koalitionsfreiheit und Koalition gänzlich zu verzichten". Diese Gefahr besteht sicher, aber indem man sie erkennt, kann man sie durch klare Begriffsbildung mit eindeutiger Terminologie vermeiden, ohne das Kind mit dem Bad auszuschütten. Ich glaube, daß man weder der Sprache noch der juristischen Konstruktion Gewalt antut, wenn man unter Beachtung der historischen Entwicklung und des Grundgesetzes unterscheidet zwischen Koaütionen im engeren und im weiteren Sinne, wie das auch Nipperdey früher getan hat und wie es die h. M. wohl auch heute noch tut. Rechtlich differierende Begriffe unter einem gemeinsamen Oberbegriff mit einem die Unterschiedlichkeit kennzeichnenden' Zusatz (im engeren, im weiteren Sinne) zu verwenden, ist sicher sprachlich nicht besonders schön, aber angesichts der Armut unserer Sprache an entsprechenden Vokabeln unvermeidbar und daher insoweit hinzunehmen, als Einigkeit über den Begriffsinhalt geschaffen wird. Es handelt sich mehr um eine ästhetische als um eine logische oder juristische Frage. Danach ist als Koalition im weiteren Sinne jeder Zusammenschluß zu bezeichnen, der das Grundrecht des Art. 9 III GG, die Koalitionsfreiheit, in Anspruch nehmen kann, also alle freien Zusammenschlüsse jeweils von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern zum Zwecke gemeinsamer Wahrnehmung ihrer Interessen an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen, ohne Rücksicht darauf, ob sie auf Dauer angelegt sind oder nur ein Ziel von vorübergehender Bedeutung anstreben, ob sie eine besondere Organisation besitzen, weiter ohne Rücksicht darauf, ob sie Tarifverträge abschließen wollen (und können) oder ob sie in anderer Weise kollektiv ihre Interessen vertreten wollen, ob sie arbeitskampfwillig sind oder nicht. Voraussetzung ist nur, daß sie frei, d. h. ohne Zwang und ohne sonstigen unausweichlichen Druck gebildet sind, daß sie privatrechtlich • 8.a.0., S.427, 436. 11 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, S. 72. 6 a.a.O., S.5 f. 7 Ramm, Der Koalitionsbegrift', RdA 1968, S. 412 ft'.

Koalitionseigenschaft und Tariffähigkeit

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organisiert sind8 , daß sie gegnerfrei und unabhängig sind (vom Gegner, wie von allen außenstehenden Stellen, insbesondere vom Staat)9. Koalitionen im engeren Sinne dagegen sind die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften als die Koalitionen, die im Arbeitsleben die entscheidende Rolle spielen, die Nipperdey jetzt ausschließlich als Koalitionen bezeichnet wissen will. Am Beispiel der Handwerksinnungen kann man, glaube ich, gut die Kriterien einer Koalition darlegen. Ob die Handwerksinnungen (und Innungsverbände) Koalitionen sind, ist strittig. Die Frage ist entstanden, da die Handwerksordnung10 ihnen Tariffähigkeit beilegt. Da sie als - formal - freiwillige Zusammenschlüsse von selbständigen Handwerkern nach dem Willen des Gesetzgebers und dem Wortlaut des Gesetzes sollen Tarifverträge abschließen können, liegt der Gedanke nahe, sie als Koalitionen anzusehen. Dafür spricht, daß - jedenfalls formalrechtlich - der Beitritt zu einer Innung freiwillig ist, und daß sie neben anderen Funktionen auch sollten Arbeitgeberinteressen vertreten können. Dagegen freilich spricht, daß die Innungen öffentlichrechtliche Körperschaften sind, daß der Beitritt aus wirtschaftlichen Gründen (fast) unausweichlich ist, daß sie eine gesetzliche MonopolsteIlung haben, gesetzlichen Normativbestimmungen unterliegen und unter Staatsaufsicht stehen, also nicht unabhängig sind. Das BVerfGl l läßt die Frage, ob die Innungen Koalitionen sind, offen, bejaht aber immerhin die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesbestimmung, die ihnen Tariffähigkeit beilegt. Nipperdey hat in der 6. Auflage seines Lehrbuchs12 die Meinung vertreten, daß die Handwerksinnungen als freiwillige Vereinigungen selbständiger Handwerker u. a. mit der Aufgabe, Tarifverträge abzuschließen, Arbeitgeberverbände, also Koalitionen seien, diese Auffassung aber in der 7. Auflage - mit Recht aufgegeben. Auch Dietz18 leugnet den Koalitionscharakter der Innungen, neuerdings auch Richardi1~. Es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß der Gesetzgeber diese Organisationen als Berufsverbände selbständiger Handwerker auch in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber angesehen hat, also als Koalitionen auf Arbeitgeberseite. Ebenso das 8 .. Öffentliche Verbände können wegen der mit dieser Rechtsform verbundenen Staatsaufsicht keine Koalitionen sein", so Hueck-NippeTdell, a.a.O., Bd. II, S. 83. 9 Das Nähere dazu bei Reuß, Die Stellung der Koalitionen in der geltenden Rechtsordnung, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. I, S. 144ft. 10 §§ 54 III Nr. 1, 82, S.2 Nr.3 i. d. Fass. vom 28. 12. 1965. 11 BVerfG vom 19. 10. 1966 E 20, S.312. 12 Hueck-NippeTdey. a.a.O.. S. 63. 13 Dietz, a.a.O., S. 439. 14 Richardi, a.a.O., S. 76 f.

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BAG15 in ständiger Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum16• Es ist aber äußerst fraglich, ob dem Gesetzgeber diese Absicht gelungen ist17•

IL Notwendige Voraussetzungen für die Koalitionseigenschaft sind nach teilweise einhelliger, teilweise wenigstens überwiegender Meinung insbesondere Freiheit der Bildung, Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, privatrechtliche Organisationsform und Unabhängigkeit nach außen. Es ist eine verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung des freiheitlichen demokratischen Sozial- und Rechtsstaats nach dem GG, daß die allgemeinen Arbeitsbedingungen nicht wie in Diktaturen (z. B. im "Dritten Reich", in der DDR) vom Staate festgesetzt werden, sondern daß sie in staatsfreier autonomer Sphäre sich durch gemeinsames Handeln freier Berufsverbände bilden. Eine freie Gesellschaftsordnung mit freier Wirtschaft, mit Gewerbefreiheit, freier Preisbildung, Wettbewerbsfreiheit und freier Berufswahl enthält auch den Grundsatz der freien Lohnbildung (wie überhaupt der freien Entwicklung der allgemeinen Arbeitsbedingungen), ebenso wie auch grundsätzlich die Arbeitskampffreiheit. Die Freiheit der Koalitionen ist einer der tragenden verfassungsrechtlichen Grundsätze unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung. Das ist so allgemein anerkannt, daß weder nähere Ausführungen noch die Angabe von "Belegstellen" erforderlich sind17a• 1. Eine Freiheit der Bildung von Koalitionen setzt nicht nur voraus, daß kein Gesetz und keine hoheitliche Maßnahme die Bildung vornimmt, anordnet, verbietet oder verhindert, sondern auch, daß kein sonstiger rechtlicher oder wirtschaftlicher Zwang angewendet wird. Die 15 BAG vom 6. 12. 1956 AP Nr. 8 zu § 616 BGB, vom 22.2. 1957 AP Nr.2 zu § 2 TVG, vom 19.12.1958 AP Nr.3 zu § 2 TVG, vom 27.1. 1961 AP Nr.26 zu § 11 ArbGG und weitere. 16 Hueck-Nipperdey-Stahlhacke, TVG 4. Aufi., § 2 Anm.21, S. 15011.; Nikisch, a.a.O., Bd. H, 2. Aufi., S. 865 11.; HeUwig, ArbRBl. Handwerksordnung I unter C I; Schnorr, RdA 1955, S. 7 ff.; Alfred Hueck, RdA 1954, S.21. 17 Siehe meine eingehenden Ausführungen ArbuR 1963, S.l ff. und 1967, S.l ff. 17a "Notstandsmaßnahmen" (im weitesten Sinne) sind hier außer Betracht gelassen, also insbesondere die Preisregelungen auf Grund von § 2 des Preisgesetzes in der den Notstandscharakter der Maßnahme kennzeichnenden Beschränkung gemäß BVerfG E 8, 274 - "zur Abwehr ernsthafter, für den gesamten Preisstand relevanter Störung unerläßUch" -, Marktordnungsmaßnahmen auf dem Ernährungssektor, insbesondere der Landwirtschaft, Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem Gesetz vom 11.1. 1952 (BGBL I S.17), dessen § 1 den Notstandscharakter betont, woraus erhellt, daß die Freiheit der Lohn- und Preisbildung unserer verfassungsmäßigen Grundsatzregelung entspricht.

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Bildung von Innungen ist aber nicht frei. Nach § 47 der alten § 52 der neuen Fassung der Handwerksordnung kann sich für jeden Handwerkszweig für den gleichen Bezirk nur eine Innung bilden. Sie hat eine gesetzliche Monopolstellung und sie bedarf zu ihrer Errichtung der Genehmigung der Staatsaufsichtsbehörde. 2. Auch die Mitgliedschaft muß nicht nur fonnalrechtlich freiwillig, d. h. ohne Rechtszwang sein, sondern es darf auch kein wirtschaftlicher (nahezu) unausweichlicher Zwang zum Beitritt (oder Verbleib) ausgeübt werden. Zwar besteht bei der Innung keine unmittelbare gesetzliche Zwangsmitgliedschaft, aber aus zwei Gründen scheint mir die nach unserer verfassungsmäßigen Ordnung erforderliche Freiheit der Koalition nicht gegeben zu sein. Einmal, weil der Handwerker - von Ausnahmefällen abgesehen (z. B. Flickschuster mit ausreichendem Bekanntenkreis als Auftraggeber) - normalerweise aus wirtschaftlichen Gründen auf die Förderungs- und Betreuungsmaßnahmen - die z. T. aus öffentlichen Subsidien stammen -, der Innung angewiesen ist, also unter wirtschaftlichem Zwang handelt, und zum anderen, weil der Gesetzgeber die "freiwillige" Mitgliedschaft bei der Innung als öffentlich-rechtliche Körperschaft der Wirtschaftsverwaltung gekoppelt hat mit der Mitgliedschaft beim "Arbeitgeberverband". Der Handwerker, der einer Innung "freiwillig" beitritt, kann seine Mitgliedschaft nicht auf die Wirtschaftsfunktionen der Innung beschränken und die des Arbeitgeberverbands ausschließen. Der Handwerker, der als Unternehmer der Innung in ihrer Eigenschaft als Selbstverwaltungsorganisation zur Förderung der wirtschaftlichen Angelegenheiten beitritt, ist von Gesetzes wegen als Arbeitgeber zwangsweise Mitglied des Arbeitgeberverbands. Er kann seine Mitgliedschaft weder beim Eintritt auf seine Unternehmereigenschaft beschränken - während man in der übrigen Wirtschaft nach freiem Willen als Unternehmer Mitglied einer Wirtschaftsvereinigung werden kann, ohne als Arbeitgeber gleichzeitig Mitglied des entsprechenden Arbeitgeberverbands werden zu müssen noch kann er einen Teilaustritt erklären, d. h. als Unternehmer weiter Destinatär der wirtschaftsfördernden Institution bleiben, als Arbeitgeber aber ausscheiden, um der Tarifgebundenheit zu entgehen. Bei Handwerkern will das Gesetz eine partielle gesetzliche Zwangsmitgliedschaft im Arbeitgeberverband schaffen. Das aber ist unmöglich. Das BVerfG hält es für verfassungsrechtlich unbedenklich, bei einer Organisationsunwilligkeit aus Zweckmäßigkeitsgründen dem "freiwilligen" Beitritt mit einem gewissen Druck nachzuhelfen. Es sagt: "Erfahrungsgemäß gelingt es schwer, die zahlreichen kleinen Handwerker mit nur einem oder wenigen Arbeitnehmern zum Beitritt zu einem besonderen Arbeitgeberverband zu bewegen.... Seiner Innung beizutreten, ist dagegen auch der kleine Handwerker wegen der damit 18 Festgabe Kunze

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verbundenen sonstigen Vorteile, insbesondere der beruflichen Förderung, eher geneigt." Das BVerfG geht also zunächst stillschweigend davon aus - ohne diese Frage zu prüfen -, daß eine gesetzliche Monopolstellung der wirtschaftsfördernden öffentlich-rechtlichen Innung verfassungsrechtlich gültig seilS, daß also ein gesetzlicher Organisationszwang derart zulässig sei, entweder dem Monopolverband beizutreten oder unorganisiert zu bleiben und so auf die Wirtschaftsförderung zu verzichten. Von dieser - höchst problematischen - Unterstellung ausgehend läßt dann das BVerfG einen gesetzlichen Zwang zu, "wegen der damit (mit der Mitgliedschaft bei der Innung) verbundenen sonstigen Vorteile, insbesondere der beruflichen Förderung" die vom Arbeitgeberverband geschlossenen Tarifverträge gegen sich gelten zu lassen, ihnen also gegen ihren Willen unterworfen zu sein. Eine sehr bedenkliche Argumentation des BVerfG ist es, wenn es meint, eine gewisse Freiheit in dieser Beziehung bleibe dem einzelnen Handwerker, denn "rechtlich bleibt die Bildung und die Betätigung von Arbeitgeberverbänden des Handwerks frei. Auch der einzelne Handwerker ist rechtlich nicht gehindert, der Innung fernzubleiben und sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen". Das heißt also: Der einzelne Handwerker hat nur die Freiheit, die "Vorteile, insbesondere der Berufsförderung" als Innungsmitglied zu genießen und den tariflichen Arbeitsbedingungen unterworfen zu sein, oder von seinem Recht der negativen Koalitionsfreiheit Gebrauch zu machen, sich nicht dem Arbeitgeberverband Innung anzuschließen und dafür den Preis zu bezahlen, von den wirtschaftsfördernden Maßnahmen der öffentlichrechtlichen Wirtschaftsverwaltungskörperschaft ausgeschlossen zu sein. Das bedeutet: Der kleine Handwerker hat die Wahl, im Konkurrenzkampf zu unterliegen und dem Arbeitgeberverband der Monopolinnung fernzubleiben oder sich zu fügen und das Grundrecht der Koalitionsfreiheit als Illusion anzusehen. Das BVerfG erkennt ausdrücklich an, daß "diese in der Handwerksordnung angelegte Koppelung der Zugehörigkeit zu einem tariffähigen Verband mit den Vorteilen einer öffentlich-rechtlichen Berufsorganisation für den einzelnen Handwerker einen gewissen Druck bedeutet". Wenn es meint, die Tariffähigkeit sei eine der Innung verliehene Rechtsmacht, von der Gebrauch zu machen sie nicht gezwungen sei, demzufolge sie auch davon absehen könne, Tarifverträge abzuschlie18 Reuß, Verfassungsrechtliche Grundsätze zum Organisationsrecht der Wirtschaft; DVBI 1953, S. 684 ff.; ders., Die Organisation der Wirtschaft; Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III 1, S.109, 125, 145 ff.; ders., ArbuR 1958, S.324; ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht I, in: v. Brauchitseh, Verwaltungsgesetze des Bundes und der Länder, S. 75 f., daselbst Anm. V zu § 47 Handwerksordnung (a. F.), S.697, 700 und Anm. Ir zu § 73 HandwO. (a. F.), S.715.

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ßen, und die Innungsmitglieder könnten dann freie Arbeitgeberverbände bilden, so ist das zwar theoretisch richtig, löst aber dennoch das Problem nicht. Abgesehen davon, daß es so etwas in der Bundesrepublik nicht gibt, kann das einzelne Innungsmitglied nicht verhindern, daß die Innung Tarifverträge abschließt, auch gegen seinen Willen. Dann ist eben dadurch seine Koalitionsfreiheit beseitigt. Da aber dem BVerfG offenbar selbst nicht recht wohl dabei ist, einen solch massiven Druck zum Beitritt zu einem Arbeitgeberverband als mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit noch vereinbar anzuerkennen, hat es die Tariffähigkeit hilfsweise auf eine besondere gesetzliche "Verleihung" gestützt. 3. Die früher einhellige und wohl auch heute noch (nach Erlaß der Handwerksordnung) überwiegende Auffassung geht dahin, daß Koalitionen nur in privatrechtlicher Gestalt möglich sind. Diese Forderung steht im Zusammenhang mit der nach Unabhängigkeit. Koalitionen müssen nicht nur vom Gegner, sondern auch vom Staate unabhängig sein. Eine öffentlich-rechtliche Organisationsform ermöglicht aber sowohl eine hoheitlich bestimmte AufgabensteIlung wie auch Staatsaufsicht. Normativbestimmungen für di~ Satzung, Genehmigungsvorbehalte einer Staatsaufsichtsbehörde, Rechts- und erst recht Zweckmäßigkeitskontrolle stehen im diametralen Gegensatz zu der Forderung nach Koalitionsfreiheit. Das habe ich in mehreren Arbeiten, zuletzt noch in meiner Kritik an der Entscheidung des BVerfG19 dargelegt. Jetzt haben diese Bedenken auch Nipperdey zur Aufgabe seiner früheren Auffassung veranlaßt20• Ein weiterer Gesichtspunkt scheint mir der zu sein, daß das Gesetz eine Fülle von Funktionen nennt, die zu den Aufgaben der Innung - als öffentlich-rechtlicher Körperschaft der Wirtschaftsverwaltung - gehören, wie insbesondere die Förderung des jeweiligen Handwerkszweiges unter besonderer Betonung der Aufgabe2 1, ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern anzustreben. Damit verträgt sich nicht die einseitige Interessenwahrung der Meister gegenüber den Gesellen, wie das Beispiel eines Arbeitskampfes in Gestalt einer Aussperrung der Arbeitnehmer zeigt. Man kann auch nicht daran Genüge nehmen, daß gegenüber aufsichtsbehördlichen Maßnahmen eine verwaltungsgerichtliche Nachprüfung möglich ist. Einmal gibt die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe der Aufsichtsbehörde einen außerordentlich weiten Rahmen, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Gesichtspunkte durchzusetzen und unter 19 Siehe Anm. 18 und ArbuR 1963, S. 1 ff., wo die rechtlichen und verwaltungsmäßigen Unmöglichkeiten aus einer Staatsaufsicht eingehend dargelegt sind; weiter "Zur Frage der Tariffähigkeit von Innungen und Innungsverbänden", ArbuR 1967, S. 1 ff. 20 Hueck.-Nipperdey, Lehrbuch II, 7. Aufl., S. 85. 21 § 49 I Nr.2 a. F. = § 54 I Nr.2 n. F.

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dem Gesichtspunkt - oder Vorwand - einer "bloßen Rechtsaufsicht" eine höchst intensive sachliche Kontrolle und Steuerung der Koalition zur Erschwerung bis Lahmlegung regierungsunbeliebter Arbeitgeberverbände (und Gewerkschaften) auszuüben. Zum andern nützt eine in letzter Instanz vom BVerwG ergehende, die aufsichtsbehördliche Maßnahme aufhebende Entscheidung nach zwei oder drei Jahren nichts mehr. Von einer Freiheit der Koalition kann dabei keine Rede sein. Der Auffassung von Dietz22 , daß Koalitionen gegenüber eine Staatsaufsicht in Form einer bloßen Legalitätskontrolle zulässig sei, kann ich nicht folgen. Ich halte die Freiheit der Koalitionen gerade gegenüber staatlichen Eingriffsmöglichkeiten für einen der tragenden Grundsätze für die Verwirklichung des Grundrechts aus Art. 9111 GG. Mit einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie nach dem GG sind nur freie Koalitionen verträglich; staatsabhängige, staatlich gelenkte oder kontrollierte "Koalitionen" passen nicht in dieses Bild. Sie sind Bestandteile nichtdemokratischer Ordnungen wie der DDR oder Spaniens. Das BVerfG hat in der mehrfach erwähnten Entscheidung zu dieser Frage leider nicht Stellung genommen, obwohl diese Frage hätte entschieden werden müssen. Die erhobenen Bedenken bestehen also unwiderlegt weiter. 4. Koalitionen sind somit nach unserer Rechtsordnung autonome Zusammenschlüsse jeweils von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern mit der selbstgesetzten Aufgabe der kollektiven Mitwirkung bei der Gestaltung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, Zusammenschlüsse, die sich frei bilden und unabhängig von außenstehenden Stellen, insbesondere vom Staat, die gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder zu wahren sich zur Aufgabe machen.

111. Die verschiedenen Arten von Koalitionen Diese - weite - Definition besagt nur, daß es sich bei Koalitionen um Zusammenschlüsse handelt, die das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 111 GG besitzen. Innerhalb dieser gibt es nach verschiedenen Gesichtspunkten differierende Arten, die gemäß ihrer Eigenart rechtsunterschiedlich zu behandeln sind. Angesichts ihrer Mannigfaltigkeit gibt es nur den einen für alle geltenden Rechtssatz, daß sie das Grundrecht nach Art. 9 111 GG genießen, also das Recht auf freien - nicht vorgeschriebenen, erzwungenen, aber auch nicht behinderten - Zusammenschluß haben, daß ihre Bildung und Mitgliedschaft frei sein muß, daß sie die rechtliche Anerkennung ihrer Existenz und 22

Dietz, a.a.O., S. 439.

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ihrer gesetzmäßigen Betätigung genießen. Im übrigen aber unterliegen sie teilweise, je nach ihrer Eigenart unterschiedlichen Rechtssätzen. Aus ihrer Einordnung unter den Oberbegriff "Koalitionen" kann nicht gefolgert werden, daß für sie nur unterschiedslos einheitliches Recht gälte. Da sind zunächst zu unterscheiden die nur für einen vorübergehenden Zweck ad hoc gebildeten Zusammenschlüsse von den auf Dauer angelegten. Ein Beispiel der ersten Art ist der spontane "wilde" Streik einer Gruppe von Arbeitnehmern23 , der ohne Mitwirkung (Führung, Billigung) einer Gewerkschaft geführt wird; auf Dauer angelegte Koalitionen sind die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften. Man bezeichnet die auf Dauer angelegten Koalitionen als "Berufsverbände", - man mag sie "Koalitionen in einem engeren Sinne" nennen. Die Rechtssätze, die sich in Ansehung der Dauerorganisationen entwickelt haben, die das Bestehen von auf Dauer angelegten Organisationen zur Voraussetzung haben (z. B. die Tariffähigkeit), gelten nicht für ad-hocZusammenschlüsse, mag auch im einzelnen strittig sein, welche Rechtssätze allgemein und welche nur für die Koalitionen in diesem engeren Sinne gelten (z. B. hinsichtlich der Frage der Legalität von Kampfmaßnahmen, insbesondere des "wilden" Streiks). Man muß die auf Dauer angelegten Koalitionen weiter - nicht aus Freude am theoretischen Systematisieren, sondern im Hinblick auf die gegebenenfalls unterschiedliche rechtliche Behandlung - einteilen in tariffähige, tarifwillige, arbeitskampfbereite; ihre Kennzeichnung ist durch einen entsprechenden Zusatz unschwer und eindeutig möglich, so daß die von Ramm befürchtete Gefahr, zu Unrecht aus der Sammelbezeichnung "Koalition" generalisierend einheitliche Rechtsfolgen abzuleiten, vermeidbar ist. Da - insbesondere im Hinblick auf das hier zu behandelnde Thema der Tariffähigkeit - die tariffähigen Koalitionen von besonderem Interesse sind, kann man diese als "Koalitionen im engsten Sinne" bezeichnen, wenn man unter Einteilungsgesichtspunkten eine besondere Kennzeichnung für nötig oder zweckmäßig hält. So sind auf Arbeitnehmerseite die tariffähigen und tarifwilligen Gewerkschaften abzugrenzen von den ebenfalls als "Gewerkschaften" bezeichneten Beamtengewerkschaften2 4, welche aus Rechtsgründen in anderer Weise als durch den Abschluß von Tarifverträgen die Interessen ihrer Mitglieder zu wahren sich zur Aufgabe setzen. Sie sind in der Ordnung der Koalitionen zwar "Koalitionen in einem engeren Sinn", nicht aber "im engsten Sinne". 23

"Jeder Streik (auch der wilde) stellt eine Koalierung dar." Ramm, RdA

24

Siehe z. B. § 91 I, S. 1, Bundesbeamtenges. vom 14. 7. 1953 (BGBl. I, S. 551).

1968, S.416.

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IV. Die Tariffähigkeit 1. Grundlagen der Tariffähigkeit sind Art. 9 III GG und als Teilkonkretisierung des autonomen Bereichs -das Tarifvertragsgesetz. Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrags, eine dogmatische Begründung der Tarifhoheit zu liefern, noch die - umstrittene - Rechtsnatur des Tarifvertrags abzuhandeln. Hier soll zu einigen besonders problematischen und kontroversen Fragen Stellung genommen werden: Nicht alle Koalitionen sind tariffähig, welche nicht und warum nicht? Und: Können auch andere Institutionen als Koalitionen tariffähig sein, insbesondere kann ihnen der Gesetzgeber Tariffähigkeit "verleihen"? Dazu genügt die Feststellung, daß nach unserer Rechtsordnung die Koalitionen berufen sind, durch eine besondere Art von Verträgen grundsätzlich mit Wirkung für ihre Mitglieder Regelungen der allgemeinen Arbeitsbedingungen - teils mit nur obligatorischer, teils mit normativer Wirkung - zu schaffen.

2. Nicht alle Koalitionen sind tariffähig. Daß nicht alle Koalitionen tariffähig sind, hat das BVerfG25 klar und überzeugend entschieden. Es sagt: "Gleichwohl kann es nicht der Sinn der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit sein, daß der Gesetzgeber schlechthin jede Koalition zum Abschluß von Tarifverträgen zulassen, also als tariffähig behandeln muß. Geht man nämlich davon aus, daß einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung, unter Mitwirkung der Sozialpartner sein soll, so müssen die sich aus diesem Ordnungszweck ergebenden Grenzen der Tariffähigkeit auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit wirksam werden. Diese Grenzen der Tariffähigkeit zu ziehen, ist an sich eine Aufgabe des gesetzgeberischen Ermessens. Da der Tarifvertrag das Gebiet des privaten Vertragsrechts verläßt und als unabdingbarer Kollektivvertrag normative Wirkung äußert, kann es dem Gesetzgeber nicht gleichgültig sein, zu wessen Gunsten er sich durch die Verleihung der Tariffähigkeit seines Normsetzungsrechts begibt. In der Gestaltung des Tarifsystems, insbesondere in seiner sachgemäßen Fortbildung ist der Gesetzgeber nur dadurch beschränkt, daß mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit zugleich die Institution eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems verfassungsrechtlich gewährleistet ist, dessen Partner frei gebildete Vereinigungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG sein müssen. Dieser mit der Koalitionsfreiheit zugleich gewährleistete Kernbereich des Tarifvertragssystems verbietet es dem Gesetzgeber, die von Vereinigungen frei gewählten Organisationsformen schlechthin oder in entscheidendem Umfang bei der Regelung der Tariffähigkeit unberücksichtigt zu lassen 25

BVerfG vom 18. 11. 1954 E 4, S.96 = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG.

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und auf diese Weise das Grundrecht der Koalitionsfreiheit mittelbar auszuhöhlen. " Da es Aufgabe der Koalitionen ist, durch Tarifverträge eine "sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens" zu schaffen, müssen für die Anerkennung der Tariffähigkeit an die Koalitionen gewisse Anforderungen gestellt werden, die nach Möglichkeit die Durchführung dieser Aufgabe gewährleisten sollen. a) Nicht tariffähig sind daher nach einhelliger Auffassung alle nicht auf Dauer angelegten Koalitionen, da sie keine Gewähr dafür bieten können, daß die sich aus einem Tarifvertrag ergebenden Pflichten (z. B. Friedenspflicht) erfüllt werden; weiter alle Koalitionen, die nicht tarifwillig sind, d. h. alle Koalitionen, die grundsätzlich den Abschluß von Tarifverträgen ablehnen und mit anderen Mitteln ihre kollektiven Interessen wahren wollen; auch alle die Koalitionen, für deren Mitglieder die "allgemeinen Arbeitsbedingungen" nicht privatrechtlich, sondern öffentlich-rechtlich geregelt werden, wie die Beamtengewerkschaften. b) Strittig aber ist, ob nur solche Koalitionen tariffähig sind, die grundsätzlich auch arbeitskampfbereit sind. Es ist die Frage, ob Arbeitskampfbereitschaft Voraussetzung für die Tariffähigkeit ist, oder etwas besser formuliert: ob die grundsätzliche Ablehnung eines Arbeitskampfes tarifunfähig macht. Das scheint mir eine Zentralirage unserer verfassungsmäßigen Ordnung zu sein. Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung26 nur solche Koalitionen als tariffähig angesehen, die äußerstenfalls auch zum Arbeitskampf bereit sind. Das BVerfG27 hat dagegen im Falle des Berufsverbandes katholischer Hausgehilfinnen entschieden, daß dieser Verband trotz grundsätzlicher Arbeitskampfunwilligkeit tariffähig sei, hat aber im übrigen ausdrücklich dahingestellt, ob "für die Berufe der gewerblichen Wirtschaft der Kampfunwilligkeit Rechtsfolgen für die Tariffähigkeit beizumessen wären". Wenn also auch zu Unrecht verallgemeinernd gesagt worden ist, nunmehr sei Arbeitskampfbereitschaft nicht mehr Voraussetzung für die Tariffähigkeit, so ist immerhin festzustellen, daß es nach dem Spruch des BVerfG tariffähige Koalitionen geben soll, die den Arbeitskampf grundsätzlich ablehnen. In der Literatur sind die Meinungen geteilt. Nipperdey28 hat sich mit Nachdruck für die grundsätzliche Arbeitskampfbereitschaft als Voraus.BAG in AP Nr. 11 zu § 11 ArbGG und AP Nr. 13 zu § 2 TVG. BVerfG in AP Nr. 15 zu § 2 TVG. 28 Nipperdey in Hueck-Nipperdey, Grundriß, 4. Auft., S.222; ders., in: Lehrbuch 11, 7. Auft., S. 108 ff. und 435. 26

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setzung für die Tariffähigkeit29 und gegen die Entscheidung des BVerfG ausgesprochen. Ich hatte mich im gleichen Sinne geäußert30• Ebenso Kunze 31, Herschel 32 , Biedenkopj33 u. a. Die Gegenmeinung wird vor allem vertreten von Nikisch 34, Schnorr 35 , Huber 36 , Dietz37 , NeumannDuesberg 38 und Mayer-Maly39. In der Weimarer Zeit hatte das RAG40 Arbeitskampfbereitschaft nicht als Voraussetzung der Tariffähigkeit gefordert, da eine generelle Ordnung der allgemeinen Arbeitsbedingungen in den Fällen, in denen eine solche Ordnung im öffentlichen Interesse lag, notfalls auch ohne Arbeitskampf durch staatliche Zwangsschlichtung herbeigeführt werden konnte. Da aber das BVerfG u. a. auch mit dem historischen Argument aus der Weimarer Zeit für seine Auffassung operiert, und auf die Zeit vor 1933 verweist, in der "die Tarifautonomie trotz der Tariffähigkeit auch der kampfunwilligen Koalitionen im großen und ganzen ihre Aufgabe erfüllt" habe, sei kurz auf die unterschiedliche Rechtslage, die einem Vergleich widerspricht, hingewiesen. Nach altem Recht bestand für tariffähige Parteien ein Einlassungszwang in ein Schlichtungsverfahren mit der Möglichkeit, daß ein nicht von beiden Parteien angenommener Schiedsspruch durch Hoheitsakt (Verbindlicherklärung) für verbindlich erklärt werden konnte. Um einem solchen "Zwangstarif" zu entgehen, versuchten Berufsverbände (namentlich auf Arbeitgeberseite), durch "gewollte Tarifunfähigkeit" sich tarifunfähig zu machen. Hätte man Arbeitskampfbereitschaft als Voraussetzung der Tariffähigkeit anerkannt, hätte sich jeder Verband auf bequemste und eleganteste Weise dem Einlassungszwang in 29 und darüber hinaus angesichts seiner engen Definition des Koalitionsbegriffs als Voraussetzung für Koalitionen überhaupt. 30 Reuß, Rechtsgutachten zur Frage, ob Arbeitskampfbereitschaft Voraussetzung der Tarifhoheit ist (unveröffentlicht), zit. bei Hueck-NipperdeyStahlhacke, TVG, 4. Aufi., § 2 Anm.40, S. 167; ders., Arbeitskampfbereitschaft als Voraussetzung der Tarifhoheit, RdA 1964, S. 362 ff. 31 Kunze, Streikbereitschaft als Voraussetzung der Tariffähigkeit, BB 1964, S.1311. 32 Hersehel, Tariffähigkeit und Unabhängigkeit, JZ 1965, S.85. 33 Biedenkopj, Grenzen der Tarifautonomie, S.148. 34 NikiSCh, a.a.O., H, S. 13, 255. 35 Schnorr, Offentl. Vereinsrecht, 1965, S.248. 36 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S.375. 37 Dietz, a.a.O., S.44O, der mit recht die Arbeitskampfbereitschaft nicht zur Voraussetzung der Koalitionseigenschaft, zu unrecht aber nicht für die Tariffähigkeit macht. Ebenso Nikisch, a.a.O., II, S. 13, 255. 38 Neumann-Duesberg, Betriebsverfassungsrecht, S. 47 ff. und in Anm. zu BAG in AP Nr. 13 zu § 2 TVG (BI. 67 ff.). 39 MayeT-Malys Begründung, "Bereitschaft zu potentiell rechtswidrigem Verhalten" als Voraussetzung staatlicher Ennächtigung zur Rechtserzeugung erscheine reichlich problematisch (SAE 1964, S. 198), erscheint mir schief. 40 RAG in ArbRS, Bd.4, S.239, 294; Bd.5, S.217; Bd.9, S.487.

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Schlichtungsverhandlungen und einem Zwangstarif entziehen können. Nachdem heute unsere Rechtsordnung einen staatlichen Zwangstarif ablehnt und auch kein gesetzlicher Einlassungszwang besteht, gibt es auch das Problem der gewollten Tarifunfähigkeit nicht mehr. Die Gründe, die m. E. überzeugend für eine grundsätzliche Arbeitskampfwilligkeit als Voraussetzung der Tariffähigkeit sprechen, hat das BAG in seiner - dann vom BVerfG aufgehobenen - Entscheidung vom 19. 1. 1962 dargelegt, wenn es sagt, daß "angesichts des Fehlens staatlicher Zwangsschlichtung der Arbeitskampf u. U. das letzte Mittel ist, um der Gewerkschaft die Durchsetzung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. Es besteht ein notwendiger Sinnzusammenhang zwischen dem Koalitionszweck, der Ablehnung der Zwangsschlichtung und dem Bekenntnis zum Arbeitskampf als ultima ratio". Das BVerfG hatte in der mehrfach zitierten Entscheidung vom 18.11. 1954 ausgeführt, daß einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung unter Mitwirkung der Sozialpartner sein solle. Wenn unsere Rechtsordnung nun mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit in der Ausdeutung des BVerfG die Tarifhoheit der Berufsverbände anerkennt, muß auch Gewähr geboten werden, daß die Tarifhoheit nicht inhaltsleer wird. Die Gewerkschaft muß also, um kollektive Interessen ihrer Mitglieder auch tatsächlich durchsetzen zu können, in der Lage sein, notfalls als Druckmittel den Streik einzusetzen. Um diese im öffentlichen Interesse liegende Ordnungsfunktion und ihre Erfüllung nicht am Widerstand der Gegenseite scheitern zu lassen, gibt es nur das Druckmittel des Arbeitskampfes, wenn man nicht eine staatliche Lohnfestsetzung will. Wollte man auf das potentielle Druckmittel des Arbeitskampfes verzichten, müßte man die Tarifhoheit der Koalitionen aufheben und zur staatlichen Lohnbildung übergehen, wie es in autoritären Ländern die notwendige Folge der fehlenden Arbeitskampffreiheit ist. Damit würde der Charakter des demokratischen sozialen Rechtsstaats aufgegeben werden. Es besteht ein notwendiger unlösbarer Zusammenhang zwischen dem freiheitlichen demokratischen Rechts- und Sozialstaat mit seinen Grundrechten, mit der Koalitionsfreiheit, der Tarifautonomie, der Arbeitskampffreiheit und der generellen Arbeitskampfbereitschaft. Wollte man auch nur einen Stein aus diesem Komplex herausbrechen, etwa die Arbeitskampfbereitschaft als Voraussetzung der Tarifautonomie, würde das ganze Gebäude zunächst zwar nur wanken, dann aber einstürzen. Die Struktur des Staates als freiheitlicher sozialer Rechtsstaat würde sich wandeln in ein System des Staatsdirigismus mit Zentralverwaltungswirtschaft. Dazu zwingt folgende Gedankenkette: Ohne generelle Arbeitskampfbereitschaft gibt es keine auf Gleichgewichtsbasis ausgehandelten Löhne, der wirtschaftlich Stärkere würde

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diktieren, der Staat müßte zur Vermeidung von Machtmißbräuchen eingreifen und hoheitlich Löhne festsetzen, demzufolge auch die Preise. Es gibt auf die Dauer keine staatliche Lohnfestsetzung ohne staatliche Preisbildung. Eins hat das Andere zwangsläufig zur Folge, wie es nicht nur der Logik, sondern auch der praktischen Erfahrung (in unserer Vergangenheit und in unserer Nachbarschaft) entspricht. Das aber wäre das Ende unserer freiheitlichen Verfassung. Kaum einer Widerlegung dürfte die irrige Meinung41 bedürfen, daß grundsätzliche Arbeitskampfbereitschaft auch die Gewerkschaften, die es eigentlich gar nicht wollten, tatsächlich zu einem Streik zwängen. Die Forderung nach Arbeitskampfbereitschaft besagt nur, daß grundsätzliche Arbeitskampfunwilligkeit die Tariffähigkeit ausschließt. Ob unter konkreten Verhältnissen eine Gewerkschaft glaubt, zur sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens auf dem bestimmten Gebiet zur gegebenen Zeit einen Streik führen zu sollen, ist ihrer freien Entschließung in jedem Einzelfall überlassen. Abwegig ist auch die Begründung von Nikisch 42 , Arbeitskampfbereitschaft sei auch deswegen nicht zu fordern, weil die große Mehrzahl der Tarifverträge ohne Kampf zustande gekommen sei. Diese Meinung verkennt offensichtlich die Druckwirkung eines potentiellen Arbeitskampfes. Der Koalitionszweck beruht doch darauf, daß der wirtschaftlich schwache einzelne Arbeitnehmer erst durch den Zusammenschluß zu einem beachteten Gegenspieler wird. Und erst die generelle Arbeitskampfhereitschaft gibt der fordernden und verhandelnden Gewerkschaft das vom TVG vorausgesetzte Gewicht als Gleichgewicht zur Arbeitgeberseite. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob im Einzelfall oder auch in gehäuften Einzelfällen (d. h. meist) die von einem grundsätzlich arbeitskampfbereiten Verband abgeschlossenen Tarifverträge ohne konkreten Streik und ohne ausdrückliche Streikdrohung abgeschlossen worden sind (und einen ausgehandelten, nicht diktierten Inhalt haben). Von einer generell arbeitskampfbereiten Vereinigung geht in den Verhandlungen über ihre Forderung ein ständiger latenter, aber fühlbarer und jedenfalls motivierender Druck auf die andere Verhandlungsseite aus. Dieser latente Druck erst gewährleistet die Gleichgewichtigkeit der Parteien und damit die Freiheit der Verhandlung. Es kommt also - entgegen der Meinung Nikischs - nicht darauf an, ob in den konkreten Verhandlungen verbis expressis mit Streik gedroht wird, vielmehr nur darauf, ob die Streikmöglichkeit und Streikbereitschaft als ultima ratio im Hintergrund steht. 41 Frey, in: Anm. zu BAG vom 6.7.1956, ArbuR 1957, 8.125 f.; BVerfG in AP Nr. 15 zu § 2 TVG unter III 2 d; Neumann-Duesberg, in: Besprechung zu BAG in AP Nr. 13 zu § 2 TVG. 42 Nikisch, a.a.O., H, 8. 12 f.

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Auch der Einwand schlägt nicht durch, daß zwischen den Tarifvertragsparteien durch Schlichtungsabreden oder Schiedsvereinbarungen der Einsatz von Arbeitskampfmitteln ausgeschlossen werden kann. Tarifverträge, die auf diese Weise zustande kommen, könnten nicht deswegen nichtig sein, weil die Tarifvertragsparteien zufolge des ver~ traglichen Ausschlusses von Arbeitskämpfen nicht tariffähig seien. Dieser Einwand verkennt, daß die Verbände, die eine Schlichtungsabrede oder ein Schiedsabkommen treffen, grundsätzlich arbeitskampfbereit sind, denn sie wollen ja gerade ihre Arbeitskampfbereitschaft unter den vertraglich vereinbarten Voraussetzungen, in dem vereinbarten Umfang und für die vereinbarte Zeit beschränken. Das ist etwas völlig anderes, als wenn sie einseitig dieses Recht völlig aufgeben. Beim Schlichtungsvertrag besteht das Streikrecht gewissermaßen der Substanz nach fort, nur seine Anwendung wird beschränkt, nicht etwa der Substanz nach aufgegeben; es kann immer wieder auch voll wirksam werden, so während der Vertragsdauer unter den im Vertrag vorgesehenen Bedingungen und ohne weitere Voraussetzungen mit Vertragsende, gegebenenfalls mit einer fristlosen Kündigung wegen Vertragsbruchs der Gegenseite. Es macht also einen großen und rechtlich bedeutsamen Unterschied, ob eine Vereinigung grundsätzlich nicht arbeitskampfbereit ist, d. h. dieses Recht aufgibt, oder ob sie es nur in dem Sinne beschränkt, daß sie davon unter bestimmten Voraussetzungen während einer bestimmten Dauer keinen Gebrauch zu machen sich verpflichtet. Es ist ein Unterschied, ob ich mein Eigentum aufgebe oder belaste. Auch die von NetLmann~DuesbeTg vertretene Partnerschaftsidee43 , aus der eine (auf der christlichen Soziallehre beruhende) allgemeine sozialethische Forderung nach "Spannungsausgleich" und nach "Beseitigung des Klassenkampfes und Überbrückung des Interessengegensatzes" sich ergäbe, ist kein durchschlagendes Argument. Trotz mancher gemeinsamen Interessen besteht der grundlegende Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer fort. Arbeitskampfbereitschaft ist also Voraussetzung der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, da nur so eine vorausgesetzte ungefähre Gleichgewichtigkeit beim Aushandeln von Arbeitsbedingungen gegeben ist. Für Arbeitgeber und ihre Verbände dagegen bedarf es keiner Arbeitskampfbereitschaft, da bei diesen keine Unterlegenheit gegenüber der Gegenseite auszugleichen ist. Darin liegt auch kein Verstoß gegen Art. 3 GG, da beide Lager nicht gleich sind. In der Literatur wird von den Vertretern der Meinung, daß grundsätzliche Arbeitskampfbereitschaft Voraussetzung der Tariffähigkeit 4.3

Zur Widerlegung des Näheren Reuß, RdA 1964, S. 365 ff.

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ist, und darüber hinaus für die Anerkennung als Koalition, eine Ausnahme für solche Berufsverbände gemacht, bei denen trotz Vorliegens der übrigen Merkmale der Mangel der Kampfbereitschaft nicht auf freier Willensentschließung des Verbands, sondern auf gesetzlicher Vorschrift oder auf dem Wesen des betreffenden Berufs beruhe. Daß hier eine Ausnahme vom Grundsatz gemacht werden müsse, liegt an der unrichtigen, weil viel zu engen Definition der Koalition. Die Eigenschaft als Koalition wird von einer vorhandenen oder fehlenden Arbeitskampfbereitschaft nicht berührt. Auch Beamtengewerkschaften sind Koalitionen und Gewerkschaften. Die Arbeitskampfbereitschaft spielt nur eine Rolle für die Tariffähigkeit. Und da ist es rechtlich gleichgültig, ob die Koalition Arbeitskämpfe nicht führen will oder nicht führen darf. Insofern ist die Frage ein bloßes Scheinproblem. Insbesondere in bezug auf die Ärzte, Angehörigen des öffentlichen Dienstes und Arbeitnehmer wichtiger Versorgungsunternehmen wird teilweise die Meinung vertreten, sie dürften zwar keine Arbeitskämpfe führen, teils aus rechtlichen, teils aus ethischen Gründen, ihre Verbände seien aber gleichwohl tariffähig, da bei ihnen der Mangel der Arbeitskampfbereitschaft nicht auf freier Willensentschließung, sondern auf gesetzlicher Vorschrift oder auf dem Wesen des betreffenden Berufs beruhe. Es wird dabei unterstellt, daß diese Gruppen von Arbeitnehmern keine Streikfreiheit hätten, gleichwohl aber Tarifverträge abschließen könnten. Zu Unrecht wird weitgehend angenommen, daß Angehörige der öffentlichen Verwaltung allgemein und grundsätzlich keine Arbeitskampffreiheit hätten". Daß Beamte nicht streiken dürfen, liegt an der besonderen Natur ihres öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses; sie stehen nicht in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, sondern in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis; die Rechte und Pflichten daraus werden einseitig hoheitlich festgesetzt, nicht in Tarifverträgen ausgehandelt. Aber die privatrechtlichen Arbeitnehmer im Bereich der öffentlichen Verwaltung, deren Verbände Tarifverträge abschließen, können grundsätzlich streiken, wenn auch - wie bei anderen Arbeitnehmern privater Unternehmen - die Streikfreiheit aus dem Grund eingeschränkt - aber nicht aufgehoben - ist, daß durch einen Arbeitskampf nicht die verfassungsmäßige Ordnung und nicht die lebensnotwendige Versorgung akut und ernstlich gefährdet werden darf. Es macht in dieser Beziehung keinen Unterschied, ob Arbeitnehmer eines öffentlich-rechtlichen oder eines privaten Krankenhauses, EI-Werks oder dergleichen streiken. Der Rechtsgrund für die Beschränkung der 44 Nikisch, a.a.O., II, S. 142 ff. Eingehend dazu Reuß. Arbeitskampf im Bereich der öffentlichen Verwaltung, DVBl. 1968, S. 57 ff.

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Arbeitskampffreiheit liegt nicht in der Rechtsform des Unternehmens, sondern in der Funktion, die durch den Arbeitskampf ausfallen würde. Es ist auch nicht richtig, schlechthin von einem "Kampfverbot" in der HoheitsveTWaltung zu sprechen, wenn damit die generelle Funktion der Behörde und nicht die spezielle des einzelnen Arbeitnehmers gemeint ist45• Ob die Reinemachefrauen im Polizeipräsidium streiken oder nicht, braucht die hoheitliche Tätigkeit der Polizei nicht zu beeinträchtigen. Anders, wenn in einer solchen Hoheitsbehörde privatrechtliche Arbeitnehmer, deren Tätigkeit selbst zwar keine hoheitliche ist, wohl aber eine für die Erfüllung der hoheitlichen Funktionen der Behörde notwendige Hilfstätigkeit (z. B. als Telephonist, Fernschreiber), streiken und dadurch eine akute Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder lebensnotwendigen Versorgung eintreten würde. Es kommt also nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer in einer Behörde der Hoheitsverwaltung tätig ist, sondern darauf, ob durch seine Streikbeteiligung eine konkrete und akute Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der lebensnotwendigen Versorgung eintreten könnte, auch wenn er selbst nicht hoheitlich zu handeln hätte. Es ist also im Einzelfall zu prüfen, ob dieser Arbeitnehmer jetzt, in dieser Form und während dieser Zeit ohne Gefährdung der öffentlichen Ordnung (einschließlich der lebensnotwendigen Versorgung) an einem - natürlich unter jedem Gesichtspunkt legalen - Arbeitskampf sich beteiligen kann. Je lebensnotwendiger die Funktion des einzelnen Arbeitnehmers ist, desto stärker ist seine Arbeitskampffreiheit beschränkt, aber nicht völlig entzogen. (Die Hypothek ist sehr groß, aber das Eigentum bleibt, wenn auch erheblich belastet, erhalten - um das Prinzip an diesem Vergleich anschaulich zu machen.) Unter Umständen genügt für die Druckwirkung ein ganz kurzfristiger Demonstrationsstreik, der die öffentliche Versorgung nicht tangiert, aber die öffentliche Meinung mobilisiert und so eine Druckwirkung erzeugt. Als Ergebnis ist festzustellen, daß im Bereich der öffentlichen Verwaltung, auch der Hoheitsverwaltung, je nach der Funktion des einzelnen Arbeitnehmers seine Streikfreiheit wohl - z. T. sehr erheblich - beschränkt, aber nicht völlig beseitigt ist. Auch aus der Natur des Berufs ergibt sich nicht ein - völliger Ausschluß der Arbeitskampffreiheit. Es kann aus den oben dargelegten Gründen der Sicherstellung lebensnotwendiger Versorgung, also aus Gründen, die allgemein gelten, nur eine Beschränkung der Arbeitskampffreiheit eintreten. Als klassisches Beispiel für einen angeblichen Ausschluß der Streikfreiheit aus ethischen Gründen werden die Ärzte 45

Brox-Rüthers.

Arbeitskampfrecht. S. 70 f.

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genannt. Der Satz "Ärzte haben kein Streikrecht" ist unter mehreren Gesichtspunkten in dieser Allgemeinheit falsch. Zunächst taucht die Frage bei frei praktizierenden Ärzten nicht auf, da sie nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen46 • Für beamtete Ärzte ergibt sich das Streikverbot nicht aus ihrer Eigenschaft als Arzt, sondern als Beamter. Es bleiben also für die Frage nur die in einem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis stehenden Ärzte übrig. Solche Ärzte können sehr unterschiedliche Funktionen ausüben: Krankenbehandlung in einem öffentlich-rechtlichen Krankenhaus oder in einem privatrechtlichen Sanatorium, oder als medizinalwissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Industrielaboratorium der Heilmittelbranche, oder als Bearbeiter der Todesursachenstatistik in einer Lebensversicherungsgesellschaft, oder als Lektor in einem Verlag für medizinische Schriften. Diesen - beispielhaften - Tätigkeiten ist nur eines gemeinsam, nämlich daß diese Angestellten Medizin studiert und ein entsprechendes Staatsexamen abgelegt haben. Im übrigen aber sind ihre Tätigkeiten grundverschieden, insbesondere gerade im Hinblick auf die für die Streikfreiheit relevante potentielle Gefährdung der lebenswichtigen Versorgung der Allgemeinheit aus einer Streikbeteiligung. Eine mögliche Gefährdung öffentlicher Interessen kann nur eintreten bei einem Streik krankenbehandelnder Ärzte, nicht aber bei Ärzten, die eine andersartige Tätigkeit ausüben. Auch der Gesichtspunkt, die ärztliche Ethik verbiete einem Arzt eine Streikbeteiligung, überzeugt nicht. Die ärztliche Ethik in hohen Ehren - hier aber handelt es sich um eine Frage des Rechts. Außerdem soll dieser ethische Grundsatz sicher nur für krankenbehandelnde Ärzte, nicht aber für sonst wirtschaftlich tätige Ärzte gelten. So verstanden deckt sich auch das ethische Postulat weitgehend, wenn auch vielleicht nicht ganz, mit der Rechtslage. Denn auch für behandelnde Ärzte bleibt ein - wenn auch nur ganz kleiner - Rest von Arbeitskampffreiheit. Wenn etwa der Hartmannbund zu einem zehn Minuten währenden Demonstrationsstreik der Assistenzärzte in den Krankenhäusern wegen überlanger Arbeitszeit oder zu geringer Vergütung aufruft mit der Maßgabe, daß durch organisatorische und personelle Maßnahmen sichergestellt wird, daß keine Unterbrechung notwendiger ärztlicher Versorgung eintritt, so ist kein Grund ersichtlich, ihnen insoweit das Streikrecht zu versagen. Das wäre verbotenes übermaß an Freiheitsbeschränkung, die nicht aus rechtlichen Gründen im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen gerechtfertigt wäre. Es ist also kein Gesichtspunkt ersichtlich, der Ausnahmen von dem Grundsatz rechtfertigt, grundsätzliche Arbeitskampfbereitschaft ist Voraussetzung der Tariffähigkeit. Dieser Satz ist nach dem Dargelegten 46

DVBl. 1968, S.59 Anm. 14.

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so zu verstehen, daß ein Wille des Verbandes, keinesfalls irgendwelche rechtlich zulässige Kampfmittel anzuwenden, die Tariffähigkeit ausschließt. c) Mitglieder- und Finanzstärke. Da Voraussetzung für die Tariffähigkeit sein muß, daß die Gewerkschaft einen gewissen Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben in der Lage ist, liegt die Frage nahe, ob man generell an dem potentiellen Druck durch Kampfmaßnahmen Genüge nehmen, oder ob man im Einzelfall einen konkreten Drude für möglich verlangen muß.

In seinem Beschluß vom 9.7.1968 47 hat das BAG entschieden, daß Koalitionen, die wegen einer sehr geringen Mitgliederzahl keinen fühlbaren Druck auf die Gegenseite auszuüben in der Lage sind, aus diesem Grunde nicht tariffähig seien. Es fügt hinzu, daß trotz sehr geringer Mitgliederzahl besondere Umstände einen ausreichend fühlbaren Druck bewirken könnten, etwa wenn bei einer Gewerkschaft "sich ihr Mitgliederbestand aus Arbeitnehmern zusammensetzt, die kraft ihrer Stellung im Arbeitsleben einen besonderen Einfluß gegenüber der Arbeitgeberseite ausüben können. Dasselbe gilt hinsichtlich der Arbeitgebervereinigungen" . Herschel 48 billigt diese Entscheidung im Ergebnis, übt aber an der Begründung Kritik. Mir will diese Entscheidung insoweit richtig erscheinen, als Koalitionen, von denen wegen ihrer überaus geringen Mitgliederzahl überhaupt kein fühlbarer Druck ausgeübt werden kann, nicht tariffähig sind. Man muß sich aber davor hüten, etwa prüfen zu wollen, ob der Druck Aussicht auf - wenigstens einen Teil - Erfolg eines Arbeitskampfes bietet. Auch die psychologische Druckwirkung der öffentlichen Meinung oder anderer außerhalb der Mitgliederzahl liegenden Faktoren ist mit zu berücksichtigen. Nur wenn unter Berücksichtigung aller Umstände von einer Druckwirkung überhaupt nicht die Rede sein kann, ist die Tariffähigkeit zu verneinen. Die Finanzschwäche ist kein Grund, die Tariffähigkeit zu verneinen. Ebenso wie die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes nicht von der Finanzkraft der Koalition abhängt, kann die Tariffähigkeit nicht dadurch beeinträchtigt werden. Daß das Bestehen eines Arbeitskampffonds nicht zum Begriff der Arbeitskampfbereitschaft gehört, hat das BAG bereits entschieden49 •

3. Verleihung der Tariffähigkeit. Ein durch die Entscheidung des BVerfG vom 19.10.1966 in der Frage der Tariffähigkeit der Hand47 48 49

BB 1968, S. 1119, RdA 1968, S. 399. in: ArbRBlattei unter "Tarifvertrag II": Entscheidungen 7. BAG in AP Nr.15 zu § 2 TVG; so auch Hueck-Nipperdey, Grundriß.

Hersehel,

S.222.

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Wilhelm Reuß

werkerinnungen neu aufgeworfenes Problem ist das, ob der Gesetzgeber auch anderen Institutionen als Koalitionen Tariffähigkeit "verleihen" kann. Das BVerfG ist der Meinung, daß der Gesetzgeber Zusammenschlüssen auch dann Tariffähigkeit verleihen könne, wenn sie den rechtlichen Voraussetzungen einer Koalition i. S. des § 2 Abs. 1 TVG nicht voll entsprechen, und daß er nicht darauf beschränkt sei, die Tariffähigkeit - jedenfalls auf der Seite der Arbeitgeber - nur echten arbeitsrechtlichen Vereinigungen zuzuerkennen. Dagegen bestehen die schwersten verfassungsrechtlichen und politischen Bedenken. Es ist nun einmal eine verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung, daß die allgemeinen Arbeitsbedingungen frei von Staatsinterventionsmöglichkeiten von frei gebildeten Berufsverbänden, bei denen die Mitgliedschaft sowohl rechtlich freiwillig sein muß als auch nicht durch wirtschaftlichen Druck erzwungen werden darf, und die in ihren Entscheidungen frei von außenstehenden Stellen, insbesondere vom Staate, sein müssen, gebildet werden. Verlassen wir dieses gesicherte fundament, so ist ein gefährliches Abgleiten in einen Staatsdirigismus möglich. Wenn das BVerfG sagt, daß der Gesetzgeber Zusammenschlüssen, die nicht voll den Voraussetzungen von Koalitionen i. S. des § 2 Abs.l TVG entsprechen, also anderen Zusammenschlüssen als tariffähigen Koalitionen im oben dargelegten Sinne jedenfalls auf der Seite der Arbeitgeber Tariffähigkeit zuerkennen könne, so hat das zunächst zur Folge, daß die Möglichkeit hoheitlicher Verleihung der Tariffähigkeit nicht auf Arbeitgeberverbände beschränkt sein könnte, sondern auch für Arbeitnehmerzusammenschlüsse gelten müßte. Damit hätte der Gesetzgeber die Macht, nach den Vorstellungen der jeweiligen Parlamentsmehrheit über die politische Zweckmäßigkeit, in Konkurrenz, d. h. unter einer möglichen schließlichen Verdrängung der vorhandenen freien Gewerkschaften, Zusammenschlüssen, die unter einem massiven Druck zustande gekommen wären, öffentlich-rechtliche Körperschaftsform unter Staatsaufsicht mit Tarifhoheit zu verleihen. Wenn der Druck zur "freiwilligen", d. h. zwar nicht unmittelbar gesetzlichen, aber durch Gewährung von rechtlichen oder/und wirtschaftlichen Vorteilen, durch Privilegierung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft schließlich durch Einräumung einer rechtlichen Monopolstellung - wie bei den Handwerksinnungen - genügend stark ist, könnten die auf diesen Gebieten bestehenden freien Gewerkschaften in staatsabhängige Pseudo-Gewerkschaften umgebildet werden. Das wäre unter Achtung unserer gegenwärtigen verfassungsmäßigen Ordnung absurd. Auch wenn man den Standpunkt vertritt, daß der Gesetzgeber nicht

Koalitionseigenschaft und Tariffähigkeit

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an die historisch überkommenen Organisationsformen der Koalitionen gebunden ist und einen gewissen Spielraum zur Ausgestaltung der 'farifautonomie hat, so ist doch gemäß den oben dargelegten Verfassungsgrundsätzen, daß die allgemeinen Arbeitsbedingungen frei vereinbarte Regelungen freier Verbände (mit freiwilliger Mitgliedschaft und staatsunabhängig) sein müssen, jede Verleihung der Tariffähigkeit an diese Voraussetzungen gebunden. Diese Grundsätze gehören unzweifelhaft zum "Kembereich" der Tarifautonomie, der nach der Entscheidung des BVerfG unantastbar ist50• Somit ist eine "Verleihung" der Tariffähigkeit an andere Zusammenschlüsse als freie Koalitionen nicht möglich51 • Nach dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Verfassungsrecht können ausländische Möglichkeiten, Körperschaften des öffentlichen Rechts (sogar mit Zwangsmitgliedschaft) Tarifhoheit (Kollektivvertragsfähigkeit) zu gewähren, auch solche Regelungen wie in Staaten mit einer der unsrigen verwandten Verfassungsstruktur, wie etwa Österreich, keine Rechtfertigung und kein Vorbild sein52 •

BVerfG vom 18. 11. 1954 E, Bd.4, S. 96 ff. = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG. Ausführlicher Reuß, ArbuR 1964, S. 1 ff. (5 f.). Die in der BRD bestehenden Arbeitnehmerkammern (Arbeiterkammer und Angestelltenkammer Bremen, Arbeitskammer des Saarlandes) sind öffentlich-rechtliche Körperschaften mit gesetzlicher Mitgliedschaft. besitzen aber keine Tariffähigkeit. 50

51 ,,2

19 Festgabe Kunze

Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln in betrieblichen Ruhegeldregelungen Von Marie-Luise Hilger Das Recht der betrieblichen Altersversorgung hat sich innerhalb des Arbeitsrechts zu einer weithin unbekannten Sondermaterie entwickelt. Deshalb hoffe ich, mit dem folgenden Beitrag über einige der umstrittenen Alltagsfragen aus diesem Gebiet das Interesse selbst eines so hervorragenden Kenners des Arbeitsrechts zu finden, wie der Jubilar es ist. I.

Die betriebliche Altersversorgung kennzeichnen zwei besondere Merkmale. Zum einen ist sie ihrem Wesen nach eine zusätzliche Versorgung. Sie soll die Versorgungslücke ausfüllen, die zwischen den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und dem Versorgungsbedarf offenbleibt; dabei wird der Versorgungsbedarf in der Regel am zuletzt bezogenen Arbeitseinkommen gemessen. Geht man davon aus, daß die gesetzliche Rente nach 40 Arbeitsjahren im Durchschnitt nicht mehr als 451)/0 des letzten Arbeitseinkommens erreicht und daß nach dem Vorbild der Beamtenpension 75 % des letzten Arbeitseinkommens als erforderliche und ausreichende Gesamtversorgung gelten, bleiben etwa 30 % des letzten Arbeitseinkommens durch betriebliche Leistungen zu decken. Dieser Satz wird allerdings längst nicht überall erreicht; nicht selten wird bewußt eine durch Eigenversorgung zu schließende Lücke gelassen. In einzelnen Fällen wird der Satz von 70 bis 75% des letzten Arbeitsverdienstes auch überschritten. Normalerweise wird aber ein angemessener Abstand zwischen den Versorgungsbezügen und den vergleichbaren Bezügen aktiver Arbeitnehmer angestrebt. Die sich so ergebende Beziehung zwischen gesetzlicher Rente und betrieblicher Versorgung galt bis zum Wegfall der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem 1. Januar 1968 für den Kreis der Pflichtversicherten. Sie gilt heute für alle; nur die Relationen verschieben sich in dem Maße, wie das letzte Arbeitseinkommen die jeweilige Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen 19°

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Rentenversicherung übersteigt, weil die Bezieher hoher Gehälter .relativ gesehen - nur bescheidene Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erwarten können. Zum anderen ist charakteristisch für die betriebliche Altersversorgung, daß ihren Leistungen eine Doppelnatur eigen ist. Sie sind einerseits eine besondere Form des Arbeitsentgeltes und werden in zunehmendem Maße von den Begünstigten so aufgefaßt. Sie sind andererseits aber auch Versorgungsleistungen, die anderen Regeln folgen als der Arbeitslohn im engeren Sinne. Zum Beispiel sind oft Wartezeiten zurückzulegen; die Höhe der Leistungen wird meistens wesentlich durch den Familienstand mitbestimmt {Witwenversorgung); die Leistungen sind vielfach höher oder setzen früher ein, wenn der Begünstigte seine Arbeitskraft durch Arbeitsunfall verliert. Diese und manche anderen Besonderheiten der betrieblichen Versorgungsleistungen sind mit dem Entgeltgedanken nur schwer zu vereinbaren. Sie leiten ihre Berechtigung aus dem Versorgungsgedanken ab und sind, zumindest im Prinzip, allgemein anerkannt. Beide geschilderten Merkmale, der zusätzliche Charakter sowie das Zusammentreffen von Entgelt- und Versorgungsgedanken, gelten mutatis mutandis unabhängig davon, welche Form der betrieblichen Altersversorgung gewählt wurde. Es spielt keine entscheidende Rolle, ob betriebliche Renten mit oder ohne Rückstellungsbildung aus laufenden Mitteln des Unternehmens gezahlt werden, ob eine Pensionskasse oder eine Unterstützungskasse besteht oder ob der Arbeitgeber zugunsten seines Arbeitnehmers Lebensversicherungsverträge bei einer Lebensversicherungsgesellschaft abgeschlossen hat. II.

Will man eine angemessene Gesamtversorgung erreichen, muß man bei der Bemessung der betrieblichen Leistungen die zu erwartende gesetzliche Rente einbeziehen. Dabei bieten sich zwei Methoden an. Entweder kann man auf Grund von Erfahrungssätzen denjenigen Betrag errechnen, den der Arbeitgeber zuschießen muß, um im Durchschnitt der Fälle die angestrebte Gesamtversorgung zu erreichen, und den so errechneten Betrag oder Prozentsatz des Arbeitseinkommens ohne Anrechnung von Sozialversicherungsrenten zusagen. Oder man kann den als Gesamtversorgung vorgesehenen Satz zusagen und die Sozialversicherungsrente (ganz oder anteilig) anrechnen. Die erste Methode nimmt in Kauf, daß die Gesamtversorgung (betriebliches Ruhegeld + Sozialversicherungsrente) des einzelnen nach oben oder nach unten von dem vorgestellten Ziel abweichen wird,

Anrechnungsklauseln in betrieblichen Ruhegeldregelungen

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wenn die berufliche Entwicklung des Arbeitnehmers und die Entwicklung seines Arbeitseinkommens nicht dem Normalverlauf entspricht. Bei dieser Methode läßt sich leichter vermeiden, daß gerade Arbeitnehmer mit langer Betriebszugehörigkeit, die vielfach hohe gesetzliche Renten beziehen, deshalb von einer Anrechnung besonders empfindlich getroffen werden. Insofern kann diese Methode dem Entgeltgedanken Rechnung tragen. Die andere Methode - Zusage eines bestimmten Versorgungssatzes unter (ganzer oder anteiliger) Anrechnung der Sozialversicherungsrente - gewährleistet eine gleichmäßige Gesamtversorgung und entspricht insofern eher dem Versorgungsgedanken, obgleich selbstverständlich auch bei dieser Methode die Höhe der (Gesamt-)Bezüge nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelt sein kann. Man kann auch eine Mittellösung wählen, nämlich einen bestimmten Betrag ohne Anrechnung der Sozialversicherungsrente geben und gleichzeitig eine Höchstbegrenzungsklausel (Maximierungsklausel) vorsehen. Nach einer solchen Klausel wird das Ruhegeld um den überschießenden Betrag gekürzt, wenn die Gesamtversorgung (Sozialversicherungsrente aus Pllichtversicherung + betriebliches Ruhegeld) x '0/0 des Arbeitseinkommens überschreitet. Unter den Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln findet man wieder zwei verschiedene Gruppen. Teilweise wird die gesetzliche Rente nur als Berechnungsfaktor eingesetzt. Das heißt: man ermittelt den anzurechnenden Rententeil nach dem Stand zur Zeit der Pensionierung; die sich dann ergebende betriebliche Rente wird unabhängig von späteren Steigerungen der gesetzlichen Rente in gleichbleibender Höhe gezahlt. Teilweise wird aber auch die jeweilige gesetzliche Rente angerechnet oder in eine Begrenzungsklausel eingesetzt. Die Erfahrung lehrt, daß vor allem der zweite Typ von Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln immer wieder zu Verstimmung und Streitigkeiten führt, weil jede Anhebung der gesetzlichen Rente zu einer Kürzung des betrieblichen Ruhegeldes führen muß. III. Ein Pensionär, der Anrechnungsklauseln einer betrieblichen Ruhegeldregelung angreift und ihre Zulässigkeit anzweifelt, stellt das Gericht vor die Frage, an welchem Maßstab die betriebliche Regelung zu messen ist. Muß nicht das Gericht das Vertragsverhältnis hinnehmen, sofern es nicht geradezu gegen das Gesetz oder die guten Sitten verstößt (§§ 134, 138 BGB)? Schließlich gilt auch hier der Grundsatz der Vertragsfreihei t.

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Dennoch müssen betriebliche Ruhegeldregelungen sich - vielleicht mehr als andere Vertragswerke - eine gerichtliche überprüfung gefallen lassen. Die Vertragsgerechtigkeit setzt gleichstarke Vertragspartner und freies Aushandeln der Vertragsbedingungen voraus; nur unter dieser Voraussetzung ist jeder Teil in der Lage, seine Interessen zu wahren, so daß der Vertrag einen gerechten Ausgleich schafft. Diese Voraussetzung ist aber bei den betrieblichen Ruhegeldregelungen vielfach nicht gegeben. Der Arbeitnehmer wird oft Bedeutung und Tragweite der einzelnen Klauseln nicht zu beurteilen vermögen. Da die Leistungen erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses einsetzen, kann er etwaige Unbilligkeiten häufig nicht sogleich übersehen. Nur in seltenen Fällen kann er auf die Versorgungsbedingungen Einfluß nehmen; meistens findet er die vom Arbeitgeber "erlassene" Ruhegeldordnung fertig vor. Unter diesen Umständen muß der Arbeitgeber bei der Abfassung der Versorgungsbedingungen auch die Interessen der Arbeitnehmer wahren. Man kann hier auf den Grundgedanken des § 315 BGB zurückgreifen. Danach muß derjenige, der als Vertragspartei über Vertragsleistungen befindet, nach billigem Ermessen verfahren. Wenn nun die Ruhegeldregelung praktisch weitgehend vom Arbeitgeber allein festgelegt wird und wegen der in der Sache liegenden Schwierigkeiten regelmäßig gar nicht Gegenstand vertraglichen Aushandelns sein kann, so muß entsprechend § 315 Abs.1 BGB das Vertragswerk der Billigkeit entsprechen. Unbillige Regelungen können nicht auf Anerkennung rechnen1 • Dabei sind wegen der Bedeutung der Altersversorgung für jeden einzelnen strenge Anforderungen geboten. Ein Arbeitnehmer, der jm Vertrauen auf eine betriebliche Versorgungsregelung einem Unternehmen lange Jahre hindurch dient, darf auf eine faire Regelung vertrauen. Dieses Vertrauen verdient um so verläßlicheren Schutz, weil der Pensionär kein Gewicht mehr in die Waagschale zu werfen hat; auf ihn und seine Dienste ist in der Regel niemand mehr angewiesen. Dies braucht allerdings nicht immer so zu sein. Auch bei betrieblichen Ruhegeldzusagen kann es solche geben, die unter voller Wahrung der beiderseitigen Vertragsfreiheit zwischen den Beteiligten ausgehandelt sind; zum Beispiel kann das bei dem Pensionsvertrag eines leitenden Angestellten vorkommen2 • Auf derartige Verträge paßt das Prinzip des § 315 BGB nicht; hier hat keine Vertragspartei einseitig etwas festgesetzt. Einen solchen Pensionsvertrag wird das Gericht des1 Vgl. auch die Rechtsprechung des BGH zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen, z. B. NJW 1965, 246; DB 1969, 123, jeweils mit weiteren Nachweisen. 2 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in BGHZ 41, 151 [154].

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halb eher als von bei den Parteien gewollt hinnehmen, es sei denn, seine Bedingungen verstießen gegen das Gesetz oder die guten Sitten. Bei der Ruhegeldregelung in der Rechtsform einer Betriebsvereinbarung mag man zweifeln. Ich neige dazu - wenigstens im Bereich der Altersversorgung -, die Autonomie der Betriebspartner nicht ohne weiteres bis zur Grenze der Gesetzwidrigkeit oder Sittenwidrigkeit anzuerkennen, wie man es bei einem Tarifvertrag tun müßte, hinter dem die Macht der Verbände und unter Umständen die Arbeitskampfdrohung steht. Das Gewicht eines Betriebsrates, insbesondere in kleineren Betrieben, ist wesentlich geringer als das der Gewerkschaft. Für seine Mitglieder steht der eigene Ruhestand meistens noch in weiter Ferne. Die Pensionäre gehören nicht mehr zur Belegschaft. Sie wählen den Betriebsrat nicht mit und werden von ihm nicht repräsentiert. Deshalb spricht viel dafür, auch die Betriebsvereinbarung über eine betriebliche Versorgungsregelung der Billigkeitskontrolle durch die Gerichte zu unterwerfen. Man kann daran denken, die überprüfung der Betriebsvereinbarung auf "offenbare Unbilligkeit" zu beschränken. Dafür ließe sich der Grundgedanke des § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB anführen. Danach ist, wenn ein Dritter eine vertragliche Leistung zu bestimmen hat, nur die "offenbar unbillige" Bestimmung unverbindlich, während bei der Leistungsbestimmung durch eine Vertragspartei jede Unbilligkeit die getroffene Bestimmung unverbindlich macht (§ 315 Abs.3 Satz 1 BGB). Der Betriebsrat ist zwar im Verhältnis zur Belegschaft kein "Dritter"; seine Mitwirkung kann aber für die Frage der überprüfbarkeit nicht geringer veranschlagt werden als die eines neutralen Dritten. Denkt man sich eine betriebliche Versorgungsordnung, wie man sie heute in fast allen größeren Firmen findet, so sind etwaige Anrechnungs- oder Begrenzungsklauseln mithin im Streitfall daraufhin zu überprüfen, ob sie der Billigkeit entsprechen oder - falls es sich um eine Betriebsvereinbarung handelt - ob sie offenbar unbillig sind. IV. Bei Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln aller Art wird es oft als unbillig empfunden, wenn die Sozialversicherungsrente ganz angerechnet wird, obgleich sie doch zur Hälfte auf den Beiträgen der Arbeitnehmer beruht. Ebenso hat man angezweifelt, ob die gesetzliche Rente auch insoweit angerechnet werden darf, wie sie aus vorbetrieblichen Versicherungszeiten stammt; denn auch insoweit hat der Versorgung schuldende Arbeitgeber die Sozialversicherungsrente nicht mit finanziert. Sieht man in dem betrieblichen Ruhegeld nur einen aufgespeicherten Teil der Arbeitsvergütung, wie manche meinen, so ist in der Tat

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nicht einzusehen, inwiefern der Arbeitgeber einen Teil dieser Vergütung sollte einsparen können, weil der Pensionär eine Sozialversicherungsrente bezieht, zu der der Arbeitgeber nicht beigetragen hat. Es kommt hinzu, daß Anrechnungsklauseln ebenso wie Begrenzungsklauseln zu Härten führen können: Sie treffen vor allem den Pensionär mit langen Versicherungszeiten, der oftmals viele Jahre hindurch in dem Versorgung gewährenden Betrieb gearbeitet haben wird. Ein Arbeitnehmer hingegen, der früher selbständig war und erst spät versicherungspflichtiger Arbeitnehmer geworden ist, kann eine relativ viel höhere betriebliche Rente beziehen, obgleich er sich vielleicht in der Zeit seiner Selbständigkeit einen Lebensversicherungsvertrag oder Grundbesitz geschaffen hat, die anrechnungsfrei bleiben. Aus allen diesen Gründen muß man sich fragen, ob Anrechnungsklauseln solcher Art sich mit der Billigkeit vereinbaren lassen. Andererseits wird man es nicht als unbillig verwerfen können, wenn ein Arbeitgeber, der eine betriebliche Altersversorgung schafft, die Leistungen nicht nur nach dem Entgeltgedanken, sondern auch nach dem Versorgungsbedarf bemißt. Der Entgeltgedanke tritt dann in den Hintergrund. Geht man vom Versorgungsbedarf aus, so darf man nicht die betriebliche Leistung isoliert betrachten, sondern man muß die "Gesamtversorgung" (gesetzliche Rente aus Pflichtversicherung zuzüglich des betrieblichen Ruhegeldes) sehen. Das betriebliche Ruhegeld wird dann um so niedriger ausfallen, je höher die gesetzliche Rente ist. Sieht man die Dinge so, kann man es schwerlich beanstanden, wenn nach einer betrieblichen Versorgungsregelung die Renten aus der gesetzlichen Pflichtversicherung auch insoweit angerechnet werden, wie sie nicht vom Versorgung schuldenden Arbeitgeber finanziert worden sind. Die vereinbarte Anrechnung der Sozialversicherungsrente bedeutet auch keinen Zugriff des Arbeitgebers auf die Rente des Arbeitnehmers. Dies wäre nicht zulässig. Die Sozialversicherungsrenten sind nur in wenigen Ausnahmefällen pfändbar (§ 119 RVO); sie sind daher grundsätzlich auch nicht übertragbar (§ 400 BGB) und keiner Aufrechnung zugänglich (§ 394 Satz 1 BGB). Die Anrechnung ist aber keine Aufrechnung. Vielmehr wird durch die Anrechnungsklausel entsprechend dem zusätzlichen Charakter der betrieblichen Altersversorgung die Sozialversicherungsrente bis zu der für angemessen und vom Betrieb aus gesehen für tragbar erachteten Gesamtversorgung aufgestockt. Die Anrechnungsklauseln begrenzen den Anspruch auf die betriebliche Leistung von vornherein. Die Pensionäre haben freilich für den Gedanken der "Gesamtversorgung" oft wenig Verständnis. Sie sehen die betriebliche Leistung ohne Zusammenhang mit der Sozialversicherungsrente und emp-

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finden sie als ·verdiente Anerkennung ihrer Arbeitsleistung, die deshalb nichts zu tun haben sollte mit Umständen, die außerhalb ihres Arbeitsverhältnisses und ihres Betriebes liegen. Dennoch hat die Rechtsprechung das Prinzip der Gesamtversorgung - wie ich meine, zu Recht - anerkannt3 und sich lediglich bemüht, Auswüchse zu beseitigen. Das Versorgungsprinzip läßt sich nicht als unsachlich abtun. Wenn das aber so ist, kann es dem Arbeitgeber nicht verwehrt sein, sein betriebliches Versorgungssystem nach diesem Grundsatz einzurichten; man kann dann nur darüber streiten, wo sich im Einzelfall nicht mehr zu billigende Folgerungen ergeben. Diese Auffassung scheint sich auch weithin durchgesetzt zu haben. Anders kann es dann sein, wenn der Arbeitgeber Beiträge von seinen Arbeitnehmern einbehalten hat. Dann sind Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln allerdings insoweit unzulässig, wie das betriebliche Ruhegeld durch die Arbeitnehmerbeiträge finanziert ist; das ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Ähnlich ist es bei den Pensionskassen, die nach dem Versicherungsprinzip arbeiten. Die Kassenrente darf ebenfalls insoweit nicht durch Anrechnungs- oder Begrenzungsklauseln beschnitten werden, wie sie auf Beiträgen der Arbeitnehmer beruht. Dies folgt hier auch aus § 21 Abs.l des Versicherungsaufsichtsgesetzes. Nach dieser Vorschrift dürfen Mitgliederbeiträge und Vereinsleistungen an die Mitglieder bei gleichen Voraussetzungen nur nach gleichen Grundsätzen bemessen sein. Im Fall einer Anrechnungs- oder Begrenzungsklausel ergeben sich aber je nach der Höhe der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung für den einzelnen Versicherten ungleiche Kassenrenten, obgleich die Beiträge regelmäßig nach dem Arbeitsentgelt gestaffelt sind. Bei dem durch Arbeitgeberleistungen finanzierten Teil der Kassenrente ist es anders. Soweit der Arbeitgeber durch eine Pensionskasse die Altersversorgung seiner Arbeitnehmer finanziert, dürfen die Kassenleistungen nach dem Versorgungsbedarf sachgerecht ausgestaltet und differenziert werden. Deshalb sind insoweit Anrechnungsoder Begrenzungsklauseln zulässig4 • 3 Zur Anrechenbarkeit von Sozialversicherungsrenten aus vorbetrieblichen Versicherungszeiten: BAG 7, 132 = AP Nr.43 zu § 242 BGB Ruhegehalt; AP Nr.42, 44 und 81, a.a.O., vgl. auch BAG 18, 200 = AP Nr. 108, a.a.O., zur Anrechenbarkeit eines Nachzahlungsbetrages. Daß die Sozialversicherungsrenten auch insoweit angerechnet werden dürfen, wie sie auf den Arbeitnehmerbeiträgen beruhen, ist in den Urteilen des BAG nicht besonders angesprochen; es wird aber in mehreren Urteilen vorausgesetzt. 4 Vgl. hierzu das auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des BAG vorgesehene Urteil vom 17. Januar 1969 - 3 AZR 96/67 - [demnächst] AP Nr. 1 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Pensionskasse [zu III 3 b der Gründe].

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V.

Die grundsätzliche Anerkennung von Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln schließt nicht aus, daß solche Klauseln im Einzelfall unbillig sein können. 1. Ein Beispiel gibt folgender Fall: Eine Ruhegeldordnung sieht eine Altersrente in Höhe eines nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelten Prozentsatzes des letzten Arbeitseinkommens vor. Gleichzeitig ist bestimmt, daß von öffentlich-rechtlichen Körperschaften gezahlte Renten insoweit angerechnet werden, wie sie zusammen mit der betrieblichen Rente 75 % des letzten Arbeitseinkommens übersteigen. Sollte diese Begrenzungsklausel so zu verstehen sein, daß auch eine Witwenrente darunter fiele, die einer Pensionärin bereits vor ihrem Ruhestand gezahlt worden war, so wäre die Klausel insoweit unbillig und deshalb ungültig. Dies würde nämlich bedeuten, daß zwar die Obergrenze nach dem reinen Arbeitseinkommen ohne die Witwenrente berechnet würde, daß man aber bei der Anrechnung die eigene Altersrente der Witwe zuzüglich der Witwenrente einsetzte. Ein solches Verfahren wäre in sich widersprüchlich; es wäre auch nicht vereinbar mit dem jeder Begrenzungsklausel zugrunde liegenden Prinzip, daß die Versorgungsbezüge in einem angemessenen Abstand unter den Bezügen der Aktiven bleiben sollen. Die Witwe durfte ja vor dem Ruhestand ihren Lebenszuschnitt nach einem Einkommen einrichten, das aus Arbeitsentgelt zuzüglich Witwenrente bestand. Damit verträgt es sich schwerlich, wenn die Witwenrente zwar mitangerechnet, aber bei der Berechnung des für die Obergrenze maßgeblichen Vergleichseinkommens nicht berücksichtigt wird; durch ein solches Verfahren würde zwangsläufig in den meisten Fällen der Lebensstandard der betroffenen Witwe mit dem Ruhestand um mehr als 25 % gedrückt, und zwar selbst dann, wenn sie nach der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit den Höchstsatz der betrieblichen Rente erdient hätte. Die Witwenrente, die zu dem Berufsleben der Pensionärin in keiner Beziehung steht, darf deshalb auch bei der Berechnung der betrieblichen Versorgungsleistung keine Rolle spielen5 •

2. Bedenklich werden Anrechnungs- oder Begrenzungsklauseln auch dann, wenn sie zu einer Auszehrung der betrieblichen Rente führen. Dies kann vor allem dann eintreten, wenn eine Anrechnung der jeweiligen Sozialversicherungsrente vorgesehen ist, während die betriebliche Hente nach dem letzten Arbeitseinkommen errechnet wird und konstant bleibt. Solange die Sozialversicherungsrente mit den jährlichen Anpassungen steigt, kann es leicht geschehen, daß sie nach einer ge5 Vgl. BAG, AP Nr. 114 und 126 zu § 242 BGB Ruhegehalt; das BAG hat allerdings in beiden Fällen die maßgebliche Ruhegeldordnung in dem hier für richtig gehaltenen Sinn ausgelegt (§ 157 BGB).

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wissen Zeit allein den vorgesehenen Prozentsatz des letzten Arbeitseinkommens erreicht. Dieser Fall kann sich sogar dann ereignen, wenn die betriebliche Rente nicht auf dem Stand zur Zeit der Pensionierung festgehalten, sondern - etwa parallel mit der Tariflohnentwicklung in dem betreffenden Betrieb - angehoben wird; denn die Tariflöhne eines Betriebes werden nicht immer in gleichem Maße wie die Sozialversicherungsrenten steigen. a) Eine solche Auszehrung muß bei den Betroffenen nicht nur auf Verständnislosigkeit stoßen, sondern auch Bittel"keit hervorrufen. Arbeitnehmer, die Jahre hindurch unter der Geltung einer Ruhelohnordnung gearbeitet haben und unter Bewilligung einer betrieblichen Rente in den Ruhestand versetzt worden sind, werden darauf vertrauen, daß sie für die Dauer ihres Ruhestandes zusätzlich zu ihrer Sozialversicherungsrente eine betriebliche Rente erhalten. Dieses Vertrauen ist um so berechtigter, als die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung regelmäßig zugleich Entgeltcharakter haben. Die Altersrenten sollen selbst dann, wenn die betriebliche Versorgungsordnung maßgeblich durch das Versorgungsprinzip geprägt ist, dennoch auch die während des Arbeitslebens erbrachten Dienste belohnen, und so werden sie auch aufgefaßt. Der Rentner wird sich mit einer in Grenzen gehaltenen Anrechnung noch abfinden können. Soll er aber plötzlich allein auf seine gesetzliche Rente angewiesen sein, muß er sich enttäuscht und um einen Teil des ihm zustehenden Lohnes betrogen fühlen. Man wird auch kein Verständnis dafür erwarten dürfen, daß der Arbeitgeber infolge der Dynamisierung der Sozialversicherungsrenten von seiner Ruhegeldverpfiichtung frei werden sollte. Im allgemeinen trägt die betriebliche Praxis diesem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung und läßt es zu einer Auszehrung der betrieblichen Renten nicht kommen, beispielsweise indem sie anrechnungsfreie Mindestrenten zahlt. Wo dies nicht geschehen sollte, muß die Rechtsprechung im Wege der Billigkeitskontrolle helfen. Das einmal erweckte Vertrauen verdient rechtlichen Schutz. Anrechnungs- oder Begrenzungsklauseln, die zu einer allmählichen Auszehrung des betrieblichen Ruhegeldes führen, sind mit der Billigkeit nicht vereinbar; ich möchte sie sogar für offenbar unbillig halten und deshalb auch einer Betriebsvereinbarung, soweit sie solche Klauseln enthielte, die richterliche Anerkennung verweigern. Es ist nicht nur das Gebot des Vertrauensschutzes, das zu dieser Lösung führt. Anrechnungs- oder Begrenzungsklauseln mit Auszehnmgswirkung widersprechen auch dem Grundgedanken der Rentenreform. Die Rentner sollen nach dem Willen des Gesetzgebers durch

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eine Anpassung der Sozialversicherungsrenten an die Lohnentwicklung an dem wirtschaftlichen Wachstum teilhaben; sie sollen nicht auf dem Stand zur Zeit ihrer Pensionierung stehenbleiben. Dieses sozialpolitische Ziel der Rentenreform wird durch eine Klausel mit Auszehrungseffekt so lange durchkreuzt, bis die Kassenrente ganz aufgezehrt ist. Auch das ist unvereinbar mit einer betrieblichen Versorgungsregelung, die ihrem Wesen nach eine auf Dauer angelegte Zusatzversorgung ist6 • Bei einer betrieblichen Altersversorgung, die - wie zum Beispiel viele Pensionskassen - auch durch Beiträge der Arbeitnehmer finanziert wird, kann es zu einer völligen Auszehrung der betrieblichen Rente (Kassenrente) nicht kommen, weil mindestens der auf den Arbeitnehmerbeiträgen beruhende Rententeil ungekürzt ausgezahlt werden muß. Eine Auszehrung der aus Mitteln des Arbeitgebers finanzierten Rente ist denkbar; ich hätte dagegen die gleichen Bedenken wie gegen eine völlige Auszehrung der vom Arbeitgeber allein finanzierten betrieblichen Rente 7 • Wie soll man schließlich einen Fall beurteilen, in dem die Auszehrungswirkung sich sogleich bei Beginn des Ruhestandes zeigt, weil die gesetzliche Rente allein den Betrag erreicht, der dem Rentner nach der maßgeblichen Ruhegeldregelung als Gesamtversorgung zukommen soll? Bei wörtlicher Anwendung des Vertragswerkes würde der Rentner hier von vornherein keine betriebliche Rente zu erhalten haben. Es käme nicht zu einer allmählichen Auszehrung, sondern die betriebliche Altersversorgung brauchte für diese Gruppe von Rentnern gar nicht einzutreten. Der zusätzliche Vertrauenstatbestand, der in der Bewilligung der betrieblichen Rente mit Eintritt in den Ruhestand liegt, fiele weg. Für die Zulässigkeit einer solchen Regelung ließe sich ferner anführen: wenn man den Sinn unserer Klauseln - wie ich es zu IV beschrieben habe - darin sieht, daß der Arbeitgeber die Sozialversirherungsrenten bis zu der für angemessen und tragbar erachteten Gesamtversorgung aufstocken will, dann müsse es auch möglich sein, daß nichts aufzustocken übrig bleibt, weil die gesetzliche Rente allein schon den vollen Betrag deckt. Trotzdem habe ich auch in einem solchen Fall gegen die Anrechnungs- oder Begrenzungsklausel Bedenken, mindestens dann, wenn 6 Vgl. BAG 15, 249 = AP Nr.92 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BAG vom 19. Juli 1968 - 3 AZR 226/67, BB 1968, 1082 = [demnächst] AP Nr.129 zu § 242 BGB Ruhegehalt; ferner BGH, AP Nr.131 zu § 242 BGB Ruhegehalt, der die Auszehrung mit Hilfe der ergänzenden Vertragsauslegung vermeidet. 7 Ein kurzer Hinweis in diesem Sinn findet sich für den Fall einer Pensionskassensatzung in dem in Fußnote 4 genannten Urteil vom 17. Januar 1969 [zu III 3 c der Gründe]. Auf die besondere Situation bei der Unterstützungskasse, bei der ein Rechtsanspruch immer ausgeschlossen ist, kann ich hier nicht eingehen. Das in Fußnote 6 zitierte Urteil vom 19. Juli 1968 betrifft den Fall einer Unterstützungskasse.

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nicht besondere Umstände eine derartige Regelung rechtfertigen. Die betriebliche "Versorgungszusage" würde so zu einer Art Ausfallbürgschaft. Es mag Fälle geben, wo es in der Tat so gemeint ist und der Arbeitnehmer diese Bedeutung einer solchen Zusage auch erkennen konnte. Im Regelfall wird aber der Arbeitnehmer, wenn im Betrieb eine Versorgungsregelung besteht, darauf bauen dürfen, daß er zusätzlich zu seiner gesetzlichen Rente noch eine betriebliche Leistung erhält, falls er im übrigen die Voraussetzungen erfüllt. Die gegen die Auszehrung angeführten überlegungen treffen auch diesen Fall. Deshalb schiene es mir unbillig und unzulässig, wollte der Arbeitgeber das in seine Versorgungsregelung gesetzte Vertrauen enttäuschen und sich darauf berufen, daß die gesetzliche Rente allein eine ausreichende Versorgung gewährleiste. Dies möchte ich um so eher annehmen, als häufig eine betriebliche Altersversorgung Menschen veranlassen wird, sich in diesem Betrieb anstellen zu lassen und dort zu bleiben. b) Mit der Feststellung, daß Anrechnungs- und Begrenzungsklauseln in den beschriebenen Fällen unbillig sind, ist es nicht getan. Es bleibt die Frage, was an ihre Stelle zu treten hat. Sicherlich kann die Unbilligkeit der Auszehrung nicht zur Unwirksamkeit der gesamten Ruhegeldregelung führen. Die Regel des § 139 BGB paßt hier nicht. Anderenfalls verkehrte sich der Schutz der Pensionäre in sein Gegenteil. Man könnte daran denken, Anrechnungsund Begrenzungsklauseln schlechthin für unwirksam zu erklären, sofern sie - wenn auch nur in einigen Fällen - zur Auszehrung des betrieblichen Ruhegeldes führen. Aber damit würde man über das Ziel hinausschießen, weil nicht schon die Anrechnung an sich, sondern nur das übermaß unbillig ist. Außerdem wird ein Pensionär, bei dem es nicht zur Auszehrung seiner betrieblichen Rente kommt, schwerlich deshalb die Unwirksamkeit einer Anrechnungs- oder Begrenzungsklausel geltend machen können, weil die unerwünschte Wirkung bei anderen eintritt. Es bleibt die Lösung, daß nur derjenige Pensionär, bei dem es zur Auszehrung kommt, sich auf die Unbilligkeit berufen und ein anrechnungsfreies Ruhegeld verlangen kann. Auch das ist unbefriedigend. Die Auszehrungswirkung ergibt sich zuerst bei den Pensionären mit den höchsten Sozialversicherungsrenten. Nur sie erhielten bei dieser Lösung die ungekürzte betriebliche Rente, während andere sich die Anrechnung gefallen lassen müßten, ein Ergebnis, das sich weder mit dem Versorgungsgedanken noch mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbaren ließe. Es kann sich folglich nur darum handeln, die Klauseln abzumildern, etwa in der Weise, daß die gesetzliche Rente nur anteilig angerechnet oder daß ein anrechnungsfreier Mindestbetrag gezahlt wird. Dies bedeutet, daß der Richter die vertragliche Regelung umgestalten müßte.

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Marie-Luise Hilger

Ein derartiger richterlicher Eingriff in einen Vertrag ist an sich nichts Außergewöhnliches. Das Gesetz sieht ihn beispielsweise in § 315 Abs. 3 Satz 2 und in § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB bei der Bestimmung einer vertraglichen Leistung vor. Ähnliches kann sich ergeben, wenn Verträge einer veränderten Geschäftsgrundlage angepaßt werden müssen. Man stößt jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn die Vertragsergänzung oder -anpassung eine betriebliche Ruhegeldordnung betrifft, die für eine Vielzahl von Arbeitnehmern und Pensionären gilt. Eine solche generelle betriebliche Regelung wird von dem Grundsatz der Gleichbehandlung beherrscht; sie kann dem einen nicht versagen, was sie dem anderen zukommen läßt. Ihr liegt ein Leistungsplan zugrunde, der die den einzelnen zuzubilligenden Ansprüche sorgfältig aufeinander abstimmt und in seinen finanziellen Auswirkungen genau berechnet sein muß. Die Korrektur eines solchen Vertragswerkes durch Richterspruch mag dann möglich sein, wenn nur wenige übersehbare Ausnahmefälle davon betroffen werden. Wenn es sich aber nicht nur um Einzelfälle handelt, scheint es mir bedenklich, in einem Verfahren, in dem in der Regel nur ein einzelner Pensionär dem Arbeitgeber gegenübersteht, durch Gerichtsurteil in die betriebliche Ruhegeldregelung, die doch für alle gelten soll, endgültig umgestaltend einzugreifen. Ich halte es auch nicht für eine sachgerechte Lösung, sozusagen mit Scheuklappen nur den Einzelfall des jeweiligen Rechtsstreits zu sehen, für diesen eine billige Entscheidung zu treffen und dabei in Kauf zu nehmen, daß diese auf den Einzelfall bezogene Entscheidung in das Gesamtgefüge des Vertragswerkes nicht paßt. Wollte man so vorgehen, wäre beispielsweise eine Anrechnung für den klagenden Pensionär für unzulässig zu erklären oder abzumildern, und das Gericht brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, wie sich seine Entscheidung in anderen Fällen auswirkt; vielleicht dürfte das Gericht solche außerhalb des Rechtsstreits liegenden Umstände nicht einmal in seine Überlegungen einbeziehen. Das Problem ist kaum zu lösen, solange unser Verfahrensrecht eine für Massentatbestände des Arbeitsrechts passende Prozeßform nicht kennt. Das Gericht wird deshalb in derartigen Fällen vordringlich auf einen Vergleich hinwirken müssen. Kommt kein Vergleich zustande und will man die ausschließlich auf den Einzelfall bezogene Lösung vermeiden, läßt sich vielleicht - je nach Lage des Falles - eine zeitlich befristete Billigkeitsentscheidung erwägen, damit in der bis zum Ablauf der Frist verbleibenden Zeit das Vertragswerk im ganzen den Erfordernissen der Billigkeit angepaßt werden kann. Dabei ist freilich die Gefahr nicht auszuschließen, daß es zu einem weiteren Rechtsstreit über die Frage kommt, ob die Neuregelung der Billigkeit entspricht.

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Otto Kunze I. Selbltindige Veröffentlichungen Schutz der älteren Angestellten. Eine sozialpolitische Untersuchung. (Mit einer Einleitung von Georg Jahn.) Berlin 1929. Reform des Unternehmensrechts. Bochum 1954. Sclmiftenreihe der Industriegewerkschaft Bergbau. H. 1. Wirtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit (zus. mit Alfred Christmann). 2 Bände, Köln 1964. Untemehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung (zus. mit den Professoren Boettcher, Hax, v. Nell-Breuning, Ortlieb u. Preller). Berlin 1968. U. Beiträge zu Festschriften und anderen Sammelwerken Von der wdrtschaftlichen Mitbestimmung zur Unternehmensverfassung. In: Gewerkschaft - Wirtschaft - Gesellschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Ludwig Rosenberg. Köln 1963, S.133-144. Das Verhältnis des dispositiven Gesetzesrechts zum Tarifvertrag. In: Jahrbuch "Arbeitsrecht der Gegenwart". Hrsg. v. Gerhard Müller, Bd.1, Berlin 1964, S. 119-143. Die Publizität des Großunternehmens. In: Normen der Gesellschaft. Festgabe für Oswald v. Nell-Breuning SJ zu seinem 75. Geburtstag. Mannheim 1965, S. 292-325. Die Verfassung großer Unternehmen als gesellschaftspolitisches Problem. In: Interdependenzen von Politik und Wirtschaft. Festgabe für Gert von Eynem. Berlin 1967, S.18~09. Der Jurist in der Gewerkschaft. In: Juristenjahrbuch. Hrsg. v. Gerhard Erdsiek; Bd. 6. Köln 1966/66, S. 78-90. Unternehmenssphäre und Privatsphäre im pluralistisch verfaßten Personalunternehmen. In: Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Bruno Gleitze. Berlin 1968, S.385--404. IU. Aufsätze und Referate Ober den Begriff und die Methode der Politik-Wissenschaft. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Bd. 131, 1929, S.813-838. Zur Auslegung von § 1 Ziffer 1 des Gesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens. In: Deutsches Strafrecht, Bd.6, 1939, S. 158-163. Die ,Zölibatsklausel' im Einzelarbeitsvertrag. In: Arbeit und Recht, 1953, S.76-78.

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Veröffentlichungen von Otto Kunze

Die arbeitsrechtliche Bedeutung des Art. 117 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes. In: Arbeit und Recht, 1953, S.110-111. Die Haftung des Arbeitnehmers für die Sozial- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge und für die Lohnsteuer. In: Arbeit und Recht, 1953, S.I71-173. Die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes auf die Montan-Holding-Gesellschaften. Gutachten. Sonderbeilage der Gesellschaft für soziale Betriebspraxis m.b.H. Nr. 8, 1953. Qualiflz