Aus dem Hamburger Rechtsleben: Walter Reimers zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428444601, 9783428044603

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Aus dem Hamburger Rechtsleben: Walter Reimers zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428444601, 9783428044603

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Aus dem Hamburger Rechtsleben

Aus dem Hamburger Rechtsleben Walter Reimers zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Heinrich Aekermann, Jan Albers, Karl August Rettermann

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der tl'bersetzung, für sämtliche Belträge vorbehalten © 1979 Dunelter & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1979 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Prlnted in Germany ISBN 3 428 04460 6

Geleitwort Nach seinem 65. Geburtstag ist Dr. Walter Reimers, Vizepräsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg, mit dem 31. Dezember 1978 in den Ruhestand getreten. Aus diesem Anlaß bringen ihm Hamburger Juristen, die ihm als Freunde oder Wegbegleiter verbunden sind, diese Festgabe dar. Sie gilt dem Richter, der durch seine Persönlichkeit und sein Wirken weit über sein Amt hinaus Ansehen und Einfluß gewonnen hat, ebenso wie dem hochangesehenen Prüfer, der durch seine Prüfungstätigkeit und durch seinen eigenen Einsatz in der Ausbildung junger Juristen viele Examensjahrgänge aus Harnburg und den Nachbarländern geprägt hat, sie gilt dem Manne, der es "aus Lieb' der Gerechtigkeit und um gemeinen Nutzens willen" stets als seine Pflicht angesehen hat, seine Arbeitskraft innerhalb und außerhalb seiner Ämter für die Verwirklichung des Rechts und für die Linderung der Nöte seiner Mitmenschen einzusetzen. Walter Reimers wurde am 17. August 1913 in Hamburgs damaliger Nachbarstadt Altona als Sohn eines Architekten geboren. Er bestand an der dortigen Schleeschule 1931 die Reifeprüfung und studierte anschließend in Tübingen, dem seine besondere Liebe galt und gilt, sowie in Berlin und Göttingen Rechtswissenschaft. Der Ersten Staatsprüfung 1934 in Celle folgte 1935 die Promotion in Göttingen aufgrund einer Dissertation "Die causa und die dingliche Einigung". Nachdem er 1939 die Große Juristische Staatsprüfung bestanden hatte, begann er am 1. Februar 1939 seinen Dienst als Assessor beim Amtsgericht Hamburg. Am Kriege nahm Walter Reimers - am 1. August 1940 zum Amtsgerichtsrat ernannt- vom ersten bis zum letzten Tage teil, zuletzt als Oberleutnant der Kriegsmarine. Seit dem 16. Oktober 1946 war er wieder als Amtsrichter in Harnburg tätig, in der damals ebenso schwierigen wie wichtigen Stellung des Vorsitzenden einer Mieteabteilung. Als die Britische Militär-Regierung 1948 einen internationalen Studienausschuß für Hochschulreform einsetzte, wurde Walter Reimers auf Vorschlag von Präsident Dr. Ruscheweyh zum Sekretär der Kommission berufen und für die Zeit dieser Tätigkeit als Richter beurlaubt. Das sogenannte "Blaue Gutachten" zur Hochschulreform, das der Ausschuß im De~mber 1948 vorlegte, war für die Entwicklung des Hochschulwesens in den folgenden Jahren richtungweisend. Die Mitarbeit

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Geleitwort

in dieser Kommission war für Walter Reimers Anlaß und Grund für seine Mitwirkung an der Gestaltung des Hamburger Hochschulwesens. So wurde er 1950 in den Vorstand des damals vom Senat der Stadt aufgrund des "Blauen Gutachtens" gebildeten "Hochschulbeirats" gewählt, der ein Bindeglied zwischen der Öffentlichkeit und den Hochschulen sein sollte; als Vorsitzender bestimmte er von 1954 bis 1958 maßgeblich die Arbeit dieses Gremiums, nachdem er sich in ihm zuvor mit Erfolg u. a. für die Schaffung einer Theologischen Fakultät und die Bildung einer selbständigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät eingesetzt hatte. Daneben wirkte er an der Gründung und später in der Leitung des "Christophorus-Hauses" und des "EuropaKollegs" mit, die damals als Studentenwohnheime mit besonderen Bildungsaufträgen geschaffen wurden. Im Mittelpunkt der richterlichen Arbeit von Walter Reimers stand seit dem 9. April1949 das- damals ebenso wie heute mit dem Hanseatischen Oberlandesgericht eng verbundene - Harnburgische Oberverwaltungsgericht. Zunächst noch als Amtsgerichtsrat in der Stellung eines zum "rechtsgelehrten Beisitzer" berufenen Hilfsrichters, seit dem 1. September 1950 als Oberlandesgerichtsrat war er Mitglied des I. OVGSenats unter dem Vorsitz von Senatspräsident Dr. Pardey, daneben 1955 für mehrere Monate auch Mitglied des 4. Zivilsenats unter Senatspräsident Dr. Georg Prieß. Nach seiner Ernennung zum Senatspräsidenten übernahm Walter Reimers am 1. Januar 1956 den Vorsitz im II. OVG-Senat, dessen Rechtsprechung - namentlich zum hamburgischen Baurecht - er maßgeblich mitgestaltete. Am 1. November 1964 wurde er zum Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts und damit kraft Gesetzes auch zum Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts berufen. Auch als dreifacher Vizepräsident blieb er Vorsitzender des II. OVG-Senats und der beiden Senate für Personalvertretungssachen; zusätzlich übernahm er am 1. Januar 1965 den Vorsitz im 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts. Außerdem war er seit 1970 Präsident des Harnburgischen Berufsgerichtshofes für die Heilberufe und von 1965 bis 1976 Mitglied des Ehrengerichtshofes für Rechtsanwälte. Trotz der Belastung durch diese Richterämter wirkte Walter Reimers viele Jahre lang mit besonders großem Einsatz in beiden Prüfungsämtern. Schon 1948 wurde er Mitglied des für das Referendarexamen zuständigen Justizprüfungsamtes beim Oberlandesgericht, 1958 Stellvertreter des Vorsitzenden und 1967 selbst Vorsitzender dieses Amtes als Nachfolger des verstorbenen Senatspräsidenten Dr. Gramm. Dem Gemeinsamen Prüfungsamt der Länder Bremen, Harnburg und Schleswig-Holstein für die Große Juristische Staatsprüfung gehörte er seit 1950 an; er wurde 1964 zum Stellvertretenden Vorsitzenden bestellt.

Geleitwort

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Neben den mit diesen Ämtern verbundenen Verwaltungsaufgaben nahm er während dieser Jahre unermüdlich auch seine Aufgaben als Prüfer wahr. Als Vorsitzender des für die Studenten der Rechtswissenschaft zuständigen Prüfungsamtes geriet Walter Reimers um 1970 in d€n Wirbel der Studentenunruhen, der Ausbildungsreformen und der Verunsicherung des Juristenstand€s. Auch hier blieb er stets seiner Überzeugung treu. Er bestand auf dem Leistungsprinzip und widerstand jeder Versuchung, die Anforderungen im Examen zu senken. Dadurch unterstützte er wirkungsvoll die gleichgerichteten Bemühungen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in ihren schwierigen Auseinandersetzungen innerhalb der Universität. Die Zusammenarbeit von Justiz und Rechtsfakultät in der Referendarprüfung pflegte Walter Reimers in vorbildlicher Weise. In ihm hatte die Fakultät nicht nur einen immer verständigungsbereiten Partner, sondern auch einen Helfer und Freund. Für Walter Reimers war es eine selbstverständlich€ Pflicht, seine Arbeitskraft nicht nur in den Dienst seiner amtlichen Aufgaben zu stellen. Daneben und darüber hinaus wirkte er mehrere Jahre im Kirchenvorstand von St. Jacobi. Von sein€r vielfältigen Tätigkeit in Vereinen sei hier seine Arbeit in der Gesellschaft Hamburger Juristen und im Deutschen Juristentag hervorgehoben. Als Nachfolger von Herbert Ruscheweyh war er von 1965 bis 1974 Vorsitzender der traditionsreichen Juristengesellschaft, die 1958 seinen Vortrag über "Die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht" in ihrer Schriftenreihe veröffentlicht hatte. In die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages wurde Walter Reimers 1949- damals noch Amtsgerichtsrat- auf dem ersten Nachkriegsjuristentag in Köln gewählt. Nachdem er 1951, als die Geschäftsführung des Juristentages nach Harnburg verlegt wurde, als Nachfolger von Gerhard Kegel zum Schriftführer der Deputation gewählt worden war, nahm er dieses Amt bis zu seinem durch die Satzung vorgeschriebenen Ausscheiden im Jahre 1957 wahr. 1966 erneut in die Ständige Deputation gewählt, blieb er ihr Mitglied bis 1974. Besonders hervorg€treten ist Walter Reimers in diesem Zusammenhang als Vorsitzender der Staatshaftungskommission, die 1970 aufgrund der Beschlüsse d€r von ihm geleiteten Abteilung des Nürnberger Juristentages (1968) von der Bundesregierung eingesetzt wurde und 1973 ihren für die Gesetzgebungsarbeit auf diesem Gebiet grundlegenden Bericht €rstattete. Die hier vorgelegte Festgabe beschränkt sich nicht auf Gegenstände, mit denen Walter Reimers sich befaßt hat. Die B€iträge gehen vielfach weit darüb€r hinaus. Sie wollen von verschiedenen Blickpunkten aus Hamburgs Rechtsleben in Gegenwart und Vergangenheit widerspie-

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Geleitwort

geln. Mit solcher Ausrichtung auf die Freie und Hansestadt Harnburg und ihr Recht glauben Herausgeber und Verfasser der Lebensarbeit von Walter Reimers am besten gerecht zu werden. In allem, was er erstrebte und erreichte, handelte er als Hamburger Bürger, getreu dem alten Bürgereid, der einst den Schwörenden dazu verpflichtete, der Stadt und dem Senat treu und hold zu sein, das Beste der Stadt zu suchen und Schaden von ihr abzuwenden, die Verfassung und die Gesetze gewissenhaft zu beobachten und bei all seinem Tun als ein rechtschaffener Mann niemals seinen Vorteil zum Schaden der Stadt zu suchen.

Heinrich Ackermann

Jan Albers

Karl August Bettermann

Inhaltsverzeichnis Dr. iur. Götz Landwehr, ordenUicher Professor an der Universität Harnburg: "Nation" und "Deutsche Nation" - Entstehung und Inhaltswandel zweier Rechtsbegriffe unter besonderer Berücksichtigung norddeutscher und hansischer Quellen vornehmlich des Mittelalters

1

Dr. iur. Geert Seelig, Rechtsanwalt in Hamburg: Die "Matrikel der bei den hamburgischen Gerkhten admittierten Herren Advokaten" und die rechtsgelehrten Hamburger Richter 1816 - 1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Dr. iur. Gerhard Commichau, Rechtsanwalt in Hamburg: Die hansestädtische Juristenausbildung im 19. Jahrhundert

59

Hans-Joachim Kurland, Vizepräsident des Hanseatischen Oberlandes-

gerichts Hamburg: Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 77 Dr. iur. Walter Stiebeler, Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg: Zum Stand der einstufigen Juristenausbildung nach dem Hamburger Modell ............................................................. 103 Dr. iur. Gerhard Trowitz, Recht·sanwalt ·in Hamburg: Emil von Sauer und die Wiedererstehung der anwaltliehen Standesorganisationen ..................................................... 129 Dr. iur. Justus R. G. Warburg, Rechtsanwalt in Hamburg: Zur Bedeutung der Ethik für die Tätigkeit des Rechtsanwalts . . . . . . 139 Dr. iur. Heinrich Ackermann, Rechtsanwalt in Hamburg: ZUr Problematik der Überwachung des Verteidigergespräches mit dem Untersuchungsgefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhaltsverzeichnis

Horst-Diether Hensen, Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg: Zum Rechtsgespräch im Zivilprozeß ................................ 167 Martin Luther, Rechtsanwalt in Hamburg:

Aus der Praxis deutscher Schiedsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Dr. ·iur. Kuno Straatmann t. Stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg: Bemerkungen zur Hamburger freundschaftlichen Arbitrage . . . . . . . . 199 Dr. iur. Albrecht Zeuner, ordentlicher Professor an der Universität Harnburg: Auskunftserteilung als Schadensersatz bei Geheimnisverrat . . . . . . . . 217 Dr. iur. Herbert Bernstein, ordentlicher Professor an der Universität Hamburg: Wechselkollisionsrecht und excuses for nonperformance bei Enteignung des Wechselschuldners - Nachlese zum chilenischen Kupferstreit in Harnburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Dr. iur. Paul Wriede, Vorsitzender Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg: Zur Rechtsstellung des Inhabers eines Konnossements ohne Verfrachterbezeichnung ................................................ 241 Dr. iur. Hans Peter lpsen, ordentlicher Professor an der Universität Hamburg: Juristische Hamburgensien ........................................ 249 Dr. iur. Dietrich Katzenstein, Richter am Bundesverfassungsgericht: Vom Entstehen der nordelbischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Dr. iur Wolfgang Martens, ordentlicher Professor an der Universität Hamburg: Der Verfassungsstreit um die Bürgerschaftswahl 1978 .............. 303 Dr. iur. Diether Haas, Staatsrat in Hamburg: Die Pflicht zur Aktenvorlage bei der Bürgerschaft .................. 321

Inhaltsverzeichnis

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Dr. iur. Jan Atbers, Vorsitzender Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Harnburg: Das Verfahren des Harnburgischen Verfassungsgerichts im Spiegel seiner Rechtsprechung

349

Dr. iur. Uwe Mückenheim, Richter am Harnburgischen Oberverwaltungsgericht Die Nachbarklage im hamburgischen Baurecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Dr. iur. Fetix Weyreuther, Richter am Bundesverwaltungsgericht und Professor an der Technischen Universität Berlin: Ablösungsverträge, entgegenstehende Rechtsvorschriften und gesetzliche Verbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Dr. iur. Oswatd Heddaeus, Richter am Bundesverwaltungsgericht i. R.: Die Vollstreckung von Fernmeldegebühren ........................ 397 Dr. iur. Kart August Bettermann, ordentlicher Professor an der Universität Harnburg: Über Flughafengebühren -

Von der Erfüllung öffentlicher Aufgaben

in Privatrechtsformen und von der zivilgerichtliehen Kontrolle der Benutzungsordnungen öffentlicher Anstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Dr. iur. Eberhard Schmidhäuser, ordentlicher Professor an der Universität Hamburg: Zum Mordmerkmal der Habgier -

Bemerkungen über ein Urteil

des Hanseatischen Oberlandesgerichts Harnburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Dr. iur. Joachim Hruschka, ordentlicher Professor an der Universität Hamburg: Zwei Axiome des Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

"Nation" und "Deutsche Nation" Entstehung und Inhaltswandel zweier Rechtsbegriffe unter besonderer Berücksichtigung norddeutscher und hansischer Quellen vornehmlich des Mittelalters Von Götz Landwehr

Adam, der magister scholarum der Domschule in Bremen, berichtet in seiner, in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verfaßten "Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche", Kaiser Ludwig der Fromme habe im Jahre 831 auf der Reichsversammlung zu Diedenhofen (an der Mosel) die nordelbische Stadt Harnburg ("Hammaburg civitas Transalbianorum") zur Mutterkirche bestimmt für alle "barbarae nationes" der Dänen, Schweden und ebenso der Slawen und die anderen Nachbarvölker ("populi") ringsum. Zum Erzbischof dieser Kirche ließ er Ansgar (801- 865), den "Apostel des Nordens", weihen1 • Zwei Jahre später bestätigte Papst Gregor IV. diese Gründung. Dieser Vorgang ist uns in einer zu Beginn des 12. Jahrhunderts gefälschten Urkunde überliefert. Darin heißt es, Gregor entsende Ansgar als Legaten zu allen Stämmen ("gentes") ringsum der Dänen, Schweden und Norweger, auf Helgoland, Island und Grönland, in Helsingland (Schweden) und Finnland, sowie der Slawen und schließlich aller "septentrionales et orientales nationes" 2 • In diesen beiden Quellen aus dem 11. und 12. Jahrhun1 Adam von Bremen (gest. nach 1081), Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontijicum, I 16 (Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kirche und des Reiches, hrsg. u. übers. von Werner TriUmich u. Rudolf Buchner, 1968): "Habito igitur generali sacerdotum consilio pius cesar votum parentis implere cupiens Hammaburg civitatem Transalbianorum metropolem statuit omnibus barbaris nationibus Danorum, Sueonum itemque Sclavorum et aliis in circuitu coniacentibus populis, eiusque cathedrae primum archiepiscopum ordinari jecit Ansgarium." Vgl. auch: Adam von Bremen, I 27. 2 Papst Gregors IV. (827 - 844) Bestätigung für das Erzbistum Harnburg [von 834]: "Ipsumque filium nostrum iam dictum Ansgarium et successores

eius legatos in omnibus circumquaque gentibus Danorum, Sueonum, Noruehorum, Farrie, Gronlondan, Halsingalondan, Islandan, Scrideuindun, Slavorum, nec non omnium septentrionalium et orientalium nationum, quocunque modo nominatarum, delegamus." Hamburgisches Urkundenbuch, Bd. I, 9 (hrsg. von Johann Martin Lappenberg, 1842). - Vgl. auch: Rimbert (gest. 888), 1 Aus dem Hamburger Rechtsleben

Götz Landwehr

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dert werden die Völker des Nordens unterschiedlich einmal als "gentes", dann als "populi" und schließlich als "nationes" bezeichnet, ohne daß erkennbar wird, ob sich hinter diesem Wechsel der Terminologie inhaltliche Unterscheidungen oder nur stilistische Abwandlungen verbergen. Dieser Befund gibt uns Anlaß, im folgenden der Bedeutung des Wortes "natio" und der deutschen Bezeichnung "Nation" insbesondere in den mittelalterlichen Quellen nachzugehen.

I. Der Begriff "natio" in den früh- und hochmittelalterlichen Quellen Im klassischen Latein bedeutet "natio": -

zunächst das "Geborenwerden", die "Geburt";

-

dann die "Herkunft";

-

weiterhin bezeichnet "natio" in Gleichsetzung mit "gens" den "Volksstamm" ("externae nationes et gentes" bei Cicero) und wird hauptsächlich für ferne unbedeutende Völker mit geringer Kultur oder barbarische Volksstämme, bei Tertulian ganz allgemein für "Heiden", gebraucht;

-

schließlich steht "natio" für eine durch gemeinsame Eigentümlichkeiten gekennzeichnete Menschengruppe, den Menschenschlag, die Gattung oder die Menschenklasse3 •

Tacitus gebraucht in der Germania das Wort "natio" in der Regel für den einzelnen germanischen Stamm oder die Völkerschaft, während er mit "gens" die ganze sprachlich und kulturell zusammengehörige Völkergruppe der Germanen versteht 4• Vita Anskarii (verfaßt: 865 - 876, sowie verfälschte Fassung aus dem Anfang des 12. Jh.), c. 13 (Qu. d. 9. u. 11. Jh. z. Gesch. d. hamb. K. [Fn. 1], S. 46 f.). 846: Papst Sergius li (844- 847) bestätigt dem hamburgischen Erzbischof Ansgar dessen Sprengel in den nordischen Reichen: "Concedimus igitur tibi, sicut a predecessore nostro beato Gregorio concessum est, scilicet ut gentes Wimodiorum, Norblingorum, Danorum, Noruenorum, Suenorum, vel quascunque septentrionalium nacionum iugo fidei predicatione tua subdideris, ad sedem Hamaburgensem spirituali dominatione possideas" (Fälschung aus dem Anfang des 12. Jh.), Hamb. UB, Bd. I, 11. 3 K. E. Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, 11. Aufl. (1962).- Vgl. auch: Kurt Heissenbüttel, Die Bedeutung der Bezeichnungen für "Volk" und "Nation" bei den Geschichtsschreibern des 10. bis 13. Jahrhunderts, phil. Diss. Göttingen, 1920, S. 13 ff. 4 Tacitus, Germania, c. 2 ("nationis nomen, non gentis"), 4, 14, 28, 33, 34, 38, 40, 46. Lediglich in c. 27 setzt er "gens" und "natio" gleich (Die Germania des Tacitus, erl. von Rudolf Much, 3. Aufl., hrsg. von Herbert Jankuhn und Wolfgang Lange, 1967, S. 65, 93, 330, 347 f., 356 f., 362). Vgl. auch: Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl., 1880, S. 203, Anm. 2.

"Nation" und "Deutsche Nation"

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Nahezu sämtliche dieser Bedeutungen von "natio" kehren in den mittelalterlichen Quellen wieder. 1. In der Lex Burgundionum des burgundischen Königs Gundobad (ca. 474- 524) werden die Burgunder in strenger Abgrenzung zu den im Burgundenreich lebenden Römem als Angehörige der "natio barbarum" bezeichnet5• Hier wird die ursprünglich abwertende Terminologie der Römer amtlicherseits als abstrakte Bezeichnung für das eigene Volk übemommen.

2. Nach dem Edikt des langobardischen Königs Rothari (636- 652) von 643 soll eine unverheiratete freie Frau, wenn sie von jemandem beleidigt wird, als Buße ihr Frauenwergeld erhalten "secundum nationem suam"6 • Hier bedeutet "natio" Geburtsstand oder Herkunft. 3. Die Lex Ribuaria, das unter Pipin im Jahre 763 aufgezeichnete und überarbeitete Volksrecht der Rheinfranken, schreibt vor, daß Franken, Burgunder und Alemannen, "seu de quacumque natione conmoratus fuerit, in iudicio interpellatus" (oder von welcher Nation auch immer der ist, der vor Gericht belangt wird), nach dem Recht des Ortes, an dem sie geboren wurden, gerichtlich antworten sollen7 • Hier hat "natio" die gleiche Bedeutung wie "gens" und bezeichnet den "Volksstamm". Denselben Wortsinn hat "natio" bei Rahewin (gest. 1177) in der Fortsetzung der Gesta Friderici des Bischofs Otto von Freising (um 1112 bis 1158). Dort schildert er für das Jahr 1158 die glanzvolle Zusammensetzung des kaiserlichen Heeres und nennt namentlich: Franken, Sachsen, Ribuarier, Burgunder, Schwaben, Bayern, Lothringer, Böhmen, Ungarn, Kärntner, und fügt hinzu: "et cum his aliae nonnullae Celticae seu Germaniae nationess." Sowohl im Sinne von "Herkunft" als auch in der Bedeutung von "Volksstamm" gebraucht der Pfarrer Helmold von Bosau (um 1125 bis nach 1177) in seiner in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfaßten Slawenchronik das Wort "natio". Er spricht von den Einwan5 Lex Burgundionum, tit. II 1, X 1, XXXIX 1, XLVII 1, LXI, LXXIX 1, Gesetze der Burgunden, hrsg. von Franz Beyerle (Germanenrechte, Bd. 10,

1936).

G Edictus Rothari, c. 198; vgl. auch c. 374. In: Edictus ceteraeque Langobardorum Leges, ed. Friedrich Bluhme, MG Font. iur. Germ. antiqui (1869). 7 Lex Ribvaria, c. 31 § 3, hrsg. von Karl August Eckhardt, Germanenrechte

N. F., 1966.

s Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I., III 26 (Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs, oder richtiger: Cronica, übers. von Adolf Schmidt, hrsg. von Franz Josef Schmale, 2. Aufl., 1974). 1•

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Götz Landwehr

derern, die Heinrich der Löwe in den slawischen Gebieten angesiedelt hat, nämlich den Flamen und Holländern, den Sachsen und Westfalen "atque nationes diversae", gemeint sind: Leute anderer Stammesherkunft9. 4. An anderer Stelle benutzt Helmold "natio" als Bezeichnung für "ferne Völkerschaften". Er berichtet, daß dem Slawenfürsten Heinrich von Lübeck die Völker ("populi") der Ranen, wie auch die Wagrier, Polaben, Obotriten, Kessiner, Zirzipanen, Lutizen, Pommern "et universae Slavorum naciones" Tribut leisteten10 • Diesen Sprachgebrauch kannte - häufig herabmindernd gemeint bereits die römische Antike. Helmold ist indes nicht der erste, der ihn wiederverwendet, sondern er findet sich bereits zwei Jahrhunderte früher. Der Mönch Widukind von Corvey (geb. um 925) berichtet in seiner um 957 geschriebenen Sachsengeschichte mehrmals von den "barbarae nationes" 11 • In ähnlicher Weise spricht der in der Merseburger Diözese beheimatete Kleriker Bruno in dem 1082 verfaßten Buch vom Sachsenkriege von den "exterae" (fremden) und "subiecti (unterworfenen) nationes" 12 • Etwa gleichzeitig schildert Adam von Bremen in der 1074 begonnenen Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche die politischen und kirchlichen Zustände der "ferocissima natio" der Dänen, Norweger oder Schweden und den "ritus nationis" (Volksbrauch) der "barbarae gentes" 13.

5. Im Aufruf zum sog. Wendenkreuzzug forderte Bernhard von Clairvaux 1147 die Kreuzfahrer auf, an den "nationes" und "scelerati pagani" (den verbrecherischen Heiden) Rache zu üben und jene "nationes" vollständig zu zerstören oder endgültig zu bekehren 14 • Auch hier 9 Helmold, Chronica Slavorum, II 98; ferner I 57 (Helmold von Bosau, Slawenchronik, übertr. u. erl. von Heinz Stoob, 1963). 1o Helmold (Fn. 9), I 36; ferner I 4 ("barbarae naciones"), 6 ("boreales naciones"), 34 ("orientalium Slavorum naciones"), II 108 ("exterae nationes", "natio Slavorum"). 11 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae, I 9, 35; ferner I 8, 20 (Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, hrsg. von Albert Bauer und Reinhold Rau, 1971). 12 Bruno, De bello Saxonico liber, c. 16, 30 (Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV., hrsg. von Franz-Josef Schmale und Irene Schmale-Ott, 1963). 13 Adam von Bremen (Fn. 1), IV 44: "ferocissima Danorum sive Nortmannorum aut Sueonum natio", III [72]: "Qui dixit ei barbaras gentes facilius posse converti per homines suae linguae morumque similium quam per ignotas ritumque nationis abhorrentes personas"; vgl. ferner: I 42 ("ferox natio"), II 22 ("septentrionales nationes"), 39 ("exterae nationes"), schließlich I 16 (Fn.1). 14 Bernhard von Clairvaux (um 1090- 1153), Brief 457 (J. P. Migne, Patrologia Latina, 1857- 1879, Bd. 182, Sp. 651 f.). Vgl. dazu: Hans-Dietrich Kahl, Einige Beobachtungen zum Sprachgebrauch von natio im mittelalterlichen

"Nation" und "Deutsche Nation"

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wird an den Sprachgebrauch des klassischen und des älteren KirchenLateins angeknüpft und "natio" synonym für "Heiden" benutzt. 6. Die bisher behandelten Quellen zeigten uns, daß überwiegend "natio" gleichbedeutend mit "gens" gebraucht wird. Beide Worte bezeichnen eine Menschengruppe, die durch ihre Abstammung und die darauf zurückzuführenden Gemeinsamkeiten verbunden ist. "Gens" rückt dabei mehr das durch eine Generationenfolge geknüpfte Band, "natio" mehr den Vorgang des Geborenwerdens innerhalb der Gemeinschaft in den Vordergrund der Wortaussage. Darüber hinaus weist ,,natio" hin auf den Schauplatz der Geburt und damit auf die geographische Grundlage der gemeinsamen Herkunft. In keiner der hier genannten Quellen finden sich jedoch Hinweise auf eine Sprachgemeinschaft oder auf eine gemeinsame politische Organisation und Verfassung. Eine Ausnahme ist hier lediglich der Abt Regino von Prüm (um 850 bis 915). In dem Widmungsbrief, den er um 900 seinem Handbuch "De synodalibus causis" mitgibt, spricht er von den "diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus, lingua, legibus" (den verschiedenen Nationen der Völker, die sich unterscheiden durch Abstammung, Sitte, Sprache und Recht)15 • "Populus" hat hier - wie auch anderswo bei Regino- die Bedeutung von "regnum". Gemeint sind ltalia, Gallia, Germania und das regnum Lotharii. Dann sind mit den "nationes", ähnlich wie bei Tacitus16, die Stammesgemeinschaften und regionalen Verbände innerhalb der einzelnen Königsherrschaften gemeint. Neu und in dieser Form für das Früh- und Hochmittelalter einmalig ist indes die Definition der Nation als Abstammungs-, Sitten-, Sprach- und Rechtsgemeinschaft. Hier kann eine einzigartige, ihrer Zeit vorauseilende begriffs- und definitionsschöpferische Leistung vorliegen. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß die verwendeten Einzelbegriffe aus der antiken Ethnographie entlehnt sind17• Mit diesen Feststellungen müssen wir uns hier begnügen. Latein mit Ausblicken auf das neuhochdeutsche Fremdwort "Nation", in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter (Nationes, Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter, Bd. I), hrsg. von Helmut Beumann und Werner Sehröder (1978), S. 63 ff. (S. 82 - 87). 15 Regino von Prüm, Chronicon, hrsg. von F. Kurze (MG SS rer. Germ. 1890), S. XX. - Vgl. dazu: Helmut Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums für die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel der Bezeichnungen von Reich und Herrscher (Fn.14), S. 317 ff. (S. 350- 352); sowie H.-D. Kahl, (Fn.14), s. 65 f. 16 Vgl. Text zu Fn. 4. 17 Bei Tacitus, Germania (Fn. 4), c. 45 findet sich: "Ergo iam dextro Suebici maris litore Aestiorum gentes adluuntur, quibis ritus habitusque Sueborum,

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Götz Landwehr

II. Die Begriffe "Nation" und "Deutsche Nation" in den spätmittelalterlichen Quellen 1. Die mittelalterliche europäische Universität war ursprünglich keine Korporation der einzelnen Studenten und Magister, sondern eine aus "Nationen" gebildete "universitas" 1s.

Die Nationen wählten eigene Rektoren- so in Bologna-, sie hatten eigene Beamte, Satzungen, Privilegien, Finanzen, Kirchen, Kollegien und Bibliotheken, Herbergen und ganze Wohnbereiche. Sie besaßen ein eigenes Zeremoniell, eigene Feiertage, Patrone, Siegel und Matrikel. In Bologna bestand die Universität im 13. Jahrhundert aus den beiden Nationen der Citramontanen und der Ultramontanen, die ihrerseits wiederum in insgesamt 31 Provinzen eingeteilt waren. Die Nation der Ultramontanen gliederte sich in 14 Provinzen, darunter die Gallier, die Provenc;alen, die Pikarden, die Burgunder, die Normannen, dann die Engländer, die Deutschen, die Polen, die Un_garn und schließlich die Spanier und die Katalonier. In Paris teilte sich die Artistenfakultät seit dem 13. Jahrhundert in vier Nationen: Die Gallier, die Engländer, die Pikarden und die Normannen. Zur englischen, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in deutsche Nation umberrannt wurde, gehörten neben den Engländern die Schotten sowie die Deutschen und ihre nördlichen und östlichen Nachbarn, die Dänen, Schweden und Norweger, sowie Polen, Böhmen und Ungarn. An der 1348 von Karl IV. gegründeten Universität Prag gab es ebenfalls vier Nationen: Die böhmische Nation, der neben den Tschechen und den in Böhmen lebenden Deutschen auch die Ungarn und Südslawen angehörten; die polnische Nation mit einem anfangs überwiegenden Anteil von Deutschen aus den Ostländern; die bayerische Nation mit Bayern, Schwaben, Franken, Hessen, Rheinländern und Westfalen;

lingua Britannicae propior." Ferner: c. 46: "Peucinorum Venethorumque et Fennorum nationes Germanis an Sarmatis adscribam dubito, quamquam Peucini, quos quidam Bastarnas vocant, sermone, cultu, sede ac domiciliis ut Germani agunt." 1s Zum folgenden vgl.: Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, Bd. I (1888, Neudruck 1958), 5.188 ff., 266 ff.; Bd. II (1896, Neudruck 1958), S. 59 ff.; Winfried Dotzauer, Deutsche in westeuropäischen Hochschul-

und Handelsstädten, vornehmlich in Frankreich, bis zum Ende des Alten Reiches. Nation, Bruderschaft, Landsmannschaft, in: Festschrift Ludwig Petry (Veröffentl. d. Inst. f. geschichtl. Landeskde. a. d. Univ. Mainz, Bd. V), Teil 2 (1969), S. 88 ff. (S. 95 ff., 120 ff.); Karl Gottjried Hugelmann, Stämme, Nation und Nationalstaat im Deutschen Mittelalter (1955). S. 288 f.

"Nation" und "Deutsche Nation"

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sowie die sächsische Nation, die mit den Norddeutschen auch die Dänen, Schweden und Finnen umfaßte. Im Jahre 1408 kam es in Frag zu heftigen Auseinandersetzungen, als König Wenzel der böhmischen Nation drei Stimmen verlieh und den übrigen drei Nationen insgesamt nur eine Stimme zuerkannte. Daraufhin verließen 1409 die nicht-böhmischen Nationen mit ihren Studenten und Professoren Frag und zogen zum größten Teil nach Leipzig, wo die dortige Universität entstand. Diese gliederte sich wie in Frag gleichfalls in vier Nationen. An die Stelle der böhmischen trat eine meißnische Nation. Deutsche oder germanische Nationen oder Provinzen gab es ferner an den italienischen Universitäten Padua, Perugia, Pisa und Siena, den französischen Universitäten Orleans, Bourges und Montpellier, in den burgundisch-lothringischen Universitäten Löwen, Döle und Valence und schließlich im spanischen Lerida. Die Nationen der Universitäten waren- wie die Beispiele Bologna, Paris, Frag und Leipzig zeigen - keine Gliederungen oder Zusammenschlüsse auf Grund sprachlicher und kultureller oder politischer Gemeinsamkeiten. Sie waren vielmehr Korporationen landsmannschaftlicher und vor allem geographischer Art, die sich an weltliche und kirchliche Grenzen anlehnten. Mit einem Nationalbewußtsein im späteren Sinne können sie nicht in Verbindung gebracht werden. Die Universitätsnationenwaren auch keine Nebenerscheinung der europäischen Nationalstaatenbildung im Spätmittelalter, wie man zeitweilig irrigerweise angenommen hat. Gewisse Änderungen sind erst an der Wende vom 15. und 16. Jahrhundert erkennbar, worauf noch zurückzukommen istt 8 a. 2. In Anlehnung an die Universitäten wurde die Gliederung in Nationen von den Konzilien übernommen19 • Die Anfänge liegen im 13. und 14. Jahrhundert. Erstmals gruppierten sich 1274 auf dem Zweiten Konzil von Lyon und dann 1311/1312 auf dem Konzil von Vienne die Teilnehmer in Nationen und Provinzen. In Pisa traten 1409 vier Nationen auf: die italienische, die französische, die deutsche und die

Text zu Fn. 50. to Zum folgenden vgl.: K. G. Rugelmann (Fn. 18), S. 289 ff.; Albert Werminghoff, Deutsches Reich und Deutsche Nation, Königsherger Univ. Rede (1909), S. 9 f.; H. Finke, Die Nation in den spätmittelalterlichen allgemeinen Konzilien, in: Historisches Jahrbuch 57 (1937), S. 323 ff.; Walther Müller, Deutsches Volk und Deutsches Land im späteren Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 132 (1925), S. 450 ff. (461); Adolf Diehl, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, in: Hist. Zeitschrift 156 (1937), S. 457 ff. (S. 461 f.); Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. I: Die katholische Kirche (3. Aufl., 1955), S. 415. tsa Vgl.

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englische. Auf dem Konzil von Konstanz wurden 1415 zunächst vier, später fünf Nationen gebildet. Zur italienischen Nation gehörten neben den Lombarden, Venezianern, Römern und Neapolitanern die Sizilianer, die Sarden, Korsen, Griechen, Slowenen und Zyprioten. Die Französische umfaßte Frankreich, Burgund, Navarra, Mallorca und Portugal. Der deutschen Nation waren auch die Ungarn, Polen, Norweger, Dänen und Schweden zugeordnet. Ähnlich war es auf dem Konzil von Basel, 1431 -1437. Die Konzilsnationen waren ebensowenig wie die Universitätsnationen Zusammenschlüsse auf der Grundlage sprachlicher oder kultureller Gemeinsamkeiten. Sie waren Beratungs- und Abstimmungs-Kurien19 a, die unter räumlich-geographischen Gesichtspunkten gebildet worden waren. "Darumb, das man all sachen desterbas verston mügt, so ist ze wissen, das all kristenhait in fünf tail geteilt sind und die haissent in der Latin naciones." Mit diesen Worten begründet Ulrich (von) Richenthal (um 1365 -1437), der Chronist des Konstanzer Konzils, die Existenz der fünf Konzilsnationen. Die "nationes" werden von ihm ganz formal als Teile der Christenheit definiert. An anderer Stelle seiner Chronik sagt er dann zwar: "Die nacion Germania, das ist Tütschland." Aber auch das ist bei ihm nur ein räumlich-geographischer Begriff, wie die anschließende Beschreibung "Tütschlands" zeigt: "Und hept an in Windenland, Unger, Littow, Boland, Behem, Osterich und gat biß gen Trient in Ytalien und heruß biß gen Frankreich und den Rin ab biß genEngelland und durch Tennmarckt, Sweden und Norwegen 20 ."

3. Vermutlich ebenfalls nach dem Vorbild der Universitäten waren die ausländischen Kaufleute insbesondere in den westeuropäischen Handelsstädten in "Nationen" organisiert20 a. Im Jahre 1450 schrieben die Hansischen Älterleute in Brügge "an alle de nacien to Brucge residerende", namentlich die Engländer, Schotten, Spanier, Genuesen, Venezianer, Luccesen, Florentiner, Mailänder, Portugiesen und Katalonier21. Die deutschen Handelsleute waren als "mercatores de hansia t9a Auf den Konzilien wurde nicht "per capita singulorum", sondern "per capita nationum" abgestimmt. 2o Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Hist. Studien 298 (1936), S. 13, 18; vgl. ferner: K. G. Hugelmann (Fn. 18); A. Diehl (Fn. 19), S. 462; W. Müller (Fn. 19), S. 461 Anm. 1. 20a Hansisches Urkundenbuch (zit.: Hans. UB), Bd. 11 (bearb. von Watther Stein, 1916), 340 (1490): Schadlosversprechen der Stadt Brügge gegenüber den dort residierenden "Nationen" ("plures diversos mercatores omnium nacionum residencium in dicto opido [Brugense]"). 21 Codex diplomaticus Lubecensis. Lübeckisches Urkundenbuch, I. Abt.: Urkundenbuch der Stadt Lübeck, hrsg. von dem Vereine für Lübeckische Geschichte und Altertbumskunde (zit. UB Lübeck), Teil 8 (1889), 709. - Vgl. auch: Hans. UB, Bd. 10, S. 694 Anm.1 (1484).

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Almanie, qui vulgo les OsteZins nuncupantur" 22 , oder unter der Bezeichnung die "ghemenen koplude uten Romeschen rike van Alemannien"23 im sog. "Kaufmann zu Brügge" zusammengeschlossen und bildeten die "nacio Alemannia", "de Duytsche nacie" 24 . Neben der deutschen war in Brügge die spanische die bedeutendste Nation. Sie umfaßte zeitweilig alle Kaufleute aus den christlichen Reichen der iberischen Halbinsel sowie nördlich der Pyrenäen aus Montpellier, Cahors und der Gascogne 25 . Die spanische Nation hatte ihr Kontor oder Konsulat im "Langhen Winkel" und der nach ihr benannten Straße, die Lombarden residierten in unmittelbarer Nähe der angesehenen Bankiersfamilie Burse und die Schotten "up ere plaetze" 26 • "Nationen" deutscher Kaufleute gab es ferner in Lyon und Bordeaux27, in Antwerpen28 und Bergen op Zoom 29 , sowie in London30 , Bergen (Norwegen) 31 und in Schweden3 z. Die "mercatores venerande nacionis Almanie, Hanse Theutonice nuncupate, in oppido Brugensi (oder andernorts) residentes" 33 bildeten

die "deutsche Nation" in den Handelsstädten. Sie wurde deshalb auch die "nation von der Dutschen hanse" 34 genannt. Die Hanse der deut22 UB Lübeck, T. 4, 557 (1392). 23 Hanserezesse, hrsg. von der Historischen Commission bei der Kgl. Academie der Wissenschaften, Abt. I, Bd. 1 (1870), 143 (1347). - 1309: "de coepmanne van den Roemschen rike van der Duutschen tonghe", Hans. UB, Bd. 2 (bearb. von Konstantin Höhlbaum, 1879), 160. - 1332: "homines et mercatores Almanie et specialiter sacro Romano imperio pertinentes", Hans. UB, Bd. 2, 527. 24 Vgl. UB Lübeck, T. 8, 159 (1443), 438 (1447); Hans. UB, Bd. 10, 478 (1476), 578 (1477), 579 (1477), 617 (1478), 1114 (1483); Bd. 11, 61 (1486), 130 (1487), 341 (1490), 1232 (1500); Hanserezesse II 6, 442 (1471); II 7, 269 (1474), 338 §§ 21, 56, 152 (1476), 391 § 23 (1476); III 5, 1 § 135 (1504); III 8, 321 § 11 (1526); IV 2, 91 §§ 2, 11, 19, 20, 22 (1535), 95 § 24 (1535), 202 (1535). 25 Rudolf Häpke, Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt (Abhandlungen zur Verkehrs- und 8eegeschichte, hrsg. von Dietrich Schäfer, Bd. I, 1908), 8.147 f.- Vgl. auch: UB Lübeck, T. 8, 159 (1443); T. 9, 111 (1452); Hans. UB, Bd. 10, 94 (1472), 337 (1474), 342 (1474), 353 (1474), 578 (1477), 579 (1477), 617 (1478); Bd. 11, 9 (1486), 14 (1486), 17 (1486), 106 (1487), 130 (1487). 26 Hans. UB, Bd. 11, 1234 § 17 (1500). Vgl. auch R. Häpke (Fn. 25), 8. 242. 27 W. Dotzauer (Fn. 18), 8. 116 f. 2s Hans. UB, Bd.11, 341 (1490); Hanserezesse IV 2, 8.183 Anm. 3, Art.17, 29 (1508), 202 (1535). 29 Hanserezesse II 7, 338 §56 (1476), 391 § 23 (1476). 30 Hanserezesse II 6, 442 (1471); IV 2, 95 (1535). 31 Hanserezesse III 5, 1 § 135 (1504). 32 Hanserezesse III 8, 321 § 11 (1526). 33 Hans. UB, Bd. 10, 578 (1477). 34 UB Lübeck, T. 4, 557 (1392); T. 8, 159 (1443); Hans. UB, Bd.10, 478 (1476), 579 (1477), 617 (1478), 1114 (1483); Bd. 11, 61 (1486), 851 (1495); Hanserezesse II 6, 575 (1472); II 7, 391 § 23 (1476); IV 2, 91 §§ 2, 11, 19 (1535), 95 § 24 (1535).

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sehen Städte, vertreten durch ihre Kontore, und die "Nation" der deutschen Kaufleute waren also identisch. Neben ihr bildeten nicht nur die Spanier, Portugiesen, Katalonier, Engländer und Schotten, sondern auch die italienischen Stadtstaaten Florenz, Lucca, Venedig, Mailand und Genua eigene "Nationen". Dies zeigt, daß die Kaufmannsnationen ebenfalls keine umfassenden Zusammenschlüsse auf Grund sprachlicher und kultureller Gemeinsamkeiten waren, sondern Zweckvereinigungen auf der Basis gleichgerichteter handelspolitischer und wirtschaftlicher Interessen. Aber nicht nur die hansischen Kaufleute in den europäischen Handelsmetropolen bildeten eine "Nation", sondern gelegentlich bezeichnete sich auch die Hanse insgesamt im Verkehr mit fremden Mächten als "Deutsche Nation". So baten die Hansestädte im Jahre 1510 den Großfürsten und Kaiser von Rußland um Privilegien für die hansischen Kaufleute "ok deme gantzen hilligen Romischen rike und der Dudeschen nation mith den 73 steden to eren, ok to forderunge (Förderung) des ghemenen besten und waszdum (Wachstum) der kopenschop" 34 a. In dieser Kennzeichnung der deutschen Hanse und ihrer damals 73 Mitgliedsstädte als "Deutsche Nation", die vermutlich auf die Rolle der hansischen Kontore als "Nation" der deutschen Kaufmannschaft in den auswärtigen Städten zurückzuführen ist, zeigt sich eine zwar seltene, aber durchaus folgerichtige Ausdehnung des ökonomisch geprägten Nationenbegriffs auf den gesamten Hansebund. 4. Im Jahre 1410 finden wir in zwei Schreiben König Ruprechts von der Pfalz an den "neuen", 1408 durch einen Aufruhr unter Beteiligung der Handwerker an die Macht gekommenen Rat der Stadt Lübeck die Mitteilung, daß der "neue Rat" in dem vom vertriebenen "alten Rat" angestrengten Rechtsstreit vor dem königlichen Hofgericht "eynen offenen breff" vorgelegt habe, "wol mit fumstig (50) anhangunden ingesiegelen (Siegeln) versigelt, ludende, das alle nacien bynnen Lubek denselben brief versigelt hetten, welicher partie das recht zufelle, der wolten sy bistendig sin" 35• Ein Jahr später teilten die Älterleute der deutschen Hanse in Brügge den livländischen Städten36 mit, sie hätten wegen der Unruhen in Lübeck an den Rat der Stadt geschrieben "und an elke nacien von kapluden der vorscrevenen stad Lubeke" 31• Bei diesen Nachrichten denkt man unwillkürlich an die Zusammenschlüsse S4a Hanserezesse III 5, 543 § 3; ferner II 6, 575 (1472); II 7, 269 (1474); Hans. UB, Bd. 11, 812 (1495). 35 UB Lübeck, T. 5, 308 (2. März 1410), 298 (20. Jan. 1410). 36 Zu den livländischen Hansestädten gehörten neben Riga, Reval und Dorpat die Orte Pernau, Wenden, Fellin, Kokenhusen, Lemsal und Windau, sowie später Wolmar (1434) und Goidingen (1440). 37 UB Lübeck, T. 5, 361.

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ausländischer Kaufleute, wie wir sie in Brügge und anderswo kennengelernt haben. In dieser Vorstellung könnte man durch eine hundert Jahre jüngere Quelle aus Danzig bestärkt werden. Darin schreibt der Rat der Stadt Danzig an den gemeinsamen Gesandten Herzog Albrechts von Preußen und des erwählten Königs Christian von Dänemark, die Stadt sei als "corpus auß mannicherley nation zusamen gesetzt" und deshalb könne eine Kriegshilfesteuer nicht geheimgehalten werden38 • Hier wie dort könnten fremdländische Kaufmannschaften gemeint sein. Dennoch stimmt diese Deutung mißtrauisch. Denn es bleibt unerklärlich, was "Nationen" ausländischer Kaufleute in Lübeck veranlaßt haben sollte, im Rahmen einer innerstädtischen gerichtlich ausgetragenen Verfassungsstreitigkeit zu erklären, "weme das recht zuvelle, deme walten sy vorbas bistendig syn" 39 • Die Antwort auf diese Zweifel geben uns zwei spätere Nachrichten aus Lübeck. Im Jahre 1416 wurde der Bürgeraufruhr durch Wiedereinsetzung des alten Rats beendet. Am 16., 17. und 19. Januar 1416 "quemen de ampte 40 uppe dat hus, der wol XCVI nacien was, unde deden ere eede (Eide)" 41 • Fernerhin entschied der Lübecker Rat im Jahre 1477 auf Begehren des Schmiedeamtes42 , daß künftig kein "Undeutscher" zur Erlernung und Ausübung des Handwerks zugelassen werden sollte und zwar weder "von dessen (der smede) amptes broderen" noch "van allen andern nacien" 4:r. Diese beiden Quellen machen deutlich, daß die "Nationen" in Lübeck keine Vereinigungen ausländischer Kaufleute, sondern die einzelnen Ämter und Kompanien der städtischen Kaufmannschaft und vor allem der Handwerker waren. Vermutlich hat sich indes die Bezeichnung "Nation" in Anlehnung an die Kaufmannsnationen in den westlichen und nördlichen Handelsmetropolen eingebürgert, denn im Jahre 1466 erfahren wir in Lübeck von der Existenz "der nacien der Bergenfarer", womit der Zusammenschluß der mit Bergen in Norwegen Seehandel treibenden Lübecker as Hanserezesse IV 2, 495 (1536). UB Lübeck, T. 5, 298.

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"Amt" ist die niederdeutsche Bezeichnung für Zunft. UB Lübeck, T. 5, 584. 42 Vgl. Fn. 40. 43 Friedrich Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte (1901), Nr. 300: "Item so en schal nu hennefortmer nemant van dessen amptes broderen nemande tosetten dat ampt to lerende noch holden von den 40 41

undudeschen, noch van allen andern nacien, de en sin denne werdich ampte unde gilde mede to besittende, by broke den weddehern dryer marke sulvers." Bei flüchtiger Lektüre dieser Quelle könnte man "alle andern nacien" als formelhafte Ergänzung zu den unmittelbar vorher genannten "undudeschen"

auffassen. Daß eine derartige Interpretation indes unrichtig ist, zeigt der gesamte Inhalt und Sachzusammenhang der Ratsentscheidung.

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Kaufleute gemeint ist44 • Unter "Nation" werden hier also die innerstädtischen berufsständischen Korporationen der Lübecker Kaufleute und Handwerker verstanden 45 • Dabei scheint es sich allerdings insoweit um eine Besonderheit der Lübecker Rechtssprache zu handeln. 5. Die handels- und wirtschaftspolitischen Kaufmannsnationen im west- und nordeuropäischen Handelsrecht sowie die berufsständischen Nationen in Lübeck finden in Südosteuropa eine Entsprechung in einem sozial-ständischen Nat-ionenbegriff 46 • In Siebenbürgen schlossen die beiden Bevölkerungsgruppen der Sachsen und Szekler - erstmals im Jahre 1437- eine Einung mit dem ungarischen Adel des Landes gegen die Türken. Diese "Union" wurde in der Folgezeit immer wieder erneuert. Im Jahre 1506 und von da an ständig bezeichneten sich die Vertragsparteien - die "nobiles", die "Saxones" und die "Siculi" als die "tres nationes" des Landes Siebenbürgen. Die Gemeinsamkeit der einzelnen Nationen bestand auch hier nicht in der Sprache oder Kultur. Denn diejenigen deutschen Siedler, die auf ungarischem Adelsland lebten, sprachen sächsisch, gehörten aber nicht zur sächsischen Nation. Die Szekler wiederum sprachen wie der Adel ungarisch, bildeten aber dennoch eine eigene Nation. Auch eine geographische Geschlossenheit mangelte diesen "nationes". Allein Herkunft und sozialer Stand vereinigte die Mitglieder der einzelnen Verbände, die sich selbst die Bezeichnung "natio" beilegten. 6. Erst verhältnismäßig spät taucht in den mittelalterlichen Quellen der Begriff der "Sprachnation" auf. Erste Anklänge dafür finden sich in der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. von 1356. Dort heißt es im Kapitel XXXI: Da das Oberhaupt des heiligen Römischen Reiches für "verschiedenartige, durch Sitten, Lebensweise und Sprache sich unterscheidende Nationen (diversarum nationum moribus, vita et ydiomate distinctarum)" Gesetze zu erlassen und die Regierung zu regeln habe, sollen die Kurfürsten, als die Säulen des Reiches, in der Eigenart verschiedener Sprachen und Zungen unterwiesen werden 47 • Sitte, Lebensweise und Sprache erscheinen hier als 44 UB Lübeck:, T. 11, 175. Neben den Bergenfahrern gab es in Lübeck noch Kompanien oder Gemeinschaften der Schonen-, Riga-, Reval- und Nowgorod- sowie der Stock:holm-, Flandern- und Englandfahrer. In Harnburg gab es zur gleichen Zeit Zusammenschlüsse der Flandern-, England- und Schonenfahrer. 45 Vgl. auch: UB Lübeck:, T. 5, 499 (1414); Hanserezesse IV 2, 501 § 9 (1536); ferner: Jürgen Asch, Rat und Bürgerschaft in Lübeck:, 1598-1669 (1961), S. 23 Anm.17. 46 Zum folgenden siehe: H.-D. Kahl (Fn.14), S. 89 ff.; Fr. Teutsch, Die Union der drei ständischen Nationen in Siebenbürgen (Diss. Heidelberg, 1878).

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die Merkmale einer Nation, wobei freilich offen bleibt, auf welche Art Volks- oder Stammesgemeinschaften der Begriff "natio" bezogen wird. Im Jahre 1416 kam es auf dem Konstanzer Konzil zu Kompetenzstreitigkeiten und Spannungen zwischen den Nationen. Daraufhin unternahm Papst BenediktXII. in der Bulle "Vas electionis" von 1417 den Versuch, die Nationen neu abzugrenzen und zu untergliedern. Neben den Italienern, den Franzosen und den Deutschen sollten die Spanier eine neue vierte Nation bilden, während die Engländer, die bislang eine eigene Nation gewesen waren, zur deutschen Nation gerechnet werden sollten. Gegen diesen Plan leisteten die Engländer Widerstand. In einer Denkschrift begründeten sie ihre Forderung auf Bildung einer eigenen Nation. Darin führten sie aus: -

-

Der Begriff "natio" könne einmal im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft, die nach Blutsverwandtschaft und Sozialordnung von einer anderen unterschieden ist, genommen werden ("sumatur

natio, ut gens secundum cognacionem et collectionem ab alia distincta"); dann könne "natio" nach der Verschiedenheit der Sprachen, die am meisten und wahrhaftigsten eine "natio" und ihre Existenz erweisen, nach göttlichem gleichermaßen wie nach menschlichem Recht, bestimmt werden ("secundum diversitatem Linguarum, quae

-

maximam et verissimam probant nationem et ipsius essentiam, jure divino pariter et humano"); und schließlich könne man "natio" für eine gemeinsame Landschaft nehmen ("sumatur natio pro provincia aequali") 48 •

Alle drei Begriffsbestimmungen träfen für die Engländer zu, weshalb sie eine echte Nation und nicht nur eine nationale Untergliederung seien. Mit diesen Argumenten hatten die englischen Prälaten Erfolg. Sie bildeten auch fernerhin eine eigene Konzilsnation. Die englische Beweisführung bewegt sich in den herkömmlichen Bahnen, wenn "natio" und "gens" gleichgesetzt werden und wenn abschließend eine Nation, als "provincia", räumlich-geographisch definiert wird. Verhältnismäßig neu ist dagegen die Gemeinsamkeit der Sprache als Abgrenzungsmerkmal der Nationen ("diversitas linguarum"). Dies wußten anscheinend auch die englischen Prälaten, denn sie beriefen sich für dieses Kriterium - und nur für dieses - auf das göttliche und menschliche Recht. Das ist immer dann üblich und nahelie47 Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. 1356, Cap. XXXI, lat. Text und Übers. (Quellen zur neueren Geschichte, hrsg. vom Hist. Sem. d. Univ. Bern, Heft 25, 1957). 48 H. Finke (Fn. 19), S. 330 ff.; K. G. Rugelmann (Fn. 18), S. 290; H.-D. Kahl

(Fn. 14), S. 96 f.

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gend, wenn man sich auf neuem und schwankendem Boden bewegt. Auf antike49 oder mittelalterliche Autoritäten oder Rechtssätze konnte man sich wohl kaum beziehen. Hier deutet sich deshalb die Entstehung eines neuen Begriffsinhalts an: Die Nation wird als Sprach- und Kulturgemeinschaft verstanden. Ein weiteres Beispiel für diesen Bedeutungswandel findet sich in den Statuten der "deutschen Nation" der Universität Bologna vom Jahre 1497. Zunächst erscheint in dieser Satzung an Stelle des bisher allgemein üblichen Namens "natio Germanica" die Bezeichnung "Teutonicorum natio". Sodann wird dieser Begriff wie folgt erläutert: "Teutonicorum natio", das sind alle diejenigen, die von Geburt an die deutsche Sprache haben, gleich, wo sie ihren Wohnsitz haben, welchen Berufes oder Standes sie sind ("id est omnes, qui nativam Alemanicam habent linguam, licet alibi domicilium, cuiuscumque status vel conditionis existant"). Zu beachten ist dabei die unterschiedliche Terminologie: "Teutonicorum natio" und "Alemanica lingua". Nach dieser Definition - so stellen die Statuten weiter fest - gehören die Böhmen, Mährer, Litauer und Dänen von Geburt aus nicht zum "collegium Teutonice nationis", jedoch sollen sie, wie seit alters üblich, in die Gesellschaft aufgenommen werden und in der Korporation Gastrecht genießen ("in nostram societatem et nationem recepti sunt, ideoque eos amplectimur et corpori nostro adiungimus") 50 • Hier erscheint die Muttersprache eindeutig als konstitutives Merkmal des Nationenbegriffs. Im übrigen wird man die Terminologie der Quelle auch noch dahin deuten können, daß die als Sprachgemeinschaft ("Alemanica lingua") verstandene "Teutonicorum natio" einerseits von dem politischen Verband des "regnum Teutonicum", andererseits von dem räumlich-geographischen Bereich der "natio Germanica" abgegrenzt wird. In einem Schreiben an das Baseler Konzil vom 31. Oktober 1432 klagt König Sigismund über die "confederatio" der Polen und häretischen Böhmen "contra omnem nationem et presertim Teutonicam" 51 • Auch hier wird der Begriff "natio Teutonica" im Unterschied zur konziliaren "natio Germanica" verwendet, der auch die Polen und Böhmen angehörten. Wesentlich interessanter aber ist ein Brief Sigismunds glei49 Ansätze für die sprachliche Abgrenzung von "gens" und "natio" finden sich bei Tacitus, Germania, c. 45, 46 (vgl. Fn. 17), der aber gerade erst in dieser Zeit von den italienischen Humanisten "wiederentdeckt" wurde (siehe unten Text zu Fn. 102). 50 Statuta nationis Germanicae Vniversitatis Bononiensis, von 1497, in: K. G. Hugelmann, Die deutsche Nation und der deutsche Nationalstaat im Mittelalter, in: Hist. Jb. 51 (1931), S. 1 ff., S. 27 Anm. 48. 51 Reichstagsakten (zit.: RTA) X, 647, 19. Vgl. auch: A. Diehl (Fn.l9), s. 462.

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chen Inhalts vom 1. November 1432 an den Herzog von Bayern. Darin wird in deutscher Sprache von der Unternehmung der Polen und Böhmen "gegen allermeniglich und sunderZich die Deutschen zungen" berichtet52• Der Begriff "natio" wird also mit "Zungen" übersetzt und damit als Sprachgemeinschaft verstanden. Eine ähnliche Begriffsverwendung findet sich im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts im hansischen Raum. Der Ordensmeister von Livland, Bernd von der Borch, setzt im Jahre 1476 Lübeck davon in Kenntnis, "we uncristene edder

de Undutsche nacie unde fremde herschopp dussen landen unde der Dutschen tungen to vorstoringe (Zerstörung) over dusse lande will theen unde bringen"52 a.

Im Jahre 1524 weigern sich die Hansestädte, bei den Verhandlungen mit König Christian von Dänemark schriftliche und dazu noch in lateinischer Sprache geschriebene Noten abzufassen: "nademe overall im

hilgen Romissehen rike de Dutsche sprake nicht alleyne gemene, sunder uth rechter egenschaft gebrucklick is, und dise hendel im namen kay(serlicher) m(ajestä)t und Dutscher nation by uns, de dessolvigen gethungens sient, gescheen, zo wete wie uns ock nicht vorpflicht, daerup Dutschs efte Latteynsch to schriven 5 ~." Die deutsche Nation und die deutsche Sprache erscheinen hier als zusammengehörige Begriffe. 7. Als letztes stoßen wir auf einen politischen oder staatlich-herrschaftlichen N ationenbegriff.

Nach Vorverhandlungen auf dem Aschaffenburger Reichstag von 1447 kam es am 17. Februar 1448 zum Wiener Konkordat zwischen Papst Nikolaus V. und der "deutschen Nation" ("inter ... Nicolaum ... papam quintum apostolicamque sedem ac nationem Alamanicam"). Für die "deutsche Nation" ("pro ipsa natione Alamanica") wurde das Konkordat durch König Friedrich III. abgeschlossen ("per ... Fridericum Romanorum regem") und zwar mit Zustimmung der meisten Kurfürsten des heiligen Römischen Reichs und anderer geistlicher und weltlicher Fürsten dieser Nation ("eiusdem nationis tam ecclesiasticoRTA X, 649, 14. - Vgl. auch: A. Diehl (Fn. 19), S. 462. Hanserezesse II 7, 380. 53 Hanserezesse III 8, 793 § 95. Vgl. auch den Bericht des Lübecker Bürgermeisters Thomas von Wickede an den Danziger Ratssekretär vom 30. Mai 1524: "Besunder de ersamen herrenradessendebaden (Ratssendeboten) 52

52a

van Lubeck hebben nicht willen ingaen, er andtwerdt Latteinsch noch schrifttick wedder intobringen, yo nicht in solker menunge, dat se nicht lude by sick hedden, de idt doen kunden, adder dat se sick schuden (scheuten), eres andtwerdes bekannt tho sien, sunder se weren eyn lidt des hilgen Romischen rykes und were nicht eyn gebrueck in gantzer Dutscher nation, zo man tho dage edder vorhandelunge queme, als Dutsch und munttick ere dinge" vorzutragen. Hanserezesse III 8, 755 § 8.

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rum quam secularium principum consensibus accedentibus") 54 • Die "natio Alamanica" ist keineswegs identisch mit der "natio Germanica"

des Konstanzer und des Baseler Konzils. Diesen Konzilsnationen hatten auch die Ungarn, Böhmen und Polen, sowie die Dänen, Norweger und Schweden angehört. Mit der konziliarischen "natio Germanica" hatte noch Papst Martin V. 1418 auf dem Konstanzer Konzil ein Konkordat abgeschlossen. Ebenso hatte er mit den anderen Nationen ein romanisches und ein englisches Konkordat vereinbart55. Die "natio Alamanica" des Wiener Konkordats waren demgegenüber die Bischöfe und Kirchen innerhalb des Römischen Reiches. Nur für diese konnte Friedrich III. als König auftreten und handeln, nur für sie konnten die Kurfürsten und übrigen Fürsten der Nation ihren Konsens aussprechen. Hier verengt sich der bisherige räumlich-geographische Begriff der Nation auf den politisch-herrschaftlichen Verband des deutschen Reiches. Aus der "natio Germanica" wurde die "natio Alamanica". Das war auch den Beteiligten voll bewußt. Denn im Schlußprotokoll des Konkordats heißt es: Die Nation sei speziell "Alamania" genannt worden ("Alamania specialis appellatur natio") wegen der angemesseneren Beschreibung ("propter competentiorem descriptionem"), nicht aber, um die Nation von der "Germanica natio" zu unterscheiden und zu trennen. Gerade diese - wohl für die übrigen Angehörigen der germanischen Konzilsnation gedachte - Beschwichtigung zeigt deutlich, daß hier ein engerer an die Stelle eines weiteren Nationenbegriffes getreten ist. Die Nation ist der politisch-herrschaftliche Verband. Im 15. Jahrhundert endlich wird in kirchlichen und weltlichen Denkschriften und ebenso in Urkunden des Reiches und der Territorien der Begriff "natio" häufig in Verbindung mit "regnum" oder "imperium" gebraucht56• In einer anonymen Konzilsschrift von 1438 erscheint erstmals die zusammengesetzte Ausdrucksform "natio Germanica et Romanum imperium" 57• 1440 findet sich in einer Urkunde des Kölner Provinzialkonzils die Bezeichnung "regnum et nacio Germanica"ss. Auf dem Frankfurter Reichstag von 1441 verwendet der königliche Gesandte die Formel "sacrum imperium et inclita Germanica nacio"5 9 • Im Jahre 1474 bat die Stadt Neuß die Hansestädte um Unterstützung 54

Concordata inter Fridericum III.

et Nicolaum V. conclusa, in: Karl Zeu-

mer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit (2. Aufl., 1913), Nr. 168 (S. 266 ff.). - Vgl. auch: K. G. (Fn. 18), S. 291, 485 f.; R. E. Feine (Fn. 19), S. 428. ss Siehe: K. G. Rugelmann (Fn. 18), S. 291; ders. (Fn. 50), S. 24. 56 Zum folgenden vgl. auch: A. Diehl (Fn. 19), S. 464; K. G. Rugelmann (Fn. 18), S. 402 ff. 57 RTA XIII, 223, 13. 58 RTA XV, 453, 4. 59 RTA XVI, 135, 25.

Rugelmann

"Nation" und "Deutsche Nation"

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gegen die Belagerung durch Karl den Kühnen: "umb zo helpen, behal-

den dat heilige Romische riiche ind die gantze Duytsche natien in allen eren, stait ind wirdicheit, dat die nyet an vreymde herren noch tzungen en komen noch gedrongen en werden60 ." Die deutsche Bezeichnung

"Römisches Reich und Deutsche Nation" wird in den folgenden Jahren häufig benutzt. Ein Vergleich der Urkundensprache zeigt, daß diese Formel gleichrangig neben oder an Stelle der seit dem Ende des 14. Jahrhunderts vielfach gebrauchten Ausdrucksweise "Römisches Reich und Deutsche Lande" verwendet wird. Das Wort "Deutsche Nation" ersch€int demnach in diesem Zusammenhang - ähnlich wie im Wiener Konkordat - als ein politisch-herrschaftlicher Sammelbegriff für die im deutschen Reich vereinigten Länder und Territorien61 •

111. "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" 1. Der Titel "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" kommt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Gebrauch62 • Erstmals findet sich am 3. Januar 1474 im Gehorsamsrevers des Landgrafen Hermann von Hessen, als Verweser des Erzbistums Köln, die Bezeichnung "heiliges Romisches rych der Duytschen nacion" 63 • Ebenfalls im Jahre 1474 ist in der lateinischen Fassung des Türkenanschlags, der 1471 auf dem Regensburger Reichstag beschlossen wurde, die Rede vom "sacrum Romanum imperium nationis Germanicae" 64 • Interessant ist, daß der deutsche Text des "Anschlags wider die Türken" von 1471 demgegenüber die Wendung benutzt: "das heilige Römische Reich und die würdige Teutsche Nacion 65 ." Der Frankfurter Reichslandfriede von 1486 verwendet den Ausdruck "Römisches reich teutscher nation" 66 • In der

Hanserezesse II 7, S. 435 Fn. 1. Über die fernere Verwendung des Begriffes "Deutsche Nation" in der hansischen Urkundensprache, insbesondere bei der Ausemandersetzung Lübecks mit König Christian von Dänemark vgl.: Hans. UB, Bd. 11, 327 (1490), 879 (1495); Hanserezesse III 8, 237 (1522), 283 (1523), 623 (1523), 757 (1524); 60

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IV 1, 302 §§ 2, 3 (1534); IV 2, 86 § 196 (1535), 169 (1535), 251 § 3 (1535), 362 (1536), 363 § 4 (1536), 371 § 3 (1536), 426 (1536), 495 (1536), 530 (1537). 62 Zum folgenden siehe auch: Karl Zeumer, Heiliges römisches Reich deut-

scher Nation (Quellen u. Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. IV, Heft 2, 1910), S. 18 ff.; A. Diehl (Fn. 19), S. 464 ff.; K. G. Hugelmann (Fn. 18), S. 401 ff. 63 J. Chmel, Aktenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilians I., Bd. I (1854), 391. 64 Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede (zit.: NS), Frankfurt, 1747, I, Nr. 58 (S. 258). 65 NS I, Nr. 57 (S. 253). 66 K. Zeumer, Quellensammlung (Fn. 54), Nr. 171 (S. 273 unten). 2 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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Reichskammergerichtsordnung von 1495 werden sowohl die Formel

"Römisches Reych und Teutsch Nacion" als auch die Wendung "Reich Teutscher Nacion" gebraucht67. Der volle Titel "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" findet sich schließlich 1512 im Reichsabschied von Köln68.

Auch in der Folgezeit ist der Sprachgebrauch unregelmäßig und verwirrend68a. So finden sich in der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 die folgenden unterschiedlichen Bezeichnungen für das Reich: "Römisches Reich", "Heiliges Reich", "Heiliges Römisches Reich", dann "Reich

teutscher Nation", "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation", "Teutsch Nation und das Heilig Römische Reich", schließlich die Formel "die Teutsch Nation, das Heilige Römische Reich und die Churfürsten", sowie das Bekenntnis "dem Heiligen Reich zu Ehrn und umb der Christenheit und Deutscher Nacion auch gemains Nutz wiUen" 69 •

Dieser sprachliche und begriffliche Wirrwarr bestand bis zum Ende des Alten Reiches. Denn die Wahlkapitulation Karls V. wurde - von einigen in diesem Zusammenhang unwesentlichen Änderungen abgesehen - bis zum Jahre 1806 terminologisch und inhaltlich unverändert bei jedem Regierungsantritt übernommen70 . 2. Über Tragweite und Bedeutung des Titels "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" hat die Rechtswissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert unterschiedliche Auffassungen vertreten. Die Staatsrechtslehre des 17. Jahrhunderts hat sich auf die mittelalterliche Lehre von der "translatio imperii" berufen und die Entstehung des Reichstitels damit erklärt, daß das gesamte römische Reich spätestens unter Otto dem Großen auf die Deutschen übergegangen und deshalb unter der Herrschaft der deutschen Kaiser ein Römisches Reich der deutschen Nation geworden sei71 • Dabei war man sich freilich nicht bewußt, daß die Reichstitulatur in der vorliegenden Gestalt 67 K. Zeumer, Quellensammlung (Fn. 54), Nr.174, Präambel u. § 1. GS NS II, s. 137. &sa Im übrigen ist bei der Interpretation der Quellen des 15. Jahrhunderts, in denen der Reichstitel erwähnt wird, durchaus Vorsicht geboten. So ist im Privileg Kaiser Friedrichs III. von 1486 für "die alderluyde des gemeinen koppmans unnsers und des heilgen reichs in Deutscher nation Hanze zu Pruckh in Flandern residirende", nicht der spätere Reichstitel, sondern die "Nation" der deutschen Kaufleute in Brügge gemeint. Hans. UB Bd. 11, 61. 69 K. Zeumer, Quellensammlung (Fn. 54), Nr. 180, Präambel, §§ 2 - 5, 9, 18, 23, 33. 10 Vgl.: Johann Christian Müldener, Capitulatio Harmonica, Dresden und Leipzig, 1725. 71 Zum folgenden vgl. auch: K. Zeumer (Fn. 62), S. 23 ff.; A. Dieht (Fn.19), 8.468.

"Nation" und "Deutsche Nation"

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erst im 15. und 16. Jahrhundert in Crl!brauch gekommen war. So behauptete als erster der Staatsrechtslehrer Johannes Limnäus (1592 bis 1663) in seinem 1629 erschienenen "Jus publicum", der Titel des Reiches rühre daher, daß dieses an die Germanen, gleichsam als Herren des römischen Reiches gekommen und deshalb mit ihnen auf das engste verbunden seF 2 • In ähnlichem Sinne äußerten sich die Rechtsgelehrten Benedikt Carpzov (1595 -1666)1 3 , Johann Heinrich Boecler (1611 -1672)14, Philipp Andreas OZdenburger (gest. 1678)15, UZrich Obrecht (1646- 1701)16 und 12 J. Limnäus, Juris publici Imperii Romano-Germanici libri IX, Strassburg, 1629- 1634, Buch I, Cap. 7, § 10: "Denique idem [imperium] vocatur Romano-Germanicum, vel ut est in Recessu Imperii de anno 1541 in principio: Das Heilige Römische Reich

Teutscher Nation, quo significatur, apud Germanos, tanquam superiores Romanum esse Imperium, et arctissimo quasi vinculo his esse connexum."Ferner: Limnäus, Capitulationes Imperatorum et Regum Romano-Germanicorum, Strassburg 1651 zu Art. 30 (33) der Wahlkapitulation Karls V.: "In das Reich Teutscher Nation: Hoc est in Germaniam. Fortassis etiam potuisset pio jaciliori intellectu poni: Herauß in Teutschland vel herauß in die Teutsche Nation. Certum enim est, imperium nationis Germanicae non sola Germania definiri. Debeat autem Carolus venire in Germaniam, non exempli gratia in Langobardiam, quae et ipsa Imperii nationis Germanicae pars est, sed non sita in Germania." 73 B. Carpzov, Commentarius in legem regiam Germanorum sive Capitulationem Imperatoriam iuridico-historico-politicus, 3. Aufl., Leipzig, 1651,

Cap. I, sect. 15, nr. 18 (S. 69).

74 J. H. Boecler, Vindiciae Anti-Blondellianae (Diss.), in: Notitia sacri Romani Imperii, Straßburg, 1681, S. 424: "Neque opus fuerit ad ulteriora ire, sed ea tempora in oculis habere, unde dicitur Romanum Imperium cum adiectione Nationis Teutonicae: Das römische Reich Teutscher Nation. Ab Ottonis certe Magni temporibus sedem eius Imperii, quod Roma quoque agnovit, sive, ciu Roma citra controversiam paruit, in Germania in hunc diem fuisse, dubio caret." Boecler, Disputatio Sacri Romani Imperii sub voce Romanum: "Et quia Imperatores tria regna habebant, Regnum Germaniae, Regnum Italiae sive Langobardorum, et Imperium Romanum, ab augustiore et per omnem terram celebriore Imperium suum vocare voluerunt RomanoGermanicum, licet Germania Romam vicerit, et non Roma Germaniam, id quod primis quidem temporibus non jactum est; sed Maximilianus I. illud vocavit Das heilige Römische Reich teutscher Nation, et hinc iste titulus in Recessus Imperii transivit." Zitiert bei: J ohann Friedrich Pfeffinger (1667 - 1730), Vitriarius illustratus,

Freiburg, 1691, Buch I, tit. IV, nr. 4 (S. 122). 75 Ph. A. Oldenburger, Pseudonyme Ausgabe des Monzambano (vgl. Fn. 78), 1668, Discursus VI. (Notae):

"Quare Germania dicatur Imperium Romanum? Hodierni Germani proinde recte vocant imperium Romanorum Teutonicae nationis, das Romische Reich Teutscher Nation, quam jormulam Autor [sc. Monzambano] non recte contrarii sensus accusat. Verus enim illius sensus est: quod Teutonica natio imperii Romani dignitatem per Ottonem M. sibi acquisierit regesque suos illa reddat semper Augustos ac venerabiles,

2•

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Gottlieb Gerhard Titius (1661 - 1714)17. Bereits vor ihnen hatte jedoch der Vernunftrechtier Samuel Pufendorf (1632 -1694) in seinem Werk "De statu imperii Germanici" die Lehre von der "translatio imperii" und die daraus für die Reichstitulatur hergeleiteten Schlußfolgerungen als irrig verworfen, ohne indes eine andere Deutung des Titels anzubieten78. Die Reichsstaatslehre des 18. Jahrhunderts teilte die Skepsis Pufendorfs hinsichtlich der Tragweite der "translatio imperii" und entwikkelte eine andere Erklärung des Reichstitels. Der bedeutende StaatsrechHer Johann Jacob Moser (1701 -1785) erläuterte 1766 die Reichstitulatur zunächst in Anlehnung an die Publizisten des 17. Jahrhunderts mit der Feststellung: "Da auch die Teutschen das römische Kayserthum an sich gebracht und sich unterworfen haben, und das Röm. Reich von denen Teutschen, nicht aber Teutschland von denen Röm. Kaysern regieret wird, mithin Teutschland allemal das Haupt-Reich ist und bleibet, so scheinet es nicht wohl schicklich, daß das Haupt-Reich den Namen des mit ihm verbundenen und ihme unterworfenen Reichs annehme, seines eigenen ac ita dominos imperii Romani constituat. Unde puto imperium hodiernum rectius Germano-Romanum quam Romano-Germanicum Der Teutschen Nation Romisches Reich appellari." 76 U. Obrecht, Severini de Monzambano etc. exercitationum academicarum specimen, 1684, zu Cap. I § 14 des Monzambano (vgl. Fn. 78): "Ita, cum Teutonicae Nationi subiectum sit, qualecunque hodie Romanum Imperium superest, a contradictione facile liberaliter formula, qua vel Imperium Romanum vel Imperium Romanorum Teutonicae Nationis nominatur." 77 G. G. Titius, Pseudonyme Ausgabe des Monzambano (vgl. Fn. 78), 1708: "Ex hac tamen ratione contrarius aliquis sensus non sequitur; esto enim, quad moderna Germanorum respublica cum antiquo Romanorum Imperio unum et idem non sit, attamen elogium imperii Romani Germaniae quoque fuit applicatum, ei ergo, quo m'inus explicationis gratia ad praecavendam cavillationem vel iniquiorem interpretationem mentio nationis Teutonicae adjiceretur, nihil omnio obstitit." 78 [Samuel Pufendorf], Severini de Monzambano Veronensis de statu imperii Germanici ad Lealium fratrem dominum Trezolani liber unus, 1667, Cap.1, § 14: Zunächst stellt Pufendorf fest, daß die Karl d. Gr. und Otto d. Gr. angetragene Herrschaft über Rom mit der Zeit dem deutschen Reich den Namen "Römisches Reich" gegeben habe. Dann aber fährt er fort: "Distinctionem tamen Romani Imperii a regno Germaniae haut obscure arguit distincta coronatio et inauguratio. Et recentiores Caesares a Maximiliano I. post nomen Imperatoris Romanorum expresse subiungunt Regis Germaniae titulum. Quin et hodie Germanis suam rem publicam solenne est vocare Imperium Romanum Teutonicae nationis. Quae tamen formula contrarium sibi ipsi sensum videtur habere, postquam satis liquet, modernam Germanorum rem publicam cum antiquo Romanorum Imperio unum et idem non esse."

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Namens aber dabey ganz vergesse. Und daher mag es auch kommen, daß mehrmalen hinzugesetzet wird: ,Das heilige Römische Reich teutscher Nation'. Indessen ist es nun einmal so, und man hat dahero auch um so weniger Ursach, sich bey dieser Redensart ein Bedenken zu machen, oder davon abzugehen, als die Sache keine gute oder böse Folgen hat, man rede und schreibe so oder so: Es ist und bleibet einmal eine angenommene Redensart, welche weder nutzet, noch schadet." Zur staatsrechtlichen Bedeutung des Wortes "Deutsche Nation" führt er sodann aber aus: Darunter werde "alles begriffen, was jetzo zu Teutschland gehöret, und dieses wird denen Italiänischen Reichs-Landen entgegen gesetzt" 79 • Die ausdrücklich zitierte weitergehende Auffassung von Dietrich Hermann Kemmerich (1677 -1745) in dessen Werk "Introductio ad jus publicum"B0 , "der Beysatz ,Teutscher Nation' seye um der Italiäner und Franzosen willen gemacht worden, welche sich einer Ansprach auf das Röm. Kayserthum angemaßet hätten", hält Moser für nicht erwiesen. Ähnlich äußerte sich der berühmte Göttinger Staatsrechtier Johann Stephan Pütter (1725 -1807) im Jahre 1784. Ausführlicher als Moser bringt Pütter eine Geschichte der Reichstitulatur von den Ottonen bis zum Ende des Mittelalters. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß der Zusatz "natio Germanica" oder "natio Teutonica" als räumlich-politische Einschränkung oder Begrenzung gemeint ist, nämlich als "Romanum imperium, quatenus intra fines Germaniae". Der Name "Romanum imperium nationis Germanicae" ist für Pütter gleichbedeutend mit "Deutschland" 81 • Im Gegensatz zum 17. Jahrhundert verstehen Moser undPütterden Zusatz "nationis Germanicae" oder "Deutscher Nation" im Reichstitel nicht als Genetivus possessivus, sondern als Genetivus partitivus. Das "Römische Reich Deutscher Nation" ist der deutsche Teil des Römischen Reiches, das von Deutschen bewohnte Reichsgebiet, kurz Deutschland im Gegensatz zu den anderen Reichsteilen Italien und Gallien sowie zum Königreich Arelat82 • 79 J. J. Maser, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, Stuttgart, 1766, Cap. 1, §§ 13 (S. 12 f.), 21 (S. 17). 80 D. H. Kemmerich, Introductio ad jus publicum, Wittenberg, 1721, Cap. 2,

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81 J. St. Pütter, Specimen iuris publici et gentium medii aevi, Göttingen, 1784, Cap. VII, § 58 (S. 90 ff.); Cap. VIII, § 69 (S. 115 ff.). - V gl. dazu auch: Ulrich Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff (Göttinger Rechtswiss. Studien 38, 1961), S. 16 ff.; Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (1975), S. 107. 82 Gewisse Anklänge an eine derartige Vorstellung finden sich bereits bei Martin Luther. Wolfgang Günter, Martin Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung (1976), S. 32.

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3. Nach dem Ende des "Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation" hat sich die Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert aus historischer und rechtsgeschichtlicher Sicht mit der Entstehung und Bedeutung der Reichstitulatur befaßt. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts kehrte der Göttinger Rechtshistoriker Karl Friedrich Eichhorn (1781 - 1854) - ohne auf Moser und Pütter einzugehen- zu den Überlegungen zurück, die man im 17. Jahrhundert angestellt hatte. In seiner 1812 herausgegebenen "Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte" führt er aus: "Das deutsche Reich mit

seinen Pertinenzen und Nebenländern war unzertrennlich mit dem Römischen Reiche verbunden und bildete daher das heilige Römische Reich deutscher Nation83 ." Aus dem Gesamtzusammenhang, in den

diese Äußerung gestellt ist, ergibt sich, daß Eichhorn die Entstehung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation auf den Erwerb der römischen Kaiserkrone durch Otto I. zurückführt. Die Bezeichnung des Reiches sieht er als Ausdruck der Tatsache an, daß das damals gegründete Reich auf der deutschen Nation beruhte und von ihren Kaisern beherrscht wurde. Diese Anschauung wurde zur herrschenden Auffassung in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Sie wurde vornehmlich vertreten von den Historikern Wilhelm Giesebrecht (1814- 1889)84, Heinrich von Sybel (1817- 1895)85 und Julius Ficker (1826 -1902) 86, dem Geschichtsschreiber Ferdinand Gregorovius (1821 - 1891) 87 , dem Staatsrechtier Heinrich Zoepfl (1807 -1877) 88 und dem Rechtshistoriker Andreas HeusZer (1834 -1921) 89 • Der Titel "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" wurde als Bezeichnung für den gesamten Herrschaftsraum des mittelalterlichen Kaiserreiches und als Merkmal für die deutsche Vorherrschaft im römischen Reich angesehen, die sich im Kaiser83

K. F. Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 3. Aufl., 1821,

Teil li, § 287 (S. 281).

84 W. Giesebrecht, Geschichte der Deutschen Kaiserzeit, Bd. I (1855), Vorrede. 85 H. v. Sybel, Die deutsche Nation und das Kaiserreich (1862), in: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hrsg. von Friedrich Schneider (2. Aufl., 1943),

S. 159 ff. (S. 192). 8G J. Ficker, Das Deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen (1861), in: Universalstaat oder Nationalstaat (Fn. 85), S. 19 ff. (S. 68/69). 87 F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Band III (1860), s. 362. 88 H. Zoepfl, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. li (1872), § 67 I (S. 350). 89 A. Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte (1905), S. 125/26.

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turn gründete. In der Reichstitulatur wurde nach allgemeiner Auffassung der rechtliche und politische Anspruch der deutschen Nation auf eine bleibende Verbindung des römischen Kaisertums mit der deutschen Königskrone festgehalten. Dieser Auffassung hat sich in diesem Jahrhundert Karl SchottenloheT (1878 -1954) angeschlossen. Anhand von Quellen vornehmlich des 16. Jahrhunderts vertritt er die Ansicht, der Reichstitel habe das "in der deutschen Nation ruhende Imperium Romanum" ausdrücken und nicht nur dessen deutschsprachigen Teil bezeichnen wollen90 • Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben der Kirchen- und Verfas'sungshistoriker Albert Werminghoff (1869 -1923) 91 und der Historiker Karl Zeumer (1849 -1914)92 die Vorstellung, der Titel "Römisches Reich Deutscher Nation" kennzeichne die Herrschaft der deutschen Nation über das gesamte römische Reich des christlichen Abendlandes, als gelehrte Umdeutung des 17. Jahrhunderts abgelehnt. Stattdessen legten sie - inhaltlich weitgehend übereinstimmend, aber unabhängig voneinander - dar, daß die Reichstitulatur eine geographische Beschränkung des Romanum imperium enthalte und nur den Teil des Reiches meint, der deutscher Nation, d. h. deutscher Nationalität sei. Diese Ansicht hatte bereits 1864 der englische Gelehrte und Staatsmann James Bryce (1838 -1922) in seinem Werk "The Holy Roman Empire" dargetan, ohne indes in Deutschland Beachtung zu finden 93 • Der Auffassung von W erminghoff und Zeumer schloß sich der Historiker Edmund E. Stengel (1879 -1968) an 94 • Alle vier Autoren gelangten demnach zu dem Ergebnis, das im 18. Jahrhundert bereits die Juristen Moser und vor allem Pütter vertreten hatten. Des Letzteren Ausführungen über die Reichstitulatur waren Werminghoff, Zeumer und Stengel indes entgangen. Die neubelebte "alte" Auffassung, derzufolge 90 K. Schottenloher, Die Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation", in: Festschrift für E. Stallreither (1950), S. 301 ff. (S. 311). 91 A. Werminghoff. Der Begriff "Deutsche Nation" in Urkunden des 15. Jahrhunderts, in: Historische Vierteljahrsschrift, hrsg. von G. Seeliger (N.F. der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft), Bd. 11 (1908), s. 184 ff. Ders., Deutsches Reich und Deutsche Nation, Univ. Rede der Albertus Universität Königsberg (1909). 92 K. Zeumer, Heiliges römisches Reich deutscher Nation. Eine Studie über den Reichstitel (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. IV Heft 2, 1910). 93 J. Bryce, The Holy Roman Empire, London, 1864. Dtsch. Übers. v. A. Winckler, Leipzig, 1873. 94 E. E. Stengel, Regnum und imperium. Engeres und weiteres Staatsgebiet im alten Reich (Marburger Akademische Reden 49), Marburg 1930 (Wiederabdruck in: E. E. Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte des Kaisergedankens im Mittelalter, 1965, S. 200 f.).

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der Zusatz "Deutscher Nation" im Reichstitel als Ausdruck der räumlichen Begrenzung der Reichsgewalt seit dem Ausgang des Mittelalters zu deuten ist, hat überwiegend Zustimmung im rechtshistorischen Schrifttum gefunden9s. In den dreißiger Jahren haben Karl Gottfried Rugelmann (1879 bis 1959)96 und Adolf Diehl91 diesen Forschungsergebnissen eine weitere

Variante hinzugefügt. Auf Grund eingehender Analysen spätmittelalterlicher Quellen deutete insbesondere Diehl den Titel "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" als Anzeichen für die Entstehung und Ausbreitung eines deutschen Volksbewußtseins. "Je schärfer die Gegensätze gegen die fremden Nationen wurden, je mehr die Grenzgebiete des Reiches von den fremdnationalen Nachbarstaaten bedroht wurden, je mehr infolgedessen das Nationalbewußtsein der Deutschen erstarkte, umso klarer wurde in der staatsrechtlichen Formel der nationaldeutsche Charakter des Reiches herausgearbeitet98 ." Der Reichstitel wird demnach nicht als geographisch-nationale Beschränkung des Romanum imperium gewertet, sondern als Ausdruck erstarkenden nationalen Selbstbewußtseins als Reaktion auf die politischen Realitäten99 • 3. Diese Deutungen des Titels "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" sind ihrerseits bereits Dokumente deutscher Geistesgeschichte. Ihnen soll deshalb eine weitere Interpretation des Reichstitels nicht hinzugefügt werden. Jedoch erweist es sich als sinnvoll, auf zwei Fakten aufmerksam zu machen, die in diesem Zusammenhang bislang noch nicht zufriedenstellend berücksichtigt wurden. 95 Richard Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte. 6. Aufl., von Eberhard Frh. von Künßberg (1922), § 69 (S. 898).- Heinrich Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl., von Ernst Heymann (1927), §58 (S. 245). - Claudius Frh. von Schwerin, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Aufl., von Hans Thieme (1950), § 63 (S. 225/26). - Fritz Hartung,

Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7. Aufl. (1959), § 3 (S. 5/6). - Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I: Frühzeit und Mittelalter, 2. Aufl. (1962), S. 231; Bd. II: Neuzeit bis 1806 (1966), S. 113/14. - Otto Kimmenich, Deutsche Verfassungsgeschichte (1970), S. 134. - Vgl. aber auch: Fn. 99. 96 K. G. Hugelmann, Die deutsche Nation und der deutsche Nationalstaat

im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 51 (1931), S. 1 ff. und S. 445 ff. (insb. S. 462). Ders., Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter (1955), S. 404 (dort die Ausführungen von 1931 zum Teil abschwächend). 97 A. Diehl, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, in: Historische Zeitschrift 156 (1937), S. 457 ff. (insb. S. 467 ff.). 98 Fn. 97, S. 484. 99 Dieser Auffassung haben sich in der rechtsgeschichtlichen Literatur angeschlossen: Adolf Zycha, Deutsche Rechtsgeschichte der Neuzeit (1949), S. 37; Hans Planitz, Deutsche Rechtsgeschichte (1950), S. 2; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I (2. Aufl., 1975), S. 4.

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Im Jahre 1556 erhoben sich Zweifel, ob der Bischof und das Bistum von Cambrai dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unterständen ("sub sacro Romano imperio Germanicae nationis esse"), obwohl die deutsche Mundart dort nicht gesprochen werde ("tamen quia Cameracenses Germanico ideomate non utantur"). Karl V. entschied in der Deklaration vom 2. Juni 1556, daß Bischof und Bistum zum Heiligen Römischen Reich gehören, obwohl die deutsche Sprache bei ihnen nicht heimisch sei, sondern die französische Mundart benutzt werde ("quamvis lingua Germanica iUis vernacula non sit, sed Gallico ideomate utantur"). Nichtsdestoweniger habe das Bistum Cambrai "ordines et status" des Reiches Deutscher Nation ("imperii Germanice nationis") ebenso wie die Bischöfe von Lüttich, Metz, Verdun und Toul und einige andere gleicher Art. Denn der Bischof werde zu den Reichstagen und Reichsversammlungen gerufen, das Bistum werde zu den gemeinen Subsidien, den öffentlichen Lasten und Kontributionen des Reiches herangezogen und die Bischöfe hätten seit altersher die Regalien ihrer Kirche von Kaisem und Königen empfangen 100 • Hier wird von Karl V. das Römische Reich Deutscher Nation nicht als sprachliches oder nationales Gebilde, sondem als rechtlicher Körper umschrieben. über die Zugehörigkeit zum Reich entscheiden nicht die deutsche Zunge oder Nationalität, sondem die Rechtspflicht, auf den Reichstagen zu erscheinen und zu den Reichslasten beizutragen. Zum anderen verdient es betont zu werden, daß an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die deutsche Geschiehtsauffassung einem einschneidenden Wandel unterworfen war. Die Geschichtsschreibung des frühen Humanismus sah es als ihre Aufgabe an, die Reihe der deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis Maximilian unmittelbar an die römischen Caesaren anzuschließen und beide nach Möglichkeit gleichförmig zu behandeln101 • Die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus durch die italienischen Humanisten und das Bekanntwerden dieses antiken Schriftstellers in Deutschland führten dann jedoch zu einer intensiven Beschäftigung mit der germanischen Frühgeschichte und damit zu einem neuen Geschichtsbild. Das deutsche Volk erschien nunmehr als ein eigenständiges Gebilde und nicht mehr nur als Zubehör oder Fortsetzung des Römischen Reiches. Ulrich von Rutten (1488 -1523) feierte in zahlreichen Schriften Arminius als nationalen 1oo Declaratio episcopum et episcopatum Cameracensem sub sacro Romano imperio Germanice nationis esse, quamvis Germanico ideomate non utantur pro Jacobo Lamberti, vom 2. 6. 1556, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 34 (1913), S. 526, hrsg. von L. Bittner. Vgl.: K. SchottenloheT (Fn. 90), S. 305; H.-D. Kahl (Fn. 14), S. 95. 1o1 Vgl.: Joachim Wagner, Äußerungen deutschen Nationalgefühls am Ausgang des Mittelalters, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 389 ff. (S. 417 ff.).

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Helden, unter dessen Anführung die Deutschen den kriegsgewaltigen Römem widerstanden und die alte Unabhängigkeit Deutschlands bewahrt hätten. Weiterhin beschäftigten sich die deutschen Humanisten

Sigismund Meisterlin (1456), Heinrich Bebel (1501), Konrad Celtis (1502), Jacob Wimpfeling (1505), Konrad Peutinger (1506), Albert Krantz (1518), Hieronymus Gebwiler (1519), Hermann Neuenar (1519), Beatus Rhenanus (1531), Johann Aventin (1533), Sebastian Franck (1534), Philipp MeLanchthon (1538), Sebastian Münster (1544) und Petrus Diväus (1566) intensiv mit Tacitus und seiner Germania. Heinrich Bebel hielt darüber sogar im Jahre 1509 einen Vortrag vor Kaiser Maximilian. Diese geistesgeschichtliche Entwicklung ist sicherlich nicht ohne Einfluß geblieben auf das zeitgenössische Verständnis des Romanum imperium und den Sinngehalt des Titels "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" 102 •

IV. Ausklang: Der Begriff "Nation" in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts 1. Der Reichsstaatslehre des 17. und 18. Jahrhunderts ist der Begriff "Deutsche Nation" - von der Erwähnung in der Reichstitulatur abgesehen - unbekannt. In dem gründlichen - 52 Bände umfassenden - "Teutschen Staats-Recht" von Johann Jacob Maser, erschienen von 1737-1754, kommt das Wort "Nation" nur ein einziges Mal vor103 • Dieser Befund ist keineswegs verwunderlich. Die politische und rechtliche Entwicklung vom Ausgang des Mitelalters bis zum Westfälischen Frieden hatte zur Anerkennung der "ständischen Libertät" und damit zur Doppelung der Staatsmacht im Reich geführt: Der Staatsgewalt des 102 Vgl.: Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Historische Studien, Heft 298, 1936), insb. S. 33 ff., 38 ff., 69 ff., 125 ff. - Paul Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, bearb. von Joachim LeusehneT (4. Aufl., 1967), S. 21 ff.- A. Diehl (Fn. 97), S. 481 f. 1os Vgl.: Haupt-Register über die fünfzig Theile des Maserischen Teutschen Staats-Rechts, und die zwey Theile Zusätze darzu, 1754. Unter dem Stichwort "Nation" wird hier lediglich auf den Neunten Teil, S. 180, des Teutschen Staats-Rechts verwiesen, wo in § 117 die Frage behandelt wird, ob die Ausübung der Rechte aus der Reichsstandschaft von der Nationalität des betreffenden Standesherren abhängig ist, was Maser mit dem Hinweis auf die Stellung des Fürsten Piccolomini, Herzog von Amalfi und Patricius von Siena, und des Herzogs von Marlborough, Fürst von Mindelheim, als Reichsfürsten verneint. Vgl. Teutsches Staats-Recht, T. 9, S. 27 u. 128.

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Reiches stand die Landeshoheit der Reichsstände gegenüber. Das stellte die Theorie vor die Frage nach der Einordnung der Reichsverfassung in die staatsrechtliche Systematik. Die Versuche, das deutsche Reich -

entweder als Monarchie (Dietrich Reinkingk, 1590 -1664)

-

oder als Fürstenaristokratie (Bogislav Philippe von Chemnitz [Hippolithus a Lapide], 1605- 1678)

-

oder als "status mixtus" aus beiden Staatsformen (Johannes Limnäus, 1592- 1663),

-

ferner als Bundesstaat (Christoph Besold, 1577-1638, - Ludolph Hugo, 1630- 1704, - Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646 bis 1716, - J ohann Stephan Pütter, 1725 - 1807)

-

oder schließlich gar als ein Mittelding zwischen Monarchie und föderativem Staatenbund (Samuel Pufendorf, 1632- 1694)

anzusehen, beherrschten das Denken der Staatsrechtler. Dieses, aber auch der Charakter der Reichsterritorien als festgefügte Ständestaaten ließen keinen Raum für die rechtliche Existenz einer deutschen Nation. Allenfalls Johann Stephan Pütter104 und Karl Friedrich Häberlin (1756 bis 1808)1°5 betrachteten gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Gesamtheit der Reichsstände als identisch mit der "Nation" und stellten diese - ausgedrückt durch die Formel "Kaiser und Reich" - als verfassungsrechtlich selbständige moralische Person dem Reichsoberhaupt gegenüber 106 • 2.Ähnlich wie im Staatsrecht war die Entwicklung in der Reichshistoriographie des 17. und 18. Jahrhunderts107 • Soweit die Reichsgeschichte in Fortsetzung der mittelalterlichen Tradition von einem universalmonarchischen Denken geprägt war108 , wurde das Reich als irdisches Ordnungsprinzip der Christenheit betrachtet. Nicht eine be-

104 J. St. Pütter, Beyträge zu nähern Erläuterung und richtigen Bestimmung einiger Lehren des Teutschen Staats- und Fürstenrechts, Teil I (1777),

s. 56 f.,

90, 93 f. K. F. Häbertin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. I (2. Aufl., 1797), s. 428, 432. 106 Vgl. auch: Rudolf Smend, Zur Geschichte der Formel "Kaiser und 105

Reich" in den letzten Jahrhunderten des alten Reiches, in: Historische Aufsätze, Karl Zeumer zum sechzigsten Geburtstag als Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern (1910), S. 439 ff. (S. 448). 1o1 Zum folgenden siehe die gründliche Untersuchung von: Patrik von zur Mühlen, Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie des frühen 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 89 (1972), S. 118 ff., insb. S. 124 ff., 127 ff., 132 ff., 140 ff. 1os Vertreter dieser Richtung war Eucharius Rinck (1670- 1745), Professor in Leipzig und Altdorf.

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stimmte Dynastie oder irgendein Volk oder ein geographischer Raum, sondern eine Institution, die man der himmlischen Hierarchie nachgebildet glaubte, wurde zum Gegenstand einer geschichtlichen Kontinuität erhoben. Dabei bediente man sich der Theorie der "translatio imperii" und verband die vier Universalmonarchien, nämlich die antiken Orientreiche, sowie das Reich Alexanders des Großen, das römische Weltreich und das Imperium des Mittelalters ungeachtet der großen zeitlichen und räumlichen Abstände zu einem einheitlichen Geschichtsbild. Im Rahmen einer derartigen Geschichtsschreibung wurde das Reich nicht als nationales Gebilde, sondern als reine Institution betrachtet ohne Rücksicht auf die Nationalität des in ihm lebenden Volkes. Für die Darstellung einer Nationalgeschichte war hier kein Raum. Auch für die Anhänger einer korporativen Reichsidee, die das Reich als organisch verstandene Gemeinschaft von Kaiser und Reich ansahen109, und für die Vertreter eines föderativen Reichsgedankens, die primär die Stände als eigentliche Träger der Reichsgewalt betrachteten110, verschmolzen Institution und Nation weitgehend zu einer untrennbaren Einheit. Dennoch ist es das Verdienst insbesondere der Verfechter der föderativen Reichsidee, die Nichtidentität von Reichshistorie und Nationalgeschichte erkannt und betont zu haben. Infolgedessen wurde es gebräuchlich, die Geschichte des Reiches mit der germanischen Vorzeit einzuleiten. Dies sprengte den herkömmlichen Begriff der Reichshistorie, die gewöhnlich mit den Karolingern oder erst mit Konrad I. oder Otto dem Großen einsetzte, und führte zu einer, freilich unscharfen Vorstellung von einer selbständigen Nationalgeschichte und einer neben oder außerhalb des Reiches bestehenden Nation. 3. War die Nation als staatsrechtlicher und historiographischer Begriff nicht oder nur kaum existent, so lebte sie doch im politischen Raum in Gestalt eines Reichspatriotismus 111 • Dieser wurde getragen 109 Anhänger der korporativen Reichsidee waren: Hiob Ludolf (1624 -1704J; Martin Schmeizel (1679 -1704), Professor in Jena und Halle; Johann Jacob Mascov (1689 - 1761), Professor in Leipzig. 11o Vertreter des föderativen Reichsgedankens waren: Johann Vlrich Pregnitzer (1647 - 1708), Historiker und Staatsrechtler, Professor in Tübingen; Burkhard Gotthelf Struve (1671-1738), Professor in Jena; Johann Peter Ludewig (1668 -1743), Professor in Halle; Nicolaus Hieronymus Gundling (1670 -1729), Professor in Halle; Johann David Köhler (1684 -1755), Professor in Altdorf und Göttingen; Johann Jakob Schmauß (1690 -1757), Staatsrechtler, Professor in Halle und Göttingen; Benedict Schmidt (1726 -1778), Professor in Bamberg und Ingolstadt. 111 Zum folgenden siehe: Arnold Berney, Reichstradition und Nationaistaatsgedanke (1789 - 1815), in: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 57 ff. (S. 58 ff.); Paul Joachimsen (Fn. 102), S. 33 ff.; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776- 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil I (1967), S. 165 f.

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von den mittleren und kleinen Ständen vornehmlich im Süden und Westen Deutschlands, von der Reichsritterschaft, den Reichsstädten und den kleineren weltlichen und geistlichen Herrschaften. Gewachsen war der Patriotismus weniger aus einer politischen Begeisterung für das Reich und die Nation, als vor allem aus dem Gefühl und der Not der eigenen Schwäche und dem Bedürfnis nach Schutz und Schirm durch eine starke Reichsgewalt Aber auch ständisches Selbstgefühl, konservative Reichs- und Rechtsgesinnung, sowie Anhänglichkeit an das habsburgische Kaiserhaus spielten insbesondere in Süddeutschland eine Rolle. Der "Reichspatriotismus der kleineren und schwächeren Stände"112 verkörperte so ein Nationalbewußtsein ohne Staatlichkeit, denn diese war den Reichsständen vorbehalten. Literarische Vertreter eines Reichspatriotismus waren im 17. Jahrhundert Leibniz und im 18. Jahrhundert Friedrich Karl von Maser, Sohn des bereits mehrfach genannten Johann Jacob Moser.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646- 1716) bemühte sich in zahlreichen seiner Schriften, einen gemeindeutschen Patriotismus zu wecken, um dem zerfallenden Reich neue Einheit und Ordnung zu geben113 • Er war dabei durchdrungen von dem Gedanken, daß die Erneuerung der Reichseinheit nicht durch rechtstheoretische Konstruktionen oder staatsrechtliche Reformen allein möglich sei, sondern daß es not tue, ein neues und mächtiges Nationalbewußtsein zu wecken. Aus dieser Einsicht erwuchsen die zahlreichen Schriften, Pläne und Entwürfe, welche die Reinigung und Pflege der deutschen Sprache, die Errichtung einer "deutschliebenden Genossenschaft", die Gründung deutscher wissenschaftlicher Akademien zum Gegenstand und Ziel hatten. Neu war daran die unmittelbare Verbindung des literarisch-wissenschaftlichen Wirkens mit dem Ziel einer staatlich-politschen Festigung des Reiches. Kulturpolitik erscheint hier als Teil einer umfassenden Nationalund Reichspolitik. Leibniz war beherrscht von der Vorstellung einer natürlichen, in der Sprache und den Sitten sich offenbarenden nationalen Gemeinschaft aller Deutschen. In seiner Schrift "Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben", von 1683, führt er aus: "Das Band der Sprache, der Sitten, auch sogar des gemeinsamen Namens vereinigt die Menschen auf eine so kräftige, wie wohl unsichtbare 112 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates (2. Aufl., 1911), S. 25/26. 113 Zum folgenden siehe: Ernst Rudolf Huber, Reich, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft 102 (1942), S. 593 ff. (S. 600 ff.); P. Joachimsen (Fn. 102), S. 32 ff.

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Weise und macht gleichsam eine Art Verwandtschaft 114 ." Deshalb for-

derte er die Reinigung und Pflege der deutschen Sprache als notwendigen Teil der Selbstbesinnung auf die eigene Wesensart. Zu diesem Zweck sollte die "deutschliebende Genossenschaft" gegründet werden, um "die Ehre Gottes und den gemeinen Nutzen des werten Vaterlandes deutscher Nation" zu fördern 11 5.

Mit diesen Überlegungen verfocht Leibniz die Idee der Sprachnation. Jedoch sah er diese nicht isoliert als bloße Kulturgemeinschaft, sondern als eingebettet in das rechtliche Gefüge der Reichsverfassung. Trotz aller Zeichen des Niederganges betrachtete er das Reich nicht als theoretisches Gebilde bar jeder Realität, sondern als noch lebensfähigen Organismus. Im Rückgriff auf die Tradition des Reiches sowie auf die mittelalterliche Reichsidee vom Heiligen Römischen Reich und dessen Übergang auf die deutsche Nation verband Leibniz den politischen Reichspatriotismus mit dem kulturellen Gemeinschaftsbewußtsein der Sprachnation. In politisch-staatlicher Hinsicht war diesen Vorstellungen keinerlei Erfolg beschieden. Jedoch bewirkten sie mit, daß die kulturelle Trennung, welche die konfessionelle Spaltung im Geistesleben Deutschlands geschaffen hatte, teilweise wieder beseitigt wurde. Die allenthalben einsetzende Rückbesinnung auf die gemeinsame Sprache schuf - freilich nur in einer dünnen Oberschicht - die Atmosphäre einer Bildungsgemeinschaft, wie sie seit der Reformation nicht mehr bestanden hatte.

Friedrich Karl von Moser (1723- 1798), der zweite erwähnenswerte literarische Vertreter des Reichspatriotismus, erreichte bei weitem nicht das Niveau und die Ausstrahlungskraft des hundert Jahre vor ihm lebenden Leibniz 116 • In seiner bekannten 1765 erschienenen Schrift "Von dem teutschen Nationalgeist" forderte er die Erweckung einer "allgemeinen Vaterslandsliebe", die sich nicht auf den Eigennutz des einzelnen Territoriums, sondern die allgemeine Wohlfahrt des gesamten Reiches richten sollte. Er trat ein für die Stärkung der kaiserlichen Autorität im Reiche. In ihr sah er die Grundlage einer gemeindeutschen Einheit und die Garantie für die Erhaltung der altständischen Freiheit. Die nationale Reichsidee Masers sollte nicht dazu dienen, die individuelle Freiheitsidee der Aufklärung zu verwirklichen, sondern die überlieferte Reichsverfassung mit ihrem alten Dualismus von kaiserlicher Autorität und ständischer Libertät zu erhalten117 • 114 G. W. Leibniz, Philosophische Werke, hrsg. von A. Buchenau und E. Cassirer, Bd. 1: Deutsche Schriften (Phil. Bibl. Bd. 161, 1921), S. 3. 115 G. W. Leibniz (Fn. 114), S. 55. 118 Zum folgenden siehe: E. R. Huber (Fn.113), S. 622 ff.; Fr. Meinecke (Fn.l12), S. 24 f.; P. Joachimsen (Fn.102), S. 34 f.; A. Berney (Fn.111), S. 59.

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4. Dem Reichspatriotismus stellte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Staatspatriotismus zur Seite, der nicht auf das Ganze des Reiches, sondern nur auf die partikulare Staatlichkeit der deutschen Territorien gerichtet war, ohne indes einer Reichsgesinnung völlig ablehnend gegenüberzustehen118 • Der Staatspatriotismus verkörperte ein Nationalbewußtsein unterhalb der Reichsebene, bezogen auf den Territorialstaat und dessen Staatlichkeit. Sein Wegbereiter war Friedrich II., der Große, von Preußen. Bereits 1752 verlangte er in seinem politischen Testament von seinen Offizieren einen "esprit de corps et de nation" 119 • Der hier geforderte Nationalgeist war nicht identisch mit einem allgemeinen Volks- und Nationalbewußtsein. Von ihm sollten nicht sämtliche Untertanen des Königs, sandem nur die staatstragenden Berufsstände, das. mit dem Monarchen eng verbundene Offizierskorps und die Beamtenschaft, ergriffen werden. Erst wesentlich später und von der Idee her ungewollt wurden auch das gebildete Bürgertum und die einfachen Untertanen von einem preußischen Patriotismus erfaßt. Ausschlaggebend waren hier einerseits die philosophischen Schriften des Königs und seine staatsmännischen Taten, andererseits die militärischen Niederlagen und Erfolge, sowie die von allen Untertanen geforderte Opferbereitschaft. Freilich beruhte dieser allgemeine preußische Nationalgeist zu einem Großteil auch nur auf "persönlichem Enthusiasmus für den König" und dem Gefühl für das Große, "was er und was man mit ihm erlebt, erduldet und erlitten hatte" 120 • Dieser Staatspatriotismus war der Idee nach zwar geeignet, das alte Reichsbewußtsein zu verdrängen, aber er enthielt doch zu117 "Wir sind ein Volk, von einem Namen und Sprache, unter einem gemeinsamen Oberhaupt, unter einerley unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu einem gemeinschaftlichen großen Interesse der Freiheit verbunden, auf einer mehr als hundertjährigen Nationalversammlung zu diesem Zweck vereinigt, aus innerer Macht und Stärke das erste Reich in Europa, dessen Königskronen auf deutschen Häuptern glänzen .. .": F. K. v. Moser, Von dem teutschen Nationalgeist, 1765, S. 5. 11s Zum felgenden siehe: E. R. Huber, Die friderizianische Staatsidee und

das Vaterland, in: Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee (1965), S. 30 ff. Vgl. auch den Erstabdruck unter dem Titel: "Der preußische Staatspatriotismus im Zeitalter Friedrichs des Großen", in: Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft 103 (1943), S. 430 ff.; Gerhard Masur, Deutsches Reich und deutsche Nation im 18. Jahrhundert, in: Preußische Jahrbücher 229 (1932), S.1 ff.; P. Joachimsen (Fn.102), S. 35 f.; Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 32 f. 119 Politisches Testament von 1752, in: Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, (A) Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung, Bd. 9 (1907), S. 330 ff. (S. 362). Vgl. auch: Otto Hintze, Das politische Testament Friedrichs des Großen, in: Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hrsg. von G. SchmolleT, 28 (1904), S. 439 ff. 12o Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 32.

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gleich- wenn auch partikular begrenzt- die Idee einer Staatsnation, die später neue staatsbildende Kräfte mobilisieren konnte. 5. Im Historismus des Osnabrücker Staatsmannes, Publizisten und Geschichtsschreibers Justus Möser (1720- 1794) 121 und in der Volksgeistlehre Johann Gottfried Herders (1744 -1802)1 22 fand die Auffassung von der Nation als historisch-kultureller Volksgemeinschaft ihre fortwirkende Ausformung. Mit der Vorstellung von einer Nation, die unabhängig von staatlichen Grenzen besteht, waren die Grundlagen geschaffen für die Idee der Kulturnation 123 • Damit wurde zugleich der Anstoß gegeben für den Souveränitätsanspruch eines durch Sprache und Kultur verbundenen Volkes. Das Bild von Volk und Nation als der durch Sprache, Kultur und Geschichte organisch gewachsenen Einheit hat nicht nur auf das politische Nationalbewußtsein im 19. Jahrhundert eingewirkt, sondern auch Eingang gefunden in die Rechtswissenschaft. In der - von der Ideenwelt Mösers und Herders beeinflußten - Historischen Rechtsschule erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in bewußter Abwehr gegen die Staatslehre des Vernunftrechts eine vertiefte Beschäftigung mit dem Wesen der Nation und dem Volksgeistl 24 • Die Staatstheorie des Naturrechts - von Hugo Grotius (1583 -1645) und Thomas Hobbes (1588 -1697) bis zu Montesquieu (1689 -1755) 12 5 und Jean-Jacques Rousseau (1712 -1778) -hatte mit der Lehre vom Gesellschaftsvertrag das im Staat vereinigte Volk nicht als organische Einheit, sondern als Summe von Einzelpersonen betrachtet126 • Diesem abstrakten atomisti121 E. R. Huber, Lessing, Klopstock, Möser und die Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individuellen Volksbegriff, in: Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft 104 (1944), S.121 ff.; Peter Klassen, Justus Möser (Studien zur Geschichte des Staats- und Nationalgedankens, Bd. 11, 1936), S. 407 ff.; Erwin Hölzle, Justus Möser über Staat und Freiheit, in: Aus Politik und Geschichte, Gedächtnisschrift für Georg von Below (1928), S. 167 ff.; ErnstJürgen Trojan, Über Justus Möser, Johann Gottfried Herder und Gustav Hugo zur Grundlegung der Historischen Rechtsschule, jur. Diss. Bonn, 1971, S. 131 ff.; Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 28; P. Joachimsen (Fn. 102), S. 37 f. 122 Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 28 ff.; P. Joachimsen (Fn. 102), S. 37, 39 ff.; E.-J. Trojan (Fn. 121), S. 56 ff. 12a Zum Begriff "Kulturnation" vgl.: Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 2 ff. 124 Vgl.: Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl., 1967), s. 353 ff. 125 Im 19. Buch des "Esprit des lois" von 1748 befaßt sich Montesquieu in 27 Kapiteln mit dem Thema: "Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zu den

Prinzipien, welche den allgemeinen Geist, die Sitten und die Lebensart einer Nation ausmachen." Hier wird die "Nation" ebenfalls bereits vorzugsweise

als Kulturnation, als die durch bestimmte geistige und sittliche Eigenschaften gekennzeichnete Volksgemeinschaft verstanden. - Vgl. Montesquieu, Der Geist der Gesetze, dtsch. mit Anm., hrsg. von A. Elissen (Französische Classiker), Teil6 (1843), S. 111 - 148.

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sehen Volksbegriff setzte die Historische Rechtsschule die Idee vom Volk als der in Generationen fortlebenden kulturellen Einheit gegenüber. Der Staat erhielt damit seinen Rechtsgrund nicht durch einen abstrakten Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag, sondern durch seine Existenz als gewachsene Organisation der Volkseinheit1 27 • Diese Vorstellungen haben in der deutschen Staatslehre bis in dieses Jahrhundert hinein fortgewirkt. 6. Mit der französischen Revolution wurde der nationaldemokratische Staatsgedanke das bewegende und bestimmende Prinzip der europäischen Staatengeschichte128 • Er fußte auf dem Grundsatz: Jedes Volk hat ein angeborenes und unverzichtbares Recht darauf, ein Staat zu sein und an der Ausübung der Staatsgewalt teilzuhaben. "Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaft, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht", heißt es in Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 129 • Diese Grundsätze erfuhren noch eine Steigerung durch die radikaldemokratischen Kräfte der Revolution und ihren Wortführer Abbe Emmanuel Joseph Sieyes (1748 -1836)1 30• In seiner Schrift "Was ist der dritte Stand?", von 1789, identifizierte er die Nation mit dem dritten Stand und wies ihr alle Legitimität und Legalität, sämtliche Willensbildung und jede Handlungsfreiheit, alles Recht und jede Macht zu. Diese Idee eines radikalen nationaldemokratischen Kollektivismus machte jeden, der außerhalb des dritten Standes war oder aus ihm ausgeschlossen wurde, rechtlos131 • 126 Vgl.: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl., 1921, Neudruck 1960), S. 205 ff.; Friedrich Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte (1973), S. 209 ff., 278 ff., 282 ff. Günter Hofjmann-Loerzer, Grotius; Hans Maier, Hobbes; Berthold Falck, Montesquieu; Hans Maier, Rousseau; sämtlich in: Klassiker des politischen Denkens, hrsg. von H. Maier, H. Rausch, H. Denzer, Bd. I (4. Aufl., 1972), S. 293 ff., 351 ff.; Bd. II (3. Aufl., 1973), S. 53 ff., 104 ff. 127 Vgl. Otto von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände (Berliner Univ. Reden, 1902, Neudruck 1954); ders., Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hrsg. von G. SchmolleT, N.F. 7 (1883), s. 1097 ff. 12s Zum folgenden siehe: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I (2. Aufl., 1975), S. 8 ff. 129 "Deklaration des droits de l'homme et du citoyen", vom 26. Aug. 1789, Art. 3: "Le principe de toute souverainete reside essentiellement dans la nation; nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorite, qui n'en emane expressement", in: Staatsverfassungen, hrsg. von Günther Franz (2. Aufl., 1964), S. 302 ff. (S. 304). 130 Fr. Berber (Fn.126), S. 292 ff.; E.berhard Schmitt, Sieyes, in: Klassiker d. polit.Denkens (Fn. 126), Bd. II, S. 135 ff.

3 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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Ähnliche, wenn auch nicht annähernd so radikale und revolutionäre Gedanken finden sich in Deutschland bei August Ludwig von Schlözer (1735- 1809). Jedoch bezieht sich sein mehrfach gebrauchter Ausspruch, das Volk in seiner Gesamtheit ("le peuple") bzw. der dritte Stand ("tiers etat") ist die "eigentliche Nation", nur auf die Forderung, die städtischen Kleinbürger und den mittleren Bauernstand an den Wahlen zu einer ständischen Volksrepräsentation zu beteiligen132 • Die Idee der Staatsnation fand rasche Aufnahme und Verbreitung in Deutschland. Sie erscheint- mit nationaldemokratischen Zügen in den frühen Schriften Johann Gottlieb Fichtes (1762- 1814) und beim jungen Ernst Moritz Arndt (1769- 1860). Sie findet Eingang - in Gestalt eines auf Nationalität und Humanität gegründeten Staates - in die Schriften des Reichsfreiherrn Heinrich Friedrich Karl vom Stein (1757- 1831) und Wilhelm von Humboldts (1767- 1835), insbesondere in deren Verfassungspläne von 1815 133 • Der Gedanke des Nationalstaats hat vor allem bei Fichte mehrfache Wandlungen erfahren134 • Von einem anfänglichen radikalen Individualismus gelangte er 1796 in seiner "Grundlage des Naturrechts" 135 zu einem als "Naturveranstaltung" angesehenen "absoluten Staat", der "alle Individuen der Gattung aufopfert". Nur in der Staatsgemeinschaft erwirbt der einzelne sein Menschtum, nur dadurch, daß er Bürger ist, vermag er Mensch zu sein. In den "Reden an die deutsche Nation", 131 Emmanuet Sieyes, Was ist der Dritte Stand? (1789): "Was ist eine Nation? Eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind .... Der dritte Stand umfaßt ... alles, was zur Nation gehört, und alles, was nicht der dritte Stand ist, darf sich nicht als zur Nation gehörend betrachten. Was ist also der dritte Stand? Alles! ... Die Nation ist vor allem anderen da; sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist immer gesetzmäßig; sie selbst ist das Gesetz. Vor und über ihr gibt es nur das natürliche Recht .... Die Nation ist nicht nur keiner Verfassung unterworfen, sondern sie kann es nicht sein, sie darf es nicht sein, und das bedeutet wiederum, daß sie es nicht ist ...." Abgedruckt bei E. R. Huber (Fn. 128), S. 12. 132 Arnold Berney, August Ludwig Schlözers Staatsauffassung, in: Historische Zeitschrift 132 (1925), S. 43 ff. (S. 60, 65). 133 E. R. Huber (Fn. 128), S. 13 ff., 271 ff., 274 ff., 510 ff., 519 ff.; Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 36 ff., 89 ff., 155 ff.; P. Joachimsen (Fn. 102), S. 46 ff.; A. Berney (Fn. 111), S. 74 ff.; R. Vaupel, Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Teil2: Das preußische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807 - 1814 (Leipzig, 1938), Nr. 130, S. 320 ff. (S. 323). 134 Zum folgenden vgl.: Fr. Meinecke (Fn. 112), S. 89 ff., 134 ff., 327 ff.; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, II. Bd.: Der Aufstieg der Nation (Herder Taschenbuch 203/04, 1964), S. 28 ff.; E. R. Huber (Fn. 128), S. 15. 135 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wirtschaftslehre, Jena u. Leipzig, 1796.

"Nation" und "Deutsche Nation"

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gehalten im Winter 1807/08136 , gab er seinen Staatsvorstellungen sodann einen übersteigerten nationalstaatliehen Charakter. Die deutsche Nation ist der Ursprung und Quell aller wirklichen Kulturen, von ihr erwartete Fichte die Erneuerung der Welt. In seiner Vorlesung "Staatslehre" rief er im Jahre 1813 schließlich dazu auf, ein nationales Reich der Deutschen zu errichten und zwar in Gestalt eines "innerlich und organisch verschmolzenen Staates" unter der Herrschaft des Rechts:

"Für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt 131 ." Hier begegnen uns, vereinigt im Denken Fichtes,

sämtliche späteren Spielarten und historischen Erscheinungsformen des deutschen Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhundert.

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J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Berlin, 1808. J. G. Fichte, Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates

zum Vernunftreiche. Vorlesungen 1813, Berlin, 1820.

Die "Matrikel der bei den hamburgischen Gerichten admittierten Herren Advocaten" und die rechtsgelehrten Hamburger Richter 1816 - 1879 Von Geert SeeZig

I. 1. Nach einer langen harten Besatzungszeit verließen am 30. Mai 1814 die letzten französischen Truppen die Stadt Hamburg. Bereits drei Tage vorher war durch Rats- und Bürger-Schluß vom 27. Mai 18141 das alte vor dem 20. August 1811 und vom 31. März 1813 bis zum Wiedereinrücken der französischen Truppen gültig gewesene Recht wieder in Kraft gesetzt worden.

Da es erforderlich war, das hamburgische Gerichtswesen neu zu ordnen, wurde gleichzeitig eine aus 20 Bürgern bestehende Reorganisationsdeputation - die sog. "Zwanziger" - geschaffen, um diese Aufgabe zu erfüllen 2 • Der Erfolg der Bestrebungen war, daß am 15. Dezember 1815 die Handels-Gerichtsordnung verkündet wurde 3 • Am 29. Dezember 1815 folgte ihr die "Verordnung wegen veränderter Organisation der Justizbehörden und Gerichte", die sog. "Organisationsverordnung"4. In dieser werden durch die Artikel16 und 17 die Bestimmungen über die Advokatur niedergelegt. Danach müssen die Hamburger Advokaten das Bürgerrecht besitzen. Der Artikel17 lautet: Sämmtliche bey dem vormaligen hiesigen Kaiserlichen Gerichtshof angestellt gewesenen, hieselbst sich aufhaltenden Advocaten, sie mögen graduirt seyn, oder nicht, bleiben auch ferner als solche aufgenommen. Jedoch müssen sie innerhalb 4 Wochen das Bürgerrecht gewinnen, in Entstehung dessen sie von der Liste ausgestrichen werden sollen. Wer ausser diesen künftig die Advocatur hieselbst ausüben will, muss die Erlaubniß dazu bey dem OberGerichte per Supplicas nachsuchen, und außer seinem Bürgerrechte beweisen, daß er 1

2 3

4

SlgVO Bd. 1 S. 29. Im einzelnen siehe Bertram S. 13 ff. SlgVO Bd. 2 S. 207 ff. SlgVO Bd. 2 S. 270 ff.

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a) das 22ste Jahr zurückgelegt; und b) daß er jura studiert habe. Hat er von einer Juristen-Facultät den Gradum als Doctor oder Licentiat erhalten, so muß er sein Diplom beybringen. Hat er keinen akademischen Gradum erhalten, so muß er sich einer Prüfung unterwerfen, wozu das Ober-Gericht zwey seiner graduirten Mitglieder ernennen wird. Das Gericht steht die Befugniß zu, zu bestimmen, ob dem Supplicanten, er mag ein Graduirter seyn, oder nicht, die Befugniß zur Advocatur ertheilt werden soll, oder nicht. Die Matrikel führt der Herr Protonotarius. Keiner, der nicht immatriculirter Advocat ist, darf ein Supplicat, oder eine in den Gerichten zu producirende Schrift verfassen. Jeder solcher Schriften aber muß von dem Concipienten, als solchem, unterschrieben seyn.

Hierdurch wurde, wie Bertram (S. 95) feststellt, zum ersten Mal für Harnburg ein Advokatenstand im Rechtssinne geschaffen. 2. Beginnend mit dem Jahre 1816 wurden die durch den Rat Zugelassenen in eine von dem Protonotar - dem ältesten Sekretär des Rates - geführte Matrikel eing.etragen, deren in Leder gebundener Folioband jetzt im Harnburgischen Staatsarchiv liegt. Als erste Gruppe (unter I) werden 21 Advokaten verzeichnet mit dem Zusatz "die vormals beim Gericht Angestellten" unter Beifügung des Datums ihres Diploms und ihres Bürgerbriefes. Unter den letzten fünf befinden sich drei spätere Ratsmitglieder-5. Als 22. dieser Gruppe ist später am 29. Mai 1816 ein Advokat kraft Anordnung des Obergerichts nachgetragen6 • Es folgen (unter II) in der Matrikel "die bisherigen Advocati ordinarii". Es sind Johann Ludwig Trummer (Matr. Nr. 22) und Johann Friedrich Schrötteringk (Nr. 23). Diese Advokaten wurden gemeinhin "Advocaten vor der Stange" genannt, weil sie nach dem alten Recht vor dem Rate als Obergericht aufzutreten ermächtigt waren, sie jedoch durch eine vor das Ratsgehege gelegte Stange gehindert waren, dieses zu betreten7 • Eine Neuernennung war für diese Gruppe nicht vorgesehen, so daß sie nach deren Tode entfiel. Als Gruppe III sind die vom Rate "durch ein Decret zugelassenen Herren Advocaten" unter Hinzufügung des Datums ihres "producierten Decrets" eingetragen. Der erste Zulassungsbeschluß stammt vom 21. Februar 1816. Bis Ende des Jahres 1816 wurden 25 Advokaten dieser Gruppe immatrikuliert. Beginnend mit dem Jahre 1817 sind s Senator Dr. Johannes Carl Gottlieb Arning (Matr. Nr. 17), Bürgermeister Dr. Nicolaus Binder (Nr. 18), Bürgermeister Dr. Johann Ludwig Dammert (Nr. 21). 8 Dr. Conrad Otto Luhrsen (Matr. Nr. 42). 7 Hess Bd. 3 S. 414.

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bis zum 1. Oktober 1860 weitere 304 Advokaten eingetragen, ursprünglich nur mit dem Zulassungsdatum, jedoch von November 1821 an auch mit ihrem Geburtsdatum. Wohl veranlaßt durch die Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung wird mit dem 18. September 1861 die Numerierung neu begonnen. Für die Jahre 1877-1879 werden von dem Senatssekretär Geburtsort, Namen der Eltern, Prüfungsergebnis, Religion und Promotionsdatum hinzugesetzt. Die Eintragungen schließen mit der Nummer 159 (neue Zählung) am 17. September 1879. Getaufte Juden wurden ohne jeden Vorbehalt zur Advokatur zugelassen. Der Protonotar hat allerdings von 1826 an bei diesen dem Geburtsdatum auch dasjenige der Taufe hinzugefügt. Erst die Provisorische Verordnung vom 23. Februar 18498 brachte allen Juden die Möglichkeit des Erwerbs des Bürgerrechts und damit auch die Zulassung zur Advokatur. Beginnend mit dem März 1849 erscheinen mehrere Advokaten in der Matrikel, die bisher ihres Glaubens weg.en nicht zugelassen werden konnten. Von der Hand des die Matrikel in späteren Jahren führenden Senatssekretärs sind vielfach bei den 512 Namen Zusätze gemacht. Das geschah von Amts wegen, wenn ein Advokat durch Beschluß des zuständigen Gremiums wegen eines Verstoßes oder Vergehens suspendiert oder gelöscht wurde. Die meisten Zusätze geben die spätere Position des Betreffenden im öffentlichen Leben an - manchmal mit Daten -, so daß zu erkennen ist, ob dieser Advokat später Aktuar, Richter oder Gerichtspräses geworden ist. Bei manchen findet sich der Zusatz Senator, in wenigen Fällen Bürgermeister. Es finden sich auch Hinweise auf eine Stellung als Hypothekenbeamter u. ä. Bisweilen ist hinter die Namen das Wort "verstorben" oder ein Kreuz gesetzt. Aber dieser Todeshinweis erfolgt ganz unsystematisch. 3. Diese Advokatenmatrikel ist im Grunde das Rückgrat für eine Geschichte der Hamburger Advokatur. Aufgabe dieses Aufsatzes soll es sein, darüber Betrachtungen anzustellen, inwieweit in die Matrikel eingetragene Hamburger Advokaten Richter wurden und wie sich in Einzelfällen deren Laufbahn gestaltete. Dabei werden die rechtsgelehrten Richter des Niedergerichts, des Handelsgerichts und des Obergerichts behandelt sowie die des Oberappellationsgerichts in Lübeck. Nicht eingegangen wird auf die richterliche Tätigkeit der Prätoren, der Patrone, der Landherren und ähnlicher Institutionen, weil es keine ausschließlich hierfür bestellten rechtsgelehrten Richter auf Lebenszeit gab. 8

SlgVO Bd. 21 S. 27.

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Im Schrifttum werden die Hamburger Advokaten in dem grundlegenden Werk von Bertram "Hamburgs Zivilrechtspflege im neunzehnten Jahrhundert" (Hamburg 1929) eingehend und in N. A. Westphalen "Hamburgs Verfassung und Verwaltung" (2. Auf!. Harnburg 1846) behandelt. Dazu kommen die Abhandlungen von Albers, Brandis und Ewald9• In einer Reihe von Lebenserinnerungen und Biographien Hamburger Juristen finden sich Hinweise auf die Gestaltung und die Ausübung des Advokatenberufes10 • Eine Fülle von Material kommt hinzu, wenn die Angaben der Advokatenmatrikel ausgewertet werden. a) Die Matrikel ergibt, daß Licentiaten-Diplome, wie sie in Art. 17 OrganisationsVO erwähnt werden, nicht mehr vorgelegt wurden. Bis auf zwei waren nach 1816 bei der Zulassung alle Advokaten promoviert11. Die Hamburger Juristen setzten den Doktortitel hinter ihren Namen und wurden im Staatskalender wie alle promovierten Juristen mit J. U. D. (Juris Utriusque Doctor) ebenfalls hinter dem Namen aufgeführt. Von Bedeutung ist, daß durch die Bekanntmachung betr. Advokaturexamen vom 7. Dezember 187012 der Art. 17 OrganisationsVO abgeändert wurde. Jeder in Harnburg zukünftig zuzulassende Advokat mußte fortan eine vom Oberappellationsgericht der freien Hansestädte in Lübeck vorzunehmende Prüfung bestanden haben. Eine eingehende Schilderung über diese Prüfung, das sog. Lübecker Examen, bringt Ewald, der auch in einer kurzen Aufzählung einen knappen Überblick über den weiteren beruflichen Werdegang der glücklich Examinierten gibt. Die Hamburger Advokaten waren das Sammelbecken, aus dem die rechtsgelehrten Richter, die Aktuare der Gerichte und die Verwaltungsbeamten, soweit Promovierte für die Stellen erforderlich waren, ausgewählt wurden. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war die Studienzeit sehr kurz, sie betrug in der Regel nur drei Jahre. Es kam jedoch auch vor, daß die Promotion in kürzerer Zeit erreicht wurde. Dabei ist zu bedenken, daß es auf einigen Universitäten, so auf den damals bei den Hamburgern so beliebten Universitäten Göttingen und Heidelherg, nicht erforderlich war, eine schriftliche Dissertation vorzulegen. Die jungen Juristen kehrten manchmal schon im Alter von 22 Jahren als Doctores D Sämtlich in Hamb. Geschichts- u. Heimatbl. 1970 Bd. 8 S. 241 - 292. Ferner Seelig (Vater des Verfassers) HansRZ 1922, 623 und HansRGZ 1929, A 493. 1o Sehröder I u. II, v. Eckardt, Lehmann. u Ewald S. 291 Anm. 2. 12 GS 1870 S. 135.

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Juris nach Harnburg zurück, um dort sofort um ihre Zulassung als Advokat nachzusuchen. Der Verfasser hat feststellen können, daß ein Antragsteller schon mit 21 Jahren seine Zulassung erhielt. b) Das Mindestalter für einen Richter am Niedergericht betrug 27 Jahre, für den Präses 30 Jahre. Für Präses und Vicepräses des Handelsgerichts war ein Mindestalter von 30 Jahren vorgeschrieben. Durch Handelsgerichtsordnung und Organisationsverordnung waren nur 5 Berufsrichter-Stellen geschaffen worden, nämlich die Präsides des Niedergerichts und des Handelsgerichts, ein Vicepräses des Handelsgerichts und zwei Richter am Niedergericht. Die Auswahl der Berufsrichter - der sogen. permanenten rechtsgelehrten Richter - fand durch die Gerichte selbst statt. Nieder- bzw. Handelsgericht stellten für jede zu besetzende Stelle einen Wahlaufsatz von 4 Kandidaten auf. Von dem Wahlaufsatz des Niedergerichts strichen das Kollegium der Oberalten und die Kämmereiverordneten 2 Kandidaten; von den verbleibenden ernannte der Senat einen zum Richter. Das Handelsgericht schlug dem "Ehrbaren Kaufmann" 4 Kandidaten vor, aus welchem dieser 2 auswählte und dem Senat präsentierte, so daß dieser den neuen Richter ernennen konnte 13 • Durch das "Provisorische Gesetz betr. Veränderungen in der Organisation der Gerichtsordnung" vom 28. September 1860 (§ 9)1 4 wurde für die Wahl der rechtsgelehrten Mitglieder des Niedergerichts und des Handelsgerichts durch die Richter des betreffenden Gerichts ein Wahlaufsatz von 4 Personen vorgeschrieben, der an das Obergericht ging. Dieses bildete daraus einen Wahlaufsatz von 2 Personen, von denen der Senat einen zum Richter wählte. Sowohl bei dem Niedergericht wie bei dem Handelsgericht gab es Laienrichter, die bei dem Niedergericht aus der Bürgerschaft bei einem Mindestalter von 27 Jahren gewählt wurden. Die Laienbeisitzer des Handelsgerichts mußten in gutem Rufe stehende über 30 Jahre alte Kaufleute sein, die von der Commerzdeputation vorgeschlagen und vom "Ehrbaren Kaufmann" gewählt wurden. Auch hier erfolgte 1860 eine Änderung des Wahlmodus. Das in Harnburg beschrittene System der Wahl der Berufsrichter sicherte den Gerichten selbst einen maßgebenden Einfluß auf die Ernennung neuer Richter zu. Es konnten also nur diejenigen Advokaten auf den Wahlaufsatz gebracht werden, von deren Tüchtigkeit und Ge-

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Handelsgerichtsordnung Art. 3, Organisationsverordnung Art. 7. SlgVO Bd. 29 S. 139 ff.

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eignetheit zum Richter Niedergericht bzw. Handelsgericht sich überzeugt hatten. c) Neben den Berufsrichtern und den Laienrichtern am Niedergericht und Handelsgericht wurden noch weitere Rechtsgelehrte tätig. Artikel 12 OrganisationsVO setzte fest, daß der "actuarius" ein Rechtsgelehrter und 27 Jahre alt sein muß, der vom Senat gewählt wird. Dazu gab es Aktuariatssubstituten. Tatsächlich waren die Aktuare und die Aktuariatssubstituten mit wenigen Ausnahmen Doctores Juris. Dazu gehören auch die später in Erscheinung tretenden Hilfsaktuare. Durch das "Gesetz betr. einige Abänderungen der auf das Handelsgericht bezüglichen Gesetze" aus dem Jahre 1869 15 wurde das Handelsgericht befugt, weitere Aktuare aus der Zahl der immatrikulierten Advokaten als Hilfsarbeiter auszuwählen, die für eine gewisse Zeit angestellt, also kündbar waren. In § 7 Abs. 1 S. 3 heißt es: "Die Hülfsarbeiter haben nach der näheren Bestimmung des Gerichts-Präses die Aktuariatsgeschäfte mitzuübernehmen, und zwar sowohl in den Audienzen, als auch in den Vergleichscommissionen und bei den Zeugenvernehmungen, sowie auch auf dem Fallitaktuariat, dem Firmenbureau und der Schiffsregistratur. Die Hülfsarbeiter werden auf gewissenhafte Führung des Protocolls beeidigt. Sie dürfen während der Dauer der Anstellung nicht advocieren, auch keine sonstigen Geschäfte betreiben und haben ihre ganze Zeit dem Gericht zu widmen." Von besonderer Bedeutung für diese Hilfsarbeiter des Handelsgerichts ist § 8: "Wird nach stattgehabter Verhandlung einer Sache das Erkenntniß auf eine spätere Audienz ausgesetzt, so kann der Vorsitzende in den demselben geeignet erscheinenden Fällen den Aktuar, welcher das Protokoll in der Audienz geführt hat, oder auch, wenn das Protokoll von einem Hülfsarbeiter geführt worden ist, diesen letzteren mit der Vorlegung eines Erkenntnißentwurfs beauftragen und demselben verstatten, der Berathung des Gerichts, jedoch ohne Stimmrecht, beizuwohnen." Wie der Bericht des Bürgerschaftsausschusses zur Vorbereitung dieses Gesetzes ergibt, war dieser der Auffassung, daß die Schaffung solcher Hilfsarbeiter gleichmäßig dem Handelsgericht wie den "jüngeren hiesigen Juristen" zum Nutzen gereichen könnte. Die Bestimmung des § 8 ist mit Rücksicht darauf geschaffen worden, daß bereits mehrfach Aktuare des Gerichts zu Richtern gewählt worden waren. Ausdrücklich wird jetzt die Beschäftigung als Hilfsarbeiter als Vorbereitung auf die richterliche Tätigkeit angesehen. 15

GS 1869 S. 41 ff.

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Von der Ermächtigung dieses Gesetzes wurde sogleich Gebrauch gemacht. Diese rechtsgelehrten Aktuare (Hilfsarbeiter) können also in gewissem Umfange mit den Referendaren der Reichsjustizgesetze verglichen werden, wie es sie im alten Harnburg bis 1879 nie gegeben hat, nur mit dem Unterschiede, daß diese Hilfsarbeiter nach den damaligen Begriffen bereits durch Promotion und später durch das hinzukommende Lübecker Examen, eben durch ihre Zulassung zur Advokatur, die Befähigung zum Richteramt besaßen. Sie übten keine richterliche Tätigkeit, wie heutzutage ein Gerichtsassessor, aus. In der Aktuariatstätigkeit sollten ihr tatsächliches Wissen und Können und ihre praktischen und menschlichen Qualitäten erprobt werden. Tatsächlich ist aus diesen Hilfsarbeitern eine ganze Anzahl Hamburger Richter hervorgegangen.

li. 1. Die Advokaten, die ihre Tätigkeit in Harnburg aufnahmen, waren nach heutigen Begriffen sehr jung. Eine Durchsicht der Matrikel für die Jahre 1825- 1830 ergibt, daß von den 54 in dieser Zeit zugelassenen Advokaten bei der Eintragung in die Matrikel einer 21 Jahre, dreizehn 22 Jahre, dreiundzwanzig 23 Jahre und zehn 24 Jahre zählten. Der Rest war 2 bis 4 Jahre älter. Diese jungen Advokaten hatten auf der Universität so gut wie nichts über Hamburger Recht gelernt, dessen Zivilrecht noch im wesentlichen auf den Statuten des Jahres 1603 beruhte und das, wie C. A. Schröder16 in der Lebensbeschreibung seines Großvaters, Dr. Heinrich Kellinghusen, aufzählt, für Harnburg neben Niedergericht, Handelsgericht und Obergericht und dem Oberappellationsgericht in Lübeck noch 14 Gerichte für Bagatellprozesse-, Mietesachen, kleine Fallissements, gewerbliche Streitigkeiten und Sachen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit kannte. Der junge Advokat hatte also nach seiner Eintragung in die Matrikel viel über materielles und formelles Recht seiner Vaterstadt zu lernen. Er war vielfach nur auf die Gesetzestexte angewiesen. Fachzeitschriften waren in den ersten Jahrzehnten erst in geringem Umfange vorhanden. Es gab seit 1828 die sich stets erweiternde, von jungen Advokaten gegründete Bibliothek der "Juristischen Lesegesellschaft", daneben die, aber nicht besonders die Jurisprudenz pflegende, Stadtbibliothek und die Commerzbibliothek. Es blieb den jungen Advokaten also nichts anderes übrig, als fleißig in die Gerichtsaudienzen, insbesondere die des Handelsgerichts, zu gehen, des einzigen, vor dem die Advokaten ausführlich

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Sehröder I S. 11/12.

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mündlich - ohne Prokuratoren - verhandelten. Das war die beste Schule für den jungen Rechtsgelehrten. Viele der jungen Advokaten blieben nicht in ihrem Beruf tätig, der für sie in den ersten Jahren nach der Eintragung keine großen Einnahmen abwarf. Die Durchsicht der Matrikel und der Staatskaienderreihe ergibt, daß manche der Aktuare zur Polizeibehörde oder zur Wedde 16 a gingen. Wir finden sie als Hypothekenbeamte oder auf den Landherrenschaften, auf dem Amt Ritzebüttel oder dem beiderstädtischen Amt Bergedorf. Die Mehrzahl der Advokaten blieb jedoch in ihrem Beruf ohne öffentliches Amt. Einige wenige zogen von Harnburg fort, zum Teil, um in andere Dienste zu gehen. Aus den Advokaten hoben sich diejenigen hervor, die sich durch Wissen und Fleiß bald eine große Praxis erwarben. Daneben gab es eine ganze Anzahl, die in ihrem Beruf keine Bedeutung erlangten, sei es, daß sie in ihren guten Vermögensverhältnissen auf keine beruflichen Einnahmen angewiesen waren, sei es, daß es ihnen an beruflichen Fähigkeiten oder an den damals in Harnburg sehr wichtigen persönlichen oder familiären Beziehungen fehlte. So hat mancher junge Advokat sich nach anderer, mit seinem Berufe nur in losem Zusammenhang stehender Tätigkeit umgesehen und sein Leben damit verbracht. Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß unter den jungen Advokaten sich aber auch mancher befunden hat, der diesen Beruf von vornherein in der Absicht ergriffen hat, unmittelbar von der Advokatur aus durch politischen Ehrgeiz in den Rat (Senat) zu gelangen. Dabei kam ihm zugute, daß nach der alten bis 1860 geltenden Verfassung der Rat sich durch Selbstwahl ergänzte. Die Wahl geschah auf Lebenszeit. Er bestand bis 1860 aus 28 Mitgliedern, von denen 4 Bürgermeister waren, und setzte sich je zur Hälfte aus Kaufleuten und Juristen zusammen. Von den vier Bürgermeistern mußten drei Juristen sein. Der Rat wählte zu seiner Unterstützung vier Syndici und vier Sekretäre, die sämtlich Rechtsgelehrte waren. In den Händen dieser 22 Juristen lag praktisch die gesamte Hamburger Verwaltung, soweit es sich nicht um die niedere Ebene handelte. Zugleich stellte der Rat mit 11 Mitgliedern das Obergericht. Ein Jurist im Rat als Bürgermeister, Ratsherr, Syndicus oder Sekretär hatte also ein weites Feld für juristischP Betätigung. toa "Wedde" (identisch mit "Wette") hier im Sinne von Ratsbehörde, Stadtrat, Senat (vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1960 unter "Wette" Sp. 672 und 681); in Harnburg eine Polizeibehörde, die neben sonstiger umfangreicher Zuständigkeit die bei den Verheiratungen und der Annahme der Bürger vorausgehenden Untersuchungen oblagen (Plath S. 96; Westphalen Bd. 1 S. 374).

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Durch die Verfassung vom 28. September 1860 und die ihr folgende vom 13. Oktober 1879 wurde die Zahl der Senatoren auf 18 begrenzt, von denen 9 Rech~ oder Cameralwissenschaften studiert haben mußten. Daneben gab es Syndici und Sekretäre des Senats, deren Zahl schwankte, aber unter der früheren lag. Obwohl in der alten bis 1860 geltenden Verfassung die offizielle Bezeichnung, so auch stets im Staatskalender, Rat und Ratsherr lautete, findet sich in der Gesetzgebung, so bereits in der Organisationsverordnung und der Handelsgerichtsordnung, die Verwendung des Wortes Senat für Rat. Für einen jungen tüchtigen Advokaten, der obendrein zu einer Familie gehörte oder mit einer solchen durch Heirat verbunden war, deren Mitglieder im Rat gesessen hatten oder noch saßen, bestand die Aussicht, selbst in dieses oligarchisch-aristokratische Gremium aufgenommen zu werden. Allzunahe Verwandtschaft war allerdings ein Hindernis dafür. Ein eigentliches Patriziat im reichsstädtischen Sinne gab es in Harnburg nicht. Als nach Abzug der französischen Besatzung die Gerichte rekonstruiert wurden und ihre Tätigkeit aufnahmen, waren für das Jahr 1816 erst 39 Advokaten im Staatskalender aufgeführt worden. Ihre Zahl stieg allmählich. Der Staatskalender führt für: 1830

Advokaten: 106

1840 1850 1860 1868

127 147 149 159 (die Höchstzahl I)

1870 1879

138 129

auf. Zum Verständnis dieser Zahlen muß hinzugefügt werden, daß diejenigen Advokaten, die in den Rat (Senat) getreten waren oder ein Amt übernommen hatten (Richter, Aktuar usw.), in der Matrikel zwar stehen blieben, im Staatskalender aber nicht mehr in der Rubrik "hiesige Advokaten" erschienen. Die Matrikel ergibt, daß von den insgesamt 512 nicht weniger als 72 Richter geworden sind. Dabei sind auch diejenigen Advokaten mitgezählt, die an das Obergericht und an das Lübecker Oberappellationsgericht und nach 1879 an die neugegründeten Gerichte als Richter berufen sind.

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Um ein vollständiges Bild zu geben, seien auch die annähernden Zahlen genannt, die sich aus den Staatskalendern für die Jahre 1816 bis 1879 für die Aktuare, Aktuariatssubstituten, Hilfsaktuare, Polizeiaktuare, die z. T. eine staatsanwaltliehe Tätigkeit ausübten, Staatsanwaltsgehilfen, Amtsschreiber, Hypothekenbeamten, Aufsichtsbeamten für die Standesämter, alle soweit sie graduiert waren, ergeben. Das sind etwa 70 Doctores Juris, von denen aber manche nur für kurze Zeit ihr Amt versahen. In dieser Zahl sind auch diejenigen Aktuare enthalten, die später Richter wurden. Schließlich kommen zu den aus den Advokaten ernannten Gerichtspersonen noch die Sekretäre des Obergerichts, die Polizeisekretäre und die Staatsanwälte und Polizeianwälte hinzu. Hier ist zu bedenken, daß diese Doctores Juris sich teilweise mit den Richtern und Aktuaren decken. Diese Gruppe kann mit mindestens 10 Advokaten angesetzt werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß mehr als ein Viertel der Advokaten im staatlichen Dienst gestanden hat, wenn auch ein kleiner Teil nur für begrenzte Zeit. 2. Die bereits wiedergegebenen Bestimmungen über die Wahl der Richter des Niedergerichts und des Handelsgerichts stellten sicher, daß nur solche Advokaten zu Richtern ernannt wurden, die für den Beruf wirklich geeignet waren und ihren Platz voll und ganz ausfüllen konnten. Darauf ist es zurückzuführen, daß die Rechtsprechung der Hamburger Gerichte, vorzüglich die des Handelsgerichts, einen guten Ruf genoß. Dem Verfasser war es möglich, bei 48 Advokaten, die Richter am Niedergericht oder Handelsgericht wurden, das Lebensalter zur Zeit ihrer Ernennung festzustellen. Von diesen waren nur 4 jünger als 30 Jahre, 25 standen im Alter zwischen 30 und 35 Jahren, 10 zwischen 36 und 40 Jahren. Nur 9 Richter waren bei ihrer Ernennung älter, davon 2 über 50 Jahre. Danach konnte in Harnburg niemand einen Richtersessel einnehmen, der nicht über die nötige forensische Erfahrung verfügte. Der schlagendste Beweis dafür, daß nur solche Advokaten Richter wurden, die über ein weitgefächertes Können und eine gefestigte Persönlichkeit verfügten, aber auch gleichzeitig sich für die Verwaltung eines Stadtstaates wie Harnburg eigneten, zeigt, daß aus den rechtsgelehrten Richtern eine große Zahl in den Senat überwechselte, der erfahrene und bewährte Juristen benötigte. 3. Bisher ist auf die Instanzgerichte, also auf das Obergericht und das Oberappellationsgericht nicht eingegangen.

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Bis zur Trennung von Justiz und Verwaltung im Jahre 1859 wurde das Obergericht aus dem Rat, und zwar einem rechtsgelehrten Bürgermeister, fünf rechtsgelehrten und fünf kaufmännischen Ratsherren gebildet. Eine Änderung trat erst durch Rats- und Bürger-Schluß vom 11. August 1859 ein17 : Für eine Übergangszeit bestand nun das Obergericht aus dem Bürgermeister Dr. M. H. Hudtwalcker, 4 juristischen Ratsherren, einem Sekretär des Rates, 4 kaufmännischen Ratsherren und 2 Obergerichtsräten. Diese beiden Obergerichtsräte waren die ersten Mitglieder dieses Gerichts, die nicht zugleich zum Rat gehörten. Durch Gesetz vom 28. September 186018 wurde das Obergericht vollständig umgebildet. Es setzte sich aus einem rechtsgelehrten Präsidenten, sechs lebenslänglich gewählten Räten und sechs auf Zeit gewählten nichtjuristischen Mitgliedem zusammen. Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands 19 , das nach 1866 und dem Ausscheiden Frankfurts "Oberappellationsgericht der freien Hansestädte" 19 genannt wurde, war nach langjährigen Verhandlungen im Jahre 1820 eingesetzt worden. Es war bis zum 30. September 1879 das gemeinsame höchste Gericht der Hansestädte. Der Präsident wurde von den vier (drei) Städten gewählt. Für die 6 Richter bestand ein im einzelnen geregeltes Ernennungsrecht der Städte. III. 1. Bei der Neuordnung des Gerichtswesens Ende 1815/Anfang 1816 waren die 5 Berufsrichterstellen am Niedergericht und am Handelsgericht zu besetzen. Es wurden Juristen gewählt, die sämtlich schon eine längere forensische Erfahrung besaßen. Sie hatten sich vor der Einverleibung Hamburgs in das französische Kaiserreich teils als Richter, teils als Advokaten betätigt. a) Zum Präses des Niedergerichts wurde Dr. Joachim Nicolaus Schaffshausen und zum Richter Dr. Johann Traugott Schön und Dr. Johann Carl Gries gewählt.

Schaffshausen 20 , ursprünglich Advokat, war bereits 1798 und 1799 Mitglied und Präses des Niedergerichts gewesen. 1821 wurde er in den Rat gewählt. SlgVO Bd. 28 S. 80/81. SlgVO Bd. 29 S. 139 ff. 19 Eingehende Schilderung bei Hagedorn und Grisebach. 2o Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 6 S. 472. 17

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Schön2 \ schon 1771 Advokat, wurde am 15. 12. 1815 zum ersten lebenslänglichen Hamburger Richter gewählt und blieb bis 1825 im Amt. Gries 22 war ebenfalls Advokat gewesen. Er folgte Schaffshausen als Präses, starb jedoch, erst 46 Jahre alt, am 27. Mai 1824. Der erste immatrikulierte Advokat, der Richter am Niedergericht wurde, war Dr. Carl August Schlüter 23 , (Matr. Nr. 33 v. 26. 2. 1816), der 1821 gewählt wurde und 1824 für den verstorbenen Gries Präses wurde. Er schied 1835 aus, nachdem er in den Rat gewählt worden war. Für den verstorbenen Gries wurde 1824 Dr. Wilhelm Amsinck (Matr. Nr. 61 v. 23. 8. 1819) Richter, bis er 1827 als Syndicus in den Rat eintrat. Für den 1825 in den Ruhestand getretenen Schön wurde ein Advokat zum Richter gewählt, der lange Jahre im Niedergericht blieb: Dr. Georg Heinrich Berkhan (Matr. Nr. 81 v. 16. 11. 1821). 1835 wurde er anstelle von Schlüter Präses und hatte dieses Amt bis zum Jahre 1861 inne. Durch die Wahl Amsincks zum Syndicus wurde eine neue Richterwahl erforderlich, die auf Dr. Joh. Eduard Blumenthal (Matr. Nr. 82 v. 2. 10.1821) fiel. Wie schon mehrere Richter des Niedergerichts vor ihm wurde auch er, und zwar im Jahre 1842, in den Rat gewählt. Nach dem Ausscheiden Schlüters im Jahre 1835 fiel die Wahl auf einen Advokaten, der zu den hervorragenden Juristen Hamburgs gehört und ohne den die Umwandlung des alten, nach der Verfassung von 1712 lebenden Hamburgs in einen den Reformbestrebungen der Mitte des 19. Jahrhunderts entsprechenden Staat undenkbar wäre: Dr. Hermann Baumeister (Matr. Nr.129 v. 25. 9.1828 24 ), der 1848 Präsident der Konstituante wurde, dem Gremium, dem die schwierige Aufgabe des Entwurfs einer neuen Verfassung zufiel. Er entwickelte daneben eine lebhafte schriftstellerische Tätigkeit. 1856 kam sein bekanntestes Werk heraus: "Das Privatrecht der freien und Hansestadt Hamburg", ohne das die Tätigkeit eines Hamburger Juristen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts undenkbar war. Ein umfangreicher Lebenslauf Baumeisters findet sich bei Heyden. Hier sei noch hervorgehoben, daß Baumeister Mitglied der Bürgerschaft, die zuerst 1859 gewählt wurde, war und seit 1863 bis zu seinem 21 22 23

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Ebenda Ebenda Ebenda Heyden

Bd. 6 S. 634. Bd. 2 S. 594. Bd. 6 S. 571. S. 8 (mit Bild).

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Tode 1877 - mit einer dreijährigen Unterbrechung 1864 -1867 - Präsident der Bürgerschaft war. Von Bedeutung für die jetzigen Ausführungen ist, daß Baumeister 1859 einer der beiden Obergerichtsräte war, die in das damals noch aus Senatsmitgliedern zusammengesetzte Obergericht gewählt wurden. 1876, ein Jahr vor seinem Tode, wurde er noch Präsident des Obergerichts. Erst im Jahre 1842, als Blumenthai ausgeschieden war, wurde wieder eine Neuwahl erforderlich, aus der Dr. Ernst GossZer (Matr. Nr.166 v. 9. 7.1832) 25 als Richter hervorging. Nach Berkhans Ausscheiden wurde er 1861 Präses und blieb in dieser Position bis zur Auflösung des Niedergerichts im Jahre 1879. Die Zahl der Niedergerichtsrichter ist im Laufe der Jahrzehnte ständig gestiegen. Im letzten Jahre seines Bestehens gab es am Niedergericht außer dem Präses 19 Richter. Die Bevölkerungszahl Hamburgs hatte von Jahr zu Jahr zugenommen und damit auch die Zahl der Gerichtssachen. Unter den Richtern des Niedergerichts, die in der Harnburgischen Justiz zu besonderem Ansehen gelangten, waren Dr. Christian Arning (Matr. Nr. 254 v. 30. 4. 1847) 26 , 1882 Landgerichtspräsident; Dr. Georg Friedrich Kunhardt (Matr. Nr. 257 v. 24. 9. 1847) 27 , 1866 Präsident der Bürgerschaft, 1869 Senator; Dr. Rudolph Martin (Matr. Nr. 315 v. 6. 4. 1857) 28 , zuletzt Senatspräsident am Oberlandesgericht. b) Zum Präses des Handelsgerichts wurde Dr. Eduard Rentzel29 am 5. Januar 1816 gewählt. Er war ein erfahrener Jurist, der schon 1796 in Göttingen promoviert hatte. Er hatte sich einige Zeit beim Reichskammergericht in Wetzlar aufgehalten. Nach Harnburg zurückgekehrt, unterhielt er bald eine bedeutende Praxis und wurde 1807 Sekretär des Kollegiums der Oberalten. Er waltete nicht lange seines Amtes als Präses, da er schon am 23. Mai 1821 in den Rat gewählt wurde. Zum Vizepräsidenten des Handelsgerichts wurde Dr. Carl Anton Schönhütte 30 gewählt, der im Jahr 1808 Richter am Niedergericht geHeyden S. 45. Horwitz HansRGZ 1929, A 487 ff. 21 Heyden S. 65 (mit Bild). 2s HansRGZ 1929, A 383 ff. 29 Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 6 S. 245. ao H. Dankert, Zeitungsausschnitt, Staatsarchiv Harnburg A 769. 25

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worden und dort bis zur Einverleibung Harnburg in das französische Kaiserreich tätig gewesen war. Nach Rentzels Ausscheiden wurde er Präses. Er gehörte zu den wenigen Hamburger Juristen, die über eine eigene große juristische Bibliothek verfügten. Sie wird im Hamburger Adreßbuch sogar als solche besonders erwähnt. Er starb im Jahre 1831. Vicepräses des Handelsgerichts wurde anstelle von Schönhütte 1821 Dr. Johann Christian Kauftmann (Matr. Nr. 43 v. 21. 1. 1816). Er blieb in seiner Stellung 10 Jahre. Als er am 12.1.1831 Syndicus wurde, war eine Neubesetzung erforderlich. So wechselten im Jahre 1831 beide Richter des Handelsgerichts. Die neuen waren Dr. Christian Adolph Hermann Halle (Matr. Nr. 70 v. 3. 5. 1820) als Präses und Dr. Eduard Heiniehen (Matr. Nr. 92 v. 3. 10. 1823) als Vicepräses, der nach Halles Abgang im Dezember 1848 dessen Nachfolger wurde. Nachfolger von Heiniehen als Vicepräses wurde Dr. Heinrich August Reise (Matr. Nr. 50 v. 24. 1. 1817)31 • Er stand damals schon im Alter von 56 Jahren und war über 30 Jahre Advokat gewesen. Sein Bruder war der erste Präsident des Lübecker Oberappellationsgerichts Dr. Georg Arnold Reise. Die Vermehrung der Richterstellen am Handelsgericht erfolgte sehr langsam. Einen dritten Richter am Handelsgericht gab es 1861, die vierte Stelle wurde 1867 besetzt, die fünfte im Jahre 1869. Vor der Überleitung in die Gerichtsverfassung des Reichs waren schließlich am Handelsgericht ein Präses und 7 Richter. Unter den Richtern, die ins Handelsgericht gewählt wurden, waren es nicht weniger als vier, die später in den Senat gewählt wurden: Dr. Johann Georg Versmann (Adv. Matr. Nr. 242 v. 25.10.1844)32 Vicepräses 1851, Präses 1859, Senator 1861, Bürgermeister 1887; Dr. Hermann Anthony Cornelius Weber (Adv. Matr. Nr. 261 v. 25.10. 1847) 33 Vicepräses 1859, 17. 12. 1860 Senator, Bürgermeister 1876; Dr. Johann Christian Eugen Lehmann (Adv. Matr. Nr. 285 v. 5. 7. 1850)34 1850 Richter am Handelsgericht, 1861 Vicepräses, Senator 1879, Bürgermeister 1894, 1877- 1879 Obergerichtsrat; Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 3 S. 164. Heyden S. 143 (mit Bild) Wohlwill, Die hamb. Bürgermeister, insbes. 26 ff., S. 58 ff., S. 83 ff.; Wohlwill, Zeitschr. Verein Hamb. Geschichte 1910, 166 ff.; Kolm S. 55 ff. as Heyden S. 152. 34 Rud. Lehmann (mit Bild), der in der Lebensdarstellung seines Vaters auf S. 77 ein vorzügliches, knapp zusammengefaßtes Bild des Harnburgischen Gerichtswesens (einschl. der Advokatur) für die Mitte des 19. Jahrhunderts bringt. Dazu auch Seelig in Hamburger Nachrichten, Morgenausgabe v. 1. 3 1917. Heyden S. 71. 31 32

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Dr. Friedrich Alfred Lappenberg (Adv. Matr. Nr. 329 v. 20. 8. 1858)35 1879 Landrichter, Landgerichtsdirektor und Oberlandesgerichtsrat; 1888 Senator. Unter den Präsides des Handelsgerichts ist noch besonders Dr. Siegiried Albrecht zu erwähnen (Adv. Matr. Nr. 223 v. 14. 10. 1842)36, der nach Versmanns Ausscheiden Ende 1861 Präses des Handelsgerichts und am 1. Oktober 1879 der erste Landgerichtspräsident wurde. Albrecht war fast 2 Jahrzehnte als Advokat tätig gewesen, ehe er in das Richteramt berufen wurde. Er hatte der Konstituante von 1848 angehört und war 20 Jahre lang Mitglied der Bürgerschaft. Er war maßgebend an der Abfassung der Hamburger Ausführungsbestimmungen zu den Reichsjustizgesetzen beteiligt. Für einen Juristen, der mit den Hamburger Verhältnissen des 19. Jahrhunderts nicht vertraut ist, wird die namentliche Aufzählung so vieler Richter und ein kurzer Hinweis auf ihre Laufbahn allzu nüchtern und trocken wirken. Der Verfasser nimmt das bewußt in Kauf, weil nur so nachgewiesen werden kann, welche große Anzahl von Hamburger Advokaten sich in ihrer späteren Stellung als Richter am Niedergericht und am Handelsgericht bewährt haben, und wie es geradezu auffallend ist, daß in so großer Anzahl Richter beider Gerichte in den Rat (Senat) eintraten und maßgebenden Einfluß auf Verwaltung und Politik ausgeübt haben. Das ist gleichzeitig ein Beweis dafür, daß durch das geübte Wahlsystem aus der Fülle der Advokaten die Tüchtigsten herausgesucht wurden. 2. Es ist noch auf die Richter der Instanzgerichte einzugehen. a) Zusammen mit dem aus dem Kreise der Hamburger Juristen weit herausragenden Baumeister wurde Dr. Johann Carl Knauth (Matr. Nr. 84 v. 21. 6. 1822)37 zum Obergerichtsrat gewählt. Er war Begründer der heute noch bestehenden Anwaltssocietät Dres. Deuchler, Krauel, Commichau und wurde ebenso wie Baumeister zu den besten Juristen gerechnet. Neben seiner umfangreichen Praxis widmete er sich in starkem Maße der Politik. An den Verfassungskämpfen nahm er lebhaften Anteil. Er gehörte der Bürgerschaft von 1859 bis 1874 an. Knauth blieb bis zu seinem Tode am 8. Dezember 1876 Mitglied des Obergerichts. Eine Pensionierung bei Erreichen einer Altersgrenze gab es damals nicht. Schon 1847 hatte Knauth sich zur beruflichen Arbeit mit Dr. Friedrich Voigt (Matr. Nr. 123 v. 31. 3. 182838) verbunden, der ein großer 35 36 37

Staatsarchiv Hamburg, Archiv Familie Lappenberg; Loose S. 129 ff. Heyden S. 2 ff.; Albrecht HansRGZ 1929, A 490. Treue (mit Bild) S. 52/55.

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Kenner des Seerechts und des Seeversicherungsrechts war. Er war Mitbegründer des "Neuen Archivs für Handelsrecht". Es war immer schon Voigts Wunsch gewesen, Richter zu werden. Er hat daher mit innerer Befriedigung den an ihn ergangenen Ruf, Rat am Oberappellationsgericht in Lübeck zu werden, angenommen. Er wurde dort am 15. Dezember 1853 - nach 25jähriger Advokatentätigkeit! - eingeführt. Im Jahre 1870 trat er in das Reichsoberhandelsgericht über. Um bei Dr. Johann Carl Knauth zu bleiben, sei hier hinzugefügt, daß dieser nach dem Fortgang Voigts nach Lübeck einen neuen Sozius in Gestalt des Advokaten Dr. Ernst Friedrich Sieveking (Matr. Nr. 327 v. 25. 6. 1858) 311 fand, den späteren Senator und den ersten Oberlandesgerichtspräsidenten, von dem noch die Rede sein wird. In das Obergericht, das durch das bereits erwähnte Provisorische Gesetz betr. Veränderungen in der Organisation der Justiz vom 28. September 1860 neu geregelt und damit vollständig vom Senat getrennt wurde, trat mit dem 1. Januar 1861 als Präsident der aus dem Senat ausgeschiedene Bürgermeister Dr. Heinrich Kellinghusen (Matr. Nr. 62 v. 4. 10. 1819) 40 • Schon während seiner Senatszeit hatte er bereits viele Jahre im Obergericht sich betätigt. Er blieb bis zum Jahre 1877 in diesem Amte. Es war hier also der Fall eingetreten, daß ein Hamburger Advokat, der in jungen Jahren Senator (1831) geworden war, nach fast 30jähriger Tätigkeit im Senat noch Präsident des damals höchsten hamburgischen Gerichts wurde und dieses Amt noch anderthalb Jahrzehnte versah. Mit dem Bürgermeister Kellinghusen trat der Senatssekretär Dr. Erich Wilhelm Edmund Schwartze (Matr. Nr. 171 v. 26. 4.1833) 41 vom Senat ans Obergericht über und wurde 1877 Baumeisters Nachfolger als Präsident dieses Gerichts. Als Advokat war Schwartze lange Jahre tätig gewesen, nämlich von 1833 -1847. Von den Mitgliedern des Obergerichts, die aus der Advokatur hervorgegangen sind, sind noch zu nennen: Dr. Gabriel Riesser (Matr. Nr. 336 v. 16. 5. 1859) 42 Treue (mit Bild) S. 55/58. Treue (mit Bild); HansRGZ 1929, A 457 ff. mit Aufsätzen von Suse, Leo, Elmslie, Horwitz; außerdem P. Vogt in Rothenberger (Hrsg.), Das Hanseatische Oberlandesgericht, Gedenkschrift 1939, S. 115 ff. 40 Sehröder I (mit Bild). 41 Nachruf Hamburger Fremdenblatt No. 306 v. 31. 12. 1910. 42 Gabriel Riesser war ein Vorkämpfer für die Gleichstellung der Juden. Er wurde der erste israelitische Richter in Hamburg. Aus dem umfangreichen Schrifttum: Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 6 S. 290 ff. und Heyden S. 107 (beide mit zahlreichen weiteren Angaben). Ferner Lüth, Schoeps, Krohn S.l6 ff. 38 39

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Dr. Edmund de Chapeaurouge (Matr. Nr. 236 v. 4. 2. 1844) 43' Dr. Hermann Rudolph Loehr (Matr. Nr.173 v. 5. 7.1833) Dr. Hermann Henrich Carl SchindeZer (Matr. Nr. 294 v. 5. 9. 1853) 44 Dr. Johann Christian Eugen Lehmann (Matr. Nr. 285 v. 5. 7. 1850) 45 Dr. Gustav Ferdinand Hertz (Matr. Nr. 278 v. 20. 8. 1849) 46 , der 1887 Senator wurde. b) Von den in das Oberappellationsgericht berufenen Advokaten ist bereits Dr. Johann Friedrich Voigt genannt. Dazu kommen: Dr. Georg Friedrich Ludwig Oppenheimer (Matr. Nr. 120 v. 3. 12. 1827) 47 , wurde im Alter von 36 Jahren berufen und schied bereits nach 11 Jahren aus. Dr. Friedrich Blume (Matr. Nr. 74 v. 3. 11. 1828) 48 , nach kurzer Advokaten-Tätigkeit in Harnburg Professor, erst in Halle, dann in Göttingen; 1833 auf Hamburgs Vorschlag nach Lübeck berufen; zehn Jahre später Annahme einer Bonner Professur. Dr. Christian David Rudolph Schlesinger (Matr. Nr. 296 v. 4. 11. 1853) 49 , nach kurzer Advokatenzeit an die Göttinger Universität berufen; 1870 nach Lübeck; 1879 Reichsgerichtsrat. Eines der bekanntesten Mitglieder des Oberappellationsgerichts war Dr. Friedrich Cropp50 • Er war ursprünglich Advokat in Hamburg. Als 1816 die Matrikel aufgestellt wurde, ließ er sich nicht eintragen. Er wurde 1817 Professor in Heidelberg und ging 1820 nach Lübeck. Er fällt daher aus dem Rahmen dieses Aufsatzes. 3. Die Richter des Niedergerichts und des Handelsgerichts traten mit dem 1. Oktober 1879 fast vollzählig in die neu gebildeten Gerichte -Oberlandesgericht, Landgericht und Amtsgericht- über. Im wesentlichen schieden nur die älteren Richter aus. Unter den übernommenen Richtern erschienen sehr viele Namen, die in der alten AdvokatenHeyden S. 27. Philippi HansRGZ 1929, A 479 ff. 45 s. Anm. 34. 46 Heyden S. 46. 47 Hagedorn S. 55, Grisebach S. 11. 48 Hagedorn, S. 55, Grisebach S. 10, Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 1 S. 274 m. w. N. 49 Hagedorn S. 57, Grisebach S. 18. so Hagedorn S. 34, Grisebach S. 9, Lexicon hamb. Schriftsteller Bd. 1 S. 602 ff. Mit Arnold Heise (Präsident des Oberappellationsgerichts in Lübeck), Verfasser der "Juristischen Abhandlungen mit Entscheidungen des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands", Harnburg 1827. 43 44

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Matrikel stehen. Darunter befanden sich auch manche, deren Namen wir später in den Richterlisten des Hanseatischen Oberlandesgerichts" 1 finden. Dazu gehören der spätere Chefpräsident Dr. Otto Moritz WHhelm Brandis (Matr. Nr. 155 v. 25. 7. 1879)52 , Präsident 1912 -1917, und die Senatspräsidenten Schindeler53 , Martin 54 und Thomsen (Matr. Nr. 80 v. 24. 4. 1871)55. Die Senate der drei Hansestädte hatten sich bei der Errichtung des Hanseatischen Oberlandesgerichts auf Dr. Ernst Friedrich Sieveking5 6 , der seit 1877 gegen seinen Wunsch zum Senator gewählt worden war und den geliebten Advokatenberuf nur ungern aufgegeben hatte, als Präsidenten geeinigt. Damit war der Mann in dieses hohe Amt berufen worden, der von den Hamburger Juristen der geeignetste dafür war. Er hat sich einen internationalen Namen erworben und dem Hanseatischen Oberlandesgericht und dessen Rechtsprechung einen weit über Deutschlands Grenzen hinausgehendes Ansehen verschafft. Als am 1. Oktober 1879 Sieveking als Präsident des Oberlandesgerichts vor der Vereidigung der ehemaligen Advokaten und nunmehrigen Rechtsanwälte das Wort an diese richtete, betonte er, daß er selbst mit Freude dem hamburgischen Anwaltsstand fast zwei Jahrzehnte angehört habe. Er sprach den Wunsch aus, daß dieser Stand, wie bisher durch wissenschaftlichen Geist und hohes Rechtsgefühl ausgezeichnet, den Gerichten bei der Handhabung des neuen Verfahrens nach besten Kräften hilfreich zur Seite stehen möge. Es heißt in dem Bericht: "Der Redner (Sieveking) sprach noch die Hoffnung aus, daß das schöne freundschaftliche Verhältnis zwischen Gerichten und Anwälten, wie es bisher bei uns bestanden, auch ferner andauern möge 57 ." 4. Seitdem sind hundert Jahre vergangen. Aus dem damals sehr engen Stadtstaat ist eine weitläufige Großstadt mit Gerichten geworden, die so groß sind, daß kaum die Richter sich untereinander kennen. Die Zahl der Rechtsanwälte hat 2600 überschritten. Der persönliche Zusammenhalt, wie er um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestand, ist verlorengegangen.

Der Zweck dieser Arbeit war es, darzustellen, wie eng das Band zwischen Richterschaft und Advokatenstand in damaligen Verhältnissen 51 Vgl. die Übereinkunft der drei freien Hansestädte v. 30. 6.1878 bekanntgemacht in GS S. 105 ff. 52 Blumenbach HansRGZ 1929, A 467 ff. 63 Philippi HansRGZ 1929, A 479 ff. 64 Leo HansRGZ 1929, A 483 ff. 65 Vogt HansRGZ 1929, A 485 ff. 56 s. Anm. 38. 57 Hamburger Nachrichten v. 2. 10. 1879.

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war, und wie in vielen Fällen tüchtige Advokaten als Richter zu hohem Ansehen in ihrer Vaterstadt gelangt sind. In Harnburg ist der Brauch, daß angesehene, um Harnburg und die Hamburger Justiz hochverdiente Rechtsanwälte in das Richteramt berufen werden, niemals abgerissen. Es ist seinerzeit freudig begrüßt worden, daß der Rechtsanwalt Dr. Arnold Wilhelm KiesseZbach mit dem 1. Juli 1928 Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts wurde. Er hat dieses Amt bis zum 15. Juli 1933 ausgeübt. Nach dem Kriege hat Kiesseibach noch einmal diesen Platz ausgefüllt (29. 5. 1945- 30. 9. 1946), ehe er am 1. Oktober 1946 das Zentraljustizamt für die Britische Besatzungszone übernahm. Dr. Herbert Ruscheweyh, der nach dem Kriege der erste Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer war, wurde mit dem 1. Januar 1946 zum Vicepräsidenten des Oberlandesgerichts berufen. Mit dem 1. Oktober 1946 wurde er Kiesseibachs Nachfolger und bekleidete damit bis zum Jahre 1960 das höchste Richteramt, das Harnburg zu vergeben hat. Die Hamburger Rechtsanwälte müssen dankbar sein dafür, daß solche Männer wie Kiesseibach und Ruscheweyh in Zeiten, in denen es galt, ein geordnetes Rechtswesen wiederherzustellen, in die Bresche gesprungen sind und die ihnen gestellten Aufgaben mit sichtbarem Erfolg durchgeführt haben.

Quellen- und Literaturverzeichnis A. Quellen "Matrikel der bei den Harnburgischen Gerichten admittierten Herren Advocaten, angefangen von Christian Daniel Anderson, Dr. Protonotarius 1816." Staatsarchiv Harnburg Senat Bl. VII Lit.Ma No. 10 Vol. 3 Fase. 4 Inv. 34. Zeitungsausschnittsammlung des Staatsarchiv Hamburg. B. Gesetzessammlungen Sammlung der Verordnungen der freyen Hanse-Stadt Harnburg seit 1814, Jahrgänge 1814- 1826 bearbeitet von Ch. D. Anderson, Jahrgänge 1827- 1865 bearbeitet von J. M. Lappenburg. Gesetzsammlung der Freien und Hansestadt Harnburg seit 1865. C. Literatur

Albers, Jan: Die "Strafbücher" des Oberappellationsgerichts in Lübeck, Hamb. Geschichts- u. Heimatbl. 1970, Bd. 8, S. 241 ff. Albrecht, Ernst: Präses Albrecht, HansRGZ 1929, A 489 ff.

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Bertram, Alfred: Hamburgs Zivilrechtspflege im neunzehnten Jahrhundert,

Harnburg 1929.

Blumenbach, Joh. Fried. Ferd.: Otto Brandis in HansRGZ 1929, A 467 ff. Brandis, Wolf: Isaac Wolffson - Ein Hamburger Jurist, Hamb. Geschichts-

u. Heimatbl. 1970, Bd. 8, S. 256 ff.

Eckardt, Julius v.: Lebenserinnerungen, 2 Bände, Leipzig 1910. Elmslie, K. W.: Friedrich Sieveking, HansRGZ 1929, A 461/2. Ewald, Martin: Juristenprüfung vor 100 Jahren. Hamb. Geschichts- u. Hei-

matbl. 1970, Bd. 8, S. 282 ff. Festschrift für Wilhelm Kieselbach zu seinem 80. Geburtstag, hrsg. von seinen Mitarbeitern im Zentral-Justizamt für die Britische Zone, Harnburg 1947. Gedächtnisschrift für Herbert Ruscheweyh, hrsg. von der Landesjustizverwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg, 1966. Grisebach, Johannes: Zur Erinnerung an das Oberappellationsgericht in Lübeck, HansRZ 1920, 609. Hagedorn, Anton: Gedenkblatt zur Erinnerung an die Einsetzung des Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands in Lübeck am 13. 11. 1820, Harnburg 1920. Hess, J. L. v.: Harnburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, 3 Bände, 2. Aufl. 1810/1811. Heyden, Wilhelm: Die Mitglieder der hamburgischen Bürgerschaft 1859 -1882, Harnburg 1909 (mit eingehendem Lebenslauf der Mitglieder). Horwitz, Oscar: Friedrich Sieveking, HansRGZ 1929, A 462 ff. Jacoby, D. H.: Geschichte des Hamburger Niedergerichts, Harnburg 1866. Kolm, Gertrud: Die Bürgermeister, Harnburg 1931. Krohn, Helga: Die Juden in Hamburg, Harnburg 1974. Lehmann, Rudolf: Bürgermeister Dr. Johs. Chr. Eugen Lehmann, Leipzig 1916. Leo, Martin: Ein hundertjähriges Anwaltsjubiläum, HansRZ 1922, 693 ff. Rudolf Martin, HansRGZ 1929, A 483 ff. Lexikon der hamburgischen Schriftsteller: 8 Bände Harnburg 1851- 1883 (mit eingehendem Lebenslauf für jeden Erwähnten). Loose, Hans-Dieter: Kindheitserinnerungen des Senators Friedrich Alfred Lappenberg, Hamb. Geschichts- u. Heimatbl. 1970, Bd. 8, S. 129 ff. Lüth, Erich: Gabriel Riesser 1806 -1863, Harnburg 1963. Melle v., Werner: Gustav Heinrich Kirchenpauer, Ein Lebens- und Zeitbild, Harnburg 1888. Mittelstein, Kurt: Von der Harnburgischen Advokatur, 29. Deutscher Anwaltstag 1957, S. 16 ff., Harnburg 1957. Philippi, Friedrich: Hermann Schindeler, HansRGZ 1929, A 479 ff. Plath, I. C.: Ansichten der Freien Hansestadt Hamburg, 2. Band, Frankfurt 1828. Rothenberger, Curt (Hrsg.): Das Hanseatische Oberlandesgericht, Gedenkschrift zu seinem 60jährigen Bestehen, Harnburg 1939 (mit Listen der Mitglieder des Hanseatischen Oberlandesgerichts und des ehemaligen Harnburgischen Obergerichts sowie Liste der Harnburgischen Justizsenatoren).

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Schoeps, Hans-Joachim: Gabriel Riesser und der Weg des deutschen Judentums, Harnburg 1963. Schröder, Carl-August: Heinrich Kellinghusen J. U. D., Hamburgs letzter Bürgermeister nach alter Ordnung, Harnburg 1896 (zitiert Sehröder I). Schröder, Carl-August: Aus Hamburgs Blütezeit, 2. Aufl. Harnburg 1929 (zitiert Sehröder II). Seelig, Geert (Vater des Verfassers): "Bürgermeister Dr. Johs. Chr. Eugen Lehmann" in Hamburger Nachrichten 1. 3. 1917 (Morgenausgabe). - Von der Harnburgischen Advokatur, HansRZ 1922, 623 ff. - Die Reichsjustizgesetze und die Hanseatischen Anwälte, HansRGZ 1929, A 493 ff. Sutor, August: Die Errichtung des Handelsgerichts in Hamburg, Harnburg 1866. Suse, Theodor: Friedrich Sieveking, HansRGZ 1929, A 457 ff. Treue, Wilhelm: Zur Geschichte einer Harnburgischen Anwaltssozietät 1822 bis 1972, Tradition 1972, S. 51. Vogt, N. C. P.: Theodor Thomsen, HansRGZ 1929, A 485 ff. Vogt, N. C. P.: Ludwig Arning, HansRGZ 1929, 487 ff. Vogt, Paul: Ernst Friedrich Sieveking, der erste Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts in: Rothenberger (Hrsg.), Das hanseatische Oberlandesgericht, Gedenkschrift zu seinem 60jährigen Bestehen, 1939, S. 115 ff. Westphalen, N. A.: Hamburgs Verfassung und Verwaltung, 2 Bände, 1846. Wohlwill, Adolf: Die hamburgischen Bürgermeister Kirchenpauer - Petersen- Versmann, Harnburg 1903. Wohlwill, Adolf: Johannes Versmann, Zeitschrift des Vereins für Hamb. Geschichte 1910, S. 166 ff.

Die hansestädtische Juristenausbildung im 19. Jahrhundert Von Gerhard Commichau

Mit den folgenreichsten Ereignissen des 19. Jahrhunderts, den napoleonischen Kriegen, der bürgerlichen Revolution von 1848 und schließlich der kleindeutschen Reichsgründung von 1871 brach auch für die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck die Zeit des Abschieds von den vielfältigen Formen des eigenstaatlichen Lebens unter den alten reichsstädtischen Verfassungen an. Mit der zumindest allmählich einsetzenden Trennung der Gewalten wurden zugleich weitreichende Reformen der rechtsprechenden Gewalt eingeleitet. Damit verbanden sich auch für die Juristenausbildung, von der in der Folge die Rede sein soll, grundlegende Veränderungen, die von einer Neugestaltung der hansestädtischen Ausbildungsformen des 18. Jahrhunderts bis zu den Reichsjustizgesetzen vom 1. Oktober 1879 reichten und dem Eigenleben der hansestädtischen Justiz ein Ende bereiteten. Denn von jener Zeit an galten auch in den Hansestädten die reichseinheitlichen Ausbildungsvorschriften, die hier neben vielen anderen Neuerungen erstmalig zur Schaffung eines Referendariats, also einer zweiten Ausbildungsstufe, führten. I.

Bevor Inhalt, Dauer und Besonderheiten der hansestädtischen Juristenausbildung dargestellt werden sollen, wäre zuerst einmal zu fragen, welche juristischen Berufe seinerzeit in den Hansestädten überhaupt ausgeübt werden konnten. Im wesentlichen sind vier Gruppen zu unterscheiden: Zunächst die Advokaten, Procuratoren und Notare, sodann die Richter, ferner die Verwaltungsjuristen und schließlich die in der Wirtschaft tätigen Juristen. 1. Wenn in dieser Aufzählung die Advokaten an erster Stelle erwähnt werden, so findet dies seine Rechtfertigung darin, daß in den Hansestädten aufgrund der hier gegebenen besonderen Ausbildungsverhältnisse jeder Jurist seine berufliche Tätigkeit und Laufbahn als

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Advokat begann. Dabei sind von den rechtsgelehrten, vom Rat zugelassenen Advokaten die Procuratoren zu unterscheiden1 • a) Der Advokat durfte in Harnburg lediglich vor dem Handelsgericht auftreten2, einer Gerichtsbarkeit, die in den drei Hansestädten schon während der französischen Besatzungszeit nach französischem Vorbild errichtet worden war-3 und in Harnburg nach kurzer Unterbrechung im Jahre 1816 -in Bremen und Lübeck erst sehr viel später 4 -wieder geschaffen wurde. Das Handelsgericht in Harnburg erwarb sich schon bald nach seiner Gründung großes Ansehen und erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Das war zunächst gar nicht selbstverständlich gewesen, da insbesondere die nach der Verfahrensordnung vorgesehene mündliche und öffentliche Verhandlung unter den Hamburger Advokaten heftig umstritten war. In einer Supplik vom 2./3. September 1814 hatten sich seinerzeit namhafte Advokaten, darunter Dr. Harder, Dr. Gries, Dr. Mönckeberg, Dr. Binder, Dr. Beneke, Dr. Hasche, zwar nicht grundsätzlich gegen die Einrichtung des Handelsgerichts, wohl aber gegen die Übernahme des sogenannten französischen Prozesses inklusive des "Plaidirens" gewandt. In dieser Denkschrift, in der in erster Linie Einwendungen gegen die vorgesehene Verfahrensordnung erhoben wurden, heißt es: "Das Plaidiren sagt uns Deutschen nicht zu. Er ist unserer Sprache und Natur zuwider. Auch ist der Deutsche ernst und mehr in sich gekehrt, und es ist zugleich ein Fehler und eine Tugend an diesem Volke, daß die Gabe der Redekunst selten bei ihm ist. Darum vertraue Harnburg auch ferner die Verteidigung des Rechts dem reiferen Nachdenken im stillen Studirzimmer an und nehme gründliches Wissen in deutlicher Schrift für mangelhaftes Redegefecht. Bekanntlich sieht man auch in ganz Deutschland die Sache so an, und mehrere der berühmtesten Schriftsteller haben sich längst gegen das Plaidiren erklärt. Friedrich II., dem diese Proceßart für seine Länder 1 Alfred Bertram, Hamburgs Zivilrechtspflege im neunzehnten Jahrhundert (1929), S. 95 ff. 2 Für Bremen und Lübeck galt dies nach Errichtung der dortigen Handelsgerichte entsprechend. 3 In Harnburg 1811/1813, vgl. August Sutor, Die Errichtung des Handelsgerichts in Harnburg (1866) S. 23; in Bremen 1812, vgl. Jan Hiemsch, Die bremische Gerichtsverfassung von der ersten Gerichtsordnung 1751 bis zur Reichsjustizgesetzgebung 1879, Bd. 32 der Veröffentlichung aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen (1964), S. 57; in Lübeck ebenfalls 1812, vgl. Martin Funk, Die lübischen Gerichte, ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Freien und Hansestadt Lübeck, in ZRG Germ.Abt Bd. 26 (1905), S. 53 ff. und Bd. 27 (1906), S. 61 ff. 4 In Bremen 1845, Hiemsch a.a.O. S. 99 ff., in Lübeck erst 1864, Funk a.a.O. Bd. 27 S. 83 + 85.

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vorgeschlagen wurde, schrieb unter das Project: Ich will keine Theatercoups in der Justiz5!" Im übrigen konnte der Advokat die streitenden Parteien zwar auch während des Laufs eines Prozesses vor den anderen Gerichten, also insbesondere vor den hansestädtischen Niedergerichten und den jeweiligen Obergerichten sowie vor dem gemeinsamen Oberappellationsgericht in Lübeck beraten und für sie Schriftsätze vorbereiten. Die sogenannte Ausführung der Rechte der Parteien, d. h. der unmittelbare Verkehr mit den Gerichten und ein eventuelles Auftreten vor diesen Gerichten, oblag jedoch allein den Procuratoren, die ihrerseits die Advokaten vor Gericht sistieren konnten: Ille scribendo hic exhibendo et proponendo, lautete der althergebrachte Grundsatz 6• b) Der Procurator - mutatis mutandis dem englischen barrister oder dem französischen avocat alten Stils vergleichbar - war ein rechtsgelehrter JurisF, der vom Rat ernannt wurde. Die Procuratoren waren zahlenmäßig beschränkt: während beispielsweise in Harnburg nur acht Procuratoren tätig waren, belief sich ihre Zahl in Lübeck allerdings auch mit Rücksicht auf das dort ansässige Oberappellationsgericht- auf durchschnittlich fünfzehn bis zwanzig Procuratoren8 • Der Grundsatz der UnvereinbarKeit von Procuratur und Advocatur war allerdings hinsichtlich der beim Obergericht in Harnburg zugelassenen Procuratoren insofern durchbrachen, als diese gleichzeitig Advokaten sein konnten und in der Regel auch waren. c) Im übrigen unterschied man gerichtliche und außergerichtliche Procuratoren. Die außergerichtlichen Procuratoren, in Harnburg die Extrajudicial-Procuratoren genannt, waren vor den Dielengerichten9 der praetorischen Richter zugelassen. Diese sogenannten Dielenanwälte mußten sich vor ihrer Zulassung lediglich einer Prüfung auf ihre Kenntnis der hamburgischen Statuten durch beauftragte Commissarien des Rats unterziehen; ein juristisches Studium war dagegen nicht Voraussetzung für ihre Zulassung10 • Da die Extrajudicial-Procuratoren das s Vgl. Wilhelm Treue, Zur Geschichte einer Harnburgischen Anwaltssozietät 1822- 1972, Tradition 1972 S. 51 und Sutor a.a.O. S. 52 ff. (57, 58). e Vgl. Fritz Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871 -1971, Essen 1971, S. 5. 7 Für Harnburg galt dies erst ab 1815, vgl. Bertram, Zivilrechtspflege, S. 96. s Vgl. für Harnburg Bertram, Zivilrechtspflege, S. 97; für Lübeck nach den Angaben in den "Lübeckischen Addreß-Büchern" u. a. von 1805, 1836 und 1852 ermittelt. g Die Verhandlungen des Dielengerichts fanden auf der Diele des Hauses des jeweils zum Prätor bestellten Ratsherrn statt, daher die Bezeichnungen "Dielengericht" und "Dielenanwalt". 1o Vgl. den Rats- und Bürgerschluß vom 30. 8. 1804: Bertram, Zivilrechtspflege, S. 99.

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ausschließliche Recht des Auftretens und Verhandeins vor den Dielengerichten besaßen, mußte sich ein Advokat, der zur Prozeßberatung hinzugezogen wurde, vom jeweiligen Dielenanwalt vor dem Dielengericht sistieren lassen. Wie sich denken läßt, war dies eine Konstruktion, die keineswegs die Zustimmung der rechtsgelehrten Advokaten fand 11 • d) Die Notare schließlich hatten in der Regel Rechtswissenschaft studiert. Die Prüfung der Hamburger Notare fand ursprünglich zumeist an der Universität Helmstedt statt 12• 13• Die Zahl der Notare war gemäß § 3 der Notariatsordnung vom 18. 12. 1815 auf vierundzwanzig beschränkt. Später - ab 1848 regelmäßig - kamen als Bewerber nur noch "Akademiker", d. h. also graduierte Bewerber, in Betracht14 • 2. Die zweite große Gruppe der Juristen bildeten die Richter. Dabei sei zunächst noch einmal angemerkt, daß die hansestädtische Justiz zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ebenso wie in den meisten deutschen Staaten, noch nicht von der Verwaltung getrennt war. Die Zahl der Richterstellen war - verglichen mit heute - natürlich sehr gering. Andererseits gab es in den Hansestädten eine Vielfalt der verschiedenartigsten ordentlichen und außerordentlichen Gerichte 15 • - Der Gerichtsaufbau in den Hansestädten Hamburg, Lübeck und Bremen war in den Grundzügen gleichartig. 3. Wenn man auch im 19. Jahrhundert den Begriff des Verwaltungsjuristen noch nicht im heutigen Sinne kannte, so gab es doch in zunehmendem Maße auch insoweit zahlreiche Betätigungsmöglichkeiten für den Juristen. In erster Linie seien die Bürgermeister und Ratsherren erwähnt. Denn in den reichsstädtischen Verfassungen der Hansestädte war zwinu Vgl. Bertram, Zivilrechtspfl.ege, S. 99. Vgl. Hermann Schultze-v. Lasaulx, Geschichte des Harnburgischen Notariats, Harnburg 1961, S. 45 ff. (46). 13 Vgl. Schultze-v. Lasaulx a.a.O. S. 81 f. Ein akademisches Studium war auch ab 1815 im Gegensatz zu einer wenigstens einjährigen praktischen Tätigkeit nicht erforderlich, jedoch fand die Prüfung nunmehr vor der Notariatskammer statt, die Zulassung erfolgte durch das Obergericht. 14 Vgl. Schultze-v. Lasaulx a.a.O. S. 107 - 109. 15 Wegen der Einzelheiten darf hier nochmals auf die einschlägigen Veröffentlichungen verwiesen werden, und zwar für Hamburg: Alfred Bertram: Hamburgs Zivilrechtspflege im 19. Jahrhundert (1929). für Bremen: Jan Hiemsch: Die bremische Gerichtsverfassung von der ersten Gerichtsordnung bis zur Reichsjustizgesetzgebung 1751 bis 1879, in: Bd. 32 der Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen (1964). für Lübeck: Martin Funk: Die lübischen Gerichte in Savigny-Zeitschrift Germ.Abt. I Bd. 26 (1905) S. 53 ff. und Bd. 27 (1906) S. 61 ff. 12

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gend vorgeschrieben, daß jeweils ein bestimmter Anteil der Ratsherren rechtsgelehrt sein mußte. Entsprechendes galt für die Ratssyndici und die Ratssekretäre, die im Rat Sitz und beratende Stimme hatten16 • Auch die Ratssekretäre waren rechtsgelehrte Juristen, obgleich ihr bescheidener Titel dies nicht vermuten ließ 17• Als weitere Tätigkeit kam das Amt des Stadtarchivars oder des Sekretärs in einem der bürgerlichen Kollegien, wie beispielsweise im Oberaltenkollegium Hamburgs 18 , oder die Leitung einer der zahlreichen "Milden Stiftungen" in Betracht. 4. Schließlich konnte sich ein Jurist im 19. Jahrhundert schon wenn auch in engen Grenzen - in der Wirtschaft betätigen. Zwar kannte man den Begriff des Wirtschaftsjuristen oder des Syndikusanwalts noch nicht, auch hatten selbst größere Firmen noch keine Rechtsabteilung. Dennoch gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Fälle, in denen Anwälte leitende Positionen in der Wirtschaft einnahmen. Beispielsweise war der spätere hamburgische Bürgermeister Dr. Gerhard Hachmann- bevor er später wieder als Anwalt tätig war- Direktor der Hanseatischen Baugesellschaft in Hamburg. Sein späterer Sozius Dr. Embden war zuvor Syndikus der Handelskammer in Harnburg gewesenu.

Nach alledem läßt sich feststellen, daß schon im 19. Jahrhundert ein breiter Fächer juristischer Berufe existierte, dem die heutigen Betätigungsmöglichkeiten im wesentlichen entsprechen. II.

Wenn wir uns nun den damaligen Ausbildungsformen zuwenden, so sind im wesentlichen drei Abschnitte zu unterscheiden: die Zeit bis zum Ende der napoleonischen Besetzung, an die sich die Übergangsepoche bis zur Periode des Verfassungsstaats nach 1848 anschließt, und die folgenden Jahrzehnte bis zur Reichsgründung und damit zum Erlaß der Reichsjustizgesetze von 1877/9. te Letztere waren "membra de senatu", erstere "membra in senatu".

Vgl. z. B. Adolf Buehl, Aus der alten Ratsstube - Erinnerungen 1905 bis 1918, Vorträge und Aufsätze, hrsg. vom Verein für Hamb. Gesch. Heft 19, Harnburg 1973. 1s Für Harnburg sei hier an den Oberaltensekretär Dr. Ferdinand Beneke erinnert. Vgl. seine Tagebuchaufzeichnungen "Hamburg um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert", Hamb. Geschichts- und Heimatbl. 1974 Bd. 9 S. 181 ff. 1g Vgl. Carl August Schröder, Aus Hamburgs Blütezeit, Lebenserinnerungen (1921), S. 58. 17

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1. Bis zum Ende der auch für die hansestädtische Rechtsgeschichte so bedeutsamen Jahre der französischen Herrschaft- man denke nur an die erstmalige, für Deutschland vorbildlich werdenden Einrichtung der hansestädtischen Handelsgerichte und an die Einführung des NurNotariats- gab es in den Hansestädten keine besonderen Vorschriften für die Juristenausbildung. Es galt der Grundsatz: "Jedermann, der Lust hat, kann advocieren20." Dies setzte lediglich eine Zulassung durch den Rat21 voraus, die aber an keine sachlichen Voraussetzungen gebunden war und bei der lediglich eine "vorgängige Untersuchung in Beziehung auf seine Zulässigkeit zu diesem Geschäft" stattfand.- Klefeker schreibt hierzu 22 : "Der Geist der Freiheit, zumalen bei den unglücklichen einheimischen Irrungen, hat hiernach hauptsächlich daran gehindert, daß man es nicht ebenso bei den Rechtsgelehrten überhaupt gemacht hat, als bei den Procuratoren besonders geschehen, und daß hingegen Fremde und Einheimische, Unverpflichtete und Verpflichtete, Unbekannte und Bekannte, RechtsUnerfahrene und -Erfahrene, Unbequeme und Bequeme sich mit der Advokatur haben befassen können." Wenngleich dies nur für die Advokatur galt - denn Procuratoren und Notare mußten sich, wie bereits dargelegt, einer Prüfung unterziehen-, so wurde dieser Zustand doch allgemein als reformbedürftig empfunden. Schon im 18. Jahrhundert diskutierte man daher die Schaffung eines gesonderten Advokatenstandes und damit eine Regelung der Juristenausbildung in den Grundzügen. Man gelangte jedoch damals noch zu keinerlei konkreten Ergebnissen23 • 2. Erst mit der französischen Besetzung lebten die Pläne einer Justizund Juristenausbildungsreform wieder auf24 • 2o Vgl. Bertram, Zivilrechtspflege, S. 100; Ernst Peter Johann Spangenberg, Über die Notwendigkeit einer Justizreform im Allgemeinen und besonders über die Notwendigkeit einer neuen Organisation der Harnburgischen Gerichte und die Art und Weise, wie diese Organisation einzurichten wäre, Harnburg 1813, S. 41; N. A. Westphalen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung, 2 Bände, 2. Aufl. 1846. 21 Vgl. z. B. für Lübeck: Gemeiner Bescheid vom 21. 2. 1810 die zum Betriebe der Advocatur hieselbst vorgangig zu impetrirende Obrigkeitliche Zulassung betreffend: "In Übereinstimmung mit der bestehenden Einrichtung wegen der Notarien, verordnet Ein Hochweiser Rath, daß zum Advociren hieselbst Niemand ferner zugelassen werden soll, welcher nicht auf sein deshalb ad Curiam zu richtendes Gesuch, nach vorgängiger Untersuchung in Beziehung auf seine Zulässigkeit zu diesem Geschäft, mittels Decrets die Erlaubnis dazu erlangt." Sammlung der Lübeckischen Verordnungen und Bekanntmachungen- Archiv der Hansestadt Lübeck. 22 Johann Klefeker, Sammlung der Harnburgischen Gesetze und Verfassungen, 12 Bände mit Register (Bd. 13), Harnburg 1765- 1774, Teil III, S. 538. 23 Geert Seelig, Von der Harnburgischen Advokatur, HansRZ 1922, 623 (624). 24 Bertram, Zivilrechtspflege, S. 101.

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Diese Reform wurde in Harnburg erst nach dem Abzug der französischen Truppen Wirklichkeit, als in der "Verordnung wegen veränderter Organisation der Justizbehörden und Gerichte" vom 29. Dezember 1815 25 erstmalig auch Vorschriften zur Juristenausbildung erlassen wurden. Genauer gesagt handelte es sich dabei allerdings nur um die Voraussetzungen zur Zulassung zur Advokatur. Da aber seinerzeit in praxi jede Juristenlaufbahn mit der Tätigkeit als Advokat begann, bedeutete dies de facto die Regelung der Juristenausbildung. Voraussetzung für die Zulassung als Advokat, die durch das Obergericht ausgesprochen wurde, war danach die Vollendung des 22. Lebensjahres, der Besitz des hamburgischen Bürgerrechts 26 und der Nachweis der beruflichen Befähigung, der entweder durch die Promotion an einer deutschen Universität 27 oder durch die Prüfung vor dem hamburgischen Obergericht geführt wurde. Mit der Ablegung des Bürgereids mußte auch der Nachweis erbracht werden, daß der Antragsteller "in den Waffen geübt und mit eigener Uniform und Armatur versehen sei" 28 • Ein besonderer Ausbildungsgang, insbesondere ein Referendariat, war nicht vorgeschrieben. Die juristische Ausbildung beschränkte sich auf ein rein universitäres Studium, das mit einem Staatsexamen, in der Regel aber mit einer Promotion abschloß. Die hansestädtischen Studenten der Rechtswissenschaft bevorzugten die Universitäten Heidelberg und Göttingen, später auch Leipzig. Über sein Studium in Göttingen berichtet der spätere Lübecker Oberappellationsgerichtsrat Dr. Carl Wilhelm Pauli in einem Brief vom 23. Oktober 1814 u. a.: "Ich habe heute drei Pandectencollegien bei Heise gehört und darf mir davon viel versprechen für mein juristisches Wissen." 25 Sammlung der Verordnungen der freyen Hanse-Stadt Harnburg Bd. 2 (bearbeitet von Ch. D. Anderson), S. 270 Art.16 und 17. 28 Bis zum Erlaß des Emanzipationsgesetzes vom 23. 2. 1849 waren die jüdischen Einwohner Hamburgs, die das Bürgerrecht nicht erwerben konnten, deshalb von der Zulassung zur Advokatur ausgeschlossen. So z. B. Gabriel Riesser und Isaac Wolffson; vgl. Bertram a.a.O. S. 104. Zu Riesser vgl. Schoeps und Biermann-Rathjen, Gabriel Riesser und der Weg des deutschen Judentums, in Vorträge und Aufsätze, hrsg. vom Verein für Hamb.Gesch. Heft 13, Harnburg 1964. Zu Wolffson vgl. Brandis, Isaac Wolffson- Ein Hamburger Jurist. Hamb.Geschichts- u. Heimatbl. 1970 Bd. 8 Heft 11-12. 27 In Bremen suchte man mit dem Antrag auf Zulassung zum Examen vor dem Oberappellationsgericht zugleich um die Genehmigung zur Führung des "Doctor-Titels" in seiner Vaterstadt nach, vgl. z. B. die Prüfungsakte Dr. WHhelm Focke, Bremen - Antrag vom 19. Mai 1828 - und Senatsbeschluß vom 21. Mai 1828 - Staatsarchiv Bremen. 28 Vgl. Werner v. Meile, Gustav Heinrich Kirchenpauer. Ein Leben und Zeitbild, Harnburg 1888, S. 26 f.

5 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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Gerhard Commichau "Mein ganzes Leben ist ein Gemisch von 3/4 Pandecten und 1/4 Process. Um 6 Uhr stehe ich auf und arbeite bis 9 Uhr, wo mein erstes Pandectencollegium beginnt; die Zwischenstunde von 10.00 Uhr bis 11.00 Uhr fülle ich theils mit Zeitungsleetüre (der Hamburger Correspondent und Rheinische Merkur) theils mit Violinspielen aus, um 11 empfängt mich das zweite und nach dem ich gegessen und spaziert um 2 Uhr das dritte, und sowie ich mich von diesem schmerzlich getrennt habe, streckt auch schon Professor Meister seine Arme nach mir aus, um im Processe sich meiner zu bemeistern, und somit haben um 4 Uhr meine Collegien ihr Ende2D."

Das Doktorexamen nach einem sechs- bis Siebensemestrigen Studium bestand aus dem eigentlichen Examen und einer Disputation. Über die dabei vorgeschriebenen Formalitäten und den Verlauf eines derartigen Examens sind wir durch einen humorvollen Brief unterrichtet, den der jüngere Bruder des damaligen Göttinger Professors Dr. Georg Arnold Reise, des späteren ersten Präsidenten des Oberappellationsgerichts in Lübeck, an den ihm befreundeten Wilhelm Amsinck, den späteren Hamburger Senatssyndicus, richtete 30 • Nach bestandenem Doktorexamen pflegten die Kandidaten eine größere oder kleinere Reise zu unternehmen, die sie entweder nur durch Deutschland oder aber durch Westeuropa führte, oder sich zumindest einige Zeit im Ausland, z. B. in England aufzuhalten:u. Während in Harnburg die anschließende Zulassung zur Advokatur durch den Senat eine bloße Formalität darstellte und eine Prüfung vor dem Oberappellationsgericht nur dann in Betracht kam, wenn der Kandidat nicht die Promotion nachweisen konnte, hatten Bremen schon seit 182132 , Lübeck seit 1826 33 als Voraussetzung für die Aufnahme der Tätigkeit als Advokat eine obligatorische Prüfung vor dem Oberappellationsgericht in Lübeck vorgeschrieben 34 • Das war möglich, weil sowohl in der vorläufigen als auch in der endgültigen Verfahrensordnung für das Oberappellationsgericht in Lübeck vorgesehen war, daß dem Gericht die Prüfung derjenigen Kandidaten übertragen werden konnte, die in einer der vier Städte zur Advokatur zugelassen werden wollten. 211 Nach S. Poel, Carl Wilhelm Pauli (1792- 1879), Ein Lebensbild, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertbumskunde 1881 Bd. 4 Heft 2 S. 26 f. (27). so Vollständig abgedruckt bei Friedrich Beneke, Syndicus Wilhelm Amsinck J. U. Dr. und die Amsinck-Höfe in Stellingen, Altanaisehe Geschichtszeitschrift VII. Band (1934), S. 93 ff. st Vgl. Werner v. Meile, Jugenderinnerungen, Harnburg o. J. (1928), S. 145 ff. und Beneke a.a.O. S. 98. s2 Vgl. für Bremen die "Obrigkeitliche Verordnung des Bremer Raths" vom 30. Mai 1821 betr. die "Anordnungen wegen des Examens derer, welche die Praxis am Obergericht hieselbst nachsuchen". aa Für Frankfurt galt dies ab 1856 bis zu seiner Einverleibung in Preußen. 34 Johannes Grisebach, Zur Erinnerung an das Oberappellationsgericht in Lübeck, HansRZ 1920, 609 (611).

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Anfangs hatte man auch in Harnburg daran gedacht, dem bremischen und lübischen Beispiel zu folgen. Nachdem aber das Oberappellationsgericht wegen der dadurch entstehenden Mehrarbeit und der angeblich drohenden Überlastung abwinkte, beließ man es bei dem bisherigen Verfahren, wonach das bestandene Doktorexamen oder eine Prüfung vor dem Obergericht ausreichte, um die Zulassung zur Advokatur zu erhalten. In der Zeit zwischen 1822 und 1867 fand in Harnburg nur in zwei Fällen eine Prüfung vor dem Obergericht statt3 5• Hatte der Kandidat sämtliche Formalitäten erfüllt, so konnte anschließend seine Immatrikulation in die Liste der Advokaten, sei es in Hamburg, in Bremen oder in Lübeck, erfolgen. Nach der Trennung von Verwaltung und Justiz mußte das Gesuch vom Jahre 1860 ab in Harnburg an den Senat gerichtet werden. Das Obergericht nahm von da an nur noch gutachtlich Stellung und hielt eventuell die Prüfung ab. Die danach für die Juristenausbildung in den Hansestädten herrschenden Verhältnisse blieben für Bremen und Lübeck bis zum Erlaß der Reichsjustizgesetze im Jahre 1879 unverändert. 3. In Harnburg war die Diskussion über die Schaffung eines formellen Staatsexamens nie ganz zur Ruhe gekommen 36 • Schon im Jahre 1842 war die Einrichtung eines "nach strengen Grundsätzen vorzunehmenden Staatsexamens" gefordert worden. Die Diskussion belebte sich erneut, als Frankfurt im Jahre 1856 die obligatorische Prüfung vor dem Oberappellationsgericht in Lübeck einführte. Endgültig notwendig wurde eine Entscheidung in dieser Frage dann mit der Trennung von Verwaltung und Justiz. Schon die Entwürfe für ein hamburgisches Gerichtsverfassungsgesetz im Jahre 1864 hatten die Prüfung vor dem Lübecker Oberappellationsgericht vorgeschrieben. Später bestimmte die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes zwar, daß die Advokatur kein Gewerbe sei und das Gewerberecht insoweit keine Anwendung finde, daß jedoch der Befähigungsnachweis für den Beruf eines Advokaten durch besondere Bestimmungen geregelt werden sollte. Es kam hinzu, daß die im Norddeutschen Bund geltende Freizügigkeit die Regelung der Examensfrage dringend notwendig machte, denn Harnburg war damals das einzige Mitglied im Norddeutschen Bund, wie überhaupt der einzige deutsche 35 Vgl. hierzu und zum folgenden: Martin Ewald, Juristenprüfung vor 100 Jahren, Hamb.Geschichts- u. Heimatbl. 1970 Bd. 8 Heft 11 - 12 S. 283. Nach der Trennung von Justiz und Verwaltung war die Zulassung der Advokaten dem Senat als Justizverwaltungsangelegenheit übertragen worden, der ein Gutachten des Obergerichts einholen mußte, Bertram, Zivilrechtspflege, S. 105. 36 Vgl. hierzu und zum folgenden Ewald a.a.O. S. 284/285 .

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Staat, in dem die Zulassung zur Advokatur und damit der Beginn einer juristischen Karriere ohne formelles Staatsexamen möglich war. Dies führte dazu, daß zahlreiche auswärtige Kandidaten sich in Harnburg um die Zulassung als Advokat bewarben. Als der Senat schließlich im Jahre 1867 nach der gutachtlichen Anhörung und zustimmenden Äußerung sowohl des hamburgischen Obergerichts als auch des Oberappellationsgerichts einen entsprechenden Antrag in der Bürgerschaft einbrachte, löste dieser heftige Diskussionen aus. Erst nach mehrjährigen Verhandlungen und langwierigen Erörterungen, die auch außerhalb der Bürgerschaft in der Presse fortgeführt wurden, stimmte schließlich im November 1870 eine Mehrheit für den Senatsantrag und setzt damit auch für Harnburg die obligatorische Prüfung der Rechtskandidaten vor dem Lübecker Oberappellationsgericht durch. Fragt man nach den Gründen, weshalb diese Reform in Harnburg so umstritten war, so lassen sich im wesentlichen folgende Argumente pro und contra feststellen. Für die Einführung des Examens wurde geltend gemacht, daß eine Niveauangleichung wegen der unterschiedlichen Anforderungen, die an den deutschen Universitäten an das Doktorexamen gestellt würden, erforderlich sei. Ferner solle man dem Beispiel der Schwesternstädte Bremen und Lübeck folgen. Eine Kontrolle erscheine zum Schutz des Publikums erforderlich. Schließlich solle man verhindern, daß nicht ausreichend vorgebildete Fremde in Harnburg die Zulassung erreichten. In diesem Zusammenhang wurde auch diskutiert, ob nicht eine zusätzliche praktische Vorbereitungszeit - etwa ein Referendariat - als Zulassungsvoraussetzung angebracht sei. An Argumenten gegen ein Staatsexamen wurden im wesentlichen folgende angeführt: Zum einen meinte man, daß die Advokatur, die gerade von den Vorschriften der Gewerbeordnung freigestellt worden war, durch die Einführung eines Examens praktisch doch wieder als Gewerbe behandelt würde. Ein Staatsexamen käme der Forderung nach einem Meisterstück gleich. Man solle deshalb den Zunftzopf nicht an den Doktorhut hängen! Darüber hinaus sei ein Examen immer von Zufällen bestimmt und mit dem Einpauken werde nur Zeit verloren. Ein Examen gehe in aller Regel an den Erfordernissen der Praxis vorbei. Selbst wenn man aber ein Examen für erforderlich halte, so sei zu erwarten, daß ein Universitätsexamen besser und zweckmäßiger sei, als eine Prüfung vor dem Oberappellationsgericht. Einige vertraten auch die Auffassung, daß studierte Advokaten die Prozesse nur noch weiter verlängerten. Es gebe zahlreiche tüchtige

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Anwälte, die kein Examen abgelegt hätten. Daraus folge, daß ein Jurist erst an den Erfordernissen der Praxis wachsen und sich bewähren würde. Ein Examen sei eine rein theoretische Angelegenheit, die keinerlei Gewähr für eine spätere erfolgreiche Tätigkeit gebe. Im Zusammenhang mit den kritischen Anmerkungen spielte auch eine Rolle, daß der Fortbestand des Oberappellationsgerichts Ende der 60er Jahre nach Errichtung des Norddeutschen Bundes zweifelhaft war und damals schon die Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts diskutiert wurde. Die Verhandlungen und Debatten zogen sich so über Jahre hin. Wie erwähnt, stimmte die Bürgerschaft erst am 23. November 1870 dem Senatsantrag von 1867 zu, so daß der Senat schließlich am 7. Dezember 1870 die Bekanntmachung betreffend das Advokaturexamen erlassen konnte. Wie Ewald37 mit Recht betont, hat zu dieser Beschlußfassung sicherlich auch der tiefgründige und abgewogene Diskussionsbeitrag von Isaac Wolffson beigetragen. Wolffson bemerkte seinerzeit, daß der Advokat "nämlich nicht nur auf den Vorteil seines Klienten bedacht, sondem auch Ratgeber der Partei und Gehilfe des Richters, als Vermittler zwischen den Thatsachen und der rechtlichen Beurtheilung, ein Mithelfer zur Verwirklichung des Rechts" sein müsse38 • Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, genüge es nicht, ein Universitätsexamen, insbesondere den Erwerb des Doktors nachzuweisen, weil zwischen den deutschen Universitäten zu große Unterschiede bestünden. Einzig brauchbares Mittel einer objektiven Prüfung sei hier das neutrale und für alle gleiche Examen vor dem Oberappellationsgericht. Nur so könnten "unbrauchbare Elemente" ausgeschieden werden. 4. Von 1871 an mußten sich dann auch die Hamburger Advokaturkandidaten vor dem Oberappellationsgericht prüfen lassen. Wie Melle 39 schreibt, war es aber auch nach dieser Zeit noch üblich, zunächst an einer deutschen Universität zum Dr. jur. zu promovieren und erst anschließend das Examen vor dem Oberappellationsgericht in Lübeck abzulegen. Das wird durch die Hamburger Prüfungsakten vollauf bestätigt.

Um die Zulassung zum Examen, das in Harnburg bis 1879 ausdrücklich als "Advokaturexamen" bezeichnet wurde 40, bewarb sich der Kan37 a.a.O., S. 286. ss Isaac Wolffson in Hamburger Nachrichten vom 10. 11. 1870, Sitzungsbericht zu Nr. 5 der Tagesordnung. sv v. Melle, Jugenderinnerungen, S. 141, 142.

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didat unter Vorlage der Studiennachweise zunächst beim Senat, der ihn sodann an das Oberappellationsgericht verwies. Dem dort einzureichenden Gesuch waren die Studiennachweise, das Doktordiplom und eine juristische Abhandlung über ein selbst gewähltes Thema beizufügen. Diese Arbeit mußten die Lübecker Kandidaten bis 1866, die Bremer bis 1876 in lateinischer Sprache vorlegen; dabei wurde die "Latinität" ebenfalls bewertet41 • Über den Verlauf der Prüfung sind wir durch die anschauliche Schilderung von Behn4 z und die Berichte von Brehmer43 und Schröder44 unterrichtet. Danach mußten sich die Kandidaten am Montag den drei examinierenden Räten vorstellen. Am Dienstag und Mittwoch wurden die Klausuren geschrieben. Die Kandidaten arbeiteten im Gerichtsgebäude und durften die Bibliothek benutzen. Ihnen stand der gesamte Tag von morgens 9 Uhr bis abends 9 Uhr zur Verfügung, unterbrochen durch eine angemessene Pause für das Frühstück, das auch außerhalb des Hauses eingenommen werden konnte. Die beiden Klausuren hatten regelmäßig den Entwurf einer "Erkenntnis mit abgesonderten Entscheidungsgründen", eines Gutachtens zu einer Rechtsfrage oder einer Appellationsschrift zum Gegenstand45 • Der Donnerstag war Ruhetag, am Freitag folgte die mündliche Prüfung. Sie erstreckte sich auf das römische Recht und seine Geschichte, deutsches Privatrecht, kanonisches- und Staatsrecht, Handels-, Wechsel- und Seerecht, Criminalrecht, sowie Civil- und Criminalprozeßrecht. Fehling berichtet, daß Heinrich Theodor Behn, späterer Lübecker Bürgermeister, sein mündliches Examen vor Heise, Bluhme, Goll und Pauli ablegte. Zu Beginn nahm Präsident Heise den Eid "betreffs der 40 Vgl. in den Prüfungsakten der Hamburger Kandidaten die entsprechenden Senatsdekrete, z. B. OAG A9 d Nr. 7 act. 2 und OAG A9 d Nr. 67 act. 2 und 9 et passim. 41 Vgl. für Bremen die Bekanntmachung die für die Zulassung zu der Advokatur am Obergericht erforderliche Prüfung betreffend. - Gesetzblatt 1876, s. 65 -. Vgl. für Lübeck aus den Prüfungsakten u. a. die folgenden Bewertungen: "besonders gutes Latein", "fließendes Latein", "grammatisch fehlerfrei, aber unbeholfen", "leidlich", "schwerfällig", "schlecht", oder gar "völlig unbrauchbar". 42 Johannes Behn, Zum Deutschen Juristentag in Lübeck, HansRGZ 1930, A449 (451). 43 Wilhelm Brehmer, Erinnerungen aus meiner Jugendzeit, hrsg. von Johannes Kretzschmar, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altherthumskunde, 1912, Bd. 14, S. 33 f. 44 Carl August Schröder, a.a.O., S. 51 ff. 45 Vgl. die Prüfungsakten von Harnburg und Lübeck passim.

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(von mir) eingesandten Abhandlung" ab und begann dann sehr eingehende aber äußerst klare Fragen zu stellen. Anschließend setzte Goll die Prüfung fort, "der jedoch seinen Vorbereitungszettel nicht aus den Augen ließ und dadurch unbequem ward" 46 • Während die Hamburger Kandidaten keine Schlußnote erhielten47, mithin auch keine Einzelbewertung der vorgelegten bzw. angefertigten Arbeiten stattfand, war dies für Bremen und Lübeck genau umgekehrt. Infolgedessen finden sich in den Bremer und Lübecker Examenslisten detaillierte Angaben zu den schriftlichen und mündlichen Leistungen der Kandidaten. Fehling berichtet in seinen Lebenserinnerungen48 , daß es Sitte war, dem trefflichen Registrator des Oberappellationsgerichts ein "gutes Douceur zu versprechen für heimliche Benachrichtigung über den Ausfall des Examens". Fehling erfuhr so schon am Tage der Prüfung nachmittags, daß er das Examen mit sehr gut bestanden hatte. Offiziell fand die Verkündung bzw. Mitteilung des Ergebnisses erst am Sonnabend statt. Wie Sehröder berichtet49, saß er am Sonnabend, dem 10. Mai 1879, in Duyffkes-Hotel beim Essen, als ihm ein Gerichtsdiener ein großes Couvert überbrachte, dem er die "erfreuliche Mitteilung über die glückliche Erledigung" des Examens entnehmen konnte. Aus den Hamburger Prüfungsakten der Jahre 1871 bis 1879 50 ergibt sich, daß von den in diesem Zeitraum geprüften Kandidaten vierundsechzig aus Harnburg und zwanzig von auswärts stammen. Fünf Kandidaten mußten das Examen wiederholen. Einige Kandidaten hatten bereits anderwärts ein Staatsexamen abgelegt, zum Beispiel das preußische Referendarexamen51 • Da diese Examina damals in Harnburg nicht anerkannt wurden, mußte man sich noch der Lübecker Prüfung unterziehen. Zahlreiche Kandidaten waren 46 E. F. Fehling, Heinrich Theodor Behn, Bürgermeister der Freien und Hansestadt Lübeck, Leipzig 1906. 47 Das änderte sich in Harnburg zunächst auch nach dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1879 nicht. Vgl. Schultz in Rothenberger (Hrsg.), Das Hanseatische Oberlandesgericht, Gedenkschrift zu seinem 60jährigen Bestehen, 1939, S. 213 f. Vgl. ferner als Beispiel die Personalakte des Rechtsanwalts Dr. Oscar Faul Horwitz, Blatt 9, Prüfungsmitteilung vom 27. Mai 1887 -wiedergegeben bei Treue a.a.O. S. 66; vgl. auch Heinrich Bertram, Die Ausbildung der Juristen in Harnburg (1925), S. 54. 48 Aus meinem Leben, Erinnerungen und Aktenstücke, Lübeck 1929. 49 a.a.O., S. 52. 50 Staatsarchiv Harnburg Bestand OAG 211-3 Bd. 2, ausgewertet von Martin Ewald. 51 Prüfungsakte Dr. Otto Ludwig Schmidt, OAG A9 d Nr. 12, aber auch andere.

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schon als Referendare, Schreiber, aber auch in anderen Berufen tätig gewesen. Die Mehrzahl der Hamburger Kandidaten, und zwar zweiundachtzig von insgesamt vierundachtzig Kandidaten, waren promoviert. Einer der Kandidaten war zunächst Schreiber bei einem Advokaten in Lübeck, später in Harnburg gewesen. In Harnburg erhielt er dann bei dem Advokaten Dr. Hirsch, wie er in seinem Gesuch schreibt, "systematischen Unterricht in den Rechtswissenschaften" und erreichte 1873 die Bestellung zum Procurator extrajudicialis. Schließlich promovierte er in Heidelberg im Jahre 1874 aufgrund einer mündlichen Prüfung zum Dr. utr. jur. und bewarb sich anschließend um die Zulassung zum Advokaturexamen vor dem Oberappellationsgericht, die ihm der Senat ohne weiteres erteilte52• Als Kuriosum sei vermerkt, daß einer der Kandidaten zur Zeit seiner Bewerbung eines Duells wegen eine einjährige Festungshaft auf der Festung Ehrenbreitstein verbüßte. Der Kandidat, der aus einer alten Hamburger Familie stammte, erhielt einen vierzehntägigen Urlaub und absolvierte sein Examen anstandslos in Lübeck53 • Die Bremer Kandidaten 54 , die von den hansestädtischen Juristen als erste ab 1821 in Lübeck geprüft wurden, stellten die größte Zahl der Examinanden. Für die Lübecker Kandidaten war die Prüfung vor dem Oberappellationsgericht schon seit 1826 obligatorisch, in der Zeit von 1827 bis 1879 sind dort 88 Kandidaten geprüft worden, von denen die überwiegende Zahl promoviert waren55 und nur drei die Prüfung nicht bestanden5 &.

5. Bei dieser Ausbildungsreform verblieb es in den Hansestädten bis zum Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze am 1. 10. 1879. Trotz des danach seit dem Jahre 1871 in allen Hansestädten obligatorischen Staatsexamens vor dem Oberappellationsgericht stellte sich die Ausbildung noch immer als einstufige Ausbildung und ohne jegliche vorherige Einführung in die Praxis dar. Eine Änderung brachte hierin erst die Einführung der zweistufigen Ausbildung mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1877, als nunmehr zunächst nach Abschluß des Studiums die erste Staatsprüfung - und zwar ohne Rücksicht auf eine eventuelle Promotion - sowie anschließend das Prüfungsakte Dr. Christian Theodor Erdmann Kirger OAG A 9d Nr. 15. Prüfungsakte OAG A 9d Nr. 24. 54 Vgl. das Register der Prüfungsakten der bremischen Kandidaten für die Jahre 1852 bis 1871 - Staatsarchiv Bremen 6, 3 - C. 55 Allerdings nicht in so großer Zahl wie die Hamburger Kandidaten, son• dern etwa im Verhältnis von 3/4: 1/4. ss Vgl. die Register zu Prüfungsakten der Rechtskandidaten Lübeck Bestand: Oberappellations-Gericht C 2 - 1827 - 1879. 52

53

Die hansestädtische Juristenausbildung im 19. Jahrhundert

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dreijährige Referendariat mit abschließendem zweiten Staatsexamen eingeführt wurden. Dieses wurde für den Bereich der drei Freien Hansestädte vor dem 1879 mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze neugeschaffenen Hanseatischen Oberlandesgericht in Harnburg abgelegt57• Die Juristenausbildung in den Hansestädten entsprach seit dieser Zeit derjenigen im Deutschen Reich- von süddeutschen Besonderheiten abgesehen.

III. Zusammenfassend lassen sich zur Entwicklung der hansestädtischen Juristenausbildung im 19. Jahrhundert die folgenden Feststellungen treffen:

1. Die besondere Verfassungsgeschichte und Verfassungswirklichkeit der Hansestädte und die ganz anders gearteten politischen Gegebenheiten wirkten sich auch auf die Ausbildung der künftig in den Stadtrepubliken Hamburg, Bremen und Lübeck tätigen Juristen aus. Das hatte seine Ursache nicht nur in der reichsstädtischen Vergangenheit, sondern darin, daß es sich in den Hansestädten um jeweils wesentlich kleinere, stadtstaatliche Verwaltungseinheiten handelte, die mit den Erfordernissen und Bedürfnissen flächenstaatlicher Verwaltungseinheiten nicht zu vergleichen waren. Im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Staaten nahmen die Hansestädte daher kaum oder keinen Einfluß auf die Ausbildung der Juristen. 2. Die Ausbildung der hansestädtischen Juristen im 19. Jahrhundert war eine rein universitäre. Im Rahmen der Universitätsausbildung standen aber - und hier ist zustimmend auf die Ausführungen von Bleek58 zu verweisen - die juristischen Vorlesungen im Vordergrund, was nicht ausschloß, daß einzelne Studenten z. B. volkswirtschaftliche Vorlesungen hörten. Da für die hansestädtischen Juristen auf die universitäre Ausbildung kein Referendariat folgte, hatten sie bis zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit- zumeist als Anwalt- in der Regel keinerlei praktische Erfahrungen, ja noch nicht einmal Kontakt mit der Justiz gehabt, wenn man vom Examen und der dadurch mit dem Oberappellationsgericht gegebenen Berührung absieht. Das Problem einer justizförmigen oder justizjuristischen Ausbildung, das Bleek 57 Vgl. Schultz in Rothenberger (Hrsg.) a.a.O., S. 212 f. ss Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Historische und Pädagogische Studien, Bd. 3, Berlin 1972, S. 108 ff.

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mit Recht an dem Ausbildungsgang, z. B. in Preußen, konstatiert und das nach 1879 für die Juristenausbildung im gesamten Reichsgebiet virulent wurde 59, gab es mithin in den Hansestädten nicht. Dem entspricht auch die zumindest seinerzeit weniger auf die Bedürfnisse einer staatlichen Verwaltung oder der Justiz als auf die praktischen Probleme des Handels und der Kaufmannschaft ausgerichtete Einstellung der hansestädtischen Juristen, seien sie im Rat, der Justiz oder der Anwaltschaft tätig gewesen. Eine Art nachgeholtes Referendariat oder auch Assessoriat existierte in praxi zwar dadurch, daß jeder Jurist seine Laufbahn als Advokat begann oder als solcher in der Regel zunächst in einer bereits bestehenden Kanzlei tätig wurde. Nicht zuletzt die oben bereits dargestellte Diskussion über das Für und Wider eines Advokaturexamens in Harnburg zeigt, daß weniger eine theoretisch-politische Konzeption als pragmatische Überlegungen für die bestehenden Regelungen maßgeblich waren. Der Verzicht auf ein einheitliches Examen bedeutete zugleich den Verzicht auf ein einheitliches Bildungsniveau des Juristennachwuchses, ein Faktum, das sich wiederum nur aus den besonderen Gegebenheiten hansestädtischer Geschichte erklären läßt. Das ist um so bemerkenswerter, als die Berufung rechtsgelehrter Senatoren verfassungsrechtlich verankert war und die Juristen insoweit auch in den Hansestädten ein Privileg in Verwaltung und Rechtsprechung besaßen. 3. In den Hansestädten - insbesondere aber in Harnburg - war im Unterschied zu den anderen deutschen Staaten nicht die Befähigung zum Richteramt, sondern die Befähigung zur Advokatur Ausgangspunkt jeder juristischen Tätigkeit und Karriere. Daraus resultiert zum einen eine sehr intensive Verquickung und Durchdringung aller juristischen Berufe und Tätigkeitsformen, zum anderen aber das hohe Ansehen der Advokatur in den Hansestädten. Dieser enge Kontakt zwischen den einzelnen juristischen Berufen förderte nicht nur die beiderseitige Achtung und das wechselseitige Verständnis, sondern auch die Entstehung und das stete Wachstum einer besonders qualifizierten und erfahrenen Richterschaft. 4. Mit dem lnkrafttreten der Reichsjustizgesetze 1879 und dem Ende des Hansestädtischen Justizföderalismus galt auch in den Hansestädten der Grundsatz, daß Ausgangspunkt und Grundlage jeder juristischen Tätigkeit und Karriere die Befähigung zum Richteramt war. 69

Vgl. Bleek a.a.O., u. a. S. 111 ff., ferner S. 261.

Die hansestädtische Juristenausbildung im 19. Jahrhundert

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Mit Bleek60 läßt sich feststellen, daß die justizjuristische Komponente die Oberhand gewinnt und damit zugleich eine Justizförmigkeit der juristischen Ausbildung bewirkt wird, die in dieser Form bislang in den Hansestädten nicht gegeben war. Diese justizförmige Ausbildung hat ihren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund u. a. darin, daß die Kodifizierung unseres Rechts im 19. Jahrhundert auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen der aufstrebenden parlamentarischen Demokratie einerseits und dem beharrenden Moment der bestehenden Monarchien andererseits gesehen werden muß. Damals bedeutete dies die Einbindung der monarchischen Allgewalt und Willkür in eine feststehende gesetzliche Ordnung und damit die Berechenbarkeit staatlichen Handelns. Seinerzeit war es zweifellos eine Errungenschaft, daß als oberstes Rechtsstaatprinzip die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung konzipiert und postuliert werden konnte. Daraus folgte allerdings, daß der angehende Jurist in erster Linie und vorwiegend in der staatlichen Gesetzgebung unterwiesen wurde. Die Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte und der Rechtsphilosophie trat mehr und mehr in den Hintergrund. Dennoch läßt sich auch im Jahre 1979 und mithin 100 Jahre nach nach dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze und der damit verbundenen Änderung der Ausbildungsverhältnisse feststellen, daß das schon im 19. Jahrhundert bestehende enge Verhältnis zwischen Anwaltschaft und Richterschaft einerseits, Kontor und Kanzlei andererseits für die hansestädtische Juristenausbildung und die spätere juristische Tätigkeit bestimmend geblieben sind, mithin das Problem einer justizförmigen Juristenausbildung und seiner Auswirkungen sich für die Hansestädte auch heute nicht in dem Maß stellt wie anderwärts in Deutschland.

eo

Vgl. ebenda S. 299 ff., aber auch 261.

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter* Von Hans-Joachim Kurland

Als Walter Reimers am 15. Juni 1978 auf 30 Jahre Prüfertätigkeit zurückblicken konnte, fand sich ein kleiner Kreis den juristischen Prüfungsämtern in Harnburg Verbundener zusammen, um mit dem verehrten Jubilar auf dieses seltene Ereignis anzustoßen. Einer in dieser Runde gehörte sogar zu denen, die von Walter Reimers zweimal geprüft worden waren, obwohl sie die beiden staatlichen Prüfungshürden jeweils glatt im sogenannten ersten Anlauf genommen hatten: Nicht wenige der insgesamt etwa 5000 von ihm geprüften Kandidaten, die in der Nachkriegszeit vor den Prüfungsämtern in Harnburg ihre Staatsprüfungen abgelegt haben, konnten dem in beiden Ämtern Tätigen schon auf diese Weise zweimal begegnen. Walter Reimers ist seit dem 15. Juni 1948 Mitglied des Justizprüfungsamtes bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht Harnburg gewesen, seit dem 13. Oktober 1950 hat er dem Gemeinsamen Prüfungsamt der Länder Bremen, Harnburg und Schleswig-Holstein angehört. Am 18. September 1958 berief ihn die damalige Senatskommission für die Justizverwaltung zu einem der stellvertretenden Vorsitzenden des Justizprüfungsamts. Seit seiner Ernennung zum Vizepräsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts Harnburg am 1. November 1964 hatte er eine solche Funktion auch bei dem Gemeinsamen Prüfungsamt inne. Vom 1. Oktober 1967 an ist er Vorsitzender des Justizprüfungsamtes gewesen. Dieses wahrlich erfüllte Prüferleben hat drei Dezennien hamburgischen Prüfungswesens durchmessen, dessen Anfänge inzwischen schon Geschichte geworden sind. Gerade der Neubeginn nach dem Kriege war durch eine Reihe bemerkenswerter Ereignisse gekennzeichnet. Vor allem sind mit ihm auch die Namen bedeutender Hamburger Richterpersönlichkeiten verbunden, die in jenem Zeitabschnitt

* Mit Rücksicht auf die Form des Beitrages habe ich überwiegend davon abgesehen, Fundstellen anzugeben. Mit freundlicher Genehmigung des Präsidenten Dr. Walter Stiebeler, dem ich dafür zu danken habe, konnte ich die einschlägigen Generalakten des Oberlandesgerichts und zur Bestätigung der biographischen Daten und Fakten die Personalakten einsehen.

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im Prüfungs- und Ausbildungswesen tätig geworden sind. Neben vielen anderen haben namentlich vier von ihnen - wie ich meine damals einzelne Grundsteine für die Prüfungen und die praktische Ausbildung in einer Weise gelegt, die noch heute das sichere Fundament bildet, auf dem sinnvolle Reformen mit Aussicht auf Erfolg versucht werden können: Heinz Sommerfeld, Ludwig Willers, Hans Gramm und Helmuth Brauer sind bei den Kundigen noch immer in aller Munde. Walter Reimers hat just sie wiederholt seine großen Vorbilder genannt. Dies bietet einen willkommenen Anlaß, Leben und Wirken der Erwähnten für eine bleibende Erinnerung nachzuzeichnen.

I.

Wenn ich es recht sehe, sind aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt des Prüfungs- und Ausbildungswesens in Harnburg neben anderem die zu vier wichtigen Fragen eingenommenen Standpunkte oder die hierzu ergriffenen Maßnahmen von der beschriebenen fortdauernden Bedeutung: Wider alle vielfältigen gegenteiligen Unternehmungen vor allem der rechtswissenschaftliehen Fakultäten ist es gelungen, die erste juristische Prüfung als eine Staatsprüfung zu erhalten, die - trotz ihrem inhaltlichen Doppelcharakter als Hochschulabschlußexamen und als Eingangsprüfung für die in den Händen der Justiz liegende praktische Ausbildung des juristischen Nachwuchses- vor Justizprüfungsämtern abzulegen ist, die jeweils als selbständige Ämter entweder bei den Justizministerien oder bei den Oberlandesgerichten gebildet werden - ein Erfolg, dessen ganze Bedeutung vielleicht erst im Hinblick auf die im letzten Jahrzehnt in Gang gekommenen Entwicklungen ermessen werden kann. Zum anderen hat ein zentrales Prüfungsamt der nordwestdeutschen Länder Bremen, Harnburg und Schleswig-Holstein errichtet werden können. Ferner ist gegen alle sich hier und dort - vor allem aus Kreisen der Verwaltung - regenden Versuche am sogenannten Einheitsjuristen in Prüfung und Ausbildung festgehalten worden. Schließlich sind in jener Zeit Ausbildungs- und damit auch Prüfungsinhalte geschaffen worden, die -richtig verstanden und angewandt - maßgeblich dazu beitragen konnten, eine bessere Verbindung zwischen dem Universitätsstudium und dem praktischen Vorbereitungsdienst sichtbar zu machen. Daran, daß alles dies in der damaligen Zeit aufrechterhalten oder geschaffen werden konnte, haben - neben namhaften Vertretern der Wissenschaft, der Gesetzgebungsorgane, der Verwaltung in den diesen Gegenständen zugewandten Bereichen, der Anwaltschaft, der Wirtschaft und des sonstigen öffentlichen Lebens dieser Stadt - gerade die vier Richterpersönlichkeiten, denen

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 79 auch an dieser Stelle ein kleines Denkmal gesetzt werden soll, ihren besonderen Anteil. Richtig zu würdigen sind ihre Leistungen nur, wenn die Umstände in die Erinnerung gerufen werden, unter denen diese Männer nach dem Zusammenbruch von 1945 leben und arbeiten mußten. Die Lage, in der auch das Prüfungs- und Ausbildungswesen in jener Zeit in Harnburg neu beginnen mußte, war äußerst schwierig, wenn nicht hoffnungslos. Wilhelm Kiesselbach, der, aus seinem Amt als Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts 1933 ausgeschieden, 77jährig erster Präsident dieses Gerichts im Jahre 1945 und damit auch erster Chef des Ausbildungs- und Prüfungswesens geworden war, hatte bei der feierlichen Wiedereröffnung der gesamten hamburgischen Gerichte im Plenarsaal des Oberlandesgerichts am 22. September 1945 von dem Leben in einer unvorstellbaren materiellen und seelischen Not gesprochen; die Menschen seien an Körper und Seele zermürbt, an Nerven und Kraft geschwächt, innerlich zerrüttet. Reinhart Vogler, seinerzeit Präsidialrichter und von 1964 bis 1969 Präsident des Oberlandesgerichts hat die damaligen Zustände einmal ebenso bedrückend beschrieben: "Viele Mitarbeiter in den Gerichten waren durch Krieg, Hunger und Kälte völlig entkräftet und kaum noch arbeitsfähig. Ein Oberlandesgerichtsrat erschien eines Tages nicht mehr zum Dienst, den er derzeit in einer Strafkammer versehen sollte. Als man nach ihm forschte, fand man ihn tot, verhungert und im Frost erstarrt in seinem nichtheizbaren Wohnraum. Die Justizgebäude hatten schwere Kriegs'schäden davongetragen; sie konnten mit Ausnahme eines von der Militärregierung beanspruchten kleinen Flügels zwei Winter lang nicht beheizt werden; Kälte und Wind drangen ungehindert durch die nicht verglasten Fensteröffnungen, für deren Schließen sogar die Pappe fehlte. Mehr als 150 Flüchtlinge und Ausgebombte wohnten in den Gerichten und nahmen die nicht zerstörten Reste der Dienstmöbel sowie viele Arbeitsräume für sich persönlich in Anspruch." In dieser nahezu aussichtslosen Lage konnte sich das Ausbildungsund Prüfungswesen - dieses in Gestalt des Justizprüfungsamts bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht und der Prüfungsstelle des Reichsjustizprüfungsamtes -, das bei Kriegsende völlig zum Erliegen gekommen war, nur mühsam wieder regen. Fehlten überall schon Kräfte für den richterlichen Dienst, so bestand ein noch größerer Mangel an geeigneten Ausbilder- und Prüferpersönlichkeiten. Als Ergebnis einer ersten Besprechung zwischen Vertretern des Oberlandesgerichts und einem Offizier der britischen Militärregierung am 19. Juni 1945 über die Zulassung von Assessor- und Refere!}darprüfungen findet sich der Vermerk, diese Frage noch zurückzustellen; darüber könne erst entschieden werden, wenn die Richter wieder zugelassen würden;

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erst dann werde ein Urteil über geeignete Prüfer möglich sein. Daß die Militärregierung damals auch ihre sehr eigenen Vorstellungen über die teilweise Neuregelung des das Referendarexamen vorbereitenden Studiums hatte, kann nicht verwundern. So ist kurz und bündig in einem Vermerk über eine Besprechung am 28. August 1945 die Feststellung des zuständigen Rechtspflegeoffiziers festgehalten worden: Mit dem römischen Recht - das ihm sehr naheläge - sei leider nicht mehr viel anzufangen, weil die deutschen Studenten kein Latein mehr verstünden; ebenso falle Staatsrecht weg und auch sonst würden Veränderungen erforderlich sein. In ihrer Anweisung Nr. 1 für die Oberlandesgerichtspräsidenten vom September 1945 (HansJVBl. 1946 S. 72) ermächtigte die Militärregierung diese sodann u. a. zum Erlaß von Vorschriften für die Justizausbildung und damit auch die Prüfungen. Die von Kiesseibach - um der Gefahr der Zersplitterung der Rechtseinheit auch auf diesem Gebiete wenigstens in der Britischen Zone zu begegnen - in Lüneburg zusammengeführten Oberlandesgerichtspräsidenten erörterten am 27. September 1945 die damit zusammenhängenden Fragen. Eine erste Referentenbesprechung schloß sich Anfang Oktober an: Da schon eine Reihe von Prüfungsersuchen vorlagen und sogar noch einige vor dem Zusammenbruch begonnene Prüfungsverfahren zu Ende zu führen waren, sollte vorläufig noch das alte Verfahren nach der Reichsjustizausbildungsordnung vom 4. Januar 1939 (RGBL I 6) - natürlich mit Ausnahme aller auf nationalsozialistischem Gedankengut beruhenden Regelungen - fortgelten. Auf dieser Grundlage konnten noch im Oktober 1945 zur Vorbereitung der Wiederaufnahme der Prüfungen mit dem zuständigen Rechtspflegeoffizier der britischen Militärregierung, Oberst Dr. Carton, weitere Verhandlungen geführt werden. An diesen nahm neben Reinhart Vogler auch der damalige Landgerichtsdirektor Ludwig Willers teil, der seinerzeit die bei dem Chefpräsidenten gebildete "Gesetzgebungskommission" leitete. Mit Zustimmung der Militärregierung wurde er zum stellvertretenden Vorsitzer in den beiden für die erste und die zweite juristische Staatsprüfung errichteten Kommissionen ernannt. Professor Genzmer als damaliger Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Harnburg schlug die Professoren Raape, von Laun, Tesar, Würdinger, Bötticher und Möller sowie Rechtsanwalt Professor Fischer als Mitglieder der Kommission für das erste juristische Examen vor. Unter den Mitgliedern der Kommission für die zweite juristische Prüfung taucht zum ersten Mal Ende November 1945 der Name des damaligen Landgerichtsrats Sommerfeld auf. Mitte Januar konnte der Oberlandesgerichtspräsident mit Zustimmung der Militärregierung anordnen, daß bis zum Erlaß der angekündigten neuen Justizausbildungsordnung für die gesamte Britische Be-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 81 Satzungszone übergangsweise die alte Justizausbildungsordnung unter Berücksichtigung der bei der Besprechung in Lüneburg beschlossenen wesentlichen Änderungen ab 1. Januar 1946 anzuwenden sei. Nach eingehenden Vorarbeiten des sogenannten juristischen Unterausschusses, der aus je einem Referenten der acht Chefpräsidenten der Britischen Besatzungszone bestand, die den Zentralausschuß für die Britische Zone bildeten - ein Vorläufer des späteren Zentraljustizamtes - wurde mit der Justizausbildungsordnung vom 23. Mai 1946 (HGVBl S. 59) mit Wirkung vom 1. Januar 1946 eine einheitliche Gestaltung für die juristische Ausbildung sowie die beiden Staatsprüfungen sichergestellt. Für die Große Staatsprüfung war darin u. a. bestimmt, daß diese vor dem Prüfungsamt bei dem Oberlandesgericht in Harnburg - Prüfungsstelle Harnburg genannt - auch von allen Kandidaten aus den Bezirken Braunschweig, Celle, Kiel und Oldenburg abzulegen war. Seit April 1946 hatten vor dem Justizprüfungsamt bei dem Oberlandesgericht die ersten juristischen Prüfungen stattgefunden. Die Prüfungsstelle Harnburg für die Große Staatsprüfung konnte ihre Tätigkeit gleichfalls im Frühjahr dieses Jahres aufnehmen. Vorsitzer beider Prüfungsämter waren zunächst die jeweiligen Präsidenten des Oberlandesgerichts. Berichte der Prüfungsämter über jene Zeit spiegeln die ganze Not von Kandidaten und Prüfern wider. Nicht ohne ein leichtes Schmunzeln nimmt der Leser aber in dem Bericht eines der Prüfungsämter für das Jahr 1946 von der in einem Schlußsatz zusammengefaßten Feststellung Kenntnis, daß "Wiederholer und Frauen sich nicht in der Prüfung befunden haben". Die organisatorische Entwicklung schritt fort: Nach der Schaffung des Zentraljustizamts für die Britische Zone, das am 2. Oktober 1946 durch seinen ersten Präsidenten, Justizpräsident Dr. Kiesselbach, im Plenarsaal des Oberlandesgerichts Harnburg feierlich eröffnet worden war, wurde gemäß Verordnung vom 27. April 1948 (VOBLBZ.109) ein Zentralprüfungsamt für die Britische Zone mit der Hauptstelle Harnburg und der Prüfungsstelle Düsseldorf errichtet. Sämtliche bisherigen Mitglieder des Prüfungsamts für die Große Staatsprüfung in Harnburg wurden als Mitglieder des Zentralprüfungsamts bestätigt, darunter auch Heinz Sommerfeld, seit dem 26. April 1948 Vizepräsident des Oberlandesgerichts. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1948 berief der Präsident des Zentraljustizamtes den Justizdirigenten Dr. Georg Petersen zum Leiter des Zentralprüfungsamts in Hamburg, den Kieler Oberlandesgerichtspräsidenten Dr. Gottfried Kuhnt zum stellvertretenden Leiter. Seit demselben Tage gehörte auch der damalige Amtsgerichtsrat Dr. Helmuth Brauer dem Zentralprüfungsamt an. Am 15. Januar 1949 konnte die neue Justizausbildungsordnung für die Britische Zone (VOBLBZ. Nr. 4 S. 21) in Kraft treten. Im sogenann6 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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ten kleinen Prüfungsamt bei dem Oberlandesgericht hatte Herbert Ruscheweyh, erster Vizepräsident des Oberlandesgerichts nach dem Kriege und seit dem 1. Oktober 1946 Präsident dieses Gerichts, nach seiner Berufung zum Präsidenten des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet den Vorsitz niedergelegt und Heinz Sommerfeld in dieses Amt berufen. Stellvertretende Vorsitzende wurden mit dem 15. Juni 1948 Ludwig Willers, seit dem 1. April 1947 Senatspräsident, und der damalige Oberlandesgerichtsrat Dr. Hans Gramm, der seit dem 7. August 1947 diesem Prüfungsamt angehörte. Nach dem Wegfall des mit dem Zentraljustizamt für die Britische Zone verbundenen Zentralprüfungsamts erfüllte sich die Hoffnung, ein gemeinsames Prüfungsamt für die vier Länder der Britischen Zone aufrechtzuerhalten, trotz des so entschiedenen Einsatzes von Sommerfeld für eine solche Lösung nicht: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen errichteten eigene Prüfungsämter (vgl. Gesetz vom 28. 4. 1950 GVBL NRW S. 77; A V d. Nds. M. d. J. v. 8. März 1950 - Nds.Rpfi. S. 34). Hingegen kamen Harnburg und Schleswig-Holstein mit Bremen im Februar 1950 überein, bei dem Oberlandesgericht in Harnburg ein Gemeinsames Prüfungsamt für die Große Staatsprüfung zu schaffen; die Bestimmungen der JAO vom 15. Januar 1949 über diese Staatsprüfung (§§ 49- 58) wurden einheitlich neu gefaßt. Am 1. April1950 trat diese Übereinkunft in Kraft (für Harnburg Gesetz vom 12. Mai 1950 - GVBl S. 101). Bis zum 31. März 1959 führte Heinz Sommerfeld, zunächst noch als Vizepräsident des Oberlandesgerichts, seit dem 1. August 1954 als Landgerichtspräsident, die Geschäfte des Gemeinsamen Prüfungsamts der drei deutschen Küstenländer. In der wichtigen Phase des Neubeginns im Ausbildungs- und Prüfungswesen nach dem Zusammenbruch hatte auch in Harnburg sogleich die Frage erhebliche Bedeutung gewonnen, in welcher Weise die erste Prüfung in ihren Inhalten neu bestimmt und das hierfür zu schaffende Prüfungsamt organisatorisch gestaltet werden sollte. Schon bei einer der ersten Besprechungen zwischen den Vertretern der britischen Militärregierung, der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und des Oberlandesgerichtspräsidenten im Herbst 1945 war von dem Dekan die Forderung angemeldet worden, daß künftig die erste juristische Prüfung allein Aufgabe der Universität sein müsse; die Praktiker müßten aus der Prüfungskommission ganz ausscheiden oder doch in der Minorität bleiben; das erste Examen sei eine Abschlußprüfung für das Universitätsstudium, nicht aber eine Eingangsprüfung für die Praxis; so wie das Prüfungswesen in Harnburg bisher gehandhabt worden sei, habe das Referendarexamen nichts anderes als eine verkleinerte Assessorprüfung dargestellt. Diese Forderung nahm die Vorstellungen und Wünsche fast aller damaligen deutschen Rechtsfakultäten auf. Den

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 83 Vertretern des Oberlandesgerichtspräsidenten - neben Vogler auch Willers - gelang es, Militärregierung und Fakultät davon zu überzeugen, daß die Frage der Gestaltung des ersten juristischen Examens im Hinblick auf dringlichere Probleme zurückgestellt werden sollte. Ersichtlich hat die Praxis der Bedeutung der Universität für dieses Examen sogleich dadurch Rechnung getragen, daß zwei der vier Prüfer nach Möglichkeit jeweils Hochschullehrer sein sollten. Die weiteren Verhandlungen führten jedenfalls zu dem Ergebnis, daß in einem Vermerk der Militärregierung über eine Besprechung "mit der Justizverwaltung und Professoren der Rechtswissenschaft" am 18. Februar 1946 in Bünde festgehalten worden ist: Die Referendarprüfung sollte auch weiterhin bei den Oberlandesgerichten abgehalten werden, die Prüfungskommission aus zwei Richtern und zwei Professoren der Rechtswissenschaft bestehen, den Vorsitz ein Richter führen; Justiz und Rechtswissenschaftliche Fakultäten sollten die Aufgaben für die Examensarbeit gemeinsam vorbereiten; auch bei diesen Arbeiten sei das Hauptgewicht auf die akademische und theoretische Seite der juristischen Ausbildung zu legen. Auf dieser Grundlage wurde in Harnburg verfahren. Sommerfeld, Willers und Gramm bemühten sich vor allem, zu jeder Prüfung zwei Universitätsprofessoren heranzuziehen und die Prüfungsaufgaben universitätsnah auszuwählen. Nur um die einzelnen Prüfungsverfahren nicht unangemessen lange dauern zu lassen, mußten- wenn von der Fakultät während der Semesterferien etwa nicht genügend Hochschulprüfer gewonnen werden konnten - die Ausschüsse vollen Umfangs mit Praktikern besetzt werden. Gleichwohl kam die Diskussion über die richtige Gestaltung der ersten juristischen Staatsprüfung auch in der Folgezeit nicht zur Ruhe. Namentlich unter dem Einfluß der Gutachten zur Hochschulreform, der Beschlüsse der Hochschullehrer der juristischen Fakultäten der drei westlichen Besatzungszonen und später der Denkschrift der Dekane der rechts- und staatswissenschaftliehen Fakultäten der Bundesrepublik Deutschland wurde auch Harnburg 1949 erneut davon berührt. Bemerkenswert für Harnburg war jedoch, daß mit der hiesigen Fakultät weitere Erörterungen nicht mehr geführt zu werden brauchten. Während andere Oberlandesgerichtspräsidenten - die sich mit der Bitte um einen Meinungsaustausch auch an Harnburg gewandt hatten sich mit den bekannten Argumenten zum "Diplomjuristen" auseinandersetzen mußten, konnte Sommerfeld in voller Übereinstimmung mit Willers und Gramm unter dem 3. November 1949 der Senatskommission für die Justizverwaltung berichten: Harnburg könne den eine Neugestaltung der ersten Prüfung ablehnenden Stellungnahmen der Oberlandesgerichtspräsidenten in Schleswig und Celle nur beipflichten; mit Rücksicht darauf, daß die rechts- und staatswissenschaftliche Fakul6•

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tät Hamburgs bisher offiziell nicht (wieder) mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten sei, im übrigen auch durchaus freundschaftliche Beziehungen zu dem Justizprüfungsamt unterhalte, werde es nicht für sachdienlich gehalten, von hier aus etwas in dieser Angelegenheit zu veranlassen. Auch dies kann wohl als ein Beispiel dafür gelten, daß in Harnburg so manches Problem in anderer Weise- nämlich überwiegend pragmatisch - behandelt und gelöst zu werden pflegt. Solches konnte in dieser Frage aber nur erreicht werden, weil hier von beiden Seiten her Persönlichkeiten zusammenwirkten, die stets die von ihnen getragene, gut funktionierende vernünftige Lösung allen noch so begründet erscheinenden theoretischen Erwägungen vorzogen. Der in dieser Frage damals eingeschlagene Weg hat sich- das kann heute ohne Einschränkung festgestellt werden - als richtig erwiesen und ist deshalb auch dauerhaft. So konnte für die am Anfang der Reformzeit geschaffene Justizausbildungsordnung vom 10. Juli 1972 (GVBl S. 133) weitgehend dieses Konzept zugrunde gelegt werden. In der Entwurfsbegründung hieß es zu § 7 (Justizprüfungsamt) lapidar: Die Vorschrift entspreche inhaltlich der bisherigen Regelung. Zu § 2 (Zweck der Prüfung) wurde darauf hingewiesen, daß die erste juristische Staatsprüfung eine Doppelfunktion erfülle; sie sei zugleich Universitätsabschlußprüfung und fachliche Eingangsprüfung für den juristischen Vorbereitungsdienst; dabei seien beide Funktionen in ihren Anforderungen an den Prüfling identisch, das heißt: wer das Ziel des rechtswissenschaftliehen Studiums erreicht habe, sei zugleich fachlich für den juristischen Vorbereitungsdienst geeignet. Als ein weiterer Umstand, der es verdient, im Zusammenhang mit den Neuregelungsbestrebungen im Justizausbildungswesen hervorgehoben zu werden, muß das Festhalten am sogenannten Einheitsjuristen gewertet werden. Seit etwa 1954 hatten die Innenressorts der Länder darauf gedrängt, die Verwaltungsstation zu intensivieren. Diese betrug nach § 45 Abs. 1 JAO 1949 sechs Monate. Als in dem durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 neugefaßten § 2 GVG der Vorbereitungsdienst auf mindestens dreieinhalb Jahre festgelegt worden war, war in Harnburg im Verwaltungswege die Verwaltungsstation auf zwölf Monate verlängert worden. In der Praxis wurde sie so ausgestaltet, daß der Referendar sechs Monate bei Verwaltungsbehörden oder dem Verwaltungsgericht und die restlichen sechs Monate in der Wirtschaft tätig sein konnte. Als 1954 in einzelnen Ländern Bestrebungen erkennbar geworden waren, die nach 1945 erreichte einheitliche Ausbildung aller Juristen wieder zu spalten, und - an die frühere preußische Regelung anknüpfend - eine besondere Ausbildung für Regierungsreferendare mit eigenem Regierungsassessorexamen einzuführen, trat dem zunächst die

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 85 23. Justizministerkonferenz mit einem am 8./9. Dezember 1954 gefaßten Beschluß entgegen: Die Konferenz betone mit Nachdruck, daß die einheitliche Ausbildung aller Juristen im Interesse der Rechtsförmlichkeit des gesamten Staatslebens und damit auch der Verwaltung gewahrt werden müsse; deren berechtigten Wünschen hinsichtlich der Ausbildung der Referendare, die bereits während des Vorbereitungsdienstes an einer späteren Tätigkeit in der Verwaltung besonderes Interesse zeigten, könne und werde, soweit es nicht schon geschehen sei, innerhalb der in § 2 Abs. 3 des GVG vorgesehenen Ausbildung Rechnung getragen werden. Als Nordrhein-Westfalen in seinem Entwurf eines Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst vom 1. Juni 1955 unter erheblicher Änderung des bisherigen Rechtszustandes dennoch zwischen der Ausbildung reiner Regierungsreferendare und der bisher üblichen Ausbildung der sogenannten Justizreferendare einen Kompromiß versuchte, bereitete Sommerfeld die Stellungnahme vom 5. Oktober 1955 vor, mit welcher der Präsident des Gemeinsamen Prüfungsamts zugleich als Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts - gegenüber der damaligen Landesjustizverwaltung in Harnburg - teilweise abweichend von den Vorstellungen Schleswig-Holsteins - auch diesen Änderungsvorschlag nachdrücklich abgelehnt hat. Die Stellungnahme gipfelte in der Feststellung, daß die Einheit von Ausbildung und Prüfung des juristischen Nachwuchses aller Berufszweige weder aufgehoben noch angetastet werden dürfe; die Einheit der Prüfung sei nur gewährleistet, wenn die Einheit der Ausbildung erhalten bleibe. Die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen, die durch das Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst vom 9. April 1956 (GVBl. S.131) nebst Durchführungs-VO vom 2. Juli 1956 (GVBl. S. 169) zu einem teilweise getrennten Ausbildungsgang für Justizreferendare und Referendare mit öffentlich-rechtlichem Interesse führte sowie die Aufspaltung der zweiten juristischen Staatsprüfung in eine justizrechtliche und eine öffentlich-rechtliche Prüfung zuließ, führte zur Verstärkung der bereits zuvor vom Innenminister des Landes Schleswig-Holstein unterbreiteten Vorschläge, die eine teilweise getrennte Ausbildung und entsprechende Prüfung vorsahen. Auch das Personalamt des Senats der Freien und Hansestadt Harnburg trat an die Landesjustizverwaltung mit dem Wunsch heran, ähnliche Maßnahmen in Harnburg durchzuführen. An der daraufhin von dem Vorsitzenden und den stellvertretenden Vorsitzenden des Gemeinsamen Prüfungsamts am 11. Januar 1956 gefaßten Entschließung hatte Sommerfeld maßgebenden Anteil. Entschieden wurde darin betont, daß die Einheitlichkeit der Ausbildung und Prüfung für den gesamten

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juristischen Nachwuchs den Interessen der Justiz, Verwaltung, Anwaltschaft und Wirtschaft sowie den eigenen Interessen der Auszubildenden in gleichem Maße diene; die Erfahrung habe gelehrt, daß für die Juristen aller Berufsrichtungen das volle juristische Rüstzeug unentbehrlich sei; dieses könne nur die vollständige zivilrechtliche Schulung vermitteln; hierbei müsse das Institut der zivilrechtliehen Relation in ihrer klassischen Form ein Eckpfeiler von Ausbildung und Prüfung bleiben. Die Entschließung führte dafür, daß die gemeinsame Ausbildung erforderlich sei, noch einen weiteren bedeutsamen Gesichtspunkt an: Auf diese Weise könne der fortschreitenden Zersplitterung der rechtsprechenden Gewalt wirksam entgegengetreten werden. Im Hinblick darauf, daß der ständig wachsenden Bedeutung des öffentlichen Rechts in den drei norddeutschen Küstenländern bereits in dem notwendigen Maße für die Ausbildung Rechnung getragen worden sei, verwies die Entschließung auf die Ausgestaltung des einheitlich für alle Referendare vorgeschriebenen Ausbildungsabschnitts "Verwaltung" und der öffentlich-rechtlichen Referendararbeitsgemeinschaften sowie auf die Einführung einer vierten, öffentlich-rechtlichen, Aufsichtsarbeit und in der mündlichen Prüfung eines vierten Prüfers für dieses Rechtsgebiet. Infolge dieser Maßnahmen hätten die Referendare ihre Ausbildung im öffentlichen Recht erheblich intensiviert. Die Senatskommission für die Justizverwaltung beschloß am 8. Mai 1956, von Maßnahmen, die zweite juristische Staatsprüfung umzugestalten, vorerst Abstand zu nehmen; auch das Ziel der Referendarausbildung solle vorerst weiterhin durch die Gestaltung des Großen juristischen Staatsexamens nach bisheriger Art bestimmt sein. Im Einvernehmen zwischen dem Personalamt des Senats, der Landesjustizverwaltung und dem Oberlandesgerichtspräsidenten wurden die Richtlinien festgelegt, nach denen die Ausbildung in der Verwaltungsstation unter der Verantwortung des Personalamts durchgeführt werden sollte (vgl. Allgemeine Verfügung Nr. 4/1957 der Landesjustizverwaltung vom 6. März 1957 in Verbindung mit dem Richtlinien der Senatskommission für den Verwaltungsdienst vom 26. März 1957 - Mitteilungen für die Verwaltung der Freien und Hansestadt Harnburg Nr. 8 vom 15. April1957). Auch diese Lösung, welche die Einheit von Ausbildung und Prüfung bewahrte, hat sich in der Folgezeit derartig bewährt, daß sie noch für die Neuregelung der Justizausbildungsordnung vom 10. Juli 1972 nutzbar gemacht werden konnte. In den Materialien ist mehrfach hervorgehoben worden, daß auch dieser Ausbildungs- und Prüfungsordnung das Bild vom Einheitsjuristen zugrunde lag. Die einleitende Vorschrift des Gesetzes beschreibt die Aufgaben der Juristenausbildung dahin, daß diese dazu diene, auf alle juristischen Berufe vorzubereiten. Im § 4

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 87 Abs. 1 der neu gefaßten Übereinkunft für das Gemeinsame Prüfungsamt ist als Zweck der Prüfung festgelegt, daß mit der Großen juristischen Staatsprüfung festgestellt werden solle, ob der Referendar zu selbständiger eigenverantwortlicher Tätigkeit in allen Bereichen der Rechts- und Verwaltungspraxis fähig sei. Schließlich ist noch ein weiteres wichtiges Ergebnis aller vielfältigen Bemühungen in diesem ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch, auch in Harnburg Ausbildung und Prüfung für den juristischen Nachwuchs zu verbessern, zu erwähnen: Namentlich zwei der in Rede stehenden Richterpersönlichkeiten - Gramm insbesondere im Prüfungsbereich, Brauer vor allem auf dem Feld der Ausbildung - haben dabei auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen in Studium, Vorbereitungsdienst und beruflicher Praxis durch viele praktisch erprobte Gedanken über die wesentlichen Inhalte von Ausbildung und Prüfung im Zivilrecht bedeutende Wegweiser für eine folgerichtige Verknüpfung von Universitätsstudium und praktischem Vorbereitungsdienst errichtet. An keiner Stelle hat Gramm die Ziele des Hochschulstudiums als allgemeine Grundlage für die erfolgreiche Herstellung einer solchen Verbindung in der zweistufigen Ausbildung besser beschrieben als in seiner für den Präsidenten des Oberlandesgerichts zu der bekannten Husserl-Denkschrift über eine Reform des Rechtsstudiums ausgearbeiteten ablehnenden Stellungnahme vom 12. Januar 1953. Für ihn konnte es das Ziel deutscher Hochschulen allein sein, junge Menschen zu selbständig denkenden, kraftvollen Persönlichkeiten heranzubilden, ein Ziel, das nur erreicht werden könne in der Freiheit des Lehrenden und vor allem des Lernenden. Ausschließlich in jener Freiheit könnten sich die geistigen Kräfte des einzelnen entfalten und sich zu einer in sich ruhenden Einzelpersönlichkeit entwickeln. Gramm wandte sich entschieden dagegen, die Ausbildung zu schablonisieren oder zu typisieren: Solches möge zwar eine Fülle brauchbarer und nützlicher Arbeiter heranbilden, die geistig selbständige Persönlichkeit könne es nicht fördern. Mit den so begriffenen Aufgaben der deutschen Universität sei es unvereinbar, den Studenten in einen festen Ausbildungsgang zu pressen, ihm zu untersagen, mehr als eine bestimmte Wochenstundenzahl in seinem Fach zu hören, sich den Professoren zuzuwenden, die gerade sein besonderes Interesse fänden und sich vor allem in den Übungen zu bilden, die ihm nach seinen Anlagen und Fähigkeiten zu der erstrebten universellen geistigen Ausbildung verhelfen könnten. Gramm schloß seine allgemeinen Gedanken in dieser Stellungnahme: "Nur der Student, der dazu angehalten wird, sich selbständig das anzueignen, was von den großen Meistern seiner Wissenschaft geboten wird, kann zu einer wirklich freien Entwicklung seiner geistigen Persönlichkeit gelangen. Verbaut man diesen Weg, so schließt man dem

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Studenten den Zugang zu Lehrbüchern, wie beispielsweise denen von Martin Wolff und von Tuhr, und glaubt nur, daß gelegentlich auch ein Anlaß bestehen mag, aus ,einem führenden Lehrbuch ein oder zwei Seiten wiederzugeben'. So wird man die Verflachung erreichen, die zu bekämpfen seit jeher die vornehmste Aufgabe deutscher Universitäten gewesen ist." Von einem im Kern damit übereinstimmenden Ansatz her hat der unumstrittene Meister der Ausbildung, Brauer, die Konkreta für eine sinnvolle Verknüpfung von Studium, praktischer Vorbereitung und Prüfung(en) entwickelt. Sein "Zivilrechtsfall in Prüfung und Praxis", 1953 erschienen, sollte allen jungen Juristen gelten: Studenten, Referendaren, Assessoren; mit Bedacht sei das Buch so geschrieben, daß es noch dem Assessor nützen könne, in seinen Hauptteilen aber bereits dem Studenten verständlich sei. Erfolgversprechender läßt sich der Bogen über alles, was der inhaltlichen Verbindung der gesamten, sich in mehreren Abschnitten vollziehenden Ausbildung zu dienen hat, nicht spannen. Brauer zeigt dem Studenten, in welcher Weise in der Praxis gearbeitet wird und werden muß. Hat der Student dies erfaßt, so fällt es ihm ohne Zweifel viel leichter, die Theorie des Zivilprozesses zu begreifen und mit den in den Übungen und der Prüfung gestellten Aufgaben fertig zu werden. Vor allem wird es ihm aber keine Schwierigkeiten bereiten, die Aktenfälle im Vorbereitungsdienst, in der zweiten Staatsprüfung und dann in den mannigfachen Aufgaben, welche die berufliche Praxis überall stellt, zu bearbeiten. Brauer betonte einleitend, daß er besonders ausführlich die Fragen behandele, bei denen der junge Jurist methodische Fehler zu begehen pflege. Einzelkenntnisse zu vermitteln, sei nicht seine Absicht; ihm liege daran, das Denkvermögen zu schulen. Aus Brauers Denk- und Lehrgebäude ließe sich im vorliegenden Zusammenhang eine Fülle von Beispielen anführen. Nur zwei Punkte sollen herausgegriffen werden. Der eine macht deutlich, wo Brauer ein grundlegendes verbindendes Element sah. Der andere ist kennzeichnend für die einfühlsame Art, mit der er dadurch dem Studenten Schwellenängste vor der Praxis zu nehmen versuchte, daß er einfach an die vom Studium her gewohnten Arbeitsvorgänge anknüpfte und sie konsequent in den Dienst einer erfolgreichen Methode für jede praktische Arbeit stellte. Um dem Studenten der Rechte von vornherein den Unterschied zwischen Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit zu verdeutlichen, stellte Brauer in seiner unnachahmlichen Weise die insoweit vorhandenen Mißverständnisse bloß: Dem jungen Referendar, dessen Hausarbeit als nicht wissenschaftlich genug getadelt wird, legt er den Gedanken auf die spitze Zunge, er habe doch nicht beabsichtigt, sich zu habilitieren, sondern nur die Fähigkeit zum Richteramt erwerben wollen. Dem

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 89 Bestreiten der Richtigkeit des Einwandes, daß auch ein Richter wissenschaftlich arbeite, setzte er seine markanten Thesen über die Merkmale der wissenschaftlichen Leistung entgegen: Die Wissenschaftlichkeit einer Arbeit bemesse sich nicht nach ihrer Länge, sie bestimme sich auch nicht nach der Menge der Kenntnisse, die der Autor anzubringen verstehe; Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit seien verschiedene Dinge. So seien Abstraktion und Fülle des Stoffes keine Merkmale wissenschaftlicher Leistung. Der wahre Wissenschaftler bewähre sich auf andere Weise: er denke selbständig, sachlich und genau; er denke planmäßig und halte seine Gedanken stets unter Kontrolle. Mit einem - wie er ihn selbst bezeichnet - ganz simplen Ratschlag für die Vorarbeit zur Bearbeitung von Aktenfällen führte Brauer geradenwegs in die von den Übungen im Universitätsstudium her gewohnte Situation: Nach eingehendem Studium der Prozeßakte solle der Referendar aus dem Vorbringen des Klägers, einschließlich dem Unstreitigen, eine zusammenhängende Erzählung aller Ereignisse formen, und zwar in historischer Reihenfolge, in der sie sich nach dem Vorbringen des Klägers ereignet hätten. Diese "gedrängte Fabel" nannte Brauer den "Klausurtext des Klägers", weil damit ein Aufgabentext gebildet wird, der dem Studenten schon in der Übung und im Referendarexamen begegnet ist. An die Stelle der Fallfrage des echten Klausurtextes setzte er hier den Antrag: Für den Studenten war nun der Weg frei, in der Praxis das zu tun, was ihm von der Übung und der Prüfung her geläufig war. Er konnte den Fall lösen, indem er für die konkrete Rechtsfolge (die Fallfrage =den Antrag) die passende abstrakte Rechtsfolge einer oder mehrerer Antwortnormen suchte und sodann zu den Voraussetzungen dieser Vorschriften fortschritt. Allein diese Methode - so betonte Brauer mit Recht kann sowohl den Studenten als auch später den Referendar und Praktiker davor bewahren, sich lediglich in abstrakt-theoretischen Erörterungen zu ergehen und jeweils zunächst einmal einen "Privatkommentar" zu der vielleicht in Betracht zu ziehenden Norm zu verfassen und voranzustellen. Indem der Student genau genommen nur das tut, was er in der Universitätsausbildung gelernt hat, vollbringt er- gleichsam dann nahtlos anschließend- eines der wesentlichen Stücke zur Lösung jedes praktischen Falls: die Schlüssigkeitsprüfung. Nach meinen Beobachtungen von Ausbildung und Prüfung in Harnburg, die sich jetzt auch schon über ein Vierteljahrhundert erstrecken, haben - neben vielem anderen - just solche denkbar einfach erscheinenden Anregungen dazu beigetragen, die Verbindung zwischen Studium und Praxis in der herkömmlichen Ausbildung erheblich zu vertiefen. Die Ausbildung an der Universität ist davon befruchtet worden, weil dadurch vielleicht noch deutlicher werden konnte, in welcher

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Weise das Studium die Voraussetzungen für die konkrete Anknüpfung in der Praxis schafft. Die Praxis ist besser angeleitet worden, wie das theoretische Wissen ohne Bruchstellen in der zweiten Stufe umgesetzt werden kann.

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Bei dem Versuch, aus den Biographien der vier Richterpersönlichkeiten zu berichten, die so maßgebend dazu beigetragen haben, daß die beschriebenen Grundsteine in Harnburg gelegt worden sind, lassen diese einführenden Charakterisierungen vielleicht am treffendsten einzelne bestimmende Eigenschaften und Fähigkeiten eines jeden von ihnen erkennbar werden: Heinz Sommerfeld finden wir an keiner Stelle so den Tatsachen entsprechend gewürdigt, wie in der Urkunde vom 18. Juli 1960 über die Ehrenpromotion durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Hamburg, in dem Jahre des einhundertjährigen Bestehens des Deutschen Juristentages, zugleich in Würdigung der Verdienste der Hamburger Gerichte aller Rechtspflegezweige. Die Fakultät hat damals "dem vorbildlichen und charakterfesten Manne, der nach dem Zusammenbruch des Staatswesens unbeirrt an führender Stelle die Rechtspflege wieder aufbauen half, der sich mit dieser Haltung das Vertrauen des Richterstandes erwarb, der in verständnisvoller Fürsorge sich die Förderung des juristischen Nachwuchses hat angelegen sein lassen" die Würde des Doktors der Rechte ehrenhalber verliehen. Daß Ludwig Willers als Sohn dieser Stadt, die sich so häufig nicht ohne Stolz auf ihre republikanischen Traditionen etwas zugute gehalten hat und hält, vielfach ein "Richterkönig" genannt worden ist, dürfte richtiger als manches andere seine als aristokratisch erscheinende Persönlichkeit kennzeichnen. Hans Gramm ist wohl mit vollem Recht als die kraftvollste Persönlichkeit unter den Richtern Hamburgs bewundert worden. Als ihn 1967 der jähe Herztod ereilte, sprach der damalige Justizsenator davon, Senatspräsident Professor Dr. Gramm sei für die Justiz der Freien und Hansestadt Harnburg seit vielen Jahren ein Begriff geworden. Über Helmuth Brauer stimmten alle diejenigen, die jemals in Ausbildung, Prüfung oder Beruf mit ihm hatten in Berührung treten können, in ihrem Urteil überein, einem der scharfsinnigsten, mit einmaligem geistigen Charme ausgestatteten Juristen begegnet zu sein, auf den man überhaupt treffen könne.

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 91 Heinz Sommerfeld wurde am 25. November 1895 in Höchst (Westfalen) geboren. Im Ersten Weltkrieg mehrfach, zum Teil schwer verwundet und ausgezeichnet, konnte er- zuletzt Leutnant d. R.- nach seiner Entlassung im Herbst 1918 seine rechtswissenschaftliehen Studien an der Großherzoglich-Badischen Albrecht-Ludwig-Univ.ersität in Freiburg beginnen, an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin fortsetzen und an der Christian-Albrecht-Universität in Kiel nach insgesamt 61/2 Semestern abschließen. Seine erste juristische Staatsprüfung legte er am 16. Juli 1920 vor der Prüfungskommission bei dem Oberlandesgericht Kiel ab. Nach einer von den damaligen Umständen geprägten, äußerst entbehrungsreichen Referendarzeit in den Bezirken des Oberlandesgerichts Kiel und des Kammergerichts bestand Sommerfeld am 25. Juli 1923 vor der Justizprüfungskommission in Berlin die große juristische Staatsprüfung mit "annähernd gut". Sogleich im Oberlandesgerichtsbezirk Kiel zum Gerichtsassessor ernannt, wurde er nach vielen Commissoden 1927 Amtsgerichtsrat in Wandsbek und 1930 hauptamtlicher Vorsitzender des dortigen Arbeitsgerichts. Als rassisch Verfolgten enthob ihn der Preußische Justizminister im Juni 1933 dieser Stellung und versetzte ihn als Landsgerichtsrat sowie gleichzeitig als Amtsgerichtsrat nach Altona. Auch in den folgenden, für ihn so schweren Jahren haben die hervorragenden Beurteilungen seiner dienstlichen Leistungen immer wieder das große Ansehen und Vertrauen hervorgehoben, das er genoß. Während des Krieges verzichtete sein damaliger Dienstherr im Jahre 1943 auf die bis zu diesem Zeitpunkt stets antragsgemäß vorgenommene UK-Stellung. Sommerfeld wurde zunächst zur Außenwirtschaftsstelle und zum Amt für Wohnungsfürsorge abgeordnet, war sodann ab Mai 1944 Rechtsberater beim Ortsamt Eimsbüttel und wurde schließlich- als sich die Verhältnisse für ihn als rassisch Verfolgten ersichtlich immer schwieriger gestalteten - im Spätherbst 1944 für vier Monate als Arbeiter in der Bauverwaltung dienstverpflichtet. Nach dem Zusammenbruch war er zunächst beim "Amt für Raumbewirtschaftung" tätig, kehrte im Sommer 1945 in den Justizdienst beim Landgericht zurück und wurde am 1. Dezember 1945 zum Oberlandesgerichtsrat ernannt. Seit 1946 war Sommerfeld Mitglied des Oberverwaltungsgerichts. Am 1. August 1946 wurde er Senatspräsident. Der Präsident des Zentraljustizamtes ernannte ihn am 26. April1948 zum Vizepräsidenten. Als solcher führte er - in Ruscheweyhs Abwesenheit von Harnburg- von 1948 bis 1951 die Geschäfte des Oberlandesgerichtspräsidenten. In diesen Jahren der Nachkriegszeit erwarb Sommerfeld sich auch dadurch bleibende Verdienste um die Entwicklung der Hamburger Justiz, daß er sich besonders fürsorglich der Personalangelegenheiten in allen Bereichen annahm. Stets fand er bei den Gesprächen über die Wieder- oder Neueinstellung die

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Zeit, sich die Sorgen und Nöte der Richter, Beamten und Angestellten in jenen Jahren anzuhören. Jedem, der zu ihm kam, versuchte er mit menschlichem Verständnis und vornehmer Gesinnung gerecht zu werden. Daß die Personalpolitik der Hamburger Justiz in dieser Zeit mit einer besonderen Objektivität und menschlichen Anteilnahme geführt wurde, ist in erster Linie ihm zu danken. Viele Beispiele ließen sich für die menschliche Wärme anführen, welche alle Bedrängten empfanden, die in ihm nicht nur ihren Vorgesetzten sahen, sondern sich ihm auch in rein persönlichen Fragen immer wieder - um einen väterlichen Rat bittend- anvertrauten. Wer sieht ihn nicht noch auf seinem morgendlichen Fußweg zum Sievekingplatz gemächlichen Schritts über die sogenannte "Beamtenlaufbahn" am Halstenglacis gehen, sich nach Begleitern umschauend, immer das Gespräch mit dem Menschen suchend, der in seiner Fürsorge stand? Wie sehr berührten ihn gelegentliche mitunter recht unsachliche -Angriffe gegen seine damalige Personalpolitik - wie schmerzte es ihn, wenn ihn einmal Menschen, denen er sein gütiges Vertrauen geschenkt hatte, enttäuschten. Das große Ansehen, das Sommerfeld vor allem auch bei der Anwaltschaft genoß, führte dazu, daß er mit vielfältigen Nebentätigkeiten betraut wurde. Eine Reihe bedeutender Schiedsgerichtsverfahren hatte er zu führen. Seit 1951 hatte er auch den Vorsitz im Gerichtshof für die Heilberufe in Harnburg inne. Der Senat der Freien und Hansestadt ernannte ihn am 17. August 1954 zum Landgerichtspräsidenten. Bis zu diesem Zeitpunkt seit dem 14. Oktober 1953 kraft Verfassung als Vizepräsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts Mitglied des Harnburgischen Verfassungsgerichts, wurde er am 7. Juli 1956 erneut zum Verfassungsrichter berufen. Sommerfeld verstarb vor Erreichen der Altersgrenze am 26. Januar 1963, gezeichnet von den schweren Lasten, die sein Leben ihm zu tragen aufgegeben hatte. Zu früh war ein Richterleben zu Ende gegangen, dem unbedingte Geradheit so eigen war, daß sie ihn selbst die Konflikte mit dem sogenannten Verwaltungsgeschick, das vielfach andere Wege beschreiten mußte, nicht leicht, in keinem Falle aber je ohne inneres Widerstreben, bestehen ließ. Ludwig Willers wurde am 30. April1887 zu Harnburg geboren. Die Königliche Prüfungskommission des Christianeums in Altona erkannte ihm am 19. September 1907 das Zeugnis der Reife zu und entließ ihn -wie es hieß- "um Jura zu studieren ... mit den besten Wünschen und Hoffnungen". Nach rechtswissenschaftliehen und nationalökonomischen Studien an der Königlichen Universität Marburg und der Königlichen Christian-Albrechts-Universität zu Kiel legte Willers am 3. Februar 1911 vor der Kommission für die erste juristische Prüfung bei dem Königlichen Oberlandesgericht Kiel das Referendarexamen ab. Nach dem Vorbereitungsdienst im Bezirk des Hanseatischen Ober-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 93 landesgerichts bestand er am 9. Juli 1914 vor der Justizprüfungskommission unter dem Vorsitz des damaligen Senatspräsidenten Dr. Mittelstein die zweite juristische Staatsprüfung. Am 10. Juli 1914 wurde er zum Assessor ernannt. Vom April1915 bis zum September 1918 - zu diesem Zeitpunkt Leutnant d. R. - leistete Willers Kriegsdienst und wurde ausgezeichnet. Noch in englischer Gefangenschaft, wurde er mit Wirkung vom 1. Januar 1919 zum Amtsrichter beim Amtsgericht Cuxhaven ernannt. Seit dem 1. Januar 1920 an das Amtsgericht Harnburg versetzt, wurde er hier zum 1. Juli 1927 Amtsgerichtsdirektor. Nach Tätigkeiten in den verschiedensten Geschäftsbereichen des Amtsgerichts ernannte ihn der Senat auf den 1. Januar 1930 zum Landgerichtsdirektor. Willers wurde einer der besten Zivilkammervorsitzenden. Als Spezialist auf dem Gebiet des Miete-, Patent- und Wettbewerbsrechts erwarb er sich einen Ruf. Seine umfangreichen kaufmännischen und wirtschaftlichen Erfahrungen kamen ihm in der hamburgischen Rechtsprechung besonders zustatten. Immer wieder werden seine unbestechlich kritische Betrachtung aller Lebensvorgänge, sein weiter Blick und sein gewandtes Auftreten gerühmt. Mitunter erschien er in gewissem Grade unnahbar; auch trat bisweilen die Ungeduld des rascher Denkenden und zupackender Handelnden zutage, die sich für den Außenstehenden fast ein wenig abweisend ausnehmen konnte. Zu vielfältigen Nebentätigkeiten wurde Willers herangezogen. In den Berufsgerichten der Ärzteschaft wirkte er mit. In der Öffentlichen Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle war er Berater. Welches hohe Ansehen und Vertrauen Willers in Kreisen der Anwaltschaft und der Hamburger Wirtschaft genoß, zeigt sich vor allem in Zahl und Bedeutung der Verfahren, in denen er das Amt des Schiedsrichters ausübte. Der Oberlandesgerichtspräsident empfahl ihn besonders als Richter für internationale Schiedsgerichte. Für beträchtliche Nachlässe wurde ihm die Testamentsvollstreckung übertragen. Viele Ausarbeitungen zu Ausbildungs- und Prüfungsfragen entstammen seiner Feder. Seit dem 18. Oktober 1934 war er Mitglied des Justizprüfungsamts beim Oberlandesgericht, seit dem 13. November 1934 Mitglied der Zweigstelle Harnburg des Reichsjustizprüfungsamtes. Wie stark Willers in Harnburg verwurzelt war, zeigte sich, als er es ablehnte, sich für eine Verwendung beim Reichsgericht vorschlagen zu lassen. Bemühungen des damaligen Oberlandesgerichtspräsidenten, ihn 1941 zum Senatspräsidenten ernennen zu lassen, blieben ohne Erfolg. Nach dem Zusammenbruch konnte Willers anerkennend bescheinigt werden, daß er auch in schwersten Zeiten seine Unabhängigkeit vollständig bewahrt und seinen Weg dort, wo er es beim aktiven Eintreten für Verfolgte für geboten gehalten hatte, aufrecht und kompromißlos gegangen sei. Am 1. April1947 ernannte ihn der Präsident des Zentraljustizamtes zum Senatspräsidenten. Der

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Vorsitz im neu gebildeten 3. Zivilsenat wurde ihm übertragen. Ab 1953 saß er dem 5. Zivilsenat vor. Besonders verdient gemacht hat sich Willers im Oberlandesgericht auch um die hamburgische Rechtsprechung in Wiedergutmachungssachen. Am 30. April1955 trat er in den Ruhestand. Glückwünsche des Sievekingplatzes und der Drehbahn anläßlich der vielen Geburtstage, die ihm in diesem Lebensabschnitt noch vergönnt waren, konnte er trotz zunehmender Beschwerden immer noch mit Freude entgegennehmen. Auf den Gratulationsbrief des Justizsenators zu seinem 75. Geburtstag erwiderte er in seinem Dankesschreiben: Ihm selbst sei es immer noch verwunderlich, wie schnell die Jahre vergangen seien; es bleibe die alte Frage: "Habe ich mein Leben geträumt, oder ist es wahr?" Am 2. Dezember 1975 starb mit Ludwig Willers eine wahrhaft zu einem königlichen Richter berufene Persönlichkeit. Hans Gramm ist durch seine Geburt am 3. Mai 1906 hamburgischer Staatsangehöriger geworden, weil - wie der Lebenslauf anzuführen weiß - sein Vater diese Staatsangehörigkeit 1891 erworben hatte. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Harnburg bei so berühmten Rechtslehrern wie Liepmann, Reichel, Raape, Bruck, Perels, Wüstendörfer und von Laun bestand er am 19. November 1927 vor dem Prüfungsausschuß der Kommission für die erste juristische Prüfung, bestehend aus dem Präsidenten von Dassel als Vorsitzendem. dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Bacmeister und den Prof.essoren Dr. Perels und Dr. Raape aufgrund seiner überwiegend sehr guten mündlichen Leistungen das Referendarexamen mit "recht gut". Den Vorbereitungsdienst absolvierte er im Bezirk des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät wurde er mit einer Arbeit über "Das Wesen des Testamentsvollstreckers, erläutert an der Rechtsprechung" am 2. Mai 1929 "magna cum laude" zum Doktor der Rechte promoviert. Sein schon damals ausgeprägtes Interesse an wirtschafliehen Vorgängen in allen Bereichen bewies er auch während des Vorbereitungsdienstes durch eine Tätigkeit bei den Hamburger Gaswerken. Die zweite juristische Staatsprüfung legte Gramm vor der Prüfungskommission, bestehend aus den Präsidenten Dr. Grisebach und Dr. Sievers sowie dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Schultz am 14. März 1931 mit dem Prädikat "gut" ab. Am 16. März 1931 zum Assessor ernannt, wurde er nach kurzer Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft zur Landesjustizverwaltung abgeordnet. Seit dem 1. Mai 1933 bis Ende 1934 war er als Richter bei dem Amtsgericht Harnburg tätig. Vom 1. Januar 1935 an wurde Gramm -zunächst im Abordnungsverhältnis als Hilfsreferent - im Reichsjustizministerium in Berlin beschäftigt. 1937 wurde er Amtsgerichtsrat, 1939 Oberregierungsrat und 1941 Ministerialrat. Aus diesem Abschnitt seiner Tätig-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 95 keit als ein immer guter Sachwalter Hamburgs stammt seine bekannte Arbeit über "Das neue deutsche Seefrachtrecht nach den Raager Regeln" (1938). Für die 10. Auflage des "Staudinger" im Jahre 1939 kommentierte er das Einführungsgesetz. Nach der Entlassung des damaligen Staatssekretärs Dr. Schlegelberger, dessen persönlicher Referent er gewesen ist, im Herbst 1942, verließ auch Gramm das Reichsjustizministerium, um von März 1943 bis zum Zusammenbruch Kriegsdienst bei der Wehrmacht - zuletzt als Leutnant d. R. - zu leisten. Bis zu seiner Wiedereinstellung in den Hamburger Justizdienst war er u. a. bei der Dresdner Bank beschäftigt. Am 18. Dezember 1946 konnte er zum Oberlandesgerichtsrat ernannt werden. Schon 1949 begründete der Präsident des Oberlandesgerichts einen Einweisungsvorschlag in eine neue Besoldungsgruppe damit, daß Gramm zu den besten Richtern des Bezirks zähle und für jede gehobene Stellung, Senatspräsident, Präsident eines Gerichts und Bundesrichter geeignet sei. Seit 1948 war Gramm mit Genehmigung des Personalamts des Senats und auf Vorschlag der Senatskommission für die Justizv.erwaltung als Gutachter und Berater der Deutschen Bank - Zentralstelle Harnburg - tätig. Als ihm Anfang 1950 das Angebot unterbreitet wurde, in die Direktion der neu zu errichtenden Hamburger Kreditbank - früher Dresdner Bank - einzutreten, lehnte .er ab, und zwar ausdrücklich mit dem Hinweis, daß er seinem Ideal, Richter zu sein, treu bleiben möchte. Desgleichen lehnte der so fest in seiner Heimatstadt Wurzelnde Ende 1950 eine Berufung an den Bundesgerichtshof ab. Am 14. Oktober 1953 wurde Gramm zum Senatspräsidenten ernannt. Gegenüber zwei älteren, gleichfalls hervorragend beurteilten Richtern wurde dem 47jährigen der Vorzug gegeben, weil er über die umfassendsten Rechtskenntnisse verfüge, die Verhandlungen am straffsten leite und das beste Judiz besitze. Keineswegs erscheint es als übertrieben zu sagen, daß damit die dynamischste Richterpersönlichkeit im Harnburg der Nachkriegszeit in eines der schönsten Richterämter einrückte, das hier zu vergeben ist. Mit dem von ihm geführten 6. Zivilsenat bearbeitete er als Spezialsachen bis 1959 u. a. die Erbrechtsstreitigkeiten, danach seine geliebten Seerechts- und Binnenschiffahrtssachen. Gramm prägte als Vorsitzender mit seiner geistigen Überzeugungskraft die Rechtsprechung seines Senats. Die vor Bewunderung freundlich lästernde Fama vom Sievekingplatz wußte dieses Faktum mit dem hübschen Ondit zu unterstreichen, daß es im Grammsehen Senat immer nur einmal im Jahr zu kontroversen Beratungen zu kommen pflege, bei denen der Vorsitzende gelegentlich auch einmal Gefahr laufe, überstimmt zu werden: wenn Ort und Zeitpunkt der Weihnachtsfeier erwogen würden.

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Wird das gesamte Wirken dieses Mannes rückblickend betrachtet, so drängt sich die bedrückende Erkenntnis auf: Solches konnte nur damit enden, daß die schier unerschöpflich erscheinenden Kräfte allzufrüh aufgezehrt wurden. Für Gramms vielfältige Aktivitäten außerhalb seines Hauptamtes legen ein beredtes Zeugnis ab: Das Schiedsgerichtswesen der Nachkriegszeit in dieser Stadt ist von ihm wie von keinem anderen geprägt worden. Noch heute wird die sogenannte Grammsehe Formel zur nachprüfungssicheren Feststellung aller Formalien überall zugrunde gelegt. In einer Fülle bedeutender Schiedsgerichtsverfahren zwischen Parteien des In- und Auslandes ist Gramm als Obmann oder Schiedsrichter tätig gewesen. 1954 wurde er Vizepräsident des Ehrengerichts des Bundesverbandes des Privaten Bankgewerbes (e.V.) in Köln. Ab 1959 war er stellvertretender Schiedsrichter beim Schiedsgericht nach Artikel 108 ff. des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen; der Bundesminister der Justiz bestellte ihn zum deutschen stellvertretenden Vorsitzenden in dem Schiedsgericht nach ArtikellOB des Vertrages. 1962 wurde Gramm Vorsitzender des Ausschusses für die Reform des Seehandelsrechts, des Deutschen Vereins für Internationales Seerecht und im Ausschuß über die Neuregelung der Konossementshaftung. Mit Wirkung vom 8. Mai 1963 ernannte ihn der Senat zum Mitglied des Harnburgischen Verfassungsgerichts, am 21. April1964 zum Honorarprofessor an der Universität. Seit der 7. Auflage 1949 war er Mitarbeiter am BGB-Kommentar von Palandt; er kommentierte den besonderen Teil des Rechts der Schuldverhältnisse. Neun Jahre - von 1955 bis 1964 - wirkte Gramm als 1. Vorsitzender im Harnburgischen Richterverein. Dem RichterwahlausschuB gehörte er von 1955 bis zu seinem Tode als stimmberechtigtes Mitglied an - wobei vielfach hervorgehoben wurde, daß das der Zahl nach bestehende Ungleichgewicht in der Zusammensetzung des Ausschusses - mit nur drei richterlichen Mitgliedern - in all den Jahren nur deshalb kaum spürbar geworden sei, weil eine solche Persönlichkeit den stimmführenden Platz auf der Richterbank eingenommen hatte. Gramm hat auch maßgebend zur Fassung der ersten Geschäftsordnung des Richterwahlausschusses beigetragen. Als er am 10. September 1967 in Keitum auf Sylt einem Herzschlag erlag, war die Anteilnahme aus dem In- und Ausland groß. Die Hamburger Justiz hatte - wie der damalige Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Reinhart Vogler es ausdrückte - einen Mann verloren, dessen Ruf als lebenskluger, hervorragender Richter hanseatischer Prägung und als Wissenschaftler weit über Hamburgs Grenzen hinausreichte. Helmuth Brauer, aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie stammend, erblickte am 17. Dezember 1905 in Potchefstroom in der Südafrikani-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 97 sehen Union das Licht der Welt. Von 1915 bis 1924 besuchte er das Johanneum in Harnburg und verließ die Anstalt am 15. September 1924 mit dem Zeugnis der Reife. Nach zweijähriger kaufmännischer Lehre nahm er im Wintersemester 1926/27 das Jurastudium an der Universität Berlin auf, setzte es vom Wintersemester 1928/29 bis zum Sommersemester 1930 an der Universität Harnburg fort und legte seine erste juristische Staatsprüfung mit dem Prädikat "fast gut" am 17. Dezember 1930 in Harnburg ab. Sogleich zum Gerichtsreferendar ernannt, ließ er sich alsbald beurlauben, um sich zunächst voll und ganz dem Gebiet zu widmen, das sein berufliches Leben durchgehend beherrschen sollte: der Ausbildung des juristischen Nachwuchses. In Ettlingers Repetitorium - Hamburgs bekanntestem jener Jahre, später von Foth als Fernlernkurs vertrieben - wurde er Assistent. Die noch Lebenden der damaligen Studenten- und Referendargeneration wissen immerwährend zu rühmen, daß der Gehilfe den Meister schon nach kurzer Zeit überflügelt hatte. Sachprodukte jenes Abschnitts waren eine Vielzahl von Fällen, die bereits durch die feste Namensgebung für die jeweils Beteiligten sozusagen auf Unsterblichkeit angelegt waren. Wem wären nicht unter anderem die (stets gutgläubige) Pfarrerswitwe Ohlsen, der (immer bösgläubige) Rechtskonsulent Schabe, das Kurtehen als Repräsentant für alle minderjährigen Nichtehelichen sowie Eva Flügge als Verlobte und Ehefrau zum unvergeßlichen Begriff geworden? Nachdem Brauer seinen Vorbereitungsdienst fortgesetzt und beendet hatte, bestand er seine zweite Staatsprüfung vor der Zweigstelle Harnburg des Reichsjustizprüfungsamtes am 24. Juli 1937 mit "lobenswert". Als frischgebackener Assessor suchte und fand er den Weg zur Universität: Am 1. November 1937 wurde er am Seminar für bürgerliches Recht wissenschaftlicher Assistent bei seinem hochverehrten Lehrer Professor Leo Raape, in dem - wie so viele - auch er den großen pädagogischen Zauberer sah und dem er deshalb später seinen schon erwähnten "Zivilrechtsfall" gewidmet hat. Während dieser Zeit rang Brauer auch mit seinen Dissertationsthemen: Zunächst beabsichtigte er über die unentgeltlichen Rechtsgeschäfte zu forschen; schließlich entschied er sich für diesen Gegenstand: "Der Eigenschaftsirrtum (Eigenschaftsirrtum und Fehlspekulation) - ein Beitrag zur Auslegung und zur Kritik des § 119 Abs. 2 BGB." Die Arbeit wurde mit "summa cum laude" bewertet. Am 29. August 1940 - kurz vor der Einberufung zum Kriegsdienst - folgte das Rigorosum. Der hohe wissenschaftliche Rang seiner Doktorarbeit, die neben der grundlegenden Förderung des richtigen Verständnisses dieser schwierigen Norm einen ausgezeichneten Anschauungsunterricht für das methodisch allein richtige Vorgehen in der Jurisprudenz geliefert hat, scheint - vielleicht bedingt durch die Kriegsverhältnisse - im Schrifttum erst verhältnismäßig spät er7 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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kannt worden zu sein. Darüber, daß seine Thesen in der 14. Bearbeitung (1954) des Enneccerus von Nipperdey herangezogen worden sind, ist Brauer dann besonders stolz gewesen. Der Krieg hatte Brauer vom 1. September 1940 - mit Ausnahme einer halbjährigen Unterbrechung vom Januar bis Juli 1943, als er unter Emennung zum Amtsgerichtsrat an das Reichsjustizministerium (Reichsjustizprüfungsamt) abgeordnet wurde - bis zum Zusammenbruch in Intendanturstellungen der Luftwaffe gesehen. Am 22. Juni 1946 wurde er aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen. Sein reger Geist schwankte, ob er sich endgültig der wissenschaftlichen Laufbahn zuwenden oder an den Richterberuf binden sollte. Die Weitschichtigkeit seiner juristischen Interessen, vor allem aber der Umstand, daß seine ganze Neigung nach wie vor der Ausbildung des juristischen Nachwuchses galt, hinderten ihn, seine Habilitationsschrift fertigzustellen. Schon bald hatte der Plan von ihm Besitz ergriffen, ein Lehrbuch zu schreiben, das die Wissenschaft vom bürgerlichen Recht und dem Zivilprozeßrecht näher an die Bedürfnisse der Praxis heranrücken sollte. Aus der "Liquidationsmasse" seiner Habilitationsschrift konnte er später nur noch unter dem fast feinsinnig doppeldeutig erscheinenden Titel "Das Begriffspaar ,Schiff' und ,Wrack'" (MDR 1955, 453) kluge Gedankensplitter veröffentlichen- es ging in der Tat um Probleme des Seerechts, das dem Hamburger nebenbei so sehr ans Herz gewachsen war, daß er ein glänzendes Skriptum zur Einführung in dieses Rechtsgebiet und dabei im Rahmen der Behandlung des Konnossementsrechts sogar noch einen kleinen Grundriß des Wertpapierrechts verfaßte. Unter Sommerfelds sanftem Drängen hatte Brauer sich dann im Spätsommer 1947 entschieden, zum 1. Oktober jenes Jahres eine richterliche Tätigkeit am Amtsgericht Harnburg aufzunehmen. Vornehmlich die Verfahren nach der Hausrats-Verordnung hatte er durchzuführen. Selbst aus diesem Bereich gewann er für seine Fälle, die er in den Arbeitsgemeinschaften für Relationstechnik, Zivil- und Zivilprozeßrecht behandelte, einprägsame Beispiele. Ende 1949 wurde Brauer als Hilfsrichter an das Oberlandesgericht abgeordnet und zugleich - wie es damals noch hieß - zum rechtsgelehrten Beisitzer im Oberverwaltungsgericht ernannt. Damit sollte für ihn der letzte, wohl aber bedeutendste Abschnitt seines Wirkens als Richter und vor allem als spiritus rector der Ausbildung des juristischen Nachwuchses in Harnburg beginnen. Die Notwendigkeit, sich als "Zivilist" im Oberverwaltungsgericht zum ersten Mal intensiv mit dem ihm nicht so vertrauten öffentlichen Recht zu befassen, empfand dieser Geist als eine ungemein reizvolle Herausforderung. Selbst eingefleischte Öffentlichrechtier räumten bald ein, daß der hohe Stand von Brauers zivilrechtlichem und zivilprozessualem Denkvermögen auch den Ver-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 99 waltungsgerichtsverfahren sehr zugute kam. Die Lösungen, die er seinen Kollegen in den von ihm als Berichterstatter zu bearbeitenden Fällen vorschlug, waren nicht selten frappierend. Sein prägnanter, unverkennbarer Stil in manchen grundlegenden Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt läßt noch heute eindeutig auf den Urheber schließen. Wohl in keiner Entscheidung ist Brauers Arbeitsweise und geistige Haltung deutlicher hervorgetreten als in jenem denkwürdigen Vorlagebeschluß des IL Senats vom 28. Februar 1952 (JZ 1952, 416), der in einem Verfahren wegen der Rechtmäßigkeit eines Hundesteuerbescheides über 20 DM das Bundesverfassungsgericht veranlassen sollte, das Problem der Rückwirkung von Gesetzen in seiner ganzen Breite aufzurollen. Brauer als Berichterstatter hatte dies getan: Das Grundgesetz sei im Geiste der humanen und liberalen abendländischen Tradition auszulegen, der es entstamme; in der abendländischen Geistesgeschichte seien seit je stärkste Bedenken gegen die echte Rückwirkung von Gesetzen geäußert worden. Bei seinen engagierten Forschungen setzte er bei Platos sokratischem Dialog "Theaitetos" an. Ersichtliches Vergnügen bereitete es ihm - wie sein Beschlußentwurf ausweist -, auf seinem weiteren Weg durch die Rechtsgeschichte zu entdecken, daß es nur zwei Verfassungsurkunden gibt, welche die Rückwirkung ausdrücklich verbieten: Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika durch Art. I Abschnitt 9 § 3 für jedes "ex post law" und die Verfassungsurkunde von Sachsen-Altenburg, die in ihrem § 47 das Rückwirkungsverbot in den Rang von Verfassungsrecht erhoben hat. - Als Brauer im Herbst 1950 gefragt wurde, ob er an einer Verwendung am Bundesgerichtshof interessiert sei, lehnte auch er es ab, sich für diese ehrenvolle Berufung vorschlagen zu lassen. Mit Wirkung vom 2. September 1952 emannte ihn der Senat zum Oberlandesgerichtsrat. Seine volle Energie verwandte Brauer sodann darauf, seinen "Zivilrechtsfall" zu schaffen. Dabei mußte er fortwährend um die höchste Vollendung bemüht sein: Trat er doch - von der sogenannten strengen Wissenschaft ob eines solchen Lehrbuchs ohnehin ein wenig belächelt- zu dem überwiegenden, bisher zur Relationstechnik erschienenen Schrifttum in einen schroffen Gegensatz und wuchs auch über Atzler, dem der erste Aufbruch zu diesen neuen Ufem zu danken war, beträchtlich hinaus. Brauer hat das schwere Ringen mit dieser Aufgabe, die ihm in jeder Hinsicht alles abverlangte, durchgestanden: Ende 1953 konnte er sein Lehr- und Schulungsbuch für junge Juristen vorlegen. Sein "Indocti discant et amet meminisse peritus" schmückt wohl so manches vom Verfasser dedizierte Exemplar der ersten Auflage. Der große Erfolg dieses Werkes findet seine Erklärung - neben der Vermittlung einer vorbildlichen Denkschulung und der Umrisse einer 7•

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Methodenlehre sowie dem Rüstzeug für jede praxisbezogene rechtswissenschaftliche Arbeit - wohl letzten Endes in dem besonderen geistigen Charme, den Brauer in Fülle auch hier hat einfließen lassen. Schon seinem Vorwort hat er ein Motto vorangestellt, das er einem bedeutenden Prosaisten unserer Zeit, dem leider ebenfalls viel zu früh verstorbenen Stilkundler Ludwig Reiners, entlehnt hat: "Wer für alle schreibt, muß lebendig schreiben. Er muß den Glauben hinter sich werfen, daß nur langweilige, nur steife, nur würdevolle Bücher ,seriös' und ,wissenschaftlich ernstzunehmen' seien." Seine nicht selten sarkastischen Bemerkungen gingen mitunter noch weiter. In seiner immerfort tiefen Skepsis gegenüber mancher spürbaren allzu großen Lebensfremdheit sogenannter reiner Geisteswissenschaften wählte er einmal sogar das Bonmot zur Devise: "Eine Unze Heiterkeit wiegt eine Tonne Heidegger auf!" Wer die eigentliche Welt Brauers aufzuspüren versuchte, nahm und fand ganz sicher einen Zugang auch über seine vielen geistvollen Schüttelreime und Rätsel. Die letztgenannten - wie manche seiner juristischen Aufgaben zur Schärfung des Verstandes mit listigen Fallstricken versehen - in kleine Verse zu gießen, war nicht selten eine nutzenstiftende Beschäftigung während seines morgendlichen Dienstweges - wie zum Beispiel solche Charade: "Nun leiht mir bitte Euer Ohr Und löst mir dies Problem: Mein Erstes trägt man rührend vor Mein Zweites sitzt bequem. Der Eingang ist mein Wirkungsfeld Zugleich auch mein Versteck. Ich rege mich, sobald es schellt, Doch ungern nur vom Fleck. Ich könnte wohl diskreter sein Und halte dennoch dicht. Beschwingte Pilger laß ich ein, Doch andre Gäste nicht." Oder eine etwas schlichtere Übung für Anfänger: "Das Erste hat etwas Ergreifendes. Das Zweite ist meist auf dem Laufenden. Ein Weib (wohl ein sommerlich reifendes) Zum Kühnsten der ritterlich Raufenden: "Entreißt Ihr das Ganze den Grausigen, Ich nehm Euch zum Schatz, zum herztausigen." (Zu weiterer Forschung Erbötige Erfahren bei Schiller das Nötige!) Mit seiner Rätselsammlung "Aenigmagie" wollte Brauer dem Andenken Franz Brentanos huldigen, den er als scharfsinnigen Verfas-

Grundsteine für Prüfung und Ausbildung durch Hamburger Richter 101 ser des "Aenigmatias" so sehr schätzte. Möglicherweise gibt eine knappe Charakterisierung Brentanos aus Brauers Feder mehr noch als manches andere einen letzten Aufschluß auch über seine eigene Lebensphilosophie: ein lächelnder Weise, ein wahrhaft attischer Geist, der nicht nur zu forschen, sondern auch zu spielen verstand! Eine unheilbare Krankheit, die ihn in seinen letzten Jahren immer spürbarer aufgezehrt hatte, endete Brauers Leben am 12. Mai 1957. Als acht seiner Schüler ihn zu Grabe trugen, sprach der Präsident des Oberlandesgerichts Professor Dr. Ruscheweyh in Anwesenheit des tief bewegten, damals fast 79jährigen Professors Leo Raape davon, daß sich damit der Kreis dieses reichen, erfüllten Lebens vom Lehrer zum Schüler, der wieder Lehrer wird, zu seinen Schülern, die an seinem Sarge ständen, schließe. Sicherlich darf das von Ruscheweyh bei dieser Trauerfeier gewählte Wort vom herzlichen und aufrichtigen Dank, zu dem sich die Hamburger Justiz auf Generationen hinaus Brauer gegenüber wegen seiner Verdienste um den juristischen Nachwuchs verpflichtet wisse, auf alle Richterpersönlichkeiten ausgedehnt werden, deren Leben und Wirken in diesem Beitrag beschrieben worden ist.

Zum Stand der einstufigen Juristenausbildung nach dem Hamburger Modell* Von Walter StiebeZer I. Einleitung Es liegt auf den ersten Blick nicht nahe, in einer Festschrift für Dr. Walter Reimers Bemerkungen zur einstufigen Juristenausbildung in Harnburg zu machen. Denn bis zuletzt ist er nicht Apologet, sondern aufmerksamer Kritiker dieser Ausbildungsform gewesen, der mit Engagement vor Fehlentwicklungen gewarnt und auf Mißstände hingewiesen hat. Für alle, die mit der Juristenausbildung befaßt sind, ist jedoch das Experiment der einstufigen Juristenausbildung und die Bewältigung der Aufgaben, welche der juristischen Praxis hierbei zugefallen sind, ein zentrales Thema, an dem Dr. Reimers stets besonderen Anteil nahm. Gleichzeitig soll mein Beitrag eine Würdigung der Leistungen sein, die Dr. Reimers als Mitglied der Reformkommission "Juristenausbildung", die den Grundstein für das Hamburger Modell einer einstufigen Juristenausbildung legte, erbracht hat. Wenn auch meine Einflußnahme auf die Gestaltung des Hamburger Modells von unterschiedlicher Intensität war und meine Stellung zum Hamburger Modell im Verlauf seiner Realisierung Wandlungen unterlegen ist, so möchte ich doch zu Beginn eines deutlich machen: Der Ansatz für die bundesweiten Bemühungen um eine Reform der Juristenausbildung, nämlich die damals allgemein geübte Kritik am Verlauf und den Ergebnissen der herkömmlichen Juristenausbildung, findet nach wie vor meine Zustimmung, sie hat im Grundsatz auch heute noch ihre Berechtigung. Ich nenne hierzu beispielhaft folgende Punkte: 1. Es erscheint mir heute wie damals fragwürdig, daß der angehende Jurist vor der Ersten Juristischen Staatsprüfung ein Studium von inzwischen fast 11 Semestern ohne Kontakt mit der juristischen Praxis 1 • Mit diesem Beitrag soll versucht werden, zu Beginn des Jahres 1979 eine Zwischenbilanz aus der Sicht der Praxisausbildung zu ziehen. 1 Eine Ausnahme bildet in Harnburg das achtwöchige Praktikum nach § 6 JAO, von dem z. Z. ca. 100 Studenten pro Semester Gebrauch machen.

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ableistet, obwohl er in aller Regel einen praktischen Beruf ausüben wird. 2. Angesichts der Dauer der Universitätsausbildung im Vergleich zum Referendariat halte ich es für einen Mangel, daß die Inhalte der universitären Ausbildung nur wenig auf die berufspraktischen Bedürfnisse zugeschnitten sind. 3. Es scheint mir der Funktion einer Universität zu widersprechen, daß die Studenten ihre langwierige Vorbereitung auf das Erste Juristische Staatsexamen überwiegend mit Hilfe eines Repetitors, also außerhalb der Universität betreiben. 4. Der didaktische Wert von Großvorlesungen, die sich an sämtliche Studenten eines Semesters richten, ist fragwürdig, wie sich auch an der oft nur geringen Teilnehmerzahl zeigt. 5. Die Ausklammerung der Erkenntnisse anderer Wissenschaften aus den Lehrinhalten der Rechtswissenschaft halte ich, auch bei Kenntnis der Problematik, welche der Versuch einer Integration von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften bedeutet, für eine zu bedauernde Verengung des juristischen Blickwinkels. 6. Bei allem Verständnis für die Bemühungen des Gesetzgebers, die Ausbildungszeit insgesamt zu verkürzen und einen früheren Eintritt in das Berufsleben zu ermöglichen, halte ich es für einen folgenschweren Mangel, daß das Referendariat und damit der Anteil der praktischen Ausbildung gesetzlich immer weiter, zuletzt auf zwei Jahre, reduziert wurde. Um nicht mißverstanden zu werden: Diese Kritik an der zweistufigen Juristenausbildung ist nicht als Vorwurf an den Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg, an einzelne Hochschullehrer oder Ausbilder zu verstehen, sondern richtet sich vor allem gegen die sachlichen und personellen Bedingungen der modernen Massenuniversität. Ich halte es jedoch für notwendig, sich diesen Ausgangspunkt noch einmal vor Augen zu rufen und bei aller Kritik an der Planung und Realisierung der einstufigen Juristenausbildung einzubeziehen, daß auch die herkömmliche Juristenausbildung den Wünschen, die im Interesse der Universität und der juristischen Berufsstände an sie zu stellen sind, zum Teil nicht entspricht. Konsequenz der Kritik sind die in§ 45 a JAQ 1a genannten, gegenüber der herkömmlichen Ausbildung wesentlich veränderten, Ziele und ta

Eingefügt durch Gesetz zur Änderung der einstufigen Juristenausbildung

vom 27. 2.1978 (GVBl. S. 63).

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 105 Methoden der einstufigen Ausbildung. Sie beruhen auf den Überlegungen, die ich bereits im Jahre 1970 als Ergebnis der Arbeit der Reformkommission, deren Vorsitzender ich war, zusammengeiaßt habe 2 • Nachdem inzwischen 5 Jahrgänge mit je 100 Studenten das Studium begonnen haben und sich der erste Jahrgang dem Ende des Studiums nähert - der Termin zur Meldung zum Abschlußverfahren ist der 10. 1. 1980 -, drängt die Frage, welche Erkenntnisse die Durchführung der einstufigen Juristenausbildung in Hinblick auf die Erreichbarkeit dieser Ziele und der Richtigkeit der Methoden gebracht hat. Hierzu kann vorerst nur eine auf Beobachtungen beruhende vorläufige Einschätzung gegeben werden. Eine genauere Auswertung wird erst möglich sein, wenn mehr als ein Jahrgang das Abschlußverfahren durchlaufen hat, vielleicht erst, wenn Erfahrungen im Berufsleben mit den Absolventen der .einstufigen Ausbildung vorliegen. Mit den folgenden Bemerkungen soll daher in erster Linie eine Beschreibung des Entwicklungszustands der einstufigen Juristenausbildung und der bis heute aufgetretenen Probleme versucht werden.

II. Errichtung des Ausbildungs- und Prüfungsamtes Mit Gesetz vom 27.2.19783 wurde beim Oberlandesgericht ein selbständiges Ausbildungs- und Prüfungsamt für die einstufige Juristenausbildung errichtet. Dieser Zeitpunkt war für eine sorgfältige Planung der Ausbildungsaufgaben im zweiten Studienabschnitt viel zu spät; denn die Studenten des 1. Jahrganges befanden sich bereits am Schluß des ersten Halbjahres des zweiten Studienabschnittes. Auch eine Einbeziehung des Amtes in die Konzeption des Prüfungsverfahrens war kaum noch möglich. Zwei Fragen von weitreichender Bedeutung waren es insbesondere, die mit der Errichtung dieses Amtes zu entscheiden waren. Zum einen ging es um die Frag.e, ob eines der bestehenden Prüfungsämter4 mit der Abschlußprüfung für die einstufige Juristenausbildung betraut werden sollte - zum anderen um die Frage, ob es geboten war, den Präsidenten des Oberlandesgerichts in Personalunion zum Präsidenten des neuen Amtes zu berufen. Einigkeit bestand hingegen schon seit der Konzeption des Hamburger Modells durch die Reformkommission darin, daß Planung und Leitung von Aus2 JZ 1970, 457. a Vgl. Anm.l a.

4 Justizprüfungsamt für die Erste Juristische Staatsprüfung und Gemeinsames Prüfungsamt der Länder Bremen, Harnburg und Schleswig-Holstein für die Große Juristische Staatsprüfung.

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bildung und Prüfung in der Hand einer Stelle liegen sollten; nur so schien eines der Reformziele, nämlich eine bessere Entsprechung von Ausbildung und Prüfung, erreichbar zu sein. 1. Errichtung eines eigenständigen Amtes

Nach den ursprünglichen Vorstellungen des Gesetzgebers sollte das Abschlußexamen vom Justizprüfungsamt, dessen Vorsitzender Dr. Reimers war, abgenommen werden. Dieser Gedanke war unter Einfluß der Sparmaßnahmen des Senats, welche die Konzeption des gesamten Experiments bedrohten und u. a. eine Beschränkung auf drei Studienjahrgänge vorsahen, geboren worden und beruhte auf der Annahme, daß die Errichtung eines eigenen Amtes zu höheren Aufwendungen führ.en würde 5• Jedoch hätte ein Abschlußverfahren beim Justizprüfungsamt ohne dessen grundlegende Veränderung nur den universitären Teil des Abschlußverfahrens übernehmen, nicht aber das Examen für die Praxisausbildung abnehmen können; auch ging es nicht nur um die Schaffung eines Amtes mit Prüfungskompetenz, sondern gleichrangig um die Errichtung eines Ausbildungsamtes. Aus diesen Gründen und in der zusätzlichen Erwartung, daß ein eigenständiges Amt den Besonderheiten der einstufigen Ausbildung besser gerecht werden könne, blieb es bei dem Plan der Errichtung des Ausbildungs- und Prüfungsamtes in seiner heutigen Form. Auch im Bereich des Oberlandesgerichts angestellte Überlegungen, im Interesse einer Gleichwertigkeit des Examens das Gemeinsame Prüfungsamt für den auf die praktische Ausbildung bezogenen Prüfungsteil in Anspruch zu nehmen und nur für den universitären Teil ein neues Amt zu errichten, sind nicht weiter verfolgt worden. Eine Diversifizierung von praktischer und theoretischer Ausbildung im Prüfungsverfahren hätte dem Integrationsgedanken der einstufigen Juristenausbildung zu sehr widersprochen. 2. Leitung des Ausbildungs- und Prüfungsamtes

Auf einer anderen Ebene wurde die Frage diskutiert, ob das Ausbildungs- und Prüfungsamt beim Oberlandesgericht errichtet werden sollte und ob vor allem dessen Präsident zugleich Präsident des Ausbildungs- und Prüfungsamtes sein solle oder müsse (so jetzt §§ 53 a, 53 b Abs. 2 JAO). Ich habe hierzu in Übereinstimmung mit Dr. Reimers stets die Meinung vertreten, daß die gebotene Gleichwertigkeit des Abschlußverfahrens mit der Großen Juristischen Staatsprüfung nur 5

Bürgerschaftsdrucksache VII/2361 vom 10. 10. 1972, S. 683.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 107 hergestellt werden könne, wenn beide Prüfungsämter durch eine organisatorische Klammer verbunden würden. Eine andere Organisationsform wäre gegenüber den Studenten eine Verletzung der Fürsorgepflicht gewesen; denn sie hätte die Berufschancen der Studenten wesentlich verringert, ein Risiko, das angesichts der damals stetig steigenden Zahl arbeitsloser Juristen nicht eingegangen werden durfte. Auch schien es geboten, einen Erfahrungsaustausch mit den bestehenden Prüfungsämtern zu ermöglichen. Dennoch habe ich dieses Amt nur mit großem Zögern angenommen. Es bestand nämlich Anlaß zu der Befürchtung, daß zum einen die mit dem zusätzlichen Amt verbundenen schwierigen Aufgaben zeitlich - neben meinen Aufgaben als Präsident des Verfassungsgerichts, des Oberlandesgerichts, des Oberverwaltungsgerichts und des Gemeinsamen Prüfungsamtes - nicht mehr zu leisten sein würden und daß zum anderen die Leitungsbefugnisse des Präsidenten aufgrund der vorgeschlagenen weitreichenden Kompetenzen des Ausbildungs- und Prüfungsausschusses zu sehr beschnitten sein würden. Es entspann sich eine Diskussion um die verfassungsrechtliche Frage, ob der Landesgesetzgeber dem Präsidenten des Oberlandesgerichts ein derartiges aufwendiges Amt gegen seinen Willen aufdrängen könne. Gemeinsam mit Dr. Reimers habe ich den Standpunkt vertreten, daß der Präsident des Oberlandesgerichts ein solches Amt nicht anzunehmen brauche und auch nicht annehmen dürfe, wenn durch die Übernahme seine Arbeitskraft für den vorrangigen Bereich der übrigen Ämter als Gerichtspräsident nicht mehr ausreiche oder wenn er in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung an Entscheidungen eines Ausschusses gebunden sei, die er nicht für vertretbar halte. Dr. Reimers hat als Mindestbedingungen für die Leitung des Amtes formuliert: 1. Der Präsident muß eine Entscheidungskompetenz haben. Er darf insbesondere in Fragen des Prüfungsbetriebes und in grundlegenden Fragen des Prüfungssystems durch den Ausschuß nicht majorisiert werden können.

2. Das Abschlußverfahren muß eine echte Prüfung des Scheiteros- darstellen.

mit dem Risiko

3. Die Funktionsfähigkeit des Prüfungsamtes muß gewährleistet sein. Dies bedeutet, daß Fragen des alltäglichen Prüfungsbetriebes (z. B. Herrichtung von Prüfungsaufgaben und Prüfungsakten, Zuteilung von Aufgaben) nicht der Mitbestimmung irgendwelcher Gremien unterliegen dürfen. 4. Es dürfen keine Vorschriften geschaffen werden, die unsachgemäße Rückwirkungen auf die herkömmliche Ausbildung und Prüfung haben können.

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Diesen Bedenken hat der Landesgesetzgeber letztlich u. a. dadurch Rechnung getragen, daß er in §53 e Abs. 4 JAO ein Recht des Präsidenten des Ausbildungs- und PrüfungJSamtes vorsah, von den Beschlüssen des Ausschusses aus wichtigem Grund abzuweichen. Als solchen hat er insbesondere Beschlüsse angesehen, welche die Gleichwertigkeit der einstufigen Ausbildung gefährden oder von sachfremden Erwägungen getragen sein würden6 • 3. Aufbau des Ausbildungs- und Prüfungsamtes

Die organisatorische Struktur des Ausbildungs- und Prüfungsamtes beruht auf seinen mehrschichtigen Aufgaben und dem Pluralismus der an Ausbildung und Prüfung beteiligten Gruppen. Es ist zum einen nicht nur Prüfungsamt für den Erfolg der praktischen Ausbildung, sondern zugleich für den Abschluß des Universitätsstudiums, was eine Beteiligung der Universität im Prüfungsbereich erfordert. Es ist zum anderen nicht nur Prüfungsamt, sondern zugleich Ausbildungsamt, und zwar für die Organisation der gesamten Praxisausbildung, die, rechnet man die Vorbereitungsveranstaltungen mit, bereits im zweiten Semester beginnt. Wegen der Verzahnung von Theorie und Praxis erfordert auch dies eine institutionalisierte Beteiligung der Universität. Zudem ist das Ausbildungs- und Prüfungsamt nicht nur Verwaltungs-, sondern gleichzeitig Planungsbehörde hinsichtlich des Inhaltes und der Organisation von Ausbildung und Prüfung, was auch insoweit eine Beteiligung der betroffenen Gruppen geboten sein läßt. Daneben war der berufspraktischen Orientierung des Modells dadurch Rechnung zu tragen, daß die jeweiligen Berufsgruppen beteiligt werden. Schließlich ist es wegen des experimentellen Charakters des Modells notwendig, regelmäßig Erfolge und Mißerfolge festzustellen, d. h. die Ergebnisse der Ausbildungsabschnitte und später der Prüfung jeweils an den Ansprüchen zu messen und erforderlichenfalls zu korrigieren. Andererseits durften die genannten Mitwirkungsrechte nicht eine Lähmung des Amtes in Hinblick auf seine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bewirken. Die genannten Vorgaben führten zu der Regelung in §53 b JAO, die sich bis jetzt bewährt hat. Danach werden die Geschäfte des Ausbildungs- und Prüfungsamtes von seinem Präsidenten geführt, während der Ausbildungs- und Prüfungsausschuß, dessen Mitglieder sich aus den zu beteiligenden Gruppen zusammensetzen, vor allem eine Richtlinienkompetenz hat, §53 e JAO. Der Präsident des Ausbildungsund Prüfungsamtes wird von einem Hochschullehrer als Vizepräsident 6

Bürgerschaftsdrucksache 8/2710 vom 28. 6. 1977.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 109 vertreten, dieser vom Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts und der letztere von einem weiteren Hochschullehrer. Für die Leitung der Geschäfte stehen dem Präsidenten z. Z. ein Referent R 2 zu 80 °/o, ein Referent R 1 zu 100 °/o, zwei Referenten R 1 zu 50 Ufo, zwei Justizhauptsekretäre und eine Schreibkraft zur Verfügung. 4. Der Ausbildungs- und Prüfungsausschuß

Er hat 15 Mitglieder. Neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten besteht er aus vier juristischen Praktikern (Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt, Verwaltungsjurist), drei Hochschullehrern, vier Studenten und zwei anderen juristischen Praktikern aus dem Bereich der Rechtspflege und der Verwaltung. Diese sog. Koordinatoren, eine Besonderheit der einstufigen Juristenausbildung in Hamburg, wirken hauptamtlich bei der Koordinierung der Ausbildung in den jeweiligen Bereichen und bei der inhaltlichen und organisatorischen Abstimmung zwischen der universitären und der praktischen Ausbildung mit. Diese Zusammensetzung des Ausschusses war im Gesetzgebungsverfahren heftig diskutiert worden. Universität und Praxis fürchteten ein Übergewicht je der anderen Seite. Die Praxis hegte die Sorge, daß der aus acht Mitgliedern bestehende "Universitätsblock" den Ausschuß majorisieren könne, während die Universität um ihre Lehrfreiheit fürchtete und die von der Praxis gewünschte Parität vermeiden wollte. In der praktischen Arbeit haben sich diese Sorgen bisher nicht verwirklicht. Auch die Studenten haben sich sichtlich um sachbezogene Argumentation und Kooperation bei der Fortplanung ihrer Ausbildung bemüht gezeigt. Die Bedeutung des Ausschusses besteht z. Z. überwiegend darin, daß er für den Fall kontroverser Vorstellungen der verschiedenen Gruppen im Rahmen seiner Kompetenzen in Anspruch genommen werden könnte. Die informell hergestellte Übereinstimmung zwischen Fachbereich, Koordinatoren, Ausbildern und Ausbildungs- und Prüfungsamt in den meisten Fragen hat eine häufige Einberufung bisher erübrigt. Die Frage, wie weit die Mitwirkungsrechte des Ausschusses nach § 53 e Abs.1 JAO reichen und wie die Verwaltungshoheit des Amtes und die Richtlinienkompetenz des Ausschusses abzugrenzen ist, wird erst in Zukunft zur Entscheidung stehen.

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111. Die Gestaltung der praktischen Ausbildung 1. Parallelität von universitärer und praktischer Ausbildung

Die einstufige Ausbildung gliedert sich in zwei Studienabschnitte, von denen der erste regelmäßig drei Jahre dauert und der zweite einschließlich des Abschlußverfahrens - gleichfalls auf drei Jahre angelegt ist. Vom vierten Semester des ersten Abschnittes bis zum dritten Studienjahr im zweiten Abschnitt haben die Studenten fortlaufend Praktika abzuleisten, und zwar während der Vorlesungszeit neben einem (reduzierten) Veranstaltungsprogramm des Fachbereichs. Auf die Probleme dieser Parallelität komme ich noch zu sprechen. Das Studienjahr beginnt jeweils am 1. Oktober.

Zeitliche Lage

Art des Praktikums

Ausbildungsstellen

1. Studienabschnitt

4. Semester

Verwaltungspraktikum I Zivilrechtspraktikum I Strafrechtspraktikum

div. Verwaltungsbehörden AG oder LG

4. Ausbildungsjahr 1. 10. - 15. 1. oder 16. 1.- 31. 3.

Verwaltungspraktikum II

1. 6. - 15. 10. ;/. 6 Wochen Ferien

Zivilrechtspraktikum II Rechtsanwaltspraktikum

Senatsämter, Fachbehörden, Bezirksämter AG, LG oder ArbG

5. od. 6. Semester

AG, LG oder StA

2. Studienabschnitt

5. Ausbildungsjahr 15. 10.- 31. 3. 15. 4. - 15. 10.

Erstes Schwerpunktprogramm Zweites Schwerpunktprogramm

Rechtsanwälte, auch außerhalb Hamburgs je nach Inhalt des Programms; ein Praktikum muß bei Gericht oder StA stattfinden; im anderen Praktikum ist eine Ausbildung an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer oder im Ausland möglich.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 111 Z. Zeitlicher Ablauf und Ausbildungsstellen der einzelnen Praktika

Die Praktika werden in der sich aus der Tabelle ergebenden zeitlichen Reihenfolge bei den genannten Ausbildungsstellen absolviert. 3. Vergleich mit der herkömmlichen Ausbildung

a) Anteil der praktischen Ausbildung Rechnet man den Anteil der Universitätsausbildung ab, so bleibt für die ersten fünf Praktika eine Ausbildungszeit von je ca. 35 Arbeitstagen (7 Wochen), für das Rechtsanwaltspraktikum von ca. 60 Arbeitstagen (12 Wochen), für die beiden Schwerpunktpraktika von je ca. 70 Arbeitstagen (14 Wochen). Dies ergibt eine Gesamtpraxiszeit von 75 Wochen mit je 5 Arbeitstagen7• Hierbei sind die Ferien bereits herausgerechnet. Vergleicht man die für die Praxisausbildung zur Verfügung stehende Zeit der herkömmlichen Ausbildung, so ergibt sich kein wesentlicher Unterschied. Zwar dauert die Referendarausbildung zwei Jahre (104 Wochen); rechnet man jedoch den Urlaubsanteil ab und berücksichtigt man weiter, daß die Referendarausbildung nicht immer auf eine vollständige Belastung des Referendars von fünf Arbeitstagen pro Woche zugeschnitten ist, so ist der Unterschied nicht mehr groß. Auch der zeitliche Anteil der Stationen beider Ausbildungsarten ist, betrachtet man nur die Grundausbildung, ähnlich. Für die Pflichtpraktika in der einstufigen Juristenausbildung und die Pflichtstationen in der Referendarausbildung ergibt sich im Vergleich folgende Verteilung:

einstufige Juristenausbildung 7 Wochen Strafjustiz

14 Wochen Ziviljustiz

14 Wochen Verwaltung

12 Wochen Rechtsanwalt

Referendarausbildungs 12 Wochen Strafjustiz 28 Wochen Ziviljustiz

24 Wochen Verwaltung

16 Wochen Rechtsanwalt

7 In der Bedarfsberechnung der Justizbehörde wurde von einer Dauer der praktischen Ausbildung von nur 70 Wochen ausgegangen; die dort angestellte Rechnung dürfte nicht ganz zutreffen. s §33JAO.

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Die gemeinsame Grundausbildung ist zwar in der einstufigen Ausbildung kürzer, berücksichtigt aber Zivilrecht und öffentliches Recht etwa gleichgewichtig, Strafrecht nur mit dem hälftigen Anteil. Der Unterschied liegt hauptsächlich in den Wahlmöglichkeiten. Hier stehen für Referendare nur vier Monate (ein Sechstel der Ausbildungszeit) zur Disposition, für Studenten der einstufigen Juristenausbildung jedoch 28 Wochen (ein Drittel der gesamten praktischen Ausbildung). Es ergibt sich weiter, daß die Verkürzung der Ausbildungszeit weniger die praktische Ausbildung betrifft, also vor allem zu Lasten der Universitätsausbildung geht.

b) Gruppenausbildung Anders als bei Referendaren üblich, findet die Gerichtsausbildung bis hin zum Zivilrechtspraktikum II nicht einzeln, sondern in einer Kleingruppe von in der Regel vier bis fünf Studenten statt. Nach den Erkenntnissen der "Arbeitsgruppe Einstufige Juristenausbildung" 9, welche die Arbeit der Reformkommission fortg,eführt hat, vermeidet die Arbeit in Kleingruppen ein nur rezeptives Lernverhalten und fördert, da sie innerhalb der Gruppe eine weitgehend hemmungsfreie Kommunikation ermöglicht, die Lernbereitschaft und die Kooperationsfähigkeit der Studenten. Dies mag in erster Linie für eine Gruppenarbeit als Alternative zu den üblichen Großvorlesungen gelten, ist jedoch auch für die Pflichtpraktika bei den Gerichten als neue Arbeitsform mit Erfolg übernommen worden, nicht zuletzt um die im Rahmen der Universitätsausbildung gewachsenen Gruppen zu erhalten und ihre Lern- und Arbeitsfähigkeit zu nutzen.

c) Einführungs- und BegZeitkurse Kennzeichnend für die Integration von Theorie und Praxis ist, daß die Eingangspraktika durch einen Einführungskurs im vorausgehenden Semester, der von der Universität veranstaltet wird, vorbereitet werden, und daß mit dem Praktikum ein Begleitkurs einhergeht, der u. a. in Anknüpfung an den Einführungskurs die Erfahrungen der Studenten aus der Praxis aufnehmen und systematisieren soll. Von der Idee her entsprechen die Begleitkurse also den Arbeitsgemeinschaften für Referendare, wenn diese auch aufgrund veränderter Lerninhalte ihre unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen der Stationsausbildung eingebüßt haben.

9 Vgl. Zweiter Bericht vom 30. 4. 1973, Bürgerschaftsdrucksache 8/279 vom 17. 9.1974.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 113 4. Organisatorische Probleme der praktischen Ausbildung

Es leuchtet ein, daß Richter und Staatsanwälte eine Gruppe von vier oder fünf Studenten nicht ohne Entlastung ausbilden können. Den Gerichten und der Staatsanwaltschaft sind daher für die Durchführung der Praktika einschließlich der Begleitkurse (ohne Schwerpunktprogramme) insgesamt neun Stellen R 1 zugewiesen worden, davon je drei für das Strafrechtspraktikum, das Zivilrechtspraktikum I und das Zivilrechtspraktikum II. Sie sind jeweils zu 1/4-Stellen aufgeteilt worden, die 36 Ausbildern oder Begleitkursleitern in Form einer Entlastung von ihrem sonst zu leistenden Pensum zugute kommen. Zur Durchführung der Zivilrechtspraktika I und II sind dem Amtsgericht drei R 1-Stellen, dem Landgericht zwei Stellen und dem Arbeitsgericht eine Stelle zugewiesen worden. Für das Strafrechtspraktikum hat das Amtsgericht eineinhalb Stellen, das Landgericht eine halbe Stelle und die Staatsanwaltschaft eine Stelle erhalten. Drei weitere Stellen R 1 stehen den Gerichten zur Durchführung der Schwerpunktpraktika I und II einschließlich der dort stattfindenden Begleitkurse zur Verfügung. Trotz dieser Stellen und der damit gewährten Entlastung hat sich die Bewältigung der Ausbildung durch die hamburgischen Gerichte als ein erhebliches organisatorisches Problem erwiesen. Zwar konnten für die Durchführung der Praktika beim Amtsgericht, der Staatsanwaltschaft und, nach einiger Mühe, auch beim Landgericht Ausbilder in der erforderlichen Zahl gefunden werden. Jedoch bedeutet die gleichzeitige Ausbildung von 17 Gruppen im Zivilrecht (20 insgesamt, davon 3 beim Arbeitsgericht) eine erhebliche Beschränkung der Ausbildungsmöglichkeiten für Referendare, die prinzipiell keinen geringeren Anspruch auf geeignete Ausbilder an geeigneten Stellen haben. Aufgrund der hohen Zahl von in Harnburg auszubildender Referendare (ca. 900) waren im Zivilbereich bereits vor Beginn des einstufigen Modells Ausbildungsplätze knapp. Diese Belastung der Ziviljustiz mit Ausbildungsaufgaben hat im Rahmen der Schwerpunktpraktika weiter zugenommen, zu deren Durchführung in den traditionell mit Referendarausbildung befaßten Kammern und Senaten ca. 30 weitere Studenten unterzubringen waren, was eine Beschränkung der Ausbildungsplätze für Referendare bedeutete. In anderen Gerichtszweigen beruhen die Kapazitätsprobleme weniger auf der Konkurrenz mit der Referendarausbildung, die dort nur im Rahmen der Wahlstation stattfindet, mehr auf der g.eringeren Größe der Gerichte. So ist es für das Verwaltungsgericht und für die Sozialgerichte in Harnburg ein ernstes Problem, im Rahmen der Schwerpunktprogramme je ca. 20 Studenten auszubilden; denn nicht jede 8 Aus dem Hamburger Rechtsleben

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Kammer ist aufgrund ihrer Geschäftsverteilung oder ihrer Besetzung hierfür geeignet. Nur der Kooperationsbereitschaft dieser Gerichte und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber Ausbildungsfragen im allgemeinen und der einstufigen Ausbildung im besonderen ist es zu verdanken, daß die Schwerpunktpraktika dort in der wünschenswerten Weise stattfinden können. 5. Probleme der Integration von Theorie und Praxis

Vom vierten Semester bis zum Beginn des dritten Studienjahres nehmen die Studenten mit geringen Unterbrechungen fortlaufend an Praktika teil, zu denen parallel während der Vorlesungszeit Lehrveranstaltungen der Universität stattfinden. Dieses Nebeneinander ist nur sinnvoll, wenn ~ine Wechselbeziehung der jeweiligen Ausbildungsinhalte erreicht werden kann, wenn also mit dem zeitlichen Ineinandergreifen von Theorie und Praxis eine inhaltliche Integration einhergeht. Die idealtypische Vorstellung von wissenschaftlich aufbereiteter Praxis und praxisorientierter Wissenschaft, die sich gegenseitig ergänzen und als Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Berufsausübung dienen, war eines der wesentlichen Ziele des Hamburger Modells. Ihre Verwirklichung ist nur zum Teil gesichert. Die Schwierigkeiten liegen auch in der Lernsituation der Studenten. Nur ein Teil der gleichzeitig laufenden Lehrveranstaltungen hat inhaltlich mit dem Praktikum zu tun, die anderen betreffen Bereiche des Rechts oder der Sozialwissenschaften, für die sich ein Zusammenhang mit dem Ausbildungsinhalt des Praktikums nicht herstellen läßt. Für die Studenten ergibt sich also die Situation, daß sie sich gleichzeitig mit Lehrveranstaltungen aus verschiedenen Rechtsbereichen und den davon unterschiedlichen Anforderungen der praktischen Ausbildung konfrontiert sehen, was sie zu einem ständigen Umdenken zwingt und insbesondere während der Anfertigung von Arbeiten zu unökonomischen Belastungen führt. Aber auch in der inhaltlichen Koordinierung liegen Probleme. Die Systematik einer rechtswissenschaftliehen Lehrveranstaltung entspricht nicht dem unsystematischen Auftauchen von Fällen in der Praxis. Eine Beschränkung der Aktenauswahl in einer Zivilkammer auf Fälle, die nur oder überwiegend bestimmte Rechtsfragen enthalten und in diesem Rechtsgebiet eine kontinuierliche Weiterbildung ermöglichen, ist nicht möglich. Zudem befinden sich die Ausbildungsstellen desselben Praktikums bei Gerichten mit unterschiedlicher Sachzuständigkeit. Was vor allem bleibt, ist der Versuch einer Integration über berufspraktische Lehrveranstaltungen, insbesondere die Einführungs- und

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 115 Begleitkurse zu den Praktika. Hier hat sich gezeigt, daß Einführungskurse, die ein Semester vor dem Praktikum, auf das sie sich beziehen, und parallel zum Praktikum eines anderen Rechtsgebietes stattfinden, bei den Studenten nicht auf großes Interesse stoßen. Die Begleitkurse können zwar bedingt zur Klärung von sich aus der Praxis ergebenden Fragen herangezogen werden, der Versuch einer wissenschaftlichen Betrachtung der Praxis in einem nur zweistündigen Kurs hat es jedoch schwer, angesichts der notwendigen Anforderungen der Praxis an Kenntnisse im materiellen und prozessualen Recht, hinreichend beachtet zu werden. Zudem hat sich aufgrund der Stellensituation im Fachbereich ergeben, daß die Einführungskurse und Begleitkurse, entgegen dem ursprünglichen Konzept, fast ohne Beteiligung von Hochschullehrern stattfinden. Dennoch hat sich der frühzeitige Weg in die juristische Praxis als für die Studenten motivierend und für ihr Studium gewinnbringend erwiesen. Integrationsfördernd wirkt sich weiter die Tatsache aus, daß zahlreiche Richter Lehraufträge im Fachbereich übernommen haben, die sowohl berufspraktisch als auch rechtswissenschaftlich orientierte Kurse betreffen. Aufgrund der damit verbundenen Kommunikation mit den Hochschullehrern über Lehrinhalte und Lernziele kann mit Sicherheit gesagt werden, daß die Lehrveranstaltungen eine weit stärkere Praxisorientierung erfahren haben, als dies bisher üblich war. 6. Einzelne Erfahrungen aus der Praxisausbildung

Aus der Sicht derjenigen, die für die Durchführung der einstufigen Juristenausbildung verantwortlich sind, war es eine positive und wegen der in der Richterschaft weitverbreiteten Skepsis gegenüber diesem Ausbildungsgang nicht erwartete Erfahrung, daß sich für die Übernahme von Studentengruppen im Rahmen der Praktika ausbildungserfahrene Richter und Staatsanwälte gefunden haben, die sich der neuen Sache mit persönlichem Einsatz und pädagogischem Geschick angenommen haben. Wenn die einstufige Ausbildung auch durch die regelmäßige Wiederkehr von Studentengruppen- z. Z. absolviert der dritte Jahrgang das Zivilrechtspraktikum I und das Strafrechtspraktikum ein Stück Normalität im Gerichtsleben geworden ist und gegen sie bestehende Vorbehalte wesentlich abgebaut wurden, so ist doch auch Kritik laut geworden. Sie richtet sich zum einen gegen die als viel zu kurz empfundene Dauer der einzelnen Praktika, die eine gezielte Ausbildung, d. h. Verbesserung von Kenntnissen und Fähigkeiten, kaum zulasse. Dieser Zeitdruck wird nach Meinung der Ausbilder durch die parallel laufende Universitätsausbildung und die Verpflichtung der Studenten, für die dort zu absolvierenden Leistungskontrollen um-

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fangreiche Arbeiten anzufertigen, unzuträglich verstärkt. Neben der Kritik an dieser und weiteren durch den Studienverlauf vorgegebenen Rahmenbedingungen wird auch Sorge über den Leistungsstand der Studenten geäußert. Diese Sorge bezieht sich weniger auf den Wissensstand im Hinblick auf die bisherige Ausbildungszeit, sondern auf die verbleibende Zeit bis zum Abschlußverfahren und knüpft an den bekannten Leistungsstand durchschnittlicher Referendare an. Neben den geringeren und weniger umfassenden Kenntnissen im materiellen Recht - weniger im Prozeßrecht - wird festgestellt, daß die Fähigkeiten der Studenten zur rechtssystematischen Lösung eines Falles unter Einbeziehung von Literatur und Rechtsprechung zu wenig entwickelt seien. Demgegenüber werden Flexibilität, Initiative und auch die Fähigkeit zu mündlicher Argumentation hervorgehoben. Entsprechend hat sich, abweichend von der üblichen Referendarausbildung, die Konsequenz ergeben, die Ausbildung verstärkt auf eine Behandlung und Vertiefung materieller Rechtsfragen, die in einem Rechtsstreit auftauchen, und die methodisch richtige Lösung von Fällen zu erstrecken; insoweit nimmt die Praxis Ausbildungsaufgaben wahr, die in der herkömmlichen Ausbildung in erster Linie der Universität obliegen. Insgesamt lassen die Erfahrungen aus den Praktika darauf schließen, daß affektive Lernziele durch die einstufige Juristenausbildung eher erreicht werden, hinsichtlich der kognitiven Lernziele aber gewisse Abstriche zu machen sind. Erfreulich ist die Resonanz aus dem Rechtsanwaltspraktikum, das der erste Jahrgang im Sommer 1978 absolvierte. Hier ist es nach meinem Eindruck den Studenten gelungen, das Mißtrauen der ausbildenden Anwälte gegenüber der neuen Ausbildungsform nahezu vollständig abzubauen.

IV. Einrichtung von Ausbildungskammern beim Landgericht Die Schwierigkeit, den Ablauf der Praxisausbildung in den sich auch von der Geschäftsverteilung her unterscheidenden Abteilungen des Amtsgerichts und Kammern des Landgerichts besser zu koordinieren und damit die Grundlage für eine genauere Abstimmung zwischen Univ·ersitätsausbildung und Praxisausbildung zu errichten, hat zu der Frage geführt, wie die Ausbildung zentralisiert werden könne. Ein entsprechender Versuch ist inzwischen mit der Einrichtungzweier sog. Ausbildungskammern beim Landgericht begonnen worden. Drei der dem Ausbildungs- und Prüfungsamt zur Verfügung stehenden R IStellen sind benutzt worden, um eine bestehende Kammer mit drei Beisitzern durch eine neue Kammer in der Weise zu ergänzen, daß jede Kammer zur Hälfte mit Rechtsprechungsaufgaben ausgelastet ist,

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 117

zur Hälfte für die Ausbildung zur Verfügung steht. Um einen weiteren Vorsitzenden zu gewinnen, wurde die R 2-Stelle des Koordinators für den Bereich der Rechtspflege benutzt mit der Folge, daß die Vorsitzenden beider Kammern je zur Hälfte das Amt dieses Koordinators ausfüllen. Hinter diesem Vorhaben steht die Idee, eine. Gruppe von besonders qualifizierten Ausbildern zusammenzufassen, die einen erheblichen Anteil an den Ausbildungsaufgaben in Form von Gruppenausbildung und Begleitkursen selbst übernimmt und gleichzeitig als Schaltstelle für die Planung und Organisation der Ausbildung im Gerichtsbereich dient.

V. Die Ausbildung im Rahmen der Schwerpunktprogramme I. Funktion der Schwerpunktprogramme

Es klang bereits an, daß die einstufige Ausbildung ihre entscheidende Richtung durch die Schwerpunktprogramme erhält. Dies gilt auch für die Entsprechung von Ausbildung und Prüfung und die Einbeziehung von Sozialwissenschaften. Mit der Wahl seiner beiden Schwerpunktprogramme entscheidet der Student Ausmaß und Richtung seiner Spezialisierung, aber auch darüber, welches der drei Kerngebiete des Rechts er vernachlässigen will. Hinter dieser Konzeption steht die Überlegung, daß in den ersten vier Ausbildungsjahren eine für alle Studenten einheitliche Sockelqualifikation gelegt worden ist, nunmehr aber eine Vertiefung und Verwissenschaftlichung des Stoffes und zugleich eine berufsbezogene Spezialisierung erforderlich wird, die zwar aus Zeitgründen nur in begrenzten Bereichen, jedoch - um die Berufschancen nicht zu sehr zu schmälern - in zwei unterschiedlichen Schwerpunkten stattfindet. Dieses Modell bedeutet einen Abschied von der generalistischen Juristenausbildung, ist jedoch im Ausmaß seiner Abweichung von der herkömmlichen Ausbildung abhängig von der Art und der Ausgestaltung der Schwerpunktprogramme und der Wahl der Studenten. 2. Rahmenbedingungen

a) Verknüpfung mit den Hausarbeiten im Abschlußverfahren Die Wahl der Schwerpunktprogramme wird wesentlich dadurch bestimmt, daß die Studenten an jedes Programm eine ihrer Hausarbeiten im Abschlußverfahren anknüpfen wollen, diese Arbeiten aber aus verschiedenen der drei herkömmlichen Kernbereiche des Rechts ent-

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nommen sein sollen10 • Die Neuaufteilung des Stoffes in vier Teilbereiche11 ist daher für die Wahl der Schwerpunktprogramme ohne Bedeutung geblieben.

b) Unterscheidung der Schwerpunktprogramme In ihrer Ausgestaltung unterscheiden sich das erste und das zweite Schwerpunktprogramm darin, daß eines von einem Praktikum bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft begleitet sein muß, während die Praktikumsstelle für das zweite Schwerpunktprogramm vom Studenten frei gewählt werden kann. Nach der ursprünglichen Regelung sollte das .erste Schwerpunktprogramm notwendig vom Gerichtspraktikum begleitet werden, während sich das Wahlpraktikum an die Universitätsausbildung im zweiten Schwerpunktprogramm zeitlich anschließen sollte. Diese Regelung ist aus Kapazitätsgründen - es war zu befürchten, daß nicht alle Studenten gleichzeitig von den Gerichten hätten ausgebildet werden können - aufgegeben worden12 • Inhaltlich unterscheiden sich die beiden aufeinanderfolgenden Schwerpunktprogramme vor allem darin, daß sie unterschiedlichen Rechtsbereichen zuzuordnen sein müssen.

c) Einbeziehung der Sozialwissenschaften Die Zielsetzung der Schwerpunktprogramme macht eine konkrete Einbeziehung von Sozialwissenschaften in jedes der einzelnen Programme erforderlich. Da der Student zudem in einer seiner beiden Examenshausarbeiten rechts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen miteinander verbinden soll, die Schwerpunktprogramme aber dem Prüfungsverfahren entsprechen sollen, muß eine inhaltliche Verknüpfung bereits im Schwerpunktprogramm stattfinden und müssen geeignete Arbeitsformen spätestens hier gefunden werden. Dabei geht es vor allem darum - in dieser Frage herrscht Übereinstimmung zwischen Ausbildungs- und Prüfungsamt und Fachbereich -, eine Verzettelung auf mehrere Sozialwissenschaften zu vermeiden und konkrete Ergebnisse und Methoden, die im Rahmen juristischer Fragestellungen aussagekräftig sind, zu vermitteln. Die Verbindung von rechts- und sozialwissenschaftliehen Fragen wird von nahezu allen Studenten im Abschlußverfahren für das mit dem 1o § 3 Abs. 1 der VO zur Durchführung des Abschlußverfahrens in der einstufigen Juristenausbidlung (GVBl. 78, 209). 11 § 3 der Zweiten VO zur Durchführung der einstufigen Juristenausbildung (GVBl. 77, 281). 12 Die Rechtsgrundlage hierfür bietet § 15 a der Zweiten DVO.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 119

Wahlpraktikum verbundene Schwerpunktprogramm gewünscht, an das in der Regel die 8-Wochen-Arbeit geknüpft werden soll. Mit der Wahl eines Schwerpunktprogrammes wird daher auch regelmäßig entschieden, in welchem der drei Rechtsgebiete die Einbeziehung einer Sozialwissenschaft (Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Kriminologie oder Politologie) konkret geleistet werden soll; diese Entscheidung wirkt bis in das Abschlußverfahren fort. 3. Schwerpunktprogramme des ersten Studentenjahrgangs 1978/79

Dem ersten Jahrgang, der die Schwerpunktphase mit noch 84 Studenten begann, sind von der Universität ursprünglich folgende 11 Schwerpunktprogramme vorgeschlagen worden: a) Im Bereich des Zivilrechts: Bau, Handel, Markt, Arbeit, Familie, Unternehmensorganisation und Steuern b) Im Bereich des öffentlichen Rechts: Ordnungsverwaltung, Wirtschaftsverwaltung, soziale Sicherheit c) Im Bereich des Strafrechts: Kriminalität, Resozialisation. Jedes dieser Programme war in der Planung mit eng umrissenen Fragestellungen der Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und im Bereich des Strafrechts - der Kriminologie und Psychologie, sowie mit verfahrensrechtlichen Fragen v.erbunden. Von den 11 Programmen sind die Programme "Markt" als das am wenigsten genannte und "Resozialisation" aus Kapazitätsgründen des Fachbereichs entfallen. Von den verbleibenden Programmen sind vier (Familie, Bau, Arbeit, Ordnungsverwaltung) als erstes Schwerpunktprogramm durchgeführt worden, die weiteren fünf werden als zweites Schwerpunktprogramm beginnend mit dem 15. 4. 1979 stattfinden. Die Verteilung der Studenten sieht, ihren Wünschen entsprechend, wie folgt aus: Erstes Schwerpunktprogramm: 1. Schwerpunktprogramm Bau: 18 Studenten, davon 17 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 17 Studenten beim Landgericht und Oberlandesgericht, 1 Student bei einer Bauträgergesellschaft 2. Schwerpunktprogramm Familie: 27 Studenten, davon 6 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 8 Studenten am Oberlandesgericht, 8 Studenten am Landgericht, 8 Studenten beim Familiengericht (z. T. nur zeitweilig),

6 Studenten bei einem Rechtsanwalt

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3. Schwerpunktprogramm Arbeit: 12 Studenten, davon 3 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 3 Studenten beim Arbeitsgericht, 1 Student beim Landesarbeitsgericht, 7 Studenten bei einer Gewerkschaft oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund, 1 Student bei einem Unternehmen 4. Schwerpunktprogramm Ordnungsverwaltung: 27 Studenten, davon 13 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 19 Studenten beim Verwaltungsgericht, 3 Studenten beim Oberverwaltungsgericht, 5 Studenten in der Verwaltung Zweites Schwerpunktprogramm: 1. Schwerpunktprogramm Handel:

15 Studenten, davon 12 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 13 Studenten beim Landgericht oder Oberlandesgericht, 2 Studenten bei einem Rechtsanwalt

2. Schwerpunktprogramm Unternehmensorganisation und Steuern: 9 Studenten, davon keiner im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: 8 Studenten in der Finanzverwaltung, 1 Student bei einem Rechtsanwalt 3. Schwerpunktprogramm Wirtschaftsverwaltung: 16 Studenten, davon keiner im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: Verwaltung, Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht 4. Schwerpunktprogramm Soziale Sicherheit: 19 Studenten, davon 16 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: Sozialgericht und Landessozialgericht 5. Schwerpunktprogramm Kriminalität: 25 Studenten, davon 15 im Gerichtspraktikum Ausbildungsstellen: überwiegend im Bereich der Strafjustiz und der Staatsanwaltschaft, einige Studenten bei Rechtsanwälten. 4. Die Wahl der Studenten zeigt deutlich eine Umorientierung im Vergleich zum herkömmlichen Studiengang. Auffällig ist zunächst, daß die traditionellen zivilrechtliehen Rechtsgebiete, zu denen die Programme "Bau" und "Handel" zu rechnen sind, von den Studenten vergleichsweise gering geschätzt wurden, während das in der herkömmlichen Ausbildung stark vernachlässigte Familienrecht meistgewähltes zivilrechtliches Programm ist. Bemerkenswert ist weiter die Wahl des Schwerpunktprogrammes "Soziale Sicherheit", mit dem der weite bisher kaum in der Ausbildung vertretene Bereich des Sozialrechts eröffnet wird.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 121 Zeigt sich schon bei den einzelnen Programmen ein unterschiedliches Ausmaß an Spezialisierung, so läßt die Verbindungzweier Programme einen genaueren Blick auf die Orientierung der Ausbildung zu: Ordnungsverwaltung Ordnungsverwaltung Ordnungsverwaltung Arbeit Arbeit Arbeit Bau Bau Bau Familie Familie Familie

Handel: Unternehmen und Steuern: Kriminalität: Kriminalität: Soziale Sicherheit: Wirtschaftsverwaltung: Soziale Sicherheit: Kriminalität: Wirtschaftsverwaltung: Wirtschaftsverwaltung: KriminaH tät: Soziale Sicherheit:

15 Studenten 9 Studenten 3 Studenten 2 Studenten 9 Studenten 1 Student kein Student 4 Studenten 13 Studenten 2 Studenten 17 Studenten 8 Studenten

Von den häufig gewählten Verbindungen entsprechen die Koppelungen "Ordnungsverwaltung- Handel" und "Bau- Wirtschaftsverwaltung" am ehesten den in der herkömmlichen Ausbildung gepflegten Rechtsgebieten, wenn auch für diese Programme nicht nur wegen der Verbindung mit sozialwissenschaftliehen Problemkreisen eine Neustrukturierung des Lehrstoffes versucht wurde. Vor allem jedoch die Verbindungen "Arbeit - Soziale Sicherheit", "Familie - Kriminalität", "Familie - Soziale Sicherheit" legen den Schluß nahe, daß die Studenten hier die Verwirklichung eigener sozialer Vorstellungen und auch neuer Berufsbilder anstreben. Die genannten Zahlen betreffen allerdings nur den ersten Studentenjahrgang; Befragungen des zweiten Jahrgangs haben ergeben, daß die Wahl der Schwerpunkte dort mehr den herkömmlichen Ausbildungsinhalten entsprechen wird. Erstaunlich an der Wahl der Studenten war, daß sich der überwiegende Teil auch im Wahlpraktikum für eine Gerichtsausbildung entschied. Bemerkenswert ist ferner, daß sich in den Schwerpunktprogrammen "Wirtschaftsverwaltung" und "soziale Sicherheit" zunächst kein einziger Student für eine Ausbildung in der Verwaltung interessierte. Sie konnte erst nach besonderen Bemühungen verstärkt in die Schwerpunktausbildung einbezogen werden. 4. Ausgestaltung der Schwerpunktpraktika

Ihre inhaltliche Ausgestaltung ergibt sich aus den Zielsetzungen der Schwerpunktprogramme und den genannten Rahmenbedingungen. Die Studenten werden in der Gerichtsstation mit der Bearbeitung von Akten aus dem Schwerpunktbereich betraut: Sie entwerfen Gutachten,

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Urteile und Beschlüsse, halten Aktenvorträge und werden im übrigen zu möglichst selbständiger Erledigung praktischer Aufgaben herangezogen. Soweit sie das Gerichtspraktikum mit dem Ziel absolvieren, ihre praktische Hausarbeit in diesem Schwerpunktprogramm zu schreiben, ist es Aufgabe des Ausbilders, sie hierauf vorzubereiten. Da insbesondere die Anfertigung von Relationen Zeit in Anspruch nimmt und während des Semesters zudem eine umfangreiche Arbeit an der Universität zu schreiben ist, steht auch das Gerichtspraktikum der Schwerpunktprogramme unter einem beträchtlichen Zeitdruck. Die Ausbildung findet nicht mehr in Gruppen statt, sondern, ähnlich einer Referendarausbildung, als Einzelausbildung ohne Entlastung des Ausbilders von der richterlichen Tätigkeit. Als Ausbilder sind, jedenfalls für das Gerichtspraktikum, Richter am Oberlandesgericht und in Kammern des Landgerichts, die auch vorgerückte Referendare ausbilden, herangezogen worden. Eine Streuung der Praxisstellen innerhalb eines Schwerpunktprogrammes ist unvermeidlich, bietet aber auch die Möglichkeit, ein breiteres Spektrum beruflicher Praxis einzubeziehen. Dennoch bereitete es Schwierigkeiten, genügend Ausbildungsstellen zu finden, bei denen sich der Bezug zum Rechtsgebiet des Schwerpunktprogrammes ohne weiteres herstellen läßt. Vor allem im Schwerpunktprogramm "Familie" mußten hier Abstriche gemacht werden, da das Familiengericht aus einer Reihe von Gründen nur für wenige Studenten herangezogen werden konnte und sollte. Eine gegenüber den vorangegangenen Praktika verbesserte Übereinstimmung zwischen den Ausbildungsinhalten von Universität und Praxis war andererseits dadurch möglich, daß die Lehrveranstaltungen der Universität sich in der Schwerpunktphase ausschließlich auf den Schwerpunkt beziehen. VI. Das Abschlußverfahren I. Ausgangspunkt

Erfahrungen mit dem Abschlußverfahren für die einstufige Ausbildung liegen noch nicht vor; es wird erstmals im Jahre 1980 für den ersten Jahrgang stattfinden. Ich beschränke mich daher auf eine Darstellung des Grundkonzepts. Die einstufige Juristenausbildung in Harnburg verzichtet auf ein Zwischenexamen. Der Eintritt vom ersten in den zweiten Studienabschnitt ist nur an das Vorliegen einer festgelegten Zahl von ausbildungsbegleitenden Leistungsnachw,eisen geknüpft. Das Abschlußverfahren deckt sowohl den Ausbildungsbereich der Universität als auch den der Praxis ab.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 123

Gemäß § 5 b DRiG soll die Abschlußprüfung der einstufigen Juristenausbildung der Großen Juristischen Staatsprüfung in ihren Anforderungen gleichwertig sein. Da mit ihrem Bestehen die Befähigung zum Richteramt, die wieder Voraussetzung für die Zulassung als Rechtsanwalt ist, und die Befähigung für die Laufbahn des höheren Verwaltungsdienstes festgestellt wird, muß das Abschlußverfahren dem Nachweis dieser beruflichen Qualifikationen dienen. Diese Gleichwertigkeit zu sichern ist die entscheidende Aufgabe des Präsidenten des Ausbildungs- und Prüfungsamtes. Auch für Dr. Reimers war dies im Gesetzgebungsverfahren stets ein besonderes Anliegen. In der Anhörung vor dem Rechtsausschuß der Bürgerschaft hat er vor einem Abschlußverfahren unter Verzicht auf Klausuren und unter zu starker Gewichtung der Sozialwissenschaften gewarnt 13 • Mir persönlich lag außerdem daran, den Einfluß des disparitätisch besetzten Ausbildungsund Prüfungsausschusses auf das Prüfungsgeschäft zu begrenzen und dem Ausbildungs- und Prüfungsamt die Handlungsspielräume zu sichern, die zur Herstellung eines gleichwertigen Prüfungsverfahrens notwendig sind. 2. Die Prüfungsleistungen und ihre Bewertung

Jeder Student hat innerhalb von 5 Wochen eine praktische Hausarbeit, die der herkömmlichen "Großen Arbeit" entspricht, und eine mehr wissenschaftlich orientierte Hausarbeit innerhalb von 8 Wochen anzufertigen. Eine dieser Arbeiten muß, und damit wird die Einbeziehung der Sozialwissenschaften durch die Prüfungsinhalte abgesichert, sozialwissenschaftliche und juristische Fragestellungen miteinander verbinden. Wie der Zusammenhang zwischen Schwerpunktausbildung und Inhalt der Hausarbeiten und damit die Entsprechung von Ausbildung und Prüfungsinhalten im übrigen hergestellt wird, ist bereits gesagt. Die Hausarbeiten werden von drei Prüfern begutachtet, und zwar die praktische Hausarbeit von zwei Praktikern und einem Hochschullehrer, die wissenschaftliche Arbeit von zwei Hochschullehrern und einem Praktiker. An die Hausarbeiten schließt sich das Prüfungsgespräch an, das mit einem Aktenvortrag aus dem dritten Rechtsgebiet, in dem keine Hausarbeit geschrieben wurde, beginnt. Die Prüfungskommission besteht aus dem Vorsitzenden und drei weiteren Prüfern, von denen einer sozialwissenschaftlich qualifiziert sein soll. Zwei der Prüfer sind Praktiker, zwei Hochschullehrer. Einer der Prüfer soll zugleich eine der beiden Hausarbeiten bewertet haben. Die Prüfungsgruppe soll so zuta Bürgerschaftsdrucksache 8/3367 vom 10. 2. 1978.

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sammengesetzt sein, daß die Hausarbeiten in vergleichbaren thematischen Bereichen liegen. Dies ermöglicht es, das Thema der Hausarbeit zum Gegenstand des Prüfungsgesprächs zu machen. Gegenstand des Prüfungsgesprächs werden im übrigen Fragen aus allen drei Kernbereichen des Rechts sein. Für die Benotung gilt die für die herkömmliche Ausbildung gebräuchliche Notenskala. Ist die Abschlußprüfung bestanden, so findet eine Anrechnung der Ausbildungsnote zu einem Drittel statt. Die Ausbildungsnote setzt sich je zur Hälfte aus den Einzelnoten für Leistungen an der Universität und für Leistungen in der Praxis im zweiten Studienabschnitt zusammen. 3. Die Prüfer

Ein besonderes Problem wird, einerseits im Hinblick auf die Besonderheiten der einstufigen Juristenausbildung, andererseits in Hinblick auf die allgemeine Anerkennung der Abschlußprüfung, die Berufung geeigneter Prüfer sein. Nach der Vorschrift des §53 c Abs. 3 JAO soll nur zum Prüfer berufen werden, wer durch Teilnahme an der Ausbildung oder in gleichartiger Weise mit den Inhalten der einstufigen Ausbildung vertraut ist.

VII. Zukunftsperspektiven 1. Verlängerung der Ausbildungszeit

Hochschullehrer und Praxisausbilder klagen in gleicher Weise über die äußerst knappe Ausbildungszeit, von der befürchtet wird, daß sie trotz intensiverer Nutzung gegenüber der herkömmlichen Ausbildung und höheren Arbeitseinsatzes der Studenten nicht reichen werde, um allen Studenten gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. In der Tat macht die rigorose Verkürzung der Gesamtausbildung, die einschließlich Abschlußverfahren kaum länger dauert als das durchschnittliche Studium in der alten Ausbildung nebst Erster Juristischer Staatsprüfung, den Modellversuch problematisch; denn der Wert der Verzahnung von Theorie und Praxis und der Einbeziehung der Sozialwissenschaften sowie der geänderten juristischen Lehrinhalte soll sich trotz dieser zeitlichen Beschränkung erweisen. Allerdings ist auch die Straffung und Verkürzung der Ausbildung eines der Reformziele, an dem grundsätzlich festgehalten werden sollte. Angesichts der bisherigen Erfahrungen und der Bestrebungen, die Referendarausbildung um ein halbes Jahr zu verlängern, liegt es jedoch nahe, auch eine Verlängerung der einstufigen Ausbildung zu erwägen.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 125 Da die bisherige Auswertung des Modells darauf schließen läßt, daß die beabsichtigte "Sockelqualifikation" nicht voll erreicht wird, könnte sich eine Verlängerung der Ausbildung am Schluß des ersten oder zu Beginn des zweiten Studienabschnittes um ein halbes Jahr bei gleichzeitiger Verlängerung der Praktika empfehlen. Dies bedarf jedoch noch näherer Überlegung, zumal eine entsprechende Rechtsänderung die ersten drei Jahrgänge nicht mehr erreichen würde. Für sie wird z. Z. eine Verlängerungsmöglichkeit nach der Schwerpunktphase überlegt, die der Wiederholung und Ergänzung des Ausbildungsstoffes in Hinblick auf das Abschlußverfahren dienen könnte. 2. Auswertung der einstufigen Ausbildung

Das Experiment einer reformierten Juristenausbildung in den unterschiedlichen Modellen der beteiligten Bundesländer kann nur sinnvoll sein, wenn eine systematische vergleichende Auswertung gesichert ist. Dies war wesentliche Voraussetzung für die Einrichtung auch des Hamburger Modells. In ihrem Beschluß vom 13. 10. 1972 14 hat die Bürgerschaft den Senat u. a. ersucht, " ... bei der Entwicklung und Realisierung von Plänen für die Reform der juristischen Ausbildung mit den anderen Bundesländern eng zusammenzuarbeiten". Bedauerlicherweise findet eine solche Zusammenarbeit nur in Ansätzen statt. Die vom Bundesjustizminister und den Justizministerien der Länder in Mannheim errichtete zentrale Evaluationsstelle wird ihrer Aufgabe kaum gerecht. Wenn aussagefähige Erkenntnisse gewonnen werden sollen, welche die Juristenausbildung nicht nur für die Dauer des Experiments verändern, muß hier Abhilfe geschaffen werden. 3. Vereinheitlichung der Juristenausbildung

Der Bundesgesetzgeber hat das Experiment der einstufigen Juristenausbildung auf den 15. 9. 1981 befristet. Anschließend kann ohne eine Verlängerung dieser Experimentierklausel niemand mehr ein Studium im Rahmen der einstufigen Juristenausbildung beginnen. Um die Frage der Verlängerung ist es zu einer bundesweiten Diskussion gekommen, in der auch Gruppen innerhalb der politischen Parteien unterschiedliche Stellungen bezogen haben. Die Konferenz der Präsidenten der Oberlandesgerichte hat in ihrer Sitzung im Jahre 1978 den Beschluß gefaßt zu empfehlen, daß die 1981 auslaufende Erprobungsphase nicht verlängert werden sollte. Sie hat dies damit begründet, daß zwar eine abschließende Beurteilung der verschiedenen Modelle derzeit noch 14

Bürgerschaftsdrucksache VII/1425.

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nicht möglich sei, die für diese Modelle erforderlichen sachlichen und persönlichen Mittel jedoch nicht allgemein für die gesamte Juristenausbildung zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Konferenz hat weiter die Vereinheitlichung der Juristenausbildung nach Auslauf der Erprobungszeit für dringend erforderlich gehalten und hierzu empfohlen, die aus den Modellen der einstufigen Juristenausbildung im einzelnen gewonnen positiven Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dieser Beschluß hat meine volle Unterstützung gefunden. Denn da mit der abschließenden Prüfung die Befähigung zum Richteramt, die Laufbahnvoraussetzungen für den höheren Verwaltungsdienst und die Voraussetzungen für die Zulassung als Rechtsanwalt mit Wirkung für jedes Land der Bundesrepublik und den Bund selbst festgestellt werden, ist eine längere Aufsplitterung der Juristenausbildung in inhaltlich verschiedene Modelle nicht hinzunehmen. 4. Empfehlungen für die Vereinheitlichung

In Hinblick auf eine künftige einheitliche Juristenausbildung ergibt sich zunächst die allgemeine Frage, welche Elemente der einstufigen Ausbildung übernommen werden können, und weiter die konkrete Frage nach der Zukunft des Hamburger Modells. a) An positiven Erkenntnissen, die für eine Übertragung in Betracht kommen, nenne ich folgende: (1) der frühzeitig beginnende, sich über die gesamte Ausbildung erstreckende Kontakt mit der Praxis, (2) die stärkere Berufsorientierung der Ausbildung, (3) die konkrete Einbeziehung von Erkenntnissen der Sozialwissenschaften, und zwar nicht nur in Form einiger Eingangsvorlesungen zu Beginn des Studiums, (4) die Vermeidung von Massenvorlesungen, (5) die Förderung von Kleingruppenarbeit. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Insbesondere scheint mir auch erwägenswert, das in Harnburg übliche System der ausbildungsbegleitenden Leistungskontrollen, das die Rückmeldung über den Lehrund Lernerfolg der jeweiligen Veranstaltung ermöglicht, zu übernehmen und weiter zu überlegen, ob die Entscheidungsfreiheit der Studenten über die Orientierung ihres Studiums, wie in Harnburg mit der Einführung von Schwerpunktprogrammen geschehen, gegenüber der bisher üblichen generalistischen Ausbildung beibehalten werden sollte, da dies Initiative und Motivation der Studenten fördert.

Stand der einstufigen Juristenausbildung nach Hamburger Modell 127 b) Die Frage nach der Zukunft der einstufigen Ausbildung scheint für die ander.en Modelle weniger problematisch als für das Hamburger Modell, da sie nicht mit einer Universitätsausbildung der herkömmlichen Art am selben Ort konkurrieren und damit die Aufgaben einer vereinheitlichten Juristenausbildung eher übernehmen können. Es gilt jedoch zu vermeiden, daß eine Beendigung der Erprobungsphase zu einem vorzeitigen Abbau des Hamburger Modells und damit zu einer Gefährdung der laufenden Ausbildung führt. Im Fachbereich Rechtswissenschaft II der Universität Harnburg hat sich eine arbeitsfähige Fakultät zusammengefunden, die von Hochschullehrern - das zeigen z. B. die Berufungsverhandlungen - und von Studenten, wie die Bewerbungszahlen ergeben, in gleichem Maße als attraktiv empfunden wird. So haben sich zum Wintersemester 1978/79 von 447 für das Studium der Rechtswissenschaften in Harnburg zugelassenen Bewerbern 153 für die reformierte Juristenausbildung entschieden, für die nur 100 Studienplätze verfügbar sind. Die Aufgabe der zuständigen Stellen wird es sein, den Fachbereich auch lebendig und attraktiv zu erhalten, falls im Jahre 1981 kein neuer Jahrgang der einstufigen Ausbildung mehr aufgenommen werden kann.

Emil von Sauer und die Wiedererstehung der anwaltliehen Standesorganisationen Von Gerhard Trowitz

I.

Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Jahre 1945 hatte auch das Ende jeder Rechtspflege zur Folge. Mit der Gewalt der Siegermacht verkündete die Proklamation Nr. 1 des Obersten Befehlshabers der alliierten Streitkräfte1 , daß die "höchste gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Machtbefugnis und Gewalt" allein in den Händen der Militärregierung liegt, deren Befehle und Veröffentlichungen "alle Personen in dem besetzten Gebiet ... unverzüglich und widerspruchslos ... zu befolgen" haben. Auf der Grundlage der Proklamation Nr.1 bestimmte das Gesetz Nr. 2 des Obersten Befehlshabers der Militärregierung Deutschland, daß im besetzten Gebiet die Oberlandesgerichte und die ihnen unterstellten Instanzgerichte, die Instanzgerichte unter dem Reichsverwaltungsgericht und alle übrigen Gerichte geschlossen und das Reichsgericht und das Reichsverwaltungsgericht ihrer Amtsgewalt enthoben sind. Weiter: "Niemand kann als Richter, Staatsanwalt, Notar oder Rechtsanwalt amtieren, falls er nicht seine Zulassung von der Militärregierung erhalten hat" (Art. V Ziffer 9). Damit war die rechtsprechende Gewalt in Deutschland ausgelöscht, und zwar sowohl die Institution staatlichen Handeins überhaupt als auch ihre gesamte personelle Ausstattung. Wenn irgendwo, konnten Bürde und Barmherzigkeit, aber auch die Chancen der "Stunde Null" kaum größer als in der Rechtspflege vorstellbar sein. Mit dem Ende der Rechtspflege in Deutschland und mit der Suspension aller sie repräsentierenden Personen ging konsequent die vollkommene Beseitigung der anwaltliehen Standesorganisationen einher, die ihrerseits allerdings eine solche Bezeichnung kaum noch für sich beanspruchen konnten. Denn während der Deutsche Anwaltverein (DAV) unter massivem Druck der damaligen Potentaten bereits am t Veröffentlicht im Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Seite 1, und unterzeichnet von General Dwight D. Eisenhower.

9 Aus dem Hamburger Rechtsleben

Gerhard Trowitz

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27. Dezember 1933 seine Auflösung beschlossen und die Eingliederung seiner Mitglieder in die Reichsfachgruppe "Rechtsanwälte" des "Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen" ermöglicht hatte, trat der Exitus der örtlichen Anwaltvereine etwa zeitgleich zum 31. Dezember 1933 ein -vermöge einer Anordnung des Reichsjustizkommissars Dr. Frank2 .

Die Reichsrechtsanwaltsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 1936:t beendete gar die rechtspersönliche Eigenschaft der örtlichen Rechtsanwaltskammern und richtete sie auf ein zentralistisches Führerprinzip der Reichsrechtsanwaltskammer aus: Kammervorstände aus gewählten Mitgliedern gehörten der Vergangenheit an; man berief einfach die Funktionäre der örtlichen Kammern in eine Amtszeit von vier Jahren. Die Berufung der örtlichen Kammerpräsidenten setzte das Einvernehmen des Reichsführers des Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen voraus und erforderte damit seine förmliche Genehmigung. Die 2. Kriegsmaßnahmen-Verordnung vom 27. September 19444 enthielt endlich die Beseitigung der örtlichen Rechtsanwaltskammern, deren Geschäfte nun ihr- berufener- Präsident allein führte; die Berufung neuer Mitglieder in die Vorstände war nicht länger zulässig. Hinweggefegt vom Sturm der siegreichen Besatzungsmächte waren auch diese Überbleibsel einstiger anwaltlieber Standeseinrichtungen. Ein weites Feld hatte sich auch hier geöffnet; es mußte jetzt bestellt werden. II. Der Stillstand der Rechtspflege- ein im Verjährungsrecht des § 203 zwar geregelter, aber seit der Geltung des BGB praktisch nicht eingetretener Fall - drohte seit dem Ende der Feindseligkeiten zum Dauerzustand zu geraten. Zwar kam schon recht bald die Gerichtsbarkeit der Militärregierung in Gang, aber ihre Zuständigkeit war auf Verstöße gegen Strafbestimmungen zum Schutze der alliierten Besatzungsmächte beschränkt. Neue Grundlagen für eine deutsche Gerichtsbarkeit schuf erst das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945, in welchem vorwiegend gerichtsverfassungsrechtliche Regelungen enthalten waren. Immerhin war es mancherorts schon vor dem Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 gelungen, die Gerichte wieder zu 2

3 4

Anwaltsblatt 1933, 193 ff. RGB1107 ff. RGB1229 ff., § 66.

Emil von Sauer und Wiedererstehung der Standesorganisationen 131

eröffnen, so etwa das Amtsgericht Harnburg am 13. August 1945 und das Hanseatische Oberlandesgericht am 22. September 19455, während andere (zumeist Oberlandes)Gerichte mit Zeitverzögerungen bis zu einem weiteren Jahr ihre Tätigkeit begannen. Oft hing es vom Zufall ab, ob ein verständnisvoller und kooperativ eingestellter Gerichtsoffizier der alliierten Besatzungsmacht die Not der Rechtspflege und ihre bittere Notwendigkeit begriff und nach dieser Einsicht handelte. Harnburg war möglicherweise in diesem Punkte bevorzugt: Oberlandesgerichtspräsident i. R. Dr. Reinhart Vogler hat in seiner Festansprache vom 3. April 1978 anläßlich der ihm zuteil gewordenen Verleihung des Emil-von-Sauer-Preises an die sehr positiven Erfahrungen erinnert, die er im Jahre 1945 mit dem britischen Gerichtsoffizier Joe Carton sammeln konnte, als er - eigens hierfür abgestellter Richter - auf die Eröffnung der Gerichte in der Hansestadt hinzuwirken hatte. Mit der Feststellung allein, daß die Militärregierung der Wiedereröffnung der Gerichte im deutschen Besetzungsgebiet sukzessiv zustimmte, waren indessen die personellen Probleme - namentlich im richterlichen Bereich- ebenso wenig behoben wie die sächlichen und hier vorwiegend die arbeitsräumlichen Engpässe: Die Luftkriegszerstörungen in langen Kriegsjahren und die kämpferische Okkupation hatten ihren Tribut gefordert und die Substanz der Gerichtsgebäude insgesamt entscheidend verringert. Kriegsschäden hier - Entnazifizierung dort: Das neue Werk konnte nur zögernd beginnen! War dies die allgemeine Situation beim Wiederaufbau der Gerichtsbarkeit in Deutschland, so bot sich der Rechtsanwaltschaft ein nicht weniger trübes Zukunftsbild: Die Kanzleien zerstört, das Inventar verloren, die Akten verbrannt oder - welch vergleichsweiser Glücksfall!- keine Fensterscheiben, kein Strom, keine Heizung, kein Papier. In viele Anwaltspraxen kehrten die Kollegen erst nach mehrjähriger Kriegsgefangenschaft heim. Andere Anwaltskollegen kamen aus den verlorenen Ostgebieten und aus Mitteldeutschland herbei, ohne Beschäftigung, ohne Dienstherrn, ohne Verbindungen, ohne Erfahrungen und ohne jeden materiellen Hintergrund. Wer hat jemals das Buch über diese Kollegen geschrieben, über ihre Armut, Not und Verzweiflung? III. In der britischen Besatzungszone übertrug die Anweisung der Militärregierung für Oberlandesgerichtspräsidenten Nr. 1 vom September s Ostler, Die Deutschen Rechtsanwälte, Seite 310 f. 9•

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1945 6 die Befugnisse des Reichsjustizministers und schuf damit die Kompetenz der Oberlandesgerichtspräsidenten auf den Gebieten der Gerichtsorganisation, des Personalwesens einschließlich des Ernennungsrechts und der Verordnungsgewalt im g.esamten Justizwesen. Vorher schon und in Vorwegnahme der förmlichen Sanktion durch die Militärregierung hatte die Rechtsanwaltskammer Harnburg im Oktober 1945 einen Kammervorstand und zu ihrem Präsidenten den Rechtsanwalt Herbert Ruscheweyh gewählt, den der damalige Oberlandesgerichtspräsident Wilhelm Kiesseibach durch Ernennung in seinem Amt bestätigte. Ähnlich rasch wie in Harnburg erneuerten sich die Rechtsanwaltskammern auch in den Bezirken der übrigen sieben Oberlandesgerichte im britischen BesatzungsgebieF. Von Sauer8 erklärte diese relative Eile mit dem Zwang, unter den die britische Militärregierung dadurch geraten war, daß ihr bei der Wiederzulassung von Rechtsanwälten "peinliche und unangenehme Fehler" - deutlicher gesprochen: arge Mißgriffe -unterlaufen waren, die sie durch Konsultationen mit den erneuerten Kammervorständen zu vermeiden hoffte. Ebenso deutlich wirkten hier aber auch die Erfahrungen, die Großbritannien als Weltmacht in mehreren Jahrhunderten gesammelt hatte und die dahin gingen, okkupierten Gebieten so viel von ihren überkommenen Ordnungen und Systemen zu belassen, wie es mit dem Besatzungszweck eben vereinbar ist. Der nächste Schritt zur Interdependenz der Anwaltskammern erscheint als programmiert: Am 1. Februar 1946 tagten in Bad Pyrmont Vertreter aller Rechtsanwaltskammern der britischen Besatzungszone, gründeten die- zunächst privatrechtliche- "Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Britischen Zone" und begannen mit den Arbeiten, denen die Verordnung des Zentraljustizamtes für die britische Zone vom 25. Februar 1948 9 folgte: Sie errichtete die "Vereinigung der Rechtsanwaltskammern" als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ihr Vorsitzender war der Präsident der Rechtsanwaltskammer Hamburg, Prof. Walther Fischer, und ihr schließliches Arbeitsergebnis die "Rechtsanwaltsordnung für die britische Zone" vom 10. März 1949, in Kraft getreten am 1. April 1949i 0 • o Hans. JVBl. 1946, 72 f.

OLGe Braunschweig, Celle, Düsseldorf, Hamm, Kiel, Köln und Oldenburg. s von Sauer, Aufbau und Entwicklung der Anwaltschaft nach dem Kriege, Juristenjahrbuch 1960, 150 ff. (151). 9 VOBl BrZ 1948, 45. 1o VOBl BrZ 1949, 80 ff. 7

Emil von Sauer und Wiedererstehung der Standesorganisationen 133 Die BRAO Bz 1949 statuierte länger als zehn Jahre hindurch das Anwaltsrecht, auf dem sich das Berufsleben der Rechtsanwälte im britischen Besatzungsgebiet entfaltete. Auf der Grundlage der alten Rechtsanwaltsordnung von 1878 waren neue Erfahrungen und Einsichten sorgfältig ausgewertet und berücksichtigt. Vorbilder und Initiativen der "Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der britischen Zone" haben später dazu geführt, daß sich im September 1949 - das Grundgesetz war bereits in Kraft getreten - die "Arbeitsgemeinschaft der Anwaltskammervorstände im Bundesgebiet" bildete. Diese wiederum war der Vorläufer der Bundesrechtsanwaltskammer, die durch die Bundesrechtsanwaltsordnung 195911 ins Leben gerufen wurde. Ein gerader und konsequenter Weg führte, wie hier dargelegt worden ist, vom System des mächtigen und nach dem Führerprinzip berufenen Anwaltkammer-Präsidenten nationalsozialistischer Prägung über die Wirren der Nachkriegszeit, über die Reorganisation des Kammerprinzips in zunächst örtlicher, dann zwischenörtlicher und schließlich überörtlicher Orientierung hinweg zur Schaffung einer BundesRechtsanwaltskammer und damit zur föderativen Ordnung und Anbindung der örtlichen Kammersysteme, die ihrerseits demokratisch verfaßt sind. Die Notwendigkeiten dieser Entwicklung sind aus der Zeitgeschichte abzuleiten, auch aus dem Bedürfnis nach Anpassung des Anwalts an seine Pflichten, sein Berufsbild, seinen Platz in der Gesellschaft, an die neue Zeit. IV. So reibungslos und so bald auch nach dem Ende der Feindseligkeiten das System der Rechtsanwaltskammern wieder entstanden war - es machte die Wiedergründung der Anwaltvereine und ihren überörtlichen Zusammenschluß nicht entbehrlich, sondern gebot förmlich diese freiwillige Berufskoalition der Anwälte als das Korrelat der Zwangsmitgliedschaft im System der Anwaltskammern. Das Problem war nicht neu: Der Anwalt war im kaiserlichen Deutschland nicht minder als in der Weimarer Zeit, im Dritten Reich und gerade ebenso wieder nach dem Kriege der Standesaufsicht durch die örtliche Anwaltskammer unterworfen, welcher er zur Ausübung seines Anwaltsberufs auf Grund gesetzlicher Vorschrift als Mitglied angehören muß, ob er es will oder nicht. Die Anwaltskammern nahmen seit 11

BGBl. I 565 ff.

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jeher und nehmen auch in der Gegenwart in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts durch ihren Vorstand in Selbstverwaltung staatliche Aufgaben wahr. Welchen Inhalts diese staatlichen Aufgaben sind, unterlag im Laufe der Zeiten - die des Nationalsozialismus ausgenommen - keinem meßbaren Wandel: Die zentrale Aufgabe der Anwaltskammern war und blieb die Disziplinaraufsicht über ihre Mitglieder; im übrigen wirken sie namentlich im Verfahren zur Berufszulassung mit und erstatten Gutachten im gesetzlich zugewiesenen Rahmen des Gebührenrechts. Die Aufgaben der Anwaltskammern waren stets gesetzlich fest umrissen und enumerativ festgelegt. So begrüßenswert und berufsförderlich diese Einrichtung im Interesse der Gesetzmäßigkeit der anwaltliehen Berufsausübung einerseits ist, so fest stand und steht es auf der anderen Seite, daß die Berufsbedürfnisse des Anwalts immer weiter über das gesetzliche Aufgabenreglement der Anwaltskammern hinausreichen und außerhalb des gesetzten Anwaltsrechts ein Vakuum erzeugen, das zu füllen eben deshalb nicht in die Kompetenzen der Anwaltskammern fallen kann, weil es sich seiner Natur nach jeder gesetzlichen Regelung entzieht: Dieses Gebiet mag schlagwortartig als die "Wahrnehmung wirtschaftlicher Berufsbelange" bezeichnet werden; in Wirklichkeit verbergen sich dahinter so essentielle Themen wie Berufsausbildung, wissenschaftliche Berufsfortbildung, Ausbildung und Vermittlung von Büropersonal, Versicherung und Altersvorsorge, Rationalisierung im Bürobetrieb, Buchführung und Ertragsteuern, Fortentwicklung des anwaltliehen Gebührenrechts, Abwehr des Winkelkonsulententums, Gesetzgebungsarbeit, Darstellung und Durchsetzung des Anwaltsberufsbildes in der Gesellschaft. Diese Aufzählung ist unvollständig: Die Tagesarbeit der örtlichen Anwaltvereine, ihrer Vorstände und wo vorhanden - ihrer Geschäftsführung zeigt, daß eine ständige Dienstleistung für und im wirtschaftlichen Interesse der Rechtsanwälte vorzuhalten ist, deren Ausmaße immer größer werden und einen ständig zunehmenden Personal- und Sachaufwand erfordern. Es war Emil von Sauer, der wes früh erkannte und danach handelte: Auf seine Initiative gründete sich im November 1945 der Harnburgische Anwaltverein12• Mit unendlicher Mühe und Geduld, ständig von Rückschlägen betroffen, gelang es ihm, in den Jahren 1946 und 1947 weitere (örtliche) Anwaltvereine im Bereich der britischen Besatzungszone herauszufinden, die sich ebenfalls neu gegründet hatten. Diese örtlichen Anwaltvereine lud er nach Harnburg zur Versammlung vom 6. Mai 1947 ein, auf der es gelang, den "Deutschen Anwaltverein Nordwest" 2lU gründen und damit die Grundlage für einen wesentlich 12

Mitgliederzahl am 31. 12. 1978: 1371 Rechtsanwälte.

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größeren überörtlichen Zusammenschluß zu schaffen. Zum Vorsitzenden des "Deutschen Anwaltvereins Nordwest" wurde - einstimmig! Emil von Sauer gewähJtlll. Von hier an warenes-wie es rückblickend erscheint - nur noch kurze Schritte, bis im Mai 1948 zunächst der Coburger Anwaltverein in den DA V-Nordwest eintrat und dann bald ein förmlicher Sog vom DAV-Nordwest ausging, dem sich zahlreiche weitere Anwaltvereine in den drei westlichen Besatzungszonen nicht länger entziehen konnten. Der DAV-Nordwest gab sich in seiner Düsseldorfer Mitgliederversammlung vom 26. September 1948 wieder den - bis 1933 geführten - Namen "Deutscher Anwaltverein" (DAV) 14 , womit an eine bewährte, allerdings auch zutiefst verpflichtende Tradition angeknüpft war. Emil von Sauer wurde zum Präslidenten des DAV gewählt, welches Amt er bis zum Jahre 1959 versah. Schließlich hatte Emil von Sauer den Mut, zum ersten deutschen Nachkriegs-Anwaltstag nach Coburg am 1. Juni 1949 (25. Deutscher Anwaltstag) 15 einzuladen. Hier gelang endgültig der Durchbruch des DAV nach Süd- und Südwestdeutschland. Die Neue Juristische Wochenschrift (NJW) - ehemals DAVeigene wissenschaftliche Zeitschrift erschien ab Nummer 11/1948 in ihrer Überschrift "in Verbindung mit dem Deutschen Anwaltverein Nordwest" und ab Nummer 16/1948 bis zum heutigen Tag "in Verbindung mit dem Deutschen Anwaltverein". Das rastlose Schaffen Emil von Sauers führte bald auch zur Erneuerung der traditionell freundschaftlichen Verbindungen zu den ausländischen und internationalen Anwaltsvereinigungen vergleichbarer Art, so zu den westeuropäischen Nachbarn in England, Frankreich, Italien, Österreich und Benelux, nicht minder auch in den USA und intensiv zu den weltumspannenden Anwaltsorganisationen "International Bar Association" und "Union Internationale des Avocats" 16• Der Durchbruch war gelungen - die "Geltung" des DAV und seiner Mitgliedervereine war in der Bundesrepublik Deutschland selbst ebenso nachdrücklich hergestellt wie im grenzüberschreitenden Verhältnis zum MDR 1947, 90. Mitgliederzahl am 31. 12. 1978: 185 Mitgliedsvereine mit 20 506 Rechtsanwälten. 15 Referate: a) Die straf- und standesrechtlichen Grenzen der anwaltliehen Strafverteidigung; Referent: RA Dr. Heinrich Ackermann, b) Anwaltschaft und Gewerbefreiheit; Referent: Prof. Dr. Friesenhahn, c) Die Gefährdung der deutschen Rechtseinheit; Referent: Dr. Dr. Heimreich, d) Die Stellung des Anwalts im öffentlichen Leben; Referent: Justizminister Dr. Sträter. 16 Der vierte Nachkriegspräsident des DAV, der Hamburger RA Dr. Dr. Werner Deuchler, war Präsident der IBA von 1974 bis 1978. 1a.

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europäischen und außereuropäischen Ausland. Die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Anwaltvereine in Deutschland nehmen deswegen allerdings keine Vor- oder Führungsrechte gegenüber den gesetzlich installierten Anwaltskammern in Anspruch, wohl aber den Primat des Helfers des Berufsanwalts, und dies um so nachdrücklicher, als das staatliche Reglement die Freiheit der anwaltliehen Berufsausübung und ihres Wirtschaftsraums neuerdings immer stärker einzuschnüren droht17. Eine rechtsgeschichtliche Rückschau wie diese liest sich geschmeidig und läßt wenig von den Widerständen und Schwierigkeiten erahnen, denen Emil von Sauer ausgesetzt war. Dieser beharrliche und niemals mutlose Mann hat sich in Armut, Not und Elend des Staates und des Standes nicht weniger als soviel vorgenommen, sich gegen Besatzungsmächte, politisches Delirium und engherzige Widerständler mit seinem Gedanken durchzusetzen, daß es eine tiefe Verpflichtung gegenüber dem Berufsstande gibt, die anders als in freiwilligen Berufszusammenschlüssen nicht erfüllt werden kann. In diesem Gedanken lebte und wirkte Emil von Sauer; in ihm starb er.

V. Emil von Sauer Geboren am 2. April 1889 in Dresden Sohn des gleichnamigen geadelten Emil Sauer, Ritter von Aichried, Pianist und Komponist {1862 -1942) Gymnasialausbildung in Dresden und Wien Studium der Rechts- und Staatswissenschaften seit 1907 in Tübingen und Berlin Promotion zum doctor iuris in Rostock 1915 Teilnehmer des Ersten Weltkrieges von 1915 bis 1919 Staatsanwalt und Amtsrichter, seit dem 1. Juni 1920 Rechtsanwalt in Harnburg 1945 Mitbegründer des Harnburgischen Anwaltvereins und Erster Vorsitzender bis zum Jahre 1965 Gründung des Deutschen Anwaltvereins Nordwest im Mai 1947 17 In einer Mitglieder-Werbeschrift des Kölner Anwaltvereins wird die Anwaltskammer als der gestrenge Vater, der Anwaltverein als die treusorgende Mutter des Rechtsanwalts bezeichnet und an ihn die Frage gerichtet, ob er noch länger Halbwaise zu bleiben gedenke (vgl. Ostler a.a.O. S. 333).

Emil von Sauer und Wiedererstehung der Standesorganisationen 137 und Gründung des Deutschen Anwaltvereins im September 1948 Präsident des Deutschen Anwaltvereins bis 1959 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stem im Juni 1957 Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Harnburg am 2. August 1960: Aus dem Text der Verleihungsurkunde: "Herrn Rechtsanwalt Dr. iur. Emil von Sauer, der nach dem Zusammenbruch des Staatswesens unbeirrt die Rechtspflege in Harnburg wieder aufbauen half, der als langjähriger Präsident des von ihm wieder geschaffenen Deutschen Anwaltvereins in Zusammenarbeit mit Gesetzgebung und Rechtspflege die Rechtsentwicklung förderte, der durch die Wirkung seiner Persönlichkeit die Wiederaufnahme der Verbindung zu ausländischen und internationalen Anwaltsorganisationen ermöglichte und damit Hamburger Tradition erneuerte." Ehrenpräsident des Deutschen Anwaltvereins seit 1963 Verstorben in Harnburg am 25. Januar 1967 Der Harnburgische Anwaltverein hat 1973 in dankbarer Erinnerung an Dr. Emil von Sauer und an sein standespolitisches Werk als Ehrenpreis den Emil-von-Sauer-Preis gestiftet, der jährlich am Geburtstage Emil von Sauers an "für das hamburgische und deutsche Rechtswesen verdiente Persönlichkeiten" verliehen wird. Folgende Preisträger nahmen den Emil-von-Sauer-Preis entgegen: 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979

Rechtsanwalt Dr. Kurt Mittelstein Rechtsanwalt Dr. Hans Ballmann Rechtsanwalt Dr. Alfonso B. Stegemann Rechtsanwalt Dr. Geert Seelig Rechtsanwalt Dr. Heinz Brangsch Oberlandesgerichtspräsident i. R. Dr. Reinhart Vogler Rechtsanwalt Herbert W. Samuel

Zur Bedeutung der Ethik für die Tätigkeit des Rechtsanwalts Von Justus R. G. Warburg

I.

Die Standesorganisationen der deutschen Rechtsanwaltschafti haben Anlaß, sich über die Quellen des anwaltliehen Standesrechts Rechenschaft zu geben. Die dem Vorstand der Anwaltskammem gemäߧ 73 II BRAO auferlegten Pflichten insbesondere zur Beratung und Belehrung der Anwälte in Fragen der Berufspflichten (Nr.l) und zur Überwachung der Einhaltung der Standespflichten (Nr. 4) zwingen die Mitglieder des Kammervorstandes, sich ständig über den Inhalt der Standespflichten im klaren zu sein. Sie sind hierzu in erster Linie berufen in dem Sinne, daß sie dem im Rechtsalltag arbeitenden Kollegen am nächsten stehen, für ihn erste Instanz für Nachfrage und Orientierung in Standesdingen sind und, soweit möglich, in persönlichem Gespräch mit dem Kollegen aus dem Gesichtspunkt der Fürsorgeverpflichtung beratend 2 tätig werden. Ein solches stetes Bemühen um Fürsorge, Aufsicht und Integration setzt voraus, daß die Mitglieder des Kammervorstandes ihrerseits das jeweils geltende "richtige Standesrecht"3 kennen. Für die praktische Arbeit des Kammervorstandes bedeutet dies, daß er erkennt, ob und wann sich Standesrecht verändert. Denn eigentlich problematisch für seine Tätigkeit ist die Frage, wie er auf ein Verhalten eines Anwalts reagieren soll, das nach hergebrachter Auffassung als standeswidrig anzusehen ist, für das aber nunmehr ernsthaft und mit beachtlichen Gründen behauptet wird, es entspreche gewandeltem und von daher 1 Verf. schreibt diese Betrachtungen aus der Sicht und Erfahrung eines Mitgliedes des Vorstandes der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer in Harnburg. 2 § 73 II Nr. 1 BRAO. Das Gespräch mit den (überwiegend jüngeren) Kollegen macht einen großen Teil der praktischen Arbeit des Kammervorstandes aus. a Welchen Inhalt es hat, stellt in den eigentlichen Problemfällen erst die Rechtsprechung fest.

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nunmehr "richtigem Standesrecht" 4 • Zwei Beispiele hierfür sind jedem praktisch tätigen Juristen geläufig. Das erste betrifft die Frage, ob, in welcher Weise und in welchem Maße ein Anwalt werben darf. Das zweite kann mit dem Stichwort "Robenstreit" bezeichnet werden. Beide Beispiele sind geeignet, die große Bedeutung der Frage aufzuzeigen, unter welchen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen sich anwaltliebes Standesrecht verändert. Die moderne Publizistik5 eröffnet dem Anwalt vielgestaltige Möglichkeiten werbewirksamen Verhaltens, die auf breitester Front genutzt werden. Ein Kammervorstand, der sich vor die Frage gestellt sieht, ob er einschreiten muß, hat zu entscheiden, ob Hergebrachtes weitergilt. Er muß zugleich in Betracht ziehen, daß er Gefahr läuft, seiner vom Gesetz her eingeräumten Autorität durch unzeitgemäße, "überholte" Wertung zu schaden. Der Robenstreit ist durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 19706 nicht beendet worden. Er lebt und setzt sich in Detailfragen forF, deren Beantwortung mit juristisch-methodischen Überlegungen kaum noch möglich ist. Der Kammervorstand kann solchen Fragen aber nicht ausweichen. Er ist berufen, Stellung zu beziehen (§ 73 II BRAO) und seine Auffassung zum Inhalt des Standesrechts gegebenenfalls im ganzen Instanzenzuge des ehrengerichtliehen Verfahrens8 zu vertreten. Dabei lassen ihn Literatur und Rechtsprechung im Stich. Gegen die in der Literatur überwiegend9 und in der Rechtspvechung wiederholt vertretene Auffassung, anwaltliebes Standesrecht bilde sich auf der Grundlage einer von der Rechtsüberzeugung - communis opinio - getragenen tatsächlichen Übung der Anwälte selbst, beharrt die höchstrichterliche Rechtsprechung darauf, den Inhalt der jeweils maßgeblichen Standespflichten allein erkennen zu können 10 • Der Rechtsüberzeugung der 4 Bedeutsam heute außer den im Text genannten beiden Beispielen: Verbaler (schriftlicher und mündlicher) Umgang unter Kollegen, gegenseitige Rücksichtnahme, angemessenes Auftreten vor Gericht, Einfluß von Liberalisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen im Selbstverständnis der jüngeren Anwaltschaft. s Gedacht ist an das Verhalten von Strafverteidigern, über das die Presse berichtet, an Interviews vor Presse, Funk und Fernsehen, Teilnahme an fachbezogenen Sendungen in Funk und (insbesondere) Fernsehen mit oder ohne Namensnennung und Berufsbezeichnung, Leserbriefe an Tageszeitungen und memoirenähnliche Veröffentlichungen. 6 BVerfGE 28, 21 = NJW 1970, 851. 7 Strittig sind Schnitt, Stoff und Form (Länge) der Robe, aber auch die Farbe des darunter getragenen Hemdes (geschlossen? weiß?) und des Binders (überhaupt, und wenn: weiß?). s §§ 113-147 BRAO. u Vgl. Friedlaender, Zeitschrift der Anwaltskammer im Oberlandesgerichtsbezirk Breslau 1928 S. 16; Kalsbach, Standesrecht des Rechtsanwalts (1956) S. 16; Isele, BRAO (1976) S. 494.

Zur Bedeutung der Ethik für die Tätigkeit des Rechtsanwalts

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Anwaltschaft mißt sie hierfür nur HUfsfunktionen zu. Der Bundesgerichtshof hat ausdrücklich auf dieses Hilfsmittel verzichtet, als es um die Frage ging, ob sich in Berlin Gewohnheitsrecht gebildet habe, wonach die Vereinbarung eines Erfolgshonorars in Entschädigungssachen zulässig sei11 • Das Gericht geht noch weiter: Es nimmt die Kompetenz für sich in Anspruch, bei der Bildung von Gewohnheitsrecht (hier: Standesrecht) konstitutiv mitzuwirken. Der BGH meint nämlich, die für die Bildung von Gewohnheitsrecht notwendige gemeinsame Rechtsüberzeugung entfalle schon deshalb, weil es an einer sie bestätigenden ständigen Rechtsprechung fehle 12• Damit ist dem Kammervorstand ein großer Teil an Orientierungsmöglichkeit genommen. Er kann sich zu der Frage, ob sich Standesrecht neuen Inhalts gebildet habe, ohne zuverlässige Orientierungshilfe nur aufgrund eigener pflichtgemäßer Überzeugungsbildung äußern. Soweit er selbst zu werten hat, wird er die Meinungen der Kammermitglieder 1:t in seine Überlegungen einbeziehen. Eine Gewähr für die Richtigkeit seiner Stellungnahme ergibt sich aber hieraus nicht. Der vom BGH entschiedene Fall zeigt darüber hinaus, daß in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Auffassung der Standesvertretung nicht einmal indizieller Wert beizumessen ist: Der BGH lehnt es ab, sie zur Kenntnis zu nehmen. Die nachfolgenden Überlegungen mögen als Versuch verstanden werden, auf der Grundlage einer kritischen Überprüfung des oben angedeuteten Meinungsstandes zur Erkenntnis des materiellen Gehalts des Standesrechts beizutragen. Das Ergebnis wird dahin lauten, daß der Gesamtheit der anwaltliehen Berufspflichten eine im Kern weitgehend konstante Wertvorstellung zugrunde liegt, die den Inhalt der Standespflichten bestimmt und die in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich sprachlich und begrifflich fixiert - als Standesethik 14 bezeichnet wird. Daß Standes-Ethik im anwaltliehen Standesrecht unmittelbar zur rechtlich bedeutsamen Standes-Pflicht erwächst, ist ein bedeutsames Phänomen der Rechtsquellenlehre.

1o Grundlegend BGHZ 34, 64 (71) = NJW 1961, 313 (315); ebenso BGHZ 39, 142 und BGH EGHE 13, 137. tt BGHZ 34, 70/71: Beweisangebote dafür, daß sich eine bestimmte Übung

eingebürgert habe, werden für unerheblich erklärt. 12 So wörtlich BGHZ 34, 69; ablehnend Adolf Arndt NJW 1961, 815; zustimmend Josef Esser, Festschrift für Ernst v. Hippel (1967) S. 125. 1s Das sind alle im OLG-Bezirk zugelassenen Anwälte, § 60 I BRAO. 14 Vgl. z. B. Friedlaender, a.a.O. S. 16 r. Sp.; Kalsbach, a.a.O. S. 16 und das dort in Anm. 6 zitierte Urteil des EGH brit. Zone vom 3. Febr. 1953; Warburg, ZRP 1969, 24.

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Standesrecht in dem hier erörterten Sinne ist die Summe der in § 43 BRAO generalklauselartig umschriebenen Berufspflichten, für die in §§ 44 - 49 BRAO Beispiele genannt werden. Das bedeutet, daß das Standesrecht für die hier anzustellenden Überlegungen als Disziplinarrecht 15 zu verstehen ist. Insoweit handelt es sich um materielles Disziplinarrecht im Sinne derjenigen Verhaltensge- und -verbote, die dem Anwalt kraft seiner Berufsstellung obliegen und deren Verstoß durch die spezifischen Sanktionen des Kammervorstandes und der Ehrengerichte geahndet werden. Dieses anwaltliehe Berufsrecht weist Ähnlichkeiten mit dem materiellen und formellen Disziplinarrecht der Beamten, Richter und Soldaten auf: Der materiell-rechtliche Verletzungstatbestand wird nach Art einer Generalklausel umschrieben 16• Sie nötigt die Disziplinarinstanzen zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe. Das formelle Disziplinarrecht der öffentlich-rechtlich Bediensteten sieht für Bagatellfälle eine Disziplinargewalt des Vorgesetzten, bei schweren Verstößen Ahndung durch Dienstgerichte vor17• Ihnen entsprechen nach Zuständigkeit, Besetzung und Verfahren die anwaltliehen Ehrengerichte. Diese Ähnlichkeit in der Struktur des anwaltliehen Standesrechts mit dem der Beamten, Richter und Soldaten hat zunächst historische Gründe: Das Disziplinarrecht der Anwälte ist nach dem Vorbild des Beamtenrechts konzipiert worden18 • Es hat seine Struktur ungeachtet daran geübter Kritik19 beibehalten2 o. Diese Ähnlichkeit ist in der Sache begründet. Zwar fühlt sich der Anwalt als Angehöriger eines freien Berufs und als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§§ 1, 2 BRAO) nicht in eine hierarchische Struktur eingefügt. Diese Unabhängigkeit des Anwalts bestimmt aber den Zweck seiner Disziplinarunterworfenheit so wenig, wie dies aus der Weisungsgebundenheit des Beamten oder Soldaten geschieht: Vielmehr wird in allen diesen Zusammenhängen das Ansehen des jeweiligen Berufsstandes und damit zugleich seine öffentliche Funktion geschützt vor Schädigung durch mißbilligtes Verhalten seiner Mitglieder 21 • 15 Der für den Angehörigen eines "freien Berufs" und "ein unabhängiges Organ der Rechtspflege" (§§ 1, 2 BRAO) weniger passende Ausdruck Disziplinarrecht wird auch hier verwendet, vgl. z. B. Husmann NJW 1970, 1070; Varrentrapp NJW 1971, 127 und BVerfGE 26, 186 = NJW 1969, 2192. 16 Vgl. § 77 BBG, § 45 BRRG, § 46 DRiG, § 23 SoldatenG. 17 Auf Einzelheiten kommt es hier nicht an. 1s Feuchtwanger, Die freien Berufe (1922) S. 483. 19 Vgl. insbesondere Feuchtwanger S. 483 - 485, 486 ff. 2o Die Bedenken von Feuchtwanger haben sich nicht durchgesetzt, vgl. BVerfGE 26, 186 = NJW 1969, 2192.

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Nach Funktion und Wirkung steht das Disziplinarrecht dem Strafrecht nahe. Dem Betroffenen wird ein Übel zugefügt, das von der Rüge bis zum existenzvernichtenden Ausschluß aus der Anwaltschaft reichen kann22 • Diese Parallele zum materiellen Strafrecht setzt sich im Verfahrensrecht fort: Für das ehrengerichtliche Verfahren wird generell ergänzend auf die Strafprozeßordnung verwiesen, § 116 BRAO. Diese Feststellung ist wichtig für die Beurteilung der Rechtsquelle des Standesrechts: Die Strukturähnlichkeit des Disziplinarrechts mit dem Strafrecht legt die Frage nahe, welche Rolle das Gewohnheitsrecht bei der Veränderung des materiellen Strafrechts einnimmt2:t. Zwar ist allgemein anerkannt, daß derogierendes Gewohnheitsrecht auf allen Rechtsgebieten möglich ist und geschriebenes Recht jeder Ordnung von ihm betroffen sein kann. Es besteht aber ein qualitativer Unterschied zwischen d€r gewohnheitsrechtliehen Verfestigung eines zivilrechtliehen Grundsatzes und einer Gewohnheitsrechtsbildung, die einen geschriebenen Straftatbestand außer Kraft setzt24 •

III. Materielles Standesrecht in dem hier angesprochenen Sinne (Disziplinarrecht der Anwälte) kann auf sehr verschiedene Weise gebildet und verändert werden. Die Aufhebung oder Neueinführung eines Straftatbestandes z. B. kann sich auf das Standesrecht auswirken; denn regelmäßig begründet die Verwirklichung eines Straftatbestandes durch den Anwalt auch eine standeswidrige Handlungsweise25• Ähnlich liegt es bei einer Prozeßrechtsänderung, die den Anwalt unmittelbar betrifft, z. B. bei dem Recht auf Akteneinsicht im Strafverfahren und der Befugnis, daraus erlangte Informationen dem Mandanten weiterzugeben26. 21 Zur Funktion der Disziplinarbestrafung im Gegensatz zur Kriminalstrafe BVerfGE 21, 378 = NJW 1967, 1651 m. abl. Anm. Rupp; zur Laufbahnstrafe nach der Wehrdisziplinara BVerfGE 21, 391 = NJW 1967, 1654. 22 Rüge durch den Kammervorstand nach§§ 73 I Nr. 4, 74; ehrengerichtliche Maßnahmen nach § 114 I BRAO. 2s Hierzu Schönke-Schröder-Eser, StGB 18. Aufi. (1978) § 1 Rz. 14 mit Nachweisen. 24 Eser in Schönke-Schröder, § 1 Rz. 15: Derogierendem Gewohnheitsrecht komme nur geringe praktische Bedeutung zu, da seiner Entwicklung in der Regel bereits das Legalitätsprinzip entgegenwirken dürfte. 25 Vgl. Überblick bei Isele, a.a.O. (Anm. 9) S. 723 - 737, der die einleitende Bemerkung, nicht jede strafbare Handlung enthalte zugleich einen Verstoß gegen materielles Standesrecht, als durch die Praxis der Ehrengerichte eher widerlegt erscheinen läßt. 28 Hierzu Isele S. 754.

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Eine Wechselwirkung besteht zwischen zivilrechtliehen Generalklauseln und Standesrecht: Es ist immer wieder zu prüfen, ob der Vorwurf sittenwidrigen Handeins die Feststellung von standeswidrigem Verhalten einschließt27 und ob umgekehrt standeswidriges Handeln immer oder zumeist als sittenwidrig gilt28 • Soweit sich aus Verfassungsrecht, nämlich aus den Grundrechten, allgerneine Wertungen ergeben, die sich auf die Beurteilung der Sittenwidrigkeit auswirken, hat auch das Einfluß auf das Standesrecht. Der dem Recht auf freie Meinungsäußerung eingeräumte Rang29 hat sich sowohl in zivil- und strafrechtlichen Wertungen als auch - vermutlich - im Umgang der Anwälte untereinander ausgewirkt3°. Von solchen Veränderungen des Standesrechts, die durch dessen Stellung im Gesamtgefüge der Rechtsordnung bedingt und sozusagen Reflexwirkungen sind, soll hier nicht die Rede sein. Denn "Prüfsteine des anwaltliehen Standesrechts" 31 sind nur Verhaltensnorrnen, die sich aus der Rechtsstellung und dem Selbstverständnis des Anwalts unabhängig von solchen Bezügen zum allgerneinen Recht ergeben. Hierfür erscheinen die eingangs erwähnten Beispiele "Robenstreit" und "Werbeverbot" beispielhaft und anschaulich. Von Kalsbach32 wird die Auffassung vertreten, daß Quelle des Standesrechts - im Sinne von Standespflichten -, auf der Generalklausel des§ 43 BRAO aufbauend, die communis opinio der Rechtsanwälte der deutschen Verbundenheit sei. Der Ehrenrichter sei verpflichtet, auf diese Quelle zurückzugehen und sie zu erforschen. Ähnlich heißt es bei Isele33 im Zusammenhang mit der Bestimmung von Umfang und Grenzen der Pflichtenkreise des Anwalts: "Die einzige Rechtsquelle in diesen Bereichen ist in der Rechtsüberzeugung der Standesgenossen zu finden, wie sie sich, den jeweiligen beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen angepaßt, in der Gestalt der cornrnunis opinio der gesamten Rechtsanwaltschaft darstellt." Auch Friedländer erkennt die Möglichkeit gewohnheitsrechtlicher Bildung von Standesrecht an: Die Gewohnheit, getragen von der RechtsIsele, BRAO Stichwort "Sittenwidrigkeit" im Anhang zu § 43 S. 707 - 708. Hiermit befassen sich BGHZ 34, 64 und 39, 142: ob die Vereinbarung einer quota litis, die als standeswidrig angesehen wird, deshalb(!) auch im Sinne des § 138 BGB sittenwidrig sei. 29 BVerfG 7, 198 (Lüth-Urteil) mißt Art. 5 I 1 GG "sittenbildende Kraft" zu (bedenklich). 30 Auf Art. 5 I 1 GG berufen sich vielfach Anwälte, die es nach Auffassung des Kammervorstandes an verbaler Höflichkeit im Umgang mit Kollegen fehlen lassen. 31 Adolf Arndt NJW 1961, 815. 32 Standesrecht S. 15. 33 a.a.O. S. 494. 27

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Überzeugung der Volksgenossen (hier: der Standesgenossen) erhebe das Regelmäßige zum Rechtmäßigen34 • Er stellt aber die Standesethik als Rechtsquelle gleichrangig neben das Gewohnheitsrecht: "Die Norm entsteht, losgelöst von der Gewohnheit ... und bildet sich nach dem, was sein soll ...35 ." Die Frage, ob das Urteil des Ehrengerichtshofs für die britische Zone vom 3. Februar 195336 Standesethik im gleichen Sinne versteht wie Friedländer, erscheint allerdings zweifelhaft. Der Satz: "Die einzige Quelle der Standesethik ist in der Rechtsüberzeugung der Standesgenossen zu finden, wie sie sich ... in der Gestalt der communis opinio der gesamten Rechtsanwaltschaft offenbart", deutet eher auf die Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht hin. Es soll nicht bezweifelt werden, daß sich Standespflichten in Konkretisierung des § 43 BRAO als Gewohnheitsrecht bilden können. In dem vom Bundesverfassungsgericht& entschiedenen "Robenstreit" lagen die Voraussetzungen von Gewohnheitsrecht vor, wenn auch nicht in dem Sinne, wie es der Bundesgerichtshof11 verlangt: an einer bestätigenden höchstrichterlichen Rechtsprechung fehlte es bis dahin. Aber gerade daraus durfte gefolgert werden, daß an einer entsprechenden Standespflicht über mehrere Jahrzehnte nicht gezweifelt und daß sie befolgt worden war. Daraus ist aber nicht zu schließen, daß sich Standesrecht regelmäßig oder überwiegend durch Gewohnheitsrecht bilde. Gegen eine solche Annahme sprechen erhebliche Gründe. Die Anwaltschaft ist nicht berufen, über ihre Standespflichten durch Bildung einer eigenen Rechtsüberzeugung allein zu disponieren. Insoweit ist dem Bundesgerichtshof11 zuzustimmen: Die Allgemeinheit hat ein Mitspracherecht, weil der Rechtsanwalt (auch) wichtige öffentliche Aufgaben wahrzunehmen hat. Daß es insoweit an der Autonomie 37 der Anwaltschaft fehlt, folgt u. a. aus dem Wortlaut des § 43 S. 2 BRAO: Das Gebot, der Anwalt müsse sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche seine Stellung erfordert, würdig erweisen, stellt die Berufspflicht in Beziehung zur Einschätzung des Anwalts in der Öffentlichkeit. Das heißt: Die Berufspflicht des Anwalts bestimmt sich nach der Vorstellung, die über ihn in der Allgemeinheit besteht und die seiner Rechtsstellung entspricht3s. In 34 Der letzte Satz wird zitiert aus Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (6) S. 14. 35 Friedlaender, Zeitschrift der Anwaltskammer im OLG-Bezirk Breslau,

1928 S. 16 r. Sp.

Zitiert bei Kalsbach, Standesrecht S. 16. Hier verstanden als Zuständigkeit und Befugnis zur Bildung von Gewohnheitsrecht. 38 Diese Vorstellung beherrscht offensichtlich auch die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der anwaltliehen Ehrengerichtsbarkeit E 26, 186 = NJW 1969 S. 2192. Dort wird der Charakter der Ehrengerichte 36 37

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diesem Sinne unterliegt sie nicht seiner Disposition. Gegen diesen Teil der Entscheidung des BGH ist, soweit ersichtlich, Widerspruch nicht laut geworden. Adolf Arndt 39 und Josef Esser 40 haben insoweit ausdrücklich zugestimmt. Gegen die Annahme, Standesrecht bilde und ändere sich auf der Grundlage der communis opinio der bundesdeutschen Anwaltschaft als Gewohnheitsrecht, sprechen auch praktische Bedenken, die zugleich die rechtliche Schwäche dieser Auffassung deutlich machen. Eine gemeinsame Rechtsauffassung aller Anwälte kann regelmäßig in der Praxis nicht festgestellt werden. Die von den einzelnen Kammervorständen ermittelten Meinungen der Kammermitglieder führen oftmals zu divergierenden Ergebnissen. Konfession und Tradition haben in den einzelnen Bundesländern recht verschiedene Bedeutung. Beide wirken sich unmittelbar in der Meinungsbildung aus. Auch innerhalb eines Kammervorstandes ist eine tatsächlich übereinstimmende Meinung, sobald es um die Frage nach "neuem", verändertem Standesrecht geht, selten feststellbar oder gar zu erreichen. Deshalb ist der Hinweis von Isele 41 , daß man sich mit dieser Überlegung, nämlich der Unmöglichkeit, eine communis opinio tatsächlich festzustellen, den Blick für die Realitäten trübe, nicht recht verständlich. Vielleicht meint Isele, daß der Standesvertretung die Befugnis zustehe, auf der Grundlage einer Meinungsumfrage oder nach eigener pflichtgemäßer Einschätzung das Bestehen einer communis opinio mit Wirkung auch gegen eine anders denkende Minderheit verbindlich festzustellen. Dafür könnte die gesetzliche Regelung sprechen: Der Kammervorstand muß die Meinung der Kammer ermitteln und das Ergebnis der Bundesrechtsanwaltskammer mitteilen42. Dort wird "im Wege gemeinschaftlicher Aussprache ... die Mehrheit festgestellt" 43. Diese Feststellung fließt in die periodisch neu festzustellenden Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufes ein 44 • Damit ist aber nach Auffassung der Anwaltschaft selbst keine communis opinio festgestellt. Die "Richtlinien" verstehen sich nach ihrem Vorspruch nicht als Rechtssätze. Sie befreien den Anwalt in keinem Falle von der Verantwortung für sein Handeln. Die Auffassung, daß Gewohnheitsrecht einzige oder praktisch bedeutsamste Rechtsquelle des Standesrechts sei, widerspricht schließlich auch als staatliche Gerichte besonders herausgestellt und daraus u. a. geschlossen, daß der Staat bei der Berufung der Mitglieder mitwirken müsse. 39 NJW 1961, 815 (816). 40 Festschrift für Ernst v. Hippel S. 125. 41 a.a.O. S. 494. 42 Vgl. § 177 II Nr. 1 BRAO. 43 § 177 II Nr. 1 a. E. BRAO. 44 § 177 II Nr. 2 BRAO.

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den legitimen Interessen der Anwaltschaft. Sie hätte nämlich zur Folge, daß sich Standesrecht nur unter den erschwerten Voraussetzungen ändem könnte, die für die Entstehung derogierenden Gewohnheitsrechts gelten. Das bedeutet für die Praxis, daß sich neues Standesrecht erst und nur dann bilden könnte, wenn eine repräsentative Mehrheit von Anwälten auf Grund gemeinsamer Rechtsüberzeugung gegen zunächst noch geltendes Standesrecht verstoßen hat. Denn die tatsächliche Übung der "Rechtsgenossen" über einen längeren Zeitraum ist nun einmal Voraussetzung für die Anerkennung von Gewohnheitsrecht45 • Nach allem ist der Auffassung der Vorzug zu geben, daß anwaltliches Standesrecht regelmäßig auf der Grundlage der Vorschrift des § 43 BRAO durch Subsumtion festzustellen ist, soweit es sich nicht aus anderen Bestimmungen oder Grundsätzen ergibt46 • Das entspricht der Rechtspraxis für das Disziplinarrecht der Richter, Beamten und Soldaten. Die disziplinarische Ahndung beruht auch dort jeweils auf einem Tatbestand, der eine eigene Wertung des Dienstvorgesetzten oder des Dienstgerichts voraussetzt. Damit weist die Subsumtion des Disziplinartatbestandes Ähnlichkeiten mit der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe innerhalb des Verwaltungsrechts auf 47 • Nach strafrechtlichem Begriffsverständnis erweist sich § 43 BRAO als eine Art Blankettnorm48, wie etwa der Tatbestand der Beleidigung. Das wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als unbedenklich angesehen 49 •

IV. § 43 BRAO setzt die Feststellung entsprechender Berufs- oder Standesethik voraus. Diese Vorschrift transformiert Grundsätze der Ethik in Gebote und Verbote des Rechts; denn der Verstoß gegen Regeln des Standesrechts führt über §§ 43, 113 BRAO zur standesrechtlichen Ahndung. Diese Bezugnahme auf außerrechtliche - ethische - Grundsätze kommt im Wortlaut des § 43 BRAO zum Ausdruck. Das Gebot, den Beruf gewissenhaft 50 auszuüben, macht den Anwalt selbst zur Instanz Hierzu Esser a.a.O. S. 115 - 116. z. B. aus Straftatbeständen, vgl. Anm. 25 - 29. 47 Durch eine hinlänglich konstante Rechtsprechung der Ehrengerichte hat sich eine gewisse Rechtssicherheit insoweit herausgebildet. 48 Zu ihr vgl. Dreher-Tröndle StGB 38. Aufl. (1978) § 2 Rz. 8; zur Zulässigkeit im Strafrecht BVerfGE 14, 245 = NJW 1962, 1564. 49 Nachweise bei Isele S. 498- 499. so Hierzu Isele S. 495: Es handelt derjenige Anwalt gewissenhaft, der bei selbstkritischer Prüfung seiner Handlungen vor seinem Gewissen und vor dem Stand, dem er angehört, bestehen kann. 45

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für ethische Maßstäbe. Dagegen bezieht sich § 43 S. 2 BRA051 auf externe Instanzen: Achtung und Vertrauen werden den Anwälten von Dritten entgegengebracht. Maßgebend ist nicht ihre eigene Einschätzung, sondern diejenige Dritter, nämlich der Allgemeinheit, des Publikums oder der Rechtsuchenden. Dabei wird nicht abgestellt auf die tatsächlich der Anwaltschaft jeweils entgegengebrachte Achtung und auf das effektive Vertrauen, sondern auf dasjenige, welches die Stellung des Rechtsanwalts erfordert. Durch diese Formulierung wird das ethische Gebot hervorgehoben52. Zugleich wird ausgedrückt, daß ein tatsächlich bestehendes Defizit an Achtung und Vertrauen in den Anwaltsstand insgesamt für die Standespflichten ohne Bedeutung ist. Das erscheint zwar selbstverständlich. bedarf aber der Hervorhebung: Ein Verlust von Achtung und Vertrauen vermag die Standespflichten des Anwalts nicht zu verringern. Das Gegenteil ist der Fall: Hat der Anwalt kraft Standespflicht mehr zu leisten, als ihm die Einschätzung durch die Allgemeinheit abfordert, dann wird von ihm eine größere Anstrengung verlangt. Er hat einer Wertvorstellung von anwaltlicher Tätigkeit gerecht zu werden, die der Standesethik entspricht, nicht nur der Realität des anwaltlichen Alltages5:r. Über den Inhalt der anwaltliehen Standes- oder Berufsethik sagt § 43 BRAO nichts aus. Er bezeichnet lediglich die Instanzen, die die jeweils gültige Wertvorstellung bilden, nämlich das Gewissen des Anwalts und seine Einschätzung durch die Allgemeinheit. Hierbei wird fiktiv vorausgesetzt, daß diese Einschätzung auf einem als ideal gedachten Verhalten beruht54 . Der Kern der anwaltliehen Berufsethik ergibt sich aber aus dem Gesetz selbst: Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Diese Feststellung findet sich erstmalig in der Rechtsanwaltsordnung für die britische Zone55 . Sie ist das Ergebnis einer achtzigjährigen Rechtsentwicklung56 und hat den Inhalt, daß der Anwalt sich nur in der Funktion, nicht aber im Rang, von den anderen Organen der Rechtspflege, wie Gericht und Staatsanwaltschaft, unterscheidet. Ob sich damit das Adjektiv "unabhängiges" Organ der Rechtspflege möglicherweise als überflüssig erweist, soll hier nicht näher geprüft werden. Fest steht, daß 51 Einzelheiten hierzu bei Isele S. 496- 497. 52 Vgl. hierzu Isele S. 497; Friedlaender, RAO, Kommentar (1930) § 28 Anm.10. ss Bedeutsam für das neuerdings immer mehr in Frage gestellte Werbeverbot, hierzu unten V. 54 Hierzu Kalsbach, Standesrecht S. 28- 38 mit Nachweisen. 55 Vgl. die amtliche Begründung zur BRAO 1959 vor § 1. 56 Gemessen von der RAO vom 1. 7.1878 bis zur BRAO von 1959.

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der Anwalt, soweit er an der Rechtspflege teilhat, sich in gleicher Weise wie Richter und Staatsanwalt von sachfremder Motivation seines Handeins freihalten muß57• Alle weitergehenden Postulate wie: der Anwalt habe nur dem Recht zu dienen 58, er dürfe nicht bewußt dem Unrecht dienen oder die Rechtsfindung erschweren59, er habe gegenüber seinem Auftraggeber seine Unabhängigkeit zu wahren60 , können leicht zu Mißverständnissen führen, indem sie den sehr bedeutsamen Unterschied zwischen den zur Unparteilichkeit v·erpflichteten staatlichen Organen Gericht und Staatsanwaltschaft61 einerseits und dem zur Interessenvertretung und damit zur Parteilichkeit verpflichteten Anwalt andererseits verbal verdunkeln. Der Strafverteidiger z. B., der von der Schuld seines Mandanten überzeugt ist, dient dem Recht nicht dadurch, daß er die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs fördert. Er dient vielmehr allein dem Recht (Anspruch) des Mandanten auf Verteidigung. Er nimmt es wahr, indem er auf einem dem Prozeßrecht entsprechenden Strafverfahren besteht, Schwächen des Verfahrens schonungslos aufzeigt und, unter strengster Beachtung seiner Pflicht zur Verschwiegenheit62, dem Gericht eine eigenständige Würdigung der Beweisaufnahme präsentiert63 • Allein das richtig verstandene Interesse des Mandanten darf den Anwalt auch veranlassen, diesem gegenüber ein Geständnis anzuregen. Nur in extrem liegenden Fällen darf er sich über das Nicht-Geständnis des Mandanten hinwegsetzen, nämlich um dem Gericht allein im Interesse des Mandanten dessen Prozeßverhalten plausibel zu machen& 4 • Diese kurzen Hinweise zeigen, daß die Berufsethik des Anwalts funktionsabhängig ist. Der Anwalt dient dem Recht, indem er die legitimen 57 Zur Weisungsfreiheit des Richters (sog. sachliche Unabhängigkeit) Art. 97 GG. Die Weisungsabhängigkeit des Staatsanwalts gemäß § 146 GVG ist für die dem Verf. bekannten Verhältnisse in Harnburg ohne praktische Bedeutung. Die Unabhängigkeit des Anwalts betrifft die Pflicht, sich von Motivationen freizuhalten, die nicht legitimer Interessenvertretung dienen. Dazu gehört - insbesondere für den Strafverteidiger - die Distanz vom Mandanten, die erforderlich ist, um jeden Anschein einer "Komplizenschaft" auszuschließen. ss Friedlaender a.a.O. (Anm. 52) § 28 Anm. 3. 59 Amtl. Begr. zu § 1 BRAO a. E. &o Kalsbach, S. 44; Isele S. 6- 7. 6t Der immer wieder gehörte Vorwurf, die Staatsanwaltschaft halte sich in der Regel nicht an die Vorschrift des § 160 II StPO, kann Verf. aus mehr als 20jähriger Tätigkeit als Strafverteidiger in Harnburg nicht bestätigen. 62 § 203 I Nr. 3 StGB. 63 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers (1969) Rz. 42- 46, 566. 64 In der Alltagspraxis des Strafverteidigers sind solche Fälle nicht selten. Der Verteidiger, der aus Erfahrung weiß, daß angesichtsdes Beweisergebnisses unhaltbares Leugnen - nicht: Schweigen - des Angeklagten auf de:c Richterbank nicht verstanden wird, gerät hier in ein besonders augenfälliges Dilemma; vgl. Dahs, Rz. 35.

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Interessen des Mandanten wahrt und wahrnimmt. Dabei macht es qualitativ keinen Unterschied, ob er einen Unschuldigen aus den "Mühlen der Strafjustiz" befreit oder ob er einem Schuldigen ein ordnungsgemäßes Verfahren gewährleistet; ob er für den Kläger ein obsiegendes Urteil im Zivilverfahren erstreitet, oder ob er für den Beklagten den Zivilrechtsstreit bereits aus Kostengründen durch Anerkenntnis beendet. Das Gebot, sich in der Interessenwahrnehmung vom Mandanten unabhängig zu halten, erlaubt es dem Anwalt in keinem Falle, zu dessen Nachteil "unparteilich" zu sein. Es betrifft nur die Art und die Grenzen der Interessenwahrung: Ihre Art, das procedere, bestimmt der Anwalt nach den Regeln "arte legis"; ihre Grenzen hat sie dort, wo die notwendige Distanz zum Auftraggeber gefährdet würde65 • Aus § 2 I BRAO ergibt sich nichts für die Berufsethik des Anwalts. Daß der "Rechtsanwalt einen freien Beruf ausübt" bedeutet nur, daß er seine Tätigkeit nicht, wie der Richter oder Staatsanwalt, auf der Grundlage eines staatlichen Dienstverhältnisses ausübt00• Insbesondere drückt diese Vorschrift nicht noch einmal die "Unabhängigkeit" der Berufsausübung aus. Sicherlich wäre es verfehlt anzunehmen, daß der Gesetzgeber dieses Merkmal anwaltlieber Tätigkeit in dieser unklaren Weise zum Ausdruck bringt, da das Moment der Unabhängigkeit in §§ 1 und 3 BRAO ganz deutlich in einen nicht mißzuverstehenden Zusammenhang gebracht ist. Diese Vorschrift enthält auch keine Bezugnahme auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Sie gehörte nicht in das Gesetz, und würde sachlich auch überflüssig erscheinen67 • Dem § 2 II BRAO, wonach die Tätigkeit des Anwalts kein Gewerbe ist, wird allerdings zentrale Bedeutung beigemessen. Aus ihm wird abgeleitet, daß der Anwalt sich in seiner Tätigkeit nicht vom Streben nach Gewinn motivieren lassen dürfe68 , daß es ihm verboten sei, in Wettbewerb zu seinen Kollegen zu treten69, und daß er nur durch seine Leistung werben dürfe 70 • In diesen Forderungen, wie sie üblicherweise formuliert werden, wird die Spannung zwischen Realität und Ethos besonders deutlich; denn es unterliegt keinem Zweifel, daß der Anwalt um des Entgelts willen tätig wird. Er hat sich und seine Familie zu Hierzu Isele S. 762 - 763 mit Nachweisen. Amtl. Begr. zu § 2 I BRAO. 67 Die amtl. Begr. ist insoweit verfehlt. Sie zitiert Feuchtwanger, Die freien Berufe, S. 17 ff., ohne zu beachten, daß dieser Autor gerade zur Frage des Honorars des Anwalts höchst eigenständige Auffassungen vertritt. vgl. S.180 bis 182; kritisch zum System der Gebührenordnung S.199- 209. 68 Die amtl. Begr. schließt dies in angreifbarer Weise aus§ 2 I, vgl. Anm. 67. Das ist angesichts des gesicherten Sprachgebrauchs, wonach ein Gewerbe auf Gewinnerzielung gerichtet ist, undeutlich und sachlich verfehlt. 69 Amtl. Begr. zu § 2 BRAO, einhellige Meinung. 10 Kalsbach, S. 63. os

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ernähren und sein Büro zu unterhalten. Diese Unkosten kann er nur mit "verdientem" Entgelt bestreiten. Wenn es hierzu in der amtlichen Begründung zu § 2 BRAO heißt, die Eigenart des freien Berufes liege vornehmlich darin begründet, daß seine Angehörigen sich nicht vom Streben nach Gewinn bestimmen lassen dürften71 , so kann dieser Satz allenfalls in einem bestimmten kulturgeschichtlichen Zusammenhang verstanden werden. Der heutigen Realität entspricht er nicht. Bezeichnend ist, daß Feuchtwanger, der hierfür zitiert wird 72 , an anderer Stelle speziell für den Anwaltsstand schreibt: "Die Differenz zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein in Einkommensdingen ist ein sittlicher und wirtschaftlicher Krankheitszustand, Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind die Grundlage jeder gesunden Wirtschaftspolitik73 ." Seine weiteren Ausführungen über den Zulauf zum Anwaltsberuf74 und seine Auswirkungen könnten für den heutigen Zustand geschrieben worden sein. Es ist deshalb an der Zeit, den Satz, der Anwalt betreibe kein Gewerbe, von seinem unrichtigen Pathos zu befreien. Das ist notwendig und erscheint auch im Sinne einer auf Wahrhaftigkeit fußenden ethischen Forderung geradezu geboten, weil die von Feuchtwanger beschriebene Divergenz zwischen Realität einerseits, Bewußtsein und Vorstellung andererseits 75 seit mindestens 60 Jahren andauert. Eine Bestandsaufnahme ergibt folgendes Bild: Der Anwalt erbringt seine Leistung gegen Entgelt. Insoweit ergibt sich kein Unterschied zur gewerblichen Wirtschaft. Die Höhe des Entgelts ist regelmäßig durch Gesetz (BRAGO) vorgeschrieben. Dem Anwalt ist es verwehrt, für seine Leistungen in gleicher Weise zu werben, wie es in der gewerblichen Wirtschaft üblich ist: Die Anzeige in Tages- oder Wochenzeitung - mit Ausnahme der Bekanntgaben über die Praxis nach Maßgabe des § 61 der Grundsätze des anwaltliehen Standesrechts (Richtlinien gemäß § 177 II Nr. 2 BRAO) -, der Werbespot im Fernsehen, auch der Auftrag an Freunde und Bekannte, für ihn "Reklame zu machen", sind dem Anwalt verboten. Das erscheint berechtigt und sollte auch heute nicht in Frage gestellt werden. Denn der Satz, der Anwalt dürfe nur durch seine Leistung werben70 , entspricht genau derjenigen Wertvorstellung, auf der jede auf Wahrhaftigkeit gegründete Werbung beruht. Wegen des Gebots der Wahrhaftigkeit ist dem Vgl. oben Anm. 67. Das Zitat Feuchtwangers (S. 17 ff.) in der amtl. Begr. zu § 2 BRAO ist auch deshalb wenig aussagekräftig, weil F. dem Adjektiv "frei" eine andere Bedeutung beimißt, als dies dem heutigen Verständnis eines freien Berufes entspricht. "Freie" Berufstätigkeit bezeichnet heute nur den Gegensatz zur Berufstätigkeit kraft Anstellung, mehr nicht. 73 Feuchtwauger S. 181. 74 Feuchtwanger S. 182 und 186. 75 Feuchtwanger: "als juristisches Dogma sich aufspielende Sätze." 11

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Anwalt Werbung verboten: Jede Werbeaussage enthält ein Versprechen. Dieses bezieht sich auf Erfolg oder auf Qualität oder auf beides. Der Anwalt kann, gebunden durch die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, nicht mehr versprechen, als arte legis die Interessen des Mandanten zu vertreten. Eine solche Aussage ist angesichts der in der Wirtschaft bestehenden Werbesituation nicht geeignet, Werbewirkung zu entfalten. Das überkommene und nach wie vor gültige Werbeverbot schließt indessen nicht aus, daß der Anwalt als Interessenvertreter in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten darf. Ein durch Presse, Funk oder Fernsehen vermittelter "Auftritt" kann einmal im Interesse des Mandanten, zum anderen aber auch im Interesse der Anwaltschaft geboten sein. Der Eintritt für den Mandanten mag bei Berichtigung unrichtiger Vorstellungen in der Öffentlichkeit ebenso gerechtfertigt sein, wie das Entgegentreten einer, dem Mandanten schädlichen, verzerrten Meinungsbildung oder sachlicher Antworterteilung auf Fragen eines Organs der Publizistik76 • Dann ist der Auftritt im Interesse des Mandanten notwendige Wahrnehmung der ureigensten anwaltliehen Aufgabe. Hierzu zählt auch der Einsatz des Anwalts zum Wohle seines Berufsstandes und also der gesamten Anwaltschaft in der Öffentlichkeit unter den Gesichtspunkten der Information, beispielsweise über maßgebliche rechtspolitische Fragestellungen und der Selbstdarstellung. Hiervon abgesehen, ist eine Kollision mit dem Werbeverbot auch deshalb zweifelhaft, weil der Anwalt hier "mit seiner Leistung wirbt". Er kann keineswegs sicher sein, daß sein Auftritt Werbewirkung entfaltet77.

V. Die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, der "Rechtslandschaft"78, kann für den Bereich des anwaltliehen Standesrechts sowenig 76 Es gehört zum procedere einer bestimmten Art von Publizistik, den Gefragten in Zugzwang zu setzen. Eine Mitteilung des Inhalts, der Gefragte habe sich geweigert, Stellung zu nehmen, kann verheerender wirken als eine "falsche" Antwort. Hier wie sonst kann die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe (§ 3 BRAO) der gebotene Ausweg sein. 11 Sicher nicht, wenn er sich nicht betont herausstellt und nur Name und Ort der Kanzlei des Anwalts ohne Straßenbezeichnung genannt werden. Anders bei Verbindung vorstehender Kriterien mit der Berufsbezeichnung "Rechtsanwalt". Ohne Einfluß hierauf ist z. B. bei gestellten Handlungsabläufen - wie bei den derzeitigen Fernsehsendungen "Ehen vor Gericht" oder "Fernsehgericht" - die Frage, ob der Anwalt für seinen Mandanten mit oder ohne sichtbaren Erfolg tätig geworden ist; denn auf Wertungen in der Sache kommt es bei der Frage nach der Werbung nicht an. Im übrigen kann Werbung auch dann eine solche sein, wenn sie für den betreffenden Anwalt eine

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ignoriert werden wie für alle anderen Rechtsgebiete. Sie zwingt die Anwaltschaft, ihr Standesverhalten den veränderten Verhältnissen anzupassen. Das geschieht auch im Standesrecht in der Weise, daß gefragt wird, ob Sinn und Inhalt einer kraft Gesetzes oder Gewohnheitsrechts begründeten Standespflicht für die neue Situation Gültigkeit behalten. Die dabei anzustellenden Erwägungen sind vorstehend anhand des Beispiels "Auftritt des Anwalts in der Öffentlichkeit, vermittelt durch moderne Publizistik" skizziert worden. Dabei ist von der Auffassung ausgegangen worden, daß sich das Standesrecht zur Frage des Werbeverbotes grundsätzlich nicht selbst verändert hat. Eine für das Standesrecht relevante Veränderung kann sich auch in der Bewußtseinslage der Anwaltschaft vollziehen. Hier ist sorgfältig zwischen einer echten Veränderung des anwaltliehen Selbstverständnisses und einer nur reflexhaften Reaktion auf äußere Gegebenheiten zu unterscheiden. Zur ersten Gruppe gehört der Robenstreit, zur zweiten die aus dem Existenzkampf einer unverhältnismäßig angewachsenen Anwaltschaft zu erklärenden Rufe nach Einschränkung oder Aufhebung des Werbeverbotes. Für dieses Problem ist die Lösung eindeutig: Die Berechtigung des Werbeverbotes wird durch eine verschärfte Konkurrenzsituation nur verdeutlicht. Hinsichtlich des Robenstreites ist das Problem komplizierter. Die Amtstracht weist den Anwalt als Organ der Rechtspflege aus. Gleichzeitig dient die Amtstracht auch79 anwaltlicher Unabhängigkeit: Indem sie eine äußere Distanz zwischen sogenannte "Negativwerbung" darstellt - z. B. ein Anwalt wirbt mit Namen und Berufsbezeichnung in einem Magazin für Kosmetica oder Massagesalons etc. 78 Nicht zuletzt bedingt durch rasche Veränderungen im Bereich der sozialen Struktur im deutschen Volk, aber auch in allen europäischen und außereuropäischen Staaten, insbesondere innerhalb der letzten zwanzig bis dreißig Jahre. 79 Die Bedeutung der Robe erschöpft sich nicht darin, den Anwalt als Organ der Rechtspflege auszuweisen oder ihm die Distanz zum Mandanten zu erleichtern. Sie ist zugleich Reverenz gegenüber Mandant und Gericht. Beiden gegenüber wird mit dem Anlegen der Amtstracht eine Haltung eingenommen, die der Bedeutung des Anlasses entspricht. Das gilt auch für die Frage, ob unter der Robe (sichtbar) weißes Hemd und weißer Binder getragen werden sollen. Die Entscheidung hierüber wird von Regeln des Taktes und der Höflichkeit bestimmt. Hingegen können hierauf abgestellte Verwaltungsverordnungen oder administrative Empfehlungen des Bundes oder der Länder. wie z. B. "Bestimmungen über die Amtstracht bei den Hamburger Gerichten", Amtlicher Anzeiger Nr. 62, 1955, S. 265 f. i. V. m. d. A V der Landesjustizverwaltung Nr. 10 v. 4. Mai 1957 - JVBl 1957 S. 10 -, den Anwalt rechtlich nicht binden. Den Ausführungen von Isele (111 A Anhang zu § 43 S. 521), die Amtstracht bestehe nicht nur aus der Anwaltsrobe, sondern auch aus dem weißen Hemd und der weißen Krawatte. soweit nicht gewohnheitsrechtlich in einzelnen Bezirken etwas anderes gelte, wird widersprochen; denn eine einheitliche Übung, die sich im Standesrecht durchgesetzt haben könnte, ist nicht feststellbar.

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Anwalt und Mandant schafft, erleichtert sie es dem Anwalt, sich unqualifizierten Forderungen des Mandanten zu versagen. Diese Funktion erfüllt die Amtstracht auch dann, wenn der Anwalt sie gegen seine Überzeugung trägt; denn es kommt für die Distanz primär auf die Einstellung des Mandanten an. Sollte die Robe aber ihre dualistische Funktion einmal verlieren, weil sie nach allgemeinem Verständnis weder Hervorhebung noch Distanz bewirkt, dann würde es der anwaltliehen Standespflicht widersprechen, sie zu tragen. Denn der Anwalt würde dann Gefahr laufen, den zur Wahrnehmung seiner Aufgabe notwendigen Respekt schon wegen einer "unzeitgemäßen Verkleidung" zu verlieren80 • Auch hier erweist sich, daß die aus der Berufsethik fließende Standespflicht funktionsabhängig ist. Ihr Inhalt bestimmt sich nach der - unveränderten! - Aufgabe des Anwalts. Aber die Voraussetzungen dafür, daß er sie erfüllen kann, ist- unter anderem·ein seiner Funktion entsprechender Respekt der Allgemeinheit. Die Notwendigkeit, ihn zu erhalten oder zu gewinnen, bestimmt den Inhalt der Standespflichten. Das entspricht dem Wortlaut und dem Sinn des § 43 S. 2 BRAO.

so Anschauliches Beispiel für eine solche Entwicklung ist der Universitätsbetrieb.

Zur Problematik der trberwachung des Verteidigergespräches mit dem Untersuchungsgefangenen Von Heinrich Ackermann

I.

Zu Harnburg am 26. Oktober 1962 um 21.00 Uhr wurden schlagartig Verlag und Redaktion des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" von Kriminalbeamten und Beamten der Bundesanwaltschaft besetzt. Die führenden Köpfe des "Spiegels" wurden in Untersuchungshaft genommen. Das war der Auftakt zu der "Spiegel-Affäre", die wegen Verdachts des Landesverrates ausgelöst wurde und weitreichende Folgen vielerlei Art hatte. So gab sie auch den erneuten entscheidenden Anstoß für die Anwaltschaft, gegen die damalige Vorschrift des § 148 Abs. 3 StPO zu Felde zu ziehen, wonach bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens der Richter anordnen konnte, daß Unterredungen des wegen Verdunkelungsgefahr verhafteten Beschuldigten mit dem Verteidiger nur in seiner, des Richters, Gegenwart oder in Gegenwart eines beauftragten oder ersuchten Richters stattfinden dürften. Von dieser Vorschrift machte der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) im "Spiegel"-Verfahren sogleich Gebrauch, indem er anordnete, daß Gespräche zwischen den Verteidigern und ihren verhafteten Mandanten nur in seiner Gegenwart stattfinden dürften. Die Verteidiger waren sämtlich angesehene und führende Strafanwälte der Bundesrepublik, die hier zum Teil erstmals mit der praktischen Auswirkung der richterlichen Gesprächskontrolle konfrontiert wurden und über die Anordnung der Gesprächsüberwachung entrüstet waren. Eine der ersten Verteidigermaßnahmen war daher die Beschwerde an den BGH gegen die Anordnung der Gesprächskontrolle. Die Überwachung des Gespräches des Verteidigers mit dem verhafteten Beschuldigten sei, wie in der Beschwerde ausgeführt, eine so starke Beschränkung der Verteidigung, daß sie einer Aufhebung des Instituts der rechtsstaatliehen Verteidigung für die Verfahrensabschnitte bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gleichkomme. Diese Beschränkung der Verteidigung könne allenfalls dort gerechtfertigt sein, wo der Untersuchungszweck und die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs wegen der Unzuverläs-

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Heinrich Ackermann

sigkeit des Verteidigers gefährdet seien. Denn er allein könne als Brücke zwischen dem Untersuchungsgefängnis und der Außenwelt nach dem Gespräch mit dem inhaftierten Beschuldigten wirksam Verdunkelungsmaßnahmen treffen. Der 3. Senat des BGH verwarf die Beschwerde durch Beschluß vom 16. 11.1962 1 und erklärte in der Begründung unter anderem, "die absolute Integrität des Beschwerdeführers steht außerhalb jeder Erörterung"; indessen könne auch ein Anwalt vom Beschuldigten als gutgläubiger Zwischenträger harmlos klingender, aber verdunkelnder Mitteilungen mißbraucht werden. Außerdem treffe die Besorgnis des Verteidigers, in Gegenwart des Richters könne er seine Beratungsaufgabe nicht erfüllen, in dieser Weise nicht zu. In diesem frühen Stadium des Verfahrens könne er den Beschuldigten auch ohne nähere Erörterung des Verfahrensgegenstandes, wenn diese vermieden werden solle, über die einschlägigen Verfahrensvorschriften und Rechtsmittel, über die gesetzliche Stellung des Beschuldigten und seine Rechte im Verfahren und den Inhalt der einschlägigen Strafvorschriften ausführlich beraten. Dadurch könne er es ihm erleichtern, sachdienliche Entschlüsse zu fassen und von seinen Verfahrensrechten Gebrauch zu machen. Auch sei es gesetzlich unzutreffend, davon auszugehen, die Anwesenheit des Richters hindere den Beschuldigten daran, sich ohne rechtlichen Nachteil mit dem Verteidiger auszusprechen. Welch eine Verkennung der umfassenden Aufgabe der Verteidigung eines in der Not und Abgeschiedenheit der Untersuchungshaft des Beistandes des Verteidigers besonders bedürftigen Beschuldigten! Von dem erst heute aktuellen Argument der Gefahr des konspirativen Verhaltens zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten war damals noch keine Rede. Die weite Auslegung, die der BGH der Vorschrift des § 148 Abs. 3 StPO solchermaßen gab, und die dadurch heraufbeschworene Gefahr des Mißbrauchs an der Alltagsfront der Haftpraxis waren Anlaß für die deutsche Anwaltschaft, sich mit Unterstützung von namhaften Vertretern anderer juristischer Berufe und von Abgeordneten des Bundestages gegen jegliche Kontrolle des Gesprächs zwischen Verteidiger und Untersuchungsgefangenem und somit für die Streichung des§ 148 Abs. 3 StPO einzusetzen. li.

Die Meinung, der Verteidiger könne auch in Gegenwart des Richters seine Beratungsaufgabe erfüllen, ist praxisfremd und irrig. Die Ge1

Az: 6 B.Ts 469/62 - StB 19/62.

Zur Problematik der Überwachung des Verteidigergespräches

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sprächskontrolle durch den Richter, welcher auch immer er sei, macht das Recht eines jeden verhafteten Beschuldigten auf den Beistand eines Verteidigers "in jeder Lage des Verfahrens" (§ 137 Abs.1 StPO) illusorisch. Es ist nicht möglich, daß der Beschuldigte, ohne sich mitunter empfindlich zu schaden, mit seinem Verteidiger gerade über diejenigen Punkte der Sach- und Rechtslage spricht, in denen er am meisten des Rates des juristisch gebildeten Beistandes bedarf. Sobald der Verhaftete irgendwelche Tatsachen oder Beweismittel, die ihn möglicherweise belasten, erwähnt und den Verteidiger nach ihrer rechtlichen Bedeutung und nach den Folgen ihrer Offenbarung im Verfahren fragt, kann ihm bereits ein empfindlicher -und zwar auch rechtlicher- Nachteil erwachsen. Denn es ist ja die Aufgabe jeglichen überwachenden Richters, gerade den Inhalt des Gespräches und nicht etwa nur das äußere Verhalten der Gesprächspartner zu kontrollieren. Mag der Inhalt des Gespräches auch keinen Grund zur richterlichen Beanstandung wegen der Gefahr der "Verdunkelung" oder der "Konspiration" zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten bieten, so kann doch, namentlich bei dem Verdacht schwerwiegender Straftaten, der Richter sich, auch wenn er grundsätzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, veranlaßt sehen, das Gehörte wegen seiner Bedeutung für die Aufklärung der Wahrheit nach einer Rechtsgüter- und Pflichtenabwägung zum Schaden des Beschuldigten in das Verfahren einzuführen. Vor solcher Möglichkeit müßte ein verantwortungsbewußter Verteidiger den Beschuldigten warnen, so daß dieser weitgehend verunsichert wäre und nicht mehr wüßte, was er seinem Verteidiger, ohne sich zu schaden, über das Tatgeschehen, seine Person und andere für die Verteidigung bedeutsame Umstände mitteilen soll. Hinzu kommt die psychologische Hemmung, vor den Ohren eines Dritten, noch dazu eines als "Feind" angesehenen überwachenden Richters, über höchstpersönliche, oft intime und peinliche Tatsachen und Gedanken gegenüber dem Verteidiger als Vertrauensperson zu sprechen. Trotz aller in den letzten Jahren im Rahmen der Diskussion über die Gesprächskontrolle gemachten Vorschläge, die Aufgabe des überwachenden Richters auf ein Mindestmaß zu beschränken und ein Verwertungsverbot für das aus den überwachten Gesprächen Gehörte zu verhängen, kann die einschneidende Beschränkung der Verteidigung durch die Verhinderung des offenen und unbelasteten Gespräches zwischen Verteidiger und Beschuldigtem nicht vermieden werden. Dieses Gespräch aber ist das Kernstück jeder Verteidigung sowohl in sachlich-rechtlicher als auch in menschlicher Hinsicht. Wenn dies schon für jegliche Verteidigung gilt, so erst recht für die des von der Außenwelt abgeschnittenen und allein auf den Verteidiger als vertrauenswürdigen Gesprächspartner angewiesenen Untersuchungsgefangenen.

Heinrich Ackermann

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III.

Für den senosen Verteidiger ist die Überwachung dessen, was er mit dem von ihm beratenen und menschlich betreuten Beschuldigten bespricht, nicht zumutbar. Kein Anwalt von Ansehen und Selbstachtung- und 99 Ofo aller Verteidiger sind Anwälte - wäre bereit, eine Verteidigung zu führen, wenn ihm das unkontrollierte und vertrauensvolle Gespräch unter vier Augen mit dem Beschuldigten verwehrt wäre. Nicht nur das durch die Anordnung der Gesprächsüberwachung auch ihm gegenüber zum Ausdruck gebrachte entwürdigende Mißtrauen, sondern auch die Unmöglichkeit einer im Rahmen der Gesetze optimalen, "ausgeschöpften" Verteidigung wären für ihn Gründe, die Verteidigung schlechthin abzulehnen.

IV. Aus den hier dargelegten Gründen wurde von jeher, und nicht nur seitens der Anwaltschaft, die Möglichkeit der richterlichen Gesprächskontrolle bekämpft. Der Inhalt des § 148 StPO war immer heiß umstritten. Ein Blick in die Vergangenheit bis hin zur völligen Streichung des§ 148 Abs. 3 StPO im Jahre 1964 zeigt dies: Schon bei der Schaffung der Strafprozeßordnung im Rahmen der Reichsjustizgesetze hatten sich die Strafprozeßkommission und der Reichstag bis zur 2. Lesung für freien mündlichen Verkehr des "verwahrten Beschuldigten" mit seinem Verteidiger ausgesprochen. Lediglich wegen des Widerstandes der Regierungen wurde im Wege einer Verständigung die Zulässigkeit zugestanden, auch den mündlichen Verkehr vor der Eröffnung des Hauptverfahrens zu kontrollieren. Aber auch der solchermaßen als Kompromiß beschlossene § 148 Abs. 3 StPO war und wurde Gegenstand lebhafter Kritik. Das zeigen mit aller Schärfe die Debatten der Rechtsausschüsse, sei es des Reichstages, sei es des Bundestages. Im Reichstagsausschuß sagte der Abgeordnete Dr. Gneist2 : "Streiche man den Absatz 3 - die unbeschränkbare Sprecherlaubnis -, so komme das auf die vollständige Beseitigung der Verteidigung hinaus. Den Verteidiger zuzulassen, aber bei der Unterredung einen Dritten zuzuziehen, heiße nichts anderes, als den Verteidiger nicht zuzulassen." 2

Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, Band II,

s. 1624 ff.

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Der Abgeordnete Dr. Völk meinte3 : "Er für seine Person würde sich zu dieser Unterredung mit dem Angeklagten niemals entschließen, wenn man ihm einen Kontrolleur aufdrängen würde." Praktisch besonders erfahrene und angesehene Juristen des Rechtsausschusses des Bundestages führten 1962 in der Diskussion über die Änderung des § 148 StPO aus 4 : "Umgekehrt würde ihn - den Abgeordneten - als Verteidiger diese Aufsicht indignieren, und außerdem schließe sie aus, was der Verteidiger wissen müsse: ob der Beschuldigte gestehen wolle. Hierauf müsse seine ganze Taktik aber aufbauen." "Ein Gespräch mit dem Mandanten in Gegenwart eines Richters zu führen, sei sinnlos - man könne ihn höchstens beruhigen -, und er - der Abgeordnete - habe sich auch geweigert, solche Gespräche zu führen. Er halte auch die Rolle des Richters, der aufpassen müsse, für unwürdig." Derselbe Tenor klingt aus fast allen Stimmen der Literatur. So sagte Bartning, der angesehene Verteidiger 5 : "Mit seinem Klienten darf der Verteidiger nur unter Überwachung verkehren, d. h. er kann kein freies und vernünftiges Wort mit ihm reden." Robert von Hippel erklärte6: "Es ist dringend zu wünschen, daß von diesen Einschränkungen nur ausnahmsweise aus besonders gewichtigen Gründen Gebrauch gemacht werde. Gerade der Verhaftete bedarf doppelt der Verteidigung. Ein überwachter Verkehr aber ist für sachgemäße Verteidigung ungenügend und schädigt dadurch zugleich rechtzeitige Aufklärung vor Eröffnung des Hauptverfahrens." Dünnebier führt aus 7 : "Nach § 137 Abs.1 S.1 kann sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. Dieses Recht, nach derzeitiger Auffassung selbstverständlich, gewinnt besondere Bedeutung, wenn der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß ist ... Daher ist der völlig freie Verkehr des Beschuldigten mit dem Verteidiger mehrfach von angesehenen Organisationen gefordert worden, z. B. vom Anwaltstag, von der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung und von der Kommission für die Reform des Strafprozesses ... Wegen der hohen Bedeutung, die das Vertrauen des Beschuldigten a a.a.O. S. 1625. 4 Stenographisches Protokoll der 36. Sitzung vom 13. 12. 1962. s Die Stellung des Verteidigers im Strafprozeß, Druckschriften Nr. 18 des Deutschen Anwaltsvereins (1929), S. 18. 6 Der deutsche Strafprozeß (1941!), § 49 VII 1, S. 300 f. 7 In Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufl. (1978), Rdnr. 1 u. 2 zu § 148.

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zu seinem Verteidiger sowohl im Interesse des Beschuldigten als auch des Staates für das Strafverfahren hat, waren die einengenden Klauseln in der Dritten Lesung des Strafprozeßänderungsgesetzes 1964 ganz gestrichen worden mit der Begründung, sie enthielten eine Diskriminierung des Anwalts und machten es dem Verteidiger unmöglich, seines Amtes zu walten." Sodann erklärt Dahs sen.S als einer der erfahrensten und führenden Strafverteidiger der Bundesrepublik: "Allein die ständige Verbindung mit dem verhafteten Beschuldigten setzt den Verteidiger in den Stand, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Da die diskriminierenden Bestimmungen über die richterliche Kontrolle des schriftlichen und mündlichen Verkehrs mit dem Beschuldigten aufgehoben sind (§ 148 a. F. StPO), kann der Verteidiger ohne Einschränkung mit seinem Mandanten Verbindung halten. Insbesondere sind schon vor Beginn des Hauptverfahrens schriftliche und mündliche Besprechungen ohne jegliche Kontrolle durch Gericht oder Staatsanwalt möglich. Diese Befugnis darf ihm auch nicht mit der Begründung versagt werden, der Untersuchungszweck werde gefährdet. Jeder Beschränkung der Rechte ist zu widersprechen ... " Soweit ersichtlich, erhob und erhebt sich keine praxisnahe und somit sachverständige Stimme dafür, daß die richterliche Gesprächskontrolle nicht etwa eine Beschränkung der Verteidigung in ihrem Wesenskern sei. Auch in allen kritischen Stellungnahmen im Zuge der jüngsten Strafprozeßreform von seiten der von der Gesprächsüberwachung unmittelbar betroffenen Juristen, der Anwälte und der Richter, kommt dies deutlich zum Ausdruck. So vertrat und vertritt der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer von jeher und aus der reichen Erfahrung führender Strafverteidiger den Standpunkt, "daß die freie und unkoutrollierte Verständigung zwischen dem Beschuldigten und seinem Rechtsbeistand das Fundament für eine wirksame Verteidigung ist". Aus dieser Erfahrung erwuchs seit Bestehen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (1947), dem neben erfahrenen Anwälten auch Strafrechtsprofessoren und Strafrichter angehören, die Forderung nach ersatzloser Streichung des bis zum Irrkrafttreten des Strafprozeßänderungsgesetzes vom 19. 12. 1964 (1. 4. 1965) geltenden Absatzes 3 des§ 148 StPO. Diese Forderung erfüllte der Gesetzgeber 1964 mit einer Begründung, die der des Anliegens des Strafrechtsausschusses weitgehend entsprach. s Handbuch des Strafverteidigers, 3. Aufl. (1970), Rdnr. 259.

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