Was ist Leben?: Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428531554, 9783428131556

Der Begriff des Lebens hat in weiten Teilen der akademischen Philosophie des 20. Jahrhunderts keine zentrale Rolle gespi

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Was ist Leben?: Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428531554, 9783428131556

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ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 98

Was ist Leben? Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Simon Springmann und Asmus Trautsch

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Begründet von Kurt Schelldorfer

Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)

Schriftleitung Volker Gerhardt

Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.

SIMON SPRINGMANN / ASMUS TRAUTSCH (Hg.)

Was ist Leben?

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 98

Was ist Leben? Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Simon Springmann und Asmus Trautsch

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13155-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Alle menschlichen Leistungen stehen unter der Bedingung des Lebens. Auch wenn sie als Symbolsysteme, soziale Praktiken, ästhetische Formen, rechtliche Institutionen oder politische Ordnungen eine Realität sui generis gewinnen, bleiben sie immer an den Prozess des Lebens gebunden, ohne den keine menschliche Aktivität, wie abstrakt und kulturell geformt sie auch sein mag, denkbar ist. Diese Einsicht gilt gleichermaßen für die Philosophie selbst. Dass ihr die Aufgabe zukommt, diese Bedingung auch ihrer eigenen Leistungen bewusst zu machen und sie theoretisch zu fassen, bedeutet keine Beschränkung der Lebenswissenschaften, sondern ihre Ergänzung. Denn wir können Leben in seinen schlicht unüberschaubaren natürlichen und kulturellen Dimensionen nur begreifen, wenn wir auch die Erfahrung des eigenen Lebendigseins mit einbeziehen. Das Äußere als Ausdruck einer Innenwelt oder die Selbstorganisation aus eigenem Impuls lassen sich ohne Analogie zu unserer praktischen Selbsterfahrung nicht wirklich verständlich machen. Um etwa pflanzliche Signalverarbeitung oder morphologische Merkmale in ihrer Funktionalität für den Organismus adäquat verstehen zu können, müssen wir uns zunächst selbst als zwecksetzende, also normative Erfahrungstiere begreifen. In das Verständnis von Wesen, die sich selbst fortwährend erzeugen und dadurch erhalten, geht immer auch unsere Erfahrung eigener Lebendigkeit mit ein. Diese Erfahrung in ihrer Allgemeinheit zu reflektieren und in ihrer für die kulturelle Existenz des Menschen konstitutiven Funktion zu begründen, ist eine philosophische Aufgabe. Ihr hat sich Volker Gerhardt seit über drei Jahrzehnten auf produktive Weise gewidmet. Dabei wurde das Leben als „das alles tragende Fundament und der alles treibende Impuls“1 sämtlicher humaner Leistungen von ihm für die Ethik, das Recht, die Politik und die Anthropologie fruchtbar gemacht und in Rückgriff auf die philosophische Tradition von Platon über Kant und Nietzsche bis zu Plessner ausführlich begründet. Auch Volker Gerhardt dürfte daher eine erneute Aufmerksamkeit für das Leben in der Philosophie zu verdanken sein – für das Leben „das wir sind, aus dem wir alles haben und in dem wir völlig aufgehen.“2 Die sokratische Frage, was das Leben sei, kann nicht mit einer einfachen Proposition beantwortet werden. Dies verbietet schon die fortwährende Dyna1

Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 97. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 19. 2

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Vorwort

mik des Lebens selbst, das wir in seiner Entstehung und Entwicklung durch die Evolutionstheorie zwar recht gut erklären können, das aber schon im individuellen Fall eine schier unabsehbare Komplexität hervorbringt, die sich jeder vollständigen begrifflichen Festlegung entzieht. Auch spricht alles dafür, dass wir nicht erst bei der Willensfreiheit ansetzen müssen, um einen durchgängigen physikalischen Determinismus in Zweifel zu ziehen, sondern bereits bei der Spontaneität von Lebewesen und der sich aus eigenem Impuls vollziehenden Individualisierung. Eine philosophische Theorie des Lebens, die diese Einbettung von Vernunft und Selbstbestimmung im Lebendigen auf den Begriff bringt, vermag deutlich zu machen, dass bereits im Leben selbst die Grundlage für Freiheit und unser Selbstverständnis als sich selbst bestimmende Wesen angelegt ist.3 Von diesen Einsichten Volker Gerhardts sind viele seiner Schüler, Mitarbeiter und Weggefährten geprägt worden. Um den Tag zu feiern, an dem die Entwicklung eines exemplarischen Lebens vor 65 Jahren begann, haben sie die für Volker Gerhardts Denken schlichtweg grundlegende Frage nach dem Lebendigen in kurzen Essays zu reflektieren versucht. Dass dabei keine definitive Antwort gegeben werden konnte, versteht sich – naturgemäß – von selbst. Es geht daher in diesem Band, der in unterschiedlichen historischen und systematischen Perspektiven etwas vom Leben in den Blick nimmt, nicht darum, eine etwaige „Essenz“ des Lebens theoretisch zu destillieren oder mittels Bedeutungsanalysen eine Realdefinition zu generieren. Selbst die wissenschaftliche Disziplin, die das Leben (bios) im Titel trägt, vermag es nicht, eine Definition zu liefern, mit der die Komplexität der beispiellos schöpferischen, sich mannigfaltig organisierenden, nach Art praktischer Teleologie individualisierenden und doch insgesamt unabsehbaren Lebensdynamik zu fassen wäre. Im Sinne des späten Wittgenstein muss man daher nicht von einem „objektiven Bedeutungskern“ ausgehen, es genügt vielmehr, den Begriff „Leben“ als eine große, Natur und Kultur umfassende und sich wandelnde Begriffsfamilie zu verstehen, „ein vielfältiges Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“4. Das Ziel ist es daher, sich der Frage nach dem Leben in philosophischer Perspektivenvielfalt anzunähern, die es selbst durch die eigene Unabgeschlossenheit und Dynamik immer wieder herausfordert. Je mehr Perspektiven, so die Hoffnung, „je m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivität‘.“5 In der Form „unserer Objektivität“ bleiben wir dabei selbstverständlich immer an die „Perspektive des Menschen“6 gebunden. 3 Vgl. Volker Gerhardt: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit, in: Naturgeschichte der Freiheit. Humanprojekt 1, hrsg. von Jan-Christoph Heilinger, Berlin/New York 2007, S. 457–479. 4 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, § 66.

Vorwort

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Dass ein Denker der Selbstständigkeit und der Individualität, in der das Leben notwendigerweise auftritt und sich steigert, keine Schule etablieren will, ist nur konsequent. Und in der Tat versteht es Volker Gerhardt, seine Dialogpartner als Individuen zu adressieren, sie in ihren eigenen Interessen ernst zu nehmen und von ihnen zu erfragen, was sie denn – etwa über das Leben – selbst denken, auch wenn die Antwort seinen Einsichten nicht entspricht. Gerade diese Anerkennung eigenständiger Leistungen hat dazu geführt, dass in kurzer Zeit Gedanken aus Ländern nahezu aller Kontinente – von Großbritannien bis Griechenland, von den USA über Brasilien, Angola und Indien bis China – für diesen Band beigesteuert wurden. Dass der Jubilar seinen Schülern, Mitarbeitern und Kollegen aus seinen Berliner Jahren immer zustimmen kann, erwarten sie – natürlich – nicht. Entscheidend ist, dass etwas von der allgemeinen Bedingung zur Sprache kommt, die uns alle trägt. Unser Dank gilt den Autoren und natürlich dem Adressaten dieser Festgabe, dessen Einsichten über das Leben in den Essays implizit und ausdrücklich produktiv geworden sind. Ihm gratulieren wir im Namen aller Autoren herzlich zum Geburtstag. Zudem danken wir Héctor Wittwer und Nicole Fiebig für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Buchs und Lisa Heller für die Korrektur des gesamten Manuskripts. Für weitere Korrekturen und Anregungen danken wir Christine Baur, Miriam Burgheim, Jan-Christoph Heilinger, Marco Haase und Einav Katan. Und Dr. Florian Simon sowie seinen Mitarbeitern vom Verlag Duncker & Humblot, insbesondere Lars Hartmann, gilt unser herzlicher Dank für die zügige Publikation dieser Sammlung. Berlin, im Mai 2009

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Simon Springmann und Asmus Trautsch

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 365. Vgl. Volker Gerhardt: Die Perspektive des Menschen, in: Perspektiven des Perspektivismus. Gedenkschrift zum Tode Friedrich Kaulbachs, hrsg. von Volker Gerhardt/ Norbert Herold, Würzburg 1992, S. V–XV. 6

Inhaltsverzeichnis Simon Springmann Leben als Machtorganisation. Ein Antwortversuch auf die Frage nach dem Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Asmus Trautsch Wie ist es, lebendig zu sein? Über die Selbsterfahrung gesteigerten Lebens . .

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Angela Breitenbach Die Frage nach dem Lebendigen in Zeiten biowissenschaftlichen Fortschritts

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Nikolaos Loukidelis Zu Nietzsches Begriff vom menschlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Franziska Martinsen Das gute Leben = das vernünftige Leben = das politische Leben? . . . . . . . . . .

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Jacqueline Karl Zwischen Sterblich- und Unsterblichkeit. Eine platonische Antwort auf die Frage nach dem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kai Lehmann Leben als verantwortliches Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mattia Riccardi Geist und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Boldt Neomikroben. Leben als Produkt der synthetischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . .

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Richard Fonseca Die Naturgeschichte der Ethik. Leben und Selbstbestimmung bei Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Núria Sara Miras Boronat Perspektiven und Formen des Lebens. Nietzsche und Wittgenstein . . . . . . . . . .

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Hartmut von Sass Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Über religiösen Glauben und metaphysische Ausflüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sarah Hegenbart Brauchen wir Ideen zum Leben? Autonomes Denken und Urteilen als essenzielle Fähigkeiten des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Thumfart Kant und Nietzsche gegen Darwin. Zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Lebensbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Péter Jánosfalvi Bedingungen und Strukturmerkmale der aus der Not geborenen Mittelpunktslage. Interpretation des Begriffs des Lebens von Volker Gerhardt durch eine vergleichende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ana Carolina da Costa e Fonseca Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen und Kants kategorischer Imperativ als praktische Imperative für unterschiedliche Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . .

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Servanne Jollivet Das radikale Jasagen zum Leben. Oder wie das Denken am Leben bleibt . . . . 105 Nikolaj Belzer John Ford – Leben im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ioannis Touras Das Leben im Spiegel des Menschenverstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Shruti Jain Leben ist, wo das Herz schlägt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Tanja Gloyna Weisheit Asiens Tag für Tag. Aus dem Leben: ein Telefonat . . . . . . . . . . . . . . . 121 Shu Yuanzhao Das Leben des Menschen ist eine Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Fiorella Battaglia Geist als das belebende Prinzip im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Rahel Villinger Lebensgefühl. Notiz zu einem Begriff aus der Analytik des Schönen . . . . . . . . 133 Oliver Thorndike Life and Reason in Kant’s Practical Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Markus Kartheininger Philosophie des Lebens. Skizze und historische Perspektivierung einer Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Mark Schweda Bürgerliches Leben und praktische Philosophie. Zu Joachim Ritters Deutung des aristotelischen „bios politikos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Jan Prause-Stamm Alle Philosophie ist Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ulrich Miksch Wie der Philosophie in Berlins Mitte neues Leben zuwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Erik Lehnert In der Festung – Leben im Verborgenen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Mathias Iven „Werde, der du bist!“ Fragen an das Leben in der digitalen Welt . . . . . . . . . . . 169

Inhaltsverzeichnis

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Ursula Pia Jauch Über die allmähliche Vertreibung des Lebens (und der Philosophie) aus dem erkenntnisoptimierten Binnenraum der spätmodernen Hohen Schule . . . . . . . . . 173 Milica Trifunovic Das politische Leben und das Leben des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Holger Sederström Leben als Tätigsein. Zum Begriff des Lebens bei Hannah Arendt . . . . . . . . . . . 185 Wilson McClelland Dunlavey Vivre c’est essayer: Montaignes Philosophie heißt Sterben lernen . . . . . . . . . . . 191 Uta Bittner Amo, ergo sum. Die Liebe als Ausdruck und konstitutives Merkmal personalen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Manos Perrakis Leben: Der Versuch, die Zeit musikalisch zu gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Christian Vogel Leben macht den Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Oliver Müller Technik als Methode des Lebens. Eine Überlegung mit Ernst Cassirer . . . . . . . 209 Nicole Wloka Politik und Leben. Oder: Warum das Selbstbestimmungsrecht dem Menschen für die gesamte Zeit seines Lebens zukommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Henning Hahn Homo Cosmopoliticus. Skizze zu einem Programm politischer Anthropologie in weltbürgerlicher Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Philipp Ruch Hobbes’ Antwort. Die Seele, der Ruhm und die „Haltung des Krieges“ . . . . . 221 Roberta Pasquarè Lebendige Natur oder künstliches Werk: die Metaphern des politischen Lebens im abendländischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Stascha Rohmer „The Art of Life“. Zu Alfred North Whiteheads Deutung des Lebens als Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Ursula Ziegler Leben als Bildung. Eine platonische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Janina Sombetzki Exemplarität als Streben. Entwurf einer Konkretisierung des Lebensbegriffs in Anlehnung an Volker Gerhardts Theorie des exemplarischen Daseins . . . . . 239 Nicola Nicodemo Kunst als Leben und Leben als Kunst. Nietzsche als „Existenzphilosoph par excellence“ in der Interpretation von Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

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Inhaltsverzeichnis

Wolf Gorch Zachriat Was treibt das Leben an? Nietzsches Suche nach einer zentralen Lebenskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Bettina Fröhlich Philosophie und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Alexander-Maria Zibis Mut zum Eigen-Leben. Lebensbeschreibung und Lebensbegriff in Nietzsches Ecce homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Georg Sans SJ Seliges Leben. Über eine Ambivalenz bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Marco Haase Die Freiheit des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Jan-Christoph Heilinger/Verina Wild Wie aber leben? Ein Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Gabriele Osthoff-Münnix Was Leben ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Zitierweise Schriften von Immanuel Kant werden unter Angabe des Titels, der Bandnummer und Seitenzahl zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (Akademie-Ausgabe, abgekürzt als AA). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach den Paginierungen der Erst- (A) und Zweitauflage (B) zitiert. Schriften und Briefe von Friedrich Nietzsche werden unter Angabe des Titels, der Bandnummer und Seitenzahl zitiert nach: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgo Colli/Mazzino Montinari, 2. durchgesehene Auflage, München/Berlin/New York 1988 (abgekürzt als KSA). Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgo Colli/Mazzino Montinari, 2. durchgesehene Auflage, München/Berlin/New York 1986 (abgekürzt als KSB). Werke von Platon werden unter Angabe der Stephanus-Paginierung zitiert, Werke von Aristoteles unter Angabe der Seiten- und Zeilenzahlen der Bekker-Ausgabe (Immanuel Bekker: Aristotelis Opera, Berlin 1831).

Leben als Machtorganisation Ein Antwortversuch auf die Frage nach dem Lebendigen Simon Springmann Auf die Frage „Was ist Leben?“ bekommt man sehr unterschiedliche Antworten von den verschiedenen Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Noch viel weiter – und reicher – wird der Begriff des Lebens, wenn wir dessen vielfältige Charakterisierungen durch die Dichter hinzunehmen,1 wenn wir die religiösen Traditionen berücksichtigen2 oder wenn wir einfach Menschen in unterschiedlichen existenziellen Lebenssituationen nach ihrem Verständnis von Leben befragen.3 An der Bandbreite der Assoziationen, die sich allein durch diese Aufzählung ergeben, lässt sich bereits ablesen, dass die reduktionistische Gleichung „Leben = Physik + Chemie“, die Bernd-Olaf Küppers, wohlgemerkt in Frageform, einer Aufsatzsammlung als Überschrift verleiht, nicht das letzte Wort sein kann.4 Was aber wäre eine befriedigende Antwort auf unsere Leitfrage, oder handelt es sich hierbei eventuell um die Art von Fragen, derer sich einflussreiche Strömungen der Philosophie im letzten Jahrhundert allzu gern entledigt hätten? Sollte man „Leben“ einfach als „nur eine von vielen in Misskredit geratenen Totalitäten“ ansehen, wie Terry Eagleton es der Postmoderne vorwirft,5 und das Thema theoretisch besser vollkommen meiden? Meines Erachtens ist es kein vielversprechender Weg für die Philosophie, den „großen Fragen“ aus dem Weg zu gehen oder die Aufmerksamkeit – statt auf den Versuch ihrer Beantwortung – darauf zu lenken, die Fragen selbst zum Verschwinden zu bringen.6 Ich werde mich hier auch nicht mit einer unter Umstän1 Beispielsweise in Macbeth: „Was ist Leben? / Ein Schatte, der vorüber streicht! Ein armer Gaukler, / Der seine Stunde lang sich auf der Bühne / Zerquält und tobt, dann hört man ihn nicht mehr. / Ein Mährchen ist es, das ein Thor erzählt, / Voll Wortschwall, und bedeutet nichts.“ (Friedrich Schiller: Macbeth ein Trauerspiel von Shakespeare, Fünfter Aufzug, sechster Auftritt, Mannheim 1803). 2 Z. B. die christliche, nach der Jesus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 14, 6). 3 Wie sehr würden wohl die Antworten differieren, fragte man z. B. einen Jugendlichen oder einen Alten, einen Studierenden, eine Schwangere, einen Gefängnisinsassen oder eine Soldatin im Einsatz, was für sie jeweils Leben sei? 4 Bernd-Olaf Küppers: Leben = Physik + Chemie? Das Lebendige aus Sicht bedeutender Physiker, München/Zürich 1987. 5 Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens, Berlin 2008, S. 31.

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Simon Springmann

den durchaus fruchtbaren Kritik der Frage beschäftigen, sondern vielmehr versuchen, wenn auch selbstverständlich nicht die Antwort, so doch zumindest einige Hinweise auf eine mögliche Antwort zu geben und eine mögliche Perspektive skizzieren, wie Leben von philosophisch-organisationstheoretischer Warte aus gedeutet werden kann. Dies geschieht in drei Schritten, in denen Leben erstens als Organisationsphänomen, zweitens und damit zusammenhängend als Phänomen der Macht interpretiert wird. Die Machtorganisationen, als die Lebewesen hier gedeutet werden, sind, dies ist der dritte Schritt, dadurch gekennzeichnet, dass wir als Menschen uns selbst als solche und somit als Teil des Lebens zu betrachten haben. Hierin wird abschließend eine Chance verortet, Leben als potenziell sinnvolles zu begreifen. Die macht- und organisationstheoretische Deutung von Leben zeigt daher die Möglichkeit einer Verbindung von abstrakter Perspektive und konkretem menschlichen Erfahrungs- und Erlebniszusammenhang auf, eine Verbindung, die Philosophie aus meiner Sicht immer herzustellen versuchen muss. I. Leben als Organisation Leben prägt sich in Einheiten aus. Diese Einheiten bezeichnen wir als Lebewesen. Lebewesen entstehen aus anderen Lebewesen, zeugen unter Umständen neue Lebewesen, vergehen mit absoluter Sicherheit, und – das ist an dieser Stelle der Punkt – bestehen als eine gewisse räumliche Einheit für eine gewisse Dauer. Für Lebewesen sind, grob gesagt, Strukturen notwendig, verstanden als Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems. Diese Beziehungsmuster, beispielsweise zwischen Organen, Zellen, Zellorganellen etc., oder allgemeiner: zwischen verschiedenen Kräften und Kräftezentren, kann man auch als „Organisation“ bezeichnen. Der Begriff der Organisation wird gemeinhin in dreifacher Weise verwendet: Erstens bezeichnen wir mit „Organisation“ einen Prozess der Planung, Gestaltung oder Strukturierung. Dies ist uns aus dem eigenen Handeln bekannt, beispielsweise wenn wir eine Geburtstagsfeier (oder eine Festschrift) „organisieren“. Generell beinhaltet der Organisationsprozess das Auffinden, die Auswahl und die adäquate Zusammenstellung von Mitteln zu einem bestimmten Ziel oder Zweck. Zweitens bezieht sich „Organisation“ auf das Produkt oder das Ergebnis dieses Organisationsprozesses, also auf die Organisiertheit als Resultat eines wie auch immer im Einzelnen gearteten Vorgangs des Organisierens. Allgemein betrachtet, kann man „Organisation“ als die „Zusammenordnung von Teilen zu einem Ganzen“ bezeichnen, „und zwar sowohl den Prozeß der Herstellung einer funktionsfähigen Verbindung als auch den dadurch gebildeten Zu6 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M. 1963, § 6.52 f., S. 114 f.

Leben als Machtorganisation

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stand.“7 Die dritte Verwendung ist die einer gesellschaftlichen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Organisation. Zu derartigen institutionellen Organisationen können, je nach Fassung des Begriffs, Vereine, Parteien, Non-Profit-Organisationen, Unternehmen, öffentliche Verwaltungen, Universitätsgremien usw. gezählt werden.8 In anderer Terminologie ausgedrückt, kann man rekapitulierend drei Verwendungsweisen von „Organisation“ unterscheiden, eine funktionale („Etwas wird organisiert“), eine instrumentale („Etwas hat eine Organisation“) sowie eine institutionale („Etwas ist eine Organisation“).9 Die Herkunft des Begriffs aus dem menschlichen Tätigkeitsbereich ist hierbei offenkundig, allerdings muss Organisation nicht auf diesen beschränkt gedacht werden, sondern kann für diverse Phänomene der belebten und unbelebten Natur Verwendung finden, wie auch die theoretischen Arbeiten zum Phänomen der Selbstorganisation bestätigen.10 Wichtig für unseren Kontext ist, dass Lebewesen als ein prominentes Beispiel von Organisation bzw. Selbstorganisation gelten können, wie dies bereits bei Kant der Fall ist, auf den der Begriff der Selbstorganisation zurückzuführen ist und der den Organismus in der Kritik der Urteilskraft als „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen“11 definiert. 7 Niklas Luhmann: Art. „Organisation“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Darmstadt 1984, Bd. 6, S. 1326. Die Unterscheidung in Herstellungsprozess sowie daraus resultierender Beschaffenheit eines Zustandes entspricht der Herkunft des Begriffes aus dem menschlichen Handlungsbereich: Organisation lässt sich demnach auf die altgriechischen Begriffe ergon (Werk, Dienst, Leistung, Funktion), organon (Werkzeug, Instrument, Körperteil) und organikos (instrumental, organisch) zurückführen sowie im Neulateinischen und Französischen ab dem 14. Jh. auf organisatio bzw. organisation (Beschaffenheit bzw. Herstellung eines natürlichen Körpers) und organisare bzw. organiser (einrichten, ordnen, gestalten derselben). (Vgl. Emil Walter-Busch: Organisationstheorien von Weber bis Weick, Amsterdam 1996, S. 6) 8 Vgl. Jörg Bogumil/Josef Schmid: Politik in Organisationen, Opladen 2001, S. 30. 9 Vgl. z. B. auch Gabler Wirtschafts-Lexikon, Wiesbaden 1988, Bd. 4, S. 751. 10 Vgl. einführend zu diesen Arbeiten beispielsweise Alberto Gandolfi: Von Menschen und Ameisen. Denken in komplexen Zusammenhängen, Zürich 2001; weiterführend etwa Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.): Ordnung aus dem Chaos. Prinzipien der Selbstorganisation und Evolution des Lebens, München 1991. 11 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 374; H. v. m. In einem solchen Organismus ist „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel“ (ebd., S. 376). Der Begriff eines „organisirten Wesens“ führt es laut Kant schon bei sich, „daß es eine Materie sei, in der alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht“ (Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, AA 8, S. 179). Jeder Teil ist dabei nach Kant nicht nur für andere Teile da, sondern darüber hinaus auch durch andere Teile hervorgebracht. In Maschinen kann „ein Theil [. . .] zwar um des andern Willen“ da sein, wie sich am Beispiel ineinandergreifender Zahnräder einer Uhr verdeutlichen lässt, „aber nicht durch denselben“ (Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 374; H. v. m.). Dies ist anders in lebendigen, sich selbst erzeugenden, organisierenden und erhaltenden Naturprodukten, die von sich selbst in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig Ursache und Wirkung sind, wie Kant am Beispiel eines Baumes illustriert (vgl. ebd., S. 371 f.).

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Organismen können demnach als Organisationssysteme angesehen werden, die durch eine Reihe von Charakteristika gekennzeichnet sind, z. B. durch Selbsterhaltung, Stoffwechsel und Fortpflanzung. Im Vergleich zu unbelebter Materie zeichnen sich Organismen darüber hinaus u. a. durch den Grad ihrer Organisation aus, durch die ungleich höhere Komplexität, durch ihre spezifische Form der Selbstorganisation, bei der „Ordnung aus Ordnung“12 geschaffen wird, sowie durch eine Funktionalität im Aufbau, die auf einen inneren Zweck zu verweisen scheint. Als Zwischenresümee lässt sich daher festhalten: Leben prägt sich in Einheiten, in komplexen Organisationen oder genauer: Organisiertheiten aus, die eine gewisse Stabilität und Eigenständigkeit äußeren Einflüssen gegenüber aufweisen.13 Die Rede von der Organisation ist meines Erachtens auch gut geeignet, diese Einheiten des Lebens nicht in einem falschen Sinne als einheitlich zu verstehen: Denn es wird schnell deutlich, dass diese lebendigen Einheiten keineswegs so einheitlich sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielmehr unterliegen sie einer Vielzahl von Einflüssen, wobei es allenfalls eine unscharfe Grenze gibt zwischen außen und innen, zwischen belebter und unbelebter Materie.14 Einheit ist im Kontext des Lebens nicht monolithisch, sondern vielmehr als organisierte, vielheitliche Einheit eines ganzen Geflechts von Relationen aufzufassen. Erst die Organisation, die spezifische Ausgestaltung und Anordnung dieser Relationen, konstituiert Gebilde, die wir als Einheiten benennen können, die uns, mit Nietzsche zu sprechen: „Eins“ bedeuten, ohne genau genommen „eins“ zu sein, so wie für ihn letztlich „[a]lle Einheit [. . .] n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit“ ist.15 Darüber hinaus ist der Begriff der Organisation durch seine inhärente Doppeldeutigkeit in der Lage, ein zweites damit eng verbundenes Vorurteil zu vermeiden, nämlich Einheit als statisch anzusehen. Das Gegenteil ist der Fall: Einheit wird im Falle lebendiger Organisation nur als dynamische verständlich. Denn nirgends ist die Diagnose, dass alles im Fluss sei, treffender als im Be12 Erwin Schrödinger: Beruht Leben auf physikalischen Gesetzen?, in: Küppers (1987), S. 77. 13 Dies deckt sich im Übrigen mit einer naturwissenschaftlichen Sicht auf das Lebendige: So hebt etwa Heisenberg die „eigentümliche Stabilität“ des lebendigen Organismus hervor und umschreibt dessen Einheit als Organisation (Werner Heisenberg: Das organische Leben, in: Küppers (1987), S. 51 bzw. S. 68 f.). Auch Bohr spricht von einer „besonderen“ bzw. „wunderbar feinen Organisation“ des Lebens im Lebewesen (Niels Bohr: Licht und Leben, ebd., S. 41 f.). 14 „Wir können faktisch nicht einmal entscheiden, welche Atome streng genommen mit zu einem lebenden Organismus gehören, da ja jede Lebensfunktion von einem Stoffwechsel begleitet ist, bei welchem ständig Atome vom Organismus aufgenommen und ausgeschieden werden.“ (Bohr (1987), S. 45) Vgl. dazu auch Heisenberg (1987), S. 63 und S. 68. 15 Friedrich Nietzsche: Nachlass 1885–86, KSA 12, S. 104.

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reich des Lebendigen. Hier ist und bleibt alles in Bewegung, und zwar nicht nur im Hinblick auf das unvermeidliche und lebensnotwendige (nämlich immer wieder neues Leben ermöglichende) Ende aller lebendigen Organisationseinheiten. Letztlich bleibt auch innerhalb der jeweiligen Einheit nichts gleich. Alles ist einem permanenten Wandel unterworfen. Allerdings ist dieser Wandel kein chaotischer, sondern kann als „spezifische Form der Bewegung in der allgemeinen Bewegung des Werdens“16 gesehen werden, als organisierte Bewegung. Organisation ist im Falle lebendiger Organismen demnach weniger als statische Organisiertheit, sondern eher als permanenter Prozess des (Re-)Organisierens zu verstehen. Dabei erhält sich auch im Wandel eine gewisse Einheit.17 Leben insgesamt kann daher als eine Form von Organisation definiert werden, in der die gegenläufigen Tendenzen von Festigkeit und Fluss, von Struktur und Prozess sowie von Geschlossenheit und Offenheit vereint werden. Leben spielt sich immer nur zwischen radikalem Wandel und kompletter Stabilität ab, die zu lebensfeindlicher Starrheit zu werden droht. In einzelnen Organisationsformen, in denen die erste und zweite Bedeutung von Organisation gewissermaßen in eins fallen und deren Einheit vielleicht am besten als aufeinander abgestimmte, organisierte bzw. sich selbst organisierende Bewegung einer Vielheit zu interpretieren ist, kann sich eine Art Fließgleichgewicht, ein „Strom von Ordnung“18 herausbilden, gleichsam als vorübergehend gelingende Verbindung dieser Gegensätze. II. Leben als Machtorganisation Um eine derartige belebte Organisation zu erzeugen, um eine in sich dynamische und vielheitlich organisierte Einheit in der Vielheit der unbelebten Welt herzustellen, ist eines unumgänglich: Macht. Organisation ist generell nicht von Macht zu trennen. Jede Form der Organisation ist auf Macht, im Sinne eines basalen Vermögens zu wirken, angewiesen, so wie Macht ihrerseits ein Mindestmaß an Organisation voraussetzt und sich selbst wiederum organisierend, Form gebend und gestaltend ausprägt.19 Im Kontext menschlicher Organisation

16 Wie sich unten im zweiten Schritt zeigen wird, deckt sich diese Umschreibung eines Lebewesens als dynamische Organisationseinheit nicht zufällig mit der eines Subjekts der Macht bei Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996, S. 307. 17 Veranschaulichen lässt sich dies z. B. anhand einer Zelle, die sich durch eine (semi- bzw. selektiv permeable) Membran abschließt und als organisierte Form den permanenten Stoffaustausch zumindest eine Weile überdauert. 18 Schrödinger (1987), S. 74. 19 Ausführlicher zu diesem Zusammenhang von „Macht und Organisation“ vgl. meine gleichlautende Dissertation (erscheint voraussichtlich 2009).

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scheint das besonders offensichtlich und wird beispielsweise von Organisationstheoretikern wie Michel Crozier und Erhard Friedberg auch explizit zum Ausdruck gebracht. Es gibt demnach eine „grundlegende Verbindung von Macht und Organisation“, „Macht und Organisation sind unlöslich miteinander verbunden“.20 Dieser Zusammenhang ist zumindest hypothetisch auf alle Lebewesen übertragbar, die in ihrem Verhältnis zu anderen Lebewesen, aber auch im Binnenverhältnis ihres eigenen Organismus als Machtorganisationen gedeutet werden können.21 Leben kann folgerichtig insgesamt als permanenter Prozess der Machtorganisation interpretiert werden, der immer wieder einzelne Organisationsformen hervorbringt, die in einem wechselseitigen, ebenfalls organisierten Machtverhältnis zueinander stehen. Da jede Einheitsbildung immer nur vor dem Hintergrund und auf der Basis von Macht möglich ist und die prozessualen Gebilde selbst als Machtgebilde anzusehen sind, Macht also gleichermaßen das „Prinzip der Veränderung“ und das „Veränderte in einem“ ist,22 kann auch von einer Selbstorganisation der Macht gesprochen werden. III. Der Mensch als Teil des Lebens Der Mensch ist als Lebewesen ein Bestandteil des Lebens. Er ist selbst eine Machtorganisation, eine gleichermaßen vielheitlich organisierte und Vielheit organisierende Einheit. Dies hat Implikationen für die Erkenntnissituation des Menschen und eröffnet darüber hinaus ein Sinnstiftungspotenzial für das individuelle menschliche Leben. Man muss nicht soweit gehen, mit Heisenberg zu behaupten, „daß wir schon wissen, was Leben ist, weil wir selbst leben“; „[a]ber schon die Feststellung, daß es sich um etwas Lebendes handele, kann ja nur sinnvoll getroffen werden, weil wir selbst leben.“23 Dem ist zuzustimmen. Ein gewisser Zugang zum Leben, gleichsam von innen heraus, ist uns darüber hinaus durch unser eigenes

20 Michel Crozier/Erhard Friedberg: Die Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und Organisation, Frankfurt a. M. 1993, S. 324, Anm. 133; S. 47. 21 Nietzsche führt dies exemplarisch im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Willen zur Macht vor, z. B. in dem oben bereits zitierten Fragment, nach dem jede (auch die organische) Einheit als Organisation und somit als „ein H e r r s c h a f t s G e b i l d e “ nach Analogie eines menschlichen „Gemeinwesens“ gelten kann (Nachlass 1885–86, KSA 12, S. 104). Der Machtgedanke wird von ihm auf das gesamte Leben (und noch darüber hinaus) ausgedehnt, Leben „als eine dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n “ (Nachlass 1885, KSA 11, S. 560) und als „Form des Willens zur Macht“ angesehen (Nachlass 1888, KSA 13, S. 301; s. auch Nachlass 1887, KSA 12, S. 345). 22 Gerhardt (1996), S. 304. 23 Heisenberg (1987), S. 67; H. v. m.

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Lebendigsein durchaus eröffnet.24 Als Einheiten organisierendes Wesen (nicht zuletzt mittels seiner Sprache und Vernunft)25 könnte der Mensch sogar als „Ursprung der Organisation aller im Werden zeitweilig auftretenden Einheiten“ betrachtet werden – zumindest aller ihn tangierenden Einheiten, da eingestandenermaßen „auch die anderen Wesen ,ihre‘ Einheiten bilden. Die Besonderheit der menschlichen Welt kommt [jedoch] erst durch die spezifischen Bedingungen der menschlichen Lebensorganisation zustande“.26 Der Mensch als organisiertes und organisierendes Wesen greift im Denken und Handeln, als „ein Organisieren des bereits Organisierten“27, in das Geflecht der Machtorganisation des Seins ein, dessen Teil er selber ist. Diese Eingriffsmöglichkeit birgt das Potenzial einer aktiven Sinnstiftung – selbst falls man die Welt im Sinne Nietzsches als an sich sinnlos versteht –, „w e i l m a n e i n k l e i n e s S t ü c k v o n i h r s e l b s t o r g a n i s i r t.“28 Mit der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung als organisierte und organisierende Machteinheit – als integrativer Teil eines Ganzen, als individuelle Organisationseinheit, die sich in größere Macht/Organisations-Komplexe aktiv und gestaltend einzubringen vermag – kann für den einzelnen Menschen das tiefe Erleben eines sinnvollen Eingebettet- und Aufgehobenseins im Leben einhergehen, sei es als Teil einer soziokulturellen Gemeinschaft29, der Menschheit oder der belebten Natur insgesamt.

24 Dies stellen wir besonders deutlich im Umgang mit anderen höher organisierten Lebewesen fest, deren Verhalten wir nachvollziehen, mit denen wir mitempfinden und zu denen wir eine Beziehung aufbauen können. Generell ist zu bemerken, dass Leben auf Leben anders reagiert als auf unbelebte Materie, beispielsweise reagiert der Hund, der in mein Zimmer gelaufen kommt und mir ins Gesicht schaut, anders auf mich als auf meinen Schreibtisch. Leben scheint sich gewissermaßen selbst zu erkennen. 25 Vgl. Volker Gerhardt: Leben bei Kant und Nietzsche, in: Kant und Nietzsche im Widerstreit, hrsg. von Beatrix Himmelmann, Berlin/New York 2005, S. 295–311. 26 Gerhardt (1996), S. 299 f. 27 Gerhardt (2005), S. 300. 28 Nietzsche: Nachlass 1887, KSA 12, S. 366. 29 Dies kann z. B. eine Gruppe von Freunden oder Kollegen sein, ein Verein, eine Religionsgemeinschaft, eine Nation etc. Interessanterweise ist aber gerade eine weniger weit gefasste Organisationsform meiner Erfahrung nach häufig die wirkmächtigste in Bezug auf ihr Sinnstiftungspotenzial, nämlich die, in der zwei Menschen zusammen eine größere Einheit bilden und dadurch an etwas über sie Hinausweisendem partizipieren. Hier kann Sinn entstehen in Form einer Beziehung, die im Übrigen zwar auch als Machtbeziehung interpretiert werden kann, die aber nicht vollständig in Macht aufgeht, ja nicht einmal ihr Spezifikum in Macht findet, sondern in etwas, das wir als Liebe bezeichnen.

Wie ist es, lebendig zu sein? Über die Selbsterfahrung gesteigerten Lebens Asmus Trautsch Wesen, die am Leben sind, nennen wir lebendig. Es sind Organismen, die sich, aus anderem Leben entstanden, in jedem Moment ihrer Existenz aus eigenem Impuls selbst erhalten müssen. „Lebendig“ und „am Leben“ sind in dieser Hinsicht bedeutungsgleich und antworten auf die Frage, was etwas sei, mit einer Unterscheidung von organischer und anorganischer Natur einerseits sowie lebendigen oder toten Organismen andererseits. Lebendig sind dabei alle Individuen, die zur Selbsterhaltung durch Eigentätigkeit ihrer lebenswichtigen Organe, Stoffwechsel und eine zumindest minimale Reaktionsfähigkeit auf ihre Umwelt gegenwärtig fähig sind. Auch wenn die Kriterien, was bereits als Leben gelten kann – Viren oder doch erst zelluläre Mikroorganismen? – oder wann individuelles Leben aufhört – ob mit dem Tod des Gehirns oder erst nach dem Versagen sämtlicher Vitalfunktionen –, nicht definitiv feststehen, sondern von der Biologie, Medizin und auch vom Recht vorläufig festgelegt werden, so ist uns immer schon vertraut, was mit dem Begriff des Lebendigen, den die Lebens- und Geisteswissenschaften zu explizieren haben, überhaupt gemeint ist. Aber was heißt es, mit dem Lebendigen vertraut zu sein? Diese Frage führt direkt zur zweiten Bedeutungsdimension des Begriffs, die sich nur erschließt, wenn eine bestimmte Weise des Am-Leben-Seins in den Blick gerät. Sie wird ausgedrückt, wenn wir das Wort in graduellen Beschreibungen verwenden: Jemand sei im Gespräch entgegen den Erwartungen kaum lebendig gewesen, voller Lebendigkeit hätten wir uns, wie vor uns Humboldt und Darwin, angesichts des tropischen Regenwalds gefühlt, oder im Museum beeindrucke uns vor allem der äußerst lebendige Eindruck eines Selbstporträts von Rembrandt. In dieser zweiten Hinsicht verweist der Begriff der Lebendigkeit oder des Lebendigen nicht auf eine Unterscheidung, was etwas ist (etwas, das am Leben ist), sondern darauf, in welcher Weise es existiert (wie es am Leben ist). Lebendigkeit ist hier also ein bestimmter Modus des Lebens, und schon unsere aus der Selbsterfahrung gewachsene Redeweise zeigt an, dass mit Lebendigkeit eine relative Steigerung des Lebensvollzugs verbunden ist. Daher ist mit dem Ausdruck, ein Mensch sei lebendig, in der zweiten semantischen Dimension immer schon gemeint, dass er in besonderer, nämlich intensivierter Weise am Leben sei. Ein geschwächter, müder, abgespannter Zustand gilt uns als nicht oder kaum leben-

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dig, auch wenn nur etwas, das am Leben ist, sich in solch einer Verfassung befinden kann. Sofern besondere Lebendigkeit in einer gesteigerten Dynamik des Lebens besteht, läge es nahe, die Gradualität des Lebendigen anhand der vitalen Funktionen zu quantifizieren. Je höher der Puls, je reger der Metabolismus und je größer das Atemvolumen, desto höher der Grad der Lebendigkeit. Doch solch einer Anbindung des Phänomens an messbare physiologische Leistungen entginge die wesentliche Dimension der Lebendigkeit. Ein sich in Panik befindlicher Mensch hat einen extrem erhöhten Puls, atmet schnell, transpiriert mehr und ist höchst angespannt, aber er fühlt sich viel eher elend und rasend erstarrt als lebendig. Eine erhöhte Organtätigkeit impliziert also nicht notwendigerweise eine intensivierte Lebendigkeit. Darin zeigt sich, worauf es bei der zweiten Bedeutungsdimension des Wortes ankommt: dass sie einen bestimmten Modus des Am-Leben-Seins ausdrückt, der nicht unabhängig von der Qualität der Erfahrung dieses Lebendigseins zu verstehen ist. Während die Eigenschaft, lebendig zu sein, in der ersten Bedeutung auch Lebewesen in bewusstlosem Zustand oder Mikroorganismen ohne Selbstwahrnehmung zukommt, verweist der Begriff in der zweiten Hinsicht auf die bewusste Selbsterfahrung des Lebendigen. Diese selbstbezügliche, aber erst ab einem gewissen Schwellenwert auftretende Eigenschaft des Lebens ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt einen Begriff entwickeln können, der in der ersten Weise auch auf etwas angewendet wird, das uns notwendigerweise aus eigener Erfahrung unvertraut bleiben muss. Weder die Biosynthese noch anorganische Oxidationsprozesse kann man aus der Selbsterfahrung des Lebens begreifen. Doch ohne die Selbstbezüglichkeit des sich selbst organisierenden Systems, das wir sind, wäre es uns nicht möglich, überhaupt Lebendiges von Leblosem zu unterscheiden und Ersteres gegenüber Letzterem auszuzeichnen. Kriterien für Leben findet man nämlich nur, weil in die Erforschung des Lebens ein Hintergrundwissen eingeht, das wir nur haben können, weil wir uns – auch in eben den rationalen Operationen, mit denen wir das natürliche und kulturelle Leben methodologisch zu begreifen versuchen – selbst als lebendig erfahren können. Diese epistemologische Voraussetzung der Lebens- wie der Geisteswissenschaften hat Volker Gerhardt in Anschluss an Kant in das philosophische Denken zurückgeholt.1 Wenn wir nur wissen können, was Leben ist, weil wir zuallererst vertraut damit sind, wie es ist, lebendig zu sein, wächst die Neugier, diese Voraussetzung 1 Vgl. bspw. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 85–92, 148 ff., 153–161; ders.: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 101 f.; ders.: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 250 f., 304–311, 314 ff.; ders.: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 46 f., 195 f.

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näher zu verstehen. Denn offenkundig erfährt nicht jedes Leben sich selbst immer schon als besonders lebendig. Pflanzen etwa lässt sich allein schon aufgrund fehlender Innervation kaum attestieren, dass ihnen eine steigerungsfähige Selbsterfahrung zukommt. In der Evolution tritt dieses Merkmal erst spät bei höher entwickelten Tieren auf und bekommt eine grundsätzlich neue Qualität durch die Selbstbezüglichkeit des menschlichen Bewusstseins, das als Medium der ausdrücklichen Selbsterfahrung von Leben gelten muss. Um dem näher zu kommen, wie diese sich als besonders lebendige entfalten kann, möchte ich eine kleine Phänomenologie des Lebendigseins skizzieren. Dass es sich dabei um das Lebendigsein von Menschen handelt, ist epistemologisch alternativlos, da wir nicht an der Selbsterfahrung anderer Spezies teilnehmen können.2 Leben erfordert in jedem Moment (selbst noch im Prozess des Sterbens) eine kontinuierliche systemische Aktivität. Diese Aktivität wird fortwährend von uns erfahren, allein schon um sie zu sichern. Doch ist die Funktionalität der äußeren Sinnesorgane sowie der Interozeption (als Wahrnehmung der eigenen Körperlage und -bewegung sowie der Organtätigkeit) noch keine Lebendigkeit im Sinne einer gesteigerten Erfahrung dieser Aktivität. Denn zu Bewusstsein und darin zu einer Erfahrung besonderer Lebensintensität kommt der autopoietische Organisationsprozess nur, sofern er einen bestimmten, je individuellen Schwellenwert überschreitet und in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Darin wird er aber nicht zum objektivierten Gegenstand, sondern zeigt sich als fortgesetzte Präsenz in actu. Er erscheint als innere Dynamik, die das Bewusstsein als Instanz ihrer Selbsterfahrung permanent hervorbringt und trägt, die aber darin von ihm auch auf Distanz gebracht und dadurch erst ausdrücklich erfahren wird. Die Erfahrung des Lebendigen ist dabei allerdings nicht schon aufgrund der bloßen Tatsache des Selbstbewusstseins, das notwendigerweise Distanz zu Vorgestelltem oder Begriffenem einnimmt, immer schon als gesteigerte gegeben. Es ist nämlich gerade die Leistung des Bewusstseins, sich in intelligiblen Akten vom Gefühl der organischen Konstitution seiner eigenen Leistungen entfernen und sie transparent im Hintergrund belassen zu können. Nur deshalb vermochte eine ontologische Trennung der leiblichen und bewussten Funktionsbereiche über lange Zeit plausibel zu erscheinen. Eine explizite Selbstwahrnehmung des Lebens ist für das Bewusstsein also zumal unter Bedingungen kultureller Symbolisierungen nicht zwingend, obwohl Bewusstsein immer auch ein phänomenales ist. Lebendigkeit ist daher notwendigerweise ein temporäres Phänomen, weil sie nur unter bestimmten Bedingungen eintritt und eine besondere Aufmerksamkeit erfordert. 2 Vgl. den locus classicus bei Thomas Nagel: What is it like to be a bat?, in: The Philosophical Review. Ithaca 83, 1974, S. 435–450. Die ausgelassen wirkende Spielerei von Eichhörnchen, Delfinen oder Hunden, die offenkundig nicht der Ernährung, Fortpflanzung oder Verteidigung dient, kann uns allerdings zumindest nahe legen, sie als Ausdruck einer Form an sich selbst erfahrener Lebendigkeit zu deuten.

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Das Leben muss, um als wirklich lebendig erfahren zu werden, einen bestimmten Schwellenwert überschreiten und das Bewusstsein auf die eigenen dynamischen Konstitutionsprozesse lenken. Dieses liminale Phänomen ist selbst wiederum individuell, da nicht nur die Sensibilität für die eigenen Lebensbezüge sehr unterschiedlich sein kann,3 sondern die Schwelle der Selbsterfahrung sich relativ zur aktuellen Verfassung des Organismus verschiebt. Lebendigkeit, so lässt sich zunächst festhalten, ist also ein Zum-Bewusstsein-Kommen einer gesteigerten Lebensaktivität, die als dynamische Konstitution der leiblichen und auch der bewussten Leistungen erfahren wird. Die Frage, ob eine erhöhte Aktivität verschiedener Organe bereits eine besondere Lebendigkeit konstituiert, wurde negativ beantwortet. Doch auch wenn das Moment der Erfahrung dieser Aktivität hinzukommt, ist noch nicht der spezifische Sinn getroffen, den ich mit Lebendigkeit als besonderer Selbsterfahrung des Lebens verbinden möchte und der zum Tragen kommt, wenn wir ein hohes Maß an Lebendigkeit wertschätzen. Auch menschliche Organismen haben sich immer wieder in ein Gleichgewicht zu bringen und ihre Organe funktionstüchtig zu erhalten (z. B. durch zelluläre Regeneration); sie stehen permanent mit der Umwelt in Austausch (durch Atmung, Nahrungsaufnahme etc.) und müssen ihre Bedürfnisse regelmäßig befriedigen sowie Gefahren abwehren – kurzum: Sie befinden sich in einem dauernden Prozess, der selbst im Tiefschlaf nicht zur Ruhe kommt und auch nicht durch die kulturelle Evolution aufzuheben ist. Diese Aktivität individueller Selbstorganisation ist bei unbewusster sowie bewusster Konfrontation mit Problemen in graduell unterschiedlicher Weise anstrengend. Je schwieriger sich die Durchsetzung gegenüber Widrigkeiten gestaltet, desto mehr muss an eigener Kraft investiert werden. Die auf Dauer gestellte Anstrengung, zu der Menschen aufgrund der bewussten und symbolischen Repräsentation von Zwecken in der Lage sind, kann ein kontinuierliches Aktivitätsniveau erreichen, das wir als Stress erfahren. Er zeigt zwar die Erfahrung einer gesteigerten Aktivität des Lebens an, doch sie verhält sich konträr zur Erfahrung der Lebendigkeit. Der Gegensatz von Stress, ein friedlicher Zustand der Befriedigung, ist allerdings auch nicht der Lebendigkeit förderlich, denn sie ist ja die Erfahrung gesteigerter und nicht in einem homöostatischen Gleichgewicht beruhigter Aktivität. Ein lebendiger Mensch ist weder satt in der Ruhe der Befriedigung noch sind seine Energien absorbiert, weil er sich auf Zwecke selbsterhaltungsfunktional richten muss. Lebendigkeit ist vielmehr eine sich selbst erneuernde Aktivität, 3 Das ist eine der vielen Hinsichten, in denen eine Phänomenologie der Lebendigkeit an die jüngeren Erkenntnisse der Neurowissenschaften anschließen kann. Vgl. etwa Antonio Damasio: Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain, New York 1994.

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die einsetzen kann, wenn die Kraft, mit der ein Individuum auf Probleme in der Umwelt oder im eigenen Körper reagieren könnte, frei zur Verfügung steht. Sie ist als graduell steigerbare Selbsterfahrung des Lebens also wesentlich eine Erfahrung von potenzierter Freiheit. Kant hat diesen Zusammenhang in seiner Analyse des ästhetischen Urteils und des mit ihm verbundenen Selbstgefühls erkannt und begründet. So ist das Selbstgefühl4 angesichts des Schönen mit dem freien Spiel der Erkenntniskräfte verbunden, das nicht durch ein theoretisches oder praktisches Interesse bestimmt ist. Weder begehrt es, noch wehrt es sich.5 Kants Analyse ästhetischer Erfahrung – die eine Form von Lebendigkeit ist – zeigt dabei, dass die Lebendigkeit eine innere Dynamik darstellt, die sich angesichts des Schönen „selbst stärkt und reproducirt“6. In ihr können die Hierarchien der unbewussten, affektiven und intelligiblen Funktionen temporär abgebaut werden, da sie in freier Übereinstimmung spielerisch zu interagieren vermögen. Zugleich beschränkt die Lebendigkeit sich als energetisches Surplus keineswegs in einem reinen, in sich kreisenden Selbstbezug des Organismus, sondern treibt die eigene Aktivität über sich hinaus in die Sozialität – durch Mitteilung.7 Denn die erlebte selbstzentrierte Aktivität bleibt keine in sich ruhende Potenz, gerade weil die Lust am Kraftüberschuss sich nur erhält, wenn diese Kraft tätig umgesetzt und in der Umsetzung erneuert wird. So tritt die Lebendigkeit zwar erst dann auf, wenn der Organismus durch externe oder Autoaggression nicht so belastet ist, dass kein Kraftüberschuss bleibt. Doch als lustvolle Erfahrung freigesetzten und in dieser Freiheit gesteigerten Lebens überschreitet sie den Selbstbezug und verwirklicht sich in der Welt, von deren formalem Entgegenkommen sie ja erst ermöglicht wurde. Der Freudensprung eines Kindes in Gemeinschaft mit anderen mag hier als Evidenz für diese Umwandlung von gefühlter Freiheit in verwirklichte Bewegung und Mitteilung genügen. Die zentripetale Erfahrung des eigenen Lebensprozesses, frei von Zumutungen, wendet sich um in eine zentrifugale Expressivität, in der sich Freiheit konkret ausdrückt.

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 204. Kant spricht dem Selbstgefühl im Schönen zu, „das einzige freie Wohlgefallen“ zu sein (ebd., S. 210), da nur in ihm die Erkenntniskräfte, ohne durch Regeln oder Interessen festgelegt zu sein, einander erwecken und sich in ein regelmäßiges und freies Spiel versetzen können (ebd., S. 295 f.; S. 217). 6 Ebd., S. 138. 7 Vgl. ebd., S. 212 f.: Im ästhetischen Urteil mutet man anderen ein analoges Wohlgefallen zu, ja man fordert es sogar und urteilt „nicht bloß für sich, sondern für jedermann“. Die Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes ist der Grund für die Lust an ihm (vgl. ebd., S. 217), und diese treibt, wie Kants Beschreibung der Kommunikationsakte anschaulich macht, wiederum in die faktische Mitteilung, auch wenn diese ausbleiben kann. Das Schöne steckt gewissermaßen an; was es an Lebendigkeit induziert, will der Belebte selbst wieder weitergeben. 5

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Das menschliche Leben ist notwendigerweise expressiv, gerade weil es strukturell die Innen-Außen-Differenz aus Gründen der Kommunikation mit seiner Mit- und Umwelt bearbeiten muss.8 Für den Lebendigen aber kann die Erfahrung des lebhaften, spielerischen Austauschs seiner inneren Kräfte umso ungebundener expressiv werden und sich dadurch weiter steigern. Daraus erhellt, warum die Liebeskommunikation ein höchst lebendiger Prozess ist. Denn beide Seiten können durch die Lebendigkeit des vor allem über das Gesicht vermittelten Ausdrucks einander fortgesetzt verlebendigen.9 Das Lebendige des anderen, in dem sich seine Individualität steigert und als Ganze zum Ausdruck bringt, wird dabei als Grund der Kontinuität eigener Lebendigkeit erfahren. In dieser reziproken Belebung zeigt sich nun, dass die gesteigerte Selbsterfahrung des Lebens, die zugleich eine Erfahrung von Freiheit ist, kein bloß sinnliches Erleben ist, sondern sich immer auch im Geist vollzieht und in ihm am effektivsten steigert. Ja, man kann die Lebendigkeit als „Funktionslust des Geistes“10 auf der Basis physiologischer und affektiver Kraftreserven verstehen. In seinem Medium teilen wir diese Lebendigkeit einander mit und können sie zur Erkenntnis, zur Selbstbewegung und Realisierung nunmehr frei gewählter Zwecke nutzen. Zugleich erhalten wir darin unsere Lebendigkeit, weil wir sie in allen Formen tätigen Ausdrucks steigern: Der Geist „ist das Organ, das die biologische Offenheit so erfahren läßt, daß sie sich weiter öffnet.“11 Diese Dynamik sich selbst erneuernder (weil nicht durch spezifische Reaktionsmuster und Regeln bestimmten) Aktivität ist gewissermaßen die Praxis des Gesamtorganismus, eine Aktivität, die, als lustvoll erfahrene, ihren Zweck in sich selbst trägt. Dabei ist dieser Zweck wiederum eine ex-post-Zuschreibung der Vernunft, da die Lebendigkeit der Kraftentlassung keinem bewussten Handlungsziel folgt, also nicht bereits normativ bestimmt ist, sondern sich von selbst einstellt. Dass sie als intrinsisch zweckmäßig erfahren wird, liegt an der spezifischen Lust der Lebendigkeit. Für Aristoteles war es evident, dass „das Wahrnehmen, daß man lebt, zum an sich Angenehmen gehört (denn das Leben ist von Natur angenehm, und ein in sich vorhandenes Gutes wahrzunehmen ist angenehm)“12. 8 Volker Gerhardt hat betont, dass bereits in der Zelle als kleinster organisierter Einheit ein innerer Zusammenhang von einem Außen zu unterschieden ist, mit dem sie aber (über die Zellmembran) im Austausch steht. Vgl. Gerhardt (1999), S. 170 f. 9 Das Gesicht ist tatsächlich mit seiner durch 43 Muskeln differenzierten Mimik der ausdrucksfähigste Teil der Oberfläche des menschlichen Organismus. Doch ist stets auch der gesamte Leib Ausdrucksmedium. Die Form, in der er den Ausdruck der Lebendigkeit als Selbsterfahrung von Freiheit am wirksamsten zu vermitteln und steigern vermag, ist die Kunst des (freien) Tanzes. 10 Gerhardt (2002), S. 272. 11 Gerhardt (1999), S. 231. 12 Aristoteles: Nikomachische Ethik IX 9, 1170b1–3, übers. von Olof Gigon, München 1967, S. 325.

Wie ist es, lebendig zu sein?

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Dass das Leben angenehm ist, ist aber keineswegs selbstverständlich. Je höher die Ansprüche an das individuelle Leben von Menschen ausfallen, desto wahrscheinlicher stellen sich Frustration, abgründige Erfahrungen und Leid ein, denn mit den Ansprüchen steigt unausweichlich auch das Risiko des Scheiterns. Das gilt für Individuen wie für Gemeinschaften. Und dabei ist von den Folgen persönlicher und politischer Gewalt noch nicht mal gesprochen. Lebendigkeit als die Erfahrung potenzierter Freiheit vermag jedoch prinzipiell auch innerhalb problematischen Lebens Evidenzen zu erzeugen, die als Gründe für die Selbstbejahung des Lebens Geltung bekommen können. Wenn es uns nicht mehr überzeugt, Leid und Erfahrungen der Unfreiheit durch metaphysische Überwölbungen wie die Idee einer göttlichen Gerechtigkeit zu relativieren, sind es die temporären Erfahrungen einer leiblich-geistigen Übereinstimmung mit sich selbst und der gleichsam entgegenkommenden Welt, die als lustvolles Gefühl der Freiheit in einer sich selbst steigernden Tätigkeit den Charakter der Zweckmäßigkeit des Lebens einsichtig werden lassen. Nur aufgrund dieser Evidenz wird die zunächst zweckfreie Lebendigkeit nutzbar für selbstbestimmte Zwecke. Daher ist die im Leben rhythmisch wiederkehrende Erfahrung gesteigerten Lebens nicht nur eine epistemologische, sondern langfristig gesehen auch existenzielle Voraussetzung für das Verständnis der Spontaneität des Lebens. Wenn wir in Lebendigkeit den Impuls erfahren, dem „sich das Leben selbst verdankt“13, können und wollen wir dem Leben, ohne darin seinen Schrecken vergessen zu müssen, antworten: „Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden“14.

13 14

Gerhardt (1999), S. 84 f. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 115.

Die Frage nach dem Lebendigen in Zeiten biowissenschaftlichen Fortschritts Angela Breitenbach „Der Biologe muss so tun, als würde er mit seinen Begriffen nur gegebene Sachverhalte benennen; tatsächlich aber geht er über eine Gegenstandsbeschreibung weit hinaus, weil er unentwegt Elemente seiner Selbstbeschreibung einmischt.“1

Lebendiges von unbelebten Dingen zu unterscheiden, bereitet uns in der Regel keine Schwierigkeiten. Im Gegensatz zur toten Materie zeichnen sich die Organismen in ihrem Wachstum, ihrer Entwicklung und ihrer Fortpflanzung durch eine erstaunliche Organisation und Zielgerichtetheit aus, die wir an den toten Dingen nicht wahrnehmen. So erscheinen uns die Tiere und Pflanzen, nicht aber unbelebte Naturphänomene wie beispielsweise die Formation einer Wolke, als seien sie funktional eingerichtet und auf die eigene Existenz ausgerichtet. Zwar können wir die Entstehung von Wolken als die Wirkung von Kondensation erkennen und auch die Bedingungen angeben, unter denen sich die Wolken wieder in Regen auflösen, aber es wäre unpassend, ihnen den Zweck zuzusprechen, sich als Wolken in der Erdatmosphäre zu erhalten. Im Gegensatz dazu scheint es eine Besonderheit der Lebewesen zu sein, dass wir sie nicht einfach als Wirkungen bestimmter Vorgänge, sondern als selbst zielangebende Einheiten erfahren. Der Status dieser als funktional und zweckgerichtet charakterisierten Eigenschaft des Lebendigen wirft jedoch gerade im Kontext biowissenschaftlicher Entwicklungen eine wichtige Frage auf. Denn wie ist dieser so offenkundig teleologische Charakter der Lebewesen mit dem wissenschaftlichen Anspruch vereinbar, die Natur anhand kausaler Gesetzmäßigkeiten und unabhängig von übernatürlichen Zwecken und Intentionen zu erklären? Nach verbreiteter Auffassung haben die modernen Biowissenschaften dieses Problem des Lebendigen bereits gelöst. Zum einen könne die scheinbar zweckmäßige Anordnung und Funktion der Teile eines Organismus innerhalb des gesamten Lebewesens über die Evolutionstheorie als Anpassung durch die sich über einen langen Zeitraum erstreckende, natürliche Auslese erklärt werden. Zum anderen seien auch die zielgerichtete Entwicklung und Erhaltung eines Le1

Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 99.

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bewesens und die dazu beitragende, zweckmäßige Interaktion seiner Teile mit Verweis auf ein historisch entstandenes, genetisches Programm nachvollziehbar.2 Der teleologisch beschriebene, scheinbar zweckgerichtete Charakter des Lebendigen könne so mithilfe biologischer Erkenntnisse auf letztlich kausal erklärbare Vorgänge zurückgeführt, jeglicher Verweis auf die Zwecke oder Ziele eines Lebewesens dagegen als übersinnliche Spekulation aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Und doch bleiben angesichts dieser biowissenschaftlichen Antwort Zweifel zurück. Erhellen die neusten Erkenntnisse evolutionsbiologischer und genetischer Forschung tatsächlich die Besonderheit des Lebendigen? Oder reduzieren sie das Spezifikum des Lebens vielmehr auf etwas, das sich selbst nicht mehr als Lebendiges erkennen lässt? Sind die moderne Evolutions- und Molekularbiologie wirklich in der Lage, uns auf die Frage nach der Besonderheit des Lebendigen eine Antwort zu geben? Oder bedarf es zur Klärung des Lebensbegriffs Überlegungen, die über die Erkenntnisse der Biowissenschaften hinausgehen? Im Kontext dieser Fragen kann ein an Kant orientiertes Verständnis der lebendigen Natur einen wichtigen Beitrag leisten. Die besondere Bedeutung des analogisch begründeten Lebensbegriffs Kants – darauf soll diese kurze Betrachtung einen Hinweis geben – besteht darin, dass wir mit ihm die Aufgabe der Lebenswissenschaften in einer naturalistischen Erforschung der Natur verorten können, ohne unser Verständnis von Lebendigem gänzlich auf kausal erklärbare Eigenschaften und Prozesse reduzieren zu müssen. I. Kants analogisches Verständnis des Lebendigen Unabhängig von bestimmten Erfahrungen können wir nach Kant rein a priori wissen, dass die gesamte Natur kausalen Bestimmungen unterliegt.3 Jedoch macht Kant auch deutlich, dass Kausalerklärungen nur eine unvollständige Darstellung dessen bieten können, was wir unter der Natur verstehen. Kant illustriert dies am Beispiel eines Vogels.4 Der Bau eines Vogelkörpers weist eine erstaunlich zweckmäßige Organisation auf. Die dünnwandigen und mit Luft gefüllten Knochen machen den Körper leicht genug, um ihn bei längeren Flügen über der Erde zu halten, durch die Position der Flügel und ihre komplizierten Bewegungen kann der Vogel sich in der Luft fortbewegen, und die Einstellungen des Schwanzes ermöglichen die Steuerung der Flugrichtung. Dieses scheinbar zweckhafte Zusammenspiel der Organe, die erst gemeinsam die Flugfähig2 Vgl. Ernst Mayr: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991 (Englisch: 1988), S. 78 f. 3 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A189 ff./B232 ff. 4 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 360.

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keiten des Vogels ermöglichen und dadurch die Existenz und das Überleben des gesamten Organismus sichern, bringt Kant zufolge die besondere Eigenschaft des Lebendigen zum Ausdruck. Diesen zweckmäßigen Charakter des Lebendigen unterzieht Kant einer weitergehenden Untersuchung. Denn was bedeutet es, die Teile eines Organismus so anzusehen, als wären sie funktional eingerichtet und als wäre ihre Form und Verknüpfung untereinander für das Ganze zweckmäßig? Wollen wir wirklich behaupten, dass es Zwecke innerhalb der lebendigen Natur gibt? Wessen Zwecke wären dies denn? Weder haben wir Erfahrung von einem die Natur nach Zwecken hervorbringenden Schöpfer, noch können wir in der Natur selbst einen nach Zwecken handelnden Verstand erkennen. Kants Antwort ist, dass wir den Zweckbegriff in unserer Beurteilung von Lebendigem auf die Natur projizieren. Erst durch die Übertragung bestimmter Zweckvorstellungen auf die Natur betrachten wir Organismen, als ob sie zweckmäßig eingerichtet und auf ihr eigenes Überleben ausgerichtet seien. Organismen werden folglich nur nach einer „Analogie“5 als zweckmäßig betrachtet. Worin aber besteht diese Analogie? In der Literatur wird sie oft mit dem insbesondere in theologischen Argumentationen verbreiteten Modell der Natur als Kunstwerk identifiziert.6 Kants Untersuchung macht jedoch deutlich, dass eine solche Analogie zwischen Natur und Kunst und zwischen dem Erschaffer der Natur und einem intelligenten Künstler für die Betrachtung von Lebewesen unzureichend ist.7 Während ein Kunstwerk der materiell realisierte Zweck eines Künstlers und somit ein der Zwecke setzenden Ursache externer Zweck ist, erzeugen die Organismen sich vielmehr selbst. Es ist die Fähigkeit der Organismen zur Selbstorganisation, zur eigenen Erzeugung, zum Wachstum und zur Regeneration, die Kant der durch einen Künstler eingerichteten Organisation von Kunstprodukten entgegensetzt. Ein Lebewesen erscheint uns nicht als das Ergebnis äußerer Zwecksetzung, sondern weist vielmehr eine innere Zweckmäßigkeit auf. Die spezifische Gerichtetheit der Organismen auf ihren eigenen Zweck wird uns daher nicht nach der Analogie mit der Kunst verständlich. Vielmehr können wir sie uns erst nach der Analogie mit unserer eigenen vernünftigen Zwecktätigkeit selbst begreiflich machen. Erst indem wir die Fähigkeit unseres eigenen Vernunftvermögens, Zwecke zu setzen und nach diesen Zwecken zu streben, in die Natur hineinlesen, können wir die Natur Kant zufolge auch als lebendig beurteilen: Unsere Betrachtung der lebendigen Natur gründet sich in der „Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken“8. 5

Ebd., S. 375. Unter den einschlägigen Untersuchungen, die diese Lesart vertreten, vgl. z. B. Peter McLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989, und Paul Guyer: Kant’s System of Nature and Freedom, Oxford 2005. 7 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 374. 8 Ebd., S. 375. 6

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Diese Analogie zwischen der lebendigen Natur und der Vernunft des Menschen weist eine dem kantischen Ansatz wesentliche Wechselseitigkeit auf. Indem wir unsere eigene zwecktätige Vernunftfähigkeit in die Natur hineinlesen, können wir uns auch die organismische Verfasstheit unserer eigenen Vernunft veranschaulichen.9 So beleuchten wir durch die Übertragung der Idee eines zweckgerichtet tätigen Vernunftvermögens auf die lebendige Natur gleichzeitig auch den Charakter der Vernunft selbst, indem wir in der konkreten, uns umgebenden Natur etwas über uns selbst und von uns selbst auf die Natur Übertragenes wiedererkennen. Volker Gerhardt bringt diese wechselseitige Beziehung von Vernunft und Leben auf den Punkt, wenn er erklärt, „dass die menschliche Vernunft in der Betrachtung eines beliebigen belebten Wesens – sich selbst begegnet.“10 II. Zwischen metaphysischer Teleologie und reduktivem Naturalismus Welche Bedeutung hat Kants analogischer Ansatz nun für unseren heutigen Begriff des Lebens? Nach dem kantischen Ansatz müssen wir über bestimmte Erfahrungen von der Natur nach der Analogie mit unserer eigenen Zwecktätigkeit reflektieren, um sie als Erfahrungen von Lebendigem zu identifizieren. Die zentrale Einsicht dieses Ansatzes besteht darin, dass eine teleologische Analogie notwendige Bedingung dafür ist, dass wir etwas überhaupt als einen Organismus betrachten können.11 Diese analogische Herangehensweise macht eine Aussage über die epistemischen Voraussetzungen unserer Beurteilung von Lebendigem. Sie behandelt die Frage, wie wir uns die lebendige Natur grundsätzlich verständlich machen können.12 In dieser Hinsicht liefert Kants analogischer Ansatz eine Position, die sowohl von dem Versuch zu unterscheiden ist, die Natur mit Blick auf übersinnliche Zwecke zu erklären, wie auch von einer reduktiv naturalistischen Erklärung des Lebens.

9 Die Wechselseitigkeit dieser Analogie habe ich in meiner Dissertation näher betrachtet. Die organismische Verfasstheit der Vernunft besteht demnach in der systematischen Einheit der Vernunftvermögen, die in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit auf die Einheit aller Vernunfthandlungen unter dem höchsten Vernunftprinzip gerichtet sind. Angela Breitenbach: Die Analogie von Vernunft und Natur. Ansatz zu einer Umweltphilosophie nach Kant (erscheint Berlin/New York 2009). 10 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 317. 11 Ähnlich argumentiert Toepfer, dass die Aufgabe teleologischer Betrachtungen in der Biologie in der „Identifizierung und Ausgliederung“ der Klasse alles Lebendigen bestehe. Georg Toepfer: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004, S. 347. 12 Ginsborg charakterisiert das Problem der Teleologie daher als begriffliches. Hannah Ginsborg: Kant’s Biological Teleology and its Philosophical Significance, in: Graham Bird (Hrsg.): A Companion to Kant, Oxford 2006, S. 455–469.

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Ein metaphysisch konzipiertes Teleologieverständnis würde den Begriff des Zwecks anführen, um die lebendige Natur als Zweck einer übernatürlichen, intelligenten Ursache zu erklären. Über einen solchen übersinnlichen Zweck könnten wir nach dem kantischen Ansatz dagegen gar keine Aussage treffen. Vielmehr können wir den Begriff des Zwecks allein regulativ gebrauchen, indem wir die Natur betrachten, als ob sie – wie die Vernunft selbst – auf ihren eigenen Zweck gerichtet sei. Der teleologischen Beurteilung der lebendigen Natur kommt dem kantischen Ansatz zufolge daher ein besonderer Status zu. Insofern die teleologische Betrachtung von Lebendem auf einer analogischen Übertragung beruht, kann sie nicht in einer regulären, empirischen Erkenntnis bestehen. Unser Verständnis von Leben stellt keine Bestimmung oder Erklärung der Natur durch den Begriff des Zwecks dar, sondern besteht wesentlich in einer reflektierenden Betrachtung nach der Analogie mit unserer eigenen zweckgerichteten Vernunfttätigkeit. Der kantische Ansatz schließt also die Erklärung des Lebens mit Verweis auf eine übersinnliche, zwecksetzende Ursache aus. Dennoch kommen wir ihm zufolge nicht ohne eine teleologische Perspektive aus. Denn jede empirische Erklärung der lebendigen Natur setzt die Möglichkeit, etwas überhaupt als lebendig beurteilen zu können, immer schon als gegeben voraus. Bevor wir den Charakter eines Lebewesens beispielsweise mit Blick auf seine evolutionäre Entwicklung oder auf seine genetischen Ursachen erklären können, müssen wir bereits von der Möglichkeit ausgehen, Organismen als Lebewesen begreifen zu können. Die analogisch teleologische Reflexion über die Natur durch die Analogie mit unserer eigenen Zwecktätigkeit muss jeglicher wissenschaftlicher Untersuchung vorhergehen, wenn man davon ausgehen will, dass eine solche Untersuchung sich tatsächlich auf etwas bezieht, das wir als „Lebewesen“ bezeichnen würden. Dies heißt nun nicht, dass wir in der biologischen Forschung nicht auch von dieser teleologischen Perspektive abstrahieren können. Gerade dies tut beispielsweise eine Biologin, die die Entwicklung bestimmter Zellen mit Verweis auf empirisch belegbare Naturgesetze erklärt. Und doch setzen wir die teleologische Perspektive voraus, wenn wir davon ausgehen, dass die Ergebnisse dieser biologischen Untersuchung eine Aussage über die Entwicklung gewisser Lebewesen treffen. Neben den kausal-mechanischen Naturerklärungen hat also selbst für die Biologie auch eine teleologische Perspektive anhand der Analogie mit unserer eigenen Zwecktätigkeit zentrale Bedeutung. III. Die menschliche Perspektive auf das Leben Der kantische Ansatz macht somit deutlich, dass wir die Erforschung von Organismen naturalistisch verstehen können, ohne den Lebensbegriff gänzlich auf kausal-mechanische Prozesse reduzieren zu müssen. Einerseits können wir davon ausgehen, dass die Natur auch in der Biologie nur mit Verweis auf natür-

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liche Prozesse erklärbar ist, die letztlich kausaler Art sind. Allein die empirische Erkenntnis von Kausalzusammenhängen kann somit eine Klärung der Gesetzmäßigkeiten liefern, die auch die lebendige Natur bestimmen. Andererseits müssen wir aber auch von der Unentbehrlichkeit der teleologischen Perspektive ausgehen, die uns überhaupt erst einen bestimmten Teil der Natur als einen Organismus aus seiner Umgebung herausheben und die uns etwas nach der Analogie mit unserer eigenen Zwecktätigkeit als lebendig erfahren lässt. Auch wenn wir die Natur nur anhand von Kausalzusammenhängen wissenschaftlich erklären können, impliziert unser Verständnis von der lebendigen Natur daher mehr, als mithilfe kausal-mechanischer Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann: Sie impliziert die Analogie mit der zwecktätigen Gerichtetheit, die uns von unserer eigenen Vernunfttätigkeit vertraut ist. Wir können die Evolutionstheorie somit als plausible biologische Theorie verstehen und Spekulationen über außernatürliche Ursachen in den Bereich des Glaubens verweisen, gleichzeitig jedoch unter dem Begriff des Lebens mehr verstehen, als sich mit Verweis auf die Eigenschaften der Materie erklären lässt. Auch wenn wir heute mehr über die Kausalzusammenhänge wissen, welche die natürlichen Prozesse bestimmen, denen auch die Organismen unterliegen, widerlegt dies also nicht die Notwendigkeit einer teleologischen Betrachtung der lebendigen Natur. Und auch wenn lebendige oder zumindest lebensähnliche Prozesse im Reagenzglas technisch hergestellt werden können, bedeutet dies nicht, dass wir das, was dort vor sich geht, nicht doch auch in Analogie mit uns selbst verstehen müssen. In diesem Sinne können wir Gerhardts These verstehen, dass der Biologe immer auch „Elemente seiner Selbstbeschreibung“ in die Beschreibung biologischer Phänomene einmischt.13 Die Besonderheit alles Lebendigen wird im Menschen selbst verortet, der in einer analogischen Denkbewegung das ihm von ihm selbst vertraute, zwecktätige Streben seiner eigenen Vernunftfähigkeit in der Natur wiedererkennt.

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Vgl. Anmerkung 1.

Zu Nietzsches Begriff vom menschlichen Leben Nikolaos Loukidelis Wie soll man Nietzsche interpretieren? Diese für die Geschichte von Literatur und Philosophie außergewöhnliche Erscheinung erhebt mit ihren Schriften einerseits einen hohen künstlerischen Anspruch. Andererseits beabsichtigt sie, erzieherisch zu wirken und Kultur und Gesellschaft ihrer Zeit umzuwälzen. Diese Momente sind Volker Gerhardt, der einen großen Teil seines Werkes der Nietzsche-Interpretation gewidmet hat, durchaus bewusst und gelten ihm als anerkennenswert.1 Trotzdem betont er immer wieder die Notwendigkeit, Nietzsche in der „Perspektive des begrifflichen Denkens“2 auszulegen. Diese Notwendigkeit gehe aus der anthropologischen Konstante der Mitteilung hervor, auf die wir nicht verzichten können, auch wenn wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, dass es auch weitere, vielleicht sogar wichtigere Perspektiven gebe.3 Das vorliegende Essay schließt sich Gerhardts Versuch einer Rekonstruktion des begrifflichen Zusammenhanges von Nietzsches Werk an. Sein Ziel ist, das systematische Potenzial von Nietzsches Texten anhand der Interpretation einer nachgelassenen Aufzeichnung hervorzuheben. Am Ende der Darstellung wird man auch einen Einblick in das gewonnen haben, was Nietzsche unter menschlichem Leben versteht. Die in Rede stehende Aufzeichnung lautet: „Der Gedanke taucht auf, oft vermischt und verdunkelt durch ein Gedränge von Gedanken. Wir ziehen ihn heraus, wir reinigen ihn, wir stellen ihn auf seine Füße und sehen, wie er g e h t – alles sehr geschwinde! Wir sitzen dann über ihn zu Gericht: denken ist eine Art Übung der Gerechtigkeit, bei der es auch Zeugenverhör giebt. Was b e d e u t e t er? fragen wir und rufen andere Gedanken herbei: das heißt: Der Gedanke also wird nicht als unmittelbar gewiß genommen, sondern nur als ein Z e i c h e n , ein Fragezeichen. Daß jeder Gedanke zuerst vieldeutig und schwankend ist, und an sich nur ein A n l a ß zu mehrfacher Interpretation und willkürlicher Festsetzung, ist eine Erfahrungssache jedes Beobachters, der nicht an der Oberfläche bleibt. – Der Ursprung des Gedankens ist uns verborgen; es ist eine große Wahrscheinlichkeit, daß er ein S y m p t o m eines umfänglicheren Zustandes ist, gleich jedem Gefühl –: darin daß gerade e r kommt und kein anderer, daß er 1

Dazu s. etwa Volker Gerhardt: Friedrich Nietzsche, München 2006, S. 11 ff. Gerhardt (2006), S. 66. 3 Gerhardt (2006), S. 65 f. Mit Blick auf die Philosophie als Tätigkeit und auf Nietzsches Selbstverständnis kann man mit guten Gründen behaupten, dass die exemplarische Perspektive, nämlich diejenige, die die Leistung des Philosophen nach dem Maßstab der Einheit von Leben und Werk beurteilt, wohl die wichtigste ist. 2

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Nikolaos Loukidelis gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter unsicher und einer Stütze bedürftig, im Ganzen immer beunruhigend und aufregend, fragend – für das Bewußtsein ist jeder Gedanke ein Stimulans – in dem Allen drückt sich irgend Etwas von einem Gesammt-Zustand in Z e i c h e n aus. – Ebenso steht es mit jedem Gefühle – es bedeutet uns nicht an sich Etwas; es wird, wenn es kommt, von uns interpretirt, und oft wie seltsam interpretirt! Man erwäge alle die Nöthe der Gedärme, die krankhaften Zustände des nervus sympathicus, und des ganzen sensorium commune –: nur der anatomisch Unterrichtete räth dabei auf die rechte Gattung von Ursachen; jeder Unwissende aber s u c h t in solchen Schmerzen eine moralische Erklärung und s c h i e b t dem thatsächlichen Anlasse zu Verstimmungen einen falschen Grund u n t e r , indem er im Umkreis seiner Erlebnisse nach unangenehmen Erfahrungen und Befürchtungen, nach einem Grund sucht, sich schlecht zu befinden. – Auf der Folter bekennt sich fast Jedermann schuldig: im Schmerz, dessen Ursache man nicht weiß, fragt sich der Gefolterte so lange und inquisitorisch, bis er sich oder Andere als schuldig findet, wie z. B. die Puritaner den ihrer unvernünftigen Lebensweise häufig anhaftenden Spleen sich moralisch, als Gewissensbiß, auslegten.“4

Wenn man die Entstehung des eben zitierten Textes5 berücksichtigt, stößt man auf einen weiteren Grund dafür, Nietzsche systematisch zu interpretieren. Marie-Luise Haase hat nämlich nachgewiesen, dass der in Rede stehende Text in Auseinandersetzung mit einem Buch des bedeutenden Naturforschers Francis Galton6 entstanden ist.7 Nietzsche – das ist eines der unbestreitbaren Ergebnisse der Quellenforschung der letzten Jahrzehnte – befand sich in einem fruchtbaren Dialog mit Autoren des 19. Jahrhunderts, die heute als Klassiker der Theoriebildung in Philosophie und Naturwissenschaft gelten. Arthur Schopenhauer, Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann, Carl Wilhelm von Nägeli, Georg Heinrich Schneider, Wilhelm Roux sind einige der Denker und Forscher, denen Nietzsche wichtige theoretische Impulse verdankt. Ohne diese Impulse ist sein Werk nicht zu verstehen. Dem zuletzt genannten Forscher, dem Physiologen Wilhelm Roux, entlehnt Nietzsche ein Modell zum Verständnis des menschlichen Leibes, das auch als Grundlage zur Interpretation der oben angeführten Aufzeichnung dienen kann. Gemeint ist das Modell des Kampfes der Teile im Organismus.8 Nach ihm be4

Friedrich Nietzsche: Nachlass 1884, KSA 11, S. 173 f. Er trägt die Überschrift: „D a s U n f r e i w i l l i g e i m D e n k e n “ und stellt die Vorstufe einer weiteren Aufzeichnung dar (Nietzsche: Nachlass 1885, KSA 11, S. 595 f.). Beide Aufzeichnungen, die sich sowohl der Form als auch dem Inhalt nach weitgehend decken, werden im Folgenden abwechselnd zitiert. 6 Francis Galton: Inquiries into Human Faculty and its Development, London 1883. 7 Marie-Luise Haase: Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, in: Nietzsche-Studien, Band 18, 1989, S. 633 ff., hier: S. 652 ff. 8 So lautet auch der Titel einer bedeutenden physiologischen Studie von Roux, mit der sich Nietzsche intensiv auseinandergesetzt hat (Wilhelm Roux: Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweck5

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steht der Mensch aus vielen lebenden Wesen (z. B. Zellen und Organen), die sich in einem dauernden Kampf miteinander befinden.9 Jedes selbstständige Wesen strebt danach, allein oder in Bündnis mit anderen die befehlende Funktion in einem unseren Leib ausmachenden Herrschaftsgebilde zu übernehmen, bei dem es auch einen gehorchenden Teil gibt. Der Kampf mündet in unzählige und sich ständig ändernde Konstellationen (und unwillkürlich auch in die Erhaltung des Gesamtgebildes). Indessen belässt es Nietzsche in seiner Aufnahme des Modells von Roux nicht bei dieser Beschreibung. Er unternimmt einen folgenschweren Schritt, indem er postuliert, dass die anhand der Beschreibung des Kampfes zutage getretenen Eigenschaften des Organischen (z. B. Vielheit der Wesen, Befehlen und Gehorchen als Grundkategorien der Relation der Wesen zueinander, ständig sich verschiebende Konstellationen) den ganzen Menschen, d. h. auch sein Denken, Fühlen und Wollen durchtränken.10 Was dieser Schritt mit Blick auf das Wollen bedeutet, wird im Aphorismus 19 von Jenseits von Gut und Böse vorgeführt. In ihm geht Nietzsche nämlich ebenso von einer Vielheit der Akteure aus, die um die Übernahme der befehlenden Funktion innerhalb eines sich ständig neu formenden Gebildes kämpfen: „Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage [. . .] eines Gesellschaftsbaus vieler ,Seelen‘“.11 Dasselbe Schema spiegelt sich auch in den Überlegungen über das Denken und Fühlen wider, die Nietzsche in der zu interpretierenden Aufzeichnung und ihrer überarbeiteten Fassung anstellt. In beiden Aufzeichnungen ist zwar eine gewisse reservatio mentalis festzustellen, da „[d]er Ursprung des Gedankens“ letzten Endes „uns verborgen“ bleibt und der Aussage, „daß er ein S y m p t o m eines umfänglicheren Zustandes ist, gleich jedem Gefühl“, keine Gewissheit, sondern nur „große Wahrscheinlichkeit“ zukommt.12 Nietzsches Position kommt aber des ungeachtet doch klar zum Vorschein: Eine Vielheit leiblicher Prozesse liegt unseren Gefühmässigkeitslehre, Leipzig 1881). Zum Verhältnis Nietzsche-Roux s. Wolfgang MüllerLauter: Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Ders.: Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 97–140. 9 Dieser Kampf findet immer zwischen Wesen statt, die einer einheitlichen Gruppe angehören. Dazu vgl. Roux (1881), S. 72: „[Der Kampf] muss [. . .] nothwendig in ebenso viele Unterinstanzen zerfallen, als selbständig variierende Einheiten da sind, also in einen Kampf der Zellentheilchen, der Zellen, der Gewebe und der Organe, jede Einheit nur mit Ihresgleichen kämpfend.“ 10 Dazu s. z. B. Nietzsche: Nachlass 1884, KSA 11, S. 282. In hypothetischer Form begegnet man diesem Schritt auch bei Roux (1881), S. 234: „Es liegt uns bloß daran, darauf hinzuweisen, dass vielleicht die psychischen Functionen gar nicht so etwas absolut von allem anderen Geschehen Differentes sind, als dass sie nicht ebenso wie dieses aus einer der vielen verschiedenen Qualitäten, welche in den Organismen vorhanden sind [. . .], ableitbar wären.“ 11 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 33. 12 Nietzsche: Nachlass 1884, KSA 11, S. 174.

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len und Gedanken zugrunde. Diese Vielheit stellt eine erste fundamentale Ebene dar, der in der Sphäre des Geistes zum einen „ein Gedränge von Gedanken“ entspricht.13 In diesem Gedränge, das eine zweite Ebene konstituiert und als die spontane Repräsentation der leiblichen Ebene im Bewusstsein zu verstehen ist, werden die Gedanken gewöhnlich „von Gefühlen, Begehrungen, Abneigungen“14 begleitet. Damit wird deutlich, dass Denken, Fühlen und Wollen nach Nietzsche nicht strikt von einander getrennt sind. Sie treten gemeinsam in einer ursprünglichen Einheit auf, die erst später in einzelne Elemente zerlegt wird.15 Zum anderen gibt es aber auch eine dritte Ebene, auf der die Vielheit vorkommt: die Ebene der Verarbeitung des ursprünglichen Gedankenmaterials. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer „Art Übung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Partei, auch sogar ein Zeugenverhör giebt“16 oder von einer „Auslegung“ eines „vieldeutige[n] Zeichen[s]“.17 Wenn man nun berücksichtigt, dass der Gedanke in seiner ursprünglichen Form „an sich nur ein[en] A n l a ß zu mehrfacher Interpretation und willkürlicher Festsetzung“18 darstellt und dass es wichtig ist, die „moralische Erklärung“ zu überwinden, indem man „die rechte Gattung von Ursachen“19 unserer Gefühle und Gedanken erkennt, dann wird klar, dass die dritte Ebene gegenüber der zweiten eine relative Autonomie und Priorität hat und dass sie (unter anderem) die Aufgabe hat, das auf der zweiten Ebene gegebene Gedankenmaterial richtig zu interpretieren. Warum dies wichtig ist, wird in den eben thematisierten Aufzeichnungen nicht expliziert. Die Antwort darauf ist indessen naheliegend: Davon hängen unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit ab. Diese Antwort stützt sich einerseits auf den Alltag. In ihm wird nämlich jeder von uns mit Hunger, Müdigkeit und zahlreichen leiblichen Signalen konfrontiert, deren Vernachlässigung unsere Lebensqualität beeinträchtigt. Die in Rede stehende Antwort wird aber andererseits auch von der Perspektive der Medizin untermauert: Wenn eine Krankheit anhand ihrer Symptome nicht richtig diagnostiziert und behandelt wird, dann gibt es gravierende Konsequenzen für die Gesundheit des Betroffenen.

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Ebd. Nietzsche: Nachlass 1885, KSA 11, S. 595. 15 Ebd., S. 646–648. Vgl. auch Nietzsches Bemerkung, dass der Gedanke „oft genug von einem ,Wollen‘, oder ,Fühlen‘ kaum zu unterscheiden“ ist (ebd., S. 595) und seine Analyse des Willensaktes im Aphorismus 19 von Jenseits von Gut und Böse, nach der das Wollen unter anderem „ein[en] Complex von Fühlen und Denken“ darstellt (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 32). 16 Nietzsche: Nachlass 1885, KSA 11, S. 595. Vgl. dazu ebd.: „bei allem Denken [scheint] eine Vielheit von Personen betheiligt“. 17 Ebd. 18 Nietzsche: Nachlass 1884, KSA 11, S. 174. 19 Ebd. 14

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Durch die letzten Beispiele kommt eine weitere Perspektive zum Vorschein, die für die Interpretation der in Rede stehenden Aufzeichnungen von Bedeutung ist, auch wenn sie in ihnen nur impliziert wird: die Perspektive des Handelns. Bereits die erste, d. h. die leibliche Ebene gibt konkrete Impulse zum Handeln, die auf der zweiten spürbar sind. Diese Impulse (Reflexe, Triebe usw.) werden oft sofort befolgt. Andernfalls schaltet sich die dritte Ebene ein, um das oft chaotische Material der zweiten Ebene zu ordnen und die entsprechende Handlung einzuleiten. Dies erfolgt aufgrund eines Hemmungs- bzw. Bestärkungsmechanismus, der jeweils ein oder mehrere Elemente favorisiert bzw. unterdrückt. Nach den vorangestellten Ausführungen erscheint uns der Mensch als ein Zusammenspiel der drei oben beschriebenen Ebenen. Kraft dieses Schemas20 bekommt man einen Einblick in die Prozesse der psychophysischen Einheit, die der Mensch nach Nietzsche darstellt.21 Freilich bleiben damit einige Fragen unberührt. Wie würde Nietzsche etwa die sogenannten selbstlosen Handlungen erklären, die oft Wohlbefinden und Gesundheit des handelnden Individuums beeinträchtigen? Zur Beantwortung dieser Frage müsste man vor allem den Aphorismus 57 aus dem ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches heranziehen und thematisieren.22 Damit aber gelangen wir ans Ende eines Essays und an den Anfang eines anderen.

20 Im begrifflichen Zusammenhang von Nietzsches Denken gibt es freilich auch eine vierte Ebene, die den bereits thematisierten zugrunde liegt: die des Willens zur Macht. Zum Verhältnis dieser Ebene zu den drei weiteren verweise ich auf das entsprechende Kapitel meiner sich in der Abschlussphase befindenden Dissertation. 21 Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass im Rahmen des vorliegenden Essays auf den Begriff vom menschlichen Leben oder auf den Gattungsbegriff „Leben“ bei Nietzsche nicht ausführlich eingegangen werden konnte. Hierzu vgl. z. B. die Studie von Alexander Hogh: Nietzsches Lebensbegriff. Versuch einer Rekonstruktion, Stuttgart/Weimar 2000. 22 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 76. Dazu vgl. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 338 ff.

Das gute Leben = das vernünftige Leben = das politische Leben? Franziska Martinsen Volker Gerhardt ist der philosophische Lehrer, der mich meine Skepsis gegenüber der antiken Philosophie (die übrigens, so paradox dies klingen mag, immer von einer großen Begeisterung für die griechische Sprache begleitet war) überwinden ließ. Durch ihn wurde meine Einstellung, dass Platon, Aristoteles und Konsorten eher philosophiegeschichtlich von Interesse seien, nachhaltig erschüttert. Ihm vor allem verdanke ich nicht nur die Einsicht in die Reichhaltigkeit des antiken philosophischen Denkens, sondern auch die Inspiration, dieses für das eigene, heutige Denken, z. B. über „die Politik und das Leben“1, also in systematischer Hinsicht, nutzbar zu machen. Und so will ich mit Joachim Ritter fragen: „Gibt es einen Stand im Bereich menschlichen Handelns, in dem der Mensch so leben und bestehen kann, daß alles, was er als Mensch sein kann, in seinem eigenen Tun und Leben zur vollen Verwirklichung kommt?“2 Die Antwort des Aristoteles auf diese Frage zumindest scheint klar zu sein.3 Seiner Meinung nach ermöglicht die Polis, d. h. eine bestimmte politische Ordnung der menschlichen Gemeinschaft, dem Menschen die Vollendung des höchsten Ziels seiner praktischen Vernunft und lässt ihn das höchste Gut erreichen: die Glückseligkeit bzw. das gute Leben in der Gemeinschaft. Zentral für dieses Verständnis der Polis als Verwirklichung der praktischen Vernunft und damit des guten Lebens ist die aristotelische Grundthese, dass der Mensch ein „zôon politikon“ ist. Sowohl die anthropologische Annahme über das politische Wesen 1 Volker Gerhardt: Die Politik und das Leben. Antrittsvorlesung am 30. Juni 1993 an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Öffentliche Vorlesungen an der HumboldtUniversität zu Berlin, Heft 19, 1994, S. 3–32. Diese Antrittsvorlesung lag vor dem Beginn meines Studiums, ich habe sie später aber mit großem Interesse gelesen. Volker Gerhardt bezieht sich zwar vornehmlich auf Platon, ich möchte mich hier jedoch stärker mit der Weiterentwicklung von Platons Ideen durch Aristoteles, seinen „gelehrigen, wenn auch nicht immer dankbaren Schüler“ (ebd., S. 18), auseinandersetzen. 2 Joachim Ritter: Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 57–105, hier: S. 61. 3 Vgl. Aristoteles: Politik, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4, übers. von Egon Rolfes, Hamburg 1995 (im Folgenden: Politik) sowie Aristoteles: Nikomachische Ethik, ebd., Bd. 3, übers. von Egon Rolfes und überarb. von Günther Bien, Hamburg 1995 (im Folgenden: EN).

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des Menschen als auch die These, dass die Polis und damit die Politik (als Praxis wie als Ordnungseinheit) ein intrinsisches Gut sei, sind jedoch nicht per se einleuchtend und bedürfen daher einer genaueren Untersuchung. Diese soll mit besonderem Augenmerk auf die für die aristotelische Philosophie so zentralen Begriffe der „autarkeia“, des „ergon“ und des „telos“ bzw. des höchsten Guts, „agathon“, und damit auf den Begriff der „eudaimonia“ geschehen. Wie kommt Aristoteles eigentlich zu der Annahme, dass der Mensch ein politisches Lebewesen sei, und was genau meint er damit? Aristoteles geht in seiner Naturphilosophie davon aus, dass in der Natur alles zu einem Zweck existiert. Der gemeinschaftliche Zusammenschluss der Menschen in einer Polis stellt für ihn daher einen Naturzweck dar. Er meint damit aber nicht, dass der Mensch einfach ein „geselliges“ Wesen ist – gesellig sind auch Tiere, etwa Bienen. Aristoteles meint vielmehr, dass der Mensch aufgrund seines Vermögens der Vernunft und der Sprache („logos“) für die politische Organisation des gemeinschaftlichen Lebens ausgerichtet ist und nur in der Polis diese beiden Vermögen zur Vollendung bringen kann.4 In dieser teleologischen Erklärung der politischen Natur des Menschen klingt das sogenannte Ergon-Argument an. Ergon ist für Aristoteles die spezifische Leistung eines Wesens oder einer Sache. Das Ergon des Menschen ist das Tätigsein gemäß der Vernunft, und dieses Tätigsein gemäß der Vernunft heißt schließlich, im Sinne des Endziels alles menschlichen Strebens, „Glückseligkeit“. Ausgehend von der naturphilosophischen These, dass die Natur die Organe für die Funktion und nicht die Funktion für die Organe schafft,5 besteht das Ergon der Polis im gemeinsamen Tätigsein der Menschen gemäß ihrer (praktischen) Vernunft. Aber warum meint Aristoteles, dass die gemeinsame Tätigkeit der Vernunft ausgerechnet in der Polis verwirklicht werden könne? Hier kommt der Begriff der Autarkie ins Spiel. Der Zweck der menschlichen Natur liegt für Aristoteles in der Selbstgenügsamkeit bzw. Selbstständigkeit. Diese erlangen Menschen jedoch nicht als Einzelwesen, sondern nur im Miteinander, d. h., Autarkie ist nur als gemeinsames Gut zu erreichen.6 Die selbstgenügsame Gemeinschaft, die Polis, besteht aber bei differenzierterer Betrachtung zu einem wesentlichen Teil aus der Notwendigkeit, nämlich der Existenzsicherung. Von der Notwendigkeit des Lebenserhalts sind alle Menschen betroffen. Sie schließen sich daher zunächst als Mann-und-Frau-Gemeinschaften zwecks Reproduktion, dann zur Gemeinschaft des Hauses (hier herrscht der Herr über Sklaven, der Vater über die Ehefrau und die Kinder) zusammen, mehrere Häuser bilden eine Dorfgemein4

Vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a10–15. Vgl. Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, übers. und erläutert von Wolfgang Kullmann, Darmstadt 2007, IV 12, 694b13 f. 6 Vgl. Aristoteles: EN I 5, 1097b8–11. Die Ausnahme bildet das theoretische Leben, in welchem der Weisheit Schauende nicht auf andere Menschen angewiesen ist (s. Aristoteles: EN X 7, 1177a27–b1). 5

Das gute Leben = das vernünftige Leben = das politische Leben?

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schaft. Die Dorfgemeinschaft bildet die erste Stufe der Selbstgenügsamkeit, sie kann die alltäglichen Bedürfnisse sichern. Doch mit ihr ist das eigentliche Ziel der Verwirklichung menschlicher Vernunft nicht erreicht, denn dieses besteht in der tugendhaften Glückseligkeit, im guten Leben statt im bloßen (Über-)Leben. Doch woher rührt Aristoteles’ Überzeugung, dass Menschen die Eudaimonia nur in der Polis erlangen können? In der reinen Existenzsicherung, d. h. in der Haushaltsführung, im Handel und Gewerbe sowie in der (militärischen) Sicherung (gegen äußere Feinde) der Stadt, erschöpft sich die menschliche Vernunft noch keinesfalls, dies sind nur notwendige Voraussetzungen der Polis, sie vollendet sich erst im gemeinsamen (politischen) Handeln, im gemeinsamen Austausch zwischen Freien und Gleichen.7 Es ist daher erst die politische Partizipation innerhalb des Gemeinwesens, die als intrinsisch gut angesehen werden kann, denn in ihr vollenden sich sowohl Vermögen (Vernunft und Sprache) als auch entsprechende ethische (Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit) und intellektuelle (Klugheit, Weisheit) Tugenden des Menschen. In der Polis wird also die Glückseligkeit, die dem Streben der Menschen teleologisch zugrunde liegt, d. h. das höchste Gut, erreicht. Doch noch immer ist nicht einleuchtend, warum das „Ziel schlechthin“ („haplôs telos“) des menschlichen Strebens gerade in der Aktivität in der Polis besteht. Aristoteles’ Antwort lautet hier: weil das politische Miteinander ein Ziel ist, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Es ist ein Gut jenseits notwendiger (instrumenteller) Zwecke der Existenzsicherung. Soweit erfüllt die Polis das formale Kriterium des höchsten Gutes. Inwieweit erfüllt sie es aber inhaltlich? Für die Klärung dieser Frage muss ein entscheidendes Kriterium der aristotelischen Vorstellung der Eudaimonia berücksichtigt werden. Für Aristoteles sind die Glückseligkeit des Einzelnen und die der gesamten Polis identisch, inhaltlich gestaltet sich die Glückseligkeit in Form der Tugenden, die die Menschen in den politischen Tätigkeiten – im Vollzug des Regierungsgeschäftes, im politischen Wettstreit – ausüben.8 Die Tugenden (aber auch das öffentliche Ansehen) sind für Aristoteles nicht Mittel zur Glückseligkeit, sondern deren selbstzweckhafte Bestandteile.9 Wer sind nun aber die Mitwirkenden und Gestaltenden der Polis bei Aristoteles? Gegen Joachim Ritters Einschätzung, dass die Polis „den Menschen als Menschen“10 zum Subjekt und Maß der politischen Ordnung macht, ist ganz offensichtlich zunächst einmal einzuwenden, dass bei Aristoteles nur ein verschwindend geringer Anteil der Menschen als Menschen, nämlich nur freie (je nach Verfassungsform: freie und reiche) Männer überhaupt Bürger, also die ei7

Vgl. Aristoteles: Politik III 9, 1280b29–1281a4. Vgl. Aristoteles: Politik II 5, 1264b17, VII 1, 1323b29–36. 9 Vgl. Aristoteles: EN I 5, 1097a25–b6. 10 Ritter (1969), S. 71. 8

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gentlichen Partizipierenden der Polis sind. Frauen, Fremde und Sklaven sind explizit von diesem Status ausgeschlossen. Nun mag man diesen historischen Aspekt vernachlässigen wollen und meinen, dass unter modernen Voraussetzungen tatsächlich alle Menschen in die Bürgerschaft mit eingeschlossen sind. Ebenso ließe sich argumentieren, dass die strittigen metaphysischen Annahmen über die Natur des Menschen weniger totalitär zu verstehen seien, sondern lediglich die Einsicht ausdrückten, dass Menschen auch (und zwar nicht ausschließlich) über die wesentliche Eigenschaft der politischen Aktivität zum Zwecke der Organisation und Gestaltung ihrer sozialen Bezüge verfügen. Hier ließe sich ein weiteres, nicht-metaphysisches Argument anführen, dass (politische) Partizipation insofern intrinsisch wertvoll ist, als sie nicht nur die politisch-rechtlichen Grundlagen des menschlichen Lebens überhaupt erst bereitstellt, sondern darüber hinaus als sinnvolle gemeinsame Tätigkeit offensichtlich auch zum modernen guten Leben beiträgt. In dieser Hinsicht können wir vielleicht sogar mit Volker Gerhardt sagen, dass in der aristotelischen Definition des guten, weil vernünftigen und damit politischen Lebens „alles enthalten ist, was man auch nach unseren elaborierten methodologischen Ansprüchen zu einer philosophischen Begriffsbestimmung der Politik benötigt – vorausgesetzt, man gibt sich wirklich die Mühe zu sagen, was es eigentlich heißt, sich als Lebewesen zu verstehen.“11

Es bleibt jedoch die Problematik bestehen, und hier meldet sich dann doch wieder meine Skepsis zu Wort, dass die aristotelische Annahme vom Menschen als politischem Lebewesen begrifflich mit der Vorstellung des höchsten Gutes verbunden ist, das die Identität von individuellem und kollektivem Glück impliziert. Diese Vorstellung erscheint zwar vielen (insbesondere kommunitaristischen) Theoretikern und Theoretikerinnen attraktiv, verspricht sie doch die Defizite der liberalistisch verfassten Gesellschaft in Form des Primats des Eigeninteresses, der Anonymität und dergleichen mehr mindestens zu kompensieren, wenn nicht gar aufzuheben. Doch bleibt sie insofern bedenklich, als aus der aristotelischen Konzeption nicht ersichtlich wird, wie sie sich mit individualrechtlichen Vorstellungen, die den Menschen und sein persönliches gutes Leben gerade gegen die Vereinnahmung durch Politik und Gesellschaft zu schützen beabsichtigen – und zwar aus vernünftigen Gründen! –, tatsächlich verträgt.

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Gerhardt (1993), S. 19.

Zwischen Sterblich- und Unsterblichkeit Eine platonische Antwort auf die Frage nach dem Leben Jacqueline Karl Oh dieses Menschenleben! Wenn es glücklich ist, kann ein Schatten es verwandeln. Im Unglück wischt ein feuchter Schwamm darüber, und das Bild, die Schrift, verlöscht. Mehr als alles andere schmerzt mich das Vergessensein.1

Denn es sucht „die sterbliche Natur nach Vermögen, immer zu sein und unsterblich“2. So lautet die Behauptung von Diotima im Symposion. Man könnte auch von allem Lebendigen sprechen, denn sowohl in der Sterblichkeit als auch in ihrem Streben nach Unsterblichkeit sind die Menschen nicht von anderen Lebewesen unterschieden. Die Sterblichkeit – sie ist nicht nur die Ursache der Endlichkeit allen Lebens, sondern ebenso seiner existenziellen Bedürftigkeit. In der Rede von Sokrates und Diotima wird Eros nicht als ein Gott, der schön und gut ist, wie Agathon behauptet hatte, sondern als ein Begehren nach etwas charakterisiert, das der Liebende selbst noch nicht hat oder ist, dessen er bedürftig ist. Liebe ist immer ein Begehren nach und nicht ein Sein von. Die Beschreibung des Eros als menschliches Streben kennzeichnet den Menschen wesentlich als ein begehrendes Wesen, das seiner Bedürftigkeit nicht entkommen kann. Selbst wenn einzelnes Begehren seine Erfüllung erreicht, dann doch nur partiell und temporär, weil kein Gewinn von Dauer ist. Diese grundsätzliche Bedürftigkeit resultiert nach Platon aus der sterblichen Existenz des Menschen, und zwar in einer alles umfassenden Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Die Sterblichkeit des Menschen wird im Symposion radikal zu Ende gedacht, denn sie betrifft nicht nur das Individuum, sondern auch seine Identität während seiner Existenz in der Welt des herakliteischen Werdens: Zwar sage man von jedem Lebenden, dass es lebe und dasselbe sei, wie jeder während seines gesamten Lebens immer derselbe genannt werde, obwohl „er nie dasselbe an sich 1 Aischylos: Agamemnon 1327–1330, in: Die Orestie des Aischylos, übers. von Peter Stein, hrsg. von Bernd Seidensticker, München 2007. 2 Platon: Symposion 207d1 f., Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1990.

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behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert“3. Wenn schon der Leib ständigen Veränderungen unterworfen ist, dann sichert doch gewiss die Seele die Identität der Person? Aber dieser ständige Wechsel des Vergehens und Entstehens, welcher der Bezeichnung als „dasselbe“ widerspricht und das Problem der Identität in eminenter Weise berührt, betrifft nicht nur den Körper, sondern auch die Zustände der Seele. Und die Sterblichkeit reicht noch weiter: Nicht einmal der Bereich des Wissens ist von ständiger Selbsterneuerung ausgenommen, ja selbst der einzelnen Erkenntnis widerfährt in der Erinnerung eine Änderung. Was gibt uns eigentlich – nach dieser Einsicht – noch das Recht, von ein und demselben zu sprechen, obwohl es am sinnlich wahrnehmbaren anderen als auch an uns selbst nichts Haltbares zu geben scheint, sondern wir uns umfassend – physiologisch, psychologisch und mental – „im Fluss“ befinden? Können wir überhaupt noch von einem mit sich identischen Selbst reden, reicht doch die Sterblichkeit des Lebendigen so weit, dass sie die Identität des Einzelnen, seinen einheitlichen Lebensvollzug, nahezu das Leben selbst in Frage stellt? Andererseits sehen wir im anderen und in uns selbst auch je denselben und benennen den anderen oder uns selbst mit demselben Namen. Wir unterstellen aufgrund einer Erwartungshaltung dem jeweils anderen – und beanspruchen für uns selbst – eine eigene Identität: Denn sie ist notwendig für uns zur Orientierung, Verständigung und zum Handeln bis hin zur bloßen Lebenserhaltung, also für den gesamten Lebensvollzug. Die Sterblichkeit ist allerdings nicht nur die Ursache der Bedürftigkeit des Lebendigen, sondern auch des Strebens nach Unsterblichkeit. In seiner Sterblichkeit, die er mit allen anderen Lebewesen teilt, unterscheidet sich der Mensch zwar wesenhaft von den unsterblichen Göttern. Aber trotz dieser Differenz steht er wie Eros zwischen beidem, der Sterblichkeit und der Unsterblichkeit: Aufgrund seiner Bedürftigkeit strebt der Mensch nach etwas, das seinen jeweiligen Mangel zu beheben hilft. Deshalb ist das Begehrte etwas für den Menschen Gutes. In allem, was er erstrebt, begehrt er das Gute als das letzte Ziel seines Strebens – die Glückseligkeit. Er will das Gute aber nicht nur für einen Augenblick, sondern er will es immer. Bereits vor jeglicher Erfüllung überschreitet der Mensch mit diesem Anspruch den Bereich des Sterblichen auf den Bereich des Unsterblichen hin. Genau in diesem Sinn deutet Diotima das Streben nach dem Guten für immer: Wenn die Liebe darauf abzielt, das Gute immer zu erreichen, dann wird mit dem Guten auch die Unsterblichkeit erstrebt. Dass dieser zwiefache Anspruch nicht ins Leere zielt, sondern sich auf eine menschliche Art erfüllen kann – das ermöglicht Eros in seinen Werken, die er leiblich oder geistig produktiv-schöpferisch im Schönen hervorbringt. Denn allein die Erzeugung ist „das Unsterbliche, wie es im Sterblichen sein kann“4, 3

Ebd., 207d6–8.

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insofern der Mensch nur in der Erzeugung eines anderen seiner selbst weiterlebt und auf diese Weise unsterblich zu sein vermag. Wollen wir wirklich unsterblich werden? Zweifellos will auch heute jeder das Gute und nicht nur für einen Augenblick, sondern immer, und zwar: für die Zeit seines gesamten Lebens. Aber streben wir nach heutigem Verständnis zugleich nach Unsterblichkeit? Diotima unterstellt bei ihrer Schlussfolgerung, dass der Mensch immer – aber jetzt in der Bedeutung von: über seine eigene Lebenszeit hinausgehend – für sich das Gute will, und setzt dabei voraus, dass der Mensch der Möglichkeit nach auch als unsterblich begriffen werden und sich selbst auch derart verstehen kann. Andererseits: Wer will nicht den eigenen Tag überdauern? Für uns selbst nehmen wir in Anspruch, dass etwas von uns über den Tod hinaus bleiben soll: in den eigenen Kindern oder von uns gebildeten Schülern, die etwas von uns aufnehmen und weiterführen, in kulturellen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistungen. Wir machen innerhalb unserer Kultur die Erfahrung, dass einzelne Individuen über ihren Tod hinaus durch einmalige Taten oder Werke im Gedächtnis ihrer Nachwelt bleiben, dass deren Tradierung zum kulturellen Selbstverständnis unserer Gesellschaft gehört. Das stimmt gut mit den Beispielen überein, die Diotima für die dem Menschen mögliche Unsterblichkeit in der Erzeugung eines anderen seiner selbst im Symposion nennt. Die dem Menschen als Sterblichem mögliche Unsterblichkeit ist auf verschiedene Arten zu erreichen. Was macht den Unterschied aus? Mit Blick auf die so fragile Identität des Menschen unterscheiden sie sich hinsichtlich der Beständigkeit. So erscheint der Ruhm bei den nachkommenden Generationen als eine vorphilosophische Form, Unsterblichkeit zu erreichen, weil in Abhängigkeit von äußeren Faktoren stehend, die man selbst nicht in der Hand hat. Gleichwohl spricht nichts dagegen, im Ruhm oder selbst in der Erzeugung und Erziehung eigener Kinder menschenmögliche Formen der Unsterblichkeit zu sehen, wenngleich diese Formen dem philosophischen Streben, in dem sich Eros vollendet, unterlegen sind. Deshalb macht Diotima einen neuen Anfang, der die Zeitlichkeit transzendiert: der Aufstieg vom einzelnen schönen Körper über die Schönheit aller Körper, die Schönheit in den Seelen und die der Erkenntnisse bis zum Göttlich-Schönen selbst. Als seinem höchsten Ziel des philosophischen Aufstiegs gilt das Streben des Eros der Idee des Schönen als etwas, das als „an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend“5 ist. Wieso ist der Bezug auf die Idee des Schönen nötig? Die Ursache ist die Sterblichkeit und Endlichkeit des Lebewesens Mensch, die Diotima so radikal zu Ende denkt. Gerade weil unsere Sterblichkeit so umfassend ist, dass sie 4 5

Ebd., 207a1. Ebd., 211b1 f.

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selbst den Bereich von Wissen und Erkenntnis einschließt und deshalb menschliches Wissen immer unsicher bleibt, ist der Bezug auf die Idee notwendig. Selbst befinden wir uns körperlich, seelisch und geistig „im Fluss“, das Vermögen der Seele, eine Beständigkeit in der eigenen Lebensführung zu erreichen, bleibt anfällig, weil wir die Erfahrung machen können, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Wenn wir selbst gut leben wollen, müssen wir uns über die Zeit und den damit verbundenen Veränderungen an etwas orientieren, das bereits das von uns Erstrebte ist, um auf menschenmögliche Art und Weise selbst eine Beständigkeit – eine Identität – zu erlangen. Eine genauere Antwort auf unser Problem finden wir in der Politeia, in deren Zentrum die Frage steht: Wie nun aber leben? Die leitende Intention des Dialogs besteht in der Verteidigung der philosophischen Lebensweise. Im Vergleich mit anderen Lebensweisen soll sie nicht nur gleichwertig, sondern allen anderen überlegen sein, weil sie am ehesten die Ausbildung einer individuellen Identität und mit dieser Unsterblichkeit ermöglicht und der Philosoph auch in dieser Hinsicht der Glückseligste sein soll. Seine Gedanken auf das Seiende richtend, „auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes“, „was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält“, wird der Philosoph „dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden“.6 Im Umgang mit dem Göttlichen als einem Sich-gleich-Bleibenden kommt es zur Ausbildung der eigenen Beständigkeit und einer Stabilität der eigenen Identität. Trotz des Vorbehaltes, dass menschliches Wissen, weil unvollkommen, kein göttliches ist, folgt Sokrates immer dem logos, der sich jeweils als der beste gezeigt hat, und hält an ihm fest, solange sich kein anderer als besser erwiesen hat. Die in Bezug auf das Göttliche gewonnenen Einsichten sind – vor dem Hintergrund der Frage, wie zu leben gut sei – handlungsrelevant und identitätsbildend, indem der Einzelne sich daraufhin versteht, sich selbst bestimmt und daran festhält, in dieser Hinsicht also eine Identität ausbildet, die ihren Namen verdient. Die Identität des Individuums ermöglicht ein in sich kohärentes Selbst- und Weltverhältnis, das Gleichbleibende in allen Bezügen und sich darin von anderen Unterscheidende, im Falle des Philosophen ein Leben nach eigenen Einsichten, das die Einheitlichkeit des Lebens und damit auch dessen Identität hervorbringt. Wenn sich zeigen lässt, dass die eigene Identität nicht nur als ein Teil unter anderen zu einem anspruchsvollen Begriff der Glückseligkeit bei Platon zählt, sondern die Beständigkeit des eigenen Selbst für das Glück des einzelnen zentral ist und nur durch die philosophische Lebensweise erreicht werden kann, dann wissen wir, worin sie den anderen Lebensweisen überlegen ist.

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Platon: Politeia 500c2–6.

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Im Schlussmythos der Politeia werden die Seelen nach einer tausendjährigen Wanderung zu der Himmel und Erde verbindenden Lichtsäule und der Spindel der Notwendigkeit mit ihren Himmelssphären und ihrer Sphärenharmonie geführt, die von den Töchtern der Notwendigkeit umgeben sind: den Moiren Lachesis, Klotho und Atropos. Und hier werden die Seelen, bevor sie wieder in ein neues Leben eintreten, selbst vor die Wahl ihrer Lebensweise gestellt: „Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.“7

Derjenige, der durch Losverfahren als Erster wählen durfte, habe ohne Überlegung für sich „die größte Tyrannenherrschaft“8 erwählt und dabei nicht das ihm drohende Unheil beachtet. Zwar habe er sein erstes Leben in einer wohlgeordneten Verfassung gelebt und an der Tugend teilgehabt, allerdings nur durch Gewöhnung ohne Philosophie. Diese gibt aber keine Sicherheit für die richtige Wahl, vielmehr birgt sie die Gefahr, wie im Beispiel des Mythos, dass eine schlechte Lebensweise gewählt wird, weil ihr etwas Grundsätzliches fehlt: eigene Einsicht in der Bedeutung von philosophischer Vernünftigkeit und Kompetenz. Diese Lebensweise vermag daher aus sich heraus nicht, und darauf kommt es an, der eigenen Identität in allen weiteren Entscheidungen Dauer zu verleihen. Die Bewahrung der eigenen Identität vermag nur die Philosophie zu sichern, allein sie gewährt die Sicherheit, als derjenige weiterhin zu leben, der man ist und als der man sich versteht. An der eigenen Einsicht sich orientierend und, wie Sokrates selbst sagt: „eisenfest an dieser Meinung festhaltend“9, das ermöglicht eine durchgängige Identität des Einzelnen, eine Beständigkeit des eigenen Selbst im gesamten Lebensvollzug und, unter den Bedingungen des Mythos, auch für die Zeit nach dem Tod. Im Unterschied dazu bleiben die anderen, wie der Mythos zu berichten weiß, gerade nicht diejenigen, die sie im vergangenen Leben gewesen sind, denn sie wählen andere Lebensweisen, sodass sich ihr Streben nach Unsterblichkeit, derjenige über die Zeit hinweg zu bleiben, der man ist, gerade nicht erfüllt. Das Sterbliche strebt nach Unsterblichkeit. Es ist allerdings keine rein formale Unsterblichkeit, die der einzelne Mensch anstrebt. Er will nämlich nicht als Lebewesen oder als Exemplar der Gattung unsterblich sein, sondern jeder als genau derjenige, der er ist, als der er sich versteht und von anderen verstanden wird – als Individuum mit seiner individuellen Identität. Das zeigten bereits 7 8 9

Ebd., 617e1–5. Ebd., 619b8. Ebd., 619a1 f.

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die Ausführungen im Symposion, das ist uns als agonales Wesen der Griechen, durch einmalige Taten im Gedächtnis der Nachwelt bleiben zu wollen, bekannt und fand seinen treffenden Ausdruck bereits bei Homer: „Immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen.“10 Denn die individuelle Identität hat einen Wert für uns, für den Lebensvollzug, für das Erkennen, das Handeln und die Verständigung mit anderen. Darüber hinaus ist mein Selbstbegriff für mich von existenzieller Bedeutung. Denn ich bin es, der Kunde von sich gibt, der im Wechsel der Zeiten sich als genau das Individuum versteht und verstanden wissen, als genau dieser sich wiedererkennen und wiedererkannt werden will. Die Bedeutung, die wir uns selbst zusprechen, kann soweit gehen, dass man unter bestimmten Umständen sogar den Tod auf sich nimmt, wenn man im anderen Fall nicht mehr als der leben kann, der man für sich selbst ist. Voraussetzung dafür ist, dass der Einzelne, indem er über sich und sein Leben Rechenschaft zu geben vermag, seine Identität selbst hervorgebracht und ein Bewusstsein von seiner Individualität gewonnen hat. Deshalb hat die eigene Identität eine Bedeutung, die uns nach Unsterblichkeit streben lässt. Wenn sich dieses Streben erfüllt, dann ist die sich selbst bewusste und auf Dauer zielende Beständigkeit meines Daseins gelingendes und insofern gutes Leben.

10 Homer: Ilias XI, 784, griechisch und deutsch, mit Urtext, Anhang und Registern, übertragen von Hans Rupé, 11. Aufl., Düsseldorf/Zürich 2001.

Leben als verantwortliches Individuum Kai Lehmann „Wir kämen vermutlich nicht auf den Gedanken, Verantwortung zu übernehmen, wenn wir im Lebensvollzug nicht vielfältigen Bedingungen unterworfen wären. Wir sind verursacht und wollen, wenn wir denn selbst Urheber von Handlungen sind, in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Nur weil wir abhängig sind und von dieser (außen wie innen) wirksamen Verbindung wissen, können wir die Zuständigkeit für andere und anderes erfahren.“1

Einmal angenommen, das eigene menschliche Leben beginne mit einem vagen Gefühl der Verwunderung; man ist soeben auf die Welt gekommen, vollkommen hilfsbedürftig noch in den ersten Momenten der Existenz. Man empfindet nur, spürt verwirrend das Neue, das große Unbekannte. Dann ist es wahrscheinlich angemessen, in eben dieser Verwunderung auch den natürlichen Ausgangspunkt der Frage zu sehen, die im Zentrum des vorliegenden Beitrages stehen soll: „Was ist Leben?“ Die Philosophie treibt nun eine Beantwortung mehr als nur zufällig schon seit ihren historischen Anfängen um.2 Insofern die Frage in das fundamentale menschliche Bedürfnis nach Erkenntnis hinein gehört, und indem die Philosophie als rationale Suche nach Orientierung in den Grundlagen unseres Erkennens, Denkens und Handelns3 beständig bemüht ist, diesem Bedürfnis Ausdruck zu geben, wird der anschließende inhaltliche Fokus des Phänomens „Leben“ auf spezifisch humane Gesichtspunkte leicht verständlich. Die hier vorgeschlagene Fokussierung auf die Frage „Was ist unser menschliches Leben?“ hat einige Konsequenzen, die nicht unerheblich sind. Zunächst werden in dieser Formulierung das Wesen und die Gattung Mensch in den Mittelpunkt gestellt, und zwar als lebendiges Wesen, das solche Fragen stellt und offenbar Antworten braucht. Damit verbinden sich natürlich weitreichende Annahmen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Darüber hinaus 1 Volker Gerhardt: Die säkulare Verantwortung der Politik, in: Staat ohne Verantwortung?, hrsg. von Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch, Frankfurt/New York 2007, S. 119–141, hier: S. 139. 2 Bereits die griechischen Vorsokratiker lassen sich in ihrem Nachdenken über einen einheitlichen „Urstoff“ innerhalb einer natürlichen Welterklärung in den Kontext dieser Frage einordnen. 3 Diese Formulierung wurde von Herbert Schnädelbach geprägt.

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offenbart die derart gestellte Frage auch die spezifisch menschliche Dimension der Bedeutung und des Sinns von Leben. Es gehört zu den eigentümlichen Charakteristika unseres individuellen und zugleich gemeinschaftlich aufeinander bezogenen Daseins, eine Erklärung dessen, was wir als Leben bezeichnen, nur mit Rekurs auf die Dimension des Sinns vollständig angeben zu können. Kurz: Was unser menschliches Leben ist, wird schon auf begrifflicher Ebene nur mit den Konnotationen der Fragen, „was es wert ist“, „was es (für mich bzw. uns) bedeutet“ und „warum es überhaupt ist“ wirklich verstanden. Das so skizzierte Verständnis von menschlichem Leben impliziert also bestimmte grundlegende Annahmen über das lebende Exemplar „Mensch“, die sich möglicherweise durch eine philosophische Behandlung der individuellen Perspektive am ehesten erhellen lassen.4 Folgende Gründe sprechen für diese Perspektive. Erstens ist der Aspekt des Lebendigen als Ausdruck des zunächst eigenen Lebens zentral. Die sinnliche Wahrnehmung, lebendig zu sein, am Leben zu sein, ist nicht bloß Gegenstand theoretischer Erkenntnis, sie ist vielmehr vorausgegangenes Erleben und dadurch existenzielle Grundlage der Fragestellung überhaupt. Dass die einzelnen biologischen Wesen der Art Mensch faktisch nicht nur eine umfassende singuläre Differenzierung ihrer Erscheinung aufweisen, sondern zugleich auch bestrebt sind, zuerst ihr jeweils individuelles Dasein zu formen und zu prägen, legt zweitens eine Auszeichnung der individuellen Perspektive nahe. Sie hat neben dieser biologischen und psychologischen Tatsache zugleich eine hohe Plausibilität im alltäglichen Leben. Wenn sich Menschen fragen, was ihr Leben ist, dann fragen sie sich oder andere stets aus einem subjektiv empfundenen Bedürfnis heraus. Dies lässt sich drittens auch an der Geschichte des philosophischen Denkens nachvollziehen, deren reflektierende Anstrengungen stets um die Fragen nach den Grenzen des eigenen Wissens und des eigenen richtigen Tuns, nach dem Verhältnis von „ich“ und „Welt“ und nicht zuletzt der Bedeutung meiner Begriffe für mich selbst und die kommunikativ geteilte Lebenswelt5 kreisen. Auch wenn offensichtlich ist, wie vielfältig unsere biologischen und sozialen Abhängigkeiten einen mitunter dominierenden Einfluss auf unser individuelles Leben haben, zeichnet sich doch wenigstens historisch die individuelle Perspektive als rationaler Ausgangspunkt einer angemessenen philosophischen Charakterisierung des menschlichen Lebens aus.

4 Dabei sei stets angenommen, dass der einzelne Mensch immer nur in sozialer Gemeinschaft, als notwendige Voraussetzung und zugleich zentraler Aspekt seiner Individualität, lebt und existieren kann. Ohne das Gegenüber, die anderen ist unsere Individualität gar nicht denkbar. 5 Dieser Begriff wurde von Jürgen Habermas geprägt. Vgl. Jürgen Habermas: Die Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981.

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Fragt man also nach dem Wie und Warum des menschlichen Lebens aus individueller Sicht, drängt sich der vergleichsweise moderne Begriff der Verantwortung beinahe von selbst auf. Wie lässt sich nun seine aktuelle und zentrale Bedeutung für ein Verständnis individuellen humanen Lebens erklären? Vier Gründe lassen sich nachfolgend kurz angeben, die mit den erwähnten Annahmen über das Wesen „Mensch“ korrespondieren. Es wurde erstens zu Recht auch in der Philosophie schon darauf hingewiesen,6 dass bereits unsere biologische Verfassung natürliche Ansatzpunkte für die Bedeutung von Verantwortung bezüglich unseres Lebens bietet, man denke nur an die vielfältige Sorge bei der Erhaltung und Betreuung der eigenen Nachkommen. Auch das Überleben der gesamten Spezies mag letztlich davon abhängen, ob wir bereit sind, diese biologische Verfassung zu respektieren und die Verantwortung dafür zu akzeptieren. Durch die angesprochene Grundlage sowohl des körperlichen Erlebens wie geistigen Erkennens der eigenen Lebendigkeit wird zweitens auch der Aspekt der Aktivität im menschlichen Leben deutlich. Denn alles Erleben und Begreifen beinhaltet auch schon eine aktive Leistung. Wie wir unser Leben wahrnehmen und was wir von unserem Leben halten, liegt aus diesem Grund und in einem präzisen Sinn des Wortes in unseren Händen. Wir sind darüber hinaus stets auch Urheber von Handlungen. Mit der Fähigkeit, zu handeln, Sachverhalte in der Welt und Beziehungen zu anderen Menschen verändern zu können, erwächst die Macht der individuellen Gestaltung menschlichen Lebens.7 Von diesem aktiven, tätigen Sein als zentralem Moment menschlichen Lebens ist aber der Begriff der Verantwortung gar nicht zu trennen. Er ist drittens im Begriff des Wissens um diese aktive Gestaltung verankert. Dabei umfasst dieses Wissen nicht nur Elemente der basalen Zusammenhänge einer kausalen Einflussnahme auf den „Lauf der Dinge“, sondern auch die eigene Beschreibung8 und Wahrnehmung als Akteur, als handelndes Wesen in enger sozialer Verflechtung mit anderen Handelnden. Dieses Wissen ist es letzt-

6 Bei Hans Jonas findet sich dieser wie auch die folgenden Gedanken zu Verantwortung in ähnlicher Weise ausgeführt. Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979. 7 Folgender Hinweis sei allerdings an dieser Stelle immer mit bedacht: „Die exponierte Stellung des Individuums – sei es nun ,groß‘ oder ,klein‘ – hat darüber hinaus den unschätzbaren philosophischen Vorteil, an den tragischen Untergrund alles menschlichen Handelns zu erinnern.“ Volker Gerhardt: Das Thier, das versprechen darf. Mensch, Gesellschaft und Politik bei Friedrich Nietzsche, in: Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, hrsg. von Otfried Höffe, Stuttgart 1992, S. 135–156, hier: S. 153. 8 Die Beschreibung ist hier nicht relativ zu verstehen, sie folgt vielmehr aus einer elementaren Wahrnehmung und wachsenden Erfahrung im Umgang mit sich, anderen Menschen und der Welt.

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lich, das eine Interaktion unter den verschiedenen Gesichtspunkten von Verantwortung innerhalb menschlicher Gemeinschaften überhaupt erst ermöglicht. Es gibt viertens noch eine Kategorie, die insbesondere die Bedeutung von Verantwortung für das individuelle Leben prägt. Es ist das Bewusstsein von der Zeit, der individuellen Endlichkeit des Lebens, der eigenen Vergänglichkeit.9 Erst vor dem Horizont eines Wissens um diese zeitlich begrenzte Dimension des eigenen Handelns erwachsen sinnvolle Fragen wie „Was soll ich tun?“, „Was ist jetzt das Richtige für mein Leben?“ und „Warum soll ich verantwortlich (für mich und andere) sein?“ Es ist das Wissen vom Ende individuellen menschlichen Lebens, welches die Verantwortlichkeit mindestens für das eigene Dasein in entscheidenden Gesichtspunkten generiert. Es bleibt zusammenfassend zunächst eine offene Frage, wofür ein einzelner Mensch verantwortlich ist oder sein kann. Unbestritten ist, dass nicht jedes menschliche Leben gleichsam automatisch verantwortlich ist. Ebenso wenig kontrovers scheint die Tatsache, dass wir nicht zu jedem Zeitpunkt unseres Daseins in gleichem Maße verantwortlich gemacht werden können. Weil der Mensch in seiner Existenz, wie oben skizziert, jedoch immer ein möglicher Adressat und zugleich aussichtsreicher Kandidat für Verantwortung bleibt, begründet dies letztlich auch seine spezifische Bedeutung und Stellung im natürlichen Gesamtgefüge. Seiner lebendigen Verfassung verdankt er seine individuelle und zivilisatorische Entwicklung ebenso wie sein gewaltiges zerstörerisches Potenzial. In der jeweils eigenen, verantwortungsvollen Abwägung zwischen diesen beiden Polen, in der tätigen Gestaltung einer Idee von sich selbst zwischen Hoffnung und Verzweiflung liegt nicht nur viel von der Bedeutung eines persönlichen und begrenzten Lebens, sondern auch mindestens eine philosophische Antwort auf die hier gestellte Frage. So lässt sich angesichts dieser Herausforderung eines verantwortungsvollen Lebens mit Nietzsche abschließend und vielleicht tröstlich sagen: „,D a s L e b e n e i n M i t t e l d e r E r k e n n t n i s‘ – mit diesem Grundsatz im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar f r ö h l i c h l e b e n u n d f r ö h l i c h l a c h e n!“10

9 „Jedes Lebewesen umgibt ein Raum, in dem es durch seine eigene Lage eine auf es selbst bezogene Ordnung gibt. In dieser eigenen Ordnung entfaltet sich die Aktivität des lebendigen Individuums, das im geordneten Raum seine eigene Dauer im Nacheinander seiner Vollzüge als Zeit erleben kann.“ Volker Gerhardt: Wahrheit und Existenz, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Stuttgart, Heft 682 (2006), S. 133–143, hier: S. 140. 10 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 553.

Geist und Leben Mattia Riccardi I. Von Rechnern und Tieren Über die Leistungen der „Pascalina“ – des von ihm konstruierten Rechners – notiert Pascal: „Die Rechenmaschine bringt Wirkungen hervor, die sich dem Denken stärker annähern als alles, was die Tiere tun; aber sie bewirkt nichts, was zu der Behauptung veranlassen könnte, daß sie wie die Tiere einen Willen habe“1. In der heutigen informatisierten Welt kommt diese Bemerkung jedem sicher vertraut vor. Denn egal wie sehr wir die alltäglichen Wunder unseres Laptops auch bewundern, ihm würden wir auf keinen Fall einen „Willen“ zuschreiben, wie wir es hingegen bei Tieren tun. Wenig selbstverständlich ist aber Pascals Interpretation dieses Phänomens. Denn er scheint darin einen zusätzlichen Beweis für die Sonderstellung des Menschen zu erkennen, der als einziges Geschöpf über das Denken verfügt. „Quellen“ unserer Handlungen sind für Pascal allein „Begierde“ und „Gewalt“,2 die somit den Spielraum jenes „Willens“ eröffnen, den wir auch bei Tieren wiederentdecken. Das Denken löst den Menschen zwar nicht von den Automatismen dieses Instinktlebens, verhilft dem Menschen aber immerhin dazu, sich die eigene Nichtigkeit bewusst zu machen. Dies reicht Pascal aus, um behaupten zu können, dass das Denken – auch wenn vom Anfang an zum Scheitern verurteilt – „die Größe des Menschen“3 ausmacht. Nichts davon findet hingegen bei den übrigen Geschöpfen statt. Pascal scheint also zu denken, dass sogar ein rudimentärer Rechner uns bei der Frage nach der Natur des Denkens bzw. des Geistes mehr als irgendein Tier helfen kann. Trotz aller Unterschiede stimmt also Pascal mit Descartes darin überein, dass der Geist etwas ist, das von der Funktion des Organismus nicht abhängt und gerade deswegen den Menschen auszeichnet. Spricht aber die intuitive Differenz, die wir zwischen einem Rechner und einem Tier feststellen, tatsächlich für diese These? Viele Gründe lassen daran zweifeln.

1 Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart 2004, Nr. 741/340, S. 401. 2 Ebd., Nr. 97/334, S. 74. 3 Ebd., Nr. 759/346, S. 406.

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II. Von Rechnern und Tieren reloaded Die entscheidende Pointe bei Pascals Bemerkung scheint mir die Frage zu sein, wo wir uns selbst situieren, nämlich als dem Rechner oder dem Tier kognitiv näher. Die erste Option ist diejenige, die dem berühmten Turing-Test zugrunde liegt. Bekanntlich hat diese Vorstellung zahlreiche Kritiker gefunden. Zu ihnen gehört auch Donald Davidson, demzufolge es, um den vom Turing-Test gestellten Ansprüchen gerecht zu werden, einem Rechner an der Fähigkeit mangelt, „in bestimmter Weise in der Welt tätig [zu] sein“4. Hier ist die Idee also, dass genuine mentale Zustände eine Interaktion mit der äußeren Welt voraussetzen. Stimmen wir nun mit Davidson überein, müssen wir uns für die zweite oben erwähnte Option entscheiden: Ein für ihre jeweiligen kognitiven Leistungen konstitutiver Familienzug ist Menschen und Tieren gemeinsam, nämlich die Fähigkeit – als Lebewesen – in der Welt wirksam zu sein. Einige Überlegungen dazu möchte ich noch hinzufügen. Die komputationalistische Annahme, die dem Turing-Test zugrunde liegt und kognitive Operationen als Fälle von symbolischer Verarbeitung versteht, sah sich letztlich auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Hierbei ist besonders bemerkenswert, dass gerade Forschungen im Bereich des Künstlichen Lebens einen neuen Ansatz zum Problem der Kognition und zugleich eine neue Ära der Künstlichen Intelligenz eingeleitet haben. Beispielsweise hat die Realisierung von bio-inspirierten Robotern, die elementare Verhaltensmuster von Insekten modellieren, wichtige Hinweise zur Funktion von sensomotorisch basierten Denkoperationen gegeben. Den hier entscheidenden Perspektivenwechsel hat Rodney Brooks, ein Pionier der neuen Künstlichen Intelligenz, in der provokativen Bemerkung zum Ausdruck gebracht, dass Elefanten kein Schach spielen.5 Bekanntlich ist Schachspielen das Feld, in dem die traditionelle Künstliche Intelligenz ihre größten Medientriumphe erlebt hat. Doch handelt es sich dabei um eine von der im Leben verankerten Funktion des Geistes weit entfernte kognitive Leistung, die man also keinesfalls für dessen basale oder sogar stellvertretende Instanz halten sollte. Jene mentalen Zustände, die wir hingegen ins Auge fassen, wenn wir normalerweise vom Geist sprechen – also Wahrnehmungen, Wünsche, Überzeugungen, Emotionen usw. – sind ohne Bezug auf konkrete Lebenszusammenhänge kaum denkbar.

4 Donald Davidson: Turings Test, in: Ders.: Probleme der Rationalität, Frankfurt a. M. 2004, S. 150. 5 Vgl. Rodney A. Brooks: Elephants Don’t Play Chess, in: Robotics and Autonomous Systems, Heft 6, 1990, S. 3–15.

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III. Innen und außen Für jeden, der mit dem Werk Volker Gerhardts vertraut ist oder seine Vorlesungen und Seminare besucht hat, darf die Auffassung, dass ein konstitutives Verhältnis zwischen Leben und Geist besteht, nicht neu klingen. Vor allem in den zentralen Kapiteln der Selbstbestimmung wird auf zahlreiche Facetten dieses komplexen Verhältnisses ausführlich eingegangen. Unter den vielen Einsichten, die ich diesen Seiten abgewinnen konnte, verdanke ich den Überlegungen zum Übergang von der „Binnenperspektive der Selbstorganisation“ zur „Außenperspektive des Bewusstseins“ eine besondere Anregung.6 Diese prägnante Formulierung bringt nicht nur eine lange philosophische Tradition auf den Punkt, die Leib und Seele als zusammengehörig ansieht, sondern hebt auch die Tatsache hervor, dass der Geist eine Schnittstelle zwischen innen und außen ist, eben weil wir als Lebewesen sowohl auf das Erhalten unserer internen Organisation angewiesen als auch den Wirkungen der externen Welt ausgesetzt sind. Wenn wir diese Tatsache übersehen, sind wir zugleich nicht mehr in der Lage, unser Denken und unser Handeln zu erklären.

6 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 203.

Neomikroben Leben als Produkt der synthetischen Biologie Joachim Boldt Mitte April 2009 war die Gentechnik wieder einmal Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das deutsche Landwirtschaftsministerium gab bekannt, dass der Anbau von gentechnisch verändertem Mais wegen möglicher Gefahren für die Umwelt untersagt werden solle. Damit ist ein weiterer Schritt in der lange währenden Auseinandersetzung um die Gentechnik bezeichnet, die, zumindest in Deutschland, mit großer Skepsis betrachtet wird. Sie zeigt vor allem eins: Die direkte technische Manipulation von Leben ruft Unbehagen hervor. Den Weg, den die Biologie mit der Gentechnik beschritten hat, ist keine Nebenstraße der Entwicklung der Wissenschaften. Er führt im Gegenteil jenen Wissenszuwachs folgerichtig weiter, den die modernen Naturwissenschaften vor allem im letzten Jahrhundert erlebt haben. Es handelt sich um einen stetigen Zuwachs an instrumentellem Wissen, das es ermöglicht, Bereiche der Natur gezielt den Wünschen und Vorstellungen des Menschen gemäß zu gestalten und zu verändern. Was Physik und Chemie für die unbelebte Natur vorgemacht haben, wird jetzt von der Biologie wiederholt. Die Gentechnik ist der erste Schritt in diese Richtung gewesen. Mit ihrer Hilfe können Organismen wie der umstrittene gentechnisch veränderte Mais im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften besser an menschliche Bedürfnisse angepasst werden. Der gentechnisch veränderte Mais zum Beispiel soll so widerstandsfähiger gegen Schädlinge werden. In der Forschung werden allerdings bereits ganz andere Visionen entworfen. Zur Debatte steht nicht mehr nur die Manipulation einzelner Eigenschaften natürlich vorkommender Organismen, sondern die freie Gestaltung des kompletten Genoms, der metabolischen Prozesse und der zellulären Signalübertragungswege von Organismen – zumindest von einzelligen Organismen. Dies ist die zentrale Ambition der synthetischen Biologie, dem Zweig der Biologie, die das Wissen über molekulare Zusammenhänge von Zellfunktionen systematisch der technischen Umsetzung zugänglich machen will. „Erschaffung von Leben“ – unter dieser Überschrift sieht sich die synthetische Biologie in den Medien dargestellt. Dies ist nun aus zwei Gründen nur in einem begrenzten Sinn richtig. Zum einen ist das Ziel der meisten Forscher in

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der synthetischen Biologie nicht, Leben von Grund auf zu schaffen, sondern Genome und Zellfunktionen innerhalb bestehender Zellen zu ändern. Wenn man hier von der Erschaffung von Leben sprechen will, dann kann dies nur im Sinn der Erschaffung neuer Formen des Lebens zu verstehen sein. Zum anderen wird man mit Kant Zweifel daran haben können, inwieweit sich das mögliche Ziel, Leben buchstäblich zu erschaffen, überhaupt realisieren lassen kann. Zum Leben gehört, wie Hans Jonas mit einer Referenz auf Aristoteles sagt, dass es den Anfang und das Prinzip seiner Bewegung in sich selbst hat,1 oder, wie Volker Gerhardt hervorhebt,2 dass es über die Fähigkeit zur Selbstorganisation verfügt. Wie nun solche Fähigkeiten und Eigenschaften Resultat von Ketten von Ursachen und Wirkungen sein können, ist durchaus nicht einfach zu verstehen. Der Begriff der Emergenz, zu dem hier häufig Zuflucht genommen wird, scheint das Problem jedenfalls eher zu verdecken als zu erklären. Man kann zwar, so Andreas Brenner in diesem Sinn, Bedingungen bereitstellen, unter denen Leben entsteht, aber man kann Leben nicht direkt erschaffen.3 Diese philosophischen Überlegungen müssen die synthetische Biologie nicht bremsen – im Gegenteil. Vielleicht wird ihr sogar der explizite Verzicht auf das Ziel, Leben zu erschaffen, zu größerer Akzeptanz in der Öffentlichkeit verhelfen können. Auch die Erschaffung neuer Formen des Lebens bleibt jedoch ehrgeizig genug, um Anlass zum Nachdenken zu bieten. Diese Fragen schließen bei der Freiheit und Selbstorganisation des Lebendigen an, das zur Schaffung ansteht. Hans Jonas schreibt über die zukünftigen Möglichkeiten der Gentechnik und ihrer von ihm so genannten „Neomikroben“: „In solchen Schöpfungen, nun wirklichen Geschöpfen, mit denen er sein bisheriges Schöpfertum am Leblosen qualitativ überboten hat, begibt sich homo faber seiner Alleinursächlichkeit. Nicht mehr nur bildlich, buchstäblich gewinnt das Werk seiner Hände eigenes Leben und selbsttätige Kraft.“4

Was damit beschrieben wird, ist eine nur schwer zu lösende Wahrnehmungsdiskrepanz. Auf der einen Seite stehen die avanciertesten Formen des instrumentellen Wissens vom Lebendigen, wie es die synthetische Biologie liefert. Sie erwecken vor allem eines: den Eindruck von vollständiger Kontrollierbarkeit und Verfügbarkeit der technisch erzeugten Objekte. Auf der anderen Seite steht die philosophische Konzeptualisierung von Lebendigem mit ihrem engen Bezug zum alltäglichen Erfahren von Leben. Sie betont, dass dem Leben auch in seinen einfachen Formen Eigenschaften wie Veränderbarkeit und Entwicklungsfä1 Hans Jonas: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 205. 2 Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 96–98. 3 Andreas Brenner: Leben. Eine philosophische Untersuchung, Bern 2007, S. 162– 164. 4 Hans Jonas (1985), S. 205.

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higkeit inhärent sind. Innerhalb der Perspektive der synthetischen Biologie können diese Eigenschaften und mit ihr einhergehende Wertvorstellungen schnell aus dem Blick geraten. Eine der größten Herausforderungen der gesellschaftlichen und politischen Begleitung dieser Forschung wird deshalb darin bestehen, die instrumentelle Perspektive der synthetischen Biologie auf ihre Produkte, die synthetischen Neomikroben, nicht unbesehen zur einzig möglichen Perspektive zu erklären.

Die Naturgeschichte der Ethik Leben und Selbstbestimmung bei Volker Gerhardt Richard Fonseca I. Krisenerfahrung als Grundbedingung der Ethik1 „[I]ch glaube, es gibt eine der größten Krisen, einen Augenblick der allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen: ob der Mensch sich davon erholt, ob er Herr wird über diese Krise, das ist eine Frage seiner Kraft“2. Volker Gerhardts erfolgreich unternommene Grundlegung der Ethik kann aus diesen Worten abgeleitet werden.3 Jeder, der eine Krise in der Ethik als „eine Frage seiner Kraft“ wahrnimmt, erfährt damit – so Gerhardt – „ein Problem, das [ihm] niemand abnehmen kann und mit dem [er] ganz allein fertig werden muß“4. In einer Krisenerfahrung wächst das Bedürfnis nach ethischer Selbstversicherung, sodass erst der Mensch durch seine Selbsterschließung zu neuen Einsichten gelangen kann. Ethik ist von daher eine Frage der Selbstbestimmung. Dieser Problematik wendet sich Gerhardt zu und zeigt damit eine Herausforderung unserer Zeit auf. II. Begründungsbedarf und Neuheit in der Ethik Es ist ein Kennzeichen der westlichen Ethik, dass sie in eine nicht vorhersehbare Krise gelangt ist.5 Da den auf religiösem und überliefertem Boden gründenden moralischen Regeln ihre Glaubwürdigkeit entzogen wurde, erwuchs ein neuer Begründungsbedarf, der sich in Form von zwei Hauptaufgaben verstehen lässt: Zum einen müssen neue Legitimitätsprinzipien entwickelt werden, um

1 An dieser Stelle bedanke ich mich bei Jan-Christoph Heilinger für die Korrektur meines Textes und bei der Capes-Stiftung, die meinen Aufenthalt in Deutschland ermöglicht hat. 2 Friedrich Nietzsche: Nachlass 1887–1888, KSA 13, S. 56. 3 Nietzsches Kritik der Moral ist meines Erachtens von Volker Gerhardt radikalisiert worden. Vgl. in diesem Kontext: „Und da die Selbstbesinnung immer auch eine Praxis ist, gibt es gute Gründe, sie von der Selbstbestimmung nicht zu trennen.“ (Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 72) 4 Gerhardt (1999), S. 372. 5 Dazu: Ernst Tugendhat. Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1999, S. 13–14, 25–26 sowie 68–69.

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eine allgemeingültige Anerkennung moralischer Regeln aufzustellen, und zum anderen müssen Prinzipien identifiziert werden, die bestimmten Handlungsweisen unterliegen und die letztlich den Einzelnen zum rechtmäßigen Handeln befähigen. In Abgrenzung von denjenigen, die angesichts dieser epochalen Krise eine regelzentrierte Begründung der Ethik fordern, schlägt Gerhardt in seiner Grundlegung der Ethik einen anderen Weg ein.6 Die Pointe Gerhardts liegt darin, dass es nicht die Regeln sind, „die darüber entscheiden, ob eine Handlung moralisch genannt werden kann; sondern alles hängt an der Stellung, die der Einzelne zu seiner Handlungs- und Erklärungsregel einnimmt“7; kurz: Die „Individualität“ ist die „conditio sine qua non der Moral“.8 Die knappe Form meiner Darstellung erlaubt es an dieser Stelle nicht, die Einsichten Gerhardts umfassend darzustellen und zu würdigen. Dennoch möchte ich im Rahmen dieser Festschrift die Möglichkeit nutzen, ein wichtiges Element von Gerhardts neuer Ethik – so wie ich sie verstehe – zu erläutern. Dabei gehe ich von zwei Leitfragen aus: Was ist ein moralisches Problem? Und: Was ist die Aufgabe der Ethik, die sich in Bezug auf das sogenannte moralische Problem stellt? III. Die Entstehung eines moralischen Problems: Leben und Krise Zum Verständnis der Entstehung eines moralischen Problems macht Gerhardt darauf aufmerksam, dass es eine interne Verbindung zwischen dem Begriff der Krise und dem des Lebens gibt. Man kann noch deutlicher sagen, dass die vom Individuum erfahrene Krise in der Ethik als ein Prozess der Dynamik des Lebens angesehen und interpretiert werden soll: „Alle Probleme entstehen in der Krise“ und „in der Regel steuert das Leben schon Lösungen an, bevor es wirklich kritisch wird.“9 Was Gerhardt „Krise“ im moralischen Sinn nennt, ist das Auseinanderklaffen von „Sein und Sollen“; es geht also um den Verfall der Verbindlichkeit und Anerkennung der moralischen Werte. Gerhardt sieht aber diesen Verfall nicht exklusiv als eine moderne Erbschaft, sondern als ein Grundmerkmal der westlichen Ethik überhaupt an. Immer wenn die überlieferte Autorität einer Moral „keine eindeutige Verbindlichkeit mehr“10 enthält, d. h., wenn die überlieferte Autorität nicht mehr als letzte moralische Instanz gilt, dann führt dies zu einer Handlungsdesorientierung. Zwischen moralischen Normen und Handlungen entsteht eine tiefe Kluft. Diese Kluft, so betont Gerhardt mehr6

Gerhardt (1999), S. 97–106, insbesondere S. 105. Ebd., S. 362. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 73. 10 Ebd. 7

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fach,11 ist primär das Problem eines jeden Einzelnen. Indem er die moralische Autorität nicht mehr erkennt und sich ihr gegenüber nicht mehr verpflichtet fühlt, kann er ohne diese Grundorientierung schwerlich etwas in seinem Leben entscheiden. Wenn sich der Einzelne in einer solchen Krise der Anerkennung und Verbindlichkeit moralischer Normen befindet, dann wird in ihm selbst die Frage „Was soll ich tun?“ aufgerufen. Als existenzielle Krise bringt dieses Problem den Menschen in eine geradezu gefährliche Situation. Er kann hoffnungs- und handlungslos im Stillstand verharren, da die aus ihm selbst gestellte Frage ihn innerlich daran hindert, seine Handlungen – wie er sie gewöhnlich vollzieht – auszuführen. Anders als pragmatische und bloß funktionale Fragen ist die ethische eine spezielle Frage,12 weil alle vertrauten Gründe und Zwecke in Werten verankert sind. Bei der Frage „Was soll ich tun?“ macht jeder in sich selbst zwei gegensätzliche Erfahrungen: dass man sich entscheiden soll und zugleich sich nicht leicht entscheiden kann. Ausgerechnet die überlieferte Autorität war die Basis, unter deren Druck der Mensch seine eigenen Entscheidungen (zumindest die Entscheidung bezüglich der Frage „Was soll ich tun?“) bisher traf. Zugespitzt formuliert: Unter diesem moralischen Druck hat sich der Mensch die bindende Vorstellung seiner moralischen Pflichten erworben. Durch diesen Druck in sich selbst und mit der überlieferten Autorität erlernt er wertbasierte Gründe und Zwecke seiner moralischen Handlungen, die er fortwährend benötigt, um sich zu entscheiden. „Natürlich“, wie Gerhardt formuliert, „kennt er die alten Pflichten noch; aber sie haben ihre bindende Kraft verloren.“13. Im Grunde fehlt ihm nicht nur die Evidenz der Verbindlichkeit der Normen, sondern auch die Fähigkeit, selbst deliberativ zu entscheiden. Die überlieferten Autoritäten stellten sich also nicht bloß als pragmatische Normen dar; sie zogen auch die nötigen Grenzen, in denen sich das menschliche Bewusstsein und der menschliche Wille in Anlehnung an die moralischen Werte der unhinterfragten Autorität herausgebildet haben. Ohne diese Grenzen im menschlichen Geist ist jede Art der Willensentscheidung undenkbar. Dies genau ist der Punkt, an dem die Ethiker nach einer Begründung der Ethik suchen und darüber streiten, ob eine neue Begründung möglich oder unmöglich ist. An dieser Stelle distanziert Gerhardt sich von alternativen moralphilosophischen Konzeptionen. Für ihn gilt, „daß sich die Philosophen schon seit Jahrhunderten gar nicht so sehr um neue Tugenden bemühen, sondern ganz und gar auf deren Begründung konzentriert sind.“14 Gerhardts Pointe besteht 11 Volker Gerhardt: Selbstbegründung: Nietzsches Moral der Individualität, in: Nietzsche-Studien 21, 1992, S. 39 sowie Gerhardt (1999), S. 105 und S. 381. 12 Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 94 f. sowie Gerhardt (1999), S. 375. 13 Gerhardt (1999), S. 74. 14 Ebd., S. 18.

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darin, zwei Aspekte zu klären: zum einen, wie die Rolle der überlieferten moralischen Autorität bei der Formierung unseres Geistes zu verstehen ist, und zum anderen, wie das Individuum in sich selbst die Lösungen für seine moralischen Probleme finden kann. Es geht damit um die mögliche Verbindung zwischen der vom Individuum erfahrenen Krise in der Ethik und dem Begriff des Lebens. IV. Die Aufgabe der Ethik aus der Selbsterfahrung des Lebens Wenn man im Anschluss an Nietzsche denkt, dass alle überlieferten Autoritäten und ihre Grenzen Illusionen sind, dann gelangt man zu der Einsicht, dass die Glaubwürdigkeit aller Werte und Normen lediglich Fiktion ist. Unter Umständen entfernt man sich von jeder überlieferten Autorität und stellt fest, dass die Moral gegen das Leben war und ist. Die Moral war gegen das Leben, weil ihr normativer Anspruch nicht aus dem Leben selbst genommen wurde.15 In diesem Sinn ist die historische Leistung der Moral nicht nur als ein Irrtum, sondern auch – und vor allem – als eine dem Leben entgegengesetzte feindliche Heteronomie zu verstehen. Dies ist aber nicht Gerhardts Ansicht. Er nähert sich dieser Problematik aus einer erweiterten Perspektive. Mithilfe eines soziologischen und naturgeschichtlichen Verständnisses zeigt Gerhardt, dass die Moral nichts Fremdes für den Menschen und sein Leben ist. Vielmehr soll sie als das Ergebnis eines lebenslänglichen Selbstschöpfungsprozesses menschlicher Arbeit gesehen werden. Sie ist nichts anderes als eine bestimmte Form unseres Lebens. Zur moralischen Frage „Was soll ich tun?“ kann ich mich – wie wir sehen werden – des Leitfadens der Dynamik des Lebens bedienen, um mir über Möglichkeiten und Ziele meines Tuns klar zu werden. Um die überlieferte Moral als eine andere Form unseres Lebens und um die Dynamik des Lebens als die Grundlage der Möglichkeiten und Ziele meines Tuns zu verstehen, muss jedoch – zumindest in Grundzügen – die entscheidende Frage geklärt werden: „Was ist Leben?“ Der Ausgangspunkt der Philosophie Gerhardts in Bezug auf den Lebensbegriff liegt vor allem in der möglichen menschlichen „Selbsterfahrung“16: „Leben ist der umfänglichste und gleichwohl in sich reichhaltigste Begriff für den Zusammenhang, in dem wir sind“17. Aus uns selbst – und zwar nicht aus 15 Vgl. Volker Gerhardt: Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zur einer Grundlegung der Ethik, in: Günter Abel/Jörg Salaquarda (Hrsg.): Krisis der Metaphysik, Berlin/New York 1989, S. 418. 16 Volker Gerhardt: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit, in: Jan-Christoph Heilinger (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin/New York 2007, S. 458 und Gerhardt (1999), S. 91. 17 Vgl. Volker Gerhardt: Lebensführung und Politik. Anthropologische Elemente einer philosophischen Theorie der Politik, in: Kurt Bayertz (Hrsg.): Politik und Ethik, Stuttgart 1996, S. 10.

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der Position eines externen Beobachters, sondern aus unserer Lebendigkeit heraus – können wir erfahren, was das Leben ist. Jeder Vorgang, an dem wir teilhaben und der in uns stattfindet, gehört zu den Grundmerkmalen des Lebens. Das Verständnis des Lebens als Summe dynamischer Vorgänge verdeutlicht seine charakteristischen Merkmale: Es geht um sich selbst organisierende Strukturen, die aufgrund von Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Teilen und durch interne und externe Wirkungen entstehen und bestehen können. Als „ein überaus komplexes Geschehen“18 kann es etwa eine bewusste Selbsterfahrung nur geben, wenn eine Abgrenzung besteht. Unsere Blutströme z. B. gehören zu einer Struktur, die in sich selbst organisiert ist. Wollen wir uns aber dessen bewusst sein, müssen wir diese Vorgänge abgrenzen; und das soll nicht nur mit unserem Willen (sich entschließen, daran zu denken) sondern auch mit unserem Denken (sich diese Vorgänge vorstellen) geschehen. Es muss eine Differenzierung bestimmter Vorgänge geben, damit wir den Prozess unseres eigenen Lebens erfahren können: „Lebenserfahrung ist wesentlich Erfahrung unserer Grenzen“19. Es ist daher keine Überraschung, dass der Zwang der überlieferten Moral auf die Dynamik des Lebens ausgreifen konnte. Es gilt ja als ein Grundmerkmal der westlichen europäischen Kultur, dass der selbstbewusste und selbstverantwortliche Mensch erst durch die Abgrenzungen der Moral (durch ihre Gesetze und Forderungen) geformt worden ist. Das Problem aber entsteht jetzt, wenn wir versuchen, die Ethik ohne den Zwang der nicht mehr bindenden überlieferten Moral und ihrer Leistungen zu bestimmen. Wie können wir zunächst angemessen die Dynamik unseres Lebens berücksichtigen und anschließend immer noch über Ethik reden? Dazu müssen wir uns auf unsere letzte Frage konzentrieren: Was ist die Aufgabe der Ethik? V. Selbstbestimmung als das individuelle Gesetz Nach Gerhardt dient die Ethik – ausgehend von einem moralischen Problem („Was soll ich tun?“) – der „Sicherung der Individualität“20. Vorausgesetzt, dass es sich bei der Radikalisierung der moralischen Frage um ein situatives Problem handelt, können wir das folgende Argument unter der Frage: „Was soll ich hier tun?“ einordnen. Nehmen wir z. B. an, dass ich mich vor ein paar Wochen gegenüber den Herausgebern dieser Festschrift verpflichtet habe, rechtzeitig einen Beitrag zu liefern. Dazu habe ich einen Grund. Der Zweck meiner Handlung war es, einen Text zu schreiben, den ich für wichtig hielt, um meinem akademischen Lehrer eine Freude zu machen. Dabei habe ich mich selbst an einige Regeln gebunden und mich um ihre Erfüllungsbedingungen gekümmert: Das Anlegen einer Bibliografie, die nötige Muße zum Schreiben, gutes Essen, um 18 19 20

Gerhardt (1999), S. 162. Gerhardt (1996), S. 35. Volker Gerhardt: Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 133.

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arbeiten zu können, genügend Schlaf etc. Inzwischen haben sich aber unvorhersehbare Probleme ergeben: Meine Mutter wurde krank; ich habe einige Bücher verloren; es gab Schwierigkeiten mit der Internetverbindung in Brasilien, was zur Folge hatte, dass ich zahlreiche Prüfungen meiner Schüler erneut korrigieren musste. Aus der allgemeineren Frage „Was soll ich tun?“ wächst dann die Frage: „Was soll ich hier und jetzt tun?“ Nun stecke ich in einer Krise, da ich mich selbst zu entscheiden habe. Die von mir erfahrene Krise erlaubt mir, zu neuen Einsichten zu gelangen. Und ich werde es tun, nicht weil ich von einer überlieferten Moral oder einer Krisenforderung determiniert bin, sondern, da ich angesichts dieses moralischen Problems aus mir selbst eine Lösung finden will (als Abgrenzung meines Lebens von möglichen anderen Formen), da ich mir meines Willens bewusst sein kann21 und vor allem da ich mich um die Ernsthaftigkeit22 meiner Individualität (meines Selbst) sorge. Bei den Schwierigkeiten und dem Auseinanderfallen der Regeln erkenne ich meine Bedürfnisse, Gefühle, alte Gewohnheiten, Absichten etc. Kurz: Ich erkenne mich selbst. Nachdem ich die neuen Einsichten verbindend mit meinem Selbst erkenne und die Lösungen durch meinen Willen bewältige, mache ich mir dies zu meinem Gesetz. Im Zeichen dieses personalen Selbstbegriffs bestimme ich das Schreiben und alle dazugehörenden Regeln aus mir selbst und zugleich mache ich mich damit verbindlich. In der pluralistischen Gegenwart, die häufig bloß ein regelzentriertes Gesellschaftsmodell fordert, liefert „das Prinzip der Individualität“ als Grundlage einer überzeugenden, neuen Ethik nicht nur das Fundament für die Anerkennung der eigenen Handlungsverbindlichkeit, sondern auch das Fundament für die dazugehörige Verantwortung. Volker Gerhardt zeigt, wie der ethischen Herausforderung unserer Zeit begegnet werden kann.

21 22

Gerhardt (1999), S. 375. Ebd., S. 103.

Perspektiven und Formen des Lebens Nietzsche und Wittgenstein1 Núria Sara Miras Boronat „Der Begriff des Lebewesens hat die gleiche Unbestimmtheit wie der der Sprache“2. Diese Worte sind seit Juli 2005 in meinem Gedächtnis eingebrannt, nach einem Gespräch in Volker Gerhardts Sprechstunde. Bei dieser Gelegenheit war kurz über Wittgensteins Begriff der Lebensform und seine verschiedenen Deutungsmöglichkeiten diskutiert worden. Das Problem, so haben wir damals festgestellt, liegt an den Schwierigkeiten, diesen Begriff genau einzugrenzen. Die richtige Abgrenzung des Begriffes ist besonders relevant, weil jede Interpretation entscheidende praktische Folgen mit sich bringt. Denn es handelt sich um den Schluss, der alle Türen bei Wittgenstein öffnet oder sie für immer versperrt. Die Unbestimmtheit des Begriffs der Lebensform hatte meines Erachtens mit der Unbestimmtheit der Sprache zu tun. Es war damit nicht nur gemeint, dass der Begriff nicht imstande sei, die Realität genau zu erfassen, sondern eher, dass Wittgenstein selbst an keine konsequente sprachliche Verwendung des Begriffes gedacht hatte, d. h., er ist beim wörtlichen Gebrauch keiner Regel gefolgt. Volker Gerhardt hat diesen Überlegungen geduldig Gehör geschenkt und erwiderte mit einem rätselhaften Lächeln nur: „Die Unbestimmtheit liegt am Leben selbst.“ Er schwieg noch einen Moment und fügte anschließend hinzu: „Aber um zu bestimmen, was das Leben eigentlich ist, braucht man ein ganzes Leben!“ So habe ich es in Erinnerung und damals fehlten mir die Worte, um etwas zu entgegnen. Es stellte sich mir die Frage, ob Gerhardts Äußerung ironisch aufzufassen sei. Oder hatte er auf etwas Wichtiges hingewiesen, etwas, das sich nicht sagen, sondern nur zeigen lässt? Kurz danach bin ich auf seinen Essay Die Perspektive des Perspektivismus3 gestoßen. Und es wurde mir klar, worauf er hinauswollte: Was und wie das Leben sei, hängt von der Perspektive ab. Es kommt darauf an, sich die richtige Anschauung über die Dinge zu verschaffen. 1 Ich möchte mich ganz herzlich bei Claudia Pufahl bedanken, die die sprachlichen Korrekturen durchgeführt hat. 2 Ludwig Wittgenstein: Zettel, in: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 8, § 326, S. 349. 3 Volker Gerhardt: Die Perspektive des Perspektivismus, in: Nietzsche-Studien, Berlin/New York 1989, Bd. 18, S. 260–281.

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So formuliert, mag sich diese relative Wahrheit trivial anhören. In dem alltäglichen Ausdruck verhüllt sich aber das Eine und Einzige, das für ein ganzes Leben bestimmend sein kann. Das hatten Nietzsche und Wittgenstein, jeder auf seine Weise, erkannt. Einige Parallelen zwischen Nietzsche und Wittgenstein sind offensichtlich. Nietzsche und Wittgenstein gelten als Denker der Radikalität. Beide haben die Aphorismen als Stil des Philosophierens bevorzugt: Ein fließendes Denken, das sich durch sein eigentümliches Pathos hin und her bewegt und nicht aufzuhalten ist. Für beide scheint es keine Distanz zwischen dem Leben und dem Denken zu geben. So lautet der Titel des Buches, das Norman Malcolm Wittgensteins Philosophie widmete: Nothing is hidden4. Das könnte so auch auf Nietzsches Philosophie zutreffen. Trotz der Eigentümlichkeit der beiden Philosophen ist ihre Rezeption so vielfältig, wie der menschliche Horizont nur sein kann. Die Interpretationen hängen von den Individuen ab, die sie betreiben.5 Bei der Lektüre Nietzsches oder Wittgensteins ist ein großzügiger Methodenpluralismus zu beachten und zu bewahren. Auch wenn sich dann Odo Marquards Behauptung anschließen muss, dass die Philosophie eben eine „traurige Wissenschaft“6 sei. Denn die Philosophie strebt ständig nach Begriffen, welche die Realität ohne Perspektive und unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit vor Augen erscheinen lassen. Anderseits ist das Perspektivische die Grundbedingung des Lebens: Das menschliche Erkennen ist an Perspektiven gebunden und jeder von uns erfährt nur seinen spezifischen Ausschnitt des Ganzen. Dieser Ausschnitt, die Perspektive erscheint dem Wesen, das Perspektiven hat, als das Ganze.7 Diese Dialektik ist bei beiden Philosophen zu finden. Theoretisch betrachtet ist der Perspektivismus nicht rational zu überwinden und so werden wir durch ihn in den Abgrund der menschlichen Vernunft gestürzt. Diese Überlegungen konzentrieren sich auf folgende gemeinsame Punkte Nietzsches und Wittgensteins: die kantische Resonanz der Perspektive, die Perspektive als Bedeutungsraum, der Perspektivismus als deskriptive These der innerweltlichen Perspektivenvielfalt und die praktischen Bedingungen als Fundament des Perspektivismus. Die Hauptthese ist dann, dass eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen Nietzsche und Wittgenstein besteht, wenn die Begriffe Perspektive und Lebensform in einen gemeinsamen Zusammenhang gesetzt werden. In meinen Ausführungen werde ich mich hauptsächlich auf die Thesen aus Volker Gerhardts Aufsatz stützen bzw. auf einige von Wittgensteins bekann-

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Norman Malcolm: Nothing is hidden, Oxford 1986. Vgl. Gerhardt (1989), S. 261. Odo Marquard: Glück im Unglück, München 1995. Vgl. Gerhardt (1989), S. 263.

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testen Aphorismen und Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Wie Gerhardt betont, spielt die Perspektive bei Nietzsche oft dieselbe Rolle wie bei Kant die transzendentalen Bedingungen. Auch die Lebensform gewinnt diese transzendentale Färbung im Kontext von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, denn das Gegebene, das Hinzunehmende, seien Lebensformen.8 Verschiedene Aspekte sind hier wichtig. Wenn Perspektiven bzw. Lebensformen Grundbedingungen des menschlichen Erkennens und Könnens sind, bedeutet das, dass diese Bedingungen menschliches Erkennen und Können ermöglichen. So versteht sich das Leben selbst ausschließlich vor dem Hintergrund eines Sinnzusammenhangs. Nur innerhalb eines Bedeutungsraumes kann das Leben eine Bedeutung für uns haben. Gleichwohl sind die Grenzen dieses Bedeutungsraumes unüberschreitbar: Die Grenzen der Sprache bedeuten die Grenzen der Welt. Die Welt, von der hier die Rede ist, entspricht nicht unbedingt der empirischen Welt der Dinge. Wir machen uns Bilder der Tatsachen;9 aber das, was der Fall ist, ist die Welt der Vorstellungen. Vorstellungen werden nicht vom direkten Umgang mit der Realität abstrahiert: Nichts ist verführerischer als das Wort „Erscheinung“10. Das Ding an sich bleibt unzugänglich bei Nietzsche. Wir geraten in die Willkürlichkeit der Benennungen. Wir sind Teil einer Gemeinschaft, die von einem „bewegliche[n] Heer von Metaphern“11 geführt wird. Der Sprachpluralismus ist nach Nietzsches Ansicht der beste Beweis dafür, dass es die Welt ohne Sprachverfassung nicht gibt.12 Bei Wittgenstein ist es unmöglich, sich eine Sprache ohne die Lebensform, mit der die Sprache verwoben ist, vorzustellen: „,So, sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‘ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“13

Dass wir dieser Meinung sind und nicht eine andere Meinung vertreten, kennzeichnet uns als Teilnehmer an einer Lebensform oder bezeichnet den Standpunkt, wohin sich das Gesichtsfeld wendet. Sich eine Perspektive bzw. eine Lebensform vorzustellen, heißt aber auch, sich in andere Perspektiven bzw. 8 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 1, xi, S. 572. 9 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, in: ebd., § 2.1, S. 14. 10 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge in aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 884. 11 Ebd., S. 880. 12 „Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen.“ (Ebd., S. 879). 13 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ebd., § 241.

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Lebensformen hineinzuversetzen. Solche Begriffe implizieren immer eine Pluralität. Perspektivismus und Pluralismus der Lebensformen sind in diesem Sinn rein deskriptiv anzusehen: Die Vielzahl von Perspektiven bzw. Lebensformen beschreibt das Wesen des Lebens selbst, das sich mannigfaltig entfaltet. Sich andere Perspektiven und Lebensformen vorzustellen, führt nicht unbedingt dazu, dass wir uns vorstellen können, wie die Dinge unter einem anderen Gesichtspunkt aussehen. „Will ich als Betrachter meine eigene Perspektive erfassen, muß ich sie verlassen.“14 Wenn ich meine Perspektive verlasse, befinde ich mich an einem neuen Standpunkt. Jede Beschreibung geht von dem jeweils neuen Standpunkt aus. Das Licht, das sich auf Gegenstände projiziert, hat sich verändert und die Bewegung von Perspektiven macht es mir unmöglich, die Gegenstände aus dem alten Gesichtspunkt zu beschreiben. Perspektiven wird man nie los: Man ist immer in einer Perspektive. Bei verschiedenen Lebensformen ist ebenfalls vorauszusetzen, dass sie andere Koordinaten als wir besitzen. „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“15 Hier kommen wir wieder zur Frage nach den Grenzen der Perspektive bzw. der Lebensform zurück. Gewiss sind es keine grenzenlosen Begriffe. Ein Begriff ohne Grenzen zählt nicht als Begriff, er ist uns zu nichts nütze. Die Grenzen sind da, aber sie sind unscharf. Wann können wir sagen, dass wir bis zum Rand der eigenen Perspektive bzw. Lebensform gegangen sind? Bei Perspektiven kann man sagen: Für jedes Subjekt gibt es eine zugehörige Perspektive. Man kann auch einem Subjekt mehrere Perspektiven unterstellen, wenn man die Perspektiven zu verschiedenen Interessen und Bedürfnissen verbindet.16 Auch die Welt mag eine umfassende Perspektive sein, unter der alle lebendigen Wesen ihre Orientierung suchen. Zu den Lebensformen gehört auch Plastizität, Beweglichkeit. Man versteht sich als Zugehöriger einer Lebensform, indem man mit anderen gemeinsame Riten, Gewohnheiten, Geschichte, Sprache, Institutionen, Kultur etc. teilt. Andere kulturelle und soziale Lebensformen mögen andere Organisationsmöglichkeiten zum Vorschein bringen und wir können uns mit diesen verständigen, wenn wir den Sinn dieser alternativen Organisationsformen in unseren übersetzen können. Man versteht sich als Lebewesen, als Repräsentant der Menschengattung und kann sich dementsprechend von Wesen anderer Spezies unterscheiden. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Kommunikation mit Wesen anderer Gattungen unvorstellbar: Dafür müssten wir eine andere leibliche Organisation haben, z. B. die von Löwen, Fischen oder Pflanzen.

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Gerhardt (1989), S. 265. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ebd., xi, S. 568. Gerhardt (1989), S. 267.

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Man organisiert auch das eigene Leben selbst, indem man praktisch entscheidet, wie es zu leben ist. Dass ich dieses oder jenes tue, dass ich meine Präferenz für etwas in meinem Handeln zeige, das macht meine Besonderheit als Individuum aus. Aus diesem Grund gibt es keine Wissenschaft, die sich mit Perspektiven oder Lebensformen beschäftigt. Es gibt so viele Betrachtungsweisen wie Interessen und Bedürfnisse der Menschen. Je nachdem wie der Mensch sich selbst als Lebewesen, Individuum, Vertreter einer Gesellschaft oder einer Kultur sieht, ändert sich der Bedeutungsraum, in dem eine solche Selbstinszenierung sinnvoll ist. So haben wir etwa die Soziologie, Entwicklungspsychologie, Kulturanthropologie oder Verhaltenslehre17 entwickelt: Sie beleuchten bestimmte Seiten des menschlichen Seins, indem sie andere Seiten ausblenden. Mit dem Begriff der Interessenänderung tritt das Problem der praktischen Bedeutung des Perspektivismus ein. Interessen haben nicht nur mit Wahrheit zu tun, sie leiten uns zu einem Zweck. Das Leben mag ein Interesse an sich selbst haben: Es kümmert sich um sich selbst. In diesem Punkt gleichen sich wieder Nietzsches und Wittgensteins Wege. Die Perspektive wird Kraftzentrum, der Raum, in dem man sich selbst bestimmt. In diesem Raum muss das Tätige ein Verhältnis zu sich selbst gewinnen: Indem man handelt, entzweit sich jeder mit sich, damit sein Sein, Sollen und Wollen wieder miteinander verschmelzen können. Nach Wittgenstein muss das Leben die Form finden, in der alles, was sich als problematisch erweist, verschwindet.18 Das metaphysische Subjekt schrumpft in einem ausdehnungslosen Punkt zusammen19 und lässt den Platz frei für das wollende Subjekt. Für diesen Raum des Experimentierens, der Selbstbestimmung und der Selbstgesetzgebung, der keine äußeren Schranken mehr kennt, ist der Mensch allein zuständig.

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Gerhardt (1989), S. 266. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, in: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 8, S. 487. 19 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, in: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 1, § 5.64, S. 68. 18

Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens Über religiösen Glauben und metaphysische Ausflüchte Hartmut von Sass Dass wir nach Charles Taylor in einem Secular Age leben, schließt für ihn keineswegs aus, die Reformation zu den bis heute wirksamen Quellen des Selbst zu zählen. In einer überaus glücklichen Wendung bringt Taylor das Anliegen insbesondere Luthers auf den Punkt: Reformation sei die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“1. Doch wo bejaht wird, liegt die Verneinung nicht fern, und wo von ordinary die Rede ist, wartet schon das Un- und Außergewöhnliche. In der Tat geht Luther von einer fundamentalen Verneinung aus, nämlich derjenigen Kirche, welcher er als Augustiner-Mönch selbst angehört. Gegen das katholische ordo-Denken wird Luther das „Priestertum aller Gläubigen“ setzen, gegen die ekklesiale Mystifizierung und die exklusive Sakralisierung den authentisch gelebten Glauben des Einzelnen. Eine Theologie der flachen Hierarchien ist die Folge, die uns die Phänomene des gewöhnlichen Lebens – Ehe, Arbeit, Geld, Obrigkeit, Freude, Leid, den Nächsten, uns selbst, Gott – neu sehen lässt, indem der durch das Außergewöhnlich-Priesterliche vermittelte Gott einem in der (nicht-privaten) Innerlichkeit des Einzelnen begegnenden Gott weicht. Das reformatorische Engagement verbleibt keineswegs im Modus des Einspruchs, sondern nimmt den Charakter einer vehementen Einladung an; denn „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ meint nicht das selbsttätige Herstellen des Gewöhnlichen, zumal sich seinen eigenen Gott zu schaffen, ohnehin nichts als Götzendienst wäre. Bejahung meint vielmehr die Einwilligung in das schon „offen vor uns Liegende“2, in das, was uns schon immer umgibt. Der das Gewöhnliche bejahende – und in diesem Sinn: reformatorische – Glauben behauptet nichts Neues jenseits des Alten, sondern lehrt das Alte neu zu sehen. Folglich stellt die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ eine fundamentale Kritik jenes metaphysischen Eskapismus dar, der sich vor den Phänomenen des Gewöhnlichen ins Supranatural-Außergewöhnliche flüchtet. Reformationen bleiben offenkundig so aktuell wie notwendig. 1 Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern World, Cambridge, Mass. 1989, Part III: The Affirmation of Ordinary Life, besonders S. 211–218. 2 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, § 126.

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Diese Art einer lebensbejahenden reformatio, die erneuert, indem sie erinnert, hat der Mann aus Wittenberg mit einem anderen Rebellen gemein, der die Überführung der metaphysica zum Gewöhnlichen ins Sprachphilosophische wendet: „Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?“, so fragt Wittgenstein, um apodiktisch nachzulegen: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“3

Das hervorgehobene „Wir“ deutet an, dass die Sprache sich nicht selbst korrigiert und uns nicht sagt, wann der therapierende Analytiker einschreiten sollte, obgleich es sich um „Krankheiten“4 handelt, die eine Diagnose und Heilung erfordern. Letztere wird erhofft von einer Rückführung der Sprache an einen Ort, an dem sie sich offenbar schon einmal befunden hatte und von dem sie (un-) gewollt entfernt wurde. Die räumlichen und temporalen Metaphern sollten nun nicht davon ablenken, dass dieser Ort mitten in unserer Sprache – im „gewöhnlichen Leben“5 – liegt und dass es keineswegs zu spät ist, ihn aufzusuchen. Dies tut Wittgenstein, indem mittels umsichtigen Beschreibens eine erhöhte Sensibilität für unsere alltägliche Sprache eingeübt wird. Dahinter steht die Befürchtung, dass uns generalisierende Theorien dem komplizierten, in vielfacher Weise mit unserem Leben verwobenen Sprachgebrauch gegenüber auf Distanz halten. Demnach lösen nicht Verallgemeinerungen unsere philosophischen „Verhexungen“ auf,6 sondern nur eine „ethnologische Betrachtungsweise“ kann dies erreichen, indem sie uns zeigt, wie unsere Sprache in eine „natürliche Umgebung“ eingebunden ist.7 Philosophie nach Wittgenstein versucht sich daher an einem Nähegewinn, mithin an einer deskriptiven Wiedergewinnung unserer Sprache aus dem metaphysischen Projekt einer Suche nach ihrem Wesen hin zum gewöhnlichen Gebrauch ohne die Rigidität vermeintlicher Formenklarheit. Dieser nicht-, vielleicht gar antitheoretische Zug ist treffend in der lapidaren Aufforderung „denk nicht, sondern schau!“8 eingefangen. Die tatsächliche Sprachverwendung bietet alles, was zu unserer Erhellung beitragen könnte, wenn wir tief sitzenden Verwirrungen erlegen sind. Hingegen hat die Unklarheit, in der ein philosophisches Problem nach Wittgenstein besteht, die Form „Ich kenne mich nicht aus“, sodass dessen Lösung „eine gewisse Art des ,sich Auskennens‘“ bedeutet – nicht jedoch in Form einer einmal erreichten Antwort,

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Ebd., § 116. Ebd., §§ 255 und 593. 5 Ebd., §§ 105, 108, 156; vgl. 583. 6 Vgl. ebd., § 109. 7 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1994, Bd. 8, S. 502. 8 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66. 4

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sondern als Modus geistiger Unbequemlichkeit, die das Einnehmen verschiedener Blickwinkel am Laufen hält.9 Im folgenden, recht prominenten Beispiel wird diese „Bejahung des Gewöhnlichen“ geradezu pädagogisch inszeniert. Die Hindernisse bei der Suche nach gemeinsamen Eigenschaften einer Gruppe von Gegenständen wird jeder von uns kennen: „Was“ ist es, das etwa allen Spielen ausnahmslos zukommt und so die Anwendung dieser Bezeichnung rechtfertigt? Oft jedoch verstellt bereits die Art zu fragen den Weg zur Antwort. Wittgenstein lädt uns ein, auf die Praxis und den mit ihr verknüpften Gebrauch des Wortes „Spiel“ zu achten: „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ,Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ,Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst heißen sie nicht ,Spiele‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren.“10

„Was der Leser auch selbst kann, das überlaß dem Leser“,11 so lautet eine Regieanweisung Wittgensteins. Der Wiener traut seinen Lesern noch nicht allzu viel zu, sich selbst aber auch nicht: „Wie schwer fällt es mir zu sehen, was vor meinen Augen liegt!“12 Daher wird er nun seinerseits zu einem Spiegel, in dem sich seine Leser wiedererkennen können und in dem die gespiegelten Denkund Irrwege als ihm vielfach schon vertraute erkennbar werden. Wittgensteins Vorstellung der „Familienähnlichkeiten“ gleichsam verwandter Elemente ist eine aufschlussreiche Einübung genauen Sehens und der Einwilligung, bei dem vor uns Liegenden zu bleiben und nicht die philosophische Flucht ins Theoretische vorzeitig anzutreten. Er führt seinen Leser dazu – entgegen dem sonstigen Ideal der Distanznahme –, bei den Gegenständen in Ruhe zu verweilen, um einzusehen, dass die Behauptung, es müsse doch was geben, das allen Spielen gemein wäre, voreilig ist. Erst die allmähliche Erhellung und perspektivische Beschreibung ermöglicht es, uns selbst von unangemessenen Bildern – mittels neuer – zu kurieren.13 9

Ebd., § 123 und Teil II, S. 535. Ebd., § 66. 11 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, S. 560. 12 Ebd., S. 504. 13 Es ist genauso darauf zu achten, dass Wittgenstein nun nicht die Gegentheorie unterstellt wird, wonach es keine wesentlichen Eigenschaften mehr gebe; dies hebt vor allem Stanley Cavell hervor: „[E]s sieht so aus, als biete [Wittgenstein] hier den Begriff der ,Familienähnlichkeit‘ als Alternative zur Vorstellung eines Wesens an. Wenn 10

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Dieses Beispiel gibt uns nicht nur einen treffenden Einblick in Wittgensteins philosophische Werkstatt, sondern auch in die Beschaffenheit ihrer Erzeugnisse. Jenseits der vermeintlich erschöpfenden Alternative zwischen allzu oft vereinfachender Generalisierung einerseits und resignativem Verbleiben beim bloßen Einzelfall andererseits zeichnet Wittgenstein (mögliche) Muster auf, die in der Grammatik von Konzepten sichtbar werden. Dieses Interesse an grammatischen Mustern, das mit einem Widerstand gegenüber deren verführerischer „Oberflächengrammatik“ einhergeht, scheint auch in Wittgensteins Bemerkungen zum religiösen Glauben durch; auch hier ist er auf der Suche nach den verzweigten Regeln von Sprachspielen wie „Gott“, „Schöpfung“ oder „Jüngstem Gericht“, und auch hier geht er der Frage nach, welche Rolle diese Begriffe im gewöhnlichen Leben von (glaubenden) Menschen einnehmen. Zwar verschaffen sich in Wittgensteins Zugang gleich zwei Stimmen – die des eigenen Ringens um den Glauben und die der philosophischen Bestandsaufnahme – Gehör, doch wer eine systematische Abhandlung religionsphilosophischer Topoi erwartet, wird enttäuscht.14 Nun mag wiederum eine solche Abhandlung ihre eigenen Enttäuschungen enthalten, zumal Wittgensteins aphoristische Eigenwilligkeiten dem traditionellen Duktus argumentativer Absicherung zu weichen hätten. Dies in Kauf nehmend lässt sich die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ bei religionsphilosophisch interessierten „Wittgensteinianern“ wie Rush Rhees und vor allem Dewi Z. Phillips immerhin treffsicherer nachzeichnen. Mit Blick auf den religiösen Glauben ist die Gefahr der skizzierten Ausflucht ins Un- und Außergewöhnliche besonders virulent. Gehört es nicht zur Grammatik von „Gott“, eine Person zu sein, als causa prima explanatorische Aufgaben zu erfüllen und am Ende aller Tage einen jeden zum Gericht zu rufen? Rhees und Phillips sprechen sich im Namen des Gewöhnlichen gegen diese metaphysischen Fantasien des Theismus und all seiner Derivate aus. Wie Wittgenstein das komplizierte Begriffsnetz einer einfachen Wendung wie „Spiel“ nachzeichnet, so laden die „Wittgensteinianer“ zu einer ähnlichen Aufmerksamkeit in Bezug auf die Sprachspiele des Glaubens ein. Weit davon entdem aber so ist, wäre seine Vorstellung leer, sie erklärte nichts. Denn ein Philosoph, der meint, es müsse Universalien geben, um Bedeutung und Benennen zu erklären, wird immer noch meinen, sie seien notwendig, um den Begriff der ,Familienähnlichkeit‘ zu erklären.“ (Stanley Cavell: Der Anspruch der Vernunft, Frankfurt a. M. 2006, S. 316) Mit der Vorstellung eines „komplizierte[n] Netz[es] von Ähnlichkeiten“ (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66) ist primär eine therapeutische Funktion verbunden. 14 Ich denke hier vor allem an die gegen Wittgensteins Willen publizierten Vorlesungen über den religiösen Glauben (hrsg. von Cyril Barrett, in: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Deutsch von Ralf Funke, Düsseldorf/Bonn 1994, S. 77–101), die auf Aufzeichnungen von Studenten in Cambridge basieren.

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fernt die Bedeutsamkeit von „Gott“, „Schöpfung“ oder „Jüngstem Gericht“ zu leugnen, betätigen sie sich an einer philosophischen Rückgewinnung der Phänomene mit der Frage, wie Menschen diese Worte tatsächlich verwenden: Fügt Gott der Liste existierender Wesen einen weiteren Eintrag hinzu? Fungiert er als Quasi-Naturerklärung des Soseins der Welt? Ist der Jüngste Tag lediglich das zeitlich letzte Datum? Gegen diese Anthropomorphisierung, Funktionalisierung und Temporalisierung Gottes setzen Rhees und Phillips grammatische Beobachtungen, die an den konkreten Phänomenen interessiert bleiben und folglich nicht vorgeben, „hinter“ den Phänomenen angeblich Grundlegenderes aufzusuchen. Anstatt ein „Wesen“ des Glaubens zu postulieren, geht es um die sorgfältige Beschreibung, wie Menschen den Glauben gewinnen (oder verlieren). Dazu Phillips: „Coming to see that there is a God is not like coming to see that an additional being exists. If it were, there would be an extension of one’s knowledge of facts, but no extension of one’s understanding. Coming to see that there is a God involves seeing a new meaning in one‘s life, and being given a new understanding.“15

Anstatt Gottes Existenz deduktiv zu sichern, um dann sekundäre Folgerungen zu präsentieren, schauen sie, in welchen Kontexten „Gott“ bereits vorkommt; Phillips kommentiert Rhees: „[Rhees] is saying that unlike ,Prime Minister‘ or ,company director‘, which are predicated of a human being, we do not predicate ,face‘, ,hands‘, ,feet‘, and so on of a human being. These are internally related to what we mean by a human being. Rhees’ point is that ,grace‘ and ,love‘ stand to ,God‘ as ,face‘, ,hands‘, ,feet‘ stand to human being. In neither case does it make sense to postulate a further bearer of what we are talking of. God is love, God is grace. To know this grace and love is to know God.“16

Noch deutlicher wird Phillips mit folgendem Einspruch: „It is a misunderstanding to try to get ,behind‘ grace to God, since ,grace‘ is a synonym for ,God‘. As with ,generosity is good‘, so with ,the grace of God‘ we are not attributing a predicate to an indefinable subject. We are being given a rule for one use of ,good‘ and ,God‘, respectively. God’s reality and God’s divinity, that is, his grace and love, come to the same thing. God is not ,real‘ in any other sense.“17

Der Glauben an Gott wird hier – dies mag bei aller Auslegungsbedürftigkeit klarer sein – nicht mehr als die Einwilligung in „a statement of fact“, sondern als „a confession – or expression – of faith“ charakterisiert,18 nicht mehr als Fürwahrhalten supranaturaler Zusatzentitäten, die vom Nichtgläubigen kaum 15

Dewi Z. Phillips: Faith and Philosophical Inquiry, New York 1970, S. 17 f. Dewi Z. Phillips: Religion and Friendly Fire, Aldershot/Burlington 2004, S. 51. 17 Dewi Z. Phillips: Wittgensteinianism. Logic, Reality, and God, in: William J. Wainwright (Hrsg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Religion, Oxford 2005, S. 461. 18 Rush Rhees: Without Answers, New York 1969, S. 131. 16

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mehr geleugnet, sondern als schlichter Unsinn verabschiedet werden, sondern als eine spezifische Weise, das gemeinsam geteilte Leben zu führen. Erst so kommen die „gewöhnlichen“ Kontexte religiösen Lebens wie Gebet, Dank, Klage, Hoffnung an ihren rechten Platz, ihre „Heimat“. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“19, so formuliert Wittgenstein. Schaut man sich die theologisch-religionsphilosophische Szene an, zählen sich zu diesem „Wir“ nicht besonders viele Vertreter. Zu ausgeprägt ist deren Unzufriedenheit mit dem ordinary life, um es als solches ohne ontologische Rückversicherungen bejahen zu können. Auf das Scheitern all dieser metaphysischen Ausflüchte reagiert eine reformatio als Erinnerung an das Naheliegende. Luther, Wittgenstein und einige ihrer Erben haben auf je ihre Weise an dieser Bewegung Anteil, welche die Bejahung wie die Verneinung religiösen Glaubens nicht erzwingt, sondern beides durch eine fundamentalere Anerkennung vertiefen kann – der des gewöhnlichen Lebens als Quelle unseres Selbst.

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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 116.

Brauchen wir Ideen zum Leben? Autonomes Denken und Urteilen als essenzielle Fähigkeiten des Philosophen Sarah Hegenbart „Was allein uns wirklich helfen kann, meine ich, ist ,réfléchir‘, Nachdenken. Und denken heißt stets kritisch denken. Und kritisch denken bedeutet, stets dagegen sein. Alles Denken unterminiert tatsächlich, was immer es an starren Regeln, allgemeinen Überzeugungen etc. gibt. Alles, was sich im Denken ereignet, ist einer kritischen Überprüfung dessen, was ist, unterworfen. Das heißt, es gibt keine gefährlichen Gedanken aus dem einfachen Grund, weil das Denken selber ein solch gefährliches Unterfangen ist. [. . .] Nicht-Denken allerdings, glaube ich, ist noch gefährlicher.“1

In einem unserer Gespräche beeindruckte Volker Gerhardt mich besonders. Er betonte darin, wie grundlegend für die Tätigkeit des Philosophen das autonome Urteilen als Individuum sei. Bei seinem Urteil kann sich das Individuum letztendlich auf nichts anderes verlassen als auf sich selbst.2 Es ist dabei dann autonom (autos nomos), wenn es sich in seinem Urteil nicht unreflektiert auf tradierte Normen und Werte bezieht, sondern sich vielmehr selbst Prinzipien gibt, auf denen es sein Urteil basieren lässt. Ausgehend von diesem Gespräch schreibe ich diesen Essay. Anhand eines Rekurses auf die platonische Idee des Guten (idea tou agathou) möchte ich skizzieren, wie sehr Urteilsfähigkeit mit dem Vermögen verbunden ist, Ideen zu erkennen. Ideen entbergen sich uns lediglich durch autonomes Denken und ermöglichen uns autonomes Urteilen, an dem wir dann unser Handeln selbstbestimmt ausrichten können.

1 Hannah Arendt in einem Fernsehgespräch mit Roger Errera, zit. nach Hermann Pfütze: Bewegungsfreiheit, in: Hannah Arendt Denkraum. Ausstellungsjournal, hrsg. vom Hannah Arendt Denkraum e. V., Berlin 2006, S. 19. 2 Ähnlich konstatiert Volker Gerhardt: „Was immer geschieht: Es geht von Individuellem aus. Was immer Bedeutung hat, hat sie nur über Empfindung, Gefühl, Verstand oder Vernunft der Einzelnen.“ (Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 211).

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I. Die Idee als Prinzip des Lebens Warum sind Ideen so essenziell für unser Leben? Eine Betrachtung der platonischen Idee des Guten mag uns die Bedeutung veranschaulichen, die Ideen für unser Leben haben. Platon beschreibt die Idee des Guten als epistemologische, ontologische und ethische archê (eine Art Urgrund oder erstes Prinzip). So wie die Sonne uns überhaupt erst das Sehen ermöglicht, befähigt uns die Idee des Guten dazu, etwas in der Welt zu erkennen (epistemologische archê). Sie bringt die Erkenntnisobjekte in einer Unverborgenheit (alêtheia) zur Darstellung und ermöglicht somit deren Erkenntnis.3 Gleichzeitig ist die Idee des Guten eine ontologische archê, da sie alles Seiende verursacht, das nur durch sie seiend ist (hyp’ekeinou).4 Nicht zuletzt ist sie ein ethisches erstes Prinzip, da jegliche Entitäten erst durch ihre Beziehung zur Idee des Guten brauchbar und nützlich werden (chrêsima kai ôphelima).5 Ideen haben somit Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens. Sie eröffnen uns etwas, was uns ohne sie verborgen bliebe. Dementsprechend charakterisiert Platon die Idee des Guten auch als etwas alle anderen Dinge an Schönheit Übertreffendes (hyper tauta kallei estin).6 Was genau meint er hiermit? Um etwas als schön zu beurteilen, ist der volle Einsatz unserer Erkenntniskräfte erforderlich. Erst wenn Einbildungskraft und Verstand in ein freies Spiel geraten, kann, so Kant, ein Urteil über Schönheit gefällt werden. Bei einem solchen ästhetischen Urteil gibt es keine vorgeschriebenen Regeln und Normen, an denen wir uns orientieren können. Dementsprechend konstatiert Kant pointiert: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“7 Die Schwierigkeit bei der Beurteilung des Schönen besteht also darin, dass wir etwas ohne allen Begriff als schön beurteilen sollen. Bei der Beurteilung des Schönen sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Lediglich durch den Einsatz unserer eigenen Erkenntniskräfte können wir ein ästhetisches Urteil fällen. Autonome Urteilskraft ist erforderlich, um Schönheit zu bestimmen. Wenn wir nun über etwas urteilen sollen, das alle Dinge an Schönheit übertrifft, nämlich die Idee des Guten, impliziert dies, dass hierbei das höchste Maß 3 Vgl. Platon: Politeia 508d10–e1. Ich beziehe mich auf folgende griechische Textausgabe: Platonis: Respublica, hrsg. von S. R. Slings, Oxford 2003. Meine eigene Übersetzung aus dem Griechischen. An dieser Stelle allerdings rekurriere ich auf die Terminologie Heideggers. Heidegger betont das alpha privativum und übersetzt alêtheia dementsprechend nicht als Wahrheit, sondern als Unverborgenheit. Mich überzeugt Heideggers Übersetzung, weil sie betont, dass Ideen etwas zum Vorschein bringen, was uns ohne sie verborgen bliebe. 4 Ebd., 509b7. 5 Ebd., 505a3–4. 6 Ebd., 509a7. 7 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft AA 5, S. 219.

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an Urteilskraft überhaupt erforderlich ist. Erst durch den vollkommenen Einsatz unserer spezifisch menschlichen Fähigkeiten, nämlich des autonomen Denkens und Urteilens, können wir das in seiner Unverborgenheit (alêtheia) erkennen, was alle anderen Dinge an Schönheit übertrifft: die Idee des Guten. Auch wenn Platons Idee des Guten einen metaphysischen Ballast mit sich bringt, ist sie keineswegs ein antiquiertes Konzept, sondern gerade in einem Zeitalter, in dem Gott „todt“8 ist, höchst aktuell. Mit der Erkenntnis, dass wir nicht mehr auf vorgegebene Normen und Werte kritiklos vertrauen können, muss das Individuum dazu in der Lage sein, sich selbstbestimmt und autonom mit Vertrauen auf seine eigene Urteilskraft in der Welt zu orientieren. Die Ideen sind dabei das, was ihm diese Orientierung ermöglicht. Allerdings glaube ich nicht, dass diese Ideen bereits präexistent sind und lediglich vom Individuum erblickt werden müssen. Vielmehr kommen die Ideen erst durch das Individuum in Entstehung. II. Ideen und Autonomie Die Idee ist das Prinzip des Lebens, indem erst durch sie allen Bereichen des Lebens Bedeutung zukommt. Die Idee dient gleichsam zur Sinngebung alles Seienden. Erst wenn wir auf die Idee blicken, erfassen wir die eigentliche Bedeutung der Dinge. Ohne die Idee bleibt diese Bedeutung verborgen und existieren die Dinge in Sinnlosigkeit. Doch wie kann durch die Idee Sinn gegeben werden und welche Bedeutung hat ein solcher Sinn für unser Leben überhaupt? Platon weist auf die Schwierigkeit der Ideenerkenntnis hin, wenn er konstatiert, dass die Idee des Guten dasjenige ist, was wir als letztes erkennen.9 Das liegt daran, dass Ideenerkenntnis die vollste Anstrengung einer spezifisch menschlichen Fähigkeit erfordert: eigenständig zu denken. Erst wenn wir in der Lage sind, jenseits von starren Regeln und allgemeinen Meinungen zu reflektieren, verwirklichen wir unser menschliches ergon (das dem Menschen Eigentümliche). Erst dann werden wir dem gerecht, was es bedeutet, Mensch zu sein. Erst durch eigenständiges Denken erkennen wir, dass es Prinzipien geben muss, die hinter den Dingen, die uns erscheinen, stehen. Das sind die Ideen. Durch unser eigenständiges Denken, das zur Annahme von Ideen führt, stellen wir die Dinge in einen Bedeutungszusammenhang. Ideen sind aber nicht gegeben, sondern werden erst autonom durch das Individuum gegeben, das erkennt, dass es Ideen braucht, um sich in der Welt zurechtzufinden. Das Individuum gibt sich selbst die Idee, um sein Leben und das Leben um sich herum zu organisieren.

8 Vgl. Nietzsches Aphorismus „Der tolle Mensch“, in: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 481. 9 Vgl. Platon: Politeia 517b8.

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Mit der Annahme einer Idee gibt sich das Individuum selbst einen Maßstab, an dem es seine weiteren Urteile und Entscheidungen orientieren kann. Das heißt, das Individuum schafft sich durch autonome Denk- und Urteilsfähigkeit einen eigenständigen Maßstab für jede weitere Handlung. Wenn es eine Idee gewonnen hat, kann es die überlieferten Normen und Werte in Bezug auf sie prüfen. Es schafft sich mit der Idee ein Kriterium für sein Leben, an dem es jede weitere Lebensentscheidung orientieren kann. Diese an der Idee orientierten Lebensentscheidungen sind gänzlich selbstbestimmt, weil sie mit Bezug auf etwas getroffen werden, das wir durch unser autonomes Denken für uns erkannt haben. III. Denken und Handeln „In der Idee leben, heißt das Unmögliche so behandeln, als wenn es möglich wäre“10, konstatiert Goethe und hebt damit hervor, warum wir Ideen brauchen. Denn wenn wir das Unmögliche denken, trauen wir uns über das gesicherte Denken, das sich im Rahmen allgemeiner Überzeugungen, Regeln und Normen bewegt, hinauszudenken und begeben uns in den Bereich, in dem Denken zu einem gefährlichen Unterfangen wird. Erst wenn wir dieses Risiko eingehen, haben wir die Möglichkeit, eigenständig zu Ideen zu gelangen, die grundlegend für unser Handeln sind. Eine Idee zu haben, bedeutet einen Sinn zu erfassen, der zu einer Handlung motiviert. Erst wenn wir einen Sinn in den Dingen erfassen, beginnen wir selbstständig zu handeln. Die Idee ist dasjenige, zu dessen Realisierung wir mit unserer Handlung beizutragen hoffen. Erst Ideen motivieren uns zu autonomem Handeln. Wenn wir nicht an das Unmögliche glauben, bedeutet dies Resignation. Volker Gerhardt beeindruckt mich, weil er sich stets traut, das Risiko des Denkens einzugehen. Sein Denken ist ein Nachdenken, das sich nicht begrenzen lässt. Nur so ist es möglich, das Leben autonom an Ideen zu orientieren, die grundlegend für jede weitere Lebensentscheidung sind. Dafür ist ein hohes Maß an autonomer Denk- und Urteilsfähigkeit erforderlich. Volker Gerhardts großes Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Individuums zeichnet ihn als Philosophen aus. Er ist für mich das Paradigma eines Denkers, der weiß, dass wir nur durch den Mut zum kritischen, selbstbestimmten Nachdenken Ideen haben können. Diese Ideen ermöglichen uns, Urteile zu fällen, die ganz unsere eigenen sind.

10 Zit. nach Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 99.

Kant und Nietzsche gegen Darwin Zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Lebensbegriffes Johannes Thumfart Für die philosophische Arbeit Volker Gerhardts ist die Beschäftigung mit dem Lebensbegriff bei Kant und Nietzsche wesentlich. Dieser Beitrag behandelt den Lebensbegriff Kants und Nietzsches aus der Perspektive einer Ideengeschichte der Moderne. Wenn Kritik und Fortschrittsdynamik die Kennzeichen der Moderne sind, dann sind Kant und Nietzsche beide auf ihre Weise absolument moderne. Beiden geht es um die Fundamentalkritik des Bestehenden. Beiden gemein ist auch, dass diese Kritik jeweils von einem Vertrauen auf die Vitalität und die progressive Tendenz des Lebendigen getragen wird. Es überrascht aus dieser Perspektive, dass Nietzsche und Kant Kritik am Darwinismus äußern, der oft gerade mit dem modernen Fortschrittsverständnis assoziiert wird. Bei Kant geschieht dies mittelbar und avant la lettre durch den berühmten Verweis auf den „Newton des Grashalmes“, bei Nietzsche hingegen wird die Kritik an Darwin explizit formuliert. Wenn man Nietzsche und Kant aus einer ideengeschichtlichen Perspektive betrachtet, wirft diese Opposition zwei interessante Fragen auf: Da Kant und Nietzsche zwei der wesentlichen Denker für die Moderne sind, ergibt sich aus ihren Kritiken am Darwinismus unmittelbar die Frage, was unmodern am Darwinismus ist. Dies impliziert sogleich die Frage danach, was unmodern an unserer eigenen, vom Darwinismus geprägten Zeit ist. I. Nietzsche: Die Kritik des Lebens „Was der Körper alles vermag (quid corpus possit), hat bis jetzt noch niemand festgestellt.“, bemerkt Spinoza, einigermaßen überraschend, um 1677.1 Schon bei Spinoza ist die Fokussierung auf den Körper als grundlegende Bedingung des Realen mit einer grundsätzlichen Kritik des Denkens seiner Zeit verbunden. Es ist insbesondere die aus einem teleologischen Realismus abgeleitete 1

Spinoza: Die Ethik, übers. von Jakob Stern, Stuttgart 1997, III, 2, Scholium.

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Moral des 17. Jahrhunderts, der Spinozas Kritik gilt: „Alles, was zum Wohlbefinden beiträgt, nannte man gut, das Gegenteil aber schlecht. [. . .] Daraus [sind] die weiteren Begriffe entstanden: Lob und Tadel, Sünde und Verdienst.“2 Bei Nietzsche, der Spinoza als „Vorgänger“3 bezeichnet, heißt es dementsprechend in der Genealogie der Moral: „Die Lämmer [. . .] sagen ,diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, – sollte der nicht gut sein?‘“4 Wie auch bei Spinoza entsteht das vermeintlich objektive moralische Urteil durch eine Verwechslung mit dem subjektiven, pragmatischen Urteil. Dass es „Lämmer“ sind, welchen diese Verwechslung widerfährt, hat zur Folge, dass fortan die Gleichung „schwach = harmlos = moralisch gut“ gilt. Typisch für Nietzsche und so bei Spinoza nicht zu finden ist der pseudohistorische, genealogische Umkehrschluss, dass die Prädikate „gut“ und „böse“ tatsächlich einmal den objektiven Eigenschaften „höherer“ und „niedriger“ Naturen entsprochen hätten: „Es [sind] ,die Guten‘ selber gewesen, das heisst die [. . .] Mächtigen [. . .] und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut [. . .] ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen [. . .] und Pöbelhaften.“5 Natürlich kann Nietzsche diese paradiesische Vorzeit nicht weiter verorten, in welcher eine quasi-adamitische Sprache die Übereinstimmung von Signifikant und Signifikat garantierte. Trotzdem setzt seine Kritik im Weiteren alles daran, das sozusagen ursprüngliche Recht des Stärkeren gegenüber den Kräften der décadence und des Ressentiments wiederherzustellen. Von dieser nostalgischen Bindung an ein als verfallen empfundenes Ideal der Vitalität geht auch Nietzsches Totalkritik aus. Aus der Perspektive des verlorenen Ideals erscheint Nietzsche das reale Leben des Menschen als Fragment. „Bruchstücke“, „grause Zufälle“ und eine monströse Ansammlung von „Gliedmassen“ machen dieses aus.6 „Das Vertrauen zum Leben ist dahin – das Leben selbst wurde zum Problem“7, klagt Nietzsche. Obwohl Nietzsches Genealogie der Moral in Bezug auf ihre Phantasie von den „starken“ Herrenmenschen anti-moderne, restaurative Züge trägt, wird er zu dem Denker der Moderne schlechthin. Es ist ironischerweise gerade der Fortschritt, welcher Nietzsche eine Versöhnung mit dem Leben verspricht. Wie gegenüber dem romantisierten Leben der Vergangenheit zeigt sich seine Totalkritik versöhnlich gegenüber einem Leben, das sich ständig entzieht: Das Leben 2 3 4 5 6 7

Ebd., I, Appendix. Friedrich Nietzsche: Briefe 1880–1884, KSB 6, S. 111. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 279. Ebd., S. 259. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 179. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 350.

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der Zukunft, in der Nietzsche den „Übermenschen“ als „großen Mittag“ erwartet. Nietzsche selbst schreibt: „Ich wüsste nicht zu leben, wenn ich nicht noch ein Seher wäre, dessen was kommen muss.“8 Mit solchen Formeln, welche etwa der kontinentale Futurismus begeistert rezipierte, wurde Nietzsche zum Paten des modernen Fortschrittsverständnisses. Insbesondere insofern Nietzsche „aus dem Menschen ein Programm macht“, das noch im Übermenschen verwirklicht werden muss, nimmt er Badiou zufolge „das gesamte zwanzigste Jahrhundert vorweg [. . .].“9 Interessanterweise ist aus dem nietzscheanischen Fortschrittsbegriff aber der Fortschritt in einem biologistischen Sinne nach Darwin ausgeschlossen. Nietzsche attackiert die „Schule Darwins“ mit folgenden Worten: „Dass die Ga t t u n g e n einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar, – dass die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt haben, ist durch keinen Fall bisher bezeugt [. . .].“10

Es geht Nietzsche stattdessen um einzelne „Glücksfälle, die Selektionstypen“11. Nietzsches Lebensbegriff, der nur in einer idealisierten Vergangenheit und einer unverwirklichten Zukunft verstanden werden kann, lässt kein Verständnis der Natur zu, das an biologischen Gattungsbegriffen orientiert ist. Wo „Leben“ ein flüchtiges, romantisches Ideal – ein „Gegen-Ideal“12 – ist, kann es keinen empirisch feststellbaren Fortschritt in den Gattungen, sondern nur in den Individuen geben. Man müsste daher ein „gelehrtes Hornvieh“13 sein, wie Nietzsche schreibt, um dessen Programm eines übermenschlichen „höhere[n] Leib[es]“14 darwinistisch zu deuten. Nietzsches Opposition zum Darwinismus zeigt sich aber auch gerade dann, wenn er wie Darwin klingt, was durchaus häufig der Fall ist: Darwins Evolutionstheorie hat jedoch nichts damit zu tun, dass „unzählige Individuen geopfert werden um weniger willen“15, wie Nietzsche schreibt. Gerade die wertneutrale Dimension des Darwinismus kann oder möchte Nietzsche, für den Vitalität immer normativ ist, nicht nachvollziehen.

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Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 179. Alain Badiou: Das Jahrhundert, übers. von Heinz Jatho, Berlin 2006, S. 207. 10 Nietzsche: Nachlass Frühjahr 1887–1889, KSA 13, S. 303 f. 11 Ebd. 12 Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 353. 13 Ebd., S. 300. 14 Nietzsche: Nachlass 1882–1884, KSA 10, S. 655. 15 Nietzsche: Nachlass 1885–1887, KSA 12, S. 296. 9

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II. Kant: Das Leben als Simulation Auch Kants Philosophie ist von einer grundlegenden Entzweiung von Leben und Subjekt geprägt. Deleuze unterscheidet etwa bei Kant zwischen einem großgeschriebenen Ich, das in der Lebenswelt und damit in der Zeit zu Hause ist und „sich die Aktivität seines eigenen Denkens nur vorstellt“, und dem kleingeschriebenen ich des transzendentalen Apparates, welches die Zeit als bloße „Form des Inneren“ synthetisiert, die „nicht mehr durch die einfache Sukzession definiert werden kann“.16 Mit der Definition der Zeit als „Form des innern Sinnes“17 trennt Kant das transzendentale Subjekt von der intuitiven subjektiven Erfahrung lebensweltlicher Zeitlichkeit ab. Weit davon entfernt, diese Spaltung des Subjekts zwischen lebensweltlichem Ich und transzendentalem ich als eine Einschränkung seiner Souveränität und Authentizität zu beklagen, bemerkt Deleuze, der nicht gerade Advokat eines authentischen oder einheitlichen Subjektes ist, dass diese Spaltung existiert. Dass die Kritik der Vernunft und die transzendentale Aufgliederung des Subjekts jedoch mit einer „Demütigung“ der Vernunft und des Subjektes verbunden sind, schreibt Kant selbst: „Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, dass sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet und sogar einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen [. . .].“18 Wie marginal der vorkritische Gebrauch der Vernunft letztlich in seiner kritischen Konzeption wird, illustriert Kant anhand einer beeindruckenden Analogie: „Das Land der Wahrheit [. . .] [ist] umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank und manches wegschmelzende Eis neue Länder lügt [. . .].“19 Der Schein ist also die Regel, das „Land der Wahrheit“ die Ausnahme. Wie auch bei Nietzsche ist für Kant „das Vertrauen zum Leben [. . .] dahin“. Dies ist umso beachtlicher, als Kant – bis auf die Tendenz des Subjektes zur Illusion – die Natur in einem teleologischen Sinne als perfekt konzipiert.20 Woher kommt also der Gegensatz zwischen Vernunft und Lebenswelt, welcher die Spaltung des Subjektes bedingt? Die Antwort darauf gibt Kants paradoxe Anthropologie. Der Mensch ist, wie Kant Lukrez zitiert, grundsätzlich ein Mängelwesen.21 Weit

16 Gilles Deleuze: Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, übers. von Mira Köller, Berlin 1990, S. 10 f. 17 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A33/B49. 18 Ebd., A795/B823. 19 Ebd., A235/B294 f. 20 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA 8, S. 18. 21 Kant: Zum ewigen Frieden, AA 8, S. 360.

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davon entfernt, durch die Natur oder Gott „geleitet“ zu werden,22 obliegt es dem Menschen, seine Natur selbst zu schaffen. Alles andere als diese technische, kritische Herangehensweise an sich selbst wäre für Kant nicht natürlich. Gerade in dieser paradox verstandenen Natürlichkeit als Selbst-Organisation liegt die Dynamik von Kants Naturbegriff.23 Die Erfüllung des nach Kant natürlichen Schicksals zur Selbst-Organisation wie dasjenige der legendären Selbstbedienung am eigenen Verstand setzt schon in ihrer grammatischen Struktur die Spaltung des Subjektes voraus. Mit der kritischen Spaltung des Subjekts konzipiert Kant also „die Trennung, die vereinig[t]“, beziehungsweise den „Missklang, der den Einklang erzeugt.“24 Das Subjekt muss gerade deshalb von seiner Natur abgespalten sein, um sein natürliches Schicksal zu erfüllen. Mit dieser Figur einer natura abscondita hat Kant den Prototypen des modernen homo faber geschaffen, der im Gebrauch von Selbsttechniken seines Glückes Schmied ist. Aber was geschieht dabei mit der zumindest intuitiv gefühlten lebensweltlichen Einheit des Subjekts? „Es ist [. . .] für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten“25, bemerkt Kant lapidar. „Beinahe zur Natur geworden.“, gerade mit dieser Einschränkung wird ein Einschnitt in die menschliche Natur verkündet, der größer nicht sein könnte. Unter dem Eindruck der kantischen Kritik erscheint das vor-kritische Subjekt als nur „beinahe“ natürlich. Ähnlich wie Nietzsches Naturbegriff zeichnet sich auch Kants Begriff der Natur dadurch aus, dass die Einheit des Subjekts mit dem Leben zerbrochen ist und – was das Subjekt betrifft – wieder geschaffen werden muss. Ein Weg, wie die Natur wiederhergestellt werden kann, besteht in der Unterordnung des Subjekts unter den kategorischen Imperativ: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“26 Natürlich aber bleibt diese Imitation der Natur im kategorischen Imperativ künstlich, von der irreparablen Einschränkung des „Als Ob“ betroffen, die für Kants Philosophie typisch ist. Das Verhältnis des Subjekts zum Leben bekommt aber durch die Möglichkeit der „Wiederherstellung“ der Natur27 durch die Natur-Simulation in der Reproduktion der „allgemeinen Naturgesetze“ im kategorischen Imperativ eine weitere, beunruhigende Wendung. Wenn nämlich der Mensch die Natur im kategorischen Imperativ überhaupt simulieren kann, dann 22 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA 8, S. 19. 23 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 311. 24 Deleuze (1990), S. 17. 25 Kant: Was ist Aufklärung?, AA 8, S. 36. 26 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, S. 421. 27 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6, S. 44 ff.

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bedeutet dies entweder, dass der Mensch unter dem Einfluss des kategorischen Imperativs – wie die Natur – keinen freien Willen hätte und nur von allgemeinen Gesetzen determiniert wäre. Solch ein Mensch könnte zwar tatsächlich das Objekt der Biologie sein, wäre dann aber kein Mensch mehr. Soll es dem Menschen andererseits möglich sein, die Natur durch die Reproduktion der „allgemeinen Naturgesetze“ zu simulieren und gleichzeitig Mensch zu sein, so muss auch die Natur über einen Willen verfügen. Eine vollständige biologische Erfassung des Lebens wäre aber unter solchen Bedingungen nicht möglich. Kant schreibt folgerichtig, es wird keinen Newton geben, „der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen“28 wird. Eine wirklich immanente „economy of nature“29 im Sinne Darwins, durch welche auch komplexe Strukturen wie das Auge aus zufälligen Mutationen entstehen können,30 muss Kant aus dieser Perspektive fremd bleiben. Die Natur ist nach Kant in sich gebrochen und insofern auf einen anderen Zweck als ihre immanente Gegenwart ausgerichtet, als sie – gerade im Subjekt – „auf das höchste in der Welt mögliche Gut“31 ausgerichtet ist. Selbst dann, wenn Kant – wie in einer berühmten Passage der Friedensschrift – proto-darwinistisch von einem „Volk von Teufeln“ spricht, welches durch einen „Mechanismus der Natur“ quasi unwillkürlich zur guten Ordnung gebracht wird,32 wird dies – wenn auch mit den für Kant typischen Einschränkungen – teleologisch interpretiert: „Die Natur will unwiderstehlich, dass das Recht zuletzt die Oberhand erhalte.“33 III. Schluss Nietzsches und Kants kritische Projekte hängen wesentlich davon ab, wie sie den Begriff des Lebens konzipieren. Für beide ist das Leben nichts, das eine gegebene Größe darstellte, aus welcher etwa in der Tradition des mittelalterlichen ius naturale normative Sätze abgeleitet werden könnten. Bei Kant und Nietzsche wird das Leben dynamisch vorgestellt. Die Abkehr von der theologisch inspirierten Metaphysik und Ethik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, welche Kant und noch Nietzsche vollziehen, findet ihren Ausdruck gerade in dieser Neubestimmung des Lebensbegriffes. Als notwendig dynamischer Be28

Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 400. Charles Darwin: On natural selection, London 2004, S. 1. 30 Ebd., S. 91. 31 Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA 8, S. 279. 32 Kant: Zum ewigen Frieden, AA 8, S. 366. 33 Ebd., S. 367. 29

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griff wird Kants und Nietzsches Auffassung des Lebens zur Grundlage des modernen Fortschritts. Aber gerade Nietzsche und Kant wenden sich auch gegen darwinistische Kernideen, welche oft mit der Moderne konnotiert werden. Bei Nietzsche ist es die Vorstellung eines Eigenwertes der Vitalität und Individualität, welche einem bloß evolutionären Fortschritt nach Darwin gegenübersteht. Bei Kant ist es die Vorstellung einer nach Zwecken organisierten Natur, welche den Thesen Darwins widerspricht. Kants und Nietzsches Opposition zu Darwin ergibt sich letztlich also aus einem Eigenwert der Vitalität und einer dynamischen Konzeption des Lebensbegriffes, die beide gerade als moderne Spezifika begriffen werden müssen. Insbesondere Kants und Nietzsches Kritik am Darwinismus kann also modern genannt werden. Im Gegensatz zu Kant und Nietzsche glauben heute die meisten, dass eine rein wissenschaftliche Erkenntnis des Lebens möglich ist. Die meisten würden auch einen im metaphysischen Sinne so anspruchsvollen Begriff des Lebens wie denjenigen Kants oder Nietzsches intuitiv ablehnen. Da Kants und Nietzsches Kritik heute also den meisten nicht mehr verständlich sein kann, müssen wir Kant und Nietzsche hinsichtlich ihrer Modernität ideengeschichtlich vor unserer Zeit verorten. Nimmt man dies als exemplarisch, dann bedeutet der vertraute Umgang mit Darwin und dem biologischen Konzept der menschlichen Existenz also nicht nur einen Fortschritt, sondern zugleich auch das Ende des für die Moderne typischen Glaubens an den Eigenwert von Fortschritt und Vitalität. Dass dies problematisch ist, zeigt vielleicht nichts so sehr wie die gegenwärtige Verbreitung des Anti-Darwinismus. Diese ist nicht wie bei Kant und Nietzsche auf systematische Gründe zurückzuführen, sondern sie ergibt sich allein daraus, dass es gerade aus der Sicht einer darwinistisch begriffenen, auf das biologische Überleben reduzierten Existenz keinen Grund dafür gibt, weshalb es eigentlich so schlecht sein sollte, ideengeschichtlich im Mittelalter zu verharren, wie es die Kreationisten tun.

Bedingungen und Strukturmerkmale der aus der Not geborenen Mittelpunktslage Interpretation des Begriffs des Lebens von Volker Gerhardt durch eine vergleichende Analyse Péter Jánosfalvi „Aber so umspannend der darin wirksame Begriff des Lebens auch ist und so unstrittig es sein sollte, daß sich eine Philosophie des Lebens dieser uns tragenden Bedingung, die wir selbst mit jedem Urteil an die Dinge herantragen, begrifflich stellen muß, so offenkundig ist doch auch, daß wir uns im Medium des Begriffs vom Leben distanzieren und ihm – in Abgrenzung von uns und von den toten Dingen – bestimmte Strukturmerkmale zuschreiben können. Von ihnen muß nunmehr die Rede sein, wenn wir auf dem Weg zu einer genaueren Fassung des menschlichen Selbstverständnisses zu Einsichten gelangen wollen, in denen wir uns selbst im Zusammenhang des Lebens belassen und uns – gerade auch in unseren intellektuellen Leistungen – als lebendig anerkennen.“1

Die Wertfrage ist bei Kant wie bei Nietzsche unter Prämissen gestellt, die sich auf das Wesen konzentrieren, das Werte braucht: den Menschen. Die Art und Weise, wie die Werte gelten, wie sie in der Beziehung zum Wesen des Menschen vorkommen, bestimmt sie als eigene Werke des Menschen, die nicht zur Menge derjenigen Tatsachen der Welt gehören, die auch unabhängig von ihm bestehen können. Sie sind vielmehr Zeichen der Not des Menschen und der Bestimmung seiner selbst durch seine eigenen Entscheidungen. Man darf die Not dabei als anthropologische Konstante verstehen, als deren Folgen das moralisch Gute und die moralischen Werturteile bei Kant sowie bei Nietzsche zu verstehen sind. Die Person als jemand, der sich von dem Sittengesetz bestimmen lässt, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewusst ist, kann – so Kant – in seiner Vorstellung ein „Ich“2 haben. Das souveräne Individuum als jemand, der versprechen kann, hat – so entsprechend Nietzsche – das Privilegium der Verantwortlichkeit in seinem „Gewissen“3. Ein „Ich“ oder „Gewissen“ 1 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 161. 2 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 25, S. 127. 3 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 294.

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zu haben, bedeutet demnach, in einer Reflexion auf die Not zu stehen. Kants und Nietzsches Konzeptionen des Zusammenhangs zwischen der Moral (als Reflexion auf die Not) und der Welt weisen Ähnlichkeiten auf. Die wichtigste, für die Sphäre der Moral entscheidende Festlegung ist, dass das „Ich“ und das „Gewissen“ nur individuell Akte vollziehen können, in denen der Mensch nicht auf einen „Daseinspunkt“, sondern auf eine Form stößt. Die Moral als Form hat dabei dem Menschen zum Leben zu dienen, ihm zum Sinn des Lebens zu verhelfen. Die „Würde“ bei Kant und der „freie Geist“ bei Nietzsche sind wiederum die Begriffe, die die Anerkennung dieser Form kenntlich machen. Sie verweisen den Menschen auf die Notwendigkeit, sich als gleichermaßen natürliches wie vernünftiges Wesen selbst zu bestimmen. Der Akt dieser Selbstbestimmung gehört zur Moralität. Die menschlichen Fähigkeiten, die ihn als homo phaenomenon bestimmen, das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen, konstituieren noch nicht von selbst eine Reflexion auf die Not. Das Verhältnis des Verstandes zur Sinnlichkeit in Bezug auf den homo phaenomenon bei Kant führt uns zur Selbsterkenntnis als Naturwesen. Sie selbst ist jedoch noch keine Reflexion auf die Not. Aber die Leugnung des inneren Antagonismus des Lebens verhinderte wiederum zwangsläufig die Reflexion auf die Not, weil man sich in der Leugnung von einer Vorstellung bestimmen ließe, durch die die Bedürftigkeit der Reflexion, die Not selbst, geleugnet würde. Die Selbsterkenntnis des Naturwesens ist also noch keine Selbstbestimmung, aber die Ignoranz der Selbsterkenntnis machte die Selbstbestimmung unmöglich. Diese These ist gültig auch in Bezug auf die Untersuchung des souveränen Individuums bei Nietzsche. Die Selbsterkenntnis steht bei ihm im Zusammenhang mit den Bedingungen der Gesundheit und der Glückseligkeit, die zum Grundbegriff der Physiologie und der Lehre vom Leben bei Nietzsche gehören. Dieser Grundbegriff zielt auf die Aktivität, die immer wieder zu einem Verlassen des gegenwärtigen Zustandes treibt. Die Grundfunktionen des Lebens können analog zum Antagonismus von Vergnügen und Schmerz bei Kant begriffen werden. Die Leugnung dieser Grundfunktionen des Lebens bezeichnet Nietzsche entsprechend mit dem Begriff der Passivität.4 Sie ist die Leugnung der Notwendigkeit, den gegenwärtigen Zustand immer wieder zu verlassen. Mit der Frage nach der Begründung der Wertsetzung und Sinngebung fragt man auch nach der Art und Weise der Herrschaft des Verstandes über die Sinnlichkeit. Bei Kant sind die moralische Stellungnahme, die Reflexion auf die Not im Charakter der Person, das „Ich“ als das Andere des Naturwesens – ohne seine Leugnung – aus dem Lebenszusammenhang herausgelöst. Die Vernunft bietet eine Interpretation der Welt, in der man das „Gute“ nur in sich selbst finden kann. Der Mensch kann sich, aus sich selbst heraus, rechtfertigen, kom4

Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 272.

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plementieren und von der Not erlösen. Das Vermögen dazu entdeckt er in sich selbst. Die Objektivität, als ein Wert, auf den Kant zielt, ist die Form, auf die der Mensch durch den Zusammenhang zwischen Welt und Moral (als Reflexion auf die Not, als Akt der Objektivierung in der Weltbetrachtung) stößt. Diese Form dient seinem Leben, indem sie die Objektivität zu seinem Ziel macht, worauf sich seine Selbstbestimmung gründet. Diese Selbstbestimmung führt ihn zu dem „Daseinspunkt“, der als Aufheben der Vergänglichkeit zu begreifen ist. Dieser Daseinspunkt gehört zum homo noumenon, zur Welt der Intelligibilität. Der homo noumenon und der homo phaenomenon sind bei Kant zwar keine Einheit, doch wird der homo phaenomenon auch nicht geleugnet. Er gilt nur als nicht wirklich spezifisch für das, was den Menschen als Subjekt ausmacht. Die Wertfrage ist bei Kant unter die Prämisse gestellt, nach der der Mensch nur als vernünftiges Wesen zum Menschen wird. In der Auffassung Nietzsches kann der Mensch sich dagegen nur durch die äußere Welt rechtfertigen, komplementieren und von der Not erlösen. Die Untersuchung des souveränen Individuums führt zu einer Naivität im Verhältnis zwischen der durch das einzelne Individuum begründeten Sinngebung und der äußeren Welt. Die Naivität5 als die Illusion einer Glaubenswahrheit erlaubt, eine Vorstellung von der Welt zu konstruieren, in der die Fähigkeiten des Menschen funktionieren können und dieser sein Machtgefühl ausleben kann. Das Gewissen kann dabei nur die Herausforderung verantwortlich annehmen, zu der es sich fähig weiß. Nietzsche setzt solche Herausforderungen in die Welt, die erst durch diese Vorstellung als eine solche existiert, in der einer Sache Wert beigemessen werden kann. Der Mensch übernimmt ganz allein die Verantwortung für diese Vorstellung. Die Selbsterkenntnis als das Verhältnis der eigenen Aktivität zum angenommenen Sinn enthält bereits diese Vorstellung. Bei Nietzsche ist die moralische Stellungnahme, die Reflexion auf die Not vom souveränen Individuum, dem „Thier, das versprechen darf“, „diese[m] nothwendig vergessliche[n] Thier“6, nie aus dem Lebenszusammenhang herausgelöst. Der eigentliche Wert besteht darin, dass die Welt und das Leben als Vorstellung, als Fiktion zum Horizont werden, der für das Handeln nötig ist. Der Horizont ist die Form, worauf der Mensch durch den Zusammenhang zwischen der Moral (als Reflexion auf die Not, als Akt der Fiktion in der Weltbetrachtung) und der Welt stößt. Diese Form dient seinem Leben, weil die Bedeutung des Subjekts durch diesen Horizont zur Realität wird. Durch den Vergleich und durch den Kampf mit anderen Kräften in der Welt kann der Mensch sich selbst identifizieren. Vergleich und Kampf sind nur innerhalb eines Horizontes möglich und bedeuten eine notwendige Verbindung mit der äußeren Welt. „Dass man wird, was man ist“7, ist das Ziel, wodurch die 5 6 7

Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 38. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 291 ff. Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 293.

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Selbstbestimmung des Menschen begründet wird. Diese Selbstbestimmung kann ihn zum individuellen Sinn des Lebens führen, der mit den Sinnen immer verbunden bleibt, und zum Daseinspunkt, der das Pathos der Distanz ist. In dem Begriff des souveränen Individuums bilden so der homo noumenon und der homo phaenomenon gleichsam eine Einheit. Die Wertfrage ist bei Nietzsche unter die Prämisse gestellt, nach welcher der Mensch nur als das „abschätzende Thier an sich“8 zum Menschen wird. Und wie bekämpft und verwirft Nietzsche den kategorischen Imperativ Kants? Sein Rechtfertigen, Komplementieren und Erlösen von der Not in sich selber zu suchen, nennt Nietzsche „schlechtes Gewissen“, mit welchem man „sich selbst zerriss“9. An anderer Stelle heißt es „Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Notlage: man war in Gefahr, man hatte nur eine Wahl: entweder zu Grunde gehn oder – a b s u r d v e r n ü n f t i g zu sein . . .“10 So sprachen die Stärksten, die Tapfersten – wie zum Beispiel Platon – diese neue Forderung aus: die Forderung des Aufhebens der Vergänglichkeit – weil sie das Vermögen dazu in sich selber entdeckten und weil sie von der Vergänglichkeit wie von einer Art „ewige[r] Unrealität [. . .] bis zur Verzweifelung müde werden“ konnten. „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, s o f e r n e s e h r l i c h i s t !“11 Die Art und Weise, in welcher der Mensch die Not begreift, ist auch ein Ergebnis früherer Generationen. Nietzsche schreibt über das „schlechte Gewissen“: „Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Z u k u n f t s v o l l e s gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte.“12

Wenn die Vergänglichkeit schon eine Gewissheit ist, wenn man überall nur das große „Umsonst“ hört und das Schicksal den Menschen einfach so vernichten kann, dann wollen die Stärksten, die Leben-Wollenden den Akt des Aufhebens der Vergänglichkeit, den einzig für sie möglichen, als Prinzip des Lebens begreifen und an die Wahrheit desselben glauben. Und „sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das T h i e r Mensch bisher keinen Sinn.“13 Hat die Herrenmoral, so „wie jedes gute Ding auf Erden, s i c h s e l b s t a u f h e b e n d “14 geendet? Nietzsche kämpft genealogisch gegen den kategorischen Imperativ, indem er ihn als geschichtliche Folge auffasst, die sich

8

Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 306. Ebd., S. 323. 10 Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 72. 11 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 407. 12 Ebd., S. 323. 13 Ebd., S. 411. 14 Ebd., S. 309. 9

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irgendwann selbst aufheben wird. Er verwirft den kategorischen Imperativ nicht, sondern historisiert ihn. Die Reflexion auf die geschichtlich artikulierte Not und die damit wechselseitig zusammenhängende Selbsterkenntnis führen uns zu jener „unaufhebbare[n] innere[n] Anteilnahme“15 und zum „Mitgenommensein“16, wodurch wir den Begriff des Lebens bei Volker Gerhardt begreifen können. „Die vorgängige Bindung des Urteils an die Selbsterfahrung des Betrachters soll bewußt bleiben.“17 Der Begriff des Lebens enthält den Daseinspunkt des Menschen hinsichtlich seines Wirkens, das auch immer rückwirkend ist. Nach diesem Begriff sind die Selbstbestimmung des Menschen oder sein Dasein nur im „Prozeß des Lebens“18 begreifbar. „Strenggenommen müßte alle Erkenntnis, auch unseres alltäglichen Daseins, unter einem Als-ob-Vorbehalt stehen.“19 Die „uns tragende Bedingung“20 besteht im Zusammenhang und in den damit wechselseitig aufeinander wirkenden Erkenntnisvermögen. In dem Zusammenhang lässt die Not uns voreinander artikulieren und nach den Strukturmerkmalen (Dynamik und System) etwas bilden. Die Bildung ist dabei nichts anders als die Reflexion auf die Not. Der Begriff, der uns diese gleichermaßen objektive wie subjektive Gegebenheit des Zusammenhangs von Selbst und Welt bezeichnen kann, ist das Leben.

15 16 17 18 19 20

Gerhardt (1999), S. 157. Ebd. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd., S. 159. Ebd., S. 161.

Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen und Kants kategorischer Imperativ als praktische Imperative für unterschiedliche Lebensformen Ana Carolina da Costa e Fonseca 1. Die Analyse von zwei praktischen Imperativen – Kants kategorischem Imperativ und Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen – kann exemplarisch darlegen, dass das einer Menge moralischer Werte gemäße Verhalten die Wahl einer aus verschiedenen möglichen Lebensformen impliziert. Kant und Nietzsche sind unterschiedlicher Meinung in Bezug auf die als angemessen erachtete Methode zur moralischen Bewertung von Handlungen, da sie den idealen Handelnden unterschiedlich auffassen. Positive Wertung erfährt bei Nietzsche der Mensch, der seine Instinkte zur Geltung bringen kann und den Standpunkt vertritt, dass die seit Sokrates vorherrschenden moralischen Standards den Menschen nur zur Schwäche und Voraussagbarkeit abrichten. Kant will dagegen, dass die Menschen in einem stark moralischen, von Nietzsche abgelehnten Sinn tugendhaft sind, da seine Moralphilosophie darüber aufklären soll, wie der Mensch zu handeln hat, damit er seines Glücks auch würdig sei. Genealogen der Moral wie Nietzsche fragen nach den Beweggründen, die eine solche Konzeption der idealtypischen Beschreibung der Art und Weise, nach der ein Mensch handeln sollte, hervorbringen. Trotz der Unterschiede haben beide Denker praktische Imperative formuliert, die nicht nur sagen, wie wir handeln sollen, sondern auch, wie wir unser Handeln bewerten können und sollen. Dieser Essay schlägt folgende Argumentation ein: Ich stelle eingangs einige Aspekte der Standardinterpretation des kategorischen Imperativs von Kant und der ethischen Interpretation von Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen vor. Anschließend zeige ich, dass Kant und Nietzsche alternative Theorien formulieren, da sie radikal unterschiedliche Ausgangspunkte wählen bzw. ihren jeweiligen Moraltheorien irreduzible metaphysische Konzeptionen zugrunde liegen. Die Ausgangspunkte sind unterschiedlich, da beide die ideale Lebensform auf unterschiedliche Weise auffassen. Schließlich erläutere ich, warum die Wahl unterschiedlicher praktischer Imperative unterschiedliche Lebensformen impliziert. Wir gehen von Ähnlichkeiten aus, um auf Unterschiede hinzuweisen. Letztere ergeben sich grundsätzlich aus dem Anspruch, den jeder Philosoph mit seiner Ethik verbindet. Während Kant noch auf der Suche nach einem a priori be-

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stehenden Grund der Moralität ist, erkennt Nietzsche die Moralität als einen Zusammenhang von Werten, dessen Geltung notwendig raumzeitlich und historisch kontingent ist. Nietzsche kritisiert Kant und weist jeden Anspruch auf einen a priori bestehenden Grund zurück. Der Mensch ist nach ihm zum Leben in einer unvorhersehbaren Welt mit unbeständigen Werten bestimmt. Der Anspruch einer gewissen Art von Philosophie und Wissenschaft, Ereignisse und Handlungen als vorhersehbar anzusehen, lässt, so Nietzsche, eine bestimmte Art des Menschen erkennen, einen dekadenten Menschentyp, der auf Gewissheiten angewiesen ist, um zu wissen, was er für sein eigenes Leben erwarten kann. Menschliche Bedürfnisse können zu Interpretationen führen und Handlungen hervorrufen, ändern aber die Welt nicht in ontologischer Hinsicht. Die Konzeptionen des moralischen Menschseins sind der Ausgangspunkt eines jeden Philosophen. Die verschiedenen – unterschiedliche Beschreibungen der menschlichen Psyche implizierenden – Konzeptionen des moralischen Menschseins sind der Grund der so unterschiedlichen menschlichen Lebensentwürfe. Ähnlich verhält es sich mit dem Anspruch auf eine moralische Handlungsbewertung. 2. Die Frage „Wie sollen wir leben?“ wird von Kant nicht mit einer reinen Annahme oder Zurückweisung von Handlungen beantwortet. Kant glaubt, dass wir das Richtige vom Falschen unterscheiden können und nur deswegen schlecht handeln, weil wir uns von Motiven beeinflussen lassen, die nicht der Vernunft selbst entspringen. Als vernunftbegabte Wesen müssen wir uns immer dafür einsetzen, dass unsere Handlungen einen rationalen Grund haben. Eine der Funktionen des in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aufgestellten kategorischen Imperativs besteht darin, die Selbstbewertung von Handlungen zu erlauben, damit der Wille, frei von Neigungen und Wünschen, nur von der menschlichen Vernunft bestimmt werden kann. Obwohl der menschliche Wille unter dem ständigen Einfluss der Neigungen und Wünsche nicht rein ist, stellt Kant eine rationale Methode bereit, mit der wir unser eigenes Handeln so bewerten können, dass wir zu bestimmen vermögen, wie wir handeln müssen, wenn wir so handeln wollen, als ob unser Wille rein wäre. Wir dürfen nicht vergessen, dass Kant davon überzeugt war, dass die Vernunft dem Menschen von der Natur gegeben ist, zwecks Ermöglichung der Hervorbringung des guten Willens. Die kantische Auffassung ist nicht neutral. Kant setzt voraus, dass wir die angemessenen Fähigkeiten zur Erreichung der Zwecke haben, für die uns die Natur bestimmt. Wir sind Geschöpfe, die im Hinblick auf die Verwirklichung des moralischen Gesetzes geschaffen worden sind. So hat Kant tatsächlich einen praktischen Imperativ formuliert, der eine Bewertung der Handlungen unabhängig von ihrem Inhalt, d. h. nach ihrer bloßen Form, erlaubt. Nun bleibt noch festzustellen, ob dieser praktische Imperativ in unserer Welt zur Anwendung gelangen kann oder, anders gewendet, ob die Natur des Menschen das Leben nach Maßgabe des kategorischen Imperativs erlaubt und ob wir darüber hinaus in einer vom kategorischen Imperativ regierten Welt leben

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können wollen. Diese Welt zu wollen bedeutet, dass die Menschen, falls sie dem kategorischen Imperativ entsprechend handeln könnten, wünschen würden, dass sie tatsächlich nach dessen Vorschriften handelten. Dies lässt einen ersten Zweifel bezüglich der von Kant statuierten Neutralität und Notwendigkeit aufkommen. Wir werden zu diesem Punkt später wieder zurückkehren. 3. Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen lässt sich zweifach auslegen, kosmologisch und ethisch, wobei die ethische Auslegung die einzige ist, in der Nietzsches Idee sich als wahrhaft originell herausstellt. Der kosmologischen Interpretation zufolge meint Nietzsche, dass die Tatsachen, so wie sie sich einmal ereignet haben, sich unzählige Male wieder ereignen würden. Die Zeit habe eine kreisförmige Struktur und das Leben laufe wie ein ewig neu gesehener und erlebter Film ab, in dem alles sich punktgenau und in derselben Reihenfolge ereignet. Diese Vermutung war schon von den Griechen geäußert worden. Hätte Nietzsche ausschließlich dies suggeriert, hätte er damit nur eine Vorstellung aus der Antike neu präsentiert. Nietzsche glaubt jedoch, dass die Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen etwas Neues enthält und bezeichnet den Gedanken der ewigen Wiederkunft als „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“1. Die ethische Auslegung, die jeder Handlung ein Gewicht zuschreibt, „das grösste Schwergewicht“2, ist eine bejahende Form der Handlungsbewertung. Um den Wert von Handlungen zu ermitteln, muss der Handelnde sich folgende Frage bezüglich jeder seiner Handlungen stellen: Angenommen, ich würde dasselbe Leben unendlich viele Male auf dieselbe Weise wiederleben, würde ich dann diese Handlung durchführen wollen? Jeder Handlung, jeder Wahl würde das Gewicht der Möglichkeit ihres unendlichen Wiedererlebens zugeschrieben. Falls der Handelnde dieselbe Handlung unendlich viele Male wiederholen will, muss sie die Prüfung der ewigen Wiederkehr bestehen. Dies ist die Neuheit des praktischen Imperativs bei Nietzsche. Er will und bietet dasselbe wie Kant, eine Methode zur moralischen Bewertung von Handlungen, die jedoch eine vollständig andere Konzeption der Lebensform impliziert und die Vernunft nicht zulasten der weiteren menschlichen Fähigkeiten aufwertet, sondern sie vielmehr dem Wollen des Handelnden unterwirft. Nietzsche setzt nicht voraus, dass es einen neutralen Ausgangspunkt für eine moralische Untersuchung gibt. Auch ist sein eigener Ausgangspunkt erklärtermaßen nicht neutral. Bei der Antwort auf die Frage nach dem Guten und Bösen bewertet er die Kräfte, welche die Handlungen motivieren: „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt.“3 1 2 3

Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 335. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 570. Nietzsche: Der Antichrist, KSA 6, S. 170.

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An einer späteren Stelle fragt er noch einmal: „Was ist schlecht?“ und antwortet: „aber ich sagte es schon: Alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt“.4 Es gibt nichts den menschlichen Handlungen Inhärentes, das als gut oder böse bezeichnet werden kann, es gibt keine Erwartung der Verallgemeinerung. Bewertet werden muss nicht die Handlung an sich, sondern vielmehr die Art und Weise, wie der Handelnde die von ihm verübte Handlung erträgt vor dem Hintergrund des Gewichtes, das sich aus der Unterstellung einer unendlichen Wiederholung ergibt. 4. Kant will, dass die praktische Vernunft ebenso funktioniert wie die theoretische, in dem Sinn, dass beide eine Grundlage a priori suchen, nämlich zum Handeln bzw. Erkennen.5 Damit der kategorische Imperativ funktioniert, ist er auf die Voraussetzung angewiesen, dass der Mensch rational handeln kann. Deswegen sagt Bernard Williams in Ethics and the Limits of Philosophy, wenn er zu zeigen versucht, dass die praktische Philosophie Kants nicht funktioniert, nur, dass das menschliche Handeln, so wie es von Kant gedacht wird, tatsächlich nicht der menschlichen Handlungsweise entspricht.6 Würde der Mensch nur rational handeln, wäre der kategorische Imperativ das absolute Kriterium, um mögliche menschliche Handlungen zu beurteilen und in jedem konkreten Fall zu bestimmen, wie wir zu handeln hätten. Der Mensch besteht aber nicht nur aus rationalem Handeln, die Vernunft ist in vielen Fällen nicht stärker als die Instinkte. Wie auch in dieser kurzen Beschreibung der Funktionsweise der kantischen Theorie und der Kritik von Williams erkennbar ist, interessiert uns der Umstand, dass eine bestimmte metaphysische Konzeption des Menschen eine bestimmte Konzeption von Moralität mit sich bringt. Nietzsche zeigt uns in einem folgenden Schritt, dass diese metaphysische Konzeption tatsächlich aus einem moralischen Vorurteil7 hervorgeht, aus einer Konzeption von Moralität, derzufolge eine metaphysische Konzeption des Menschen einem Philosophen notwendig erscheint. Da Kant den Menschen als prinzipielles Vernunftwesen versteht, behauptet er, dass menschliches Handeln aus einem rein vernunftmäßigen Anlass heraus erfolgen kann. Der christlichen Lehre zufolge wurde der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen. Für Kant als Christen ist der Unterschied

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Ebd., S. 244. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, S. 45. 6 Bernard Williams: Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge 1995, S. 69. 7 „,Gedanken über moralische Vorurtheile‘, falls sie nicht Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine Stellung a u s s e r h a l b der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss, – und, im gegebenen Falle, jedenfalls ein Jenseits von u n s r e m Gut und Böse, eine Freiheit von allem ,Europa‘, letzteres als eine Summe von kommandirenden Wethurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind.“ (Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 633) 5

Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen

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zwischen den Menschen und Gott im Grad ihrer Vernunftmäßigkeit begründet. Wir Menschen sind endliche Vernunftwesen, Gott ist das unendliche Vernunftwesen. Der Ausgangspunkt der praktischen Philosophie Kants ist nicht neutral. Indem Kant die menschliche Rationalität als Grundlage postuliert, wählt er einen moralischen Standpunkt als Fundament seiner metaphysischen Konzeption des Menschseins. Der Übergang von der metaphysischen Konzeption des Menschseins zur Konzeption der Moralität kann notwendig sein, die von ihm postulierte metaphysische Konzeption ist es jedoch nicht. Andere Philosophen, wie Hume, verstehen entweder den Menschen als Wesen, das unfähig ist, die Vernunft über die Instinkte herrschen zu lassen, oder konstatieren ein anderes Verhältnis zwischen Vernunft und Instinkten, weshalb sie zu anderen moralischen Theorien kommen. Es kommt also darauf an, festzustellen, welche metaphysische Konzeption einer Moralitätstheorie zugrunde liegt. Anschließend tritt der Genealoge der Moral einen Schritt zurück, um das dieser metaphysischen Konzeption zugrunde liegende bzw. sie hervorbringende moralische Vorurteil zu erfassen. Nietzsche glaubt nicht, dass die Vernunft den Vorrang gegenüber den Instinkten behält. Für ihn liefert die Vernunft vielmehr Rechtfertigungen für das, was wir instinktiv tun, und versucht oft zu kontrollieren, was ein bestimmter Menschentypus, der schwache Mensch, nicht zu ertragen vermag. Nietzsches Beschreibung des Menschen unterscheidet sich von anderen besonders dadurch, dass sie nicht eine einzige Beschreibung, sondern Beschreibungen verschiedener Menschentypen vornimmt. Und diese Beschreibungen ergeben sich nicht aus einer vorgeblich metaphysischen Notwendigkeit, sondern aus einer Bewertung der Kräfte, die jeden Menschen bewegen. 5. Trotz der unaufhebbaren Differenzen verstehen Nietzsche und Kant die Methode zur Bewertung von Handlungen als praktische Imperative. Ihre philosophischen Theorien stehen im Dienst einer Lebensform. Nietzsches Kritik richtet sich präzise an den Lebenstypus, der sich aus der Anwendung des kategorischen Imperativs ergibt. So wird der antike Gedanke, demzufolge die Philosophie ein exercitium spirituale ist, wie Pierre Hadot in Qu’est-ce que la philosophie antique?8 darlegt, allmählich wieder aktualisiert. Indem wir den Typus des praktischen Imperativs, an den wir uns halten wollen, wählen, entscheiden wir uns bewusst oder unbewusst auch für eine Lebensform. Nietzsche beschreibt das wie folgt: „Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachsthums-Gesetzen geboten: dass Jeder sich s e i n e Tugend, s e i n e n kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zu Grunde, wenn es s e i n e Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt

8

Pierre Hadot: Qu’est-ce que la philosophie antique?, Paris 1995, S. 17–19.

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Ana Carolina da Costa e Fonseca

verwechselt. [. . .] Dass man den kategorischen Imperativ Kant’s nicht als l e b e n s g e f ä h r l i c h empfunden hat!“9

Die nach Nietzsche vom kategorischen Imperativ bedrohte Lebensform ist eine bejahende Lebensform, die die Vernunft nicht zulasten der Instinkte aufwertet. (Übersetzt von Peter Naumann)

9

Nietzsche: Der Antichrist, KSA 6, S. 177.

Das radikale Jasagen zum Leben Oder wie das Denken am Leben bleibt Servanne Jollivet In seiner Antrittsvorlesung an der Humboldt Universität räumt Volker Gerhardt ein, dass er sich gerne ein bescheideneres Ziel gesetzt hätte.1 Die Frage nach dem Leben ist allerdings eine der schwierigsten Fragen, die man sich stellen kann, um so schwieriger, als sie uns so natürlich erscheint. Es ist eine Frage, die dennoch Demut verlangt, um sich auf sich selbst als lebendes Wesen zu besinnen, in anderen Worten: um sich zu fragen zu trauen, was es für das Denken bedeutet, am Leben zu sein und sich lebend zu denken. Einige nehmen an, dass sie, wenn sie das Leben dächten, zu den Ursprüngen zurückgehen und die fundamentalste Ebene ausgraben würden, wie eine Art „verlorenes Paradies“, das man nur nach einer radikalen Reduktion erreichen kann. Andere haben auf das prinzipielle Vorangehen des Lebens im Menschen vor seiner Existenz geschlossen oder Vorteil daraus gezogen, den Sirenen des Positivismus nachzugeben. Die Frage scheint solchermaßen immer schon falsch gestellt. Demgegenüber stehen diejenigen, die behaupten, dass man die Hierarchie nicht umkehren kann, weil wir zum Phänomen des Lebens und zu seinen Bestimmungen nur durch Vergleich und Analogie gelangen könnten, sodass man die existenziellen Phänomene nicht aus lebendigen Phänomenen, aus dem Organismus und menschlichen Körper keine selbstbewusste Existenz ableiten könne. Unter dem Vorwand, dass ein solcher Zugang uns versagt sei, könnten wir dieser Ansicht nach auch nicht behaupten, dass das Leben der bewussten Existenz vorhergeht, weil wir niemals einen unmittelbaren Zugang zu ihm hätten. In Wirklichkeit könnten wir nicht wissen, was es bedeuten würde, reiner Organismus, reine Lebendigkeit zu sein, denn niemals sei das Leben in dieser angeblichen Reinheit, und zwar von der Existenz getrennt, gegeben und verständlich. Auf beiden Seiten gibt es denselben einschränkenden und verfälschenden Dualismus, und es scheint hier wichtiger, sich für ein Lager zu entscheiden, als das Phänomen selbst zu denken. Niemals erfahren wir uns nun aber bloß als ein lebendiges Wesen, sondern in dieser Erfahrung sind wir immer auch ein ver1 Volker Gerhardt: Die Politik und das Leben. Antrittsvorlesung am 30. Juni 1993 an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Öffentliche Vorlesungen an der HumboldtUniversität zu Berlin, Heft 19, 1994, S. 3–32, hier: S. 19.

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nünftiges Subjekt. Indem es sich selbst lebend denkt, überschreitet das Denken immer schon seine eigene Natürlichkeit. Aber der Akt selbst, so Gerhardt, „in dem wir unserer Lebendigkeit inne werden, ist stets schon ein Akt ursprünglicher vernünftiger Einsicht“2. Es handelt sich hier weder darum, die Hierarchie zwischen Existenz und Faktizität beziehungsweise zwischen Vernunft und Leben umzukehren, noch darum, den Menschen auf seine animalitas, seine „Natur“, zu reduzieren. Indem er zeigt, dass die Reflexivität Teil des Lebens ist, dass jedes Erlebnis als solches ein gewisses Verhältnis zu seinem Äußeren und folglich einen bestimmten Abstand beziehungsweise ein Bewusstsein mit einschließt, löst Gerhardt beide Arten der Kritik auf. In diesem Sinne bildet der Mensch keine Ausnahme in der Natur. Wie auf minimal organischer Ebene ist das Lebendige niemals in sich selbst geschlossen, sondern immer schon auf seine Umwelt angewiesen. Was das Leben in seinem Bedürfnis charakterisiert, kennzeichnet also auch den Menschen in seiner erforderlichen Anteilnahme an einer gemeinsamen Welt. Dennoch ist diese Selbstbesinnung keineswegs als eine dialektische Aufhebung zu denken, in der der objektivierende Geist sich selbst besinnen würde und sich so von der Natürlichkeit seines „subjektiven“ Lebens befreien könnte. Gegen eine solche metaphysische Konstruktion hatte bereits Dilthey vorgeschlagen, „von der Realität des Lebens auszugehen“3, und gezeigt, dass das Leben im Menschen immer schon ein selbstbewusstes Leben ist. „Leben erfasst hier Leben“4 durch alle seine Bekundungen. Das Leben besinnt sich auf sich selbst und ist in dieser Hinsicht reinster Ausdruck des Lebens als Aufhebung dessen, was der Geist in sich wäre. Als natürliche Tendenz des Lebens, sich selbst zu objektivieren, bleibt jedoch die Selbstbesinnung bei Dilthey ein verschwommenes Gefühl, eine Art von Wissen, das „ohne Besinnen mit dem Erleben verbunden“5 ist. Wenn Dilthey selbst von dieser Selbstbesinnung des Lebens aus die Genese des wissenschaftlichen Bewusstseins erklärt – und infolgedessen das Leben selbst als letztes Fundament der Geisteswissenschaften betrachtet –, ist es ihm trotzdem auf dieser Ebene nicht möglich, die Grenzen des besonderen Bewusstseins zu überschreiten. Der Relativismus wird also nur überwunden, insofern er die Gleichartigkeit der menschlichen Natur voraussetzt und die vergleichende Methode anwendet, die die Grenzen unseres eigenen Erwartungshorizonts erweitert. Indem er die Vernunft als wesentlichen Bestandteil des menschlichen Lebens betrachtet, löst Gerhardt also in gewisser Weise, sich auf „Kants geniale Lö-

2

Ebd. Wilhem Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, hrsg. von Bernhard Groethuysen, Leipzig 1927, S. 148. 4 Dilthey (1927), S. 136. 5 Dilthey (1927), S. 18. 3

Das radikale Jasagen zum Leben

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sung“6 beziehend, das Problem, an dem sich Dilthey ständig gestoßen hatte. Denn die Universalität ist nicht dem in sich selbst geschlossenen Individuum unzugänglich, sodass man notwendigerweise seine endliche Subjektivität überwinden muss, um dazu Zugang zu haben. Die Allgemeinheit ist vielmehr immer nur individuell vermittelt, und zwar durch die Selbstbesinnung des Individuums und seine Fähigkeit, zu seiner eigenen Verwurzelung Distanz einzunehmen. Die Tatsache, dass das menschliche Leben immer von der vernünftigen Selbstbesinnung unterstützt ist, bedeutet, dass ich niemals nur auf die Verankerung meines Körpers beschränkt bin, so eng sie auch sei, dass ich mich also davon freimachen kann. Wie Kant, wenn er sich auf die angeborene Freiheit des Menschen bezieht,7 selbst den Gegensatz zwischen Determinismus und reiner Freiheit unterläuft, so gelingt es Gerhardt, die überlieferten Antinomien, die das Denken des Lebens prägen, zu überschreiten. Der Mensch ist das animal rationale, das Tier, das „seine Gründe hat“8, das seine eigene Handlung und die Gründe seines Verhaltens vor sich selbst und seinem alter ego rechtfertigen soll. Diese Besinnung ist zwar natürlich, trotzdem muss der Mensch erst dazu kommen, sich von seinen physiologischen Bedürfnissen zu distanzieren, damit sein Denken sich selbstbewusst entfalten kann, bevor er selbst nach dem Sinn des Lebens fragt und sich dem Politischen öffnet. Wenn die Menschheit in diesem Sinne universell ist, ist sie aber keineswegs etwas Faktisches. Sie hängt von der Anerkennung und gemeinsamen Rechtfertigung ab, die durch unsere eigene Selbstbesinnung ermöglicht wird. Volker Gerhardt zieht die Folgerungen daraus und geht, ohne zurückzuschrecken, gegen den Strom der öffentlichen Meinung an, um die Öffentlichkeit frontal herauszufordern, das Selbstverständliche infrage zu stellen und Tabus zu brechen. Sei es angesichts der Frage der Abtreibung, der Sterbehilfe oder Präimplantationsdiagnostik, sei es hinsichtlich des Umfangs der Stammzellenforschung oder der Diskussion um Biotechnologie, „nur darf der Lebensschutz nicht gegen elementare Rechte des Menschen verstoßen“9 und überhaupt seine eigene Selbstbestimmung bedrohen. Weil die Tatsache, dass wir unseren eigenen Bezug zum Leben sogar zum Gesetz machen können, die innerliche Freiheit dieses Bezugs beweist, ist es unter allen Umständen lebenswichtig, die individuelle Freiheit zu schützen – auch um entscheiden zu können, wann und wie man seinem Leben ein Ende macht oder welcher Augenblick am günstigsten ist, um jemandem das Leben zu schenken. Das soll auch rechtfertigen, dass

6 Volker Gerhardt: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität, München 2001, S. 22 f. 7 Vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, AA 6, S. 280 f. 8 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 309. 9 Volker Gerhardt: Die Autonomie der Politik, www.solon-line.de/die_autonomie_ der_politik.html, 25.11.2008, S. 13.

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in unseren Gesellschaften nicht nur die elementaren Rechte des existierenden Individuums geschützt werden müssen, sondern auch die Bedingungen der Ausübung und Erhaltung der jeweiligen Freiheit in den Grenzen der gegenseitigen Anerkennung der Freiheit des anderen. Die Kluft, die das Leben und das Denken trennt, scheint hier nicht nur theoretisch überwunden, sondern die Philosophie bekommt auch, wenn erst einmal in Einklang mit sich gebracht, wieder ihren anfänglichen, performativen Auftrag. Sie kann sich wieder als kritische Selbstbesinnung vollziehen und gegen übernommene Ansichten zeigen, „wie man zwischen berechtigter Sorge und heilloser Angst unterscheiden kann“10. In einer Zeit, in der Anhaltspunkte zu fehlen scheinen, braucht man umso mehr ein Denken, das nichts dozierend durchsetzt, sondern durch seinen eigenen exemplarischen Charakter beweist, dass das philosophische Denken auch eine öffentliche Herausforderung produktiv annehmen kann. Wenn in dieser Hinsicht, wie er schreibt, „Mensch jeder ist, der vom Menschen geboren ist“11, hat Volker Gerhardt sicher schon durch sein eigenes freies Denken dazu beigetragen, dass das Denken unseres Selbstverständnisses am Leben bleibt.

10 Volker Gerhardt: Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin 2004, S. 10. 11 Gerhardt (2004), S. 135.

John Ford – Leben im Film Nikolaj Belzer „What counts is what one does not what one says [. . .]. For me, life is to be oneself in the face of friends who you punch in the nose, and then you drink and sing together . . .“1

Leben, das hieß für Ford entweder angeln oder filmen. Film, das bedeutete für Ford vor allem Abenteuer. „Intellektuelle“ lehnte er ab, seine Filme aber sind in ihrer ästhetischen wie dramaturgisch-moralischen Intensität beispiellos, auch weil dort – ganz natürlich – genuin philosophische Themen formal und inhaltlich stets in der „Sphäre des lebendigen Daseins“2 behandelt werden. Fords Filme geben somit aus meiner Sicht ein beeindruckendes Beispiel vom Leben bzw. davon, was es bedeutet zu leben. Eines Tages schickten ungeduldige Produzenten einen Studio-Manager ans Set, um die Arbeit zu beschleunigen. Höflich, aber bestimmt teilte dieser John Ford mit, dass die Produktion fünf Tage hinter dem vereinbarten Zeitplan liege. Ford nahm das Drehbuch in die Hand, blätterte kurz, riss zehn Seiten heraus, drückte sie dem Gegenüber in die Hand: „Hier, jetzt sind wir fünf Tage voraus!“ Die zehn Seiten wurden tatsächlich nie gedreht. Wenn er nicht am Set arbeitete, zog sich der Regisseur auf seine Yacht zurück und las. Geschichtsbücher. Nichts interessierte ihn nach eigenen Angaben so sehr wie Geschichtsbücher. Doch Ford wusste, Geschichte schreibt sich nicht selbst, es sind die Menschen, die Geschichte schreiben. Kino schafft Typen, transzendierte Abbilder der Wirklichkeit, es treibt die Subjektivität auf die Spitze und ist damit unserer Wirklichkeit oft näher als wir meinen. „Die Fiktion entlarvt unsere Erfahrung der Realität“3. Es liegt in der Natur des Mediums Film „to particularize ,characters‘ and ,place‘ far more exactly and idiosyncratically“4. Die Bedeutung von Leben, von individuellem Leben im Beson1 Eric Leguèbe: John Ford, in: John Ford Interviews, hrsg. von Gerald Peary, Jackson 2001, S. 74. 2 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung: Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 18. 3 Max Frisch: Schwarzes Quadrat, Frankfurt a. M. 2008, S. 30. 4 Vivian C. Sobchack: The Grapes of Wrath: Thematic emphasis through visual style, in: Literature and Film, hrsg. von Robert Stam/Alessandra Raengo, Malden, Mass. 2005, S. 115.

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deren, wird im Kino selten so klar und deutlich wie in der Bildsprache John Fords. I. Making pictures! Form und Inhalt sind beim Film nicht zu trennen, es ist ein visuelles Medium, und für Ford, der Monument Valley als sein Wohnzimmer betrachtete, änderte sich wenig mit der Einführung des Tonfilms – es waren immer noch pictures. „Dem Charakter des Helden entspricht ein Regiestil, bei dem die Transponierung ins Epische schon bei der Komposition des Bildes beginnt“5. Es sind die Lichtverhältnisse in The Grapes of Wrath, die das Leben der Familie Joad für den Zuschauer buchstäblich in den Schatten stellen. Es ist die Weite des Wüstenfeldes in Stagecoach, das ein Trupp „zusammengewürfelter“ Fremder durchqueren muss und das die Bedrohlichkeit der Situation (d. h. die Verwundbarkeit gegenüber einem Angriff der Indianer) erst anschaulich macht. Ford lässt die Charaktere zu Menschen werden, indem diese, obwohl im geschützten, anonymen Alltag mehr Feind als Freund, die Gefahr selbst bzw. gemeinsam überwinden, die glänzend fotografierte und dadurch physisch manifeste „wilderness“ zusammen durchleben. Aber eben auch wegen der „Typen“ von John Wayne bis Claire Trevor ist Stagecoach „eine wunderbar dramatische Illustration des Gleichnisses vom Pharisäer und vom Zöllner [. . .]“6. Dabei hat der Rahmen, in dem Ford seine Charaktere wirken lässt, ebenso eine ästhetischformale Funktion,7 mit der der Regisseur – „It’s a silent medium!“8 – die spezifisch filmischen Mittel bis an ihre Grenzen ausschöpft. „Die spezifische Kunst des Epos ist heute der Film“9, und so sehr Ford auch daran gelegen war den einfachen Menschen zu porträtieren, so klar war ihm, dass die Macht der bewegten Bilder im Endeffekt nicht an ihrem Wirklichkeitsgrad zu messen ist. II. „. . . long on action and short on dialogue“10 Nun, John Ford schätzte die Tat mehr als das Wort. Und dennoch: Sowohl der Vorwurf des realitätsfernen Ästheten als auch der des Rauhbeins, das die Faust über die Moral, die Waffe über das Gesetz stellt, prallt an seinen Filmen ab. Es ist eben dieser Gedanke, dass Mensch und Natur, Vernunft und Verstand, Wort 5

André Bazin: Was ist Film?, hrsg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 264. Ebd., S. 262. 7 Man beachte nur die wunderschöne Schlusssequenz des Oscar-prämierten Films The Quiet Man, in dem sich der Held (John Wayne) „kathartisch“ fast zwanzig Minuten durch die irische Landschaft prügelt. 8 George J. Mitchell: Ford on Ford, in: John Ford Interviews, S. 66. 9 Bazin (2004), S. 266. 10 Bill Libby: The Old Wrangler rides again, in: John Ford Interviews, S. 47. 6

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und Tat zusammengehören, zusammen funktionieren müssen, um ein lebenswertes Dasein für Individuum und Gesellschaft zu garantieren, der in seinen Filmen so unheimlich präsent ist. Bis heute hat sein Werk deshalb nichts an Aktualität verloren – das gilt sowohl für den Handwerker bzw. Filmemacher als auch für den Erzähler. Wer daran zweifelt, sollte sich The man who shot Liberty Valance anschauen. Es ist das Werk, das zehn Jahre vor Fords Tod alle anderen Filme in einem zusammenfasst. Nur an der Oberfläche haben wir es mit einem Kampf zwischen einem Mann der Tat (John Wayne als Tom Doniphon) und einem Mann des Wortes (James Stewart als Ransom Stoddard) zu tun. In Wahrheit haben beide das gleiche Ziel, lieben die gleiche Frau – und werden sogar beide von der gleichen Frau geliebt. Dennoch, schaut man genau hin, geht es hier doch nur um einen Mann, der den Schurken Liberty Valance schließlich zur Strecke gebracht hat. Lange bevor uns der Chefredakteur des „Shinbone Star“ gegen Ende mitteilt „When the legend becomes fact, print the legend!“, ist klar, dass Ford hier auch mit seiner Zeit ins Gericht geht. In der öffentlichen Wahrnehmung macht das Wort den Mann, es ist der Anwalt Ransom Stoddard, der ausgezeichnet mit dem vermeintlichen Ruhm des Befreiers zum US-Senator aufsteigt. Der eigentliche Erretter, Tom Doniphon, „the man who shot Liberty Vallance“, stirbt ohne Frau und ohne Ruhm, einsam. Doch es wäre zu einfach, würde man es bei dieser Medienkritik belassen. Denn Ransom Stoddard, der Mann des Gesetzes, wäre effektiv nichts ohne Tom Doniphon. Es ist Doniphon, der den jungen, verprügelten Anwalt auf einer Pritsche überhaupt erst in die Stadt bringt, es ist Doniphon, der ihm den Rücken frei hält, sodass er mit der Schürze um den Bauch die großen Reden schwingen kann und es ist schließlich Doniphon, der ihm mit dem tödlichen Schuss auf Liberty Valance nicht nur erneut das Leben rettet, sondern gar den Grundstein für seinen Ruhm legt. In beispielloser Manier zeigt der Western-Regisseur Ford, dass Recht, Ordnung, Zivilisation wichtig, ja notwendig sind – man denke nur an die wundervolle Schulklassen-Szene, in der James Stewart Jung und Alt in amerikanischer Geschichte unterrichtet, dem halben Dorf Lesen und Schreiben beibringt. Jedoch bedarf es immer einer individuellen Tat, um diesen Prozess zu initiieren, zu ermöglichen. „Wo die individuelle Moral gefährdet ist, kann nur das Gesetz die Ordnung des Guten und das Gute der Ordnung aufzwingen. Das Gesetz aber ist um so ungerechter, als es eine gesellschaftliche Moral sichern will, die sich um die individuellen Verdienste derer nicht kümmert, die diese Gesellschaft bilden. Solches Recht muß, um wirksam zu sein, von Männern angewandt werden, die genauso stark und kühn sind wie die Verbrecher [. . .]. Nie lagen die Notwendigkeit des Gesetzes und die Notwendigkeit einer Moral dichter beisammen, und nie war der Widerspruch zwischen beiden so konkret und offensichtlich.“11

11

Bazin (2004), S. 262.

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Theorie und Praxis gehen (im Western) Hand in Hand, um ein freies, individuelles Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die notwendigen Taten und die dazugehörigen Entscheidungen kann der Mensch aber nur für sich selbst fällen. Für John Ford steht das Individuum am Anfang jeder Moral, am Anfang jeden Gesetzes. Nirgendwo wird das so anschaulich, wie wenn Ford John Wayne als Doniphon voller Zorn und Staub durch die Tür der „statehood convention“ stapfen lässt. Im Anschluss an durchaus beeindruckende politische Reden zeigt uns der Regisseur, wer all dies, d. h. politische Selbstbestimmung, wirklich möglich gemacht hat. Am Anfang und schlussendlich „sprechen Ethik und Moralphilosophie davon, wie der Mensch – nach seinem eigenen Verständnis – handeln soll“12. Doniphon mag noch so eigensinnig handeln. Wir als Zuschauer wissen, dass er recht hat – und das ist nebenbei bemerkt die großartigste aller Leistungen des Regisseurs John Ford – denn „sobald das Individuum sich ausdrücklich durch seine eigene Einsicht bestimmt, untersteht es, ganz von selbst, dem Anspruch der Moralität“ 13. Im Interview mit dem British Film Institute14 erzählt Martin Scorsese von einer Geschichte, die sich vor Jahren an einem von Fords Filmsets zugetragen haben soll. Man stelle sich vor: Ein Sandsturm fegt über die Wüste, Team und Schauspieler haben Schwierigkeiten, sich überhaupt außerhalb ihrer Zelte zu bewegen, der Drehplan droht zu kippen. Einer der Kameramänner kommt zu John Ford: „Mr. Ford, I don’t think we can shoot today.“ „Don’t worry!“ „But the storm . . . you can barely see anything, what are we supposed to film in these conditions?“ „We’re gonna film the most interesting and beautiful thing in the world: a human face.“

Wenn man als Filmemacher wie Philosoph eines von John Ford lernen kann, dann ist es dies: Jede Idee, ob in Bild oder Text, ist wenig wert, wenn sie den Menschen als wirkendes, lebendiges Wesen ignoriert; alles andere ist unzureichend oder zynisch, denn nur wenn Fiktion oder Theorie das Individuum als Ganzes ernst nehmen, bleiben sie lebensdienlich, ergo notwendig. Oder um es verkürzt mit den Worten Caseys, dem versoffenen Ex-Pfarrer aus The Grapes of Wrath, zu sagen: „So maybe there ain’t no sin and there ain’t no virtue. There’s just what people do. Some things folks do is nice, and some ain’t so nice. But that’s as far as any man’s got a right to say.“

12

Gerhardt (1999), S. 95. Ebd., S. 77. 14 Vgl. A personal journey with Martin Scorsese through American Movies, BFI/ Channel Four 1995. 13

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In diesem Sinne ist John Ford bzw. dessen praktisches, aber auch werkimmanentes Bild von Leben und Individuum für mich ein wunderbarer „Schulterschluss“ zwischen Philosophie und Film: „Nur durch die Bejahung des Lebens, nur durch die Anerkennung von Endlichkeit und Vergänglichkeit, nur im Einlassen auf das Widerspiel von Leid und Lust kann das jederzeit vom Scheitern bedrohte Experiment des Lebens gelingen, nur indem wir zu unseren Illusionen und Träumen stehen“15.

15 Volker Gerhardt: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 19 f.

Das Leben im Spiegel des Menschenverstandes Ioannis Touras 1. Den Begriff des Lebens zu analysieren, ist eine der schwierigsten Aufgaben der Philosophie. Nicht nur aus einem speziellen philosophischen Impuls stellt der Mensch die Frage nach dem Leben immer wieder, sondern auch wegen einer intuitiven Unruhe, die mit Neugier und Eigeninteressen in Zusammenhang steht. Die Frage der Existenz (verbunden am engsten mit der Angst) wird sich immer stellen, solange es Menschen gibt. 2. Eine erste und einfache Behauptung ist, dass das Leben der Zeitraum zwischen Geburt und Tod ist. Diese Antwort ist tatsächlich richtig, sie ist aber für die Menschheit nicht genug gewesen. Die Angst vor dem Tod, die Erwartung eines sinnvollen Lebens und das Bedürfnis nach einer Motivation für das Weitergehen sind die Gründe, die über das Instinktive hinausführen. Denn die Frage nach dem Leben kehrt immer wieder zurück und verlangt eine weitere Erklärung. 3. Diese Frage stellt eines der allerersten Themen dar, über die ein menschliches Wesen philosophiert. Trotzdem sind die von den Philosophen gegebenen Antworten noch nicht als Wegweiser der Menschheit benutzt worden. Das bedeutet nicht, dass die Gesellschaft von philosophischen Einflüssen ferngeblieben ist. Natürlich ist die Philosophie Teil des heutigen Bildungssystems, es handelt sich aber um eine Auseinandersetzung mit erfundenen Institutionen und Systemen, die sich außerhalb der Endlichkeit rechtfertigen und die sich teilweise aus historischer Gewohnheit, teilweise aus politischen Gründen gesellschaftlich etabliert haben. Die Mehrheit der Menschen konnte auf die so oft wiederholte Frage nach dem Leben nicht antworten und ist deshalb nicht selten von unlogischen Denkweisen verführt worden. 4. Auf der Suche nach der Definition des Wortes „Leben“ kann man sich am gemeinen Menschenverstand orientieren. Man liest in Theaterstücken und in Romanen oder hört in Gesprächen auf den Straßen Feststellungen wie: „Das ist Leben“ – oder das Gegenteil: „Das ist kein Leben“. Dabei merkt man die Sicherheit der Vermutenden. Denn gemeint ist in meisten Fällen das eu zên. Die Behauptungen über das Leben sind in Wirklichkeit Behauptungen über die Qualität des konkreten Lebens und nicht über die Beziehung des Lebens zu sich selbst, nicht über den Sinn und die Bedeutung des Lebens. Auf den ersten Blick stellen wir einen Mangel an Genauigkeit fest. Dieser Mangel aber zeigt

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uns etwas anderes, und das ist die Motivation hinter dieser Frage. Es geht um die Verbesserung der Lebenserfahrung, die Verbesserung des persönlichen Daseins oder mindestens um ein besseres Lebenskonzept. Das hat zur Konsequenz, dass wir uns ehrlich mit der Unschärfe des Begriffes sowie mit unserer Unwissenheit konfrontieren müssen. Das Bewusstsein dieser Unwissenheit wird immer aufs Neue hergestellt und macht das Verständnis des tiefen Bedürfnisses nach Lebensgenuss einfacher. 5. Die Gegenüberstellung von allgemeinen Begriffen mit dem, was wir empirisch lernen, wenn das Dasein mit der Wahrheit oder besser: mit dem Versuch zur wissenschaftlichen Erkenntnis konfrontiert wird, hilft uns, die Grenzen jeder vom Lebensprozess isolierten Logik zu finden. Das Denken und seine Erfahrung können sich nur durch die Wechselwirkung mit dem Menschenverstand als Common Sense und die Teilnahme am gesellschaftlichen Forum entwickeln. So vermag der Mensch nicht nur seine Geistigkeit, sondern auch seine tierische Abstammung anzuerkennen und eine Bilanz der Spannung zwischen dieser Abstammung und dem fortschreitenden vernünftigen Kosmos zu ziehen. An dieser haben die politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich aktiven Subjekte gemeinsam mitzuwirken.

Leben ist, wo das Herz schlägt Shruti Jain Das offensichtlichste Zeichen dafür, dass jemand lebt, ist, dass sein Herz noch schlägt. Sobald das Herz damit aufhört, Blut in die Adern zu pumpen, stirbt man. Bemerkenswert ist dabei, dass mit jeder Entspannung des Herzmuskels in einem gesunden Körper von vornherein die Gewissheit gewährleistet ist, dass die darauf folgende Kontraktion automatisch erfolgen wird. Aufgrund dieser Automatisierung ist mit jedem Herzschlag die Bildung des nächsten gesichert, als wäre das Herz eine autonome, selbstmotorisierte Einheit, die dem ganzen Körper Vitalität und Kraft schenkt. Ohne Weiteres könnte man sich an einem solchen hochdynamischen Wesen im eigenen Körper für die Lebensführung ein Beispiel nehmen. An dieser Stelle gilt es einen Blick nach innen zu richten und zu fragen, ob ich wirklich wie mein Herz lebe. Wie das Herz pulsiert auch das Leben eines Menschen, und zwar ist ihm der Rhythmus in Form von Zielen gegeben, die man sich tagtäglich setzt. Unter normalen Umständen hat man Träume, Wünsche und Pläne. So banal es sich auch anhören mag, sind Wünsche, wie einen Urlaub zu machen oder Yoga zu lernen, eben die Ziele, die dem Leben einen gewissen Takt verleihen. Sogar mit den sogenannten monotonen Haushaltsaufgaben, wie dem Kochen, den Mietzahlungen oder den wöchentlichen Einkäufen, kommt der Alltag weiter in Schwung. Das Wünschen bedarf also keinerlei Übung. Schon als Kind weiß man, dass man etwas will bzw. nicht will, sei es Milch, sei es einen Luftballon oder eine Fahrt mit der Achterbahn. Das heißt, dass auch im Menschen eine gewisse Automatisierungskraft vorhanden ist, die ihn weiter zur Tat führt. Durch dieses getaktete Wollen-Handeln entsteht eben auch der positive Impuls, weiter zu handeln und zu wollen. Ein Problem entsteht aber erst, wenn die Ziele nicht erfüllt werden bzw. wenn der erwartete Takt nicht erfolgt. Wenn einem beispielsweise aufgrund der Rezession die Mittel zur Finanzierung des Urlaubs gestrichen werden oder wenn man plötzlich bei einem Bombenanschlag schwer verletzt wird und sich nicht mal um seinen eigenen Haushalt kümmern kann, führt dies in den meisten Fällen zu einer Verzweiflung und zu einer Tatenlosigkeit, die wiederum Langeweile und Frustration bewirken kann. Nun fragt es sich, ob das Herz wohl Langeweile und Frustration kennt bzw. ob eine Systole damit anfangen würde, tief zu grübeln, wenn die erwartete Dias-

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tole nicht folgen würde. Natürlich nicht. Es gibt für das Herz keinen Grund zum Grübeln. Das Herz ist ja gleichsam skrupellos. Entweder schlägt es oder es schlägt nicht. Diese Skrupellosigkeit des Herzens fehlt meines Erachtens vielen von uns, die sich bei Tag und manchmal auch bei Nacht den Vorgaben des Hirns blind unterwerfen. Krishnamurti konstatiert: „One cannot say, ,I shall be harmonious‘; it means nothing. To assume that one must control oneself in order to be harmonious is an immature way of thinking. The state of total integration, of unitary action, can come only when one is not seeking it, when the mind is not forcing itself into a patterned way of living.“1

Wäre man imstande, wie das Herz, dem Lauf der Dinge weder lächelnd noch beschwert zu begegnen, könnte man mit gutem Gewissen behaupten, dass man nicht an einem Lebensort stehen bleiben würde. Wenn man sich dem Beispiel des Herzens folgend das Prinzip der Automatisierung aneignet, dann wurzelt das ununterbrochene selbstreflektierende Tun automatisch tief ein. Das Tun ist dann nicht mehr ein geübtes bzw. ein angelerntes Tun (sadhana), sondern ein Lebensattribut (laksana): „The activity of the liberated is free and spontaneous and not obligatory. [. . .] Work is not practiced as a sadhana but becomes a laksana.“2 Das heißt aber noch lange nicht, dass man mit dem Lernen aufhören soll. Denn Leben heißt auch, Leben zu lernen. Interessanterweise macht die englische Redewendung „to learn by heart“ den praktischen Zusammenhang zwischen dem Leben und dem Herzen weiterhin deutlich. Einerseits bedeutet der Ausdruck im rein didaktischen Sinne, etwas auswendig zu lernen, andererseits weist er auf das bereits erwähnte Automatisierungsprinzip des Herzens hin, wobei der Lernstoff so fest internalisiert werden kann, dass er sich mit dem Körperkreislauf vereinigt. Dieser Verinnerlichung liegt die Entstehung einer Eigendynamik zugrunde, die weiterhin die eigene Kreativität fördert, was wiederum Spaß und Freude am Leben erzeugt. Diesen herzgebundenen kreativen Umgang mit dem Leben könnte man auch als das Leben selbst bezeichnen. Nun ist mit der Verinnerlichung freilich keinerlei Universalitätsanspruch angedeutet. Dass das Herz meines Mitmenschen auch dort schlagen wird, wo mein Herz schlägt, ist keineswegs zu erwarten. An dieser Stelle würde ich mich Folgendes fragen: Bin ich imstande, zu leben und leben zu lassen? Verfüge ich über genügend Vitalitätsreserven, um trotz jeglicher Hindernisse einen kühlen Kopf bewahren und meine Mitmenschen respektieren zu können? Bin ich in der Lage, hinter ernsthaften Mienen Humor zu entdecken? Selbstverständlich gibt es keine absolute Antwort auf diese Fragen. Eines bleibt jedoch gewiss: und zwar das automatisierte Prinzip des Herzens. Jeder muss letzten Endes für sich entscheiden, ob man sich im Leben gegenüber sich selbst und seinem Herzen 1 2

Jiddu Krishnamurti: On living and dying, Chennai 2004, S. 71. Sarvepalli Radhakrishnan: The Bhagavadgita, New Delhi 2006, S. 73 f.

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ehrlich verhalten hat, ob man jeden Augenblick seines Lebens voll ausgelebt hat, um in aller Ruhe sterben zu können. „I have had my invitation to this world’s festival, And thus my life has been blessed. My eyes have seen and my ears have heard. It was my part at this feast to play upon My instrument, and I have done all I could. Now, I ask, has the time come at last When I may go in and see thy face and offer thee my silent salutation?“3

3

Rabindra Nath Tagore: Gitanjali, New Delhi 2003, S. 33.

Weisheit Asiens Tag für Tag Aus dem Leben: ein Telefonat Tanja Gloyna „Was ist Leben?“ „Was ist was?“ „Leben. Was ist Leben.“ „Wie. Was ist Leben. Was soll das denn . . . werden.“ „Hallo . . . hallo? Die Leitung war gestört. Sagtest Du: ,Was soll das denn: natürlich ewig Werden!‘ oder: ,Was soll das denn jetzt werden?‘“ „,Was soll das denn jetzt werden.‘“ „Aha.“ „Worum geht es?“ „Das weiß ich leider auch nicht so genau.“ „Beim Leben?“ „Ja, da kann man nie wissen. Nein, es geht um eine Festgabe zum Geburtstag. Und ich bin mit der Frage: Was ist Leben, die für diese Gabe beantwortet werden soll, ein wenig überfordert.“ „Wissenschaftlich?“ „Vielleicht eher grundsätzlich?“ „Ich schau mal auf den Kalender.“ „Was für einen Kalender?“ „Einen immerwährenden Kalender: ,Die Weisheit Asiens – Tag für Tag‘.1 Ich benutze ihn bereits das zweite Jahr.“ „Gute Idee. ,Immerwährend‘ passt zur Frage. Und in China und Japan war der Mensch, um den es geht, auch schon.“ 1 Danielle Föllmi/Olivier Föllmi (Hrsg.): Die Weisheit Asiens – Tag für Tag. Texte aus den Traditionen des Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus. Mit immerwährendem Kalender, aus dem Französischen übers. von Cornelia Panzacchini/Birgit LamerzBeckschäfer, München 2007.

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Tanja Gloyna

„Welches ist der Tag der Geburt?“ „Ein 21., im Sommer. Juni oder Juli. Freundlich, manchmal ein wenig trocken, aber in jedem Fall licht und sehr hell. Entschuldige, Juni und Juli, das verwechsele ich immer wie rechts und links. Partei-politisch betrachtet müsste es demnach wohl eher Juli sein. Aber das hilft zur Beantwortung der Frage nicht. Schauen wir der Reihe nach, was der immerwährende Kalender sagt.“ „21. Juni: ,Das Schaffen von Gutem ist die höchste Stufe des Zusammenwirkens der Prinzipien deines Handelns mit der kosmischen Ordnung aller Dinge. (Tseng Tse)‘.“ „Tseng Tse. War das ein Kantianer? Würde bestens zum Jubilar passen. Schöner Kalender!“ „Hieße es dann nicht: ,. . . handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte‘2?“ „Sei doch nicht so unterschwellig kategorisch. Es geht ums große Ganze. Und außerdem hat der Mensch, den es betrifft, bereits etwas Gutes geschafft und geschaffen, von und in seinem Leben. Und ihm liegt Kant zum Vergnügen. Aber lass uns schauen, was am 21. Juli steht.“ „Dann wäre er Krebs.“ „Und was dann?“ „Bei aller Rationalität sensibel. Und dennoch praktisch veranlagt.“ „Das sollte passen. Für jemanden, der sinnvoll über Leben nachdenkt. Und im konkreten Fall. Wunderbar! War wirklich eine gute Idee, auf immerwährende Kalender zu schauen. Was steht nun darin für den 21. Juli?“ „,Wenn man stets ohne Begehren ist, betrachtet man das Wunderbare. Wenn man stets begehrt, betrachtet man dessen Umgebung. (Laotse)‘.“ „Das ist es. 21. Juli. Juli, Juli muss es sein. Diese Weisheit beantwortet die Frage: Was ist Leben? Das Wunderbare! – und übrigens auch, warum mir die Gabe zur Beantwortung fehlt. Wie schön!“ „Und was sagt Kant dazu?“ „Kant? Der Herr Immanuel . . . – ,Das Leben ist nichts als Begehrungsvermögen in der gringsten Ausübung‘3. Ist zwar eine Randbemerkung, aber sie passt wunderbar. Alles passt und fügt sich. Wie im Leben! Auf den immerwährenden Kalender und auf den Jubilar!“

2 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, S. 385–463, besonders S. 421 (ohne Hervorhebungen zitiert). 3 Kant: Reflexionen zur Anthropologie, AA 15, S. 55–654, besonders S. 465 (Nr. 1034).

Weisheit Asiens Tag für Tag

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„Himmel . . . Alles eins.“ „Wer weiß . . . Gott oder wem auch immer sei Dank: alles passt und fügt sich! Ich sag nur mit Tseng Tse: ,kosmische Ordnung aller Dinge‘! Auch wenn das wohl doch der falsche 21. war.“ „Nicht so schlimm . . . Alles eins.“ „Was steht noch mal für den 21. Juli?“ „,Wenn man stets ohne Begehren ist, betrachtet man das Wunderbare. Wenn man stets begehrt, betrachtet man dessen Umgebung. (Laotse)‘“. „So schön. Leben ist das Wunderbare. Laotse lebe hoch!“ „Du, der ist tot.“ „Macht nichts; das Leben geht weiter. – Weißt Du, was der Großvater eines Freundes immer gesagt haben soll?“ „Nein.“ „,Man muss das Leben eben nehmen wie das Leben eben ist‘, ganz ohne Punkt und Komma und asiatischen Einfluss. Passt trotzdem. War ein Ostpreuße, der Großvater. Daher musst Du die ,e’s‘ dehnen. ,Man muss das Läben äben nähmen wie das Läben äben ist‘, oder so ähnlich.“ „Hört, hört.“ „Ein wenig Ernst . . . das ist auch eine Lebensäußerung. Und was ist das Ganze anderes als die Summe seiner Teile; plus das bescheidene Mehr freilich, das Wunderbare, Leben. Apropos: Was machst Du heute Abend noch?“ „Tatsächlich etwas Wunderbares. Essen. Essen und Trinken. Lebensnotwendig und gut für die Seele. Ich will und schaffe Gutes, für mich, hier und jetzt. Im Einklang mit dieser komischen, unerklärlichen, aber wunderbaren Ordnung aller Dinge. Schöner grüner Salat mit roter und gelber Paprika. Und Du?“ „Dir danken für den Blick auf Immerwährendes. Und anstoßen. Seitdem ich Deine Nummer gewählt habe, steht hier ein Tee namens ,Lebensfreude‘ bereit: Basilikum, Süßholz, Zitrone, Orangenschalen, Zimt, Ingwer, Kardamon, Nelken sowie, das gehört nach Herstellerangabe auch zu diesem ,Jogi-Tee‘, Chili und schwarzer Pfeffer. Einen Toast auf den Jubilar: Auf das Leben! Alles Gute im weiteren und auch für das immerwährende!“ „Sehr gute Idee. Schönen Abend und auf bald!“

Das Leben des Menschen ist eine Darstellung Shu Yuanzhao 1. Bevor ich auf die mir sehr wichtige Frage, was Leben ist, meine Antwort zu geben versuchen kann, möchte ich eine kurze Anmerkung vorausschicken. Man kann das deutsche Wort „Leben“ auf zwei verschiedene Weisen ins Chinesische übersetzen, als 䞮✌ und als 䞮㿊. Bei uns ist ein 䞮✌ Antonym von „Tod“. Alle Lebewesen haben ihre 䞮✌. Sie sind lebendig. Mit einem naturwissenschaftlichen Terminus kann man noch sagen: Alle Organismen können sich selbst organisieren und erzeugen. Diese Selbstorganisation heißt 䞮✌. Demgegenüber ist 䞮㿊 ein Wort, mit dem man die Tätigkeiten eines besonderen Organismus (dem des Menschen) bezeichnet. Deswegen sage ich bei meiner Antwort auf die Frage nach dem Leben nichts über 䞮✌ aus, sondern über 䞮㿊 des Menschen. Das Leben des Menschen ist zuerst individuell. Nach meiner Meinung ist das Leben eines Individuums grundlegend für die Frage, was überhaupt Leben ist. 2. Jeder Mensch ist als ein Ganzes lebendig. Leben ist seine universelle und freie, bewusste Tätigkeit. Die Universalität des menschlichen Lebens erscheint praktisch als seine Fähigkeit, die gesamte Natur – oder seine sinnliche Außenwelt – zu einem Teil des eigenen Lebens zu machen. Alle Dinge zwischen dem Himmel und der Erde können zu Gegenständen seiner Tätigkeit werden. In diesem Sinne kann man auch sagen, dass der Mensch von der ganzen Natur – der Welt – lebt. Die Universalität des menschlichen Lebens hat auch eine weitere Dimension, die darin liegt, dass es ein gesellschaftliches Leben, ein kulturell geformtes Gattungsleben ist. Das Leben des Menschen ist nicht nur universell, sondern zuallererst frei und bewusst. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins, in seinem Lebensvorgang sind sein Wollen und Bewusstsein immer zugleich anwesend. Das heißt, der Mensch hat neben dem äußeren Leben und seiner Anverwandlung der Natur immer auch ein inneres Leben. 3. Das Leben des Menschen ist sein Sein. Alle Tätigkeiten (zum Beispiel Essen und Trinken, Wohnen und Kleiden, Tanzen und Singen) gehören zum Leben, das sich in vielen Inhalten und Formen ausdrückt. 4. Aber ich will hier hauptsächlich eine Bestimmung über das Leben deutlich machen: Das Leben des Menschen ist eine Darstellung des Menschen.

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Shu Yuanzhao

Diese Antwort auf die Frage nach dem Leben ist eine Anregung, die ich Volker Gerhardt verdanke.1 Nach Volker Gerhardt ist für Immanuel Kant der Mensch ein sich bestimmendes Tier. Darin wirkt die Hoffnung mit, dass die Aufklärung über „die Bestimmung des Menschen“ auch praktische Konsequenzen für die Lebensführung des Individuums hat. Gerhardt bezeichnet den Menschen zudem als homo publicus.2 In dieser Antwort auf die Frage, was der Mensch ist, setzt er voraus, dass der Mensch „als zoon poietikon, animal artificialis, homo creator oder homo pictor verstanden werden kann“3. Nach seiner Einsicht ist der Mensch in „jedem Fall ein Wesen, das produktiv tätig ist und sich eine Welt erschafft, die ihm in der Sache etwas bedeutet. Diese Welt wird dem Menschen zur Bühne, auf der er sich selbst ein Beispiel gibt. Dabei setzt der Mensch im Prinzip alle Menschen als mögliche Zuschauer voraus und denkt sich, wenn er das ganze Schauspiel ernst nimmt, auch einen Regisseur hinzu, der alles kritisch prüft.“4

Der homo publicus ist eine wesentliche Bestimmung des Menschen. Aber diese Bestimmung hat zur Voraussetzung, dass der Mensch produktiv tätig ist. Das heißt, er ist von sich aus ein tätiges und kreatives Wesen und hat sich eine kulturelle Welt erschaffen. Diese Welt ist seine Bühne, auf der er sich darstellen und vorführen kann. Indem er sich darstellt, werden alle andere Menschen zu seinem potenziellen Publikum. In diesem Sinne ist sein Leben eben eine Darstellung für andere Menschen. Das ist ein Ausdruck seiner Gesellschaftlichkeit. 5. Der Mensch als ein Darsteller hat viele Fähigkeiten. Und durch seine Tätigkeiten kann er seine Fähigkeiten verkörpern. Dabei ist seine Darstellung abhängig vom fremden Blick. Er kann sich gewissermaßen auch von einem fremden Standpunkt aus zuschauen. Und er kann einen Begriff und eine bestimmte Vorstellung von sich entwickeln. 6. Die Sprache ist für das Leben des Menschen essenziell. Sie ist nicht nur ein notwendiges Ausdrucksmittel, sondern eine Brücke zwischen verschiedenen Geistern. Manchmal brauchen wir nicht direkt der Darstellung von jemandem zuzuschauen. Wir können bereits durch einen symbolischen Vorgang wie das Lesen viele fremde Gedanken und Vorstellungen verstehen. Das Denken hat insbesondere für einen Philosophen eine zentrale Bedeutung. Das Leben ist das Sein eines Menschen. Aber für einen Philosophen gehört sein Denken so zu seinem Sein, dass es alles andere an Bedeutung übertreffen kann.

1

Vgl. Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Zur Bedingung einer Frage, die zugleich deren erste Antwort ist, in: Was ist der Mensch?, hrsg. von Detlev Ganten/Volker Gerhardt/Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin, Berlin/New York 2008. 3 Ebd., S. 10. 4 Ebd. 2

Geist als das belebende Prinzip im Menschen Fiorella Battaglia Leben lässt sich nach der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von Kant als die Fähigkeit Wahrnehmungen zu haben bezeichnen.1 Wahrnehmungen können von sehr verschiedener Qualität sein. Ihre Vielfältigkeit hängt von den unterschiedlichen Sinnesorganen des Menschen ab. Damit ist ihre Einteilung aber noch nicht erschöpft, weil dazu noch diejenigen Wahrnehmungen zu rechnen sind, die den Körper als Ganzen durchdringen, „so weit als in ihm Leben ist“2. Einen Gegenstand zu berühren, erlaubt dem Menschen, etwas wahrzunehmen und sich dadurch von allen Seiten einen Begriff von der Gestalt des Wahrgenommenen machen zu können. Die durch den Tastsinn entstehenden Wahrnehmungen sind die unmittelbarsten. Auf sie sollen auch die Wahrnehmungen der zwei weiteren äußeren Sinne, des Hörens und Sehens, bezogen werden, damit äußere Gegenstände überhaupt wahrgenommen werden können. Unmittelbar ist die haptische Wahrnehmung, weil ihre Reize im Gegensatz zu denen der Augen und Ohren nicht durch die uns umgebende Luft auf uns treffen. Die als materielles Element verstandene Luft erweist sich somit als der Raum der Erkenntnis und der Gemeinsamkeit. Kant stellt die Situation dar, in der der Mensch sich unmittelbar befindet, und zwar derart, dass Menschen zusammen sind und mit Objekten zu tun haben.3 Diese basale Konstellation mit zwei Akteuren und einem Objekt ist heute für die Psychologie unerlässlich, um die Entstehung der Subjektivität aus dem intersubjektiven Lebenszusammenhang zu erläutern. 1 In letzter Zeit erscheinen immer mehr Arbeiten, die einen neuen Zugang zu Kant suchen, indem sie sich dem Körper, der Sprache und den Gefühlen widmen. Siehe dazu etwa Angelica Nuzzo: Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility, Bloomington 2008; Helge Svare: Body and practice in Kant, Dordrecht 2006; Luca Forgione: L’io nella mente. Linguaggio e autocoscienza in Kant, Acireale/Rom 2006; Vincenzo Bochicchio: Il laboratorio dell’anima. Immagini del corpo nella filosofia di Immanuel Kant, Genua 2006; Chiara Fabbrizi: Mente e corpo in Kant, Rom 2008; Pietro Perconti: Kantian Linguistics, Münster 1999; Claudio La Rocca: Esistenza e Giudizio. Linguaggio e ontologia in Kant, Pisa 1999; Birgit Recki: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Padeborn 2006. 2 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 154. 3 Dass er damit bei der für Menschen konstitutiven Elementarsituation ansetzt, zeigt die Einteilung seiner Anlagen: die auf die Handhabung von Dingen gerichtete technische Anlage, die auf den Umgang mit anderen Menschen gerichtete pragmatische Anlage und die reflexiv auf sich selbst gerichtete moralische Anlage (s. ebd., S. 322).

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Fiorella Battaglia

Diese Schilderung ist auch für die Erkenntnistheorie folgenreich: Wenn Erkenntnis sich zugleich als soziale Funktion erweist, dann muss man der Mitteilbarkeit keine nachträgliche Stellung einräumen, sondern vielmehr eine die Menschen von der Gegenwart des Gegenstandes entlastende, strukturelle Funktion. Somit ermöglicht die Mitteilbarkeit in der Kultur sich ständig neu ergebende Formen. Mit diesem Ansatz wird gezeigt, dass die Sprache sowohl eine kognitive als auch eine soziale Leistung erbringt.4 Töne, die sich in Form von Schallwellen durch die Luft bewegen, versetzen die Menschen in die öffentliche Sphäre des Erkennens und der Mitteilung. Dadurch „können sich Menschen am leichtesten und vollständigsten mit andern in Gemeinschaft der Gedanken und Empfindungen bringen, vornehmlich wenn die Laute, die jeder den andern hören läßt, artikuliert sind und in ihrer gesetzlichen Verbindung durch den Verstand eine Sprache ausmachen“5.

Anhand der von Kant in der Anthropologie unternommenen Einteilung der Wahrnehmungen lässt sich der Versuch weiterverfolgen, reflexiv nach dem menschlichen Leben zu fragen. Die Affizierung durch körperliche Dinge erfolgt mechanisch und chemisch. Chemische Empfindungen lassen Geruch und Geschmack z. B. von einem Eiskaffee entstehen, den ich im Sommer trinke. Diese miteinander eng verwandten Sinne sind subjektiv, sie geben nicht viel vom Objekt wieder, sondern erteilen eher Auskünfte über den Geschmack des Individuums. Allerdings gilt bei all diesen Wahrnehmungen, dass die Organe des menschlichen Körpers eine unerlässliche Bedingung für ihre Entstehung sind. Anders ist dies bei Kälte und Wärme einerseits sowie bei Angst und Hoffnung andererseits, die kein spezifisches Organ, d. h. keinen Teil in Anspruch nehmen, sondern den ganzen Körper „durchdringen“6. Da die Wahrnehmungen die Funktion haben, uns und andere über Objekte und Sachverhalte zu informieren, kann Kant die Sinnesorgane in zwei Schritten kennzeichnen: erstens als „insgesammt lauter Sinne der Organempfindung, gleichsam so vieler äußerer, von der Natur für das Thier zum Unterscheiden der Gegenstände zubereiteten Eingänge“7 und zweitens als Elemente, die „durch Reflexion das Subjekt zum Erkenntniß des Gegenstandes als eines Dinges außer uns“8 leiten. 4 Indem Kant bereits auf der Ebene der Physiologie der Wahrnehmungen Kommunikation und Wissen als die entscheidenden Züge menschlicher Sprache bezeichnet, gibt er gleichermaßen eine umfassende Antwort auf die Frage des Ursprungs der Sprache. Damit sind auch die Bedingungen für den eigenen Leistungsraum des Menschen benannt. Mehr dazu: Jürgen Trabant: Was ist Sprache?, München 2008; Marc D. Hauser/Noam Chomsky/Tecumseh Fitch: The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?, in: Science, Heft 298, 2002, S. 1569–1579. 5 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 155. 6 Ebd., S. 154. 7 Ebd.

Geist als das belebende Prinzip im Menschen

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Indem der Gegenstand uns als etwas Äußerliches erscheint, unterscheidet er sich zugleich von dem Inneren. Anders als die Affizierung durch die körperlichen Dinge ist der innere Sinn (sensus internus) nicht vielfältig. Er unterscheidet sich von der Apperzeption, die ein „Bewusstsein dessen ist, was der Mensch tut“, indem der innere Sinn ein Bewusstsein dessen ist, „was er leidet“ 9. Der Mensch wird durch „sein eignes Gedankenspiel affiziert“10. Die Qualität dieser Affizierung besteht darin, dass die Vorstellungen „zugleich“ oder „nacheinander“ aufeinanderfolgen. Was hier zur Sprache kommt, ist ihr Verhältnis in der Zeit. Somit bietet die Reflexion über äußere und innere Wahrnehmung eine weitere Differenzierung, um mit der Artikulation der Wahrnehmungen fortzuschreiten und somit einem umfassenderen Verständnis des menschlichen Lebens näher zu kommen. Unter innerer Wahrnehmung wird das Bewusstsein der Gegenstände als zeitliche verstanden, also als Bewusstsein ihrer Dauer. Dies gehört bekanntlich nach Kants Erkenntnistheorie unbedingt zu unserer Erkenntnis des Gegenstandes, deren Verhältnis zum Subjekt von Kant so erläutert wird: Zeit und Raum sind „solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften und mithin an der subjectiven Beschaffenheit unseres Gemüths, ohne welche diese Prädicate gar keinem Dinge beigelegt werden können“11. Was die subjektive Beschaffenheit des Subjekts angeht, so ist diese allerdings durch den Bezug auf die Funktion der Erkenntnis des Dinges nicht erschöpft, weil es neben dem objektiven Inneren auch noch ein subjektives Inneres gibt: Kant nennt dies den „inwendigen Sinn“ (sensus interior). Eine scharfe Trennung zwischen subjektiv und objektiv ist schwer zu vollziehen. Sie gelingt am besten, wenn Kant versucht, die Aufmerksamkeit vom Objekt auf das Subjekt zu lenken. Wenn „die Empfindung zugleich Aufmerksamkeit auf den Zustand des Subjekts erregt“12, dann verliert sie ihre Verbindung mit dem Objekt, um etwas über das Subjekt selbst mitzuteilen. Wenn dieses gemeint ist, wird die Empfindung von Kant als „Sensation“13 bezeichnet. Kurzum: Wenn die Frage lautet „Wie ist es für das Subjekt? Wie fühlt man sich dabei?“, dann sind empfindende Wesen als solche im Spiel. Wesen, die aus ihren Empfindungen erfahren, wie viel ihnen an etwas liegt. Daraus lernen sie auch sich selbst kennen und schätzen. So gesehen teilt die Empfindung nicht etwas über das Objekt mit, sondern über den Zustand des Subjektes. Sie wird zum Mittel der Selbsterkenntnis:

8

Ebd., S. 156. Ebd., S. 161. 10 Ebd. 11 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 23/B37–38. 12 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 153. 13 Ebd. 9

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„Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d. i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens (welches kein Erkenntniß desselben ist) betrachtet wird“14.

Nicht nur ist alle Erkenntnis qualitativ gekennzeichnet, auch jede Handlung hat phänomenale Eigenschaften: Da sie etwas bedeutet, besitzt sie eine positive oder negative Qualität für das handelnde Subjekt.15 Diese Erörterung des Gefühls leitet zu der Beobachtung über, dass der Körper unabdingbar für alle geistigen Funktionen ist, weil er nicht anders reagiert, wenn er statt durch körperliche Dinge durch das Gemüt affiziert wird. Das (in dieser Weise nicht sichtbare) Ganze des Körpers leistet sein Werk – sei es, wenn er durch die Sinnenorgane affiziert wird, sei es, wenn er denkt.16 Kant merkt in der Kritik der Urteilskraft ausdrücklich eine Anlehnung an Epikur an, indem er das Embodiment der geistigen Funktionen betont: „Es ist auch nicht zu läugnen, daß alle Vorstellungen in uns, sie mögen objectiv bloß sinnlich, oder ganz intellectuell sein, doch subjectiv mit Vergnügen oder Schmerz, so unmerklich beides auch sein mag, verbunden werden können (weil sie insgesammt das Gefühl des Lebens afficiren, und keine derselben, sofern als sie Modification des Subjects ist, indifferent sein kann); sogar daß, wie Epikur behauptete, immer Vergnügen und Schmerz zuletzt doch körperlich sei, es mag nun von der Einbildung oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen: weil das Leben ohne das Gefühl des körperlichen Organs bloß Bewußtsein seiner Existenz, aber kein Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens, d. i. der Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte, sei; weil das Gemüth für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst) ist, und Hindernisse oder Beförderungen außer demselben und doch im Menschen selbst, mithin in der Verbindung mit seinem Körper gesucht werden müssen.“17

Aber was eigentlich heißt es genau, dass der Mensch seinen Körper durch sein Gemüt affizieren kann? Der Mensch kann nicht ohne Verbindung mit seinem Körper gedacht werden. Sein Körper ist nicht nur der Eingang für die Eindrücke der äußeren körperlichen Dinge, er reagiert nicht nur auf äußere Ereignisse, sondern auch auf innere. Durch eine Idee kann der Mensch auf sich selbst wirken, z. B. um seine eigene Zukunft zu beeinflussen. Auch in diesem Zusammenhang verzichtet Kant nicht auf die Elemente seiner Erkenntnistheorie 14

Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 206. Über den phänomenalen Charakter kognitiver Akte siehe Charles Siewert: The Significance of Consciousness, Princeton 1998. Über unser Erleben, wenn wir Handelnde sind, siehe Terry Horgan/John Tienson/George Graham: The Phenomenology of First-Person Agency, in: Sven Walter/Heinz-Dieter Heckmann (Hrsg.): Physicalism and Mental Causation. The Metaphysics of Mind and Action, Exter 2003, S. 323–340. Siehe auch Martine Nida-Rümelin: Doing and Subject Causation, in: Erkenntnis 2007 (67/2), S. 255–272. 16 Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA 1, S. 355. 17 Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 277 f. 15

Geist als das belebende Prinzip im Menschen

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und behauptet, dass die Anschauungen, woraus die Vorstellungen bestehen, immer auf Sinnlichkeit zurückzuführen sind. Anschauungen bilden sich, indem man dank der Einbildungskraft auf Vergangenheit oder Zukunft Bezug nimmt. Die Einbildungskraft unterlegt „dem Verstande Stoff [. . .], um den Begriffen desselben Inhalt (zum Erkenntnisse) zu verschaffen, vermöge der Analogie ihrer (gedichteten) Anschauungen mit wirklichen Wahrnehmungen“18. Die Spannung zwischen „gedichteten“ Anschauungen und „wirklichen“ Anschauungen lässt sich spüren: „Denn die Wirklichkeit [ist] immer beschränkter als die Idee, die ihrer Ausführung zum Muster dient“19. Als Vermittlung dient das Vorhersehungsvermögen, „weil es die Bedingung aller möglichen Praxis und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht“20. Es ist gerade in diesem Lebenszusammenhang, in dem Kant den Geist als das „belebende Princip im Menschen“21 bezeichnet. Geist steht hier für die Einstellung des ganzen Menschen seinem Leben gegenüber. Erneut gilt die Analogie mit der Physiologie der Wahrnehmungen. Wie die Sinnesvorstellungen durch den Kontrast, die Neuigkeit und den Wechsel gesteigert und bis zur Vollendung gebracht werden können, hat der Mensch die Mittel, um gezielt auf sein Leben einwirken zu können. Indem er auf sich selbst wirkt, heißt er Geist und bedeutet diejenige Instanz, die in der Lage ist, sich selbst in Bewegung zu versetzen. Von daher lässt die Angewiesenheit des Menschen auf seinen Körper und auf die daraus entstehenden Gefühle sich nicht ausschließlich als passiv verstehen. Vielmehr lässt gerade seine Befindlichkeit ihm noch Raum für eine überlegte Handlung, die nicht nur auf die Stufe der Planung beschränkt ist, sondern immer schon mit der Anwendung seiner Idee auf die Wirklichkeit gerichtet ist und seine Verwirklichung mit einbezieht.22 Denn wie wirkt das Gemüt? Durch Ideen. Die Ideen dienen der Vollendung des empirischen Vernunftgebrauchs, indem sie Gefühle hervorbringen, die Erleichterung, Beförderung und Wohlbefinden für den Menschen bedeuten. Von daher kann Kant behaupten, dass dieses durch Ideen belebende Prinzip Geist genannt wird.23 Und von daher lässt sich auch nachvollziehen, warum das Leben nichts anderes sein kann als etwas, das modifiziert werden kann. Daher spricht Kant von einem „selbstgewirkten“24 Gefühl. Damit meint er, dass dieses Gefühl nicht von der Affizierung eines körperlichen Dinges hervor18

Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 169. Ebd., S. 173. 20 Ebd., S. 185. 21 Ebd., S. 225. 22 Michael Thompson: Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought, Cambridge/London 2008, S. 192. 23 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 246. 24 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, S. 401 Fußnote. 19

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gebracht wird, sondern, dass es das Leben als einheitlichen Zusammenhang fasst und sich daher im Einklang mit den eigenen Lebenseinstellungen befindet. Der Anspruch auf Kohärenz über die Zeit hinweg, der in der Maxime „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“ enthalten ist, lässt sich in Bezug auf ein komplexes Netzwerk verstehen, in dem die Handlungen nicht unabhängig voneinander stehen. Denn unsere Handlungen sind keine isolierten Akte, sondern Elemente unseres Lebensplans. Die Achtung charakterisiert daher eine bestimmte Art von Gefühl, das nicht in Bezug auf etwas außerhalb des Subjekts entsteht, wie im Fall der Angst vor einem Gegenstand, sondern in Bezug auf eine als einheitlich verstandene Idee von sich selbst: „Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden.“ 25

Ohne die Einsicht der menschlichen Angewiesenheit auf seine körperliche Beschaffenheit zu verlieren, kann einsichtig gemacht werden, wie das eigene Leben etwas sein kann, das der Mensch gänzlich aus sich selbst hervorbringt. In dieser Auffassung liegt der Grund dafür, warum die anthropologische Erkenntnis sich auf unterschiedliche menschliche Dimensionen bezieht, nämlich auf die Natur, das, was tatsächlich geschieht, auf das Virtuelle und auf das Normative,26 oder wie Kant in seiner Vorrede zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht programmatisch formuliert27 und in Bezug auf die die menschliche Beschaffenheit ausmachenden Anlagen wiederholt: „Die beiden ersteren Anlagen zeigen an, was sich aus dem Menschen machen läßt; die zweite (moralische), was er aus sich selbst zu machen bereit ist“28. Damit ist behauptet, dass Leben nicht nur Thema von Reflexionen innerhalb der Biologie ist, sondern auch die Hauptfrage in Kants Anthropologie darstellt. In diesen kursorischen Überlegungen sollte nur angedeutet werden, dass man keine Kenntnis vom Menschen ohne jeden Rekurs auf den Körper erwerben kann, sei es auf elementarer oder auf gesteigerter Ebene. Für diese Einsichten, die sowohl für die Interpretation von Kants Philosophie als auch für das systematische Verständnis des menschlichen Bewusstseins sehr lehrreich sind, bin ich Herrn Gerhardt dankbar.

25

Ebd.; H. v. m. Birgit Recki: Kant. Vernunftgewirkte Gefühle, in: Hilge Landweer/Ursula Renz/ Alexander Brungs (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin/New York 2008, S. 457–478. 27 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, S. 119. 28 Ebd., S. 285. 26

Lebensgefühl Notiz zu einem Begriff aus der Analytik des Schönen Rahel Villinger Im Urteil über das Schöne, schreibt Kant im § 1 der Kritik der Urteilskraft, „wird die Vorstellung [des schönen Gegenstands] gänzlich [. . .] auf das Lebensgefühl [des Subjekts] bezogen [. . .]; welches ein ganz besonderes Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen gründet.“1 Aber welches Gefühl ist hier gemeint, das eigentümlicher Grund unseres Urteils über Schönheit sein soll? Woran fühlen wir, dass etwas schön sei? Um die Bedeutung dieser Frage deutlich zu machen: Das Schöne ist mit Kant definiert als Gegenstand eines ästhetischen Urteils, d. h. eines Urteils, das bloß auf dem Gefühl eines Einzelnen basiert. Trotz seiner Basis auf bloßem Gefühl jedoch macht jenes Urteil Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Schön ist mit anderen Worten genau das, was der Einzelne aufgrund seines Gefühl als ein solches beurteilt, das jeder andere ebenso beurteilen, d. h. als schön anerkennen müsste.2 Der Anspruch, der mit einem solchen „Geschmacksurteil“, wie Kant es nennt, immer schon erhoben wird, ist also folgender: In dem (idealen) Fall, dass andere denselben Gegenstand durch Gefühl beurteilen, kann ich erwarten, dass sie meinem Urteil zustimmen. Wir nehmen an, schreibt Kant weiter, dass unser Gefühl für den betrachteten Gegenstand eine allgemeine, wenn auch unbestimmte und begrifflich nicht definierbare Regel der Schönheit anzeige.3 Daher die Frage, was das für ein Gefühl sei, aufgrund dessen wir uns anmaßen4, jedem Zustimmung zum eigenen Urteil anzusinnen, gar annehmen, eine ästhetische Norm zu exemplifizieren? „Gefühl der Lust“ nennt es Kant, oder eben auch: „Lebensgefühl.“5 Aber was ist hier mit „Leben“ gemeint? Was ist es, das da gefühlt wird, angesichts des Schönen? Kant hat versucht zu erklären, warum wir berechtigt sind, Allgemeingültigkeit unserer Geschmacksurteile zu behaupten. Ich will diese Erklärung hier nur 1 2 3 4 5

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, AA 5, S. 204. Vgl. ebd., S. 211 f., S. 214 ff., S. 237, S. 239 f. Vgl. ebd., S. 237–240. Ebd., S. 239. Ebd., S. 204.

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Rahel Villinger

in Umrissen skizzieren. Was mich interessiert, sind die Aufschlüsse, die sie über ein „Lebensgefühl“ gibt, das eine ganz besondere Sorte von Urteilen begründet. Mit Kant ist jenes Gefühl der Effekt eines „freien“ und „harmonischen Spiels“ von Einbildungskraft und Verstand.6 Sinnliche Anschauungen der Einbildungskraft, d. h. konkrete und individuelle Repräsentationen von z. B. Gesehenem oder Gehörtem, werden frei mit Verstandesbegriffen assoziiert. In der Betrachtung des Schönen „befördern“ sich jene zwei Kräfte der menschlichen Erkenntnis „wechselseitig“7: Sie stehen in einem zweckmäßigen Verhältnis derart, dass die ihnen jeweils eigenen Repräsentationen (Anschauungen bzw. Begriffe) einander gegenseitig hervorrufen. So werden die Vorstellungsvermögen in eine sich selbst erhaltende und selbst stärkende Beschäftigung versetzt. Und die Rechtfertigung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit für ein Urteil, das auf dem Gefühl dieser zweckmäßigen Produktivität beruht, ist dann folgende: Das beschriebene Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand ist für empirische Erkenntnis, d. h. für Wahrnehmung, immer erforderlich. Jenes Verhältnis, das nur gefühlt werden kann, ist also deshalb die Basis eines allgemeingültigen ästhetischen Urteils, weil es die Basis eines jeden objektiven und damit allgemeingültigen Wahrnehmungsurteils ist. Im Letzteren wird ein Objekt erkannt durch Anwendung bestimmter Begriffe auf eine gegebene Anschauung der Einbildungskraft. Im Geschmacksurteil dagegen wird nur die Basis oder das Potenzial zur begrifflich-objektiven Erkenntnis gefühlt, sie selbst jedoch nicht vollzogen. Mit anderen Worten, wenn Erkenntnisse per definitionem allgemein mitteilbar sind, dann gründet sich das Urteil über Schönheit subjektiv auf die allgemeine Mitteilbarkeit, d. h. auf das vom Einzelnen (nur) gefühlte Vermögen der Mitteilung seiner Vorstellungen überhaupt. Ich lasse diese Erklärung Kants hier dahingestellt, werde die Reihe bekannter, wichtiger und kontroverser exegetischer Fragen an die umrissene Theorie überspringen und im Folgenden eine Lesart des in ihr verwendeten Begriffs vom „Leben“ einmal skizzenhaft anvisieren. „Lebensgefühl“ – damit meint Kant nicht einfach die bewusste Empfindung der körperlich-physiologischen Existenz. Er meint nicht primär, dass ich mein Leben im biologischen Sinn spüre, den Verbrauch und die Regeneration physischer Energien. Was er meint, ist vielmehr etwas, das Hannah Arendt zum „Leben des Geistes“ gezählt hat. Der Begriff „Leben“ steht damit emphatisch für die mediale Teilhabe an einer Gemeinschaft und gemeinschaftlich gemachter Welt: Die Form eines schönen Dinges stellt meine Vorstellungen (von Dingen und Ereignissen), die meiner räumlich und zeitlich singulären Leiblichkeit

6 7

Vgl. ebd., S. 219, S. 228, S. 238. Vgl. Kant: Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, AA 20, S. 220 f.

Lebensgefühl

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nur sinnlich, und d. h. auch: einmalig, gegeben sind, in einen Horizont der Mitteilbarkeit. Sie macht mir ein medial-gestalterisches Vermögen bewusst, dem, was ich unmittelbar einzigartig vorstelle, dabei immer schon allgemein mitteilbare Bedeutung zu verleihen. Kurz, mein Leben ist das, was mir selbst individuell zukommt und ich dennoch als mit anderen teilbar erfahre. Und genauer, dieses Leben ist nicht erst nachträglich, sekundär mitteilbar, sondern überhaupt nur als schon Mitteilbares gefühlt und bewusst. Das Schreckliche und Unheimliche – die Verlassenheit eines Menschen – kann sich im Eindruck von Wirklichkeitsverlust manifestieren, in einer sich plötzlich aufdringenden, schwindelerregenden Vorstellung, gleichsam aus der Zeit herausgefallen und der Welt verloren zu sein. Aber wie wir leiden können an derart „reduzierter“ Wirklichkeit, am Mangel von Wahrnehmung der eigenen Existenz – so ist Schönes das, was unser Leben wieder fühlbar machen kann. Solche ästhetische Erfahrung besteht nicht in einer begrifflichen Realisation der Mitteilbarkeit eigener Vorstellungen, sondern in faktisch-konkreter Manifestation einer Teilhabe an gemeinschaftlicher Erfahrung. Nicht immer müssen andere dafür leiblich anwesend sein. Auch wenn ich allein einen schönen Gegenstand betrachtete, die Rezeptivität und Aktivität meiner Vorstellungskräfte, die diese Betrachtung auslösen könnte, wären fühlbar, Gefühl des subjektiven Vermögens der Mitteilbarkeit meiner Vorstellungen überhaupt. Und ohne dass ich sagen könnte, warum, es wäre ein Gefühl meines Lebens, d. h. der Zugehörigkeit zur von Menschen geteilten Welt.

Life and Reason in Kant’s Practical Philosophy Oliver Thorndike In Immanuel Kant: Vernunft und Leben, Volker Gerhardt remarks that a priori concepts do not fall from the heavens right into philosophy books.1 Gerhardt notes that one of the main reasons why it seems so difficult to understand Kant’s notion of the a priori is that we try to understand it in abstraction from the empirical. Against the background of many rigorist interpretations of Kant’s practical philosophy such a reminder is well suited: Kant’s notion of practical reason cannot be comprehended without Kant’s conception of life. In turn, Kant’s conception of life is essentially bound to the practical self-experience of agency. In what follows I will highlight aspects of Kant’s practical philosophy that endorse Gerhardt’s reading of the inter-connectedness of life and reason. For Kant, matter is exclusively governed by external mechanical forces. Life is conceived in opposition to such a conception of inert matter. Life is the faculty of a substance to determine itself to act from an internal principle.2 In the case of the human being this inner principle is called the faculty of desire, and it is essentially responsive both to reason and to circumstances. Roughly, this means the following: The human being perceives something in the world as meaningful.3 Given what is, the human being then devises a plan, which projects certain ends as desirable and rejects others. The human being’s response to the environment thus determines what ought to be the case. This devising a plan must be thought of as independent of the law of mechanistic causality that governs inert matter. For otherwise I could not conceive of an action as my action.4 In order to conceive of ourselves as agents, i. e., as the authors of our conduct, we have to attribute to ourselves, from a practical perspective, the capacity to be the first cause of our actions. Practical spontaneity is the capacity to determine ourselves to action (independently of the necessitation of external 1

Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, p. 185. For example: Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, AA 2, p. 327; Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4, p. 544; Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, p. 211. 3 On the connection between sensibility and meaning, see: Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt. München 2000, pp. 106–108. 4 For example: Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 450/B 478; Kant: Metaphysik L1, AA 28, pp. 268–269; Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, p. 446. 2

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impulses). Kant’s perspective on organisms is now essentially governed by this notion of an inner principle. Without the assumption of some intelligent cause (which we only know from our own experience as agents) the concept of organisms would be fanciful and empty for us.5 It is our own capacity to exempt ourselves from the mere mechanistic laws of nature that provides the clue to understand natural purposes. Yet this inner (intellectual) principle on which human agency is grounded presupposes an external (empirical) world: We perceive something in the external world, then we determine ourselves to action from an inner principle, and then we act again in the external world. Inner and outer reciprocally imply each other. Both Kant’s notion of life and reason share this aspect. How intricately connected life and reason are in Kant’s thought can further be elucidated by Kant’s notion of a maxim.6 If agent A seriously wills x, and y are the available means to attain x, then agent A acts irrationally if she does not do y. Reason issues an imperative (albeit a hypothetical one) that demands that A does y; and the ground of this practical necessitation is nothing but A’s own practical decision to will x. No external authority compels A to do y (otherwise she wouldn’t be the author of her action). Rather, A ought to do y because this is what her own practical reason dictates against the background of competing desires or weaknesses of the will. Hypothetical imperatives are thus an application of the idea of self-determination (reason) to sensibility in general. But, we may ask, what is the connection between life and reason in Kant’s conception of the categorical imperative? It seems that categorical precepts remain independent of any embedding of agents in the empirical world – or so goes the rigorist story. Indeed, Kant claims that moral precepts hold for all rational beings (and not only for human beings).7 Doesn’t that mean that, after all, there is something that falls from the heavens (i. e., pure reason) right into philosophy books? What does Kant mean when he says that moral precepts are derived from reason?8 Take the following example: In this empirical world, servility sometimes serves an agent’s career hopes and prudential self-interest very well. However, servile behavior entirely undermines the faculty of giving the law to oneself.9 5 Kant: Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, AA 8, p. 181. 6 The following remarks are indebted to: Christine Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends. Cambridge 1996. Barbara Herman: The Practice of Moral Judgment. Cambridge 1993. Konstantin Pollok: Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative, in: Kant-Studien 98 (2007), pp. 57–80. 7 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, p. 389. 8 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, pp. 410, 421, 423–424, 429, 430, etc.

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The prohibition of servility is thus an example of a duty which can be “derived” from Kant’s conception of self-determination (reason) under empirical anthropological conditions (life). A servile person does not act from her own reasons.10 From the categorical imperative alone the prohibition on servility can certainly not be derived. That servility is one condition which makes rational self-determination impossible, and that there is thus a prohibition on servility can only be known empirically: for, in a world where servile behavior would never be rewarded, servility would not be an option. Nor can we know a priori what kind of behavior counts as servile. But what we can know a priori is that personhood is bound to the idea of being the first cause of one’s own actions, and that any self-determination undermining that capacity will be practically self-contradictory. A servile person makes himself into a plaything, i. e., he deprives himself of his human life. The prohibition on servility thus holds a priori, despite the fact that the phenomenon of servility is embedded in an anthropological, social, and natural context. Kant’s point is that no psychological or historical genealogy of servility can explain why servile behavior should be prohibited. Only the idea of self-determination can make this clear. It is in this sense that Kant claims that moral precepts hold for all rational beings. The capacity of law-giving reason is undermined by servile behavior. It is in virtue merely of reason (and not in virtue of human nature) that there are moral commands. But this is not to say that we could meaningfully talk about reason’s commands without its connection to the empirical life. Kant conceives of ethics as a doctrine of virtue, where virtue is understood as self-constraint (i. e., strength in overcoming hindrances to practical reason).11 What precisely these hindrances are is empirical and open-ended.12 Accordingly, Kant says in the second edition of the Critique of Pure Reason that although the principle of morality is a priori (i. e., the idea of self-determination), the concepts of desire and inclination, “which are all of empirical origin”, must necessarily be included in the composition of the system of duties.13 Kant’s account of ethics is designed to deal with the empirical variety of “different situations in which human beings 9 Cf. Andrea Marlen Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart/Bad Cannstatt 2004, pp. 366–370. 10 Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, p. 420. Cf. Jens Timmermann: Kantian Duties to the Self, Explained and Defended, in: Philosophy: The Journal of the Royal Institute of Philosophy, Vol. 81, 2006, pp. 505–530. 11 Kant: Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, AA 23, p. 388. 12 Kant stresses how important empirical observations are to elucidate the conditions under which phenomena such as avarice, love of honor, or servility occur, so that we may better develop the strength (virtue) to act consistently with our faculty of selfdetermination (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 54–55/B 78–79). On this point see my: Understanding Kant’s Claim that “Morality cannot be without Anthropology,” in: Pablo Muchnik (ed.): Rethinking Kant, Cambridge 2008, pp. 109–135. 13 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 29. All quotations in English are taken from The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant.

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may find themselves.”14 For, as Kant points out against Cochius, if virtue were not flexible it could not adapt to varying situations, and in this case, “like any other mechanism of technically practical reason, it is neither armed for all situations nor adequately secured against the changes that new temptations could bring about.”15 It is again the contrast between life and (dead) mechanism that motivates Kant’s dynamic conception of ethics, which is equipped to deal with changing circumstances, to which virtuous action must respond. As we learn from the Doctrine of Method in the Critique of Practical Reason, such moral responses to the environment are embedded in a moral education. Human beings are trained by examples, not by abstract codifications. This moral education contains the development of moral feelings such as conscience, self-respect, and benevolence.16 Kant argues that our conceptual comprehension of moral agency is essentially bound to such feelings. His writings contain an abundance of empirical observations regarding the feelings that accompany immoral behavior. There is the disgust, the contempt in one’s own eyes that announces a morally salient situation in which we violate a duty towards ourselves. We say things like: I owe it to my self; I am letting my self down.17 How are these feelings possible? Without the feeling of self-respect, Kant says, we would not be susceptible to the concept of duty towards ourselves.18 We feel that we are letting ourselves down. What precisely it is that we owe to ourselves and where we lose our self-respect is empirical. However, the very notion of the feeling of self-respect presupposes the concept of rational agency. Only an agent who violates her own rationality can experience the humiliating feeling of self-contempt. Kant usually puts this in terms of the two aspects of human character: phenomenal and noumenal. Again life and reason are inseparable.

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Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, p. 392. My emphasis. Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, pp. 383–384. 16 Needless to say that Kant’s conception of feeling is embedded in his notion of life. Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, p. 211. 17 Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, pp. 402–403, 418 n, 434, 436; Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, p. 73, etc. 18 Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, pp. 399–403. 15

Philosophie des Lebens Skizze und historische Perspektivierung einer Problemstellung Markus Kartheininger Mit Schopenhauer vollzog sich offenbar eine grundsätzliche Wende im philosophischen Denken. Denn Schopenhauer fragt nicht mehr nach dem Wesen, sondern nach dem Wert der Welt – und zwar nach dem Wert der Welt für den Menschen und sein Leben. Mit Stolz läßt der Jüngling im Gespräch Goethe wissen, dass er „,sich vorgesetzt hatte, über das Leben nachzudenken‘, weil es – das Leben – ,eine mißliche Sache ist‘“. Den in diesem Vorsatz impliziten neuen Begriff von Philosophie formuliert Schopenhauer denn auch in dem Brief, in dem er seinem Verleger Brockhaus sein Hauptwerk anbietet: Es enthalte „seine [sic!] Philosophie“. Denn der Inhalt der Philosophie sei ja kein anderer, als der „Gedanke, mit dem ein individueller Geist auf den Eindruck, den die Welt auf ihn gemacht, reagiere“1. Schopenhauers Begriff der Philosophie ist neu und merkwürdig, weil er den individuellen Menschen und sein Leben ins Zentrum stellt, während die Tradition ja bis ins 18. Jahrhundert von den Philosophen als den „Weltweisen“ und entsprechend von der Philosophie als der „Weltweisheit“ gesprochen hatte. Folgt man allerdings einer Wiederentdeckung in der jüngeren Kant-Forschung,2 so stand Schopenhauer in seiner Wende zur „Lebensanschauung“ auf den Schultern eines anderen. In der Tat war es Kant, bei dem erstmals eine Philosophie des Lebens an die Stelle einer Philosophie der Welt tritt. Die Welt wird monistisch. Die „Metaphysik“ wird im Theoretischen zertrümmert, ersteht aber im Praktischen wieder auf – d. h. der Mensch wird nun dualistisch.3 In gewissem Sinne kann man daher sagen, dass sich in Kant die Wende vom kosmologischen zum anthropologischen Paradigma vollzieht. Aber weil der Mensch im Zuge dieser Verschiebung des philosophischen Orientierungsrahmens nun „dualistisch“ wird, muss diese Anthropologie eine „anthropologia transcendentalis“ sein. Eine solche philosophische Anthropologie, „die freilich den ganzen Menschen zu erfassen sucht, 1

Zit. nach: Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1996, S. 9. Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. 3 Vgl. Hans Ehrenberg: Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus, Bd. 1 „Fichte. Der Disputation Erstes Buch“, München 1923, S. 18 ff. 2

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damit auch sein Selbstverständnis einbezieht [. . ., umfaßt] somit empirische wie auch nichtempirische Elemente“4. Anders formuliert: Kant unterscheidet theoretische und praktische Vernunft; oder genauer: Es gibt eine Vernunft, von der es einen theoretischen und einen praktischen Gebrauch gibt. Der theoretische Gebrauch geht auf die Erkenntnis der Welt, das Reich der Erscheinungen; der praktische Gebrauch aber betrifft die Menschen- und Lebenserkenntnis. Und diese erhält nun in der kantischen Architektonik den Primat! Während Diogenes, der Philosoph in der Tonne, den Geist des Denkenden gegen den des Handelnden vertritt, ergreift Kant die Partei des Handelnden.5 Aber Kant setzt zugleich den Geist des Diogenes fort: „Denn wieder wird das Leben in der Vernunft über das natürliche Leben gesetzt, [sofern Kant] die erhabene Idee der Vernunfterfüllung im wirklichen Leben [errichtet]. [. . .] Wieder wird hier der Mensch zum Maß aller Dinge; aber der Mensch hat sich verwandelt, seit er bei den Alten zum Maß seines Lebens eingesetzt worden. Damals fühlte er sich als Herrscher, heute als Diener. Kant entdeckt im Menschen ein übernatürliches Wesen“6.

Damit ist in ersten Umrissen die Problemstellung einer Philosophie des Lebens gewonnen. Heute geht es nicht zuletzt darum, den – nicht nur durch die Richtung, die die Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert seit Schopenhauer genommen hat – gelockerten Konnex zwischen dem „Leben in der Vernunft“ und dem „natürlichen Leben“ zu sichern. „Das Problem liegt [. . .] in dem offenbar verlorenen Wirkungszusammenhang von Vernunft und Leben, genauer: in dem vermuteten Widerspruch zwischen menschlicher Vernunft und menschlichem Leben“7. In dem eng begrenzten Rahmen, der meinem Beitrag in diesem Band gesteckt ist, kann es nur darum gehen, diese Problemstellung einer Philosophie des Lebens auszuloten und historisch zu perspektivieren. Die übergreifende Bedeutung der Problemstellung lässt sich konkretisieren, wenn man von Kant nochmals zurück und nach vorn blickt: zurück auf den Hebräer-Brief und nach vorn auf den Deutschen Idealismus und die Lebenswissenschaften, die im 20. Jahrhundert eine große Relevanz gewonnen haben.

4 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 98. 5 „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe darin weiterzukommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurechtgebracht . . .“ (Immanuel Kant: Reflexion aus dem Jahr 1768; hier zitiert nach: Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der kantischen Kritik, Tübingen 1967, S. 60). 6 Hans Ehrenberg: Disputation, Bd. 1, ebd., S. 24. 7 Volker Gerhardt: Vernunft und Leben. Eine Annäherung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 43 (1995) 4, S. 591–609, hier: S. 593.

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Der zunächst vielleicht überraschend anmutende Rückblick auf den HebräerBrief wird von Kant selbst nahegelegt. Denn die Vereinbarkeit von autonomer Moralität einerseits und dem sinnlichen Bedürfnis des endlichen Menschen nach Glückseligkeit andererseits ist eigentlich das, was wir nach Kant hoffen dürfen. Die Hoffnung aber basiert auf dem Glauben an das höhere Leben, das wir freilich der kritischen Philosophie zufolge nur glauben dürfen, weil wir von ihm wissen, dass wir es nicht wissen können.8 Dieser Zusammenhang, der der Problemstellung einer Philosophie des Lebens zugrunde liegt, ist nun wirkmächtig erstmals im elften Kapitel des Hebräer-Briefs formuliert, wenn es da heißt: „Der Glaube aber ist eine Verwirklichung [hypostasis; auch: Grundlage, Substanz] dessen, was man hofft, ein Überführtsein [elenchos; auch: Beweis] von Dingen, die man nicht sieht“. Analog zu Kant ist also auch dem Christen durch den Glauben etwas geschenkt, es ist in ihm keimhaft bereits eine höhere Substanz, ein höheres Leben da, auf dessen Realisierung in und Vereinbarung mit dem natürlichen Leben zu hoffen ist. Diese Hoffnung aber basiert auf dem „Beweis“ eines noch Unsichtbaren im gegenwärtig bereits Gegebenen: dem im Glauben in der Gegenwart bereits gegebenen höheren Leben. Dieses höhere Leben nennt das Christentum das „ewige Leben“. Natürlich kann gefragt werden, ob der Mensch das, was das Christentum zu unterstellen scheint, tatsächlich will: nämlich „ewig“ zu leben. Aber diese Frage beruht auf einem Missverständnis, das in der Nichtbeachtung der Unterscheidung zwischen dem natürlichen und dem höheren Leben gründet. Und „offenbar gibt es da einen Widerspruch in unserer Haltung, der auf eine innere Widersprüchlichkeit unserer Existenz selbst verweist. Einerseits wollen wir nicht sterben [. . .]. Aber andererseits möchten wir doch auch nicht endlos so weiter existieren, und auch die Erde ist dafür nicht geschaffen. Was wollen wir also eigentlich? Diese Paradoxie unserer eigenen Haltung löst eine tiefere Frage aus: Was ist das eigentlich ,Leben‘? Und was bedeutet das eigentlich ,Ewigkeit‘? Es gibt Augenblicke, in denen wir plötzlich spüren: Ja, das wäre es eigentlich – das wahre ,Leben‘ – so müßte es sein. Daneben ist das, was wir alltäglich ,Leben‘ nennen, gar nicht wirklich Leben“9.

Die Rede vom „ewigen Leben“ ist daher eine vielleicht unbeholfene, wenngleich kaum zu vermeidende Ausdrucksweise aus der Zeitlichkeit heraus, in der wir befangen sind. Sie ist irritierend, weil in ihr eine schlechte Unendlichkeit, das endlose Fortexistieren des mühseligen alltäglichen Lebens anklingt, das im Lichte des höheren Lebens eigentlich gar nicht wirklich Leben ist. Das höhere Leben, im Lichte dessen der Alltag zuallererst als „nicht wirkliches Leben“ erfahren wird, kennen wir im strengen Sinn gar nicht. Auch darin präformiert das

8

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 805 ff./B 833 ff. Benedikt XVI: Auf Hoffnung hin gerettet. Die Enzyklika „Spe Salvi“, Freiburg 2008, § 11. 9

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Christentum bereits Kants Zurückweisung des Anspruchs, das höhere Leben theoretisch zu wissen: „Wir kennen es gar nicht; selbst solche Augenblicke, in denen wir es zu berühren meinen, erreichen es nicht wirklich. (. . .) Wir wissen nur: Das ist es nicht. Im Nichtwissen wissen wir doch, daß es sein muß. ,Es gibt da, um es so auszudrücken, eine gewisse wissende Unwissenheit‘ (docta ignorantia)“10.

Obgleich das uns eigentlich unbekannte höhere Leben nicht gewusst wird, steckt in dieser Erfahrung letztlich im Keim bereits der Abschied von der Philosophie als „Weltweisheit“, die Aushebelung der antiken Kosmologie. Die griechische Welt war eine Welt ohne Zukunft. Die theoretische Schau des Kosmos und der Gestirne war Aristoteles ein in sich befriedigender Zustand, ein Genügen an der Gegenwart. Diese Autarkie des Schauens ist abgeleitet von der Autarkie des Geschauten. Die Gegenwart ist ewig, der Kosmos ist schon in Ordnung; er muss nicht erst durch den Menschen in Ordnung gebracht werden. Überhaupt ist das menschliche Leben eine „ganz kleine Nummer“ in der ewigen Ordnung. Die Würde und der Rang des Kosmos übertreffen den Menschen und sein Leben bei Weitem. Nun aber, kraft der Erfahrung des höheren Lebens, erfährt die „ewige“ Ordnung des Kosmos eine Herabstufung. Denn wird der Mensch in der Erfahrung des „Unbekannten“ über das natürliche Leben hinausgetrieben, „dann ist wirklich die unerbittliche Macht der materiellen Ordnungen nicht mehr das Letzte; dann sind wir nicht Sklaven des Alls und seiner Gesetze, dann sind wir frei. [. . .] Das Leben ist nicht bloßes Produkt der Gesetze und des Zufalls der Materie, sondern in allem und zugleich über allem [. . .] steht Geist“11.

Die Philosophie des Lebens, die diese Erfahrung im philosophischen Denken geltend macht, ist daher zugleich eine Philosophie der Freiheit. Eine solche Philosophie des Lebens und der Freiheit, die die zunächst im Christentum artikulierte Erfahrung nun im philosophischen Denken geltend macht, ist auf den ersten Blick zweifellos eine feine Sache. Aber geht das? Kann die Philosophie sich auf den Glauben bauen? Oder anders gefragt: Was ist das für eine Erkenntnis, die uns theoretisch verwehrt und „praktisch“ doch zugänglich sein soll? Ist die „praktische Erkenntnis“, sofern sie nun von der Philosophie als Erkenntnis beansprucht wird, nicht auch Erkenntnis, also: theoretisch? Ist die „Kritik“ der theoretischen Vernunft nicht selbst Theorie? Und was wird aus der Welt, dem Ganzen, der Totalität der Erscheinungen, worauf die traditionelle Philosophie qua Philosophie primär zielte? Im Christentum wurde der ewige Kosmos zur geschaffenen Welt herabgestuft: zur Welt, die noch nicht fertig, noch nicht in Ordnung ist, die aber die Bestimmung zur Voll10 11

Ebd. Ebd., § 5.

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endung in sich trägt. Kant jedoch „hat die Weltfrage durch die Antinomien in seiner Weise gelöst, aber er hat die Antinomien selber nicht verstanden. Er hätte mit ihnen einen neuen Weltbegriff bilden müssen, und das ist ihm nicht gelungen“12. So fragen und fordern es die – um mit Schopenhauer zu sprechen – „drei Schurken“, die auf Kant folgen. Gleichwohl bedeutete Kant für Fichte, Schelling und Hegel zweifellos einen Befreiungsschlag, der die Bewegung des deutschen Idealismus in Gang setzte. Kant befreite das Leben von der Tyrannis des Denkens, der griechischen Metaphysik, der die christliche Menschheit ihre Begriffe entlehnt hatte, um ihr Weltgebäude zu zimmern. Aber der nun befreite Geist, das höhere Leben, fühlt sich nun nicht mehr heimisch in der Welt, die ja trotz allem bleibt. Das „Ich“ wird in seinem Vorwärtsdrang gehemmt durch das retardierende Moment des „NichtIchs“, das „Es“ der gefallenen Welt, die zwar zum Reich der Erscheinungen erniedrigt wurde, aber gleichwohl nicht verschwinden wollte. In der Einleitung zur Reichsverfassungsschrift um 1800 sinniert Hegel dieser Lage nach. Das alte Reich und mit ihm die alte Welt scheinen endlich unterzugehen. Gut! Denn das Leben „haust“ längst nicht mehr in diesem Reich. „Der immer sich vergrößernde Widerspruch zwischen dem Unbekannten [sic!], das die Menschen bewußtlos suchen, und dem Leben, das ihnen geboten und erlaubt wird und das sie zu dem ihrigen machten, die Sehnsucht derer nach Leben, welche die Natur zur Idee in sich hervorgearbeitet haben, enthalten das Streben gegenseitiger Annäherung“13.

Die zwei Momente des Lebens, das natürliche und das Leben im Geist, werden hier von Hegel wie in Hölderlins Hyperion auf zwei Gruppen verteilt. Die einen, die Alabanda-Naturen, sind im natürlichen Leben befangen. Gezogen vom „Unbekannten“ verspüren sie aber ein Ungenügen an dem Leben, das die Zeit ihnen bietet. Der dumpfe Drang nach Veränderung sucht nach einem klaren Bewusstsein dessen, was ihn treibt. Die anderen, die Hyperion-Naturen, haben dieses Bewusstsein schon erlangt und „zur Idee in sich hervorgearbeitet“. Sie haben sich aber dem natürlichen Leben entfremdet, sind merkwürdig skrupulös und suchen nach einem Weg zurück ins Leben, nach der Verwirklichung der Idee. Die Versöhnung, so viel ist Hegel klar, „kann nicht Gegenstand einer absichtlichen Tätigkeit sein“. Und somit sind die Schranken auch nicht durch Gewalt zu beseitigen, denn „das Schicksal [bleibt], was es ist [. . .] – die Schranke wird durch Gewalt nicht vom Leben getrennt; fremde Gewalt ist Besonderes gegen 12

Hans Ehrenberg: Disputation, Bd. 1, ebd., S. 21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Verfassung Deutschlands. In: Werke, Bd. 1, Frankfurt 1994, S. 457 (alle folgenden Zitate ebd., S. 458 ff.). Ich folge in meiner Deutung des dunklen Textes der bis heute vorbildlichen Auslegung von Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat, 2 Bde, München 1920, hier vor allem Bd. 1, S. 91 ff. 13

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Besonderes, der Raub eines Eigentums, ein neues Leiden“. Die gegenseitige Annäherung ist nach Hegel vielmehr von der Wandlung des Schicksals in sich selbst: von der Geschichte zu erwarten. Und im sich ankündigenden Untergang des alten Reichs und der Freiheitsbewegung „haucht“ die Zeit ja schon ein „besseres Leben“ an.14 Folgt man dann dem ausgearbeiteten System Hegels, so hat schließlich das höhere Leben sich doch vom natürlichen befreien, dieses sich untertan machen und zur bloßen Basis herabsetzen können. Die Natur war an sich schon Geist gewesen; aber er musste sich aus dieser ihm inadäquaten Daseinsform im Gang der Geschichte befreien und entpuppen, um die Natur schließlich zu umgreifen.15 Die Christen waren zunächst skeptisch und kamen dann zu dem Schluss, dass die im Glauben verheißene Befreiung anders zu verstehen und die Zeit doch noch nicht erfüllt sei. Und auch die anderen rieben sich bald erstaunt die Augen angesichts der Auskunft, dass die Geschichte nun schon zu Ende sei und Endliches und Unendliches versöhnt wären. Sie hätten nämlich von der substanziellen Wandlung und Veränderung in ihrem Leben gar nichts bemerkt. Man verlegte sich daher auf die wissenschaftliche Erforschung des Lebens und seiner Bedingungen. Aber die wissenschaftliche Thematisierung verobjektiviert und parzelliert notwendig in der Bestimmung ihren Gegenstand. Darin wird das Leben dem Reich der Erscheinungen zugeschlagen. Das wirkliche Leben, wie es in der Erfahrung zugänglich ist, wird in der Objektivierung gerade nicht mehr getroffen. Vielleicht hat niemand eingehender als Fichte in seinen Wissenschaftslehren das wirkliche Leben im Wissen zu thematisieren versucht, ohne es zu vergegenständlichen: nämlich als intransitives Wissen, das in allem gegenständlichen Wissen in vorreflexiver Vertrautheit im Hintergrund präsent ist und alles übrige Wissen trägt, das aber zugleich in der „Verfallenheit“ des theoretischen Zugriffs verfehlt wird. Damit ist kein genereller Einspruch gegen die wissenschaftliche Erforschung des „Lebens“ erhoben. Die darin gewonnenen Kenntnisse und die hieraus zu erreichenden Verbesserungen der Lebensbedingungen können durchaus von Nutzen sein. Allein, „befreien“ lässt sich der Mensch nur „von innen“, nicht „von außen“ durch die Verbesserung der materiellen Bedingungen oder der politischen Strukturen. Wenn die Philosophie des Lebens auch nicht den letztendlichen Sieg des höheren Lebens im Geist über das natürliche Leben verkünden kann, da ein solcher von jedem Individuum und jeder Generation je neu zu leis-

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Hegel: Die Verfassung Deutschlands, ebd., S. 458 f. „Der Schein, als ob der Geist durch ein Anderes vermittelt sei, wird vom Geiste selber aufgehoben, da dieser sozusagen die souveräne Undankbarkeit hat, dasjenige, durch welches er vermittelt scheint, aufzuheben, zu mediatisieren, zu einem nur durch ihn Bestehenden herabzusetzen und sich auf diese Weise vollkommen selbständig zu machen“ (Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 381 Z). 15

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ten ist, so hat eine Philosophie des Lebens doch die Rückbindung allen Wissens an das „unbekannte“ eigentliche Leben zu wahren – auch wenn sich dieses letztlich dem theoretisch-begrifflichen Zugriff entzieht und im Dunkeln bleibt.16 Dies scheint in der Tat die Aufgabenstellung einer Philosophie des Lebens zu sein, die in der Nachfolge des Christentums und Kants nicht länger wie die „Alten“ den Geist des Denkenden gegen den des Handelnden vertreten will, sondern für letzteren Partei ergreift.

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Vgl. Volker Gerhardt (1995), S. 602.

Bürgerliches Leben und praktische Philosophie Zu Joachim Ritters Deutung des aristotelischen „bios politikos“ Mark Schweda Als Joachim Ritter seine ersten Schritte auf philosophischem Terrain unternahm, schien das bürgerliche Leben einem zu Ende gehenden Zeitalter anzugehören. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und der folgenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche war weithin – teils wehmütig, teils hoffnungsvoll – von der Krise des Bürgertums und dem Untergang der alten, bürgerlichen Welt die Rede.1 Und der Begriff des Lebens, den sich vor allem Gelehrte und Intellektuelle der jüngeren Generation damals auf die Fahnen schrieben, stand zumeist für alles andere als bürgerliche Ideen und Einstellungen und gewann sein Profil vielfach erst in programmatischer Abgrenzung von ihnen.2 Ritter selbst hat diese Vorgänge von Anfang an mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. In den Spuren seines Hamburger Lehrers Ernst Cassirer kritisierte er die zeitgenössischen Tendenzen, den Begriff des Lebens gegen Geist, Vernunft und die an ihnen ausgerichtete bürgerliche Kultur auszuspielen. Die philosophischen, weltanschaulichen und politischen Implikationen der Antithese wurden ihm in der Davoser Disputation zwischen Cassirer und Martin Heidegger anschaulich vor Augen geführt. Unter dem Eindruck der Auseinandersetzung, deren Protokoll er seinerzeit anfertigte, spitzt Ritter den aufgeklärten Humanismus seines Lehrers dahin gehend zu, „dass nicht der Geist ein Phänomen des menschlichen Lebens ist, sondern umgekehrt das Phänomen des menschlichen Lebens auf der Geistigkeit [. . .] beruht.“3 Dass damit jedoch die Krise, in die das zugrunde liegende Menschenbild der humanistischen Tradition geraten war, für ihn keineswegs überwunden gewesen ist, machen einige wenig später entstandene Arbeiten deutlich.4 Die marxistischen Perspektiven, die darin greifbar 1 Vgl. Odo Marquard: Verweigerte Bürgerlichkeit. Philosophie in der Weimarer Republik, in: Ders.: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 123–141, hier: S. 124–128. 2 Vgl. ebd., S. 140 f. 3 Joachim Ritter: Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1930, Bd. 6, S. 593–605, hier: S. 597. 4 Vgl. ders.: Bildungskrise in Davos. Bemerkungen zu den IV. Davoser Hochschulkursen vom 22. März bis 11. April 1931, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1931, Bd. 7, S. 661–665.

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werden, sollten ihn selbst in Bedrängnis bringen, als die politisch entgegengesetzte Seite bald darauf begann, konsequent mit überhaupt jeder Form von Humanismus aufzuräumen.5 Als Ritter das bürgerliche Leben in den Mittelpunkt seiner eigenen Philosophie rückte, schienen zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft und sechs Jahre Krieg allenfalls Bruchstücke davon übrig gelassen zu haben. Die zentralen Ideale des Bürgertums waren der Verachtung preisgegeben, die traditionellen Grundlagen seiner Lebensweise systematisch untergraben worden. Alles, wofür der Ausdruck einmal gestanden hatte, schien nun vollends einer versunkenen Welt anzugehören. „Die Bindungen sind zerrissen, der Mensch steht vor den Trümmern“, schreibt Ritter 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft. „In der realen Zerstörung erscheint der innere Verlust.“6 Die Bedeutung des bürgerlichen Lebens ist zum Gegenstand erinnernder Vergegenwärtigung geworden. Ihren letzten Bezugspunkt bilden Aristoteles und seine Auseinandersetzung mit der antiken Polis. An ihr entwickelt Ritter, der von Münster aus alsbald eine enorme Wirkung auf die philosophische Landschaft der jungen Bundesrepublik entfaltete, die Grundzüge seiner praktischen Philosophie.7 Der Rückgang auf die Antike verfolgt freilich kein primär historisches Interesse. Erinnerung bedeutet hier nicht Beschäftigung mit Vergangenem in seinem jeweiligen geschichtlichen Kontext, sondern verweist für Ritter auf die seit Platon zentrale Aufgabe der Philosophie selbst: Vergegenwärtigung von etwas immer und überall Gültigem und Maßgeblichem, das die Gegenwart aus den Augen verloren und in Vergessenheit geraten lassen hat.8 In diesem Rahmen erhält dann auch die geisteswissenschaftliche Arbeit, deren historisch-philologisches Instrumentarium Ritter so meisterhaft beherrscht, ihren Sinn und Zweck. Sie soll dem philosophischen Denken auch heute noch die Gehalte jener Tradition präsent halten, in der die Richtung seines eigenen Fragens und Suchens schon vorgezeichnet ist. So bleibt „[h]istorisches Erinnern“ keineswegs „auf die Frage beschränkt, wie es gewesen ist“, sondern hat „immer auch die Aufgabe, das in die Gegenwart vergegenwärtigend einzuholen, dessen sie bedarf, um, was sie ist, begreifen zu können.“9

5 Vgl. Hans Jörg Sandkühler: „Eine lange Odyssee“. Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im „Dritten Reich“, in: Dialektik, Heft 1, 2006, S. 139–179. 6 Joachim Ritter: Dichtung und Gedanke. Bemerkungen zur Dichtung T. S. Eliots (1945), in: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1977, S. 93–104, hier: S. 96. 7 Vgl. Volker Gerhardt: Politik und Metaphysik. Rahmenbedingungen einer Begriffsbestimmung der Politik, in: Ders. (Hrsg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 1–19, hier: S. 1–9. 8 Vgl. Ludger Oeing-Hanhoff: Zur Wirkungsgeschichte der platonischen Anamnesislehre, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965, S. 240–271, hier: S. 269 f.

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Die Überlegungen zum bürgerlichen Leben, die Ritter unter diesen Vorzeichen entwickelt, knüpfen an die aristotelische Erörterung des „bios politikos“ an. Sie beziehen sich also zunächst auf jene „Lebensweise des Bürgers“10 der Polis, des antiken griechischen Stadtstaats, die von Aristoteles als eine der Formen gelingenden, von Glück gekrönten menschlichen Lebens ausgezeichnet wird. Ritter nähert sich dem Verständnis dieser Lebensweise vom aristotelischen Begriff der Praxis her. Im Ausgang von den biologischen Schriften des Stagiriten hält er gleich eingangs fest, „daß Praxis für Aristoteles zum Wesen alles Lebendigen und nicht nur des Menschen gehört, weil alles Lebendige seine Natur und das, was es von Natur sein kann, im tätigen Lebensvollzug verwirklicht. Das aktuale Leben des Lebendigen ist ,Praxis‘, Tätigkeit und Betätigung von Möglichkeiten und Anlagen, so daß der Begriff der Praxis allgemein mit dem Begriff der Lebensweise [. . .] zusammenfällt und synonym ist.“11

Damit wird allen weiteren Ausführungen zum bürgerlichen Leben ein ausgesprochen großzügig gefasster Praxisbegriff zugrunde gelegt, der menschliche Handlungen im engeren Sinne zwar einschließt, sie aber als besondere Fälle eines allgemeinen Naturgeschehens zu betrachten erlaubt. Als Lebewesen ist der Mensch Teil der Natur und sein Handeln daher – was auch immer es darüber hinaus als spezifisch menschliches Handeln auszeichnen mag – an erster Stelle eine Vollzugsform jenes umfassenden natürlichen Vorgangs, in dem schlechthin alles Lebendige seine naturgegebenen Anlagen und Fähigkeiten zu der ihm gemäßen Lebensweise entfaltet. Nun betont Ritter stets zugleich, dass Aristoteles die Natur des Menschen durch die Anlage zur Vernunft bestimmt und die Erörterung seiner Praxis damit über das allgemeine Naturgeschehen hinaus auf die Polis verweist. Diese nämlich zeichne sich dadurch aus, dass erst „in ihr die Vernunft des Menschen zum Zuge kommt.“ Sie sei „der Ort des Menschseins, weil sie selbst auf der Vernunft beruht und vernünftige gesellschaftliche Ordnung ist.“ Das heißt, dass der Mensch von Natur darauf angelegt ist, aus dem Naturzustand herauszutreten. Er ist „auf die Stadt [. . .] verwiesen [. . .], wenn seine Natur als Möglichkeit und als Seinkönnen zur Aktualität des Seins kommen soll.“12 Seine Vernunft steht somit im gleichen Verhältnis zu seinem Dasein als Bürger der Polis wie allgemein die Naturanlage eines Lebewesens zu ihrer vollen Verwirklichung in der ihm gemäßen Lebensweise. Insofern sind die aristotelischen Bestimmungen des Menschen als zôon logon echôn und zôon politikon für Ritter nahezu austausch9 Joachim Ritter: Die große Stadt (1960), in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristotels und Hegel, Frankfurt a. M. 1977, S. 341–354, hier: S. 351. 10 Joachim Ritter: Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks (1956), ebd., S. 57–105, hier: S. 72. 11 Ebd., S. 59. 12 Ebd., S. 76.

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bar: Die eine bezeichnet die Natur des Menschen im Hinblick auf seine natürliche Anlage zur Vernunft, die andere ihre Verwirklichung in einem vernunftgeleiteten, nämlich in die Polis und ihre vernünftigen Strukturen eingebetteten Leben.13 Darum kann Ritter die Polis in Anspielung auf einen ursprünglich platonischen Gedanken auch schlicht die „Aktualität der menschlichen Natur“14 nennen. Sie ist der „groß geschriebene Mensch“15, an dem sich ablesen lässt, was bereits in jedem Einzelnen als seine spezifische Natur angelegt ist. Die Lehre von der politischen Verwirklichung der menschlichen Natur hat zugleich methodologische Bedeutung. Ihr zufolge kann die Philosophie die Natur des Menschen nicht vorab ermitteln, um die entsprechende politische Ordnung dann kurzerhand aus ihr abzuleiten. Stattdessen muss sie umgekehrt bei der konkreten, geschichtlich ausgebildeten politischen Wirklichkeit ansetzen und diese hermeneutisch auf das hin auslegen, „was sie in sich als Verwirklichung menschlichen Seins ist.“16 Auf diese Weise habe auch die aristotelische Theorie der Polis mit der Vernunftnatur des Menschen „in der Partikularität und Kleinheit ihrer geschichtlichen Wirklichkeit [. . .] ein universales Prinzip“17 erfasst und auf den Begriff gebracht. Nicht der antike Stadtstaat in der historischen Besonderheit seiner politischen Organisationsform ist demnach das Entscheidende, sondern der Umstand, dass in dem durch ihn ermöglichten Leben des Bürgers – wenn auch faktisch noch auf einen kleinen Kreis von Individuen beschränkt – erstmals der Mensch als Mensch historisch Gestalt annimmt. Mit ihm wird zuerst ein Stand erreicht, in dem „alles, was er als Mensch sein kann, in seinem eigenen Tun und Leben zur vollen Verwirklichung kommt“18. Das macht nach Ritter die universale Bedeutung der Polis und der an ihr gewonnenen „politischen Begriffe und Prinzipien“ des Aristoteles aus: Sie „weisen in sich selbst über sich hinaus auf den substanziellen Grund menschlichen Seins, dessen Verwirklichung sich in ihnen formiert.“19 Mit dem philosophischen Begriff einer Gesellschaft, in deren Mittelpunkt der Mensch als Mensch steht, ist ein Anspruch formuliert, der nicht nur die historische Gestalt der Polis sprengt, sondern den Gang der Geschichte seither bewegt hat. Erst mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Emanzipation aus der geschichtlichen Herkunft rückt seine Einlösung in Reichweite: Menschliches Selbstseinkönnen wird 13

Vgl. ebd., S. 75 f. Ebd., S. 77. 15 Vgl. Volker Gerhardt: Der groß geschriebene Mensch. Zur Konzeption der Politik in Platons Politeia, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, 1997, S. 40–56. 16 Joachim Ritter: „Naturrecht“ bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts (1963), in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1977, S. 133–179, hier: S. 178. 17 Ritter (1956), S. 71. 18 Ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 92. 14

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nicht länger an kontingente Merkmale gebunden und auf ihre Träger beschränkt, sondern steht prinzipiell jedem Menschen als solchem zu. Alle Menschen werden Bürger.20 Als Joachim Ritter seinen Abschied von der Universität Münster nahm, hatte sich der Zeitgeist bereits gegen diese Sicht der modernen Gesellschaft zu wenden begonnen. In der marxistischen Perspektive, die nun Sein und Bewusstsein vieler Zeitgenossen bestimmte, wurde dem bürgerlichen Leben erneut jede universale Bedeutung abgesprochen. Es erschien nunmehr als Lebensform der herrschenden Klasse, deren Denken als Ausdruck partikularer Interessen zu entlarven und deren Staat als Instrument der Unterdrückung zu beseitigen war, bevor tatsächlich alle Menschen in den Genuss eines wahrhaft menschlichen Lebens kommen würden. Auch Ritter selbst wurde in der Folge unter Verdacht gestellt, seine Lehre vom bürgerlichen Leben als „Neoaristotelismus“ abgestempelt und politisch in die Ecke des „Neokonservativismus“ gestellt. Über vierzig Jahre danach sind die geschichtsphilosophisch lancierten Standpunkte, von denen aus man sich zu solchen Einsichten und Zuordnungen befähigt glaubte, längst geräumt und verwaist, ihre Vertreter mehrheitlich selbst „ins bürgerliche Lager“ übergelaufen. Dagegen finden Joachim Ritters Erwägungen zum aristotelischen „bios politikos“ heute mehr und mehr Aufmerksamkeit, beispielsweise im Rahmen der Debatten um Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement.21 In diesem Zusammenhang mögen sie daran erinnern, „daß die gleiche Gesellschaft, die [. . .] dem Einzelnen zu seiner Vernunft verhilft, [. . .] darauf angewiesen bleibt, daß er sich zum Träger und Hüter ihrer Ordnungen macht.“ Dabei gilt zugleich, dass menschliche Selbstentfaltung und Erfüllung zwar stets Politik und ein politisches, auf individuelle Freiheit gegründetes Gemeinwesen voraussetzen, aber keineswegs damit zusammenfallen oder darin aufgehen: „Die Politik kann nicht selbst das Glück schaffen, das sie herbeiführen und sichern soll; dies bleibt die Sache der Einzelnen und ihres persönlichen Lebens. So weist der Zweck der Politik und der politischen Ordnung über ihren eigenen Bereich hinaus auf das Wirken und die sittliche Tüchtigkeit des Einzelnen.“22

Ritter verdeutlicht diese Grenze der Politik auch an der aristotelischen Bestimmung des Verhältnisses von bürgerlichem und theoretischem Leben. In der „Aussonderung des philosophischen Lebens“ wird für ihn „manifest, wie sich grundsätzlich die Erfüllung des individuellen Lebens in der Stadt zum Politischen verhält“.23 Denn dieses der Philosophie und der theoretischen Betrach20

Vgl. ebd., S. 81 f. Vgl. Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 282–289. 22 Ritter (1956), S. 101. 23 Ebd., S. 101 f. 21

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tung gewidmete Leben, das das politische Gemeinwesen voraussetzt und sich erst in seinem Rahmen voll zu entfalten vermag, ist „,kein Anderes‘, sondern ,das Beste‘“24. Wie beiläufig klingt so auch an, dass die Lehre vom bios politikos bei Aristoteles nicht etwa das letzte Wort in Sachen Glück bleibt. Die höchste dem Menschen überhaupt erreichbare Erfüllung liegt für ihn nicht hier, in der praktisch-politischen Sphäre, sondern bleibt der theoretischen Betrachtung des Seienden vorbehalten. Wer an ihr teilhat, kommt nicht nur ganz zu sich selbst und erreicht so „die vollendete Glückseligkeit“25. Er wird auch, wie Aristoteles sagt, „von der Gottheit am meisten geliebt“26.

24

Ebd., S. 102. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übers. von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Hamburg 1985, 1177b25. 26 Ebd., 1179a24. 25

Alle Philosophie ist Lebensphilosophie Jan Prause-Stamm „Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort“, stellt Helmuth Plessner zu Beginn seines epochalen Werks Die Stufen des Organischen und der Mensch fest.1 Und er führt aus, dass es der Begriff des Lebens sei, der zu seiner Zeit als „Zauberformel“2 gefeiert wird. Dabei verschließt Plessner nicht die Augen vor der Tatsache, dass der Verweis auf das Leben sich in diesem Zusammenhang insbesondere einem kulturkritischen Impuls verdankt. Die sogenannte Lebensphilosophie generiert sich als der überlegene Gegenspieler einer auf das Primat der Vernunft setzenden Philosophie und eines an Rationalität orientierten Gesellschaftsideals. Im Unterschied dazu akzentuiere die Lebensphilosophie „das dämonisch Spielende, unbewußt Schöpferische“3. Letztlich mündet dieser Gedanke bei zahlreichen Autoren in einer normativen Auszeichnung des Irrationalen gegenüber dem Rationalen.4 Allein der philosophiehistorische Umstand, dass unter Lebensphilosophie zumeist eine Strömung verstanden wird, die das Leben gegen die Vernunft ausspielt, verbietet es, das Werk Volker Gerhardts als Lebensphilosophie zu bezeichnen. In systematischer Hinsicht spricht allerdings Vieles dafür, das Phänomen des Lebens als einen Eckpfeiler in seinem Denken auszuzeichnen. Ein Ausspruch Wilhelm Diltheys bringt pointiert eine Prämisse zum Ausdruck, die auch dem Denken Volker Gerhardts zugrunde liegt: „Leben ist die Grundtatsache, die den Ausgang der Philosophie bilden muss. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann.“5 Diese unhintergehbare Vertrautheit mit dem Leben ist für Volker Gerhardt ein derart selbstverständlicher Ausgangspunkt des Philosophierens, dass es für ihn lediglich eine „redundante Formel“ wäre, „alle Philosophie als Lebensphilosophie zu bezeichnen“.6 1 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975, S. 3. 2 Plessner (1975), S. 4. 3 Ebd. 4 Vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, Kap. 5: Leben, S. 172–196. 5 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften VII, Berlin/Leipzig 1927, S. 359. 6 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 152.

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Der Appell an die eigene Erfahrung und damit an das Erleben des eigenen Lebens ist charakteristisch für die Schriften Volker Gerhardts. „Vom Erleben des Lebens können wir uns schlechterdings nicht distanzieren“, heißt es in der Selbstbestimmung.7 Und da gleichzeitig dafür argumentiert wird, dass „Leben [. . .] der umfänglichste und gleichwohl in sich reichhaltigste Begriff [ist] für den Zusammenhang, in dem wir sind“, ist offenkundig, dass für Volker Gerhardt eine Philosophie, die die individuelle Perspektive des Erlebens überspringt, sich ihrer eigenen Grundlage und in einem damit auch ihres einzigen Gegenstandes beraubt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Explikation der individuellen Perspektive lebendiger Personen einen systematischen Vorrang. Wenn nämlich durch den Begriff des Lebens der umfassende Zusammenhang bezeichnet wird, in dem wir als Menschen existieren, und wenn diesem Begriff einzig aus dem Erleben heraus Bedeutung gegeben werden kann, dann gebührt der eigenen Erlebnisperspektive der epistemologische Vorrang beim Philosophieren. In diesem Sinne heißt es dann auch: „Bei der Erkenntnis des Lebens kommt der Mensch nicht von seinem Selbstverständnis los.“ 8 Die behauptete Spannung zwischen Leben und Vernunft kontert Volker Gerhardt mit dem Hinweis, dass die Vernunft ein Vermögen lebendiger Wesen ist. Mit Bedacht wählt er für seine Kant-Monografie den Untertitel Vernunft und Leben9, um anzuzeigen, dass zwischen beiden keine Spannung besteht, sondern dass es vielmehr erst die Einbettung in den Kontext des Lebens ist, die ein angemessenes Verständnis der Vernunft ermöglicht. „In der Opposition gegen Verstand und Vernunft wird vergessen, daß diese selbst Momente des Lebens sein müssen, wenn sie denn überhaupt in ihm wirksam sind.“10 Hiermit stellt er sich nicht nur gegen eine normative Auszeichnung des Lebens gegenüber der Vernunft, sondern umgekehrt auch gegen einen Begriff der Vernunft, der diese nicht im Kontext des Lebens versteht. Geht man von einer solch umfassenden Lebenskonzeption aus, wie Volker Gerhardt dies tut, hat man gute Gründe, um als Philosoph das Gespräch mit anderen Disziplinen zu suchen. Die in den letzten Jahren zu Recht auch von der Philosophie immer vehementer geforderte Interdisziplinarität hat zur Voraussetzung, dass zentrale philosophische Themen wie Freiheit, Bewusstsein oder Vernunft sich überhaupt zum Gegenstand einer interdisziplinären Betrachtung machen lassen. Wenn man diese Phänomene nun im Kontext des Lebens deutet und damit als natürliche Phänomene auffasst, lassen sich begriffliche und empirische Zugangsweisen unmittelbar aufeinander beziehen. Die Etablierung 7

Gerhardt (1999), S. 148. Gerhardt (1999), S. 160. 9 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. 10 Gerhardt (1999), S. 150. 8

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der Lebenswissenschaften als übergreifender Disziplin ist eine angemessene Reaktion auf die Einsicht, dass sich das Leben in seinen mannigfaltigen Erscheinungen nicht im Rahmen einer Einzelwissenschaft adäquat verstehen lässt. Nimmt man die von Volker Gerhardt vertretene These ernst, dass das Ausblenden unserer Erlebnisperspektive unweigerlich zu einer verzerrten Sichtweise auf die Phänomene des Lebens führt, weil nämlich das, was das Leben im Kern ausmacht, sich gerade im Erleben unserer eigenen Lebendigkeit zeigt, dann ist damit ein hoher Anspruch an die wissenschaftliche Thematisierung des Lebens verbunden. Der epistemologische Vorrang unserer Vertrautheit mit dem Leben ist nämlich etwas, das in vielen Publikationen übergangen wird, die unserem Erleben in der einen oder anderen Weise den Charakter einer Illusion zuweisen. Die systematisch entscheidende Frage lautet hier, wie sich Erkenntnisse über Phänomene des Lebens und das eigene Erleben zueinander verhalten. Im Anschluss an Immanuel Kants Konzeption einer teleologischen Urteilskraft versucht Volker Gerhardt nachzuweisen, dass die biologische Theoriebildung „ein Vorverständnis zielgerichteter Steuerung voraus[setzt], das immer erst beim Betrachter ausgebildet sein muß, ehe es in den Vorgängen selbst entdeckt werden kann“.11 Diese These wirft natürlich schwierige wissenschaftstheoretische und ontologische Fragen auf, beispielsweise hinsichtlich des Zusammenhangs teleologischer und kausaler Begriffe und Phänomene. Gleichzeitig ist damit zweifelsohne die zentrale Herausforderung für die vorherrschenden naturalistischen Theorien benannt, die zwar die These teilen, dass Phänomene wie Bewusstsein oder Freiheit sich nur als natürliche Phänomene sinnvoll verstehen lassen, andererseits aber bestreiten, dass die Erlebnisperspektive der Beobachterperspektive in epistemologischer Weise systematisch vorgeordnet ist. Die Zeiten, in denen der Begriff des Lebens als Zauberformel verwendet worden ist, sind gewiss vorbei. Aber eine Renaissance des Lebensbegriffs zeigt sich nicht zuletzt an der noch nicht lange zurückliegenden Ausrufung eines Jahres der Lebenswissenschaften und der immer häufiger zu findenden Auszeichnung der Biologie als neuer Leitdisziplin. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Lebens an neuer Bedeutung. Dass hierbei die Perspektive des eigenen Erlebens nicht ausgeblendet werden darf, ist eine der Einsichten, die Volker Gerhardt aktualisiert und für das interdisziplinäre Gespräch fruchtbar gemacht hat. Seine umfassende Perspektive auf die Phänomene des Lebens liefert die theoretische Grundlage für eine problemorientierte Lebenswissenschaft, in der begriffliche und empirische Forschungen integriert werden. Damit wird der Begriff des Lebens zwar nicht noch einmal als erlösendes Wort gefeiert, rückt aber erneut ins Zentrum wissenschaftlich-philosophischer Diskurse. 11

Gerhardt (1999), S. 156.

Wie der Philosophie in Berlins Mitte neues Leben zuwuchs Ulrich Miksch Die Berliner Universität erhielt in einer ersten Aufbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg den Namen der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt und konnte mit ihm auch den Umbruch nach dem Mauerfall als eine nominell ungetrübte Kontinuität bewältigen. Die Philosophie hatte sie aber nicht nur geistig durch das Dogma des Marxismus-Leninismus, der selbst die Philosophiegeschichte retrospektiv in „schlechte“ Philosophien „fürs Kröpfchen“ und gute „fürs Töpfchen“ teilen wollte, sondern auch räumlich in die letzten Winkel des Hauptgebäudes verbannt. Am Anfang der neunziger Jahre konnte man dann am Institutsschild, das heute wieder zu Hegels Schreibtisch führt, aber damals noch die räumlich wenig ausgedehnte „Sektion für marxistisch-leninistische Philosophie“ aus DDR-Zeiten auswies, die mit einem Filzschreiber hinzugefügte Frage lesen: „Seid ihr immer noch da?“ Diese Stimmung, die sich innerhalb der Universität hier Luft machte, saß zwar einem Irrtum auf. Denn die für Studierende aller Sektionen in der alten DDR bis 1989 obligatorischen Vorlesungen und Seminare in Marxismus-Leninismus, die am Ende eines jeden Studiums in einer Hauptfachprüfung mündeten und damit ein politisches Instrument darstellten, mit dem der Abschluss von Studierenden trotz fachlicher Eignung im Extremfall vereitelt werden konnte, wurden von einer eigenen Sektion für Marxismus-Leninismus veranstaltet. Die feinen Unterschiede zwischen einer ideologischen Wächter-Sektion im Tarnmantel eines universitätsweiten „Studium generale“, die sehr schnell abgewickelt worden war, und einer eigentlichen, aber dennoch institutionell verkrüppelten Sektion für Philosophie waren in der Universität nach dem Ende der DDR aber sicher nicht jedem Mitarbeiter oder Studenten vermittelbar. Das durch Abwicklungsbeschlüsse des nunmehr Gesamtberliner Senats und notwendige eigene innere Reinigungsversuche zeitweise fast führungslose Schiff der Philosophie dümpelte im universitären Behauptungs- und Verteilungskampf dahin, was nicht zuletzt durch die gescheiterte Besetzung einer ersten Professur für Rechts- und Sozialphilosophie von außen verstärkt wurde, die Otfried Höffe auch im Strudel der universitären Solidarisierung mit dem unter IM-Vorwürfen entlassenen, ersten frei gewählten Universitätsrektor Heinrich Fink ausschlug. Erst die Annahme des Rufes auf diesen monatelang ver-

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waisten Philosophie-Lehrstuhl durch Volker Gerhardt, der in Halle an der Saale erste Eindrücke vom Umbruch in den fünf neuen Ländern sammeln konnte und dem darum auch Ost-Berlin nicht völlig fremd erscheinen durfte, änderte die Situation. Sein Vortrag, gehalten am 9. Februar 1993 vor den ersten neu berufenen Professoren, vor Wissenschaftssenator und Universitätspräsidentin, gab einen ersten ideellen Anstoß für den Wandel, den die Stellung der Philosophie innerhalb der Universität erfuhr – durch den Verweis auf die eigene Geschichte, auf die ersten beiden in Deutschland aus philosophischem Geist gegründeten Universitäten Halle und Berlin, die Herausarbeitung der Rolle Johann Gottlieb Fichtes, Wilhelm von Humboldts, vor allem aber Friedrich Schleiermachers als behutsamem Reformer, der die alte Universität als Institution nicht völlig infrage stellte und darum um so nachdrücklicher der Neugründung in Berlin das Wort redete und sich in die Pflicht der Ausgestaltung nehmen ließ. Die historischen Beispiele dienten der praktischen Arbeit, die auch Volker Gerhardt vor allem als Institutsdirektor bei der Neugestaltung der Universität in der Mitte Berlins anging. Insbesondere waren es Räume, die der Universitätsverwaltung abgetrotzt oder erst entdeckt werden mussten: etwa für die Institutsbibliothek, deren Zugang anfangs nur ein mit einem Brett verschlossenes Loch – einer Essensausgabe gleich – darstellte. Wenn man klopfte und das Brett vor der Öffnung hochgeschoben wurde, so durfte man nach Büchern fragen. Dieses Provisorium, noch aus DDR-Zeiten fortgeführt, versteckt in der Universitätsstraße, wurde ins Hauptgebäude geholt und durch den Platzgewinn erstmals frei zugänglich. Professoren und Mitarbeiter erhielten Räume, auch wenn sie in nie gesehenen Zwischengeschossen verborgen schienen. Mit dem Auszug des Instituts für Mathematik, der leider die totale Aufspaltung der Humboldt-Universität in zentrumsnahe Institute und in naturwissenschaftliche Institute im etwa 15 Kilometer entfernten Adlershof besiegelte, gelang der Philosophie schließlich der Sprung in den zentralen Teil der obersten Etage des Hauptgebäudes mit einem privilegierten Blick auf den campusartigen, rasenbedeckten Innenhof. Allein die personelle Durchmischung, die anfangs vor allem neu berufene „West-Professoren“ auf neugierige „Ost-Studenten“ treffen ließ, gelang nicht gänzlich. Volker Gerhardt trug in seiner erwähnten Rede im Senatssaal durchaus prophetisch vor: „Es sollte mich sehr wundern, wenn sie [die Universität] nunmehr nicht ein bevorzugtes Beispiel für den Vorgang der Wiedervereinigung abgeben sollte.“ Sein Lehrstuhl hat hier sicher alles getan, um ein positives Bild gegenseitiger Befruchtung zu zeichnen oder doch einen respektvollen Umgang unterschiedlicher Lebenshintergründe im vereinten Deutschland, gerade in Berlins Mitte, zuzulassen und zu fördern. Leider ist dieser Geist nicht weiter übergesprungen, insofern bleibt die Humboldt-Universität ein eher durchschnittliches Beispiel für den Vorgang der Wiedervereinigung, der mehr verwaltungstechnisch und weniger als geistige Herausforderung begriffen wurde.

Wie der Philosophie in Berlins Mitte neues Leben zuwuchs

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Dem deplorablen Ausgangsbefund zum Trotz hat die Philosophie über die Jahre jedoch neue Pflöcke in den Boden der Universität schlagen können, auf denen kommende akademische Generationen vielleicht auch neue geistige Gebäude, in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit um sie herum, errichten können. Das auf märkischem Sand errichtete Prinzenpalais, welches über knapp zwei Jahrhunderte zu einem vielflügeligen Hauptgebäude der Universität erweitert wurde und das Zeichen der historischen Brüche an sich trägt, wird dabei ihr hoffentlich standsicheres Domizil bleiben.

In der Festung – Leben im Verborgenen? Erik Lehnert Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat in seinem Buch „Verteidigung des Privaten“ die Privatheit als die „Zitadelle der persönlichen Freiheit“ ausgemacht.1 Eine Zitadelle ist eine kleine Festung innerhalb einer großen. Sie dient als Rückzugspunkt für die ganze Befestigung, falls diese einmal erobert werden sollte. Insofern ist die Privatheit bei Sofsky auch der Kern der Freiheit, unserer permanent angegriffenen Festung. Angreifer sind andere Personen, die Gesellschaft und der Staat. Da wir unsere Festung nicht allein verteidigen können, sind wir auf Hilfe angewiesen. Unsere Freiheit wird im idealen Fall durch den Staat gewährleistet, der gleichzeitig darüber wacht, dass wir unsere Freiheit nicht dazu missbrauchen, die Freiheit anderer einzuschränken. Aber die Fürsorge des Staates unsere Sicherheit betreffend hat Grenzen, die in unserer eigenen Privatheit liegen. Werden diese überschritten, gerät die schwierige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit außer Kontrolle und das Private gerät in Gefahr. Nun ist die Hochschätzung des Privaten zunächst einmal erklärungsbedürftig, da es sich nicht immer dieser positiven Wertschätzung erfreute. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen: „Für die Antike war entscheidend, daß alles Private ein nur Privates ist, daß man in ihm, wie schon das Wort anzeigt, in einem Zustand der Beraubung lebte, und zwar beraubt der höchsten Möglichkeiten und der menschlichen Fähigkeiten.“2

Den Sklaven und den Barbaren war die Öffentlichkeit verwehrt oder unbekannt. Sie galten deshalb nicht eigentlich als Menschen. Auch für Platon und Aristoteles war die Tatsache, dass Menschen normalerweise nicht außerhalb der Gemeinschaft mit Artgenossen leben können, keine allein dem Menschen vorbehaltene Eigenschaft. Dieses Phänomen der Geselligkeit konnten sie auch bei Tieren beobachten. In dieser Hinsicht ist der Mensch noch nicht eigentlich Mensch, sondern den Zwängen und Notwendigkeiten des biologischen Lebens unterworfen.

1 Wolfgang Sofsky: Die Verteidigung des Privaten. Eine Streitschrift, München 2007, S. 37. 2 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 38 f.

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„Griechischem Denken gemäß ist die menschliche Fähigkeit für politische Organisation von dem naturhaften Zusammenleben, in dessen Mittelpunkt das Haus und die Familie stehen, nicht nur zu scheiden, sie steht sogar in einem ausgesprochenen Gegensatz dazu.“3

Das spezifisch menschliche Reich der Freiheit beginnt daher erst außerhalb des privaten Hauses in der politischen Öffentlichkeit. Zwischen diesen beiden Reichen gab es eine Kluft, die heute offenbar verschwunden ist. Selbst die scharfe Trennung zwischen den Bereichen existiert nicht mehr. Der Bereich des Haushalts und der Ökonomie sind öffentliche Angelegenheiten geworden und die öffentlichen Angelegenheiten, wie die der Rechtsprechung, dringen vermehrt in den privaten Bereich ein. Und auch die Wertungen, die sich mit diesen Bereichen verbinden, haben sich ins Gegenteil verkehrt. Neu entstanden ist der gesellschaftliche Raum, in dem überfamiliäre Gemeinschaften wirtschaften, und der moderne Verwaltungsstaat, der das Zusammenleben seiner Bürger bis ins Detail gesetzlich regelt. Arbeit und Familie sind heute nicht nur „Privatsache“, sondern sind staatlicher Regulierung ausgesetzt, sei es durch Kindergeld und Berufsverbote oder Kleidervorschriften und Baugenehmigungen. Da die staatliche Gemeinschaft der Neuzeit sich als Großfamilie (beispielsweise als Nation) verstand, hat sie zunehmend die politischen und privaten Angelegenheiten okkupiert und daraus die alles umfassende Sphäre der Gesellschaft gebildet. Die Wertschätzung des Privaten wird in dieser Lage zunächst nicht im Gegensatz zum Politischen entdeckt, sondern zum Gesellschaftlichen. Das Politische war für den Einzelnen vor der Französischen Revolution nicht in dem Maße sichtbar, wie es heute der Fall ist. Staat und Gesellschaft waren noch zwei voneinander getrennte Bereiche und der Zugriff des Staates auf den Einzelnen war bedeutend geringer, als das heute der Fall ist. Bis ins 18. Jahrhundert, so Carl Schmitt, hatte der Staat das Monopol des Politischen, das sich vor allen Dingen als Außenpolitik äußerte. Er stand bis ins 20. Jahrhundert zumindest als klar unterscheidbare Macht über der Gesellschaft. „Dagegen wird die Gleichung Staatlich = Politisch in demselben Maße unrichtig und irreführend, in welchem Staat und Gesellschaft sich gegenseitig durchdringen, alle bisher staatlichen Angelegenheiten gesellschaftlich und umgekehrt alle bisher ,nur‘ gesellschaftlichen Angelegenheiten staatlich werden, wie das in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen notwendigerweise eintritt.“4

Damit vermischen sich die Sphären endgültig. Der Staat ist jetzt auch gesellschaftlich und das Gesellschaftliche politisch.

3 4

Ebd., S. 28. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 24.

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Das kann nicht ohne Auswirkungen auf das Private bleiben, da sich die Gesellschaft aus Individuen zusammensetzt, die zunächst noch ein Leben jenseits der staatlich-gesellschaftlichen Ebene führen. Karl Jaspers hat dies ganz klassisch als „Leben des Hauses“ bezeichnet und dabei die Familie als die eigentliche Quelle der „Menschlichkeit“ ausgemacht. Die Quelle, aus der sich das Merkmal des Menschlichen speist, sieht er auf der anderen Seite, als das ursprünglich in der Antike der Fall war. Dieser Paradigmenwechsel ist eine Folge des von Carl Schmitt beschriebenen Vorgangs. Das Reich der Freiheit ist im Zeitalter der Massen nicht mehr die Öffentlichkeit, sondern die Verborgenheit: „Wer sichtbar wird für die Öffentlichkeit ist Gegenstand der Sensation.“5 Und damit ist er gerade nicht mehr Herr über sich selbst, sondern den Wertschätzungen der anderen, der Masse, der Gesellschaft unterworfen. „An dieser ursprünglichen Welt wird auch heute noch mit überwindlichem Instinkt festgehalten; aber die Tendenzen, sie aufzulösen, wachsen mit der Verabsolutierung einer universalen Daseinsordnung.“6 Diese Ordnung bedeutet die „universale Daseinsfürsorge“, deren Preis jedoch der Verlust des eigenen Hauses ist. In der Tendenz sieht Jaspers sich eine unerbittliche Entwicklung vollziehen, der sich viele gar nicht entziehen wollen, selbst wenn sie es könnten. Für den, der es dennoch will, gewinnt das Private, das Leben des Hauses, einen anderen Stellenwert, es wird zu einer Gegenwelt. Damit entsteht ein neues Problem: Die Gesellschaft gerät durch die Privatheit in Gefahr, weil sie auf die Mitwirkung des Einzelnen angewiesen ist. Ein demokratisches Gemeinwesen (oder auch eines mit Gesellschaftsvertrag) funktioniert nur, wenn sich eine Mehrheit daran beteiligt. Wenn sich eine Mehrheit oder auch nur eine beispielgebende Minderheit entschließt, nicht mitzumachen, kann es aufgrund der engen Verknüpfung zwischen Privatem und Öffentlichem nicht fortbestehen. Deshalb sah Carl Schmitt in diesen „Vorbehalten des Innern“ auch den Keim des Untergangs für den modernen Staat: „Wenn aber wirklich die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will, wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den ,geheimnisvollen Weg‘, der nach innen führt. Dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.“7

Der preußische Staat, auf den Schmitt hier als reines Vernunftprodukt anspielt, ist jedoch vermutlich weniger an der „Gegenkraft des Schweigens“ zugrunde gegangen, als an den Langzeitfolgen des 30-jährigen Krieges, der Deutschland in die Kleinstaaterei und damit die Innerlichkeit getrieben hat.

5

Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1932, S. 52. Ebd., S. 52 f. 7 Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, hrsg. von Günter Maschke, Stuttgart 1982, S. 94. 6

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Schmitt hat seine diesbezügliche Kritik an Hobbes’ Leviathan 1938 veröffentlicht, nachdem er in Ungnade gefallen war und selbst unter verschärfter Beobachtung stand. Schmitt wird nun keineswegs so naiv gewesen sein, anzunehmen, dass es möglich sei, so etwas wie eine private Sphäre nicht zuzulassen. Er musste ja an sich selbst beobachten, dass er sich eben in diese Sphäre zurückzog. Aber Schmitt wusste auch, dass es die rein private Sphäre in dieser Art, wie es uns das Wort nahelegt, nicht mehr geben kann. Hier kommt sein Bedauern zum Ausdruck, dass der Staat es nicht vermochte, einen gemeinsamen Glauben auszubilden, der es verhindert hätte, dass der Staat an die pluralen Mächte fällt und der „stille“ Bürgerkrieg ausbricht; das, was Schmitt bis 1933 verhindern wollte. Der vom Staat garantierte Zusammenhang von Schutz und Gehorsam war im Dritten Reich nicht mehr gegeben. Schmitts Vorbehalte gegen das Private rühren vor allem daher, dass das Private das Öffentliche zerstört und damit den Schutz aufhebt. Somit fallen alle wieder in den Urzustand zurück, vor dem nur die Öffentlichkeit schützen kann.8 Mit diesem Problem, dem der mangelnden Zustimmung, hat die Neuzeit, in der der demokratische Gedanke bzw. der der Volkssouveränität nicht mehr wegzudenken ist, zu kämpfen. Wenn es diesen Zusammenhang nicht gäbe, hätte keine Diktatur je versuchen müssen, genau diesen Vorbehalt zu bekämpfen und sich die Zustimmung zu erkaufen oder zu erzwingen. Nun haben gerade Diktaturen versucht, diesen Spalt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zu schließen. So waren in der frühen Sowjetunion die Kommunen ein Mittel, um diese Kluft zu überbrücken: „Ihr eigentliches Ziel ist die Umgestaltung des konservativen Privatlebens. Nach einem viel gebrauchten Schlagwort besteht in der Sowjetunion eine unerträgliche Diskrepanz zwischen der sozialistisch-kollektivistischen Arbeit und dem reaktionärindividualistischen Privatleben.“9

Solchen extremen Angriffen auf das Innere der persönlichen Freiheit kann man sich nur entziehen, indem man den inneren Vorbehalt behält und nach außen eben Zustimmung heuchelt. Doch dazu bedarf es des Willens zur Mündigkeit und der Fähigkeit des Rollenspiels. Die Gefahren, die hier lauern, sind oft beschrieben worden: Irgendwann wird die Welt des Rollenspiels zur Realität, die Privatheit zum Selbstzweck und Freiheit wieder zur Illusion. Hier gibt es Abstufungen: „[. . .] bei bloß autoritären Verhaltensregelungen kann ich immer noch in die innere Emigration ausweichen und kann hier bleiben, der ich bin. Insofern brauche ich im Kern meiner Identität nicht bedroht zu sein.“ Totalitär wird eine Herrschaft dann, wenn sie auf die Gesinnung zielt, eben das, was Schmitt mit dem Glauben meinte. Da 8 Vgl. Martin Tielke: Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich, Berlin 2007, S. 110 f. 9 Klaus Mehnert: Die Jugend in Sowjetrußland, Berlin 1932, S. 199.

In der Festung – Leben im Verborgenen?

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die „Gesinnung zum Intimbereich des Bewußtseins gehört und insofern unsichtbar ist, muß sie manifest gemacht werden, um der Kontrolle zugänglich zu sein“10. Jede Äußerung hat Bekenntnis und damit Ausdruck der Gesinnung zu sein und wird als solches von zahlreichen Beobachtern kritisch beäugt, sodass die eigentliche Gefahr von der Öffentlichkeit ausgeht. Die Frage ist, ob man gegenüber solch einer Überwachung und ständigen Bekennens seine Identität, seinen Personenkern bewahren kann, ob man am Ende den Vorbehalt aufgibt oder dieses Spiel durchhält. Die repräsentative Demokratie der Gegenwart scheint diesen Zwang zur inneren Zustimmung nicht nötig zu haben: „Wenn westliche Menschen sich heute mühelos als Demokraten bezeichnen, dann meistens nicht, weil sie den Anspruch erheben, das Gemeinwesen in täglichen Anstrengungen mitzutragen, sondern weil sie Demokratie zu Recht für die Gesellschaftsform halten, die es ihnen erlaubt, nicht an den Staat und die Kunst des Zusammengehörens zu denken.“11

Diese Aussage aus dem Jahr 1993 dürfte jedoch nur für „Schönwetterperioden“ gelten und trifft bereits heute nicht mehr zu. Die schwindende Legitimation, die die Demokratie durch die Wähler erfährt, führt zur offenen Infragestellung dieses Vorbehalts. Es gibt sowohl das Bestreben, die Demokratie gegen Kritik zu immunisieren, sie zu einer „verkappten Religion“ zu machen, als auch die Tendenz, die umfassende Rechtsgemeinschaft, die der Staat darstellt, aufgrund gesellschaftlichen Drucks zu fragmentieren und damit den durch die Öffentlichkeit garantierten Schutz des Privaten auszuhöhlen. Die biedermeierliche „Verteidigung des Privaten“ erscheint angesichts dieses umfassenden Angriffs wie ein verlorener Posten, weil hinter ihm nichts mehr ist, was noch zu verteidigen wäre. Die Festung ist schon gefallen.

10 Helmut Thielicke: Kulturkritik der studentischen Rebellion, Tübingen 1969, S. 53–55. 11 Peter Sloterdijk: Im selben Boot. Versuch über Hyperpolitik, Frankfurt a. M. 1993, S. 74.

„Werde, der du bist!“1 Fragen an das Leben in der digitalen Welt Mathias Iven „Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. [. . .] Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ,Sinn‘ des ,Eigenen‘“.2

Am 25. Februar 1921 hielt Moritz Schlick auf Einladung der Berliner Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes einen Vortrag, der der Frage nach der Bestimmung und Bedeutung unseres Daseins nachspürte. Gleich zu Beginn erklärte er: „Die Frage nach dem Sinn und Wert des menschlichen Lebens ist letzten Endes kein Problem der Wissenschaft. Denn sie ist eben ein Wertproblem, und die Wissenschaft hat als einzige Aufgabe das Erkennen der Welt, nicht aber das Setzen von Werten in der Welt.“3

In Wittgensteins ebenfalls 1921 veröffentlichter Logisch-philosophischer Abhandlung sollte Schlick später lesen: „Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen.“4

Betrachten wir den heutigen, zunehmend durch die Nichtgreifbarkeit des Virtuellen bestimmten Weltenlauf: Auch hier stellt sich wieder und wieder die Frage nach dem Sinn und Wert des menschlichen Da- und Soseins. Doch die Antwort scheint, damals wie heute, nicht so leicht möglich. Der Mensch sieht sich fast täglich neuen Situationen und Spannungsfeldern gegenüber, die sich – dem Gewohnten zum Trotz – neben den tradierten sozia1 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999, S. 411. 2 Hermann Hesse: Eigensinn, in: Ders.: Sinclairs Notizbuch. Frankfurt a. M. 1985, S. 55. 3 Moritz Schlick: Der Sinn des Lebens, in: Nachlass Schlick, Inv.-Nr. 18, A. 71 a, Bl. 0. 4 Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 2003, Satz 6.41, S. 107/108.

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Mathias Iven

len Mustern entwickeln. Heute sind dies zuvorderst die Veränderungen in unserem Kommunikationsverhalten, die den Lebens- und Arbeitsrhythmus und damit schlussendlich unsere Selbstfindung und Selbstwerdung beeinflussen. Netzbewohner, Blogger, Parallel-Weltler: die Avantgarde der Mediennutzer – sie alle unterliegen dabei jedoch meist einer Täuschung. Die Hoffnung, der zum großen Teil selbst produzierten Informationsflut nicht mehr stumm leidend gegenüberstehen zu müssen, sondern mit ihr „spielend“ umgehen zu können, sie immer und überall vorrangig für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen, erweist sich als trügerisch. Es zeigt sich, dass die Eigendynamik der zahllosen Kommunikationsformen und -ebenen vor allem Gefahren für das „reale“ Miteinander in sich birgt. Denn die vermeintliche, vor allem als „Seelen-Striptease“ daherkommende Hingabe an die digitale Öffentlichkeit, das Aufdecken der letzten Geheimnisse im Weblog hat nicht zwangsläufig mit einer gesprächsbereiten, sich dem anderen zuwendenden und an ihm interessiert seienden Einstellung zu tun. Der – wenn überhaupt – nur noch schwer zu bewältigende Überfluss an Informationen schlägt in ohnmächtige Sprachlosigkeit um. In der durch die Flucht aus der „normalen“ Sprache gekennzeichneten 140Zeichen-Welt der Generation Twitter hat man sich kurz zu fassen. Der oft genug an eine verarmte Endzeitrhetorik erinnernde Austausch von Informationen – selten von Schlussfolgerungen oder gar Gefühlen begleitet – steht unserem Aufklärungserbe hilflos gegenüber. Neue Communities wollen ordnen, Strukturen schaffen. Indessen werden gerade geschaffene, als unbegrenzt herbeigesehnte Möglichkeitsräume dabei durch uns selbst wieder beschränkt. Solche teilweise am Einzelnen vorbei ablaufenden Entwicklungen werfen Fragen auf: Sind die Strukturen in der sich entwickelnden re:publica für den Einzelnen überhaupt transparent? Was passiert, wenn jeder mit jedem verlinkt ist? Wie wird sich unser lebensweltliches Verhalten zukünftig gestalten? Taugt das World Wide Web wirklich als Trainingsplatz für soziales Verhalten? Ist man im Internet überhaupt bereit, sich gegenseitig als Person anzuerkennen, der jeweiligen virtuellen Identität Glauben zu schenken? Und: Wie ist es um die „Erfindung“ des Individuums im multimedial-orientierten Zeitalter bestellt? – – – Die Selbsterkenntnis des Individuellen, die den Grundstein für den Rückzug ins Private gelegt hat, wird dem Einen oder Anderen in der virtuellen Praxis zum Problem. Manch einer verliert die Lust, in der „echten“ Welt zu leben. Die Angst, verlassen zu werden, allein zu sein – sie treibt uns ins Web. Doch unser scheinbar gusseisernes Selbstgefühl ist auch im virtuellen Raum nur so lange intakt, bis die Realität zur Herausforderung wird, es Probleme gibt und schließlich die Funktion der Verdrängung versagt. Als sich profilierendes Selbst habe ich mich – nicht nur in derartigen Momenten – meines eigenen Verstandes zu bedienen. Dieser verweist mich auf die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Selbst, aber auch auf seine Bedrohungen –

„Werde, der du bist!“

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und fordert deren Beseitigung. Das Individuum braucht den öffentlich-realen Raum, die lebendige Konfrontation mit dem Gegenüber, es muss mit den als Entwicklungschance zu begreifenden Krisen in der Realität umgehen. Erst der Umgang mit den Schwierigkeiten des Lebens formt unser Wissen. Es ist das Bewusstwerden unseres So-Seins in seiner Dynamik, das somit zur letzten Instanz unseres Handelns wird. – – – Der sich noch immer unbesiegbar wähnende technische Fortschritt nimmt uns nicht nur manch eine Sorge ab. Zunehmend – und unbewusst – wird er auch zum Erzieher. Oft genug spüren wir eine Machtlosigkeit, fühlen uns ahnungslos ausgeliefert und werden auf unser Unvollkommensein, auf die Distanz zur erstrebten Selbstverwirklichung verwiesen. Und doch ist es gerade das Unvollkommene, das uns hoffen lässt – und dem Leben einen Sinn verleiht. Viele stehen erst am Beginn solcherart von Erkenntnis und Entwicklung. Und nicht allein Schlick stellte deshalb fest: „Nicht alle Menschen werden durch die Frage nach einem Sinn des Lebens beunruhigt. Die einen, nicht die Unglücklichsten, stehen auf der Stufe des Kindes, das noch nicht danach fragt; die andern fragen nicht mehr danach, sie haben die Frage verlernt. Zwischen ihnen stehen wir, die Suchenden.“5

Suchen wir, provozieren wir mit unseren Fragen und unserem Handeln. Seien wir, wir selbst!

5

Schlick: Der Sinn des Lebens, ebd., Bl. 1.

Über die allmähliche Vertreibung des Lebens (und der Philosophie) aus dem erkenntnisoptimierten Binnenraum der spätmodernen Hohen Schule Ursula Pia Jauch Einige kleine Bemerkungen, recht lebensschnell hingeschrieben aus einem mittleren philosophischen Verzweiflungsanfall anlässlich der gerade okkurierten Site Visit der Experten zur Evaluation des Philosophischen Seminars der Universität Zürich im Monat April des Jahres 2009

Es gab einmal eine Zeit – lang ist’s her –, in der die Erwähnung eines so wolkenwolligen Begriffes wie desjenigen der „Lebensphilosophie“ auch im Glanzraum der akademischen Vorzeigephilosophie deutscher Provenienz nichts Ehrenrühriges war. Wie gewiss erkenntlich, redet, wer so schreibt, im Präteritum, präziser: in jener märchenpoetischen Vergangenheitsform, mit der mittlerweile auch die Philosophiegeschichte ihre eigene Biografie im Sinne einer Verlust- und Verfallsgeschichte erzählen muss. Konkreter: Noch der große Wilhelm Dilthey konnte – als das Auftreten von talibanisierten philosophischen BegriffsReinheits-Wächtern noch ein unguter Geist der Zukunft war – von einer „Philosophie des Lebens“ sprechen, in der das „Leben“ begrifflich gerade dadurch gefasst war, dass es (mit Montaigne etwa und seinem kaum je aus dem „Que saisje?“ eliminierbaren Fragezeichen) weder auf einen analytisch klaren und deutlichen und schon gar nicht auf einen quantifizierbaren Begriff zu bringen war. Jedenfalls: In Wilhelm Diltheys 1883 publizierter Einleitung in die Geisteswissenschaften (die beim großen Teil der heutigen akademisch-philosophischen Zunft wohl längst den Status einer vernachlässigbaren Prähistorie einnehmen dürfte) findet sich eine hübsche kleine Bemerkung über das „Leben“ Goethes: „Und solange nicht Jemand behauptet, dass er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welchen wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft [i. e. die Geisteswissenschaft] nicht bestritten werden.“

In der Zwischenzeit haben wir freilich – darin irrte Dilthey – die Geisteswissenschaften etlichen großen und sehr großen Krisen ausgesetzt gesehen; atemlos haben wir den fulminanten Aufstieg der „Leitwissenschaft“ Biologie verfolgt

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und sind gegenwärtig überwältigte und fassungslose Zeitgenossen einer überaus glücklichen Zeit, in der die mit viel Forschungsgeld dotierten Neurowissenschaften knapp davor stehen, das Rätsel von Goethes „Leben“ mutatis mutandis nun tatsächlich aus einem spezifisch gearteten Hirn deduzieren zu können. Leben ist Hirn, beziehungsweise ohne Hirn kein Leben. Das wird doch wohl niemand bestreiten. Freilich: Wer genauer hinschaut, weiß, dass auch die neuen life sciences – zieht man einmal das Pathos ab, mit dem die Frontsoldaten der spätmodernen Erkenntniskriege ihren demnächst zu erwartenden Endsieg über das Geheimnis der „Bausteine des Lebens“ in ihrer fulminant formulierten Forschungsgeld-Antragsprosa schon vorzelebrieren –; zieht man also die hochpathetische Erkenntnis-Versprechens-Prosa aus den neuen life sciences ab, so bleibt oft nicht mehr sehr viel. Ein paar Worte (übrigens meist Metaphern à la „Baustein des Lebens“, „Ereignisort der Moral“, „Neurobiologie des Altruismus’“ etc.) von eher poetischem denn hermeneutisch klarem Gehalt. Und das war es dann auch schon. Geblieben dagegen sind die alten Fragen. Wir erinnern uns: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Nur eben: Kaum einer der neuen Frontsoldaten im naturwissenschaftlichen Endkampf um die „Formel des Lebens“ wird sich heute noch – gegen die peer-reviewer eines Journals, gegen die Forschungs-Geld-Geber, gegen Experten- und Evaluationskommissionen – jene skeptische Distanz leisten können, mit Montaigne oder Kant oder Du Bois-Reymond (et al.) jene Fragen zu stellen, die die Erkenntisfähigkeit des menschlichen Geistes als solche betreffen. Auch das übrigens ist nichts Neues. Wenn der späte, zum philosophischen Aphoristiker mutierte Wittgenstein so raunend behauptet, die Aufgabe der Philosophie bestünde darin, „der Fliege den Ausgang aus dem Fliegenglas [zu] zeigen“, so gilt es zu bedenken, dass der Mensch immer im Fliegenglas seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit denkt und existiert. Daraus gibt es bekanntlich keinen Ausgang. Es gibt also auch nichts wirklich Neues im Leben des Geistes. Auch nicht in der erkenntnisfanatischen Spätmoderne. Das Leben? Vielleicht mit Nietzsche, § 513 aus „Menschliches, Allzumenschliches“, I: „D a s L e b e n a l s E r t r a g d e s L e b e n s : – Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntnis ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie.“

Es braucht heute – in dieser hübschen Zeit, in der die Philosophie an den Hohen Schulen vornehmlich damit beschäftigt zu sein scheint, ihre eigene Wissenschaftlichkeit gegenüber den anderen, so überaus frohen und positiven Wissenschaften ausweisen zu können1 – ein geradezu starrsinniges Traditionsbe1 Wahlweise könnte hier auch stehen: „und in der das karrierebewusste Gros der öffentlichrechtlich bestallten Professoren aus der Philosophie eine hübsche analytische

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wusstsein, wer daran erinnern wollte, dass der Terminus „Lebensphilosophie“ einst einmal in erstaunlichen Ehren gestanden hat. Lebensphilosophie? Diese „weichen“ und wissenschaftlich nicht beweisbaren Sätze eines Henri Bergson, eines Georg Simmel? Heideggers Sinnieren über „Seinsvergessenheiten“ und das Leben als Sorgen; Plessners Nachdenken über den Zusammenhang von Leben, Lachen und Weinen; Ortegas kleine daseinsästhetische Einwürfe gegen die Trennung von Begriff und Leben – „Was gewinnen wir dabei, wenn wir den Wald rings um uns nicht nur als eine geheimnisvolle Umarmung wahrnehmen, sondern darüber hinaus auch noch den Begriff des Waldes unser eigen nennen? Der Begriff ist keineswegs so etwas wie ein weiteres, sehr subtiles Ding, das dazu bestimmt wäre, den Platz des materiellen Dings einzunehmen. Es kann darum auch nicht seine Aufgabe sein, die Intuition, den wirklichen Eindruck, zu ersetzen. Die Vernunft kann und muss nicht den Anspruch erheben, Stellvertreterin des Lebens zu sein. Die Gegenüberstellung von Vernunft und Leben, wie sie heute bei denen im Schwange ist, die es sich bequem machen wollen, ist bereits verdächtig.“

Gewiss. Ortegas 1914 publizierten Meditaciónes del Don Quijote finden sich auf keiner normierten Klassiker-Prüfungsliste eines spätmodernen und im Sinne von „Bologna“ auf Vordermann gebrachten Philosophischen Instituts. Ortegas Meditaciónes zu kennen, ist für einen Philosophiestudierenden fast schon genauso exzentrisch (oder extraterrestrisch?), wie es für Prüflinge sträflich wäre, die paar analytisch entscheidenden Stellen aus den cartesischen Meditationes, dem Discours (gelegentlich noch aus den Regulae oder den Principia) nicht zu kennen. Statt Nietzsche, Dilthey und Ortega also Descartes. Und noch dazu ein Descartes, der aufgezurrt wird, als ob er der wasserfeste Ahnvater einer frühneuzeitlichen analytischen Philosophie gewesen wäre; fern vom Leben und fern auch von seiner eigenen Biografie. Mit welcher Eilfertigkeit hat die Ideengeschichtsverwaltung im Verbund mit der curricularen Schulphilosophie aus dem Träumer, Zweifler und akademischen Spötter René Descartes jenen von allen Lebenszweifeln, Wahnideen und esoterischen Restsummen bereinigten „Vater des Rationalismus“ gemeißelt. Besonders erstaunlich ist dieses „Rezeptionsschicksal“ übrigens auch insofern, als der in seinen erkenntnisbiographischen Schriften gar nicht mundfaule Descartes wie kaum ein Denker vor und nach ihm (ausgenommen wohl Christian Thomasius und Arthur Schopenhauer) die philosophischen Schulgelahrten als eine eitle Schwätzer-Zunft hingestellt und sich folgedessen bewusst von der Kathederphilosophie seiner Zeit ferngehalten Dienstmagd gemacht haben, deren willfährige Beweis-Kunst-Fertigkeit in ganz Akademien gern gesehen wird, außerhalb Akademiens dafür gar nicht; will heißen: Der innerakademische Erfolg der ,analytischen Philosophie‘ erklärt sich daraus, dass sie für die Belange der Öffentlichkeit irrelevant und also gesellschaftlich – außer dass sie einiges kostet – komplett funktionslos ist.“ Freilich wäre eine solche Bemerkung ein bisschen polemisch, und da sei der Philosophengott vor.

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hatte (lesen wir nicht immerhin im Discours, dass es „die Philosophie ermöglicht, mit einem Schein von Wahrheit über alles zu reden, und sich von Leuten, die weniger gelehrt sind, bewundern zu lassen“?). Doch die wissenschaftliche communis opinio hat sich darauf geeinigt, den La Flèche-Zögling als den Ingenieur eines glasklaren Dualismus’ zu rubrizieren, wiewohl jeder, der auch nur etwas mehr Descartes liest, als dies für die heutige studentische credit pointJagd vonnöten ist, bemerken muss: Die cartesische „Vernunft“ ist ein aus einer lebensweltlichen Bedrängnis heraus geborenes kontraphobisches Unternehmen; ein Notseil in einer psychischen, religiösen und erkenntnismäßigen Bedrängnis. Und weiter in diesem etwas extravaganten Kleinst-Essay über den „Lebensphilosophen“ Descartes: Es gab und gibt keine einschlägige Erfolgsgeschichte des Rationalismus. Stattdessen gibt es eine Biografie – man lese etwa Descartes’ Briefe an den Pater Mersenne –, aus der die glasklaren Zeichen einer ständigen lebensweltlichen Krise herauslugen: mystische Träume, böse Geister, Ängste. Die gesuchte Vernunft ist ein Produkt aus dem Leben des Geistes und insofern eine hochgradig emotionale bzw. quasi-religiöse Größe, da mit ihr die größten Hoffnungen und Heilserwartungen verbunden sind. Woran auch immer die Welt und das Leben des Menschen genesen sollen – am „Glauben“, an der „Liebe“ oder an der „Hoffnung auf Vernunft“: Es gibt keine unbefleckte, von den Sorgen und Ängsten des menschlichen Lebens bereinigte Geburt der Vernunft. Inwiefern Descartes gerade dem spezifisch Lebensweltlichen und Emotionalen der gesuchten Rationalität sehr wohl Rechnung getragen hat, sieht, wer seine zweitletzte Schrift konsideriert, die Passions de l’âme von 1649. Dort jedenfalls zeigt sich der Hausphilosoph der Christina von Schweden als undogmatischer Vertreter einer sehr „weichen“ Rationalität, welche die Nähe zur Affektenlehre der antiken Lebensphilosophie sucht. Und sowieso: Berichtet Descartes, der spätere Lobredner der Klarheit und der Deutlichkeit, nicht selbst davon, wie er sein „System“ empfangen habe; wie er in der Martininacht 1619, am Übergang vom 10. zum 11. November, in seiner warmen Ofenstube2 die Vision eines Funkenregens, einer Melone gehabt habe und von Büchern, die auf den „richtigen“ Seiten aufgeschlagen gewesen seien? Ohne Zweifel. Es ist ein köstliches Paradoxon, sich vor Augen zu führen, dass die Geburtsgeschichte der universalen Mathematik und der frühneuzeitlichen „analytischen“ Philosophie von Feuerlichtern, göttlichen Geistern und Kürbisgewächsen begleitet war. Wie viele Geistesgrößen haben sich davon nicht zu einer Glosse bewegen lassen; Paul Valéry etwa, der in seinen Études philosophiques genüsslich notiert, wie „ergreifend“ es zu sehen sei, „wie der innere Proteus von der Strenge zum Delirium“ übergehe, wie „überaus dunkle Träume Zeugnisse für Descartes’ System der klaren Ideen“ seien. 2

Eine reizvolle Frage: Was wäre Descartes ohne seine warmen Öfen?

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Doch was gilt heute noch ein Paul Valéry? War das nicht jener französische Trübsinnsdenker, der die Philosophen als professionelle „hommes malheureux“ bezeichnete, die nicht vom Denken lassen können? Sowieso: Wer sind schon jene Schlegels mit ihren Vorlesungen über die Philosophie des Lebens, jene Novalisse mit ihrem „Wer weiss, was Philosophieren ist, weiss auch, was Leben ist“; was sollen denn noch heute die französischen Moralisten, die dänischängstlichen Entweder-Oder-Denker und die vielen anderen toten Helden einer Zeit, in der die Philosophie ihren Daseinsgrund noch aus dem Leben zog und auf das menschliche Leben hin bedachte? Hat Max Weber nicht luzid vorausgesagt, es würden die Persönlichkeit und das Charisma des Philosophen schwinden und dem reinen und fröhlichen Expertentum Platz machen? Was denn ist so tragisch daran, wenn ein amerikanischer Philosophieprofessor an die Tür seines Besprechungszimmers den Slogan heftet: „History of Philosophy: Just say no!“ Und würde Gilbert Harman – dieser ebenso forsche wie genealogieferne Denkexperte von Princeton – überhaupt verstehen wollen, wovon Dilthey sprach, als er 1883 formulierte – „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als blosser Denktätigkeit.“

Vernunft als bloße Denktätigkeit, fern vom Leben der Menschen, aber nah am reinen Begriff: Gibt es dazu nicht eine Denkkapriole, die ich mich dunkel zu erinnern meine, in den Lichtenbergschen Sudelbüchern gelesen zu haben? Etwa in der folgenden Passung: „Könnte man nicht sagen: Die Philosophie ist auf den Begriff gekommen wie: die Philosophie ist auf den Hund gekommen?“

Das politische Leben und das Leben des Politischen Milica Trifunovic Wir leben in einer Welt mit 195 offiziell anerkannten Staaten, zahlreichen internationalen Organisationen und unzähligen Nichtregierungsorganisationen. Wenn – wie antike Philosophen dachten – die Gemeinschaft die Politik ausmacht, dann leben wir heute eindeutig in einer politischen Welt. Neue Kommunikationsmittel ermöglichen uns, Nachrichten jeder Art schnell zu verbreiten und zu empfangen. Jeder kann jederzeit mitten im Weltgeschehen stehen und mitmachen: Stimme erheben, Meinungen äußern. Sei es direkt bei den Wahlen, durch Printmedien, Fernsehen oder Internetportale, die Möglichkeiten an politischer Anteilnahme scheinen nie größer gewesen zu sein. Die politische Macht sollte völlig in unserer Hand liegen. Immerhin gerät die Politik heute, mehr als je zuvor, in die Kritik der Öffentlichkeit, sowohl der Intellektuellen als auch der Laien. Selbst diejenigen, die im Rampenlicht des Politischen stehen, d. h. die Politiker, betrachten das eigene Vorhaben mit Distanz und führen an, ihre Arbeit sei von der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise oder einfach Wertkrise beeinflusst. Meiner Meinung nach entsteht hier eine Kluft zwischen eigenen Lebenseinstellungen und der Domäne der Politik. Also, alle leben politisch, zu wenige finden sich aber für die anscheinend eigenwillige Nemesis der Politik verantwortlich. Wo liegt das Problem? Sind das politische Leben und das Leben des Politischen tatsächlich zwei verschiedene Dinge? In dem Sinne frage ich auch, ob die Möglichkeit der politischen Partizipation nur trügt und die Politik ein eigenes autarkes Leben hat, woran die Beteiligung der einzelnen Menschen nichts ändern kann? Schließlich entsteht die Frage, ob die Politik, wie Volker Gerhardt unterstrichen hat, eine Realität sui generis1 hat oder ist, und wenn ja, in welchem Bezug sie mit den anderen Aspekten menschlichen Lebens steht? Die Frage nach einer eigenen Realität der Politik werden wir gemeinsam mit Gerhardt bejahen und darüber hinaus betonen, dass, obwohl eigenständig, Politik auf keinen Fall eigenwillig ist, sondern immer an die Konstitution des Individuums gebunden. Es ist auch wichtig anzudeuten, was politische Partizipation und von daher auch politisches Leben ist und welche Gefahr deren falsche Interpretation beinhaltet. 1

Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 13.

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I. Die Politik „Das Spiel“ der Politik wurde uns in seiner ersten systematischen Ausdeutung von Aristoteles überliefert. Vor knapp 2500 Jahren hat er festgestellt, dass der Mensch ein zôon politikon ist, d. h. ein politisches Tier, das in sich genau das hat, was das Spiel der Politik ausmacht, aber auch das, was das Spiel verdirbt. Die Menschen besitzen Vernunft und Sprachfähigkeit. Sie können über sich selbst bestimmen und bei der Selbstbestimmung der anderen mitwirken. Und wie in jedem Spiel, können die Spieler nur während des Spiels zeigen, wie gut sie sind. Daher können sie sich überhaupt nicht außerhalb des Spieles definieren. Das Spiel geht für alle schief, wenn die Teilnehmer als Einzelgänger auftreten bzw. mehr für sich beanspruchen und nicht auf das Gemeingut achten. Aristoteles weist auf die falschen Regierungsformen hin: Tyrannei, Oligarchie, Demokratie. Für Aristoteles ist das gute Leben, nach dem jeder strebt, das gemeinsame Leben in der polis, d. h. die Politik selbst. Das politische Leben der Einzelnen ist von dem Leben des Politischen nicht zu trennen und soll auch nicht als getrennt dargestellt werden, weil das für den Nachwuchs schädlich wäre. „Das Spiel“ der Politik hat sich seit der Zeit, als die Philosophen regierten oder Regierungen beraten haben, geändert. Die wichtigste Wende besteht in der Selbstbestimmung der Bürger den anderen gegenüber. Politik, die bei Aristoteles als „Teamspiel“ gesehen wird, interpretiert Hobbes eher als Gefangenendilemma. Der eine Spieler ist dem anderen ein Wolf und die Kooperation ist ein Überlebenszwang. Der Staat wird als ein sterblicher Gott, als Leviathan gezeigt. Das göttliche Leben ist nicht das menschliche und schon scheint die Politik eine eigene Domäne für sich geschaffen zu haben. Doch der Gott des Politischen ist sterblich und die Untertanen, die sein Spiel spielen, haben ein, wenn auch nur hypothetisches, Mitbestimmungsrecht. Ganz selbstständig ist der Bereich des Politischen also nicht. Es hat nicht lange gedauert bis der Thron in dem „Politik-Spiel“ wieder dem Menschen gegeben wurde: Für Kant baut die Politik grundsätzlich auf Moral auf, d. h. das staatliche Gesetz ist Spiegelung eines inneren Gesetzes, das wiederum ein Faktum der Vernunft ist. Durch eine repräsentative republikanische Verfassung wird die Partizipation der Bürger im politischen Leben gefordert. Was Kant nicht anerkennt, ist die Art, wie sich kulturelle zwischenmenschliche Unterschiede auf „das Spiel“ der Politik auswirken können. Kant spricht von allgemeiner Hospitalität und einem grundsätzlich kosmopolitischen Ansatz.2 Bei Aristoteles und auch bei Kant wird ein Politikmodell als das Beste und Universelle angeboten.3 Die aristotelische Gesellschaft fordert Selbstbestimmung, aber nur bei den Griechen. Bürger anderer Länder werden nicht mit ein2

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, AA 8, S. 357.

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begriffen. Kants „Spiel“ beruht auf strengen Imperativen, die unbedingt eine Qualifizierung brauchen, um umgesetzt werden zu können d. h. kein umsetzbares „Politikspiel“ kann auf dem kategorischen Imperativ beruhen, ohne Ausnahmsmöglichkeiten zu erlauben. Das hobbessche Modell erläutert, dass die Politik umso entfernter und eigenwilliger scheint, je größer das Misstrauen zwischen den Mitspielern ist. Ein Spiel kann aus vielen Gründen schlecht gespielt werden. Jeder Spieler bringt eigene Vorstellungen mit. Sie müssen nicht mit konkreten Voraussetzungen auf dem Spielfeld zu tun haben, und selbst wenn die Spieler als Einzelne gut sind, heißt es nicht, dass sie als Team erfolgreich sein werden. Auf das Problem des Multikulturalismus übertragen: Vielleicht sind nicht alle für die gleiche Verfassung geeignet, vielleicht hat die Selbstbestimmung mehrfache Bedeutung. Der neuzeitliche Denker John Rawls hat das erkannt und vorgeschlagen, dass bestimmte Vorstellungen, z. B. über die eigene Religion, getrennt von den politischen Vorstellungen bleiben sollten und dadurch außerhalb des Politik-Spielfeldes.4 Das Politische bekommt dadurch eine eigene Sphäre, in der alle, die fair „spielen“ wollen, auch „spielen“ können. Rawls definiert weiter, was fair zu „spielen“ heißt, und zwar, dass die eigene, umfassende Lehre nicht zu extrem sein darf, um die Kooperation nicht zu verhindern (damit sind Religionsfanatiker und andere Dogmatiker bereits ausgeschlossen). Er behauptet weiter, dass das politische Leben gelernt werden kann. Ähnlich wie bei Aristoteles gibt es bei Rawls in jedem Menschen ein Potenzial, eine Kapazität für das moralische Benehmen, die gefördert werden soll. Damit ist auch gezeigt, dass, obwohl das Politische eine eigene Sphäre hat, es doch mit Moral verbunden ist. Man kann sich vorstellen, dass sich alle andere Lebenssphären auf die Politik ganz im Sinne wittgensteinscher Sprachspiele beziehen und, was sehr wichtig ist, dass man Erziehung und Ausbildung braucht, um sie auseinanderzuhalten. Was ich durch diesen kleinen Exkurs in die Geschichte der Politischen Philosophie hoffe gezeigt zu haben, ist, dass das Politische schon immer ein eigenes „Spielfeld“ braucht. Die Politik, kann man sagen, ist ein Kollektivsingular, in den jeder Spieler eigene Lebenseinstellungen einbringt und das Spielergebnis von dem gesamten Partizipationsfaktor abhängt.

3 Für Aristoteles ist die beste Staatseinrichtung die Aristokratie (vgl. Aristoteles: Politik, IV 2, 1289a30–32), für Kant die Republik (vgl. Kant: ebd., S. 349). 4 Vgl. John Rawls: Collected Papers, hrsg. von Sammual Freeman, Cambridge, Mass. 2001, S. 388–415.

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II. Die Qualifizierung Was ist in der Neuzeit geschehen, das die Politik so fremd gemacht hat, dass jeder von politischer Verantwortung wegschaut, obwohl jeder doch auf die eine oder andere Weise in die Sphäre der Politik verwickelt ist? Es stellt sich nicht die Frage, ob wir teilnehmen sollen, sondern wie wir das erreichen, damit es zu einem befriedigenden Resultat kommt. Globalisierung und Technisierung haben viele Möglichkeiten mit sich gebracht, vor allem beim Gründen von Netzwerken und der Erhöhung der Geschwindigkeit der Informationsverbreitung. In dieser Flut von zugänglichen Daten gibt es wenige Qualifizierungshinweise. Alles ist erreichbar, aber alles ist manchmal zu viel. Wenn man nicht genau weiß, was man sucht oder was man tun sollte, wird man schnell abgelenkt oder sogar einfach von anderen gesteuert, und obwohl man denkt, dass man im Gemeinschaftsleben integriert ist, d. h. partizipiert, tut man es nicht mit einem klaren Ziel. Die eigene Rolle in der Gesellschaft muss man erkennen und sie bewusst durchsetzen, aber auch Wege kennen, sie ändern zu können. Volker Gerhardt sagt, dass man sich bewusst als Teil des Ganzen vorstellen soll, als ein Teil einer „sozialen Totalität“5. Man muss aber auch lernen, was diese Totalität anzubieten hat, was man alles an ihr verbessern kann. Plakativ ausgedrückt: Es bringt nicht viel, wenn man am Mannschaftstraining teilnimmt, aber falsche Übungen macht. Oder es bringt nichts, gewaltsam Demokratie, z. B. in Afghanistan, einzuführen, wenn sich die Leute nicht als freie und selbstbewusste Wähler verstehen. Politische Ausbildung ist etwas, was jedem Bürger zustehen sollte, sonst partizipiert er gleichsam „ins Leere“. Vielleicht ist die technologische Entwicklung für die politische zu schnell gegangen. Und die alte Wissenschaft braucht ihre Zeit, um festzustellen, wie man die neuen Mittel und Methoden benutzt. Die Wahlkampagne des amtierenden amerikanischen Präsidenten Obama hat ein gutes Beispiel dafür gegeben, wie die meist spielerisch verwendeten neuen Medien wie Facebook oder YouTube zu ernsthaften Zwecken benutzt werden können. Damit ist die Teilnahme z. B. von Facebook-Nutzern an wichtigen Themen bewiesen worden, und es hat sich gezeigt, dass sie an dem Machtwechsel in Amerika partizipierten. III. Der Philosoph Um noch einmal auf die Anfangsfrage zurückzukommen: Existiert tatsächlich eine Kluft zwischen dem politischen Leben und dem Leben des Politischen? Immer neu stellt sich die Frage, wo die Rolle der Philosophie liegt, in unserem 5

Gerhardt (2007), S. 28.

Das politische Leben und das Leben des Politischen

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Fall der Politischen Philosophie. Als Konsequenz dessen, was bereits gesagt wurde, scheint es mir klar zu sein, dass das Politische ein eigenwilliges Leben hat, weil sich die Menschen an den Entscheidungen ihres Staats oft nicht qualifiziert, nicht mit nützlichen Informationen ausgerüstet, beteiligen. Dass alle heutzutage, zumindest in der westlichen Welt, politisch leben, ist auch unbestritten; Trittbrettfahrer geben mit ihrer Lebensweise auch ein politisches Statement ab. Die Rolle der Philosophie sollte darin bestehen, die Bereiche zu suchen, wo das spezifisch Politische an die anderen Lebenssphären des Menschen anknüpft. Dem Philosophen obliegt die Aufgabe, die scheinbare Kluft zu überbrücken und das Gesellschaftsspiel wieder in Gang zu setzen.

Leben als Tätigsein Zum Begriff des Lebens bei Hannah Arendt Holger Sederström So wenig Beachtung der Begriff des Lebens in der Forschung zu Hannah Arendt findet, so zentral ist er in ihren Untersuchungen. Tragen doch allein schon zwei ihrer wichtigsten Werke das Leben (zumindest im Deutschen) im Titel, eines sogar gleich zweimal: Vita activa oder Vom tätigen Leben und Vom Leben des Geistes. Die Vernachlässigung des Lebensbegriffs hat ihre Ursache zweifelsohne in der Opposition von Leben und Welt, die, als Plädoyer für die Weltlichkeit, ein Grundmotiv vor allem der Vita activa bildet. Dort ist von der Weltlosigkeit des Animal laborans die Rede und vom Einbruch eines christlichen Lebensbegriffs in die antike Welt, ein Einbruch, der sich infolge der Säkularisierung nicht abgeschwächt, sondern eher noch verselbstständigt hat.1 Die Diagnose Arendts im sechsten Kapitel von Vita activa ist bekannt. Durch die Umkehrung der Hierarchien der Tätigkeiten kommt es letztlich zu einer Überbetonung des Begriffs des Lebens, der mit dem Verlust von Welt korrespondiert. Diese Entgegensetzung von Leben und Welt mit der Betonung der Weltlichkeit bei Hannah Arendt macht es schwierig, das Leben begrifflich positiv zu fassen. Zuerst ist in der Vita activa der Begriff des Lebens verbunden mit dem der Arbeit als eine der drei Grundtätigkeiten. Arbeiten ist nichts, wozu wir uns entschließen; Arbeit ist unmittelbarer Teil des Lebens, eine Notwendigkeit, die sich ständig wiederholt. Als biologischer Prozess ist sie zyklisch, eine Tätigkeit, deren Feld das Leben selbst ist. Konsumgüter des Arbeitens entziehen sich der Welt, in der sie erscheinen, sofort wieder dadurch, dass sie erst zu Konsumgütern werden, indem sie verbraucht werden. Der Zweck der Arbeit liegt daher nicht in ihnen, sondern im Leben selbst. Es existiert keine Zweck-Mittel-Relation bezüglich des durch die Arbeit produzierten und die Konsumption verbrauchten Gegenstandes, die Gesamtheit von Produktion und Konsumption eines Konsumgutes beschreibt vielmehr die Eingebundenheit des Arbeitenden in den durch die Arbeit repräsentierten Lebensprozess.

1

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2007, S. 399 ff.

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Erst mit dem Herstellen wird der konkrete Lebensbezug der Arbeit um den der Welt erweitert. Es ist diese Weltlichkeit, die das Herstellen vom Arbeiten unterscheidet. Dadurch, dass es nicht mehr dem unmittelbaren Überleben dient, kommt dem Herstellen der Freiraum zu, sich auf die Welt jenseits des Notwendigen zu beziehen; dieses „jenseits des Notwendigen“ rekurriert also auf eine schon erschlossene, als Welt erkannte Welt. Einen Gegenstand herzustellen, bedeutet, ihn in die Welt zu bringen. Somit ist das Herstellen aus dem Prozess des Lebens herausgenommen, da es nicht zurückgibt, was es nimmt, der Homo faber muss zerstören, um zu erschaffen. Damit konstituiert er Welt als Kultur, als „künstliche Welt von Dingen“2. Dennoch ist die Grundlage für das Herstellen in der gesicherten Existenz, das heißt in der Arbeit zu suchen, denn ohne Leben kein Weltbezug. Schon hier zeigt sich ein Fortlaufen des Lebensbegriffs: „Weltdinge“, so heißt es, haben „die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren“3. Die Weltlichkeit ist prinzipiell aus dem Notwendigkeitskreislauf des Lebens herausgenommen, der ihr zugrunde liegt, sie wirkt dennoch auf ihn zurück, allein schon dadurch, etwas Hergestelltes zur Arbeit gebrauchen zu können. Auch im Handeln, der dritten Tätigkeit, kommt das Leben bei Arendt wieder zur Sprache, als spezifisch menschliches Leben in der Pluralität, als „die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben.“4 Die scheinbare Abwertung des Begriffs des Lebens durch Arendt entsteht nun dadurch, dass sie das menschliche Leben als immer schon bedingt ansieht und die Bedingtheit in den Fokus ihrer Untersuchungen stellt.5 Dadurch aber erhält der Begriff des Lebens bei ihr erst seine Pointierung. Eine positive Konnotation erfährt das Leben bei Arendt jedoch, wenn es um die Thematisierung der Natalität geht, sie ist die „allgemeinste Bedingtheit menschlichen Lebens“6. Insbesondere das Handeln ist für Arendt eng an die Natalität geknüpft.7 Nirgends zeigen sich Weltlichkeit und immer neu beginnende Lebendigkeit deutlicher als hier. Der Mensch wird nicht, wie bei Heidegger, in die Welt geworfen, sondern menschliches Leben wird immer hineingeboren in einen Weltzusammenhang gemeinsam Lebender, in dem es sich selbst konstituiert. Es ist also ein Trugschluss, Handeln in Opposition zu Leben zu setzen. Die Lebewesen in der Welt der Erscheinungen, die den Ausgangspunkt in Vom Leben des Geistes bildet,8 sind „von dieser Welt“ 9: „Leben heißt von ei2 3 4 5 6 7 8 9

Ebd., S. 16. Ebd., S. 162. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 18. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, München 1998, S. 29 ff. Ebd., S. 30.

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nem Drang zur Selbstdarstellung beherrscht sein, der Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit.“10 Arendt bindet hier den Weltbegriff nachdrücklich an den des Lebens, indem sie Leben eben als nicht nur in, sondern von der Welt wiederholt herausstellt.11 Jede Form von Weltlosigkeit oder Weltverlust gilt ihr als ein Verkennen einer ursprünglichen Welthaftigkeit des menschlichen Lebens – in der Vita activa die Weltentfremdung als Kennzeichen der Moderne infolge der Umkehrung der Tätigkeitshierarchien, in Rahel Varnhagen die Weltentfremdung des Parvenu, der, wie die Protagonistin, in keiner Welt wirklich zu Hause ist, in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die Weltlosigkeit der Massen und des Totalitarismus, in Wir Flüchtlinge die Weltlosigkeit der Flüchtlinge, die mit dem Verlust von Rechten einhergeht, und schließlich in Vom Leben des Geistes jeder Rückzug von der Welt, jede Zwei-Welten-Theorie,12 der Arendt die weltstiftende Funktion der Urteilskraft entgegensetzt. So lässt sich die Kritik Arendts an einem „modernen Lebensbegriff“13 relativieren. Und liest man Arendts Kritik am Lebensbegriff am Ende von Vita activa genauer, wird diese Pointierung deutlich: „Erst als die Vita activa ihre Ausrichtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als tätiges Leben voll entfalten; und nur weil dieses tätige Leben ausschließlich auf Leben als solches ausgerichtet war, konnte der biologische Lebensprozeß selbst [. . .] so ungeheuer intensiviert werden, daß seine wuchernde Fruchtbarkeit schließlich die Welt selbst und die produktiven Vermögen, denen sie ihre Entstehung dankt, in ihrer Eigenständigkeit bedroht.“14

Arendts Begriff der Vita activa, des tätigen Lebens, ist eben nicht ein rein am Handeln orientierter, sondern einer, mit dem die Tätigkeiten, durch die er beschrieben wird, in ihrer jeweiligen Bedeutung ernst genommen und zu erhalten versucht werden. Nicht nur für die Vita activa ist die Verbindung der Tätigkeitsbegriffe mit dem Leben von Bedeutung. Er ist auch für Vom Leben des Geistes konstitutiv und schlägt somit auch eine Brücke zwischen den inneren und äußeren Tätigkeiten. Der Zusammenhang findet sich schon in den Denktagebüchern, wo es 1968 heißt: „Leben – Arbeiten – Denken gehören zusammen. Auf der untersten Stufe des Lebendigseins als einer Tätigkeit steht das Arbeiten, auf der höchsten das Denken“15, „sie sind die menschlichen Modi des Lebendigseins.“16

10 11 12 13 14 15 16

Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33 ff. Arendt (2007), S. 399. Ebd., S. 407; H. v. m. Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis 1973, München 2002, S. 693. Ebd., S. 492.

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Dementsprechend heißt es in Vom Leben des Geistes: „Wenn das Denken seinen Zweck in sich selbst hat und die einzige für es passende Metapher – der gewöhnlichen Sinneserfahrung entnommen – das Gefühl des Lebendigseins ist, dann folgt, daß alle Fragen über das Ziel oder den Zweck des Denkens so unbeantwortbar sind wie Fragen über das Ziel oder den Zweck des Lebens.“17

Die von Arendt so bestimmte Heimat- und Weltlosigkeit des Denkens, als notwendiger Rückzug des Denkens von der Welt durch die Transformation der Gegenstände der Welt in Gedankendinge,18 ist nicht per se, ebenso wie die Weltlosigkeit des Arbeitens, eine negative Konnotation. Vielmehr kennzeichnet sie die Tätigkeit in ihrer spezifischen Eigenart und grenzt sie so idealtypisch von den anderen ab. Erst dadurch schafft Arendt sich die Grundlage, eine Verabsolutierung der Tätigkeiten oder eine Umkehr der Begriffshierarchie zu thematisieren. Wenn von der notwendigen „Flucht aus dem Leben“19 zur Konstitution von Welt die Rede ist, meint dies nicht mehr als den Übergang zu einer anderen Tätigkeitsweise, die um der Tätigkeit selbst willen ihre idealtypische Abgrenzung erhält. Dabei korrespondiert Arendts Kritik an einem Verlust von Welt durch einen weltlosen Lebensbegriff infolge des „Sieges des Animal laborans“20 mit ihrem ausdifferenzierten Tätigkeitsbegriff in der Art, dass es jenseits einer bloßen Lebendigkeit immer auch ein Leben als Tätigkeit gibt. Denn die Hierarchisierung der Tätigkeiten löst die Funktion des Lebens nicht einfach auf und transformiert sie in Welt. Leben als tätiges Leben verwirklicht sich im Arbeiten als Lebenserhalt, im Herstellen als Schaffen von Welt, um in ihr zu leben, und im Handeln als Konstitution eines gemeinsamen In-der-Welt-Lebens. Analog dazu, wenn auch nicht so offensichtlich, sichern Denken, Wollen und Urteilen dem menschlichen Leben seine geistigen Kompetenzen. Der Wille ist nicht nur je ein Neuanfang, er ist ein Ausdruck des „Lebenstriebs“, eine „Funktion des Lebens“ (dies vor dem Hintergrund der Diskussion Nietzsches durch Arendt).21 Auch hier kennzeichnet sie ein spezifisch menschliches, ein im Sinne der Natalität Anfang setzendes Leben, und zwar als „zur Freiheit verurteilt.“22 Wenn Handeln diesem Reich der Freiheit zugerechnet ist, korrespondiert das Wollen, als die Tätigkeit des Anfangens, mit der Welt, die durch das Handeln als eine gemeinsame Welt konstituiert wird. Auch die Urteilskraft selbst ist an das Leben zurückgebunden, indem sie die Handelnden als Urteilende in der gemeinsamen Lebenswelt hält.

17 18 19 20 21 22

Arendt (1998), S. 193. Vgl. insbesondere ebd., S. 197. Arendt (2002), S. 492. Arendt (2007), S. 407. Arendt (1998), S. 350; s. auch S. 386 ff. Ebd., S. 443.

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Die so simpel anmutende Frage der Vita activa danach, „was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind“23, eine Frage, die als Leitmotiv gleichermaßen auch für Vom Leben des Geistes gelten kann, findet ihre in ihren Konsequenzen gar nicht so simple Antwort darin, dass menschliches Leben immer ein tätiges Leben sein muss, um als wahrhaft menschliches Leben Bestand haben zu können. Die Tätigkeiten, wie sie jeweils in ihrer Hierarchie vorgestellt werden, angefangen bei den lebensnahen des Arbeitens und Denkens, bringen demnach bei Arendt nur den Impuls menschlichen Lebens, tätig zu werden, zum Ausdruck. Das Leben gilt ihr als resultatlos, ebenso wie das Arbeiten, das in seiner zyklischen Struktur unmittelbar mit dem Verbrauchen korrespondiert, und das Denken, das fortwährend zerstört, was es erschafft.24 Doch bildet dies den Ausgangspunkt, durch zunehmende Weltlichkeit aus dem Leben als rein biologisches Faktum ein gestaltetes, aktives menschliches Leben zu formen. Um die scheinbar unüberbrückbare Spannung zwischen Leben und Welt, wie sie in der Vita activa aufgebaut wird, mit einer Paraphrasierung aus den Denktagebüchern aufzulösen: Nicht von der Unterscheidung von Leben und Welt ist hier die Rede, sondern von der von Leben und „lebendigem Leben“25. An dieser Stelle hebt sich die Opposition des Begriffspaares Welt und Leben auf und verdeutlicht sich die Rückbindung letztlich auch des von Hannah Arendt mit Weltlichkeit apostrophierten Politischen an das Leben, das als „menschliches Leben [. . .] in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt.“26

23 24 25 26

Arendt Arendt Arendt Arendt

(2007), (1998), (2002), (2007),

S. S. S. S.

14. 174. 492. 33.

Vivre c’est essayer: Montaignes Philosophie heißt Sterben lernen Wilson McClelland Dunlavey An einem schönen frühen Sommerabend im Jahr 2007 diskutierte ein gut gefülltes Seminar mit Volker Gerhardt über Montaignes Essay Philosophie heißt Sterben lernen.1 Obwohl die jahreszeitlich fröhliche Atmosphäre zu einem melancholischen Thema unpassend erschien, gelang es Herrn Gerhardt, die Anmutung jenes Themas rechtzeitig in ihr Gegenteil zu verwandeln: Da der Mensch seinen unvermeidbaren Tod immer aus dem Blickwinkel des Lebens betrachtet, heißt sterben zu lernen eigentlich, leben zu lernen. In seinem Essay betrachtet Montaigne das Sterben aus den gegensätzlichen Perspektiven der Natur und der Vernunft, die dem gleichen Resultat dienen. Während die Vernunft uns mit guten Argumenten zu überzeugen sucht, das Sterben nicht zu fürchten, leitet die Natur uns sanft an, es mit Anmut zu akzeptieren. In seinem in der Erstausgabe vorhergehenden Essay Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen hofft Montaigne, seinen eigenen Tod in Gelassenheit erfahren zu dürfen. Dies gelang ihm in der Tat: Er starb 1592 im damals beachtlichen Alter von 59 Jahren friedlich in seinem Bett. Der Essay Philosophie heißt Sterben lernen stellt den Menschen als Teil der Natur in den Mittelpunkt. Sein Leben wird dabei metaphorisch als ein sanfter Hügel bezeichnet, dessen Scheitel die Jugend ist. Dank der Natur verwandelt sich der Mensch nicht von einem Tag auf den anderen von einem kräftigen Jüngling in einen altersschwachen Greis – die Glücklichen führt die Natur vielmehr langsam und liebevoll von der Geburt bis ins Sterben. Die personifizierte Natur als sanfte Führerin dient zudem als Vorbild für ein ruhiges, reflektiertes Maßhalten in allen Bereichen des Lebens. Das Ende dieses Essays, in dem Montaigne Lukrez ausgiebig zu Wort kommen lässt, feiert das Sterben geradezu als Teil der Ordnung des Universums. Auch wenn wir Montaignes Rat, das Sterben mit Gelassenheit hinzunehmen, nicht annehmen wollen, ist unser Tod dennoch unausweichlich. Es liegt nicht in unserer Macht, gegen die Natur zu kämpfen. Doch wie man das Unausweichliche annimmt, ist eine Frage der Lebensführung. Während, so Montaigne, der Soldat im Krieg und der Bauer dem Tod mit undramatischer Akzeptanz gegen1

Michel de Montaigne: Essais, übers. von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998.

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überstehen, verschleiert sich der Adlige mit Furcht. Montaigne beschreibt die Szene des Todes eines Adligen auf fast amüsante Weise: bleiche Gesichter, unkontrollierte Schreie, verdunkelte Zimmer, flackernde Kerzen, aufgeregte Ärzte und murmelnde Priester.2 Es wirkt, als seien alle Teilnehmer bereits tot. „Man muss deshalb sowohl den Dingen, als auch den Menschen die Maske abnehmen,“ beendet Montaigne den Essay.3 Wenn wir dies tun, „werden wir darunter nichts anderes, als denselben Tod entdecken, den letzthin ein Hausknecht oder eine einfache Kammerzofe furchtlos hinter sich gebracht hat.“4 Die Metapher der Maske – und die Weisheit der Dienerschaft – erinnern den Leser an den Anfang des Essays, an dem Montaigne die Einheit der Tugend und Glückseligkeit bei Aristoteles5 in Frage stellt: „Jene, die uns unaufhörlich einreden wollen, der Weg zu ihr [der Tugend] sei steil und steinig, ihr Genuss am Ziel aber um so erquicklicher – was sagen sie damit anderes, als dass sie stets unerquicklich sei? Denn wann hätte es Menschenkraft wohl vermocht, dieses Ziel zu erreichen?“6 Die Maske des Adels erscheint als Erwartung, das Streben nach der Tugend – Montaigne nennt sie an dieser Stelle Kraft – genießen zu können. Doch strebt der Adlige nach einem unerreichbaren Ziel und fürchtet darin umso mehr seinen Tod. In erster Linie ist er unglücklich. Als er begann, seine Essays zu schreiben, war auch Montaigne unglücklich; der frühe Tod seines besten Freundes Etienne de la Boétie hatte ihn schwer erschüttert. Seine außergewöhnliche Beziehung zu ihm beschrieb er in seinem Essay Über die Freundschaft: So einmalig, so vollkommen sei diese gewesen, dass ihre beide Willen zu einem verschmolzen seien. Mit dem Tod Etiennes sei so auch die Hälfte Montaignes gestorben.7 Daher ist Montaignes Blickwinkel auf das Leben und Sterben die eines Halblebendigen und Halbtoten. Dieser Zustand erlaubte es ihm, mit einer nie da gewesene Form der Selbstreflexion zu experimentieren. Die von ihm eingeführte Form des Essays, in dem er selbst der Inhalt seines Buches ist,8 ermöglicht es Montaigne, seine eigene Person zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und gleichzeitig auf einer allgemeinen Ebene zu reflek2 In einem Brief an seinen Vater beschreibt Montaigne eine ähnliche Szene vom Sterben seines Freundes Etienne de la Boétie, die hier jedoch höchst makaber erscheint. Dieser Gegensatz zeigt Montaignes Fähigkeit, Situationen entsprechend seiner argumentativen Absichten umzudeuten. (Michel de Montaigne: The Complete Works, Everyman’s Library, London 2003, S. 1276–1288). 3 Montaigne (1998), S. 52. 4 Ebd. 5 Siehe den Anfang der Eudemischen Ethik, 1214a1–8. 6 Montaigne (1998), S. 46. 7 „Ich war schon so gewöhnt und darin eingeübt, stets ich zu zweit zu sein, dass mich dünkt, jetzt lebte ich nur noch halb“ (ebd., S. 104). 8 Ebd., S. 5.

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tieren. Insofern sind seine Essays für ihn eine Art, sich selbst durch das Schreiben zu demaskieren. In dieser ernsthaften Selbstreflexion erkennt Montaigne, dass ihm die Kraft fehlt, nach einer unerreichbaren Tugend zu streben und sein ganzes Leben im Unglück zu verbringen. Für ihn ist die Lust notwendig mit dem Tugendbegriff verbunden, wobei er es offen lässt, ob großzügige Männer wie Sokrates glücklich ohne Lust zu sein vermögen.9 Für Montaigne muss der Tugendbegriff mit dem lebendigen Charakter des Menschen zusammenpassen.10 Wir würden Montaigne aber Unrecht tun, führten wir uns nicht vor Augen, dass er mit seinen Überlegungen keine Allgemeingültigkeit anstrebte – weder für sich selbst noch für seinen Leser. Seine Schreibergebnisse sind deshalb immer provisorische Lösungen, die er stets selbst wieder infrage stellt; seine Essays stellen viel eher Erkenntnisprozesse dar.11 Dabei unterliegen sowohl der Urheber als auch das Subjekt seines Schreibens einem ständigen Wandel. Deshalb ist die ruhige Lektüre der Essays eine intime Erfahrung mit dem wechselvollen Leben Montaignes, durch die sich der Leser auch der Wechselhaftigkeit seiner eigenen Existenz bewusster wird. Dadurch wird ein eigener Reflexionsprozess in Gang gesetzt, in dem er – ausgehend von seinem eigenen Erfahrungsschatz – Montaignes Fragen für sich selbst zu beantworten versucht. Montaigne zu lesen, ist daher für den Leser eine Art, leben zu lernen.12 Montaigne sieht keinen vernünftigen Grund darin, das Sterben zu fürchten. Warum sollen wir den Verlust des Lebens fürchten, da wir ihn doch nicht bereuen können? Aber da wir ihn trotzdem fürchten, reichen vernünftige Argumente offenbar nicht aus. Die Furcht vor dem Tod zu überwinden, erscheint Montaigne als zu extrem; deswegen wird die Erwartung des Lesers des Essays Philosophieren heißt Sterben lernen nach einer Auseinandersetzung mit Sokrates nicht erfüllt. Montaigne glaubt nicht, die Furcht vor dem eigenen Tod überwinden zu können. Er behält seine eigene Sterblichkeit immer als Teil seines Lebens im Hinterkopf. Diese Einstellung gehört zu seinem Verständnis von Tu9 „Den Vollkommensten war es durchaus genug, die Tugend anzustreben und sich ihr zu nähern, ohne sie je zu besitzen. Jene nämlich irren sich: Wir kennen keine Lust, die zu verfolgen nicht schon lustvoll wäre“ (ebd., S. 46). 10 Montaigne schließt seinen Essay Über das Maßhalten mit einer Geschichte über die Ankunft von Cortez im heutigen Mexiko. Die von ihm besiegten Ureinwohner ließen ihm drei Geschenke anbieten. Laut Montaigne sagten sie: „Herr, hier sind fünf Sklaven; bist du ein grausamer Gott und ernährst dich von Menschenfleisch und Menschenblut, so friss sie auf, und wir werden dir weitere bringen; bist du ein gütiger Gott, geben wir dir den Weihrauch und die Federn hier; bist du ein Mensch, nimm diese Vögel und Früchte!“ (Ebd., S. 109) 11 In sämtlichen Essays taucht die Verbform des Wortes Essay, essayer, viel öfter auf als seine Nominalform, essai(s). 12 In diesem Zusammenhang möchte ich eine persönliche Erfahrung einfügen: Hatte ich viel Zeit, Montaigne zu lesen, hielt ich ihn für einen der besten Schreiber überhaupt. War ich unter Zeitdruck, erschien mir Montaignes Langatmigkeit extrem und überflüssig.

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gend als einem erreichbaren Ziel: Die Furcht des Todes komplett zu überwinden, ist unter dieser Voraussetzung sowohl unmäßig als auch unmöglich. Und in der Tat, laut Montaigne sind die, die ihr Leben unmäßig genießen, die, die an ihren Tod nicht denken, und oft auch die, die ihrem Tod nicht mit Würde gegenüberzustehen vermögen. Anders gesagt: Diejenigen, die ihr Sterben nicht als einen Teil ihres Lebens betrachten und die Furcht für überwunden halten, leben und sterben in der Regel unmäßig. Die natürliche Furcht vor dem Sterben ist die Grundlage des vom Leben ausgehenden, neu definierten Tugendbegriffs Montaignes: das maßvolle Vergnügen am Genuss. Das Memento mori erscheint dem Autor zentral, da eben dies jenes Vergnügen begrenzt. Durch den Prozess des ruhigen, reflektierten Essayschreibens entdeckt Montaigne seine Philosophie des Lebens. Leben heißt, an das Sterben zu denken – aber bitte nicht zu viel.

Amo, ergo sum Die Liebe als Ausdruck und konstitutives Merkmal personalen Lebens Uta Bittner Was zeichnet personales Leben aus? Ist es die Fähigkeit, nach reiflicher Überlegung und Abwägung von Gründen Entscheidungen treffen zu können? Ist es das Vermögen, in einem Akt der Selbstbezugnahme wertend Stellung zu sich und seinen Eigenschaften zu beziehen, sein Handeln zu bejahen oder abzulehnen? Oder fußt personales Leben auf der Tatsache, dass der Mensch der Sprache mächtig ist und sich in einer Welt der Symbole zurechtzufinden vermag? Eine abschließende Beantwortung dieser elementaren Frage scheint nicht absehbar. Wohl aber lassen sich einige Merkmale des menschlichen Lebens ausweisen. Wer als Mensch ein personales Leben führt, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er sich in irgendeiner Form und Intensität um etwas sorgt. Dabei wird das Objekt der Sorge wichtig für die Person. Sie schätzt es wert, fühlt sich mitunter verantwortlich, strebt danach, dass dem Umsorgten kein Schaden zugefügt wird. Als eindringliches Beispiel für die menschliche Sorge kann die Elternliebe genannt werden, bei der sich beispielsweise die Mutter schützend vor ihr neugeborenes Kind stellt, es versorgt und liebevoll großzieht. Oder auch der Freund, der sich um den besten Freund in schwierigen Zeiten kümmert, ihm selbstlos helfen will und nichts dringlicher wünscht als das Wohlergehen des Weggefährten. Sich um etwas zu sorgen, etwas wichtig zu nehmen in seinem Leben, sein Denken und Handeln an den Objekten seiner Sorge auszurichten, ist Bestandteil eines personalen Lebens. Für Harry Frankfurt stellt dabei die Liebe eine Sonderform der Sorge dar. Sie ist, so Frankfurt, interessefrei, d. h., das Objekt der Sorge wird um seiner selbst willen geliebt, kann nicht durch anderes lückenlos substituiert werden.1 Liebe 1 Mit dem Lieben verbunden ist nach Frankfurt eine Einstellung des Wohlwollens gegenüber dem geliebten Objekt. Wer liebt, kann zwar das Objekt seiner Liebe begehren (Aspekt der acquisitiveness), im wahren Liebesakt gehen aber immer auch zugleich Momente der benevolence einher. Wer liebt, will, dass sein Liebesobjekt prosperiert, dass es ihm wohl ergeht, dass es keine Schmerzen und keinen Kummer zu erleiden hat. Automatisch richtet der Liebende sein Handeln ganz nach diesen – der Liebe inhärenten – Zielsetzungen aus. Das Liebessubjekt kann gar nicht anders, als sich im Lieben in der beschriebenen Weise zu verhalten.

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ist eine Form der persönlichen Sorge, bei der sich der Sorgende mit dem Umsorgten und dessen Interessen identifiziert.2 Durch die Liebe gelangen die Erfahrungen von Verletzbarkeit und Verlustangst ins Leben. Hinzu kommt ein durch das personale Reflexionsvermögen gespeistes Bewusstsein der Liebe: Personen wissen, dass sie sich sorgen, und können das Objekt ihrer Sorge benennen. Sie bejahen (im Allgemeinen) ihre Sorge und wollen, dass diese nie endet, denn sie gibt ihrem Tun einen Rahmen, eine Richtung und Motivation.3 Sorgen ist damit zugleich auch eine Form der Selbsterkenntnis: Die Person findet sich als liebende Person vor, erkennt, was ihr wichtig ist, woran sie ihr Leben auszurichten bestrebt ist – und bezieht in der Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung ihrer sorgenden Disposition Stellung zu sich selbst als Person. Die Liebe leitet das Denken, Fühlen, Wollen einer Person in einer Weise, die wesentlich ihr personales Leben und ihre individuelle Gestalt sowie ihren Umgang mit ihrer Umwelt ausmacht. Es scheint, dass insbesondere in der Liebe die humanen Fähigkeiten am deutlichsten zutage treten: Wer liebt, nimmt einen bestimmten Gefühlszustand ein und wahr, empfindet körperlich-physiologische Veränderungen (Bereich des Fühlens und Empfindens). Gleichzeitig schätzt er das Geliebte wert, beurteilt es im Lichte seiner liebenden Disposition und erkennt in einem Akt der Selbstreflexion sich als Liebenden und damit die aus der Liebe resultierenden Gründe als Autorität an (Bereich des Denkens und Urteilens). Und schließlich beeinflusst die Liebe in einem nicht zu leugnenden Maße unsere Handlungsmotivation: Sie leitet unser Wollen, liefert den Impuls zum Tätigwerden (Bereich des Wollens, Strebens, Hoffens). All dies geschieht nicht nur in einer rein subjektivistischen Perspektive, sondern ist immer auch zugleich auf ein Gegenüber – das Objekt der Liebe – gerichtet. Dies deutet auch Volker Gerhardt an, wenn er schreibt: „In der Liebe ist der Mensch der Humanität am nächsten.“4 Die Liebe fügt die affektiven, kognitiven und volitiven Strukturen und Kräfte des Menschen zusammen und ist gleichsam aufgrund ihrer intentionalen Grundstruktur Ausdruck seiner Sozialität. Sie ist kein nebensächlicher, irrationaler Affekt auf dem Schauplatz rationaler humaner Verhaltens- und Lebensweisen, sondern eine Art Bindemittel, in der sich das Personsein manifestiert. Wer liebt, ist ganzheitlich als Mensch – nicht nur als fühlender, sondern auch als handelnder, denkender, entscheidender, wollender, strebender – ergriffen und involviert. „Das Empfinden, Fühlen, Vorstellen und 2 Zu den zentralen Merkmalen von Frankfurts Liebesbegriff vgl. Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe, Frankfurt a. M. 2005, S. 86. 3 Wer liebt, sorgt sich immer um zweierlei: zum einen um das, was er liebt, und zum anderen um seine Liebe. Das Umsorgte sowie die Sorge selber erlangen Wichtigkeit, werden von Bedeutung für den Liebenden. Vgl. Harry G. Frankfurt: Vom Sorgen oder: Woran uns liegt, in: Analytische Philosophie der Liebe, hrsg. von Dieter Thomä, Paderborn 2000, S. 203 f. 4 Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 205.

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Begreifen an uns und durch uns ist selbst ein Elementarvorgang des Lebens“, heißt es in Gerhardts Selbstbestimmung.5 Ist nicht das beste Beispiel für einen solchen Elementarvorgang des Lebens die Liebe? In Anlehnung an Gerhardts Skizze der Lebenserfahrung lässt sich auf die Liebe analog übertragen: In der Liebe empfinden, fühlen, erkennen und verstehen wir, was Leben heißt. Das Lebendigsein der Person zeigt sich im Vollzug der Liebe; Lieben – als ein das Individuum in seiner Ganzheit um- und erfassendes Ereignis – ist ein wesentlicher Aspekt personaler Lebenserfahrung. „Wer wirklich liebt, weiß, was er zu tun hat“6 schreibt Volker Gerhardt in Individualität. Wer liebt, dem erschließen sich seine Handlungsmotive auf selbstverständliche und Selbstbestimmung induzierende Weise. Die Liebe gibt dem Menschen Gründe, von denen einige Autoren gar behaupten, sie seien notwendigerweise unhintergehbar. Auch wenn man diese extreme Position nicht einzunehmen braucht, so scheint eines offensichtlich: Das Erlebnis Liebe ist seit Menschengedenken Impulsgeber für Handlungen und Ausdruck individueller Charakterausprägungen.7 Mord aus Liebe, Aufopferung oder Selbstaufgabe aus Liebe, größte kognitive Leistungen und (Selbst-)Steigerungen aus Gründen der Liebe sind keine fremden, irritierenden Phänomene im Kontext menschlichen Lebens. So ist zuzustimmen, wenn von der „internen Dynamik der Liebe“ die Rede ist, dergemäß „alles auf Steigerung, Wachstum und Wiederholung“8 zielt. Interpersonelle Liebe ist das Elixier, das den Menschen sowohl an seinesgleichen bindet als auch ihn sich in seiner Ganzheit und Abgetrenntheit erfahren lässt. Liebe von Personen enthält reflexive Elemente und eine ganz eigene subjektive Erlebnisqualität, die sie als personales Liebesphänomen auszeichnet. Hierzu gehört auch, dass Personen nicht nur lieben wollen, sondern auch auf Reziprozität hoffen: Sie wollen gleichfalls geliebt werden – und in dieser Wechselseitigkeit suchen sie nicht nach Stagnation, sondern erstreben Veränderung, Entwicklung, den Aufbau gemeinsamer Erfahrungswelten eines geteilten Wir. In der Liebe führt die Person ein selbstbestimmtes Leben – im unauflösbaren, dynamischen Wechselspiel mit ihresgleichen. Die Liebe umfasst den Liebenden immer als ganze Person, führt ihn zu selbstbestimmter Selbststeigerung und der Erfahrung von Glück durch die identifizierende Ausrichtung auf ein Gegenüber, wie dies trefflich der amerikanische Philosoph Richard White hervorhebt: „[. . .] loving someone involves the whole of one‘s being; through loving association with another, we may therefore experience moral, spiritual, and emotional fulfillment. Love is totally bound up with our sense of who we are. We come to know 5 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 148. 6 Gerhardt (2000), S. 205. 7 Vgl. Platon: Symposion, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Ursula Wolf, Hamburg 2006, Bd. 2, 178a–180b. 8 Gerhardt (2000), S. 205.

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ourselves through love, and through this authentic association with another human being, we experience an enlargement of our own sense of self as the happiness and well-being of others becomes crucial to our own well-being.“9

Unsere Liebe definiert, wer wir sind – sie offenbart und konstituiert uns als Personen.

9 Richard White: Love’s Philosophy, Lanham 2001, S. 139 f. (bereinigt um Hervorhebungen).

Leben: Der Versuch, die Zeit musikalisch zu gestalten Manos Perrakis 1. Leben bedeutet vor allem, Zeit zu erleben. Alles geschieht in der Dimension, die wir Zeit nennen. Und Zeit geht immer dahin. Unser Leben ist nichts anderes als ein Spiel auf Dauer gegen Vergänglichkeit. Es ist der Versuch, mit einer eigenen, einer anthropologischen Zeit dem Werden in der Natur entgegenzukommen. Es geht um einen Kampf innerhalb der Zeit gegen ihren Lauf. Daher ist der Zustand des Lebens immer unzeitgemäß. 2. Die Kunst, die ihr Material aus der Zeit nimmt, ist die Musik. Musik verfügt über kein räumliches Dasein und befindet sich allein in der Zeit. Sie existiert, wie jeder Augenblick im Leben, gerade im Moment ihres Verschwindens. Dadurch wird die Dramatik des Lebens, einen Anfang und ein Ende zu haben, in ihren elementaren Zügen vermittelt. Vielleicht deswegen gibt die Musik auch eine Ahnung vom Tod. Nichts Festes außer einer Dauer, die zu jeder Zeit unterbrochen werden kann. Was man zählt, ist eine Zwischenpause, in deren Klammern der Mensch seine Bühne baut. 3. Rhythmus, Melodie und Harmonie drücken die unerwarteten Konstellationen, Kehren und Wendungen des Lebens aus. Dieses intuitive Verständnis von Musik, das der langen Verknüpfung von Musik und Wort zu verdanken ist, erreicht mit der Begeisterung der Romantik für die Instrumentalmusik einen bis heute spürbaren Höhepunkt. Die Auswirkungen lassen sich in der Philosophie zeigen. Schopenhauer hat den Topos vom Leben als Musik systematisch gefasst und philosophisch gewürdigt. In seiner unmittelbaren Nachfolge hat dies Nietzsche mit seiner bekannten Wertaussage noch zugespitzt: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum.“1 4. Musik heißt, das sinnliche Material des Klanges zu organisieren, also verschiedene Tonelemente in sinnvolle Zusammenhänge zu stellen, um sie etwa durch das Wechselspiel von Konsonanzen und Dissonanzen in neue Harmonien zu leiten, kurz gesagt: eine währende Mathematik aus dem flüssigen Material der Sinnlichkeit zu produzieren, die beispielhaft für alle zivilisatorischen Prozesse ist. Aus diesem Grund bleiben musikalische Metaphern in politischen Theorien von der Antike bis heute so aktuell. Man will immer mehr umfas1

Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 64.

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sende Harmonien durch produktive Regelbrüche erreichen. So ist der gute Bürger wie ein guter Hörer, der weiß, welcher Musik er sich überlassen soll und von welcher er sich nicht verführen lassen darf. 5. Worin aber liegt die verführerische Kraft der Musik? Musik kann dies und das bedeuten oder beides nicht. Und wenn sie nichts sagen kann, dann muss sie auch alles sagen können. An einem Tag kann sie uns traurig stimmen und am nächsten glücklich. Sie kann, wie Filmmusik es zeigt, in den unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt werden. Die Tatsache, dass früher Komponisten dieselben Melodien sowohl in erotischen Opernarien wie auch in biblischen Chorälen eingesetzt haben, sollte für die Natur der metaphysischen Bedürfnisse des Menschen sehr aufschlussreich sein. 6. Musik macht Versprechungen, die nur ein Hörer halten kann. In jedem ihrer Töne stimuliert sie eine ungeheure Fülle von ästhetischen Ideen. Sie scheint kein Alter zu kennen. In ihren Melismen lauert die Vision einer Kindheit, die nicht zu Ende gekommen ist. Und bevor wir irgendwelche Fragen stellen, hat sie die Macht, unsere Fragezeichen zu Ausrufezeichen zu machen. Im Grunde verhält es sich im Leben nicht anders. Nur so bekommt man den Mut dazu. 7. Aufmerksames Hören bedeutet eine Kehre ins Innere. Diese muss jedoch kein Eskapismus sein. Im Gegenteil: Ein offenes Ohr setzt ein besonders intensives Interesse für die Welt voraus. Man hält sich für einen Augenblick aus der Welt zurück, um dann erneut seinen Blick auf sie zu wenden. Denn das, was die Musik mobilisiert, ist nicht mehr und nicht weniger als der ganze sinnliche Apparat. Wir werden nach unserem Verhältnis zur Welt gefragt, und wir fragen selber danach. Wir spüren, dass eine Antwort in der Luft ist, doch sind wir nicht in der Lage, sie zu fassen. Wir sind genötigt, immer aufs Neue auszulegen. Die große Vernunft des Leibes hat hier das letzte Wort, sei es zu früh oder zu spät. 8. In keiner anderen symbolischen Sprache treten die für die Dynamik des Lebens so konstitutiven Instanzen von Verstand und Gefühl in ein so gespanntes Verhältnis zueinander wie in der Musik, denn Musik ist klingende Mathematik und freie Bewegung des Gemüts zugleich. Musik zu machen, bedeutet Zeit zu organisieren. Musik zu hören, bedeutet Zeit wahrzunehmen. In beiden Fällen geht es darum, die eigene Zeit mit der Zeit der Welt in Einklang zu bringen. Ein guter Musiker ist vor allem ein guter Hörer, der, um Musik gut spielen zu können, von ihrem Sinn überzeugt sein muss. 9. Diese Spannung zwischen individueller Vernunft, deren prägnanteste Form das Gefühl ist, und allgemeinem Verstand unter dem Stichwort der Mathematik steht exemplarisch für das Leben. Ohne diese latente Dialektik entstehen keine neuen Paradigmen, Lebensformen werden starr oder verflüssigt. Anders gesagt: Aufklärung und Romantik leben nicht gegeneinander, sondern voneinander.

Leben: Der Versuch, die Zeit musikalisch zu gestalten

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Nicht zuletzt könnte das romantische Sprechen über Musik als höchste Form von Aufklärung angesehen werden. 10. Wagen wir zum Abschluss folgende Definition: Leben ist der Versuch des Menschen, die Zeit musikalisch zu gestalten. Denn nur so kann der Mensch seinen grundsätzlichen Beitrag zum Nicht-Festgelegten der Zeit leisten.

Leben macht den Unterschied Christian Vogel I. Erkennen durch Begreifen Platon und Aristoteles haben mit Nachdruck die Einsicht vermittelt, dass, wenn man über eine Sache eine Aussage treffen möchte, man deren Vermögen (dynamis) bzw. Funktion, Werk oder Verrichtung (ergon) bestimmen muss. Erst wenn man erkennt, worauf sich etwas dem Vermögen nach bezieht und was es bewirkt, kann man etwas als ein Einzelnes benennen und Selbiges von Verschiedenem abgrenzen.1 Ein jedes Ding „dankt nämlich die eigentümliche Bestimmtheit seiner Art den besonderen Verrichtungen [ergon] und Vermögen [dynamis], die es hat, und kann darum, wenn es nicht mehr die betreffende Beschaffenheit hat, auch nicht mehr als dasselbe Ding bezeichnet werden, es sei denn im Sinne bloßer Namensgleichheit.“ 2

Wenn wir also etwas erkennen und verstehen wollen, können wir uns nicht auf die bloße Wahrnehmung verlassen. Wir müssen begreifen, was es ist. Denn wie man niemals verstehen wird, was ein Ohr ist, wenn man sich bloß auf Gestalt, Farbe, Konsistenz und dergleichen Aspekte der konkreten Wahrnehmung konzentriert – das Ohr einer Statue ist ja nur dem Namen nach ein Ohr – so ist es auch unmöglich, Leben von Nichtleben zu unterscheiden, wenn wir nicht das ergon bzw. die dynamis des Lebens benennen können. II. Unterscheiden als Grundakt des Lebens Vor jeder Erkenntnis muss also etwas Bestimmtes unterschieden worden sein.3 Unterscheiden (krinein) meint hier nicht ein relatives Abgrenzen des einen gegen ein anderes, sondern die konkrete Erfassung einer Sache für sich, sodass sie durch ihre eigene Identität unterscheidbar und damit abgrenzbar gegen anderes ist. Dies ist eine aktive Leistung. Es zeigt sich, dass eine derartige Leistung nicht nur auf der Ebene komplexer Erkenntnisse stattfindet, sondern 1

Platon: Politeia, 477c, zum Begriff des ergon bei Platon s. ebd., 352e. Aristoteles: Politik 1253a23 ff. (Übersetzung folgt Eugen Rolfes: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Hamburg 1995, Bd. 4, S. 5). 3 Zur Bestimmtheit als Axiom des Denkens und Erkennens s. Gyburg Radke: Die Theorie der Zahl im Platonismus, Tübingen 2003, S. 441–444. 2

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von jedem Lebewesen unabhängig von dessen Bewusstseinszuständen immer vollbracht wird und werden muss, wenn es sich ernährt, wenn es wächst, wahrnimmt und denkt. Daraus ergibt sich die These, dass Leben das von Natur aus vorhandene Vermögen4 zum Unterscheiden5 darstellt. Auf allen Ebenen des Lebens lassen sich aktive Unterscheidungsvorgänge feststellen: ob einzellige Schleimpilze bei der Witterung von Haferflocken plötzlich die kürzesten Wege durch komplizierte Labyrinthe finden, ob Pflanzen über Duftstoffe miteinander kommunizieren, beim Wachstum ihrer Wurzeln selbst von nicht-selbst unterscheiden und auf etliche verschiedene Umweltsignale als Gesamtorganismus koordiniert zu reagieren vermögen, ob ein Hund sein Frauchen an der Stimme erkennt oder ob Menschen philosophische Abhandlungen schreiben. Das Vermögen zum Unterscheiden vereint alle Lebewesen und alle Akte des Lebens. Zugleich gestatten verschiedene Bezüge des Unterscheidens eine reichhaltige Ausdifferenzierung des Lebens. III. Das Unterscheiden in den vegetativen Prozessen: Der Bezug auf sich selbst Die basale Unterscheidungsfähigkeit eines jeden Lebewesens ist die mit Blick auf die eigene innere Grenze und bestimmte Struktur der Größe und des Wachsens.6 Erst diese Unterscheidungsfähigkeit macht aus Ernährung, Wachstum, Stoffwechsel, Selbstorganisation und Fortpflanzung spezifisch lebendige Vollzüge und grenzt diese von Wachstums- und Nährprozessen beispielsweise des Feuers ab, dessen Wachstum ins Unendliche geht, solange nur brennbares Material vorhanden ist.7 Mit Aristoteles gewinnen wir die Einsicht, dass das „einzige Maß, die einzige Begrenzung, gewöhnlicher chemisch/physikalischer Prozesse in dem jeweils gegebenen Quantum geeigneter Materie liegt. Wachstum und Ernährung haben demgegenüber ein qualitatives Maß, nicht nur einen beliebigen Zahlenwert, je nach gegebener Quantität von Materie und Energie, sondern ein einheitstiftendes Maß, das einen im Gleichgewicht befindlichen Gesamtorganismus herzustellen und zu erhalten erlaubt.“8 4

Zur Erläuterung des Begriffes „Vermögen“ s. Kapitel IV des vorliegenden Aufsat-

zes. 5 Vgl. hierzu auch Aristoteles’ Wort vom Leben als Tätigkeit des Intellekts: Metaphysik 1072b27. Zu den Grundmöglichkeiten des Unterscheidens als primäre seelische Bewegungen vgl. Radke (2003), S. 214 ff. Zur Erläuterung der Herkunft und Bestimmung des Unterscheidens als „Grundakt des Denkens“ s. Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon, Stuttgart 2008, besonders S. 215–293. 6 Aristoteles spricht an dieser Stelle von dem peras und dem logos (also von einer rationalen Bestimmtheit) der Größe und des Wachstums, s. Aristoteles: De Anima, 416a15 ff. 7 Ebd. 8 Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, S. 48.

Leben macht den Unterschied

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Jeder lebendige Organismus ist in der Lage, diese Bestimmtheit, dieses wie auch immer in ihm angelegte Verhältnis zu unterscheiden und sich danach zu richten, sich aus sich selbst heraus als einheitlicher Organismus zu präsentieren, von der Umwelt abzugrenzen oder Elemente von der Umwelt gemäß dem eigenen Maße aufzunehmen, ohne die eigene Einheitlichkeit aufzugeben. Indem ein Organismus dies tut, lebt er. Das sind keine bewussten, aber nichtsdestoweniger aktive Unterscheidungsprozesse, die die dazu vermögende organische Materie erst als Leben kennzeichnen.9 IV. Das Unterscheiden in den Wahrnehmungsprozessen: Der Bezug auf die sinnlich wahrnehmbare Welt Die darauf aufbauende Unterscheidungsfähigkeit ist die bezüglich äußerer, wahrnehmbarer Dinge. Ich stütze mich hier im Folgenden auf die feinsinnigen Untersuchungen von Aristoteles. Wahrnehmung bedarf demnach zwar der Reizung durch wahrnehmbare Gegenstände, doch stellt sie deswegen nicht einen Akt rein passiven Erleidens dar. Die Gegebenheit wahrnehmbarer Gegenstände ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung, wie man leicht an Beispielen erkennen kann, in denen die fehlende Aufmerksamkeit dazu führt, dass das Ohr eines Gesprächspartners zwar nachweislich physikalisch affiziert worden ist, eine Wahrnehmung des Gesagten aber nicht stattfand, weil jener gedanklich auf eine andere Sache gerichtet war. Es muss also eine aktive Leistung des Wahrnehmenden hinzukommen, damit ein Lebewesen das Wahrnehmbare (eidos) aus dem ihn affizierenden Gegenstand (hylê) herauslöst.10 Es sind ja nicht Schallwellen, die wir hören, sondern (die in ihnen potenziell angelegten) Töne. Ein Fenster, das von einer Schallwelle berührt wird, beginnt zu vibrieren und zu tönen, ein hörfähiges Lebewesen aber, welches seine Aufmerksamkeit auf die Schallwelle richtet, wird nicht nur physikalisch bewegt, sondern hört vor allem einen Ton. Das Herauslösen der wahrnehmbaren Struktur aus den materiellen Gegenständen ist die Wahrnehmung.11 Wahrnehmung ist etwas Spontanes. Aristoteles erläutert diesen Aspekt, indem er zwischen Möglichkeit, Vermögen und Tätigkeit unterscheidet.12 Anschaulich wird diese Unterscheidung an einem Beispiel des Klavierspielens. Hier ent9 Alle organischen Körper sind der Möglichkeit nach zur Unterscheidung fähig, aber erst wenn sie es dem Vermögen nach sind, leben sie (s. Kapitel IV des vorliegenden Aufsatzes). 10 Aristoteles: De Anima, 424a17 ff. 11 Ebd. sowie zur Erläuterung: Bernard (1988), S. 87–108. 12 Möglichkeit ist die dynamis im Sinne der possibilitas, Vermögen ist die dynamis im Sinne der ersten Vollendung (entelechia bzw. lat. potentia) dieser Möglichkeit und Tätigkeit ist die Aktualisierung des Vermögens (energeia), also die zweite Vollendung (zweite entelechia), vgl. Aristoteles: De Anima, 416b32–418a6 sowie Bernard (1988), S. 49–68.

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spricht die Möglichkeit zum Klavierspielen der allgemeinen Möglichkeit eines jeden Menschen, Klavier spielen zu können. Um von dieser Möglichkeit zum Vermögen des Klavierspielens zu gelangen, sind ein langer Lernprozess und viele qualitative Veränderungen in der Zeit beim Lernenden notwendig. Wenn der Pianist aber einmal das Vermögen zum Klavierspielen besitzt, so ist der Unterschied zwischen dem Spielen und dem Nichtspielen lediglich der des Tätigseins eines Vermögens und des Nichttätigseins eines Vermögens. Es bedarf nur eines Klaviers und schon kann der Pianist sein Vermögen verwirklichen. Er muss nicht mehr lernen, muss sich nicht verändern, sondern lediglich sein Vermögen aktualisieren. Lebewesen befinden sich nun in Bezug auf die Wahrnehmung immer bereits auf der zweiten Stufe. Sie besitzen von Natur aus das Vermögen der Wahrnehmung und müssen nicht erst lernen wahrzunehmen. So ist ein Schlafender auch nicht tot, nur weil er aktual nicht wahrnimmt. Sein Vermögen ist stets vorhanden. Und ein Neugeborenes braucht nur die Augen aufzumachen und sieht sofort Farben, ohne jemals vorher Farben wahrgenommen zu haben. Auch wenn es die Farbe noch nicht benennen, scharf voneinander unterscheiden kann und nichts damit verbindet: Es sieht untrüglich Farben. Erst wenn mehrere solcher „eigentümlichen“ 13, untrüglichen Wahrnehmungen zusammengesetzt werden oder Vorstellung und Gedächtnis ins Spiel kommen müssen, um zu komplexeren Wahrnehmungen zu gelangen, sind Täuschungen und Irrungen, aber auch Lernprozesse möglich. Denn hier sind Syntheseprozesse mit im Spiel, die nicht aus diesen eigentümlichen Wahrnehmungen allein stammen können.14 Jedes Lebewesen nimmt folglich wahr, sofern es sich auch bloß ernährt, und unterscheidet Objekte danach, ob sie z. B. süß sind oder nicht, und richtet sich als Ganzes nach diesen Unterscheidungen.15 V. Unterscheiden ermöglicht Fühlen und Streben Die platonisch-aristotelische Philosophie hat den großen Vorteil, dass sie nicht auf die umständliche und unverständliche Trennung von Verstand und Gefühl als Gegenspieler setzen muss, wie es sich durch die Rückbesinnung auf stoisches Gedankengut in der neuzeitlichen Philosophie zu großen Teilen durchsetzte.16 Lust- und Unlustgefühle hängen unmittelbar mit den Unterscheidungs13 Aristoteles spricht von der Wahrnehmung der idia, also der den einzelnen Sinnesvermögen eigentümlichen Wahrnehmungen, vgl. Aristoteles: De Anima, 418a7 ff. 14 Vgl. ebd. 15 Das Vermögen zum Unterscheiden ist unabhängig von Bewusstseinsakten. Denn erst wenn unterschieden worden ist, kann das Unterschiedene überhaupt ins Bewusstsein gelangen. Vgl. grundlegend Schmitt (2008). 16 Vgl. Arbogast Schmitt: Gehirn und Bewusstsein, in: Hans-Rainer Duncker (Hrsg.): Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 207–283, sowie

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akten zusammen und gehen auf sie zurück. Nicht die Vorstellung, sondern die unterscheidende Wahrnehmung von Süßem ist angenehm, und zwar unmittelbar. Kommt nun noch Erinnerung und Vorstellung ins Spiel, entstehen daraus die unterschiedlichen Willens- und Strebeformen.17 Damit lassen sich auch die Triebe und Begierden auf Unterscheidungsakte zurückführen. VI. Unterscheiden im Denken: Bezug auf das Intelligible Unterscheidungen im wahrnehmungsunabhängigen Bereich beginnen nun bei der Erkenntnis der Funktion (ergon) einer Sache, welche niemals bloß anhand von Sinnesdaten erfasst werden kann, sondern schlicht begriffen werden muss. Und sie gehen bis zu der Erkenntnis der Kriterien unseres Denkens und Wahrnehmens, die immer schon vorhanden sein müssen, aber auf dieser Stufe erst reflektiert werden. Denn dass wir überhaupt etwas als etwas Bestimmtes denken können, hängt von der Erkennbarkeit von Ganzheit, Einheit, Gleichheit, Identität etc. ab. Das Denken ist auf die Unterscheidung solcher Kriterien aus, weil diese eine „axiomatische Forderung des Denkens selbst sind.“18 VII. Das Leben macht den Unterschied Computer und Roboter nun scheinen ebenfalls selbst zu unterscheiden. Doch letztlich ist das, was sie tun, wenn sie z. B. „erkennen“, dass ein Apfel rot ist, qualitativ nichts anderes als das Vibrieren einer Fensterscheibe, die, wenn sie beschallt wird, zwar tönt, aber nicht hört. Der Roboter reagiert rein passivrezeptiv und bewegt sich je nachdem, wie er von uns verfasst worden ist. Aristoteles unterschied eben die physikalische Bewegung in der Zeit (kinesis) von der spontanen Vollendung einer Tätigkeit aus einem Vermögen (energeia).19 Der Computer zeigt rot an, wenn wir ihn so eingestellt haben, dass er (bei der Affizierung durch Licht einer bestimmten Frequenz) rot anzeigen soll. Erscheint hingegen blau, zeigt er nichts an, solange wir ihn nicht daraufhin programmieren. Hierin unterscheiden sich die physikalischen Bewegungen von Computern von der aktiven Unterscheidung als einem Vermögen spontaner Erkenntnisfähigkeit. Der Computer ist uns mit seinen Bewegungen (kineseis) Hilfsmittel für unsere eigenen Unterscheidungen (energeiai). Wir unterscheiden die Art seiner (immer komplexer und detaillierter werdenden) Bewegungen und ziehen daraus unsere Schlüsse. Von einem von Natur aus vorhandenen Vermögen zum Unterscheiden kann nicht die Rede sein. Indem Lebewesen folglich Bestimmtes von Arbogast Schmitt: Konkretes Denken, in: Christoph Rapp (Hrsg.): Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Stuttgart 2006, S. 287–304. 17 Ausführlich hierzu Schmitt (2008), S. 283–340. 18 Schmitt (2008), S. 225–240. 19 Vgl. Aristoteles: De Anima, 416b32–418a6 sowie Bernard (1988), S. 49–68.

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Natur aus unterscheidend erkennen, macht das Leben den Unterschied: sei es zu der so betriebsamen Technik oder zur toten organischen Materie. VIII. Alle Philosophie ist Lebensphilosophie – eine redundante Formel 20 Somit ist gezeigt, wie das aktive Unterscheiden das Leben durchzieht. Vom Denken als Opposition zum Leben kann keine Rede sein. Vielmehr zeichnet sich alles Leben durch diese basale Form des Denkens, dem Unterscheiden, aus. Auch das Denken im höheren Sinne, das Reflektieren auf die eigenen Kriterien, steht nicht außerhalb des Lebens, sondern agiert als eine höhere Stufe, die auf den anderen Stufen des Lebens aufruht. Je nachdem, ob sich das aktive Unterscheiden bloß auf die eigene, innere Struktur oder zusätzlich auf äußere Wahrnehmungsgegenstände oder außerdem auf Begriffliches richtet, steigt der Freiheits- und Verfügungsgrad des Lebewesens über sich selbst. „Der Mensch gehört dem Leben durch Empfinden, Wahrnehmen und Verstehen [. . .] von ,innen‘ her zu“21, schreibt Volker Gerhardt und bringt damit, obgleich aus einer anderen Perspektive argumentierend, zugleich die Konsequenz dieser Untersuchung auf den Punkt. In allen Leistungen des Menschen äußert sich das Leben. Ob er schläft, handwerklich arbeitet oder denkt. Dass jeder Philosoph, zu welchem Thema er sich auch immer äußert, nicht am Leben vorbeikommt, hat Volker Gerhardt in seinem gesamten Werk immer wieder mit Nachdruck betont. Die Selbstverständlichkeit dieses Sachverhaltes war eine der vielen prägenden Einsichten, die ich bei ihm gewinnen konnte.

20 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 152. 21 Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 46.

Technik als Methode des Lebens Eine Überlegung mit Ernst Cassirer Oliver Müller In der Vorlesung Seminar on Symbolism and Philosophy of Language, die Ernst Cassirer 1941/42 an der Yale University hielt, betont er, dass die Technik in Form von Werkzeugbenutzung und -entwicklung als „a new stage in the development of organic life“1 zu betrachten sei. Das ist nicht deshalb bemerkenswert, weil man an dieser Bemerkung Cassirers grundsätzliches Interesse an der Technik ablesen kann, sondern weil er das Technische und das Organische nicht in den naheliegenden Gegensatz zwischen dem Natürlichen und Künstlichen oder dem Organischen und Mechanischen bringt. Für Cassirer kommt die Technik aus dem Leben, ist Teil des humanen Lebensvollzuges, daher nennt er die Technik explizit „a new method of life“2, eine neue Methode des Lebens. Die hier gemeinte Lebenstechnik ist mehr als eine Überlebenstechnik, die sich aus instinkthaften Momenten wie dem Ernährungsbedürfnis, der Nachwuchssicherung und Schutzmaßnahmen ergibt. Die Technik als eine Methode des Lebens ist vielmehr als ein „Doppelprozess“ zu verstehen, den Cassirer in seinem Aufsatz Form und Technik folgendermaßen beschreibt: „[J]ede solche [technische] Auseinandersetzung fordert nicht nur Nähe, sondern Entfernung; nicht nur Bemächtigung, sondern auch Verzicht, nicht nur die Kraft des Erfassens, sondern auch die Kraft der Distanzierung.“3

Diese Distanznahme ermöglicht dem Menschen eine „eigentümliche Blickrichtung“ auf die Welt: Er ist nicht mehr gebannt von seinem unmittelbaren Wunsch, sondern er erlernt eine bestimmte Form des Sehens, die ihm neue Möglichkeiten, die Dinge zu begreifen und zu gestalten, in die Hand gibt. Das technische Denken impliziert eine gewisse „Ab-Sicht“ und „Voraus-Sicht“, es entsteht eine neue methodische Einstellung zur Welt; unter anderem auch das 1 Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: Ernst Cassirer Nachgelassene Manuskripte und Texte [= ECN], hrsg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 2005, Bd. 6, S. 251. 2 Ebd. 3 Ernst Cassirer: Form und Technik, in: Ernst Cassirer Gesammelte Werke [= ECW], hrsg. von Birgit Recki, Hamburg 2004, Bd. 17, S. 156.

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Verständnis einer „objektiven Kausalität“4, die über mythisch-magische Ursache-Wirkungs-Konnexionen hinausgeht. Diese Ausbildung eines technischen Verstehenkönnens der Welt findet parallel zur Etablierung der Sprache als Instrument der Welt und Selbsterkenntnis statt. Daher würde Cassirer viele Motive und Anliegen eines „linguistic turn“ in der Philosophie teilen können, würde gleichzeitig aber die einseitige Auszeichnung dieses „turns“ ablehnen und zudem für einen „technological turn“ plädieren: Um angemessen über den Menschen reden zu können, müssen wir das technische Wirken, die Ausbildung von Techniken, technische Formungsleistungen philosophisch beschreiben und verstehen lernen. Dass Cassirer nicht einfach nur das „tool-making animal“ aufgreift, um seine Theorie abzurunden, sondern dass es ihm darum geht, die Technik als Teil von fundamentalen Selbstkonstituierungsprozessen zu analysieren, zeigt bereits der zweite Band der Philosophie der symbolischen Formen, wenn es um die Bedeutung der Technik für die „Herausbildung des Selbstgefühls“5 geht. Die Verwendung des Werkzeugs sieht er als „eine entscheidende Wendung im Fortgang und im Aufbau des geistigen Selbstbewußtseins“, denn: „Der Gegensatz zwischen der ,inneren‘ und der ,äußeren‘ Welt beginnt jetzt, sich schärfer zu akzentuieren: Die Grenzen zwischen der Welt des Wunsches und der Welt der ,Wirklichkeit‘ fangen an, klarer herauszutreten.“6 Daher plädiert Cassirer auch in Form und Technik dafür, die Technik nicht nur als ein „nach außen gerichtetes Bestreben“ zu sehen. Eine absolute Schranke von „Innen“ und „Außen“ könne es nicht geben: Das Erschließen der Welt ist „zugleich immer ein neuer Aufschluß über das innere Sein“ – so gilt insbesondere von der Technik, dass sie dieses „innere Sein“ nicht verdunkelt, sondern von einer neuen Seite her sichtbar macht.7 So hängen „technisches Tun“ und Selbsterkenntnis eng zusammen; das scheinbar nur äußerliche technische Wirken ist immer zugleich ein „Selbstbekenntnis“ des Menschen und ein „Medium seiner Selbsterkenntnis“.8 Mit anderen Worten: Mit der Technik gewinnt der Mensch an Individualität. Die Herausbildung unseres Selbstgefühls und Selbstbegriffs ist von der Etablierung von Techniken und Technologien nicht zu trennen. In dieser Deutlichkeit hat das Cassirer als Erster gezeigt. In welcher Form man produktiv an Cassirer anschließen könnte, kann man an Volker Gerhardts Selbstbestimmung sehen. Auch wenn die Technik in der strengen Anlage der Selbstbestimmung kein eigenes Kapitel bekommen hat, verweist 4

Ebd., S. 161. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 2: Das mythische Denken, in: ECW, Hamburg 2002, Bd. 12, S. 250 ff. 6 Ebd., S. 251. 7 Cassirer: ECW 17, S. 167. 8 Ebd., S. 168. 5

Technik als Methode des Lebens

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Gerhardt an wenigen, aber entscheidenden Stellen seines Buches auf sie; wenn er etwa schreibt, dass es wichtig sei, „auch gegen die Anwälte einer kategorialen Trennung von Technik und Praxis festzuhalten, daß die Lebenspraxis im elementaren Sinn von der Technik nicht geschieden ist“9, dann ist das als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass die Klärung des Zusammenhangs von Leben und Technik das philosophische Anliegen von Gerhardt grundiert. In diesem Sinne betont er, dass sich der „Zusammenhang des Lebens nach Art einer Technik“ begreifen lässt, und scheint damit an die „Technik der Natur“, die kantische Selbstverständigungsformel aus der ersten Einleitung der Kritik der Urteilskraft, zu erinnern. Gleichzeitig unterstreicht er, dass es wichtig ist, zu sehen, „daß wir auch im Akt der Selbstbestimmung auf den technisch-pragmatischen Kontext des Daseins bauen.“10 Die Technik, die Cassirer auf das Feld der Selbstkonstitution geführt hat, wird bei Gerhardt zum Werkzeug der Selbstbestimmung – wozu auch gehört, dass er mit Nachdruck auf den instrumentalen Charakter der Vernunft hinweist.11 Die Technik als Methode des Lebens ist konsequenterweise auch die Methode der Individualität.

9 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 54. 10 Ebd., S. 293. 11 Ebd., S. 342 ff.

Politik und Leben Oder: Warum das Selbstbestimmungsrecht dem Menschen für die gesamte Zeit seines Lebens zukommt Nicole Wloka Wer in der Politik eine Analogie zum Leben sieht, tut dies nicht, weil er ohnehin durch jeden Atemzug, jeden Gedanken und jede seiner Handlungen unter der Prämisse des Lebens selbst steht und auch die Politik gar nicht anders kann, als an die Voraussetzung des menschlichen Lebens gebunden zu sein. Vielmehr ist schon in der platonischen Beschreibung der Polis als „in Großbuchstaben geschriebener Mensch“1 ein Zusammenhang angelegt, den Volker Gerhardt als „eine Handlungsform“ in Analogie zum Leben versteht: Eine „nur vom Menschen her bekannte Selbststeuerung des Lebens wird ins Große gerechnet und selbst wiederum wie ein sich selbst steuernder Organismus begriffen“2. Selbststeuerung – damit ist nichts anderes als der wohl elementarste Anspruch an unser Leben formuliert: Wir wollen den Verlauf unseres eigenen Lebens (im Rahmen unserer Möglichkeiten und im Bewusstsein unserer Grenzen) selbst bestimmen.3 Auch die Politik tut gut daran, sich ihrer eigenen Grenzbestimmung bewusst zu sein. Wenn Platon die Polis als einen Ort beschreibt, „wo es auf die Anordnung des gesamten Lebens ankommt“ so begreift er die Politik eben nicht als „Produzent[en] [. . .] oder Garant[en] des gesamten Lebens. Sie lenkt und ordnet nur – so weit sie es eben versteht. [. . .] Sie erlaubt nicht mehr als die Hütung der menschlichen Herde“4. Diese „lückenlose Einbindung der Politik in das Leben“ zeigt zudem, „dass sie als Teil des Lebens selbst unmöglich die Zuständigkeit für das gesamte Leben erwerben kann“5. Diese Einsicht in die Grenzen und Möglichkeiten der Politik ist dabei besonders wichtig, wenn ein Staat Eingriffe in das Leben vornimmt, die mit dem 1

Vgl. Platon: Politeia, 368d. Volker Gerhardt: Die Politik und das Leben. Antrittsvorlesung am 30. Juni 1993 an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Öffentliche Vorlesungen an der HumboldtUniversität zu Berlin, Heft 19, 1994, S. 3–32, hier: S. 15. 3 Vgl. ebd., S. 12. 4 Ebd., S. 15. 5 Ebd., S. 20. 2

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Interesse des einzelnen Menschen, seiner eigenen Lebensvorstellung und seinen Werten, nicht zu vereinbaren sind. Es gibt wohl kaum eine politische Debatte der vergangenen Jahre, die mit so viel Besinnung auf das eigene Leben geführt worden ist, wie die um eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen. Und daher verdient es auch kaum eine Debatte mehr, mit einigen grundsätzlichen Überlegungen kommentiert zu werden. Gesetzt, der elementarste Anspruch an unser Leben besteht darin, den Verlauf unseres eigenen Lebens selbst bestimmen zu wollen, so bezieht dieser Anspruch in der logischen Folge den Prozess des eigenen Sterbens – als Teil des Lebens selbst – mit ein. Die Fokussierung auf das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende eines Menschen trägt dabei dem Fortschritt im Bereich der biomedizinisch-technischen Entwicklung in besonderer Weise Rechnung. Erst durch die Voraussetzung apparativer Eingriffe und die Möglichkeit einer künstlichen Lebensverlängerung sind wir an einem Punkt angelangt, an dem immer weniger Menschen eines „natürlichen Todes“ sterben müssen. Die Herausforderung für die Politik liegt dabei auf der Hand: Es gilt, mit diesen biomedizinischen Fortschritten in ethischer und rechtlicher Weise verantwortungsvoll umzugehen, ohne dabei die in der Selbstbestimmung des Individuums begründeten Grenzen der Politik zu überschreiten. Eine Patientenverfügung als eine Willenserklärung eines entscheidungsfähigen Menschen zur zukünftigen Behandlung im Fall der eigenen Entscheidungsunfähigkeit6 kann im Kern als eine Absicherung gegenüber einer künstlichen Lebensverlängerung durch apparative Eingriffe angesehen werden. Patientenverfügungen sollen die Wünsche und Werte der Patienten zum Ausdruck bringen und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten für den Fall sichern, dass er nicht mehr äußerungsfähig ist. Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundgesetz geschützten Freiheit und Würde des Menschen. Den philosophischen Begriff, der auf eine Traditionslinie fast zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Denkens gegründet ist, wie Volker Gerhardt in seiner systematischen Grundlegung eindrucksvoll gezeigt hat, verdanken wir Immanuel Kant: „Er hat ihn [. . .] eingeführt, um kenntlich zu machen, auf welche Weise der Mensch seine Freiheit gebraucht. Und das geschieht, indem der Mensch sich ohne die Vormundschaft eines anderen „selbst“ bestimmt.“7 Dabei ist die 6 Vgl. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer: Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis, in: Deutsches Ärzteblatt 104 (13), 2007, S. 891 f. 7 Volker Gerhardt: Artikel: Selbstbestimmung vor dem Tod. Im Interesse der Sterbenden, ihrer Ärzte und Pfleger muss der Gesetzgeber Klarheit schaffen, in: Die Welt, 59 (2004), o. H. [23.04.2004], S. 9.

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Selbstbestimmung so fundamental, dass in ihr nach Kant „die Freiheit und die Würde der Person in eins“8 fallen. Diese strikte Bindung der Selbstbestimmung an die Freiheit, den Selbstzweck der Person und die Würde des Menschen zeigt auf, warum das Selbstbestimmungsrecht dem Menschen für die gesamte Zeit seines Lebens zukommen muss. Nichts anderes kann in der ernst gemeinten Formulierung einen Menschen in Würde sterben zu lassen gemeint sein. Wer eine gesetzliche Regelung forciert, welche die Gültigkeit von Patientenverfügungen auf bestimmte Erkrankungen oder Krankheitsstadien beschränkt, nimmt damit nicht nur die Begrenzung des Rechts auf Selbstbestimmung vor, sondern legt zudem eine „gewählte Differenzierung von Lebenden und Sterbenden [. . .] nahe, dass eine Sorge um Sterbende weniger bedeutsam ist als die Sorge um Lebende. [. . .] Wenn eine unheilbar, tödlich verlaufende Krankheit an die Bedingung von schwersten, zerebralen Schädigungen und anhaltende Bewusstlosigkeit gekoppelt ist, wird damit eine Bewertung von menschlichen Lebensformen vorgenommen“9

Eine solche Bewertung ist aber ethisch nicht haltbar. Wer das nicht will, der findet die Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Selbstbestimmung in ihrem Begriff selbst: „Wir wissen erstens, dass der Mensch für sein Leben Sorge zu tragen hat, obgleich er es sich nicht selbstverdankt. Damit erledigen sich bereits alle Einwände gegen die Selbstbestimmung, die unterstellen, hier wolle der Mensch mehr, als er zu leisten vermag. Es ist zweitens unvermeidlich, dass sich jeder in einem vorgegebenen Lebenskontext zu bewegen hat. Er muss zahllose Abhängigkeiten beachten, muss sie nach eigener Einsicht nutzen und wird nicht selten das größte Glück in dem erfahren, was ihm ohne sein Zutun zukommt. So gern er sich dann auch bestimmen und betreuen lassen kann, seine moralische Zuständigkeit lässt sich ebenso wenig suspendieren wie sein Recht auf Selbstbestimmung. Zum Bewusstsein der Abhängigkeit gehört drittens die Anerkennung der Tatsache des Lebens mit der zugehörigen Folge des Todes. Man weiß von der begrenzten Zeit, die im Takt von Bedürfnis und Befriedigung, von Aufmerksamkeit und Ermüdung in kleine und kleinste Portionen aufgeteilt ist. Über sie lässt sich selbst nur in kleinen und kleinsten Schritten disponieren. Dies geschieht immer nur aus dem Binnenraum des Lebens. Wer hingegen über das eigene Dasein so verfügen will, als stünde er außerhalb, der überschätzt seine eigenen Kräfte, die ganz und gar dem eigenen Leben zugehören.“10

Wer seinen Willen im Vorfeld artikuliert, tut dies immer aus dem Leben selbst heraus. Und wir kommen gar nicht umhin, dem Einzelnen zu unterstel8

Ebd. Arnd T. May: Zur gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen. Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 04.03. 2009. Online abrufbar unter http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2009/23679930_ kw10_recht/index.html, S. 14 [Stand 20. April 2009]. 10 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung vor dem Tod. Acht Punkte im Vorfeld einer gesetzlichen Stärkung der Patientenverfügung, in: Exit (3/2005), S. 21. 9

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len, dass er an seinem Leben hängt und um sein Leben weiß, und dass er gerade aus einem Bewusstsein des Geflechts verschiedener Abhängigkeiten seiner Verantwortung für sich selbst und andere in besonderer Weise Ausdruck verleihen will. Denn Selbstbestimmung des einen setzt die Anerkennung der Selbstbestimmung des Anderen voraus. „Deshalb verbietet es die Achtung vor der Selbstbestimmung des Anderen, von ihm zu verlangen, dass er mir die Selbstbestimmung endgültig nimmt. Wer eine Tötung auf Verlangen will, verlangt von sich selbst zu wenig und vom Anderen zu viel. So richtig es daher sein kann, den Willen eines Sterbenden zu akzeptieren, so verwerflich ist es, ihm die Entscheidung abzunehmen. Wer selbstbestimmt aus dem Leben scheiden will, muss es schon selber tun. Er kann und darf von anderen nicht erwarten, dass sie sein Leben beenden.“11

Was er aber von anderen erwarten darf und kann, ist, dass sie sein Leben durch apparative Eingriffe nicht künstlich verlängern, sofern er es ausdrücklich so verfügt hat. „Denn alles andere nötigte einen Menschen, über das Leben eines anderen mit einer Endgültigkeit zu verfügen, die sowohl der Selbstbestimmung des einen wie auch der des anderen entgegensteht.“12 Eine Argumentation, die unter dem Deckmantel des Lebensschutzes die Selbstbestimmung beiseitezuschieben sucht, läuft meines Erachtens ins Leere. Politik ist auf die Erhaltung und Entfaltung des an uns selbst erfahrenen Lebens zu gründen.13 Kein noch so gutes Gesetz wird den eigenen Tod erleichtern. Aber durch eine gestärkte Verankerung des Selbstbestimmungsrechts in Anerkennung der Freiheit und der Würde eines jeden Menschen gibt es jedem Einzelnen den Rückhalt und die Sicherheit, aus dem Leben zu gehen und den anderen gehen zu lassen, wie er es für sich selbst bestimmt hat.

11 12 13

Ebd. Ebd. Vgl. Gerhardt (1993), S. 19.

Homo Cosmopoliticus Skizze zu einem Programm politischer Anthropologie in weltbürgerlicher Absicht Henning Hahn An irgendeine Konzeption des guten Lebens bleibt die praktische Philosophie immer zurückgebunden. Damit meine ich nicht, dass wir alle Neoaristoteliker werden müssten. Auch geht es nicht darum, einem teleologischen Begriff des menschlichen Lebens das Wort zu reden. Und schließlich will ich auch nicht die theoretische Möglichkeit einer nicht-anthropozentrischen Ethik bestreiten. Klar scheint mir aber, dass die Idee des moralisch Guten zwangsläufig ad hominem ausgewiesen werden muss und dass es zu einem auf Verständigung angelegten ethischen Diskurs dazugehört, seine Vorstellung davon offenzulegen, was es heißt, ein gutes menschliches Leben zu leben. Dass wir das Prädikat „gut“ an dieser Stelle nicht zu gehaltvoll verstehen sollten, gebietet wahlweise unser historisches Bewusstsein oder ein interkulturelles Gespür für die Artenvielfalt menschlicher Lebensformen. Unter einer Konzeption des guten Lebens verstehe ich deswegen nicht nur perfektionistische Bestimmungen wie Aristoteles’ bios theoretikos oder Nietzsches Übermenschen, sondern auch gehaltvolle, aber vage Konzeptionen (Martha Nussbaum) sowie minimale (Höffe) oder gänzlich formale (Rawls) Bestimmungen eines würdevollen oder anständigen Lebens.1 Mit dieser Auswahl betreten wir bereits den Boden der politischen Anthropologie, d. h. die Bestimmung des Menschen zum Zwecke der Legitimation politischer Ordnung. Auf diesem Terrain stehen Vorstellungen des guten Lebens von jeher im normativen Zentrum. Eine politische Ordnung gilt als gerechtfertigt, wenn sie eine bestimmte Lebensform zur Entfaltung bringt – wobei die Palette bis zum self-entrepreneur des individualistischen Liberalismus reicht. Eine der Herausforderungen der gegenwärtigen politischen Philosophie liegt darin, diesen legitimatorischen Zusammenhang zwischen Politik und Menschenbild unter den Bedingungen einer postnationalen Konstellation zu rekonstruieren. Dabei lassen sich zugespitzt zwei Tendenzen feststellen: Während kommunitaristische Ansätze an einer substanziellen Idee des guten Lebens festhalten, 1 Martha Nussbaum: Frontiers of Justice, Cambridge, Mass. 2007; Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999. John Rawls: A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971.

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Henning Hahn

neigen kosmopolitische Autoren dazu, den Begriff des guten Lebens fortwährend zu verschlanken. Daran sind entgegengesetzte geopolitische Visionen angeschlossen. Der Kommunitarismus plädiert für die Errichtung kleinteiliger politischer Schutzwälle, der Kosmopolitismus argumentiert für eine Entgrenzung bis hin zur „komplementären Weltrepublik“2. Prima facie erscheint ein solcher Zusammenhang zwischen Politik und Anthropologie ganz plausibel. Eine substanzielle Konzeption des guten Lebens erfordert eine begrenzte politische Gemeinschaft; eine formale Konzeption ist dagegen offener für eine kulturübergreifende politische Ordnung. Vor dem Hintergrund einer sich beschleunigenden Globalisierung ist aber zu beobachten, dass die kommunitaristische Position und mit ihr eine substanzielle Bestimmung des guten Lebens immer weiter in die Defensive geraten ist. Denn die Einrichtung politischer Schutzreservate für bestimmte Lebensformen ist kaum mit den Erfordernissen fortschreitender wirtschaftlicher und politischer Interdependenzen zu vereinbaren. Dagegen versprechen kosmopolitische Modelle eine sehr viel tragfähigere Antwort geben zu können, wie sich politische Regelkompetenzen auf globaler Ebene gewinnen lassen. Gemein ist diesen Modellen, wie gesagt, dass sie sich über eine minimale oder formale Bestimmung des guten Lebens legitimieren.3 Die Beweggründe für die kosmopolitische Ausdünnung der Konzeption des guten Lebens sind einleuchtend. Alle substanzielleren Bestimmungen scheinen entweder aus dem interkulturellen Konsens oder aus der biologischen Bestimmung des Gattungswesens Mensch herauszufallen. Der Kompromiss, den die meisten Autoren daher anvisieren, besteht darin, dass auf globaler Ebene eine minimale oder formale Konzeption des guten Lebens die legitimatorische Grundlage bildet, während eine reichhaltigere Bestimmung des guten Lebens dem Kontext kultureller Gemeinschaften oder Nationen vorbehalten bleiben soll. Die Kritik, die ich an dieser Stelle anbringen möchte, lautet, dass eine minimale oder gar formale Anthropologie nicht die Legitimationslast tragen kann, die ihr hier auferlegt wird. Dies liegt vor allem daran, dass wir es auf globaler Ebene zunehmend mit Problemen zu tun haben, die nach einer viel breiteren Verständigung darüber verlangen, was ein gutes menschliches Leben auszeichnet. Das Teilen einer gemeinsamen Umwelt stellt ebenso normative Anforderungen an den Begriff des guten Lebens wie die Teilnahme an einer gemeinsamen Wirtschaftswelt. In diesen genuin globalen Kontexten bleibt es nicht mehr den Angehörigen einzelner Gemeinschaften überlassen, ob sie beispielsweise ein 2

Vgl. Höffe (1999). Was Martha Nussbaum beispielsweise ein florierendes menschliches Leben nennt, zeichnet sich in der Möglichkeit aus, einige wesentliche Grundfähigkeiten (capabilities) auszuüben (Nussbaum (2007)). Und Otfried Höffe spricht in seiner minimalen politischen Anthropologie von den grundlegenden „conditions of agency“ (Höffe (1999), S. 55), die für jeden Menschen zu sichern sind. 3

Homo Cosmopoliticus

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nachhaltiges oder ein konsumorientiertes Leben favorisieren. Während sich also auf der einen Seite globale Anforderungen an ein gutes Leben stellen, die über die Reduktion auf allgemeinmenschliche Bedürfnisse, Fähigkeiten oder Handlungsmöglichkeiten hinausweisen, darf zweitens auch nicht übersehen werden, dass sich im Zuge der Globalisierung bereits eine bestimmte kosmopolitische Lebensform herauszubilden begonnen hat. In Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gehört der homo cosmopoliticus längst zur Alltagskultur, sodass sich die Frage nach dem guten Leben auf globaler Ebene nicht nur hypothetisch stellt, sondern uns sehr konkret etwas angeht. Faktisch leben wir bereits in einem wirkmächtigen Geflecht von globalen Praktiken und Regeln, das uns, ob wir wollen oder nicht, in unseren Einstellungen formt und bestimmte Verhaltensweisen in uns kultiviert hat. Die Frage nach einer globalen politischen Ordnung dieser Praktiken und Regeln hat mitunter die Bedeutung der Frage angenommen, wie wir leben wollen. Dazu bedarf es aber eines interkulturellen Diskurses, der über die Verständigung grundsätzlicher Menschenrechte weit hinausreicht. Woran kann sich solch ein Diskurs über das gute Leben des homo cosmopoliticus orientieren, wenn nicht allein an seiner Biologie und einem Konsens über vorhandene Werte? Ich denke, dass eine gehaltvolle Bestimmung des guten Lebens ganz wesentlich auf einer Vorstellung beruhen muss, wer wir in Zukunft sein wollen. Dahinter steht die These, dass sich menschliche Identitäten nicht nur im Rückblick auf die eigene Kultur und Tradition herausbilden, sondern ebenso wohl auch in Reaktion auf gemeinsame Probleme und im Vorgriff auf kollektive Utopien entstehen. Das Zeitalter der Globalisierung bietet ausreichend Reservoir für beides. Deswegen gilt es, sich nicht mit einer Minimalbestimmung des guten Lebens zufriedenzugeben, sondern in Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen und einem kulturübergreifenden Diskurs über das Zusammenleben in der Zukunft eine gehaltvolle Konzeption des guten Lebens zu gewinnen, eine Konzeption, die substanziell genug ist, um politische Macht auch global zu legitimieren.

Hobbes’ Antwort Die Seele, der Ruhm und die „Haltung des Krieges“ Philipp Ruch Das Leben des Menschen ist einsam, kümmerlich, hässlich, barbarisch und kurz. Mit dieser dramatischen Aussage schreibt sich Thomas Hobbes vor mehr als 350 Jahren in die politische Ideengeschichte ein. Hobbes, unterrichtet in der politischen Philosophie von Aristoteles, Übersetzer von Thukydides und damit ein Kenner der Anfänge der griechischen Politik, hält das Leben, so wie es von Natur aus dem Menschen zugedacht ist, für unerträglich. Der Versuch, seinen berühmten Satz mit einem Hinweis auf den Kontext zu erledigen, ist nicht zufriedenstellend. Der Satz steht zwar im Umkreis einer Theorie über die „Naturall Condition of Mankind“1, über den natürlichen Zustand der Menschheit. Aber wer Hobbes’ Ausführungen im dreizehnten Kapitel des Leviathan liest, stellt fest, dass die Triebkräfte, die für Hobbes zu einem solchen Zustand führen, ständig am Werk und zu besichtigen sind. Hobbes nennt drei Triebkräfte für das zwischenmenschliche Chaos in der Natur: „Competition“, „Diffidence“2 und „Glory“.3 Diese führten zu einer „posture of War“4, einer Haltung des Krieges.5 Erstaunlich ist, dass die Szenen, mit denen Hobbes die drei Begriffe „Competition“, „Diffidence“ und „Glory“ ausschmückt, mehr aus dem Gesellschafts-, als aus einem Naturzustand herstammen. Ein Beispiel: die Kraft der „Glory“ verleitet Menschen dazu, beim geringsten Anzeichen von Abschätzigkeit Gewalt einzusetzen: „[. . .] for trifles, as a word, a smile, a different opinion, and any 1 Thomas Hobbes: Leviathan. Revised student edition, hrsg. von Richard Tuck, Cambridge 1996, Kap. XIII, S. 86–90. 2 Der Begriff ist schwer zu bestimmen. Die deutschen Übersetzungen gehen sicherlich fehl, wenn sie „Verteidigung“ setzen. Aber auch das naheliegende „Misstrauen“ trifft den Sinn nicht. Denn Hobbes hat die Bedeutungsebenen seiner Begriffe dankenswerterweise zu Beginn des Buches genau festgehalten. „Diffidence“ ist dort definiert als „Constant Despayre“. „Despaire“ wiederum ist „Hope“ ohne „opinion of attaining“. „Hope“ ist aber „Appetite with an opinion of attaining“ (alle ebd., S. 41). Diese terminologische Verfolgungsjagd scheint Thukydides’ pleonexia zu ergeben. 3 Ebd., S. 87. 4 Ebd., S. 90. 5 Hobbes benutzt auch den aristotelisch vorgeheizten Begriff der „inclination“.

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Philipp Ruch

other signe of undervalue, either direct in their Persons, or by reflexion in their Kindred, their Friends, their Nation, their Profession, or their Name.“6 Diese Anzeichen liest man ab an Freunden, Nationen, Berufen und sogar Namen? – Das sind nicht die erwartbaren bildlichen Zutaten für einen „Naturzustand“. Auch die Könige, die Waffen, Heere und Spione gegeneinander richteten7 und damit in einer „posture of War“ lebten, entspringen nicht den typischen Vorstellungen vom Naturzustand. Der Hinweis also, der berühmte Satz über die Einsamkeit, Hässlichkeit, Rohheit und – eine der Schwerkräfte von Hobbes’ Theorie – Kürze des Lebens sei nur im Kontext des Naturzustandes zu lesen, wird hinfällig. Die Beispiele, die auf diesen Schluss zuleiten sollen, stehen selbst außerhalb des bildgewaltigen Naturzustandes. Vielmehr lässt sich behaupten, dass das dreizehnte Kapitel aus dem Gesellschaftszustand heraus den Naturzustand gleichermaßen teleologisch anfixiert. „Competition“, „Diffidence“ und „Glory“ sind für Hobbes dergestalt in die menschliche Natur gelegt, dass sie gerade in Gesellschaft ihren Anteil fordern. Sie unterfüttern, wie Hobbes konzeptionell darlegt, die menschliche Impulsivität.8 Das zoon politikon handelt er mit einem Verweis auf die Ungeselligkeit des Menschen in einem einzigen Satz ab: „Againe, men have no pleasure (but on the contrary a great deale of griefe) in keeping company, where there is no power able to over-awe them all.“9 Das ist schwärzeste Anthropologie. Für sich genommen aber konsequent gedacht: Wenn „Glory“ den Menschen bereits wegen nichtiger Anzeichen von Geringschätzung gewaltbereit macht, wie sollen dann Menschen je Gefallen aneinander finden? Schwarze Anthropologie könnte das endgültige Verdikt über Thomas Hobbes’ Menschenbild sein, stünde da nicht die emphatische ex negativo Schilderung des Naturzustands, die er direkt vor den Ausspruch über das einsame, kümmerliche, hässliche, barbarische und kurze Leben gesetzt hat.

6

Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 90. 8 Im Zusammenhang der „three principall causes of quarrell“ (ebd., S. 88) spricht Hobbes immer wieder von „endeavours“. Den Begriff hat er, wie die meisten seiner konzeptionellen Grundbegriffe, kunstvoll und überlegt an diese Stellen gesetzt. Er definiert ihn so: „These small beginnings of Motion, within the body of Man, before they appear in walking, speaking, striking, and other visible actions, are commonly called Endeavour.“ (Ebd., S. 38) 9 Ebd., S. 88. 7

Hobbes’ Antwort

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Es gibt stets zu denken, welche Leistungen ein Denker hervorhebt, um die Leistungen der Menschheit zu loben. Hobbes’ Aufzählung enthält neben den üblichen Elementen wie „Industry“, „Culture“ und „Society“ eine Reihe von Errungenschaften, die Rückschlüsse darauf zulassen, was ihn begeistern konnte: Die Schifffahrt erwähnt er gleich zweifach, einmal als „Navigation“ und einmal als Motor des Warenimports. Aber auch geräumige Gebäude („commodious buildings“) fehlen ihm in dem von der Natur hervorgebrachten Zustand, genauso wie „instruments of moving, and removing“.10 Erst danach steigert er das Niveau des Verlustes: „[. . .] no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.“11

Hobbes’ Liste der Leistungen steht zwar in keiner konditionalen Beziehung zu seiner Aussage über das Leben, aber die Stelle liest sich trotzdem genau so. Die genannten Leistungen verkehren das Leben des Menschen, wie es ihm „eigentlich“ von Natur aus zukommt („solitary, poore, nasty, brutish, and short“), in sein Gegenteil.12 Seefahrt, Industrie, Briefe und die Berechnung der Zeit machen für Hobbes das Leben überhaupt erst lebenswert. Die Schilderung, auf die eine der grimmigsten Aussagen über das Leben in der politischen Ideengeschichte folgt, enthält im Kern eine emphatische Wertschätzung kultureller Leistungen. Thomas Hobbes plagten vielleicht weniger düstere Visionen, als er die Sinne für die Zerbrechlichkeit dieser Errungenschaften schärfen wollte.

10

Alle Zitate ebd., S. 89. Ebd. 12 Das bestätigt sich am Ende des Kapitels, wo Hobbes in aller Kürze anführt, was Menschen friedlich mache. Schon an die zweite Stelle stellt er: „Desire of such things as are necessary to commodious living; and a Hope by their Industry to obtain them.“ (Ebd., S. 90) 11

Lebendige Natur oder künstliches Werk: die Metaphern des politischen Lebens im abendländischen Denken Roberta Pasquarè Um bestimmte politische Auffassungen anschaulich darlegen und überzeugend durchsetzen zu können, hat sich die abendländische Reflexion jahrhundertelang des Mittels der Metapher bedient. Die häufigsten und erfolgreichsten Metaphern sind diejenigen gewesen, welche die Politik – wobei Politik sowohl als gemeinschaftliches Leben als auch als juristische und administrative Prozedur zu verstehen ist – entweder als Natur oder als Kunst aufgefasst haben. Die Metaphern, welche die Politik oder das Politische als Natur betrachten, fassen die Gesellschaft und deren Institutionen als von Natur aus gegeben auf. Das Natürliche an und in der Politik betrifft und bestimmt den Daseinsgrund selbst der Politik, die Modalitäten, nach denen jedes politische Gebilde lebt, und schließlich die Dynamiken, infolge derer es sich aufrechterhält oder zugrunde geht. In Bezug auf die Gründung einer politischen Gesellschaft ist es nämlich die Natur, die den Menschen vorschreibt, sich überhaupt miteinander zusammenzuschließen, und wenn die Gesellschaft einmal gegründet ist, ist noch einmal die Natur die normative Instanz, auf welche die Menschen schauen müssen, um ihre politische Gemeinschaft zu verwalten und erhalten. Zum einen bestimmt also die Natur den Menschen zum politischen Leben, und zum anderen kommt dem Menschen die Aufgabe zu, die Natur zu erkennen, um dann auf der Grundlage dieser Erkenntnis, eine gerechte und langlebige, weil naturgemäße Gesellschaft zu gründen und zu verwalten. Das politische Leben durch die Metapher der Kunst zu deuten und zu verdeutlichen, bedeutet hingegen, die Politik als Werk des Menschen zu verstehen. Die verschiedenen assoziativen Formen, welche die Menschen ins Leben rufen, sowie die Tatsache schlechthin, dass sich die Menschen in politischen Gesellschaften zusammentun, sind hierbei kein spontanes Ergebnis der Natur, keine selbstverständliche Erscheinung der Natur, sondern das Resultat des vorsätzlichen, zweckmäßigen und bewussten Handelns des Menschen. Mit anderen Worten liegt allem politischen Leben die Entscheidung mehrerer Menschen zugrunde, sich zusammenzuschließen, sowie der menschliche Wille, dies nach bestimmten Grundsätzen und Regeln zu tun, die nicht in der Natur vorgefunden, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern selbst festgesetzt werden. Für die

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Roberta Pasquarè

Denker, die sich der Metapher der Politik als Kunst bedient haben, ist also die Politik als künstliches Werk, d. h. als Werk des menschlichen Wissens, Wollens und Könnens zu verstehen. Trotz des auffälligen qualitativen Unterschieds der zwei Metaphern kommt es nicht selten vor, dass man bei manchen Autoren beide antrifft. Dies ist etwa der Fall bei Platon, Bodin und Hobbes, um nur einige Bespiele zu nennen. Bei Platon taucht in der Tat sowohl die naturalistische Metapher der Polis als Meganthropos als auch die handwerkliche Metapher der Gesellschaft als Gewebe auf. Bodins Verfassungstheorie gipfelt einerseits in der teleologischen Metapher der universalen Harmonie (deren naturalistischer Charakter darauf zurückzuführen ist, dass die nämliche Harmonie in der göttlichen Schöpfung, d. h. in der Natur, eingeschrieben ist), aber fußt andererseits auf einer Souveränitätslehre, die im Sinne einer Kunst-Metapher dem Souverän dieselbe absolute Macht verleiht, nach seinem Ermessen geltende Gesetze aufzuheben und neue zu erlassen, über die ein jeder Schiffskapitän bei der Entscheidung verfügen muss, dem alten Kurs zu folgen oder einen neuen einzuschlagen. Schließlich verwendet Hobbes die naturalistische Metapher vom Leviathan (einer zwar nicht wirklich existierenden Kreatur, der in der Bibel allerdings ein regelrecht organischer Körper zugewiesen wird), gerade um seine mechanistische Staatsauffassung zu untermauern, nach welcher der Staat das Produkt des menschlichen Wirkens, der menschlichen Kunst ist. Obwohl, wie oben gesagt, beide Metaphern nicht selten beim gleichen Denker vorkommen, unterscheidet die beiden eine wesentliche qualitative Differenz: Die Natur-Metapher macht dem Menschen zur Aufgabe, die Natur korrekt zu erfassen, um ihr dann im Politischen angemessen Folge zu leisten, während die Kunst-Metapher dem Menschen die Befugnis zuschreibt, das Politische zu „erfinden“. Durch die erstere wird vorgeschrieben, dass sich der Mensch nach dem zu richten hat, was er vorfindet – die Natur –, während durch die letztere die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, der autonomen Gestaltung des politischen Leben durchgesetzt wird. Auf der philosophiehistorischen Ebene besteht ein weiterer Unterschied darin, dass generell – allerdings nicht ausnahmslos – die Natur-Metapher von Denkern verwendet wird, die für Erhaltung des Bestehenden plädieren, während die Kunst-Metapher das Werkzeug zur Durchsetzung einer neuen Auffassung von Staat, Souveränität oder politischer Gewalt ist. Es liegt also nahe zu denken, dass die naturalistische Fundierung des Politischen der Konservation, und damit der Unterdrückung, während die Hervorhebung des Künstlichen am Politischen der Innovation, und damit der Freiheit, dient. Und doch verhält es sich in der Geschichte des europäischen politischen Denkens ganz und gar nicht dieser Annahme gemäß. Hobbes etwa, der als Grundvater des politischen Mechanizismus gilt, legt mit seinem Leviathan den ersten Stein zum modernen Absolutismus (oder zumindest zu einer seiner Varianten), während derselbe Platon, der in der

Lebendige Natur oder künstliches Werk

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Politeia die naturalistische Metapher des Meganthropos erarbeitet, das politische Individuum von den Zwängen des Geschlechts und des Standes befreit. In den Nomoi, seinem Spätdialog, stellt er darüber hinaus den Menschen dadurch in den Mittelpunkt des Politischen, dass dieser, und kein Gott, zum Urheber und Träger der gesetzgeberischen Vernunft gemacht wird, was Volker Gerhardt nachdrücklich betont.1 In der Moderne werden die Beiträge von Denkern immer zahlreicher, welche die explikative und methodische Unzulänglichkeit sowohl der einen als auch der anderen Metapher hervorheben. So erhält etwa bei Kant das Wort Natur die dreifache Bedeutung von Schöpfung, radikalem Bösen und ethischer Fähigkeit. Kants Rechtsstaat basiert auf einem Vernunftrecht, durch das Kant das klassische Naturrecht des Jusnaturalismus zwar überwindet, ohne dabei den Menschen außerhalb der Natur zu verorten. Es ist im Gegenteil gerade die vernünftige Natur des Menschen, die ihn dazu verpflichtet, den Naturzustand zu verlassen und das politische Leben als Rechtsstaat zu gestalten. Das politische Leben ist also bei Kant ein typisch menschliches Werk, das der Mensch allerdings erst auf der Grundlage seiner natürlichen vernünftigen Disposition zustande bringen kann. Diese entscheidende Kopräsenz von Natur und Kunst, Gegebenem und Willen, Vorgefundenem und Autonomie bei Kant und die darauf folgende Überwindung jeder antagonistischen Gegenüberstellung von Natürlichem und Künstlichem in Politik und Ethik werden besonders von Volker Gerhardt2 betont, in dessen politischer Reflexion die menschliche Naturgebundenheit (etwa durch speziesspezifische Eigenschaften wie Denken und Sprechen) die Momente der Autonomie, des Willens und der Selbstbestimmung nicht aus-, sondern einschließt und überhaupt erst ermöglicht. Dass der Mensch die Natur nie verlässt (weder der Mensch, der Politik und Ethik schafft, weil dieser sich dabei seines naturgegebenen geistigen Vermögens bedient, noch der Wissenschaftler, der die Technik und die Technologie schafft, durch die er die Naturwelt modifiziert, was nur infolge der Anwendung von Naturgesetzen geschehen kann), bedeutet in Volker Gerhardts Reflexion dennoch nicht, dass die Natur als externe und heteronome normative Instanz gesetzt wird. Die menschliche Naturgebundenheit mündet weder in eine Warnung vor technischen, sittlichen und politischen Innovationen noch in einen moralischen Vorbehalt dagegen ein, die neuen Lebenswissenschaften zu betreiben, die neuen Biotechnologien zu entfalten und die Umwelt zu modifizieren.3 Gerade weil sich der Mensch, bei allem was er unternimmt, im Rahmen des natürlich Machbaren und Möglichen bewegt (was die Natur nicht ermöglicht, kann ipso facto nicht zustande gebracht werden), fällt jede Berufung auf die Natur als normative Instanz aus, und infolgedessen 1

Vgl. Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2006. Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. 3 Zu diesen Thematiken siehe insbesondere Volker Gerhardt: Die angeborene Würde des Menschen, Berlin 2004. 2

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Roberta Pasquarè

taucht der Mensch selbst als Urheber und Akteur von Ethik und Politik auf: Die Natur bildet die Gesamtheit der Rahmenbedingungen, unter denen das Natürliche machbar und das Unnatürliche unmachbar ist, aber innerhalb dieses Universums, wo die Natur bloß die Frage nach dem Möglichen oder Unmöglichen, nicht aber die nach Gerechtem und Ungerechtem beantwortet, obliegt es dem Individuum und der Politik, Ziele zu setzen (ethisch nachzudenken) und zu verwirklichen (die Ethik anzuwenden). Da alles menschliche Wirken – alle menschliche Kunst, alles, was der Mensch zustande bringt – nur realisiert wird, weil es naturgemäß machbar ist, verschwindet die ethische Trennung zwischen Kunst und Natur, Vorgefundenem und Erfundenem, und es eröffnet sich der Raum des Willens, des Urteilens und der Entscheidung, was für das Individuum Autonomie als Selbstbestimmung und für die Gesellschaft Autonomie als gemeinsame Zielsetzung, als politische Partizipation, bedeutet.

„The Art of Life“ Zu Alfred North Whiteheads Deutung des Lebens als Kunst Stascha Rohmer „. . . denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertig“1 Friedrich Nietzsche

„Die Funktion der Vernunft ist es, die Kunst des Lebens zu fördern.“ Diese „Kunst des Lebens“ besteht darin, „dass man erstens überhaupt lebt, zweitens auf eine befriedigende Weise lebt und drittens einen noch höheren Grad von Befriedigung erreichen kann“.2 So lauten zwei der zentralen Sätze von Alfred North Whiteheads berühmter Schrift Die Funktion der Vernunft, die in vielerlei Hinsicht Erstaunen hervorrufen dürften. Erstaunlich mag an diesem Diktum nicht nur anmuten, dass Whitehead hier der Vernunft eine Funktion zuspricht, er also scheinbar einen pragmatischen Vernunftbegriff vertritt, während er doch in die Philosophiegeschichte mit dem Satz eingegangen ist, dass die philosophische Tradition Europas „aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon“3 bestehe, einem Bonmot, das dem berühmten Mathematiker den Ruf eines eingefleischten Platonikers einbrachte. Erstaunlich, wenn nicht gar paradox muss vielmehr Whiteheads Rede von einer Funktion der Vernunft gerade dann erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nach Whitehead die Vernunft den Zweck zu verfolgen hat, eine spezifische Kunst zu fördern. Denn Whitehead vertritt wie viele andere Denker die These, dass künstlerische Erzeugnisse und Werte primär selbstzweckhafte Totalitäten darstellen. Die Rede von einer Funktion der Vernunft dagegen legt nahe, die Vernunft sei als bloßes Instrument, als ein Werkzeug im Dienst des Lebendigen aufzufassen. Tatsächlich gehören aber Leben und Vernunft für Whitehead untrennbar zusammen. So ist gerade er der Auffassung, dass überall da, wo sich Lebendiges selbst vollzieht, Vernunft mitvollzogen wird. Ebenso teilt er mit Hegel die Auffassung, dass umgekehrt Vernunft und Erkenntnis die Wirklichkeit des Lebens 1

Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 17, 47. Alfred North Whitehead: Die Funktion der Vernunft, übers. aus dem Englischen von Eberhard Bubser, Stuttgart 1986, S. 9 und S. 8. 3 Alfred North Whitehead: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, übers. und mit einem Nachwort versehen von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1979, S. 91. 2

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Stascha Rohmer

voraussetzen. Aber dennoch ist aus Whiteheads Sicht die Selbstverwirklichung des Lebendigen nicht wie bei Hegel als reines Vernunftgeschehen, als Selbstverwirklichung der Vernunft in der Geschichte zu denken. Der Grund dafür, dass Whitehead mehr an eine Geschichtlichkeit der Vernunft denn an eine Einheit der Vernunft in der Geschichte glaubt, liegt darin, dass Whitehead einen ontologischen Pluralismus vertritt, in dessen Rahmen Einzeldinge etwas unaufhebbar Partikuläres sind, er also an der durchgängig individuellen Verfassung des Lebensprozesses festhält. Hegel dagegen vertritt einen erkenntnistheoretischen Monismus, in dessen Rahmen er einzelne Subjekte als Verkörperungen eines absoluten Geistes denkt, der das eigentliche Subjekt der Weltgeschichte ist. So war Hegel in seinem theoretischen Schaffen bestrebt, die Selbstevidenz der Vernünftigkeit des Weltgeschehens in Form eines logischen Beweises herauszuarbeiten. Sowohl die Geschichte der Natur als auch die des Menschen sind demnach insofern als sinnhaftes Vernunftgeschehen zu deuten, als sich hier – angefangen von den einfachsten Formen in der Natur bis hin zur Selbsterkenntnis der Vernunft im absoluten Wissen – ein- und dieselbe substanzielle Wahrheit entfaltet. Demgegenüber hat Whitehead, wie Reiner Wiehl betont, die „Prioritäten im Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit in gewisser Weise umgekehrt“: „Die Wirklichkeit des Lebens und der einzelnen Lebensprozesse ist hier ursprünglicher als die Wahrheit der Erkenntnis und als der Prozeß ihres Wahrheitsbeweises“. Die Stufen des Lebens sind nicht „Stufen der Wahrheit, nicht einzelne Schritte auf dem Wege ihres Beweises, sondern Entwicklungsstufen des Lebendigen selbst, welches der Wahrheit und dem Irrtum ihre jeweilige Lebensfunktion zumißt“.4 Mit einem solch pragmatischen Verständnis der Vernunft im Rahmen des Lebensprozesses ist jedoch keineswegs eine Rationalität und Sinnhaftigkeit des natürlichen und geschichtlichen Prozesses ausgeschlossen. Es ist zwar eine logische Folge des whiteheadschen Pluralismus, dass es kein noch so komplexes Urteil gibt, das in seinen Augen die Verfassung der Wirklichkeit endgültig beschreiben könnte. Mit anderen Worten: Im Rahmen seines Systems ist zwar keine Aufhebung des Gegensatzes des Einzelnen und des Allgemeinen im Sinne der dialektischen Logik denkbar. Whitehead aber tritt gleichwohl mit dem Anspruch auf, Einzelnes und Allgemeines, Leben und Vernunft miteinander zu versöhnen. Er ist daher auf eine Art Mittelglied, eine Art tertium angewiesen, dass eben diese Extreme miteinander vermittelt, ohne sie ineinander aufzulösen. Whitehead hat dieses tertium, das Leben und Vernunft miteinander synthetisiert, in der Kunst, ja in der Erfahrung des Schönen überhaupt gesehen, was den Grund dafür abgibt, dass Whitehead von einer Kunst des Lebens, einer „Art of 4 Reiner Wiehl: Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie, in: Whiteheads Metaphysik der Kreativität, hrsg. von Friedrich Rapp und Reiner Wiehl, Freiburg/München 1986, S. 166 ff.

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Life“ spricht, der die Vernunft dienen soll. Somit ist aus Whiteheads Sicht nicht nur – mit Beuys gesprochen – jeder Mensch ein Künstler, sondern das Leben und das mit ihm einhergehende evolutive Geschehen selbst Kunst, es ist ein ästhetischer Prozess: Die natürlichen Lebensformen und insbesondere die menschliche Person sind in diesem Sinne als ästhetische Gebilde aufzufassen. So versteht er, wie Lachmann betont, „jede aktuale Entität als einen ästhetischen Vorgang, der in einem ästhetischen Faktum resultiert“5. In der Tat ist für Whitehead Kunst nur als ein spezielles Beispiel dessen zu sehen, was er im Allgemeinen unter Ästhetik versteht. Denn als ästhetisch und in diesem weiten Sinne „künstlerisch“ bezeichnet Whitehead „jede Auswahl, durch die konkrete Tatsachen so angeordnet werden, daß die Aufmerksamkeit auf besondere Werte gerichtet wird, die durch sie realisierbar sind“6. Unter dieser Perspektive betrachtet, ist ganz offensichtlich auch das Naturschöne als eine Form von Kunst aufzufassen. Und da die natürliche Evolution zur Bildung immer höher organisierter und komplexerer Gebilde geführt hat, sieht sich Whitehead zu der Hypothese berechtigt: „Die Teleologie des Universums ist auf das Hervorbringen von Schönheit ausgerichtet [. . .]“7. Um dieser Hypothese, dass das Leben seinem innersten Wesen nach Kunst ist, Plausibilität zu verleihen, ist Whitehead aber nun in der Tat genötigt, die gesamte Evolution als einen künstlerischen Prozess anhand von ästhetischen Paradigmen zu deuten. Einen solchen titanischen Versuch stellt sein Hauptwerk Process and Reality dar, das den Untertitel An Essay on Cosmology trägt. „Process“ ist denn auch einer der Schlüsselbegriffe der Whiteheadschen Metaphysik. Denn die Grundlage der Whiteheadschen Ontologie stellen nicht Dinge bzw. Substanzen dar, die dauern, sondern Einzelereignisse („actual entities“), die unaufhörlich entstehen und vergehen und damit den Grund und die Endursache für alle Zeitlichkeit und Dauer abgeben: „,Wirkliche Einzelwesen‘ – auch ,wirkliche Ereignisse‘ genannt – sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Man kann nicht hinter die wirklichen Einzelwesen zurückgehen, um irgendetwas Realeres zu finden.“8 Whiteheads Wahl des Ereignisbegriffes ist dabei einerseits philosophisch, andererseits naturwissenschaftlich motiviert. Aus philosophischer Perspektive zielt der Begriff der aktualen Entität als eines Elementarereignisses direkt auf eine Überwindung der überkommenen Metaphysik der Substanz ab. Zugleich versucht Whitehead aber, mit dem von ihm entwickelten Begriff des Ereignisses bzw. der „actual entity“ 5 Rolf Lachmann: Ethik und Identität. Der ethische Ansatz A. N. Whiteheads und seine Bedeutung für die gegenwärtige Ethik, München 1994, S. 96. 6 Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1984, S. 232. 7 Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen, mit einer Einleitung von Reiner Wiehl, übers. von Eberhard Bubser, Frankfurt a. M. 1971, S. 462. 8 Whitehead (1979), S. 57.

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an den Diskurs der relativistischen Physik seiner Zeit anzuknüpfen und diesen weiter voranzutreiben. Denn auch die Welt, wie sie sich in der relativistischen Physik darstellt, ist nicht so sehr eine Welt von statischen Gegenständen, welche als substanzielle Einheiten andauern, sondern vielmehr bilden Ereignisse das Material der relativistischen Physik. Auch scheinbar beständige Teilchen können in ihrem Horizont als Ketten von Augenblicken begriffen werden, „etwa“, so Russell in einem Gleichnis, „wie die aufeinander folgenden Töne einer Melodie“9. Ebenso wie sich einzelne Töne zu einem musikalischen Werk zusammensetzen können, lassen sich relativistisch betrachtet prinzipiell alle Gegenstände und Organismen als komplexe, strukturierte Abfolgen von Ereignissen begreifen. Whitehead bezeichnet solche, nach spezifischen Strukturprinzipien durchkomponierten Realzusammenhänge, die auf der wechselseitigen, prozessualen Immanenz von Ereignissen beruhen, als Nexus. Die wechselseitige Immanenz der Ereignisse innerhalb eines Nexus resultiert daraus, dass ein jedes Ereignis von seinem Nachfolger in spezifischer Weise erfasst bzw. – wie Whitehead sagt – prehendiert wird. Das Anwachsen von Komplexität im evolutiven Geschehen geht dementsprechend in Whiteheads „organischer Philosophie“ mit immer komplexeren Formen von Prehension einher, welche die unterschiedlichsten Formen von Realzusammenhängen zwischen Ereignissen konstituieren. An erster Stelle von Whiteheads Lehre der Prehensionen stehen jene Erfassungen, denen der basale Aufbau der Natur entspringt. Whitehead identifiziert diese materiellen Urbausteine der Evolution mit der am einfachsten zu denkenden Form der Prehension, nämlich die Reproduktion der Charakteristika des vorhergegangenen Ereignisses durch seine Nachfolger. In der anorganischen Natur herrscht aufgrund dieses reproduktiven Charakters der Prehensionen der aktualen Eintitäten sklavische Konformität: Hier ist aus Whiteheads Sicht die Herrschaft des Allgemeinen über das Einzelne in der Form des Naturgesetzes in einer Weise allumfassend, die individuelle Gründe ausschließt. Die Kausalität, welche die anorganische Natur bestimmt, lässt sich von hier aus als Anpassung, nämlich als Anpassung des jeweiligen Nachfolge-Ereignisses an seine Vorläufer, deuten. In scharfem Gegensatz zu dieser konformistischen Angepasstheit der Ereignisse, welche die materielle Natur konstituieren, ist von hier aus die Wirklichkeit des Lebendigen zu denken. Leben ist „ein Bemühen um Freiheit“10. Freiheit heißt hier dann konkret: Das Gebilde, das man selbst in seiner Welt ist, ist durch selbstbestimmte, schöpferische Integration der Umwelt in das eigene Selbstsein immer wieder aktiv neu zu bilden. Daher ist Originalität das entscheidende Kennzeichen des Lebens: Leben „ist der Name für Originalität und nicht für Tradition“11. 9

Bertrand Russell: Das ABC der Relativitätstheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 169. Whitehead (1979), S. 203. 11 Ebd. 10

„The Art of Life“

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Ein Organismus, so Whitehead, ist genau dann lebendig, „wenn seine Reaktionen in gewissem Maße durch keine Tradition rein physischer Vererbung erklärt werden können“.12 Mit anderen Worten: Das Phänomen des Lebens ist dadurch charakterisiert, dass das Lebendige stets „etwas Neues hervorbringt, um so der Neuheit der Umwelt zu begegnen“13. Hauptkennzeichen des Lebens ist damit die Fähigkeit des Lebendigen, die „Initiative“ zu ergreifen und sich schöpferisch von der Umwelt abzugrenzen können. In gewisser Weise wird damit im Gegensatz zur Konformität des Toten die Unangepasstheit an die Umwelt zum Kennzeichen eines lebendigen Nexus. Von hier aus dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass aus Whiteheads Sicht weder das darwinistische Prinzip der Bestangepasstheit (best adaption) an eine Umwelt noch das Prinzip des Überlebens der Tüchtigsten (survival of the fittest) dazu in der Lage ist, die evolutionäre Höherentwicklung plausibel zu machen. Die Problematik dieser „evolutionistischen Denkfehler“14 liegt für Whitehead darin, dass die bloße Fähigkeit zur Selbsterhaltung kaum als evolutionäres Produkt verstanden werden kann: „Tatsächlich ist ja alles, was lebt, ja schon allein deshalb nicht besonders überlebensfähig. Die Kunst zu überdauern ist ein Attribut des Toten. Nur anorganische Objekte überdauern wirklich große Zeiträume. Ein Felsbrocken kann ohne weiteres achthundert Millionen Jahre alt sein; Bäume erreichen vielleicht ein Alter von tausend Jahren; Menschen und Elefanten werden fünfzig bis hundert Jahre alt; [. . .] Das große Problem, vor das uns die biologische Evolutionslehre stellt, ist die Frage, wie es überhaupt zur Entstehung von Organismen mit einer derart mangelhaften Überlebensfähigkeit kommen konnte – ganz gewiss nicht deshalb, weil sie sich besser auf das Überleben verstanden hätten als die Felsen in ihrer Umwelt.“15

Die Evolution scheint dann, wenn man den Vergleich mit dem Anorganischen zulässt, überhaupt nicht auf bloße Überlebenstüchtigkeit ausgerichtet zu sein, sondern eher auf Intensivierung der Lebensqualität. Ebenso verfehlt ist es nach Whitehead, Überlebenstüchtigkeit mit bloßer Bestangepasstheit zu identifizieren. Denn ausgerechnet die am weitesten entwickelten Lebewesen und hier insbesondere der Mensch – Lebewesen, die sich darwinistisch betrachtet eigentlich durch ein Maximum an Angepasstheit an ihre Umwelt auszeichnen müssten –, ausgerechnet diese Lebewesen scheinen in gewisser Weise diejenigen zu sein, die sich ihrer Umwelt am wenigsten anpassen. Tatsächlich hat sich, meint Whitehead denn auch, „im Laufe der Aufwärtsentwicklung mehr und mehr ein entgegengesetztes Verhältnis zur Umwelt ergeben, mathematisch ausgedrückt: Die zur Anpassung inverse Relation“16. Entwickelte Lebewesen passen sich also nicht nur den äußeren Zwängen ihrer Umwelt an, sondern sind darüber hinaus 12 13 14 15 16

Ebd. Ebd., S. 199. Whitehead (1986), S. 8. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8.

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Stascha Rohmer

selbst kreativ-schöpferisch tätig und haben sich im Laufe der Evolution zunehmend der Aufgabe zugewandt, die Umwelt fortfahrend zu transformieren und ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen. Damit kommt die für Whitehead entscheidende Komponente ins Spiel, nämlich Finalität. Lebensvorgänge sind nicht nur kausal wirkverursacht, sondern auch zweckverursacht – eine Zweckverursachung, die gerade im menschlichen Leben am offensichtlichsten vorherrscht, insofern sich menschliches Leben im Einholen seiner Entwürfe realisiert. Finalität als Selbstbestimmung zielt aber ihrerseits auf Rationalität, auf Vernunft ab. Und sollte Leben mehr als bloß „Überleben“ besagen, nämlich aktive Lebenskunst und Steigerung der Lebensqualität, dann besteht die Funktion der Vernunft auch darin, diese Kunst zu fördern. Im Hinblick auf diesen Zweck definiert Whitehead die Vernunft daher als „die Lenkerin des Angriffs auf die Umwelt, der sich „dem dreifachen Impuls verdankt: „(i) to live, (ii) to live well, (iii) to live better“.17 Eben in diesem Sinne besteht aus Whiteheads Sicht die Kunst zu leben darin, „dass man erstens überhaupt lebt, zweitens auf eine befriedigende Weise lebt und drittens einen noch höheren Grad von Befriedigung erreichen kann“18.

17 18

Alfred North Whitehead: The Function of Reason, Boston 1958, S. 8. Whitehead (1986), S. 9.

Leben als Bildung Eine platonische Perspektive Ursula Ziegler Unser heutiges Verständnis der Bildung des Menschen verweist auf zwei Denker, die es begrifflich und institutionell richtungsweisend prägten: Wilhelm von Humboldt und Platon. Nicht nur sehen beide die Aufgabe der Bildung darin, dem Begriff des Menschseins gerecht zu werden, sondern sie stellen sich auch der Schwierigkeit, sowohl den prozessualen Charakter der Bildung als auch ihr normatives Moment, eine weder beliebig noch dogmatisch zu formulierende Orientierung, sicht- und begreifbar zu machen. Mehr noch als Humboldt erkennt Platon das Erfordernis einer philosophischen Grundlegung der Bildung: Das in der Frage der paideia, der Erziehung und Bildung, immer schon implizierte Bild des Menschen und die in ihm enthaltenen Vorstellungen der Tugenden müssen nach Platon hinterfragt und gegebenenfalls in ihren Interessenansprüchen aufgeklärt werden. Der Zielsetzung einer dem Menschen angemessenen Lebensweise und der Frage nach seiner besten Verfasstheit gilt es sich auf der Grundlage des philosophischen Fragens zu nähern. Vor dem Hintergrund der sokratischen Dialogpraxis entwirft Platon ein Modell der paideia, mit dem er die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Bildung und den sie konstituierenden Bedingungen in einen Rahmen stellt, der in einer Synchronizität des Strebens nach Erkenntnis und der Entwicklung und Formung des Menschen, in einer Gleichursprünglichkeit von Philosophie und Bildung gründet. Die Dringlichkeit der Bildungsthematik seiner Zeit greift Platon in seinem Frühwerk auf, indem er die arete, die „Bestheit“ oder Tugend des Menschen, ins Zentrum der Erörterung rückt. Der Begriff der arete, der schon bei Homer als Leitmotiv griechischer Bildung galt, erfährt im 5. vorchristlichen Jahrhundert eine politische Fokussierung: Es geht um die Erziehung junger Männer zur politischen Tüchtigkeit.1 Die der arete ausschließlich gewidmeten Tugenddialoge2 verweisen überdies auf den im Höhlengleichnis dargestellten Aufstieg des 1 Vgl. Platon: Protagoras, 317e ff. Alle Stellenangaben zu Platon beziehen sich auf die Textausgabe Platon: Werke in acht Bänden, griechisch-deutsch, hrsg. von Gunter Eichler, übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2005. Zur Frage der arete vgl.: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1959, Bd. 1, S. 26 ff. 2 Es handelt sich um die Dialoge Laches, Charmides, Euthyphron, Thrasymachos.

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Ursula Ziegler

Erkenntnisweges, den Platon selbst als bildhaftes Paradigma seines paideia-Begriffes kenntlich macht.3 Im Folgenden sollen aus der Perspektive eines erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Moments einige Strukturmerkmale des Verhältnisses von Philosophie und Bildung im Hinblick auf diese frühen Werke dargelegt werden. Die Ausgangsebene der Suche nach dem Wissen der arete wird in den Dialogen bekanntlich durch die Antworten der Gesprächspartner des Sokrates auf dessen Was-ist-Fragen bestimmt: Sie charakterisieren die gefragte Tugend mithilfe von herkömmlichen Ansichten oder Beispielen, die sie ihrem Umfeld und den Konventionen der Polis entnehmen. Die Dialogpartner bewegen sich im Feld der doxai, der Meinungen, die in der unmittelbaren Lebenspraxis situiert sind. Das Kennzeichen der doxai ist für Platon ihre Multiperspektivität: Es ist die elementare Erfahrung des Alltags, dass verschiedene Blickrichtungen zu unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich eines Sachverhalts führen. Im philosophischen Gespräch werden die der Vielfalt der doxai immanenten Widersprüche sowie unhinterfragte Prämissen offengelegt. Aus erkenntnistheoretischer Sicht zeigt Platon damit die Möglichkeit eines ersten und prinzipiellen Schrittes auf dem Weg der Erkenntnissuche: Das Bewusstmachen von Unstimmigkeiten und nicht beachteten Voraussetzungen soll auf der Basis einer vernunftorientierten Gesprächsebene dazu anspornen, den eigenen Stand des Wissens und der Argumentationsweise sowie unbegründete Meinungen zu reflektieren. Damit werden bereits auf den untersten Stufen des Erkenntnisstrebens grundlegende pädagogische Elemente erkennbar: Bildendes Wissen generiert sich für Platon nur im Vollzug eines ergründenden und forschenden Lernens. Nur durch diese Form der paideia entwickelt sich für ihn das Fundament einer denkerischen Selbstständigkeit. Die philosophische Unterredung bzw. die Vermittlung durch den anderen sind dabei notwendiger Bestandteil: Das Gegenüber ist der Prüfstand des begründenden Arguments und der Spiegel der Selbsteinschätzung und Selbstreflexion in Anbetracht des eigenen Bildungsganges. In der gemeinsamen Wissenssuche steht einerseits die epistemisch notwendige Objektivierung eines Sachverhalts zur Debatte, andererseits die Frage, in welcher Gestalt Erkenntnis und Wissen imstande sind, die Seele des Menschen zu bilden und damit eine Veränderung lebenspraktischer Haltungen und Handlungsmotivationen zu bewirken. Die Antwort darauf kann für Platon nur in dem Weg der Suche selbst gefunden werden: Bildendes Wissen bleibt immanent an den Prozess seiner Erforschung und Entstehung und dadurch an die Person der Wissenssuche selbst gebunden.4 3

Platon: Politeia, 514a–519b. Vgl. dazu die Analysen von Rainer Enskat: Authentisches Wissen. Was die Erkenntnistheorie beim Platonischen Sokrates lernen kann, in: Ders. (Hrsg.): Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1998, S. 101–143, und Jürgen Mittelstraß: Versuch über den sokrati4

Leben als Bildung

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Aus diesem Zusammenhang ergibt sich der in den frühen Dialogen akzentuierte Umstand, dass die sokratische Befragung nicht nur auf einen Kenntnisstand der Tugend, sondern auch auf die Frage zielt, inwieweit ein Gesprächspartner fähig ist, aufgrund seiner Lebensführung für eine Überzeugung einzustehen bzw. inwiefern das Wissen der arete sein Sosein und Dasein prägt.5 Die Verbindung von Wissen und Verwirklichung der Tugend weist auf das ethische Moment: Die Sinnhaftigkeit von Bildung, Erkenntnis und Wissen ist für Platon an die Frage nach einem guten und gelingenden Leben geknüpft. Entsprechend obliegt es einem philosophischen Lehrer, die dispositionelle und charakterliche Verfasstheit seines Schülers zu erkennen und sich darauf einzulassen, um auf dieser Basis eine philosophische Ausrichtung geben zu können.6 Nicht durch die Vorgabe eines Wissens der gesuchten Sache aufseiten des Lehrers, sondern ausgehend von den seelischen und kognitiven Konditionen des Schülers soll mit den Fragen ein Weg eingeschlagen werden, auf dem der zu Bildende aus sich selbst befähigt wird, sich von unbegründeten Vorstellungen zu lösen und auf die Sache der arete hinzuwirken. Das Transzendieren oder Nicht-Transzendieren der Ebene der doxai entscheidet nach Platon darüber, ob sich aus pädagogischer Sicht das angestrebte korrelative Verhältnis zwischen einer vernunftgeleiteten Differenzierung und einer maßstabsgebenden Orientierung erfüllt oder nicht. Für das Individuum bedeutet das Überschreiten oder die periagoge, „die Kunst der Umwendung“7, gelernt zu haben, immer wieder von Neuem mit Anschauungen, die es als vermeintliches Wissen internalisierte, zu ringen und sich nicht von nächstliegenden Interessensmomenten oder machtgeleiteten Ansprüchen instrumentalisieren zu lassen, sondern in der Lage zu sein, auf eigenständige Weise sein Leben zu führen. In Bezug auf den politischen Kontext scheidet sich für Platon mit dem Überschreiten oder Nicht-Überschreiten der Weg zwischen einem sophistischen und philosophischen Bildungsanspruch, zwischen einer sophistischen und philosophischen Lebensausrichtung in der Polis. Hierin liegt der eigentliche Grund, warum das philosophische Fragen nicht nur seinen Ausgang in lebenspraktischen Problemstellungen nehmen, sondern auch in diese münden muss: Philosophie knüpft nach Platon an konventionelle Denk- und Identifikationsmuster, an Fragen des Zusammenlebens, an politische Direktiven, nicht zuletzt an Auffassungen über die Tugend an und unterwirft sie zugleich einer überprüfenden Befragung. Umgekehrt gilt auch für die Philosophie selbst, sich am öffentlichen Leben zu messen und in ihm zu begründen.8 Philosophische und politische Fragestellungen schen Dialog, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch, München 1984, S. 11–27. 5 Platon: Laches, 187e f.; Platon: Charmides, 158e f. 6 Platon: Phaidros, 270b–272b. 7 Platon: Politeia, 518d. 8 Vgl. Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie?, Stuttgart/Weimar 2000.

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können und sollen sich nach dem platonischen Verständnis in vielerlei Hinsicht wechselseitig konstituieren: Auch das gehört zum Bildungsprogramm der frühen Dialoge. Das Leben eines Philosophierenden ist für Platon ein Leben als Bildung – in einem erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Rahmen; was gebildet werden soll, sind – in platonischer und humboldtscher Denkart – die Kräfte und Vermögen des Menschen. Nicht fehlen darf dabei das motivierende Moment des freundschaftlich-philosophischen Gesprächs.

Exemplarität als Streben Entwurf einer Konkretisierung des Lebensbegriffs in Anlehnung an Volker Gerhardts Theorie des exemplarischen Daseins Janina Sombetzki Einleitung Bereits in der Antike wurde zwischen einer allgemeinen „Tatsache des Lebens“1 (zôê) – unabhängig davon, welchen Entitäten sie konkret zugeschrieben wird – einerseits und dem speziell menschlichen Leben (bios) andererseits unterschieden.2 Ohne davon zu sprechen, ob die Griechen auch individuelle Tiere oder Pflanzen annahmen, kann zumindest die begriffliche Differenzierung zwischen einem (menschlichen) Individuum, welches sich durch seine Biografie als besonderes Einzelwesen auszeichnet, und dem, was nicht in irgendeiner Form schon individuell ist, im Kern ausgemacht werden. Insofern scheint sich hier ein wie auch immer einzigartiges (menschliches) Leben von allgemein „dem Leben“ unterscheiden zu lassen. Diese in der Folge zumindest in der Umgangssprache bis zur Gegenwart aufrecht erhaltene Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Leben ist besonders bei Denkern spürbar, die dazu auffordern, menschliches Leben in seinen Einzelfällen zu betrachten. Leben werde überhaupt ausschließlich in seinen Konkretisierungen deutlich, wohingegen der Lebensprozess – Leben als Ganzes – grundsätzlich unerkennbar bleiben müsse.3 Volker Gerhardt hingegen hebt die vorgestellte Differenzierung gänzlich auf, wenn er an zahlreichen Stellen seines Werkes festhält, dass „[i]m Individuum [. . .] die ganze Realität [liegt]. An und in ihm vollzieht sich der Prozess des Lebens.“4 Natürlich nutzt er ebenso den Begriff „Leben“ als ein Abstraktum, doch wird mit Ausführlichkeit wiederholt, dass „Leben [. . .] niemals bloß das 1 Vgl. Richard Toellner: Art. „Leben“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart 1980, Bd. 5, S. 53. 2 Vgl. ebd., S. 52 f. 3 An dieser Stelle wäre vielleicht Wilhelm Dilthey mit seinem Werk „Das Erlebnis und die Dichtung“ hervorzuheben. 4 Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 196.

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Janina Sombetzki

„nackte Leben“ [ist]“5, sondern, obgleich es „sich zwar in myriadenhafter Vielfalt äußert [. . .][,] dennoch nur in einzelnen Exemplaren auftritt.“6 Somit ist „Leben“ gleichbedeutend mit „individuelles Leben“. Die Individuen sind die „Träger des Lebens“7. Im Folgenden wird eine Konkretisierung von „Leben“ durch den Strebensbegriff skizziert, der zwar von der Auseinandersetzung mit Gerhardts Vorstellung einer Individualität allen Lebens seinen Anfang nimmt, jedoch nicht den Anspruch erhebt, in der Konklusion gänzlich mit seinem Konzept in Übereinstimmung zu bleiben. I. Die Beispielhaftigkeit des Individuums Wenn Gerhardt annimmt, dass „[d]ie Lebendigkeit [. . .] sich nur in einer jeweils vollkommen individuierten Gestalt [zeigt]“8, wird damit nicht behauptet, dass nun jede individuelle Einzelerscheinung auch gleichzeitig leben muss. „Strenggenommen ist alles individuell“9, aber um von Leben sprechen zu können, müssen ganz besondere Eigenschaften vorliegen: Es ist vor allem die „Eigentätigkeit“10 oder auch Selbstorganisation, die Gerhardt zufolge als Indikator des Lebens gelten kann. Der lebendige Organismus steht in „eine[r] aktive[n] Beziehung zu sich selbst“11, indem er – ganz gleich ob im Verhalten des Tieres oder im Handeln des Menschen12 – aus sich selbst heraus und für sich selbst Leistung erbringt: „Wenn die lebendige Natur das, was sie hervorbringt, nur in Form von Individuen schafft, hat das einzelne Wesen diese primäre Leistung des Lebens an sich selbst zu sichern und zu fördern.“13

Diese Leistung des Lebens wird von Gerhardt zunächst häufig ausdrücklich als Selbsterhaltung identifiziert. Im folgenden Abschnitt diskutiere ich die Konsequenzen, die sich aus dieser Position ergeben, bzw. suche die hierfür notwendigen Prämissen darzulegen. Zunächst mag genügen, dass der Vollzug einer jeden Tat, dass jede einzelne Leistung, auf eine für diesen einen individuellen Organismus eigene Art und Weise geschieht und ihn somit als besonderes Einzelwesen hervorhebt. Alle Organismen zeichnen sich durch das Merkmal der 5

Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 106. Ebd., S. 99. 7 Gerhardt (2007), S. 194. 8 Gerhardt (2000), S. 99. 9 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 167. 10 Gerhardt (2000), S. 97. 11 Ebd., S. 96. 12 Vgl. ebd. 13 Gerhardt (2007), S. 194. 6

Exemplarität als Streben

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Selbstorganisation und somit durch das Einbringen von Leistung aus, doch muss sich diese Fähigkeit wiederum immer individuell realisieren. Insofern stellt „jede Tat ein Exempel für die Lebensweise“14 des einzelnen Individuums dar. Individuen können darüber hinaus gar nicht anders, als ständige Beispiele ihrer eigenen Gattung abzugeben.15 Damit ist gemeint, dass Lebewesen niemals einfach nur da oder vorhanden sind, sondern in einer Weise existieren, in der sie beständig ihr eigenes „Dasein zum Ausdruck“16 bringen, indem sie dazu gezwungen sind, sie selbst zu bleiben und in Handlung und Verhalten konsequent sich selbst aus sich heraus zu erzeugen. II. Die Funktionalität im Leistungsbegriff Im Begriff der Leistung tritt die Vorstellung einer Funktionalität zutage, die einer Erklärung bedarf. Wenn Leben Organisiertheit voraussetzt, dann ist damit gesagt, dass in ihr die einzelnen Teile in einer Form miteinander kooperieren,17 die für gewöhnlich als Zweck-Mittel-Beziehung interpretiert wird. Die Teleologie des Organismus beinhaltet die Funktion eines jeden Elementes desselben für ein anderes Element: „So sind alle Vorgänge des Organismus auf etwas aus. Der sie treibende Impuls hat, wie man früher sagte, ein telos, ein Ziel, in dem er sich bestimmt. [. . .] Und jede einzelne Leistung dient der ganzen Organisation.“18

Wie zuvor bereits erwähnt, zielt Gerhardt zufolge die primäre Aktivität des Lebewesens auf seine eigene kontinuierliche Erhaltung. Leben „will“ sich beständig selbst bewahren. Somit dient jeder Teil des Organismus im Ganzen der Selbsterhaltung des Individuums und dies ist als seine Leistung aufzufassen. Doch sind Begriffe wie Wille, Ziel und Zweck nur beim Menschen zu finden. Erst durch den Menschen gelangt ein Sinn in die Welt19 und kann von ihm gleichsam nachträglich in alles Walten der bewusstlosen Natur hineininterpretiert werden. Wenn also mit Kant angenommen wird, dass im Organismus alles wechselseitig für sich selbst Zweck und Mittel ist, dann hilft diese Vorstellung dem Menschen vielleicht, Lebewesen besser zu verstehen und die Vorgänge in 14

Ebd., S. 427. Ebd.; auf Gerhardts Gattungsbegriff kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu ebd., S. 193 ff. 16 Gerhardt (2000), S. 104. 17 Vgl. ebd., S. 102. 18 Ebd. 19 Vgl. Gerhardt (1999), S. 156: Die Begriffe „Teleologie“, „Teleonomie“ und „Programm“ „setzen ein Vorverständnis zielgerichteter Steuerung voraus, das immer erst beim Betrachter ausgebildet sein muß, ehe es in den Vorgängen selbst entdeckt werden kann.“ Und Gerhardt (2007), S. 52: „Nur im Sinn des Menschen kann der Sinn seiner Welt zutage treten.“ 15

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Janina Sombetzki

ihnen erklären zu können, doch bleibt auf diese Weise der Leistungsbegriff eine Metapher für etwas, das anders ohnehin nicht ausgedrückt werden kann.20 Es gibt einen Begriff, der zwar wörtlich in Gerhardts Konzept nicht vorkommt, jedoch meiner Ansicht nach gut wiedergibt, dass ein Organismus zwar einerseits häufig als zumindest mit dem Zweck der Selbsterhaltung ausgestattet vorgestellt wird, welchen es durch Leistung verfolgt, jedoch andererseits nicht notwendig auf ein letztes Ziel hin interpretiert werden muss: Es handelt sich um den Begriff des Strebens, auf welchen ich im folgenden Abschnitt näher eingehe, um dann zu zeigen, dass es sehr wohl möglich erscheint, ihm ohne Widerspruch auch einen Platz in Gerhardts Konzept einzuräumen. III. Die Exemplarität des Individuums als zielloses oder gerichtetes Streben Im ersten Abschnitt habe ich dargelegt, wie Gerhardt zufolge alle Leistung im Vollzug das Lebewesen zu einem sich selbst darstellenden Exemplar macht. Das Tun des Individuums, welches seine Exemplarität veranschaulicht – ob in diesem Oberbegriff nun die Handlungen der Menschen, die Bewegungen von Tieren, die Reaktionen von Pflanzen o. ä. versammelt sind, sei hier einerlei –, kann im Ganzen als die Leistung eines Lebewesens verstanden werden, als sein Ertrag, den es beisteuert für sich selbst, für die Familie, die Sippe, das Rudel, die Gesellschaft, die Kultur, die Flora und Fauna im Allgemeinen. Gerhardt unterscheidet jedoch von dem reinen „Exemplar sein“ noch eine andere Form der Beispielhaftigkeit: das „sich als Exemplar verstehen“ oder auch „exemplarisch sein“. Wenn sich ein Individuum seiner eigenen notwendig immer bereits gegebenen Exemplarität bewusst wird, kann es sein Dasein lenken und auf bestimmte Weise gestalten. Es richtet sein Dasein nach Normen und Prinzipien aus, wodurch das eigene Handeln Vorbildcharakter bekommen kann.21 Diese Fähigkeit des exemplarischen Daseins bleibt Gerhardt zufolge allein dem mit einem Selbstbewusstsein, mit Vernunft und Urteilskraft ausgestatteten Menschen vorbehalten. Ihm allein ist es möglich, sich seine persönliche Lebensform als beispielgebend für ein Handeln aller Menschen vorzustellen und sich selbst danach zu richten.22 In seinem exemplarischen Dasein behält der Organismus seine Individualität, der er nun „universellen Rang“23 verleiht: 20 Vgl. Gerhardts Ausführungen zu Kants „Als-ob“-Prinzip der Teleologie in diesem Zusammenhang in Gerhardt (1999), S. 157. 21 Vgl. Volker Gerhardt: Exemplarisches Denken. Aufsätze aus dem Merkur, München 2009, S. 17. 22 Gerhardt äußert sich an den betreffenden Stellen im Rückgriff auf Kants Selbstzweckformel. Vgl. hierzu: Volker Gerhardt: Die Menschheit in der Person des Menschen. Zur Anthropologie der menschlichen Würde bei Kant, in: Heiner Klemme (Hrsg.): Kant in der Gegenwart, Berlin/New York 2009 (im Druck). Hier äußert sich

Exemplarität als Streben

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„Das Exemplarische verpflichtet uns auf die Individualität des Ausgangspunkts; zugleich ist es auf den Vergleich und die Gemeinschaft mit Anderen und anderem angelegt. [. . .] Selbst das Einzigartige kann zum Signum für das Ganze werden.“24

Nur der Mensch kann eine bestimmte Lebensweise erstreben und, hat er sie einmal gefunden und nach seinen Vorstellungen entwickelt, auch danach streben, sie weiterhin beizubehalten. Dem Tier ist dies verwehrt. Es ist zwar ein individuelles Exemplar, jedoch ohne sich selbst bewusst eigentümliche Züge verleihen zu können. Sein Streben bleibt – im Gegensatz zu seinem situativen Verhalten – ungerichtet. Um diese Unterscheidung zwischen „Exemplar sein“ und „exemplarisch sein“ besser greifen zu können, möchte ich das ständige, sich wiederholende Erbringen von Leistung als zielloses Streben definieren, in welchem sich alle individuellen Organismen bis zu ihrem natürlichen oder gewaltsamen Ende stets befinden. Leben selbst muss somit als zielloses Streben vor jedem Sinn und Zweck verstanden werden, als eine ständige und permanente Bewegung und Veränderung von einem Moment zum nächsten, von dem Absterben der Zellen über die Regeneration bis hin zu einem flüchtigen Neuzustand, ohne jemals endgültig in einer Position zu verharren, zu erstarren.25 Nur im Menschen ist eine Wandlung von Streben in Erstreben vorstellbar.26 Schluss Indem Leben zunächst als stets individuelle Exemplarität und dann als Streben begriffen wird, ist es möglich, unterschiedliche Grade des exemplarischen Daseins auszumachen: Es ist nicht jedem gleichermaßen wichtig, bewusst eine Lebensweise zu entwickeln und auszubilden, von der er sich wünschen könnte, Gerhardt zudem sehr ausführlich über den möglichen Selbstzweck des Individuums. Vgl. dazu Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2007, S. 29: „Moralität liegt in dem Faktum beschlossen, daß dem Menschen ein individuelles Leben mit einer erkennbaren Lebensgeschichte aus dem biologischen Lebensprozeß heraus- und zuwächst.“ 23 Gerhardt (2009), S. 17. 24 Ebd., S. 18. 25 Vgl. Arendt (2007), S. 115: „Das Leben ist ein Vorgang, der überall das Beständige aufbraucht, es abträgt und verschwinden läßt, bis schließlich tote Materie, das Abfallprodukt vereinzelter, kleiner, kreisender Lebensprozesse, zurückfindet in den alles umfassenden ungeheuren Kreislauf der Natur, die Anfang und Ende nicht kennt und in der alle natürlichen Dinge schwingen in unwandelbarer, todloser Wiederkehr.“ 26 In Gerhardts Werk kann der Strebensbegriff als Kernelement des Lebens am ehesten durch die Begriffe „,innere[r]‘ Impuls, ,Trieb‘“ oder „elementare[s] ,Bedürfnis‘“ erfasst werden. Dann „[steht] der ganze Vollzug, den wir Leben nennen, unter dem Gesetz des eigenen Begehrens“ (Gerhardt (1999), S. 163). Leider muss eine eingehende Analyse dessen, was Gerhardt unter der Individualitätssteigerung versteht, an anderer Stelle geschehen. Vgl. ebd., S. 171 f., Gerhardt (2000), S. 104 und 106 ff.

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Janina Sombetzki

alle anderen Menschen würden ihr Leben auf eben diese Weise gestalten. Die Exemplarität des eigenen Daseins als einer bewusst erstrebten Lebensweise wird in der Person des Lehrers für andere Menschen besonders offensichtlich. Hier kommt es im Idealfall wohl zu einer Verschmelzung von dargestellter Theorie und vorgelebter Praxis. Das „exemplarische Denken“27 und Handeln als ausgearbeitetes Programm einer „exemplarischen Ethik“28 wartet zwar – so Volker Gerhardt – noch auf seine genaue Ausarbeitung und Umsetzung,29 jedoch bekommt sein eigenes Leben als exemplarisches und somit erstrebtes Dasein sicherlich nicht nur in meinen Augen in Forschung und Lehre bereits konsequenten Ausdruck.

27 28 29

Gerhardt (2009), S. 18. Ebd. Vgl. ebd.

Kunst als Leben und Leben als Kunst Nietzsche als „Existenzphilosoph par excellence“ in der Interpretation von Volker Gerhardt Nicola Nicodemo „Wozu die ,Welt‘ da ist, wozu die ,Menschheit‘ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern [. . .]; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu‘ vorsetzt, ein hohes und edles ,Dazu‘. Gehe nur an ihm zu Grunde – ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen [. . .] zu Grunde zu gehen“1.

Diese Worte Nietzsches, die in den Studien häufig kommentiert werden, die Volker Gerhardt über den Philosophen in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren verfasst hat, treffen den Kern seiner Nietzsche-Interpretation. Aus diesen Worten geht hervor, dass Nietzsches Philosophie mit guten Gründen als Existenz-Philosophie ausgelegt werden kann und die Wertfrage und zwar als Sinnfrage das philosophische Grundproblem ist, das Nietzsches Philosophie von Anfang an bis zum die Spätwerke kennzeichnenden Programm einer „Umwertung aller Werthe“ beherrscht. Aber erst 1873 wird die Wertfrage in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen wie folgt formuliert: „Was ist das Leben überhaupt Wert?“ 2 Gerhardt hebt hauptsächlich hervor, Nietzsche interessiere das, was Zwecke setzt, damit Werte schafft und dem Menschen einen Sinn gibt. Worauf Nietzsches Moral- und Wahrheitskritik zielt, ist die Wirksamkeit bzw. die Lebensdienlichkeit von Wahrheit, Moral, Sinn und Wert. Auf den Spuren von Kant und Schopenhauer richtet Nietzsche durch die Wertfrage alle Aufmerksamkeit auf den Menschen als Individuum, und indem er sich die Frage nach dem Wert des Lebens bzw. seines eigenen Lebens stellt, entdeckt er das sinnliche Wesen des Wertes. Ein Wert verweist auf einen Mangel. Er ist ein Zeichen für die Bedürftigkeit, für das, was jeder einzelne Mensch braucht oder 1 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 319. Vgl. Volker Gerhardt: Friedrich Nietzsche, München 2006, S. 77. 2 Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 890. Zur Wertfrage in Nietzsches Philosophie verweise ich auf Gerhardt (2006), S. 67–75.

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Nicola Nicodemo

zu brauchen meint. Auf diesem Weg gerät er jedoch in eine Sackgasse. Denn wenn jede Handlung auf einen Zweck zurückgeführt werden kann, dann brauchen wir, um nicht in ein regressum ad infinitum zu geraten, einen Endzweck. Doch wenn wir uns nach dem Endzweck fragen, bleibt die Frage selbst unvermeidlich unbeantwortet, und man wird gerade durch solch einen rational-argumentativ gesuchten Lebenssinn in die Absurdität geführt. „Es ist diese überaus rationale Konsequenz, die Nietzsche dazu bringt, einen das Leben erfüllenden Sinn nicht länger in der Vernunft, sondern in der Kunst zu suchen“3. Die Kunst wird daher von Nietzsche als „die höchste Vernunft“4 begriffen. Er will nämlich nicht die Vernunft pauschal verwerfen, macht aber auch deutlich, dass sie bei der Sinngebung des Daseins alleine versagt. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich, was Gerhardt zunächst als ästhetische Revolution5 und später als den leibhaftigen Sinn von Sinn, und zwar als „die Übersetzung der Wert- in eine Sinnfrage“6 bezeichnet. In seiner Verschärfung der Sinnfrage erfasst Nietzsche den Menschen tatsächlich als lebendige Einheit. Aus diesem Grunde verweist Gerhardt auf Folgendes: „Was immer wir uns auch für Ziele setzen: ,sinnvoll‘ sind nur solche, die wir auch vor Augen haben, die wir nicht nur begreifen, sondern auch erleben können. Lust und Leid müssen noch in den höchsten Zielen sein, wenn ein Lebenssinn darin liegen soll“7. In diesem auf sich selbst bezogenen Prozess der Sinnschöpfung, so macht Gerhardt deutlich, „stößt der Mensch keineswegs auf einen Vernunftgrund, auch nicht auf einen bloßen Daseinspunkt, sondern auf eine Form“8. Der Mensch bildet sich eine gedachte Gestalt, mittels der er zu einer wenn auch nur minimalen Distanz zu sich selbst und den anderen kommt. Im Medium einer Vorstellung verwandelt das Individuum sein Erleben und Genießen in eine lebendige gegenwärtige Form, in der es Bestimmtheit und Bedeutung gewinnt. In dieser absoluten Selbstbezüglichkeit verklärt das Individuum das Dasein zu einem bedeutungsvollen Geschehen, zu jener Form, die als Ausdruck aller seinen Lebenskräfte und als diejenige ästhetische Einheit begriffen wird, in der es zur vollen Geltung zu kommen vermag: zur Kultur. Angesichts der ästhetischen Revolution werden also die Welt und das Leben in Analogie zum Kunstwerk begriffen: „Kunst als Leben und Leben als Kunst“9. 3

Gerhardt (2006), S. 71. Nietzsche, Nachlass 1875, KSA 8, S. 36, zit. in: Gerhardt (1992), S. 71. 5 Volker Gerhardt: Nietzsches ästhetische Revolution, in: Ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 12–45. 6 Gerhardt (2006), S. 72. 7 Ebd., S. 72. 8 Ebd., S. 81. 9 Ebd., S. 89. 4

Kunst als Leben und Leben als Kunst

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Die Kunst wird deswegen unter Rekurs auf Trieb, Instinkt, organische Funktion oder Wachsen immer wieder auf Lebensprozesse zurückgeführt. Als kontinuierliche Form prozessualer Kraftäußerungen wird nach Gerhardt das Leben zur „elementaren Organisation des Daseins überhaupt“10. Die Kunst wird dagegen als „Stimulans des Lebens“, „Ermöglicherin des Lebens“ – wie der späte Nietzsche sie zu fassen versucht –, als diejenige plastische Kraft angesehen, durch die der Mensch mittels seiner Bedürfnisse und Absichten vermag, seinem eigenen Leben einen Handlungshorizont bzw. einen Sinn und Wert zu verleihen. Ist folglich das menschliche Individuum „das produktive Zentrum, dem alles entstammt, was wir Welt, Wirklichkeit oder Kultur, Geschichte, Ereignis oder Gegenstand nennen“11, ist es als „freier Geist“ nicht mehr bloß Träger, sondern auch Urheber seines Sinnes. Vor diesem Hintergrund gilt Nietzsche nach Gerhardt „als ein ,Aufklärer‘, dem es gelingt, selbst noch über die Motive der Aufklärung aufzuklären. Er bewirkte eine Erweiterung des Verstands durch Einsicht in ihre geschichtlichen, seelischen und leiblichen Bedingungen“12. Obgleich es den Anschein hat, dass im Zirkel von Kunst und Leben tertium non datur und dass dieser Zirkel einen tautologischen Charakter hat und daher für eine begriffliche Erklärung wertlos ist, lässt sich trotzdem ein Ergebnis erzielen: Die dem Zirkel zugrunde liegende Figur ist noch einmal die menschliche Selbstbezüglichkeit. Wir erfahren unsere Lebendigkeit durch die nicht weiter reduzierbaren spontanen, schöpferischen Kräfte in uns. Doch gerade die absolute Selbstbezüglichkeit führt bei Nietzsche nicht unbedingt zum Nihilismus, sondern zu einer Moral, die, so Gerhardt, in einer sich über Jahrtausende erstreckenden Entwicklung folgende Modifikationen erfährt: Von der in der Antike als gelingende Selbstbeherrschung betrachteten Moral, über Kants Autonomiebegriff bzw. die Selbstgesetzgebung bis schließlich zu den Reflexionen von Fichte, Schiller und Hegel, durch welche die Selbstbezüglichkeit zur Selbstbestimmung wird.13 Einerseits bettet Gerhardt auf diese Weise Nietzsche in den Verlauf der abendländischen Philosophie ein, andererseits verwirft er Heideggers ontologische Nietzsche-Interpretation, die die Frage nach dem Sein des Seienden stellt. Da „der Mensch seine Bestimmung nur dort findet, wo er seine Sinnlichkeit nicht preisgibt“14, ist für Gerhardt die Seinsfrage im heideggerschen Sinne sinnlos. Um über Nietzsches Philosophie hinauszugehen, wäre es nützlicher, nach

10 11 12 13 14

Ebd., S. 87. Ebd., S. 124. Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 128. Ebd., S. 72.

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Nicola Nicodemo

dem „Prinzip der Individualität“ zu fragen und eine Philosophie moralischer „Selbstbestimmung“ zu entwickeln.15 Daher besteht der spezielle Vorzug von Gerhardts Interpretation darin, dass Nietzsches ästhetische Revolution, und zwar der leibhaftige Sinn von Sinn, nicht nur seinen Versuch darstellt, „das Erbe der Antike, der Renaissance und später auch der Aufklärung zu sichern“16, sondern außerdem zu einer „radikalen Leibphilosophie“17 führt, die dem Individuum eine gelingende Einbindung in die Natur und ins Leben ermöglicht. Nietzsche wird also als „individueller Denker der Individualität betrachtet“ 18, denn: „Die Tragik, die er theoretisch auszudrücken versucht, kommt in seiner Existenz unmittelbar zum Ausdruck“19. Daraus lässt sich unmittelbar schließen, dass die Quelle und das Experimentierfeld des nietzscheschen Denkens sich in nuce als seine einzelne Existenz zeigen: „Nietzsches Problem ist sein eigenes Dasein und alle seine philosophische Probleme laufen in der einen Frage zusammen, wie dieses eigene Dasein mit anderem Dasein zusammenhängt. Das klingt existentialistisch“ 20. Dies veranlasst uns zu einer für die Philosophie schlechthin aufschlussreichen Feststellung: Wenn es überhaupt nichts gibt, was wir unabhängig von unseren eigenen Daseinsbedingungen zu erkennen vermögen, dann kann jede praktische oder theoretische Antwort auf die Frage nach dem Sinn nur einen Versuch darstellen. Daher ist Nietzsches Existenz-Philosophie stets nur Experimental-Philosophie, sofern sie immer auch scheitern kann – sowohl als Philosophie als auch als Leben. Gerhardts Auseinandersetzung mit Nietzsche läuft somit auf die Unausweichlichkeit der Interpretation hinaus. Dass es keine metaphysisch aufgefasste absolute Wahrheit gibt, hat nicht zur Folge, dass keinerlei Wahrheit zu denken ist. Daraus, dass die individuellen, sinnlich-leibhaften Ursprünge einer jeden Einsicht, die als Erkenntnis gelten soll, zur Feststellung führen, dass jegliche Erkenntnis Illusion ist, folgt nicht, dass unserer Erkenntnis kein Wert zukommt, sondern hingegen, dass diese erst anhand unserer Lebensbedingungen einen Sinn erhält. In Bezug darauf erklärt Gerhardt: „Im Interesse unserer eigenen, immer auch auf unsere Erkenntnis bezogenen Lebensbedingungen haben wir Nietzsche in eine begriffliche Perspektive zu stellen und ihn systematisch zu interpretieren“21. 15 Vgl. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999. 16 Gerhardt (2006), S. 78. 17 Ebd., S. 206. 18 Ebd., S. 214. 19 Ebd., S. 79. 20 Gerhardt (1988), S. 9. 21 Gerhardt (1992), S. 66.

Kunst als Leben und Leben als Kunst

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Vor diesem Hintergrund erhellt die Reflexion über Nietzsche zugleich die Existenz eines jeden Individuums. Zum einen gestaltet sich die als Interpretation, als Experiment gedachte Philosophie als Pathos, und zwar als emotionales sowie triebhaftes Moment, und dabei zugleich als Drang zu der dem Dasein innewohnenden Wahrheit: als intellektuelle Redlichkeit. Zum anderen erfordert diese Philosophie diejenige Distanz zum Pathos, die jeder unter Rekurs auf die Vernunft beim Versuch anstrebt, Abstand von sich selbst und den anderen zu nehmen, um sich selbst in seiner Individualität zu verstehen und zur selbigen zu bilden. Indem Gerhardt Nietzsches in sich widersprüchliche und tragische Einheit von Werk und Leben ergründet, führt er somit die Philosophie wieder zum Leben und das Leben wieder zur Philosophie zurück. Daher stößt der Einzelne zwar einerseits auf seine Grenzen und Bedingungen, andererseits gewinnt er aber auch jene plastische Kraft, welche ihm ermöglicht, seine Individualität in der symbolischen Form der Kultur zu verklären und zu rechtfertigen und für seine Handlungen selbst verantwortlich zu werden, um sich – in der Kultur – als Brücke zur Zukunft zu begreifen. Im Herbst 2000 fand in Bologna der internationale Kongress Nietzsche – Illuminismo – Modernità statt, im Rahmen dessen ich zum ersten Mal Volker Gerhardt über Nietzsche habe vortragen hören. In Gerhardts stilistisch knapper, scharfsinniger und provokatorischer Darstellung erschien Nietzsche als „Extremist der Individualität“, „Klassiker des individuellen Denkens“ und „Existenzphilosoph par excellence“. Und mit folgendem aphoristischen Paragrafen hob Gerhardt die außerordentliche Exemplarität des geistigen Erlebnisses Nietzsches sowie – denke ich – der eigenen Nietzsche-Interpretation hervor: „Spiegel unserer selbst. Was Nietzsche in Wahrheit in Aussicht stellt, ist nichts anderes als sich selbst. Was er uns philosophisch bietet, erschließt sich uns nur im individuellen Nachvollzug seiner individuellen Exaltation. In ihr haben wir den über die Maßen stilisierten Ausdruck seiner eigenen Existenz. Im Denken und Schreiben gibt er sich selbst seine Form. Und was uns darin herausfordert, korrespondiert mit unserer eigenen Daseinslage. Wir haben in ihm, in seinem exemplarischen Denken einen Spiegel unseres eigenen Lebens.“22

22 Volker Gerhardt: Sensation und Existenz. Nietzsche nach hundert Jahren. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 8, 54. Jahrgang (August 2000), S. 659–673. Der fragliche Paragraph entstammt dem Vortrag, den Volker Gerhardt 2000 in Bologna hielt, und wurde auch auf Italienisch veröffentlicht: Volker Gerhardt: Sensazione, esistenza e umanità. Sull’attualità di Nietzsche cent’anni dopo, in: Nietzsche – Illuminismo – Modernità, hrsg. von Carlo Gentili/Volker Gerhardt/Aldo Venturelli, Firenze 2003, S. 295–309.

Was treibt das Leben an? Nietzsches Suche nach einer zentralen Lebenskraft Wolf Gorch Zachriat Was treibt das Leben an? – Mit dieser Frage beschäftigt sich Friedrich Nietzsche wiederholt während seines Aufenthaltes in Sorrent 1876/77, und sie gewinnt in den folgenden Jahren zunehmend an Bedeutung, ehe er im Jahr 1883 mit der Lehre vom Willen zur Macht seine Antwort findet.1 Zentral bleibt zunächst die Auseinandersetzung mit Schopenhauers Grundannahme, das der „Wille zum Leben“2 die allumfassende Lebenskraft darstelle. Das entscheidende Defizit dieser Konzeption, das auch für deren Pluralisierung in Mainländers Lehre von der Vielheit der individuellen Willen gelte, soll darin liegen, dass der „Wille zum Leben“ ohne den problematischen willensmetaphysischen Überbau von Schopenhauer nur als Erhaltungstrieb verstanden werden kann. Mit dem Willen zur Lebenssicherung können aus Nietzsches Perspektive aber die vielfältigen Gefühle des Menschen, die permanent die dynamischen, leiblich-seelischen Prozesse begleiten, nicht angemessen interpretiert werden. „Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als E r h a l t u n g s t r i e b wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- und Unlustempfindungen hat: die Bewegungen des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl [. . .]. Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein.“3

Bei dieser Distanzierung vom Erhaltungstrieb wird bereits die Pluralität und Dynamik der menschlichen Lebenskräfte angedeutet, ihr fortwährendes Streben nach neuen Konstellationen. Allerdings gelingt es Nietzsche hier noch nicht, die zentrale Lebenstriebkraft begrifflich zu fassen.4

1 Im Nachlass von Ende 1876 bis Sommer 1877 finden sich bereits Passagen, in denen Nietzsche nach den „inneren Motive[n] des Menschen“ fragt (Friedrich Nietzsche: Nachlass 1876–1877, KSA 8, S. 417). Die intensive Suche nach der zentralen Lebenskraft dokumentiert der Nachlass der folgenden Jahre (siehe z. B. Nietzsche: Nachlass 1880–1882, KSA 9, S. 21, 71, 208 und 226). 2 Nietzsche: Nachlass 1876–1877, KSA 8, S. 406 ff. 3 Ebd., S. 407.

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In den folgenden Jahren prüft er wiederholt, ob die Eitelkeit, der Selbstgenuss, das Machtgefühl oder doch der Selbsterhaltungstrieb das Grundmotiv des Lebens darstellen könnten. In der Textmappe mit dem Titel L’Ombra di Venezia nimmt Nietzsche dann 1880 seine alte Kritik am „Willen zum Dasein“ wieder auf und wendet gegen ihn ein, dass der Wille immer einen aus seiner Sicht qualitativ besseren Zustand anstrebe, der folglich nicht der gegenwärtig schon erreichte Zustand des bloßen Daseins sein könne. In diesem Kontext findet sich eine Definition des Willens, die für Nietzsches weiteres Bemühen um eine Bestimmung der zentralen Lebenskraft bedeutend ist: „Wohl wäre zu verstehen: Wille zu einem längeren, oder höheren, oder anderen Dasein. – Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden.“5

Der Wille ist gemäß dieser Begriffsbestimmung immer auf eine künftige, gesteigerte Situation ausgerichtet, die die gegenwärtige, als defizient erkannte Situation des Wollenden übersteigt. Das Ziel des Willens soll die Übermächtigung des Gewollten sein, die für den Wollenden im Bereich des Möglichen liegen muß, da er sie sonst nicht erwarten könnte. Dabei ist das Gewollte aus der Perspektive des Wollenden ein begehrenswerter Zustand, der ihn zu einer Bemächtigung anreizt. Der Begriff Macht nimmt in dieser Notiz eine wichtige Position ein, denn durch ihn wird angezeigt, worauf der Wille abzielt. Wiederholt werden die Begriffe „Wille“ und „Macht“ in den nächsten beiden Jahren von Nietzsche in Relation gesetzt, ohne dass er in dieser Zeit schon den „Willen zur Macht“ als Lehre auszeichnet. Allerdings ist angesichts seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Machtstreben, dem Machtgefühl und dem Machtwillen offensichtlich, dass Nietzsches aufklärerische Psychologie in der Macht ein wichtiges Phänomen erkennt.6 Im Textstück 262 der Morgenröthe wird das Streben nach Macht schließlich als das dominierende Lebensmotiv präsentiert, das den Menschen am stärksten antreiben soll: „D e r D ä m o n d e r M a c h t . – Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, – nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon des Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, – sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt werden. Man nehme

4 Bereits wenig später erwähnt Nietzsche zum ersten Mal den Terminus „Willen zur Macht“ (ebd., S. 425), ohne aber dem Begriff zu diesem Zeitpunkt eine höhere Bedeutung beizumessen. 5 Nietzsche: Nachlass 1880, KSA 9, S. 71. 6 Zu den antiken und modernen Quellen von Nietzsches Machtbegriff siehe Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Friedrich Nietzsche, Berlin/New York 1987, S. 220 f. und Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsche, Berlin/New York 1996, S. 61 ff.

Was treibt das Leben an?

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ihnen Alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich – so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können.“7

In diesem Kontext bleibt offen, ob hier die Macht über andere, die Macht über sich selbst oder beides gemeint ist.8 Offenkundig schätzt er den „Dämon der Macht“ aber stärker ein als das Streben nach der Befriedigung der primären Bedürfnisse. Bei der Beschreibung der Macht als „Dämon“ steht der Drang nach einer Steigerung des gegenwärtigen Zustands im Vordergrund, der ein zumindest relatives Glück verheißt. Erstaunlicherweise spricht Nietzsche zunächst von der „Liebe zur Macht“, was das dämonisch Drängende nicht angemessen beschreibt. Schon im nächsten Satz wird jedoch wieder der Bezug zum Willen hergestellt, wenn konstatiert wird, dass der Dämon im Menschen die Erfüllung seines Machtstrebens „will“. Das Dämonische an der Macht scheint hier gerade das drängende Streben nach einer künftigen Machtfülle zu sein, die als unverfügbarer Antrieb den Einzelnen nicht zur Ruhe kommen läßt. Diese permanente Ausrichtung auf eine Überwindung von Widerständen und auf eine Steigerung der Wirkungsmöglichkeiten offenbart, dass mit der Macht immer ein Fortschritt in der Macht angestrebt wird. Die Aussicht auf einen derartigen Fortschritt ist ein auslösendes Moment von Lebensäußerungen, ohne dass diese allerdings jemals das Streben nach Machtsteigerung endgültig befriedigen könnten. Ähnlich wie Hobbes’ Charakterisierung des fortschreitenden Machtstrebens ist auch Nietzsches Beschreibung des Dämons der Macht, der immer nur „beinahe glücklich“ macht, meines Erachtens von der Idee der unendlichen Perfektibilität der Macht durchdrungen.9 Neben der wiederholten Verwendung der Termini „Machtsteigerung“ und „Machterhöhung“ findet sich im Nachlass dann auch die Rede vom „Fortschritt in der Macht“10. Diese Kombination der Begriffe belegt, dass Nietzsche die Bedeutung der Fortschrittskategorie für die Charakterisierung des Drängens der 7

Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 209. Da Nietzsche sich bis 1882 oft auf zwischenmenschliche Machtverhältnisse bezieht, meint Willard Mittelmann, dass dieser nur einen Begriff von Macht als „external power“ habe (Willard Mittelmann: The relation between Nietzsche’s theory of the will to power and his earlier conception of power, in: Nietzsche Studien, Bd. 9 (1980), S. 122–141, hier: S. 125). Gegenüber dieser These ist der Kritik von Volker Gerhardt zuzustimmen, dass hier die Notizen über die innere Macht und der gesamte psychologische Ansatz Nietzsches nicht angemessen berücksichtigt werden (Gerhardt (1996), S. 140 ff.). Die Verbindung von „äußerer“ und „innerer“ Macht zeigt sich meines Erachtens deutlich in einer Nachlassaufzeichnung vom Sommer 1880, in der die „Macht über sich selbst“ als Bedingung der „wahre[n] Macht“ über Andere bestimmt wird (Nietzsche: Nachlass 1880, KSA 9, S. 163). 9 Thomas Hobbes schreibt zu Beginn des 11. Kapitels im Leviathan: „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet“ (Thomas Hobbes: Leviathan, hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984, S. 75). 10 Nietzsche: Nachlass 1882, KSA 9, S. 575. 8

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Macht erkannt hat. Entscheidend bleibt für Nietzsches Interpretation, dass der Wille zur Macht als der fundamentale Lebensantrieb sich in unterschiedlichster Weise auszuformen vermag, wobei das individuelle Streben nach einer fortwährenden Erhöhung besonders ausgezeichnet wird.11

11 Siehe dazu Wolf Gorch Zachriat: Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001, S. 192 ff.

Philosophie und Leben Bettina Fröhlich Die Philosophie ist mehr als jede andere Wissenschaft dem Verdacht der Lebensferne und Wirklichkeitsfremdheit ausgesetzt. Häufig wird der Vorwurf erhoben, dass sie sich in inhaltsleeren Begriffsspekulationen und Gedankenspielen verliere, die jeden Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren hätten. Als eine Disziplin, die angeblich keinen ernst zu nehmenden Beitrag zur Lösung der Lebensprobleme leistet, wird sie nicht selten für überflüssig und verzichtbar erklärt. So berechtigt dieser Vorwurf zuweilen auch ist, man denke etwa an moderne Formalisierungstendenzen, so verfehlt ist es, die Philosophie gleichsam unter Generalverdacht zu stellen. In ihren Anfängen war sie jedenfalls so lebensnah und existenziell, wie eine Wissenschaft nur sein kann. Die Lebensnähe der Alten wird an keinem Denker so deutlich wie an Sokrates, dem antiken Philosophen par excellence. Das sokratische Gespräch, das uns in den platonischen Dialogen1 überliefert ist, erwächst aus der Lebenswirklichkeit und bleibt auf diese bezogen, auch wenn es sich in der Reflexion scheinbar von ihr entfernt. Wie in den platonischen Dialogen sichtbar wird, ist der Ausgangspunkt des sokratischen Philosophierens stets ein konkretes Lebensproblem: Die Sorge um die Erziehung der Kinder (Laches), das Problem des Alters (Thrasymachos), die Furcht vor dem Tod (Phaidon), die Liebe (Lysis), das Verhalten gegenüber den Eltern (Euthyphron), der Umgang mit der Sinnlichkeit (Charmides) etc. Im philosophischen Gespräch werden die Probleme der Lebenswelt auf die fundamentalen Fragen – wie etwa nach dem Ziel der Erziehung, nach der Gerechtigkeit, nach dem Wesen der Liebe, nach der Besonnenheit – zurückgeführt und die dem Alltag zugrunde liegenden Antworten durchdacht und geprüft, mit dem Ziel, das Leben in der richtigen Weise zu gestalten. Das sokratische Philosophieren ist ein Denken, das sich auf das Leben einlässt, statt aus ihm in die leere Abstraktion zu fliehen, und kann insofern als Lebensphilosophie bezeichnet werden. Kaum einer der modernen Denker hat diesen Aspekt der sokratischen Philosophie so deutlich und klar gesehen wie Friedrich Nietzsche. Es ist Nietzsches Verdienst, die existenzielle Dimension und Lebensausrichtung des sokratischen Denkens erkannt und uns damit Sokrates wieder nahe gebracht zu haben.2 In 1

Vgl. auch Xenophons Memorabilien. Volker Gerhardt hat auf den paradox anmutenden Sachverhalt hingewiesen, dass insbesondere Nietzsches Kampf gegen Sokrates die Nähe zu dem antiken Weisen be2

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dem Aufsatz Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions, den Nietzsche als Gymnasiast in Pforta geschrieben hat, spricht er Sokrates eine Philosophie zu, die unmittelbar auf das Leben zurückwirkt und eine Einheit von Denken und Sein begründet. Den in der Diotima-Rede des Symposions vorgestellten Stufenweg zum Schönen deutet Nietzsche als Weg, den Sokrates selbst gegangen ist: „Endlich erreicht Sokrates selbst die Stufe, die Diotima als höchste bezeichnet hat, die Liebe zum Urschönen; wir zweifeln nicht, dass er sie erreicht hat, aber Sokrates selbst sagt es uns nicht und darf es seinem Charakter gemäß nicht“3.

Die Rückwirkung der erreichten philosophischen Einsicht auf das Leben werde von Platon durch die anschließende Alkibiades-Rede veranschaulicht: „Inwiefern sie [die große Einsicht] aber ins Leben übergegangen ist, ob sie überhaupt im Stande ist, verwirklicht zu werden, das muss dem Leser des Dialogs ungewiss bleiben. Darum tritt Alcibiades auf, um die Liebe zum Urschönen in ihrer Wirkung auf das praktische Leben des Menschen darzustellen; und zwar die Wirkung dieser Liebe im einzelnen Menschen als im Sokrates, und die Rückwirkung eines von solcher Liebe erfüllten Menschen auf Andere [. . .]“4.

Die Rückwirkung ist also eine doppelte: Die philosophische Liebe zum Schönen bewirkte in Sokrates eine seelische Schönheit. Beides zusammen hatte wiederum größte Wirkung auf andere und weckte in ihnen die Sehnsucht, sich in ebensolcher Weise der Philosophie zu befleißigen und schön zu werden. Größer kann die Anerkennung und Bewunderung des lebenspraktischen Moments des sokratischen Denkens kaum sein.5 Einige Jahre später beschäftigt sich Nietzsche, inzwischen Professor in Basel, erneut mit Sokrates, im Rahmen einer Vorlesung über die vorplatonischen Philosophen, die er vermutlich im Wintersemester 1869/70 das erste Mal gehalten fördert hat: „Aber sein [Nietzsches] Kampf hat nunmehr den Vorteil, daß uns Sokrates heute noch näher sein kann. Wir wissen nun genauer, wofür wir mit ihm zu kämpfen haben“, nämlich für „die Vernunft, die Tugend und die Wissenschaft“ (Volker Gerhardt: Nietzsches Alter-Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates, in: Renate Reschke/ Volker Gerhardt (Hrsg.): Jahrbuch der Nietzscheforschung, Berlin 2001, Bd. 8, S. 315– 332, hier: S. 332). 3 Friedrich Nietzsche: Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions, in: Jugendschriften 1861–1864, BAW, hrsg. von Hans Joachim Mette, München 1994 (ND Ausgabe München 1933–1940), Bd. 2, S. 421. 4 Ebd. 5 Zu beachten ist jedoch, dass Nietzsches Bewunderung nicht nur Sokrates gilt, sondern auch Alkibiades (vgl. dazu Gerhardt (2001), S. 321). Volker Gerhardt sieht in dem Aufsatz die Vorboten der späteren Hassliebe: „Es ist, als hätte der Neunzehnjährige bereits eine Ahnung von der Ambivalenz seiner eigenen Beziehung zu dem, wie er später sagen wird, ,Erotomanen‘ Sokrates“ (Volker Gerhardt: Die Moderne beginnt mit Sokrates, in: Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, Tübingen 1998, S. 2–20, hier: S. 13).

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hat. Der Ton ist längst nicht mehr so enthusiastisch und schwärmerisch wie im frühen Schulaufsatz. Nietzsche ist hier erkennbar um wissenschaftliche Objektivität bemüht und versucht, subjektive Haltungen und Wertungen beiseitezulassen. Abgesehen von dieser Differenz weist der Text jedoch große Ähnlichkeit zum Symposion-Aufsatz auf. Auch hier wird die Lebensbezogenheit und Lebensrelevanz der sokratischen Philosophie betont. Die Wirkung der vernünftigen Einsicht auf die innerseelischen Kräfte und die Bestimmung des Handelns durch Vernunftgründe wird am Beispiel des sokratischen Sterbens aufgezeigt. Nach Nietzsche ist Sokrates nicht wider Willen verurteilt und umgebracht worden, vielmehr hat er den Tod frei gewählt. Seine Entscheidung, den Prozess nicht mit allen Mitteln im Sinne eines Freispruchs zu beeinflussen und sich der Vollstreckung des Todesurteils nicht durch Flucht zu entziehen, war in der Einsicht begründet, dass es für ihn das Beste sei, zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise zu sterben. Diese Einsicht bestimmte die Affekte und den Selbsterhaltungsinstinkt, sodass Sokrates ohne Todesfurcht und ohne Unmut zu sterben vermochte: „Die Instinkte sind überwunden: die geistige Helligkeit regiert das Leben u. wählt den Tod; alle Moralsysteme des Alterthums bemühen sich, die Höhe dieser That zu erreichen oder zu begreifen. Sokrates als Beschwörer der Todesfurcht ist der letzte Typus des Weisen, den wir kennen: der Weise als der Besieger der Instinkte durch Sophia“6.

Die am konkreten Beispiel vorgeführte Herrschaft der Vernunft über die Affekte, Leidenschaften, natürlichen Instinkte macht Nietzsche in derselben Vorlesung als Inbegriff der sokratischen Philosophie kenntlich. Zunächst kommt ein Urteil, das aus dem Munde Nietzsches wie eine Auszeichnung klingt: „Er [Sokrates] ist der erste L e b e n s philosoph und alle von ihm ausgehenden Schulen sind zunächst Lebensphilosophien“7. Es folgt eine Explikation dieses Urteils, die zum Bemerkenswertesten gehört, was Nietzsche über Sokrates geäußert hat:8 „Ein vom Denken beherrschtes Leben! Das Denken dient dem Leben, während bei allen früheren Philosophen das Leben dem Denken und Erkennen diente: das richtige Leben erscheint hier als Zweck, das höchste richtige Erkennen dort. So ist die sokrat. Philosophie absolut p r a k t i s c h: sie ist feindselig gegen alles nicht mit ethischen Folgen verknüpfte Erkennen“9.

Sokrates wird hier eine Philosophie zugesprochen, die auf die Gestaltung des Lebens ausgerichtet ist und sich nicht in einer als Selbstzweck verstandenen, 6 Friedrich Nietzsche: Die vorplatonischen Philosophen (Vorlesungsaufzeichnung), in: Friedrich Nietzsche: Werke, Kritische Gesamtausgabe (KGW), Berlin/New York 1995, Bd. II, 4, S. 360. 7 Ebd., S. 354. 8 So auch Gerhardt (2001), S. 323. 9 Nietzsche (1995), S. 354.

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ethisch irrelevanten theoria verliert. Das Denken, so Nietzsches Auffassung der sokratischen Lebensphilosophie, bestimmt und leitet das Leben und erfüllt damit seinen Zweck, nämlich die Hervorbringung des richtigen Lebens. Bei aller Affirmation und Anerkennung, die in diesem Urteil mitschwingt, darf jedoch nicht übersehen werden, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit untergründig bereits jener Zweifel wirksam war, der im Sokrates-Vortrag10 von 1870 erstmals artikuliert wurde und sich dann zunehmend verfestigt und radikalisiert hat. Gemeint ist der Zweifel an der Möglichkeit eines vernunftgeleiteten Lebens und an der Wirklichkeit der sokratischen Vernunftherrschaft. Nietzsches Skepsis richtet sich zunächst gegen die Vorstellung, dass die Vernunft seinsbestimmende Kraft besitzt und aus der richtigen Einsicht das entsprechende Handeln folgt. In immer neuen Anläufen wird diese Vorstellung als Irrtum und Wahn bezeichnet oder schlichtweg negiert. So bestimmt Nietzsche in der Geburt der Tragödie den „Glaube[n], dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei“ als „tiefsinnige Wahnvorstellung“11. Man beachte, dass hier bei aller Kritik immer noch eine Anerkennung durchschimmert. Das Prädikat „tiefsinnig“ ist durchaus als Würdigung gemeint. In der Morgenröthe wird die Vorstellung von der handlungsgenerierenden Kraft der Einsicht als „Grundirrthum“12 des sokratisch-platonischen Denkens proklamiert, der sich im Protestantismus fortgesetzt habe. „Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben“13, so Nietzsche gegen Sokrates, Platon und Luther. Nun lässt sich gegen diese Art von Argumentation stets der Einwand erheben, dass Sokrates selbst doch ein eindrucksvolles Beispiel einer gelungenen Vernunftherrschaft darstellt, dass er durch seine Haltung und Lebensweise die Möglichkeit eines durch Vernunft bestimmten Lebens beweist. Die Überzeugungskraft dieses Einwandes, die der Vernunftskepsis die Grundlage entzieht und das Plädoyer für ein instinktgeleitetes Handeln höchst fragwürdig werden lässt, wird Nietzsche sehr wohl gespürt haben. Es ist von daher nur konsequent, wenn er in den späteren Schriften dazu übergeht, auch die Wirklichkeit der sokratischen Vernunftherrschaft in Zweifel zu ziehen und zu desavouieren. In Jenseits von Gut und Böse wirft er Sokrates Falschheit und Selbstüberlistung vor.14 Sokrates habe mit großer Vehemenz das instinktgeleitete Handeln als schlecht verurteilt und für ein Handeln aus Einsicht plädiert, in Wahrheit aber habe auch 10 11 12 13 14

Nietzsche: Socrates und die Tragoedie [1870], KSA 1, S. 533–549. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, KSA 1, S. 99. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 34. Ebd., vgl. auch Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 108 f. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 112.

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er „nur aus Instinkt“15 gehandelt. Die sokratische Falschheit besteht nach Nietzsche dabei in der Aufrechterhaltung der These von der Vernunftherrschaft trotz erreichter Selbsterkenntnis. In einer Art Selbstüberlistung habe er die nachträgliche Rechtfertigung des instinktgeleiteten Tuns durch Vernunftgründe vor seinem Gewissen als Vernunftbestimmtheit ausgegeben: „Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen und a u c h der Vernunft zum Recht verhelfen, – man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen“16. Mit derselben Art von Unterstellung versucht Nietzsche schließlich auch in der Götzen-Dämmerung die sokratische Wirklichkeit zu destruieren.17 Zunächst wird die Behauptung aufgestellt, dass Sokrates keine freie, selbstbestimmte Herrschaft über sich erlangt hat, dass er nicht souverän und überlegen mit den innerseelischen Kräften und Bestrebungen umgegangen ist, sondern einen vom Selbsterhaltungswillen erzwungenen Kampf gegen die mächtigen, einander widerstreitenden Instinkte geführt hat. Gegen die Tyrannei der Leidenschaften und Begierden habe er die Vernunft als Gegentyrannen ins Feld geführt, die das Übel als solches jedoch nicht zu beseitigen vermochte. Die von Sokrates propagierte und realisierte Vernunft sei kein Heilmittel gegen das Chaos der Kräfte und das dadurch bedingte Leiden am Leben, sondern selbst nur eine Krankheit: „Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur ,Tugend‘, zur ,Gesundheit‘, zum Glück.“18

Die These von der Vernunft als wirklosem Pseudo-Heilmittel ist nun freilich eine Behauptung, die im Widerspruch zu sämtlichen Aussagen und Verhaltensweisen des Sokrates steht, die uns aus den Quellen bekannt sind. Nietzsche weiß das. Und er weiß auch, dass es kein stärkeres Argument und keinen schlagkräftigeren Beweis für die Richtigkeit einer Behauptung über eine Person gibt als die Selbstaussage der betreffenden Person. Seine Polemik gegen Sokrates lässt er folglich in der Zuschreibung einer Selbsterkenntnis gipfeln, die das Eingeständnis eines lebenslangen Selbstbetruges beinhaltet: „Sokrates w o l l t e sterben: – nicht Athen, e r gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher . . . ,Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier Arzt . . . Sokrates selbst war nur lange krank . . .‘“19. 15

Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, KSA 1, S. 89. Ebd. 17 Nietzsche: Das Problem des Sokrates, in: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 67–73. 18 Ebd., S. 73. 19 Ebd., vgl. auch Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 569 f.: „,Oh Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig‘. Dieses lächerliche und furchtbare ,letzte Wort‘ heisst für Den, der Ohren hat: ,Oh Kriton, d a s L e b e n i s t e i n e K r a n k h e i t!‘ Ist es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller 16

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Sokrates wird hier das Eingeständnis des Scheiterns in den Mund gelegt, die Einsicht in die Untauglichkeit der Vernunft als Mittel zur Tugend und seelischen Gesundheit sowie das Eingeständnis des eigenen jahrelangen Krankseins und Leidens am Leben. Am Ende dieses Lebens steht nach Nietzsche die resignierende Einsicht, dass nur der Tod eine wirkliche Erlösung und Heilung darstellt. Aus dem selbstbewussten, kraftvollen „Besieger der Instinkte durch Sophia“, den Nietzsche in seiner Vorlesung über die vorplatonischen Philosophen vor Augen hatte, ist jetzt der lebensmüde Décadent geworden, der der Tyrannei seiner Instinkte ohnmächtig erlegen ist. So wie damals geht Nietzsche auch jetzt davon aus, dass der Tod von Sokrates gewollt war. Während er früher jedoch von einer Entscheidung gesprochen hat, die in einer die Todesfurcht überwindenden Vernunfteinsicht gründete, während dort die Wahl des Todes als eindrucksvolle Tat verstanden wurde, wird jetzt ein Todeswunsch aus Pessimismus und Lebensüberdruss geltend gemacht, der nur noch Mitleid verdient. Das vom jungen Nietzsche angebetete Bild des sterbenden Sokrates20 wird gleichsam vom Sockel gestürzt, indem die mittels Vernunftgründe überwundene Todesfurcht durch eine Todessehnsucht ersetzt wird. Es bedarf wohl keiner langen Ausführungen, um deutlich zu machen, dass die nietzschesche Wunschvorstellung einer von Sokrates am Ende seines Lebens erlangten resignierenden Selbsterkenntnis nichts mit der Realität zu tun hat. Der Sokrates, den wir aus den Quellen kennen, hat bis zuletzt nicht an der Kraft der Vernunft gezweifelt, das Leben zu gestalten und die Bestheit der Seele hervorzubringen. In der platonischen Apologie bezeichnet Sokrates das dialektische Gespräch über die Tugend als das größte Gut,21 wohl deshalb, so darf man hinzufügen, weil es jene Einsicht und Bestheit hervorbringt, zu der Sokrates unermüdlich ermahnt hat.22 Im Kriton, dem im Gefängnis geführten Dialog zwischen Sokrates und seinem Freund, versucht Sokrates diesem begreiflich zu machen, dass auch in Extremsituationen, wie sie die Verurteilung zum Tod und die Inhaftierung darstellen, an den in den dialektischen Untersuchungen geprüften besten logoi festgehalten werden müsse und diese zur alleinigen Handlungsgrundlage zu machen seien.23 Im Phaidon schließlich lässt Platon Sokrates in einem Gespräch, das unmittelbar vor dem Tod stattfindet, noch einmal mit aller Vehemenz betonen, dass die Vernunft von Unmäßigkeit und Zügellosigkeit befreit und eine Reinigung von den „Schattenbildern“ der Tugend Augen wie ein Soldat gelebt hat, – war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat a m L e b e n g e l i t t e n!“ 20 Vgl. Gerhardt (2001), S. 326 und 317. 21 Vgl. Platon: Apologie, 38a. 22 Vgl. ebd., 29d ff. Vgl. auch Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, 1,5; 1,7; 2,1– 8; 4,1–5. 23 Vgl. Platon: Kriton, 46b/c.

Philosophie und Leben

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darstellt, dass nur die Vernunfteinsicht wirkliche Tugend begründet und man sich deswegen im Leben darum mehr als um alles andere zu bemühen habe.24 Vor diesem Hintergrund sind die von Platon überlieferten letzten Worte des Sokrates „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht“25, auf die sich Nietzsche bei seiner Konstruktion eines gescheiterten Sokrates beruft, wohl eher im Sinne eines Dankes für die im Leben erreichte Heilung von allen seelischen Übeln, insbesondere vom Unverstand, zu verstehen, und nicht als Dank für die Erlösung vom Leben, wie Nietzsche uns suggeriert. An der erfolgreichen Realisierung einer Selbstformung durch Vernunft kann angesichts der entsprechenden Darstellungen in den Quellen, d. h. den platonischen Dialogen und den xenophontischen Schriften, kein Zweifel bestehen. Die sokratische Wirklichkeit aber bezeugt die generelle Möglichkeit einer Gestaltung und Formung des Lebens durch das Denken. Die skeptische Leugnung der Möglichkeit einer durch Einsicht bewirkten Ordnung der Lebenskräfte setzt immer das Verständnis der Sache voraus, deren Wirkkraft geleugnet wird. Worin die formende Vernunft besteht, was in diesem Zusammenhang richtiges Denken heißt, auf welchem Weg man dieses Denken erwerben kann, meint der Bestreiter der Effizienz der Vernunft bereits hinreichend verstanden zu haben. Vielleicht liegt gerade darin das Problem. Um die Möglichkeit eines vernunftgeleiteten Lebens sachlich beurteilen zu können und die Potenzialität in Realität zu überführen, bedarf es zunächst einmal der Frage und Suche nach dem Verständnis der Vernunft. Wendet man sich der sokratischen Dialektik in dieser Absicht zu und überwindet die destruktive Abwehrhaltung zugunsten der Verständnissuche, so wäre möglicherweise ein entscheidender Beitrag zur Wiederkehr einer auf das Leben bezogenen, ethisch relevanten Philosophie geleistet, mit dem sich die Vorwürfe der Lebensferne und Wirklichkeitsfremdheit begründet zurückweisen ließen.

24

Vgl. Platon: Phaidon, 69a–c. Ebd., 118a. Zit. aus: Platon: Werke in acht Bänden, griechisch-deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2005, Bd. 3, S. 205 f. 25

Mut zum Eigen-Leben Lebensbeschreibung und Lebensbegriff in Nietzsches Ecce homo Alexander-Maria Zibis I. Die Tugend des Mutes als affirmatives Lebens-Ethos Der Mut ist das Vertrauen des Menschen auf seine eigene Stärke. Von der Tugend des Mutes spricht man dort, wo es um die Gestaltung eines persönlichen Handlungsspielraums geht, den sich ein Individuum durch die Stärke seines Charakters eröffnet. Dass der Mut – so weit unser kulturelles Gedächtnis zurückreicht – schon immer zu den Kardinaltugenden gezählt wurde, weist auf seine entscheidende Bedeutung für das menschliche Leben hin. Er ist die Voraussetzung des Überlebens in einer von vielfältigen Kämpfen geprägten Umwelt. Sei es als tapferes Standhalten im Bewusstsein der Gefahr, als stolze Souveränität in der Selbstbehauptung gegen Widersacher oder als abenteuerlustiger Wagemut, dessen Risikofreude dem Dasein immer neue Wege erschließt. Die Summe der genannten Komponenten erklärt, warum die Tugend des Mutes als Gegenstück zu seiner Moralkritik im Zentrum von Nietzsches affirmativem Lebens-Ethos steht. Sowohl die von ihm konstatierte größte Bedrohung der Menschheit durch Nihilismus und Dekadenz als auch die sich daraus ableitende schwerste Aufgabe einer moralischen Neuorientierung des Menschen fordern ein Höchstmaß von Mut. Ecce homo, die letzte von Nietzsche verfasste Schrift, ist eine konsequente Weiterführung seines couragierten Kampfdenkens. Sie treibt den Begriff des Mutes auf die äußerste Spitze. Mit schamloser Offenheit einerseits und andererseits verborgen hinter verschiedenen Figuren und Masken führt Nietzsche eine biografisch eingekleidete Gesamtinterpretation des eigenen Werkes auf. Im Spiegel seiner Schriften sollen das Leben des Autors und das selbstbestimmte Leben überhaupt vor allem als Wagnis erscheinen. Ecce homo thematisiert den Mut zum Leben nicht nur, sondern versucht bereits, diesen zu praktizieren. II. Krankheit als Stimulans zum Leben Wie aber erklärt sich der Denker der „großen Gesundheit“ seine eigene Anfälligkeit für Erkrankungen? Indem er die Krankheit nicht mehr als Einwand gegen das Leben gelten lässt und sie stattdessen als Anreiz zur Selbstüberwin-

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Alexander-Maria Zibis

dung begreift. Die Tapferkeit, mit der man eine Krankheit übersteht, wird zum Maßstab der eigentlichen Gesundheit: „Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches S t i m u l a n s zum Leben, zum Mehr-leben sein. So in der That erscheint mir j e t z t jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum L e b e n , meine Philosophie . . . Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich a u f h ö r t e , Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung v e r b o t mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung . . .“1

Aufgrund seines Leidens musste Nietzsche sich eine Lebensphilosophie der Ermutigung schaffen.2 Sie soll die Agonie in den Agon zurückverwandeln: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ lautet eine berühmte Sentenz der Götzen-Dämmerung mit dem Titel „K r i e g s s c h u l e d e s L e b e n s“,3 und in einer Vorstufe zu Ecce homo schreibt Nietzsche: „die unbedingte Tapferkeit bläst einen Wind von Freiheit über alles Leiden hin, die Wunde wirkt n i c h t als Einwand.“4 Der Mut vermag es, dem Leben selbst bei Schmerz und Krankheit einen Sinn zu geben. Lebensmut unter solchen Bedingungen, darauf will Nietzsche mit der Darstellung seiner Leidensgeschichte hinaus, ist der Beweis einer heroischen Selbstüberwindung. Die Tragik des eigenen Leidens, so die ethisch-ästhetische Kernthese im Spätwerk, erregt den Lebensmut des Starken, indem sie seinen Stolz anstachelt. Je größer die Widerstände, je größer die „Gegnerschaft des Lebens“, desto höher wird der Mutige sich über die Niederungen des Durchschnittsdaseins hinausheben. Die größte Gegnerschaft findet Nietzsche indessen in den traditionellen Antworten der Philosophie auf die Frage: Wozu lebt der Mensch? III. Mut zur Wahrheit – Mut zum Leben Nietzsche spielt in Ecce homo einmal mehr mit den Voraussetzungen der Philosophie. Er will ihre Grundbegriffe in Bewegung bringen und ihnen neue Kraftressourcen eröffnen. Wahrheit und Wirklichkeit, die bis dato nur abstrahierte Circen der Philosophen gewesen seien, sollen nun das ihnen seit jeher gebührende menschliche Antlitz zurückerhalten. In einer Philosophie am „Leitfaden des Leibes“ soll sich das Leben selbst rehabilitieren. Der Schlüssel dazu liegt in dem Mut des Menschen, sich der Realität zu stellen. Die Tapferkeit vor der Wirklichkeit erfüllt das Leben mit Mut und die Philosophie mit Leben. 1 2 3 4

Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 266 f. Vgl. ebd., S. 336 f. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 60. Nietzsche: Nachlass 1888, KSA 14, S. 488.

Mut zum Eigen-Leben

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Der Mut ist die Kardinaltugend innerhalb von Nietzsches Konzept der SelbstBejahung. Er bildet eine wichtige Achse innerhalb des affirmativen Teils seiner Gedanken über die Moral. In Ecce homo liefert Nietzsche neben der inhaltlichen eine performative Bestimmung lebensbejahender Wahrhaftigkeit. „Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermüthigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die t i e f s t e, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrecht erhaltene. Es ist Nichts, was ist, abzurechnen, es ist Nichts entbehrlich – die von den Christen und andren Nihilisten abgelehnten Seiten des Daseins sind sogar von unendlich höherer Ordnung in der Rangordnung der Werthe als das, was der Décadence-Instinkt gutheissen, g u t h e i s s e n durfte. Dies zu begreifen, dazu gehört M u t h und, als dessen Bedingung, ein Überschuss von K r a f t: denn genau so weit als der Muth sich vorwärts wagen d a r f, genau nach dem Maass von Kraft nähert man sich der Wahrheit.“5

Der Begriff des Lebensmutes in Ecce homo kann in zwei Richtungen interpretiert werden. Erstens als die notwendige und angemessene Reaktion des Menschen auf die Bedrohungen, die Nietzsche im Laufe seiner genealogischen Untersuchungen der abendländischen Kultur aufgedeckt hat. Zweitens als die aktive Kraft des starken Individuums, die den Gefahren, mit denen sich der Mensch wie jedes Lebewesen auseinandersetzen muss, durch das Schaffen neuer Werte begegnet. Die zentrale Rolle der Tugend des Mutes innerhalb von Nietzsches Versuch einer Umwertung aller Werte ergibt sich demnach aus der Notwendigkeit, einerseits eine Kulturkrise, andererseits eine Persönlichkeitskrise zu überwinden. Da sich Kulturkrise und Persönlichkeitskrise in Nietzsche selbst paradigmatisch durchdringen, versucht er in Ecce homo die eine durch die andere zu erläutern und zu meistern. Der décadent, dem es gelingt, die Dekadenz in sich selbst zu überwinden, kann zum Vorbild und Heiler der Kultur werden. Den drei Hauptbedrohungen auf gesellschaftlicher Ebene: Dekadenz, Nihilismus und lebensverneinende religiös-moralische Dogmen, entsprechen drei persönliche Wagnisse und Herausforderungen: die eigene Krankheit, die eigene Einsamkeit und das subjektive Gefühl einer Verantwortung für die Zukunft einer Menschheit, für die er selbst ein „Schicksal“ und „Verhängnis“ darstellen will. IV. Ein Leben, das sich selbst beweist Wie ernst Nietzsche mit seinem Ecce homo genommen werden möchte, zeigen die Erwartungen an dessen Wirkung. Seine Lebensgeschichte soll schlagartig ein breites Verständnis für seine Philosophie erzeugen, ihn und seine „Litteratur“6 endlich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken, ein einzigarti5

Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 311. Vgl. z. B. an Franz Overbeck 13.11.1888, KSB 8, S. 470, an Meta von Salis 14.11.1888, KSB 8, S. 471, an Heinrich Köselitz 18.11.1888, KSB 8, S. 478, an Constantin Georg Naumann 25.11.1888, KSB 8, S. 487. 6

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ger Verkaufs- und Propagandaschlager werden7 und seiner Umwerthung aller Werthe den Weg zu einem weltweiten Triumphzug ebnen.8 „Sobald ,Ecce homo‘ heraus ist“, schreibt Nietzsche an seinen Verleger Naumann, „bin ich der erste Mensch, der jetzt lebt.“9 Ab Dezember ist er in „welthistorischer Mission“10 unterwegs, wobei er „als Mensch des Verhängnisses“11 auftritt. Es klingt hellsichtig und prophetisch, wenn Nietzsche „die t r a g i s c h e Katastrophe meines Lebens, die mit ,E c c e‘ beginnt“12 anspricht, aber auch darin ist in erster Linie eine Selbstdarstellung der Tapferkeit des tragischen Helden zu sehen – Leben und Kunst verschmelzen. Für eine derart subjektive Schrift tauchen erstaunlich oft die Begriffe „Beweis“, „Bestätigung“, „Zeugnis“ usw. auf. Die Selbstdarstellung von Leben und Werk dient offensichtlich dem Ziel, den Philosophen Nietzsche und sein Denken ad hominem zu demonstrieren. Und wie ließen sich die Redlichkeit und der Geltungsanspruch einer Experimentalphilosophie grundsätzlicher und eindrucksvoller unter Beweis stellen als dadurch, dass der Philosoph das eigene Leben als Versuchsanordnung betrachtet? Schon bei der ersten Erwähnung von Ecce homo in einem Brief vom 30. Oktober 1888 an Heinrich Köselitz betont Nietzsche den Wagemut seines Vorhabens.13 Er will mit dieser Publikation die Grenzen des Erlaubten endgültig überschreiten. Das schon aus früheren Werken bekannte Motiv des Strebens nach dem Verbotenen, der „Abenteurer-Muth“ des „nitimur in vetitum“14, soll sich hier selbst ein Denkmal setzen. Nietzsche beschwört mehrfach das Pathos des selbstbewussten Entdeckers und Eroberers. Ecce homo klingt an vielen Stellen nach „veni vidi vici“: „Ich s a h das Land, – ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg, Meer, Gefahr – u n d Erfolg!“15 Die Selbstsicherheit soll zugleich den sichersten Beweis seiner Philosophie liefern.16 Das eigene Leben in die Waagschale zu werfen, beweist vor allem das Vertrauen auf die eigene Schaffenskraft. Es liefert den Beleg dafür, dass der Mut 7 Vgl. z. B. an Ferdinand Avenarius 22.12.1888, KSB 8, S. 544 und an Franz Overbeck 22.12.1888, KSB 8, S. 548. 8 Vgl. an Constantin Georg Naumann 27.12.1888, KSB 8, S. 553. 9 An Constantin Georg Naumann 26.11.1888, KSB 8, S. 490. 10 An Paul Deussen 26.11.1888, KSB 8, S. 492. 11 An Georg Brandes (Entwurf) Anf. Dez. 1888, KSB 8, S. 501. 12 An Heinrich Köselitz 16.12.1888, KSB 8, S. 528. 13 KSB 8, S. 462. 14 Das Zitat von Ovid (Amores 3, 4, 17) findet sich in der Vorrede zu Ecce Homo, KSA 6, S. 259 und davor schon in Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 162, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 357 und Nachlass 1887, KSA 12, S. 337. 15 Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 320. Vgl. auch ebd., S. 339 (vgl. Fröhliche Wissenschaft 382, KSA 3, S. 635–637). 16 An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf) etwa 17.12.1888, KSB 8, S. 534.

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des Denkers dem Maß seiner Wahrhaftigkeit entspricht. Nietzsche leitet aus der tapferen Redlichkeit des Philosophen eine existenzialistische Theorie der Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit ab: „die v e r b o r g e n e Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer grossen Namen kam für mich an’s Licht. – Wie viel Wahrheit e r t r ä g t, wie viel Wahrheit w a g t ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser. Irrthum (– der Glaube an’s Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrthum ist F e i g h e i t . . . Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntniss f o l g t aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich . . .“17

Platon, Kant, Schopenhauer und erst recht die gesamte neuere deutsche Philosophie sei schlichtweg ein Resultat der Feigheit, – der Feigheit, sich mit der Wirklichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. V. Über-Mut und Eigen-Leben Ecce homo betont zuletzt die hohen Ansprüche Nietzsches an den Lebensmut seiner Leser. Seine Bücher müsse man „sich ebenso mit den zartesten Fingern wie mit den tapfersten Fäusten erobern. Jede Gebrechlichkeit der Seele schliesst aus davon [. . .] man muss keine Nerven haben [. . .] Man muss sich selbst nie geschont haben, man muss die H ä r t e in seinen Gewohnheiten haben, um unter lauter harten Wahrheiten wohlgemuth und heiter zu sein. Wenn ich mir das Bild eines vollkommnen Lesers ausdenke, so wird immer ein Unthier von Muth und Neugierde daraus, ausserdem noch etwas Biegsames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und Entdecker.“18

Der solchermaßen ausgelobte kritische Selbstdenker wird allerdings auch weder Skrupel noch Furcht haben, sich rasch wieder von Nietzsche zu verabschieden und den philosophierenden Gott seinem Schicksal zu überlassen. Er wird einen eigenen Weg finden, so mutig zu werden, wie er ist. Ganz im Sinne von Zarathustras Lehre „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.“19 Die zurückhaltenden Reaktionen auf Nietzsches Briefe im Ecce-homo-Stil ergeben sich jedoch eher aus der Ratlosigkeit ihrer Empfänger. Was soll man dem selbst erklärten Weltregenten und Menschheitserlöser auch antworten? Einzig Köselitz verfährt ganz nach Jüngermanier und bemüht sich nach besten Kräften, das Eigenlob des Meisters noch zu übertreffen. Nietzsche und die Nachwelt haben dem hingebungsvollen Anhänger und redaktionellen Assistenten vieles zu verdanken, aber ein schaler Nachgeschmack seiner eifrigen Lobhudelei bleibt. An den bereits zusammengebrochenen Nietzsche schickt Köselitz am 9. Januar 1889 die Worte:

17 18 19

Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 259. Ebd., S. 302 f. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 101.

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„Es müssen große Dinge sein, die mit Ihnen vorgehen! Ihr Enthusiasmus, Ihre Gesundheit und Alles, was Sie ,reinen Leibs, geweihten Sinns‘ gethan oder als gethan ahnen lassen, muss auch die Siechhaftesten aufrütteln; Sie sind eine ansteckende Gesundheit; die Epidemie, welche Sie der Gesundheit einmal wünschten, die Epidemie I h r e r Gesundheit kann nicht mehr ausbleiben.“

Köselitz weiß nicht, dass seine Nachricht Nietzsche nicht mehr bei Gesundheit erreicht, sondern dieser gerade ein 10 Jahre dauerndes Siechtum angetreten hat. Als Nietzsches Übermut Ende November 1888 auch in seiner Korrespondenz beginnt, eine bedenkliche Tendenz zum Größenwahn zu offenbaren, antwortet darauf ungleich kreativer und stilvoller August Strindberg.20 Mit einer heiter gelehrten und zugleich besorgt mahnenden Epistel zollt er Nietzsches Wagemut Respekt und appelliert doch auch an den maßvolleren Klassiker und Philosophen in ihm: „Carissime Doctor! / Thélo, thélo manénai! [Ich will, ich will verrückt sein!21] / Litteras tuas non sine perturbatione accepi et tibi gratias ago. [Deinen Brief habe ich nicht ohne Beunruhigung erhalten und ich danke Dir.]“ Dann folgt die erste Strophe aus einem Gedicht von Horaz. Strindberg beweist mit der Wahl des Zitats ein feines Empfinden für Nietzsches Pathos und Geschmack. Dieser fordert seine Leser in Ecce homo auf, seine Werke so zu lesen, „wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen“22. In dem Gedicht wird einem gewissen Licinius geraten, Extreme zu meiden und den „goldenen Mittelweg (aurea mediocritas)“ zu wählen: „Richtiger wirst du leben, Licinius, wenn Du weder immerzu die hohe See angehst, noch aus Furcht vor Stürmen erstarrst und dich allzu sehr an den unersprießlichen Strand drängst.“23 Strindberg liefert damit eine brillante Ferndiagnose des Kernproblems. Er sieht, dass Nietzsche in die Rolle eines rasenden Siegfried zu schlüpfen scheint, der „das Fürchten“ schlicht und einfach „nicht gelernt hat“ oder eines Achill, dessen thymos – Zorn und Mut verschmolzen für den alten Griechen in einem Wort – alle anderen Empfindungen und Gedanken überdeckt, oder sich selbst gleich zum Gott erklärt, der – wie es uns Homer erzählt – dem Menschen das Leben und den Mut einhaucht. Strindberg erinnert den Rasenden an das Maß des Mutes. Nach der aristotelischen Mesoteslehre, auf welche sich auch der Tugendbegriff des 20 Zum Briefwechsel Nietzsches mit Strindberg vgl. auch Pierre Klossowski: Nietzsche and the Vicious Circle, Kap. 9 „The Euphoria of Turin“ (S. 159 ff.), mit Bezug auf den hier zitierten Brief Strindbergs vgl. insbesondere S. 178. 21 Nach Lion Feuchtwanger (Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau, Berlin 1962, S. 419) findet sich der griechische Spruch als Randnote Jean-Jacques Rousseaus im Manuskript von Les Confessiones. Feuchtwanger übersetzt: „Ich bin willens, ich bin es, zu rasen.“ 22 Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 305. 23 „Rectivus vives, Licini, neque altum / semper urgendo, neque dum procellas / cautus horrescis nimium premendo / litus iniquum.“ (Horaz, carmen 2, 10, Z. 1–4; für Ratschläge zur Übersetzung bedanke ich mich bei Bernhard Hüls).

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Epikuranhängers Horaz in dem zitierten Gedicht gründet, liegt die Tapferkeit in der Mitte zwischen zwei Lastern, nämlich der Ängstlichkeit und der Tollkühnheit. Das verdeutlicht auch die letzte Strophe des Gedichts, die Strindberg zwar nicht mehr zitiert, vielleicht aber als bekannt voraussetzt. Sie lautet in der deutschen Übertragung von Rammler: „Zeige bei trübseliger Zeit dich tapfer / Und von unerschüttertem Mut; doch lern’ auch, / Schwellt ein allzu günstiger Wind dein Segel, / Klüglich es einziehn.“24 Nietzsches Ecce homo erzählt die Geschichte eines Seefahrers, den es immerzu auf das offene Meer hinauszieht und der auf schwere See und stürmische Winde nicht mit dem Einziehen, sondern mit dem Hissen all seiner Segel reagiert. Mit Strindberg, Horaz und Aristoteles kann man die Frage stellen, ob Nietzsches idiosynkratisch-überspannter Begriff des Mutes ihn nicht mit Notwendigkeit in einen ungesunden Übermut treibt. Ist sein mutiges Eigen-Leben, das zuletzt die ganze Welt in sich aufsaugt und sich selbst damit zu einem übergroßen, unendlich einsamen Monstrum von Person aufbläht, die Konsequenz einer Konzentration auf die Tugend des Mutes? Oder stellt das Spätwerk Nietzsches nur eines von vielen möglichen Experimenten mit einem Mut zur radikalen Neuerung dar? Scheitert Nietzsches Versuch vielleicht am Solipsismus, am maßlosen Eigen-Leben? All diese Fragen müssen hier offenbleiben. Unser Streifzug diente lediglich dem Versuch, den Mut als Grundmotiv im Ecce homo sowie in Nietzsches gesamtem Lebensentwurf nachzuweisen und dabei die Fülle von Perspektiven einer Philosophie des Lebensmutes anzudeuten, welche uns diese eigenartige Schrift eröffnen kann.

24 „Rebus angustis animosus atque / fortis adpare, sapienter idem / contrahes vento nimium / secundo turgida vela.“ (Ebd., Z. 21–24)

Seliges Leben Über eine Ambivalenz bei Kant Georg Sans SJ Die Frage nach dem glücklichen, bisweilen auch die nach dem gelingenden Leben hat in der Philosophie der Gegenwart Konjunktur. Demgegenüber ist die Frage nach einem seligen Leben, die zumindest Fichte noch umtrieb,1 heute in den Hintergrund getreten. Dem Sprachgefühl nach besitzt der Ausdruck „Seligkeit“ eine deutlich religiöse Konnotation und enthält einen klaren Bezug auf das Jenseits. Deshalb braucht es nicht zu verwundern, wenn im Historischen Wörterbuch der Philosophie lediglich das Stichwort „ewige Seligkeit“ als Synonym für „Unsterblichkeit“ und „ewiges Leben“ verzeichnet ist.2 Anders der Ausdruck „Glück“. Aus ihm hören wir mehr das Element der individuellen Lebensführung und der Erfüllung im Diesseits heraus. Zur Abgrenzung zwischen Seligkeit und Glück ist außerdem immer wieder darauf verwiesen worden, dass die Vorstellung des Letzteren eng mit der Erfahrung sinnlicher Lust und dem Gefühl des Vergnügens verbunden ist. Gegen eine solche Engführung des Glücks genügt es indes, an antike Ethiken zu erinnern: „Die Eudämonie, gewiss nicht schlecht mit ,Glückseligkeit‘ übersetzt, ist der von jedem selbst herbeizuführende Zustand erlebter Erfüllung. Schon durch den initialen Anteil des Selbst ist es ausgeschlossen, diese Erfüllung nur im Gefühl sinnlicher Lust zu finden. Durch das bewusste eigene Streben gehen von vornherein die eigenen emotionalen und intellektuellen Ansprüche mit ein.“3

Es lässt sich nun leicht zeigen, dass ähnlich wie in dem griechischen Begriff der Eudämonie die Aspekte der sinnlichen Lust und des geistigen Vergnügens miteinander verbunden sind, so in der modernen Rede von der Glückseligkeit

1 „Das Leben ist notwendig selig, denn es ist die Seligkeit; der Gedanke eines unseligen Lebens hingegen enthält einen Widerspruch. Unselig ist nur der Tod“ (Johann Gottlieb Fichte: Anweisung zum seligen Leben, in: Sämtliche Werke, Berlin 1845/46, Bd. V, S. 401). 2 Vgl. Helmut Echternach: Art. „Seligkeit, ewige“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971–2007, Bd. 9, S. 574. Zum Gebrauch von beatitudo in der mittelalterlichen Theologie vgl. Otto Hermann Pesch: Art. „Glück, Glückseligkeit II.“, ebd., Bd. 3, S. 691–696. 3 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 115.

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das Moment der Suche nach dem diesseitigen Glück oft mit dem Streben nach einer ewigen Seligkeit verknüpft wurde. Diese Entwicklung ist natürlich nicht ohne den Einfluss der christlichen Theologie denkbar. Doch bevor ich auf die Unstimmigkeit zu sprechen komme, die daraus für Kants Konzept des seligen Lebens erwächst, will ich kurz auf die Bedeutung der Religion für den kantischen Begriff des Glücks eingehen. Indem der Königsberger Philosoph die Glückseligkeit aus ihrer moralbegründenden Funktion entließ, die sie in der rationalistischen Schulphilosophie besessen hatte, schuf er Spielraum für die kritische Nachfrage, was mich denn überhaupt zu der optimistischen Annahme berechtigt, in einer Welt zu leben, in der sittliches Handeln aufs Ganze gesehen seinem Zweck dient, nämlich eigenes und fremdes Wohl zu befördern. Könnte es nicht sein, dass die natürliche Ordnung dem Gelingen moralischen Tuns und damit unserem wahren Glück ganz zuwider ist oder sich bestenfalls neutral zu unseren Anstrengungen verhält? Kant zufolge gibt es keine theoretisch zufriedenstellende Antwort auf diesen Zweifel. Einziger Anhaltspunkt ist das Bewusstsein der Pflicht selbst. Es rechtfertigt die besagte Annahme in der Form eines praktischen Glaubens an die Existenz Gottes. Damit ist das glückliche Leben für Kant kein Thema bloß der Ethik, sondern zugleich eines der Religion. Mit der von Kant vollzogenen strikten Trennung zwischen dem Begriff der Glückseligkeit und der Begründung der Moral hat es freilich noch eine weitere Bewandtnis. Wenn das sittliche Handeln seinen Lohn nicht mehr gleichsam in sich selbst besitzt, sondern sein Gelingen und unser Glück von der gottgewollten Übereinstimmung der natürlichen mit der sittlichen Ordnung abhängen, dann sollte man ferner erwarten, dass jedem nur das an Glück zuteil wird, dessen er sich zuvor im Handeln als würdig erwiesen hat. In der Tat ist es gerade der Gedanke der Glückswürdigkeit, der Kants Idee des höchsten Guts ihr besonderes Gepräge verleiht: „Der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“4

Nun hat Kant klar gesehen, dass die Würdigkeit glücklich zu sein, sprich: sittliche Vollkommenheit nicht etwas ist, das der Mensch ohne Weiteres von sich aus erreichen könnte.5 Damit nähert er sich dem Problem, das bei Wolff unter dem Stichwort „Seligkeit“ verhandelt wird. Für beide Denker steht außer

4

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, S. 110. Unter dem Stichwort ,moral luck‘ wird heute die paradoxe Einsicht diskutiert, dass selbst die Glückswürdigkeit noch einmal vom Schicksal abzuhängen scheint, das den Einzelnen in Lagen bringen kann, die ihm sehr viel oder nur wenig abverlangen. 5

Seliges Leben

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Frage, dass Seligkeit im strengen Sinn des Wortes allein Gott zukommen kann. Daraus folgert Wolff, dass die Seligkeit des Menschen in dem „ungehinderten Fortgang zu größeren Vollkommenheiten“6 liegen müsse. Da ein solches Fortschreiten aber mit Freude verbunden sei, bedeute es zugleich Glückseligkeit.7 Den letzten Schritt macht Kant, wie wir gesehen haben, nicht mit. Für ihn hängt die Glückseligkeit wesentlich vom Wirken Gottes ab, der sie jedem gemäß seiner Würdigkeit zukommen lässt. Was indes das Problem der sittlichen Vervollkommnung betrifft, geht Kant sogar noch über Wolff hinaus. Während der wolffschen Theorie unter der Bedingung Genüge getan ist, der einzelne Mensch sei zeitlebens im Fortschritt zum Besseren begriffen, fordert Kant mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele ein seliges Leben ohne Begrenzung in der Zeit.8 Die damit verbundenen Schwierigkeiten sind allerdings beträchtlich. So wird man zunächst hinterfragen müssen, in welchem Sinn eine als vom Körper getrennt existierend vorgestellte Seele überhaupt soll sittlich handeln können. Weiterhin ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, hier werde etwas gefordert, das Hegel mit Recht als schlechte Unendlichkeit bezeichnet hätte, insofern im Laufe einer ewig fortdauernden Existenz neben allen guten Taten auch immer neue Unvollkommenheiten angehäuft würden oder zumindest nicht zu sehen ist, wie das zukünftige Gute das vergangene Schlechte sollte aufwiegen können. Die Ambivalenz der kantischen Position rührt meines Erachtens letztlich daher, dass er die Imperfektibilität des Menschen zu etwas macht, das von jedem Einzelnen selbst in einem unendlichen Progressus ausgeglichen werden muss. Wäre es nicht besser gewesen, unsere naturbedingte Sterblichkeit vorbehaltlos anzuerkennen und ein seliges Leben wie Wolff in dem beständigen Fortschreiten zum Besseren zu sehen? Hätte Kant auf die Weise sein wenig überzeugendes Postulat von der Unsterblichkeit der Seele nicht ganz überflüssig machen können? Fast könnte man meinen, Volker Gerhardt wolle in diese Richtung deuten, wenn er unter der Überschrift „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ schreibt: „Dieser gedachte Zustand einer vollkommenen Übereinstimmung von Vernunft und Neigung ist der Zustand der ,Seligkeit‘. Er muss als das ,höchste Gut‘ eines jeden Handelns bezeichnet werden, sofern es nach dem ,obersten Gut‘ der Sittlichkeit strebt.“9

Möglich gewesen wäre freilich auch ein ganz anderer Ausgang der Geschichte. Den Gedanken der Glückswürdigkeit festhaltend, hätte Kant noch viel stärkere Anleihen bei der Religion nehmen und daran erinnern können, dass 6 Christian Wolff: Deutsche Ethik, in: Gesammelte Werke, Hildesheim 1965 ff., § 44, Bd. I/4, S. 32. 7 Vgl. ebd., §§ 51–52, S. 35. 8 Vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, S. 122 und S. 128 f. 9 Volker Gerhardt: Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 284.

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trotz all unseres geschuldeten und als solchem durchaus verdienstvollen sittlichen Bemühens ein seliges Leben am Ende immer auch davon abhängt, dass jemand da ist, der mir meine Unvollkommenheiten verzeiht. Das zeigt sich bereits im zwischenmenschlichen Umgang, und es führt, anders als die schwierige Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, geradewegs ins Zentrum der christlichen Religion.

Die Freiheit des Lebendigen Marco Haase Freiheit und Leben, diese zwei Grundbegriffe menschlicher Selbst- und Weltreflexion, scheinen in einem Gegensatz zu stehen. Die Freiheit zeichnet den Menschen aus, wenn er sich durch seinen Willen für oder gegen eine Handlung entscheiden kann. Das Leben hingegen gehört zum Bereich der Natur, in der Kausalität, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit herrschen, in der aber kein freier Wille möglich zu sein scheint. Dem Einzeller, dieser Urform des Lebendigen, Freiheit zuzusprechen, ist jedenfalls alles andere als selbstverständlich. Diesem Dualismus von Freiheit und Leben liegt die Annahme zugrunde, dass Freiheit mit Willensfreiheit gleichzusetzen sei. Freiheit ist dann ein Attribut des Willens, der Wille ein Akt des Bewusstseins und dieses Bewusstsein ein Selbstbewusstsein. Und in der Tat: Ich erfahre mich als frei, wenn mein Wille meine Handlungen bewusst steuern kann. Ich kann aber nur dann von meinem Willen sprechen, wenn ich mir als einem Selbst bewusst bin, dem ich den handlungssteuernden Willen zurechnen kann. Deshalb scheint Freiheit ein Merkmal eines Selbstbewusstseins zu sein, das als bewusster Wille nach ihm eigenen Kriterien eine Entscheidung fällt und eine Handlung motiviert. Man mag sich dann zwar darüber streiten, nach welchen Kriterien der bewusste Wille entscheidet, ob der freie Wille als grundlose Dezision, zweckrationales Kalkül oder als vernünftige Abwägung gedacht werden soll; festzustehen scheint, dass ich nur frei bin, wenn mein selbstbewusstes Ich als bewusster Wille entscheidet und der alleinige Motor meiner Handlung ist. Für das Leben hingegen ist das Selbstbewusstsein nicht konstitutiv. Der Einzeller, die Pflanze, selbst ein Großteil der Tiere kommen ohne Bewusstsein aus. Vom Menschen abgesehen, fehlt Lebewesen auch ein Selbstbewusstsein oder gar die Fähigkeit, vernünftig abzuwägen. Das Lebendige gehört vielmehr zur Natur, die sich durch Gesetzmäßigkeit auszeichnet, nicht aber durch bewusste Willensakte. Der Einzeller weiß nicht, dass er sich teilt, und kann es mithin auch nicht wollen; die Pflanze entscheidet sich nicht, dem Licht entgegenzuwachsen; der Vogel baut nicht aus einem bewussten Willensentschluss sein Nest; der Hund will keine bewusste Entscheidung begründen, wenn er bellt; das Herz des Menschen entschließt sich nicht freiwillig zu schlagen. Solange Freiheit als Freiheit eines bewussten Willens, eines selbstbewussten Ichs verstanden wird, kann dem Lebendigen als Lebendigem keine Freiheit zukommen.

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Doch ein Freiheitsverständnis, dass Freiheit mit dem Bewusstsein der eigenen Freiheit gleichsetzt, kann nicht genügen. Unfreiheit liegt nämlich vor, wenn der bewusste Wille durch etwas beherrscht wird, das außerhalb seines selbstbewussten Ichs liegt. Das kann aber nicht nur ein äußerer Zwang sein, den der Wille erkennen und gegen den er bewusst revoltieren kann. Der äußere Zwang kann auch etwas Unbewusstes sein, das Macht über das eigene Bewusstsein erlangt. Der bewusste Wille ist dann unfrei, wenn eine unbewusste Triebkraft wirkt, die den scheinbar freien Willen bestimmt. Dieses Unbewusste kann unterschiedliche Formen haben. Es kann als mechanischer, chemischer, biologischer, neurophysiologischer Vorgang verstanden werden, als das unbewusste Es oder als verinnerlichter Zwang einer politisch-sozialen Struktur. Entscheidend für den Nachweis der Unfreiheit des Willens ist der Nachweis einer unbewussten Macht, die hinter dem Rücken des selbstbewussten Ich den bewussten Willen beherrscht. Der bewusste Wille mag sich dann noch so sehr als bewusster Handlungsmotor verstehen, in Wahrheit ist das Selbstverständnis der eigenen Freiheit lediglich eine Täuschung über die Determination des Willens. Wenn nicht jeder Wille, den ich subjektiv als frei erfahre, frei ist, bedarf es, um zu bestimmen, ob ich frei handle, eines anderen Kriteriums als das der Selbsterfahrung meines Willens. Wird Freiheit als die Freiheit eines bewussten Willens gedacht, wird der Blick insbesondere auf den Ursprung einer Handlung gerichtet, also darauf, dass der bewusste Wille eine Handlung initiiert, ohne von außen gesteuert zu werden. Was ein freier Wille will, der Inhalt eines freien Willens, scheint demgegenüber in den Hintergrund treten zu können. Wird allerdings entdeckt, dass etwas Unbewusstes den bewussten Willen hinter dessen Rücken lenken kann, dann ist das Bewusstsein, selbst zu entscheiden, keine Garantie für die Freiheit des eigenen Willens. Um dennoch zwischen einem freien und einem unfreien Willen unterscheiden zu können, muss man deshalb fragen, was der freie Wille will. Denn aus diesem Inhalt des Willens kann sich ergeben, ob der Wille aus sich selbst heraus etwas will oder ob der Inhalt seines Wollens fremdbestimmt ist. Kann objektiv bestimmt werden, was ein freier Wille will, gibt es unabhängig von der eigenen Freiheitserfahrung ein metempirisches Kriterium für die Freiheit. Man muss also versuchen, Freiheit zu bestimmen nicht subjektiv, formal und negativ aus dem Bewusstsein, selbst seine Handlung zu steuern, sondern objektiv, positiv und substanziell aus dem Inhalt, den ein freier Wille erstrebt. Aus sich selbst heraus kann der freie Wille aber nur sich selbst wollen, jeder andere Willensinhalt kann nur von außen gegeben sein. Frei ist also nur ein Wille, der seine eigene Freiheit verwirklichen will. Freiheit wird dann nicht nur negativ als Freiheit von Fremdbestimmung verstanden, sondern positiv als Selbstbestimmung, nicht nur als Freiheit von äußerer Einwirkung, sondern als Selbstverwirklichung. Freiheit verlangt dann aber nicht, sich von dem von außen Gegebenen freizuhalten und aus Angst um die Reinheit des eigenen Selbst

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nichts Bestimmtes zu wollen. Sie bedeutet nicht Unabhängigkeit von der äußeren Welt, sondern die Umgestaltung dieser äußeren Welt gemäß den Vorgaben des eigenen Selbst. Für die Umgestaltung der Welt ist aber kein Kampf gegen die Welt erforderlich; vielmehr kann sich das eigene Selbst nur mit Hilfe der Möglichkeiten verwirklichen, die die Welt bietet. Selbstverwirklichung verlangt nicht die Ablösung von der Welt, sondern ein Sich-Einlassen auf deren Möglichkeiten. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind zirkulär; denn das Selbst ist zugleich das Bestimmende und das Bestimmte, die Ursache und das Ziel. Das Selbst, das sich in der äußeren Welt verwirklicht, ist zunächst nur potenziell wirklich, aber doch schon wirksam. Freiheit ist dann nicht die Setzung aus dem Nichts, sondern die Entwicklung einer zunächst noch eingewickelten Anlage. Das bestimmende Selbst ist als formende Kraft potenziell unendlich; indem sich das Selbst der Welt öffnet und die Möglichkeiten annimmt, die die Welt ihm bietet, verendlicht es sich und verwirklicht es sich zu einer bestimmten Gestalt. Freiheit als Selbstverwirklichung ist dann zugleich Überwindung der äußeren Grenzen durch Aufnahme der äußeren Welt und Begrenzung der eigenen Potenzialität durch Konkretisierung zu einer bestimmten Gestalt in der Welt. So verstanden, ist Freiheit nicht mehr die Eigenschaft eines bewussten Willens, sondern eine objektive Struktur. Mehr noch: Obwohl ein Wille sich als frei erfährt, kann er unfrei sein, wenn er nicht dieser Struktur entspricht, wenn er nicht sein eigenes Selbst verwirklicht. Da der bewusste Wille unbewusst von außen gesteuert werden kann, kann der Wille Neigungen haben, die seiner Aufgabe, die eigene Freiheit zu verwirklichen, widersprechen. Die Aufgabe der Selbstverwirklichung wird dann zum ungeliebten Sollen, zur leidigen Pflicht. Der Begriff der Selbstverwirklichung impliziert jedoch, dass dieser Konflikt zwischen Neigung und Aufgabe der Unfall und nicht der Normalfall ist. Denn die eigentliche Triebkraft des Willens ist der Drang, das eigene Selbst zu verwirklichen. Diese Struktur der Freiheit findet sich auch in der Selbstorganisation des Lebendigen. Der Organismus eines Lebewesens besteht aus einer Vielzahl von Prozessen. Diese Prozesse verlaufen nicht zusammenhanglos räumlich nebenund zeitlich nacheinander, sondern gehören zu einem Ganzen. Daher besteht eine Grenze zwischen den Prozessen, die das Lebewesen ausmachen, und denen, die zur Umwelt gehören, eine Grenze zwischen Eigenem und Fremdem. Die verschiedenen Prozesse können aber nur dann zu einem Ganzen zusammengefasst werden, wenn das Ganze im Wechsel der Prozesse identisch bleibt, wenn dem Ganzen ein Selbst zukommt. Dieses Selbst, das die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden markiert, ist freilich kein Selbst, das sich seiner selbst bewusst ist, sondern nur der Zurechnungspunkt der verschiedenen Teilprozesse. Das Selbst ist kein bestimmter Prozess, sondern das Prinzip des sich wandelnden Ganzen.

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Dieses Ganze eines Organismus ist kein unveränderlicher Block, sondern in permanenter Veränderung begriffen. Das Ganze eines Organismus existiert nur, indem verschiedene Teilprozesse es immer wieder herstellen. Die Teilprozesse formen aus dem Stoff, den die Welt gibt, den Organismus, indem sie im Austausch mit der Umwelt das Gegebene gemäß den im Gegebenen liegenden Möglichkeiten und gemäß dem Prinzip des Ganzen dem Organismus anverwandeln. Trotz des ständigen Wandels bleibt aber das Selbst des Ganzen bestehen, bleibt der Organismus ein Ganzes. Indem die verschiedenen Teilprozesse zusammenwirken, verwirklichen sie das sich stets wandelnde und doch identische Ganze, im Zusammenwirken verwirklichen sie das Selbst des Lebewesens. Die Teilprozesse, die das Ganze herstellen, werden aber nicht von außen angestoßen. Bei einem Lebewesen gibt es keinen außenstehenden Motor, der die Teilprozesse antreibt. Vielmehr fügen sich die Teilprozesse aus eigener Kraft zu dem Ganzen. Die Teilprozesse bringen nicht nur das Ganze hervor, sondern sie wirken aus sich selbst heraus. Das Selbst der Teilprozesse treibt von sich aus zum Selbst des Ganzen. Bei der Selbstorganisation hat deshalb das Selbst eine doppelte Bedeutung. Es ist zum einen das Prinzip des Ganzen, das sich trotz des Wandels des Organismus erhält und durch die Teilprozesse überhaupt erst hervorgebracht wird. Den Teilprozessen ist deshalb das Ziel ihres Wirkens als Aufgabe vorgegeben, nämlich die Verwirklichung des Ganzen. Zum anderen aber bringen die Teilprozesse das Ganze aus sich selbst hervor. Das Selbst der Selbstorganisation ist also auch das Selbst der Teilprozesse, die das Ganze erzeugen. Der Drang, das eigene Selbst zu verwirklichen, treibt die Teilprozesse an. Gerade weil das Selbst des Ganzen zugleich das Selbst der Teilprozesse ist, verwirklichen die Teilprozesse aus sich heraus die differenzierte Einheit des Organismus. Weil das Prinzip des Ganzen zugleich das Prinzip der Teilprozesse ist, verwirklicht sich der Organismus selbst. Damit kommt der Selbstorganisation des Lebendigen dieselbe zirkuläre Struktur zu wie der Struktur eines substanziell freien Willens. Das Selbst ist zugleich Bestimmendes und Bestimmtes, Ursache und Ziel. Im Organismus des Lebendigen verwirklicht sich das Selbst der Teilprozesse, das zunächst nur potenziell ist und erst in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu einer bestimmten Gestalt aktualisiert wird. Die Selbstorganisation eines Lebewesens kann deshalb trotz der Bewusstlosigkeit als Ausdruck der Freiheit verstanden werden. Ein Einzeller, der als Organismus sich selbst organisiert, ist dann ebenso durch Freiheit gekennzeichnet, wie eine Pflanze oder ein Tier. Der Stoffwechsel, das Wachstum und die Fortpflanzung der Pflanze gemäß dem inneren Bauplan sind eine Gestalt der Freiheit wie die Selbstheilung, die Selbstbewegung und das Selbsttönen des Tieres. Dass sich die Pflanze ganz unbewusst entwickelt, die Spinne aus Instinkt ihr Netz spinnt, der Hund wegen eines äußeren Reizes ohne

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Überlegung bellt, ist dann kein Zeichen von Unfreiheit, sondern gerade Ausdruck der Freiheit. Auch wenn Freiheit als objektive Struktur verstanden wird, heißt das nicht, dass Freiheit und bewusster Wille unabhängig voneinander wären. Die bestimmte Gestalt, in der sich die Freiheit des Menschen zeigt, verlangt möglicherweise gerade, dass sich der Mensch über sein Handeln bewusst wird. Die Einsicht in die Gründe und Ziele des eigenen Handelns ist dann aber nicht der Ursprung des freien Handelns, sondern dessen Ziel. Der Mensch kann unbewusst frei handeln, wenn sein unbewusstes Trachten zum Bewusstsein drängt. Wenn das Unbewusste von sich aus zum Selbstbewusstsein treibt, gehört auch das Unbewusste zum Selbst, ist die Bestimmung durch das Unbewusste keine Fremd-, sondern Selbstbestimmung. Der Mensch verwirklicht sich dann selbst, indem er die zunächst unbewussten Handlungsmotive bewusst macht. Gerade in der Bewusstwerdung verwirklicht sich dann die Freiheit des Menschen. Wenn nun aber auch Lebewesen Freiheit zugesprochen wird, heißt das nicht, dass Pflanzen und Tiere denselben Wert hätten wie der Mensch. Die Pflanze bedarf nicht des Bewusstseins zu ihrer Selbstverwirklichung, und für die Selbstorganisation des Tieres ist kein Selbstbewusstsein erforderlich. Nur dem Menschen ist es möglich und aufgegeben, sich über sein eigenes Wollen bewusst zu werden. Dass der Mensch seine eigene Freiheit verwirklicht, indem er sich über Grund und Sinn sein Handeln bewusst wird, könnte den Vorrang der menschlichen Freiheit gegenüber der bewusstlosen Freiheit des Einzellers begründen. Der menschlichen Freiheit gegenüber der unbewussten Freiheit des Lebendigen einen Vorrang einzuräumen, ist aber nur möglich, wenn die Bewusstwerdung besonders wertvoll ist. Das ist jedoch alles andere als selbstverständlich, denn mit dem Bewusstsein des eigenen Selbst ist auch das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und damit der Schmerz verbunden. Warum sollte deshalb der Schmerz der Bewusstheit dem schmerzlosen Zustand der Bewusstlosigkeit vorzuziehen sein? Wohl nur dann, wenn das Bewusstsein der eigenen Grenze, Entgrenzung und damit vollkommene Freiheit bedeutet. Aber warum sollte das Unbewusste von sich aus zur Bewusstwerdung streben? Nur dann, wenn der Sinn des Seins die Freiheit ist.

Wie aber leben? Ein Dialog Jan-Christoph Heilinger/Verina Wild Kann ich lernen, wie ich leben soll? Was meinst du denn mit „leben“, was genau möchtest du da lernen? Das Leben ist für mich häufig eine Herausforderung – oft weiß ich nicht, wie ich mich verhalten, wie ich mich entscheiden soll. Ich möchte nicht, dass das Leben einfach an mir vorbeizieht, sondern ich möchte selbstbestimmt und bewusst leben. Aber damit wird für mich das Leben zu einem Problem. Kann ich lernen, das Leben zu leben? Kann ich richtig leben lernen? Meinst du so, wie du Vokabeln lernst? Naja, Vokabeln lernen ist ja ein zielgerichteter und bewusster Prozess, bei dem ich mit Absicht mein Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis aktiviere. Das ist anstrengend und manchmal öde. Ehrlich gesagt würde ich leben so nicht lernen wollen, und außerdem glaube ich nicht, dass es jemals ein Lehrbuch geben wird, nach dem man leben könnte. Aber wir lernen ja unterschiedliche Dinge auf unterschiedliche Art und Weise. Kinder lernen sprechen, ohne mühsam Vokabeln zu pauken, vielleicht durch Imitation? Auch kulturelle Regeln lernt man, ohne sie auswendig zu lernen – das läuft eher unbewusst ab, ohne dass mir das je jemand erklärt, gezeigt oder bewusst vorgemacht hat. In afrikanischen Ländern habe ich gemerkt, dass die Menschen viel näher an mir dranstanden, wenn sie mit mir sprachen. Mir war das zunächst unangenehm, ich habe gemerkt, dass ich einen anderen Abstand gewöhnt war und das wohl irgendwie gelernt hatte. Vielleicht könnte ich auch – unbewusst oder durch Abgucken – lernen, wie zu leben sei; durch den Umgang mit Menschen, die aus meiner Sicht richtig handeln oder wissen, wie man lebt. Von wem meinst du denn, könntest du das lernen? Dafür müsste es wohl einen besonderen Lehrer geben, jemanden, der weiß, wie man lebt. – Vielleicht aber auch nicht, denn es lernen ja alle Menschen voneinander: Jüngere Menschen lernen von älteren und ältere von jüngeren. Sie lernen von der Natur, die neben Menschen auch andere Lebewesen und die unbelebte Welt umfasst. Sie lernen außerdem von Büchern oder Kunstwerken, die dann sozusagen eine Verbindung zu nicht anwesenden oder erfundenen Men-

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schen herstellen. Meine Mutter sagte mir einmal, sie habe sogar viel von mir gelernt, als ich noch in ihrem Bauch war. Vieles lernt man ja außerdem nicht nur von anderen, sondern aus eigenen Erfahrungen. Selbst wenn mir niemand gesagt hätte, dass ich nicht auf die Herdplatte fassen soll, hätte ich das sicher gelernt, wenn ich selbst einmal eine heiße Herdplatte angefasst hätte und den Zusammenhang zwischen meiner Aktion und der Folge verstanden hätte. Wenn ich so überlege, sind also die „Richtungen“, in denen gelernt wird, ziemlich vielfältig. Mal lernen wir von Lehrern, mal von Menschen, die einem gar nichts beibringen wollen, mal lernen wir durch unseren Umgang mit der Welt. Warum sollte man nicht leben auch aus all diesen Richtungen lernen können? Vielleicht wäre das viel besser, als alles auf eine einzige Lehrperson zu konzentrieren? Ich vermute jetzt, dass es keine spezielle Person gibt, von der ich das Leben lernen kann, sondern dass es vielleicht eher ein Lernen aus dem Zusammenspiel von allen Menschen und Einflüssen um mich herum ist. Du hast vorhin von den Kindern gesprochen, die sprechen lernen. Irgendwann haben sie ihre Sprache gelernt. Sie kann sich dann zwar noch weiterentwickeln, aber das Grundverständnis und der Grundwortschatz sind vorhanden, und damit ist ein erster Prozess abgeschlossen. Glaubst du, das wäre beim LebenLern-Prozess auch so? Das ist es ja, was ich gern hätte. Zumindest würde ich gern eine Art „Grundkurs“ beenden, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Aber ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es so etwas wie einen Grundwortschatz für das Leben geben könnte. Das Leben kommt mir unendlich viel komplexer als meine Muttersprache vor. Die Umwelt, die Geschehnisse und Einflüsse verändern sich ja dauernd und oft unvorhersehbar. Wenn man denkt, man hätte irgendwann das Leben-Lernen abgeschlossen, würde man erstarren und damit unfähig, auf all diese Veränderungen reagieren zu können. Vielleicht stellt die Fähigkeit zu lernen sogar eine wichtige Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit lebendiger Organismen dar. Zum Glück hört die Fähigkeit zu lernen nie auf. Das hat wohl etwas mit der Flexibilität und Plastizität unseres Gehirns zu tun, mit der Möglichkeit, neue Synapsen zu bilden. Diese Fähigkeit ist nicht auf eine bestimmte Phase des Lebens beschränkt. Selbst wenn ich mir mit 80 Jahren meine Zähne mal mit der anderen Hand putze oder einen anderen als den gewohnten Weg zum Bäcker gehe, bilden sich neue Synapsen in meinem Gehirn. Wenn lernen heißt, dass wir neue Synapsen ausbilden, dann hört das Lernen sicher nie auf. Das ganze menschliche Leben lang werden Informationen verarbeitet, neu gespeichert und damit neues Wissen und neue Fähigkeiten hervorgerufen. Als Antwort auf deine Frage kann ich nur sagen: Schön wär’s, wenn das Leben-Lernen abschließbar wäre, aber das Leben ist zu komplex und zu unvorhersehbar dafür. Gut daher, dass wir die Plastizität haben!

Wie aber leben?

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Wann fällt dir denn besonders auf, dass du leben lernen möchtest? Etwa dann, wenn etwas Großes, Neues bevorsteht, zum Beispiel, wenn ich ein Kind bekomme. Wie soll das gehen, dass es groß und ein guter Mensch wird? Was kann ich ihm beibringen, wie kann es gar von mir lernen, richtig zu leben, wo ich selbst es doch nicht weiß? In dem Kind sehe ich mich selber wieder. Wie soll das gehen, dass ich älter und ein guter Mensch werde? Dazu gehören auch konkrete Fragen, wo ich leben soll, welchen Beruf ich ausüben soll, wo ich mich niederlassen will – und ob überhaupt –, wie und ob ich mich persönlich, beruflich und politisch einbringen kann und soll, damit meine Existenz der Welt etwas Gutes hinzufügt. Gibt es Dinge, die ich tun sollte oder lassen sollte, damit mein Leben ein gutes wird? Kann mir das jemand erklären, beibringen, damit ich es besser hinbekomme? Nicht um perfekt zu sein, ich möchte nur wissen, was gut ist. Am Anfang sagtest du, dass du gerade für den richtigen Umgang mit Entscheidungssituationen leben lernen möchtest. Würdest du also nicht lieber richtig entscheiden lernen wollen, als leben lernen? Du hast recht, gerade in Entscheidungssituationen fällt es mir auf, dass ich gar nicht weiß, wie ich leben soll. Doch da wird mir diese Frage nur besonders deutlich. Wenn ich lernen will zu leben, dann geht das aber über das Treffen richtiger Entscheidungen hinaus, auch wenn Entscheidungen einen wichtigen Teil des Lebens ausmachen. Ich suche ja insgesamt nach einem guten Leben, nach einer Gesamtzufriedenheit, nach dem Grundgefühl, die Dinge richtig zu tun, im Umgang mit mir selbst, mit anderen und mit der Welt. Vermutlich gehört zu einer richtigen Entscheidung im Leben dann immer auch eine Portion Glück. Vieles steht schließlich einfach nicht in unserer Macht – und so gut und richtig wir uns auch entscheiden, es kann immer anders kommen. Leben findet also zwischen den eigenen Entscheidungen und dem Umgang mit dem, was nicht in unserer Hand liegt, statt. Zu lernen wäre dann vielleicht die angemessene Einstellung gegenüber diesen beiden Arten möglicher Veränderung, die zum einen selbstbestimmte Handlungen und zum anderen fremdbestimmte Widerfahrnisse sind. Überleg doch noch mal, was du mir bis jetzt alles gesagt hast. Vielleicht bist du dann schon näher an einer Antwort als zuvor. Also gut. Was ich suche, sind Rat und Hilfe, wie ich Größeres und Kleineres im Leben gut hinkriegen kann, ohne dabei Perfektionist zu sein, aber so, dass ich und auch meine Umwelt im Jetzt und im Rückblick zufrieden sind, und hoffentlich auch in Zukunft. Dabei möchte ich einiges selbstbestimmt kontrollieren, sodass es gut wird, aber nicht alles unter Kontrolle haben, sodass es nicht mehr spannend ist oder sodass ich nicht mehr offen für Neues bin. Der beste Weg, das zu lernen, ist wohl, aus allen Richtungen zu lernen, von allen Generationen, durch alle Erlebnisse und Eindrücke. Es müsste eine Mischung

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sein aus bewusstem und unbewusstem Lernen. Es würde nie abgeschlossen sein, da das Leben in all seiner Unwägbarkeit mir immer neue Erlebnisse und Eindrücke bieten wird. Das heißt auch, dass ich immer „besser“ werden kann in meinen Handlungen, aber dass es auch immer Rückschläge geben kann, weil etwas eingetreten ist, was nicht vorhersehbar war, und weil ich Fehler mache. Was heißt das nun für deine Frage, wie du leben sollst? Ich glaube, ich kann leben oder besser leben, indem ich über das, was war, nachdenke und versuche, in neuen Situationen Dinge, mit denen ich nicht zufrieden war, besser zu machen. Ich kann versuchen, bewusst zu leben und dabei so viel wie möglich bewusst zu lernen – von anderen Menschen, Lehrern und Nicht-Lehrern, von der Welt, von mir selbst – und dabei auch darauf vertrauen, dass ich zusätzlich noch vieles unbewusst lerne. So kann ich in meinem Leben meine immer komplexer (oder auch wieder weniger komplex) werdenden Fähigkeiten und Eigenschaften selbstbestimmt einsetzen und immer weiter ausprobieren. Aber ich brauche mir auch nicht den Kopf zu zerbrechen, denn das Leben bietet beständig Neues, was mich herausfordert, mich neu und weiter zu entwickeln, ohne dass ich dabei auf ein anerkanntes Lehrbuch zurückgreifen könnte. Das kann ein noch so kleines Erlebnis sein: Nie wird der Vogel auf meinem Fensterbrett das Korn auf die exakt gleiche Weise aufpicken wie zuvor. Nie wird das Lächeln des geliebten Menschen wieder so sein, wie es gerade war. Nie werden sich mir Sonnenstrahl, Wind und Blätterrauschen wieder in dem gleichen Zusammenspiel bieten wie jetzt gerade. Das macht das Leben zwar letztlich unerlernbar, aber doch gerade so lebenswert.

Was Leben ist? Wer könnte es ermessen? Denn alles fließt, und wir sind tief im Strom. So viele Welten sind begraben und vergessen. Verborgen hinter Schleiern schimmert Sinn. Was Staunen ist? Dass erst nach Jahrmillionen Brandungswellen der Mensch so wurde wie er heute ist; dass Bilder, Sprachen, Zeichen uns verstellen woran man seinen Wert erkennt. Was Denken ist? Trotz Lug und Trug der täuschenden Begriffe macht Bauen mit Gedanken Wege frei. Auf hoher See sind wir, wie lose Schiffe, und dichten uns das Sein, auch wenn wir irren, wahr. Was Wahrheit ist? Kunst lässt die Ferne manchmal doch erahnen im Vorschein dessen, was sich uns entziehen will kann das, was war, was ist, uns Wege bahnen. Doch Vieles einfach menschlich – allzu menschlich – Irrtum bleibt. Wo Freiheit ist? So viele Einflussgrößen wirken ständig auf uns ein. Doch hilft dem Selbst das Denken Ketten abzustreifen, und selbstbestimmte Hoffnungswege tun sich auf, inmitten allen Handelns handelnd einzugreifen. Wo Freundschaft ist? Das lässt sich schwer erfassen: In tiefe Kummerbrunnen fällt man stets allein. Fassade? Nutzen? Kann man es benennen? Was wir für andre sind, ist oft nur Schein. Wo Weisheit ist? Das Viele kennen schafft uns erst den Überblick. Zahllose Perspektiven geben Horizonte und dann manchmal Sicht. Distanz und Nähe helfen klug zu helfen und zu raten dem, dem die Welt als Welt zusammenbricht. Wo Güte ist? In manchen Menschen. Man trifft sie eher selten an. Selbstloses Geben kann uns unverhofft beglücken, was leben lässt und heilen kann. Treppauf, treppab, doch immerfort voran, so tragen Lebensstufen uns durchs Leben. Die Zeit wills, dass man danken kann den Menschen, die uns viel gegeben. Gabriele Osthoff-Münnix

Autorenverzeichnis Fiorella Battaglia hat Philosophie und Kommunikationswissenschaften in Pisa, Neapel und Berlin studiert. 2004 wurde sie in Neapel an der Universität L’Orientale promoviert. Seit 2006 ist sie Mitarbeiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Funktionen des Bewusstseins“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Nikolaj Belzer studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, ESCP Paris sowie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Magisterstudium schloss er bei Volker Gerhardt mit einer Arbeit über Immanuel Kants Begriff des Dynamisch-Erhabenen ab. Im Moment lebt und arbeitet er als Filmemacher und freier Journalist in London, wo er am M.A. „Filmmaking Program“ der London Film School teilnimmt. Uta Bittner studierte u. a. BWL und Philosophie in Berlin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg sowie als Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Joachim Boldt studierte Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft in Heidelberg, Sheffield und Berlin. Nach der Promotion in Philosophie bei Volker Gerhardt arbeitet er heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Angela Breitenbach studierte Philosophie sowie Wissenschaftsgeschichte und -theorie in Cambridge und promovierte bei Volker Gerhardt in Berlin. Derzeit ist sie Junior Research Fellow am Sidney Sussex College, Cambridge. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie Kants, Umweltphilosophie und die Philosophie der Biologie. Ana Carolina da Costa e Fonseca studierte Jura und Philosophie und promoviert bei Volker Gerhardt über Den Begriff Verantwortung bei Nietzsche. Von 2005 bis 2007 führte sie ein Forschungsaufenthalt nach Berlin. Sie ist Dozentin für Philosophie (UFCSPA) und Rechtsphilosophie (FMP) in Brasilien. Wilson McClelland Dunlavey studierte Philosophie und Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaft am St. John’s College in Annapolis, Maryland und Santa Fe, New Mexico, USA, wo er 2003 seinen Bachelor erhielt. Seit 2005 forscht er an der Humboldt Universität zu Berlin über Ernst Cassirer. Richard Fonseca studierte Philosophie in Rio de Janeiro (UERJ/Brasilien). Seit 2007 ist er Dozent für Ethik in Angola (Fundaça˜o Getu´lio Vargas/ENAD) und promoviert über Nietzsches Freiheitsbegriff bei Volker Gerhardt. Bettina Fröhlich studierte Philosophie und Neuere deutsche Literatur an der Freien Univerität Berlin und promovierte dort mit der Arbeit Die sokratische Frage. Platons Laches. Sie arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zur Selbsterkenntnis

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bei Platon. Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Tanja Gloyna koordiniert derzeit die „Neuedition der Critiken Kants“ für die Akademie-Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und gibt die Critik der reinen Vernunft heraus (dank Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius). Marco Haase studierte Philosophie und Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg, Grenoble und Edinburg. Er promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist momentan stellvertretender Direktor des Deutsch-chinesischen Institutes für Rechtswissenschaften in Peking. Henning Hahn studierte Philosophie und Politische Wissenschaften in Hildesheim, Tübingen, London und Berlin und promovierte u. a. bei Volker Gerhardt über den Begriff der Selbstachtung. Zurzeit arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Projekts Ethik der Globalisierung an der Universität Kassel. Sarah Hegenbart studierte u. a. Philosophie und Kunstgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin, wo sie als Tutorin für Volker Gerhardt tätig war. Derzeit absolviert sie ihren M. St. in Ancient Philosophy an der University of Oxford. Jan-Christoph Heilinger studierte u. a. Philosophie und arbeitet an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in den Arbeitsgruppen „Humanprojekt“ und „Funktionen des Bewusstseins“. Mathias Iven studierte Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte dort zu Ludwig Wittgenstein. Seit 2002 arbeitet er an der Moritz Schlick Gesamtausgabe, seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Shruti Jain studierte in ihrem indischen Heimatort, New Delhi. Zurzeit promoviert sie zum Thema Nietzsche und Indien am Centre of German Studies an der Jawaharlal Nehru University, New Delhi. Péter Jánosfalvi stammt aus Debrecen, Ungarn, wo er auch sein Phiolosophiestudium absolvierte. Zurzeit promoviert er bei Volker Gerhardt an der Humboldt Universität zu Berlin. Sein Thema ist eine vergleichende Analyse der kantischen praktischen Philosophie und der kritischen Stellungnahme Nietzsches unter dem Titel Warum verwirft Nietzsche den kategorischen Imperativ? Ursula Pia Jauch ist Professorin für Philosophie und Kulturgeschichte an der Universität Zürich, Publizistin und Autorin. 1992 erhielt sie ein Scholarship am Getty Center for the History of Art and the Humanities, Santa Monica/USA; 2007/2008 war sie fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Servanne Jollivet studierte Philosophie in Freiburg und Paris, promovierte an der Universität Paris-Sorbonne (Paris IV) und bei Volker Gerhardt an der Humboldt Universität zu Berlin, wo sie momentan als Post-Doktorandin über Cassirer arbeitet. Jacqueline Karl studierte Philosophie und Musikwissenschaften an der HumboldtUniversität zu Berlin, wo sie 2008 über Selbstbestimmung und Individualität bei Platon. Eine Interpretation zu frühen und mittleren Dialogen bei Volker Gerhardt und Christof Rapp promovierte. Seit 2001 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin,

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seit 2008 Arbeitsstellenleiterin im Akademienvorhaben „Kant’s gesammelte Schriften“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Markus Kartheininger studierte Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Neuere Geschichte in Tübingen; 2001–2003 war er Fellow am Franz-Rosenzweig-Zentrum in Jerusalem, 2005 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Dissertation zum Thema Heterogenität. Politische Philosophie im Frühwerk von Leo Strauss (München 2006) promoviert; seit 2006 arbeitet er an der Hegel-Forschungsstelle an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kai Lehmann studierte Philosophie, Soziologie und Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt Universität zu Berlin, wo er seit 2008 bei Volker Gerhardt promoviert. Erik Lehnert studierte Philosophie, Geschichte sowie Ur- und Frühgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, anschließend war er DFG-Stipendiat in Bamberg. Er promovierte über Karl Jaspers und die Philosophische Anthropologie bei Volker Gerhardt und Gerd Irrlitz, anschließend war er Lektor in einem Wissenschaftsverlag. Derzeit arbeitet er als Geschäftsführer des „Instituts für Staatspolitik“. Nikolaos Loukidelis studierte Philosophie, Psychologie und altgriechische Philologie an der Universität Athen. Seine Dissertation bei Volker Gerhardt unternimmt eine ausführliche historische und systematische Kommentierung des Aphorismus 17 von Jenseits von Gut und Böse. Franziska Martinsen studierte Philosophie, Musik- und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, arbeitete von 2003–2007 als Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Basel, wo sie promovierte, und als Lehrbeauftragte am dortigen Zentrum Gender Studies. Seit 2007 ist sie am Institut für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt. Ulrich Miksch studierte ab 1989 Meteorologie, dann Philosophie und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er auch an der Studentenzeitung unaufgefordert mitwirkte. Seit 2000 arbeitet er als freier Journalist vor allem für die Neue Zürcher Zeitung. Núria Sara Miras Boronat studierte Philosophie in Berlin und Barcelona und promovierte 2009 über Wittgenstein und Gadamer: Sprache, Praxis, Vernunft. Das Problem des Pluralismus in der Sprachphilosophie. Weitere Schwerpunkte ihrer Forschung und Veröffentlichungen sind Ethik und Politische Philosophie. Oliver Müller studierte in Heidelberg, Hamburg, Venedig und an der Humboldt-Universität zu Berlin Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichte. Er schrieb seine Magisterarbeit bei Volker Gerhardt, der auch sein Doktorvater ist. Mit einer Arbeit über Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie wurde er promoviert. Er leitet eine Nachwuchsforschergruppe an der Universität Freiburg. Nicola Nicodemo studierte Philosophie an der Alma Mater Studiorum in Bologna, wo er 2007 das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien absolvierte. Seit Dezember 2007 promoviert er bei Volker Gerhardt an der Humboldt Universität zu Berlin. Gabriele Osthoff-Münnix studierte Mathematik und Philosophie an der Universität Köln. 2001 schloss sie an der Humboldt-Universität zu Berlin ihre Promotion mit

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einem Thema zur Postmoderne ab. Sie war Mitherausgeberin der Zeitschrift Ethik und Unterricht. Nach Lehraufträgen an wechselnden Universitäten unterrichtet sie seit Anfang 2008 am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Roberta Pasquarè studierte Kommunikations- und Politikwissenschaften an der Universität La Sapienza zu Rom und schloss 2009 dort sowie an der Humboldt Universität zu Berlin ihre Promotion zu Wilhelm von Humboldts politischer Philosophie ab. Manos Perrakis promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Nietzsches Philosophie der Musik. Sein Interesse gilt vor allem der Verbindung von Ästhetik und Anthropologie. Jan Prause-Stamm studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der University of Nottingham Philosophie und Linguistik. Er absolviert das Doktorandenprogramm der Berlin School of Mind & Brain und ist Stipendiat der VW-Stiftung. Mattia Riccardi studierte Philosophie in Mailand, Tübingen und Porto. 2007 wurde er mit der bei Volker Gerhardt geschriebenen Dissertation Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Derzeit lebt er in Stuttgart. Stascha Rohmer studierte Philosophie und Hispanistik in Berlin und promovierte bei Hans Poser und Reiner Wiehl mit einer Studie zu Whiteheads Metaphysik. Seit 2008 arbeitet er als Fellow am Instituto de Filosofía (CSIC) in Madrid und habilitiert sich zugleich am Lehrstuhl von Volker Gerhardt mit einer Arbeit zu Hegel und Plessner. Philipp Ruch studierte Philosophie und Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er ist Mitbegründer eines Think Tanks für „Politische Schönheit“. Georg Sans SJ studierte Philosophie und Katholische Theologie in Frankfurt, Rom und Berlin. Seit 2004 ist er Professor für Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Hartmut von Sass studierte Theologie und Philosophie in Göttingen, Edinburgh und Berlin; seit 2006 ist er Assistent in Zürich; momentan arbeitet er als visiting scholar an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Mark Schweda studierte Philosophie und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der University of Nottingham. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen und promoviert bei Volker Gerhardt an der HumboldtUniversität zu Berlin über Joachim Ritter. Holger Sederström studierte Philosophie und Kulturwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin und schrieb seine Magisterarbeit über Das Denken von Hannah Arendt. Von 2000–2005 war er Studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl von Volker Gerhardt, bei dem er seit 2007 zur Philosophie bei Hannah Arendt promoviert.

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Janina Sombetzki studiert Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet als Studentische Hilfskraft an Volker Gerhardts Lehrstuhl. Zurzeit schreibt sie ihre Masterarbeit über den Verantwortungsbegriff bei Hannah Arendt. Simon Springmann absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Philosophie an der Universität Hamburg sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei Volker Gerhardt hat er eine Dissertation zum Thema Macht und Organisation. Die Machtkonzeptionen bei Friedrich Nietzsche und in der mikropolitischen Organisationstheorie geschrieben. Oliver Thorndike ist Adjunct Professor an der Morgan State University, Baltimore. Er hat Aufsätze zu Kants praktischer Philosophie und Anthropologie veröffentlicht und gibt Rethinking Kant. Volume 3 (in Vorbereitung) heraus. Johannes Thumfart studierte Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Humboldt Universität Berlin und promovierte dort mit einer Arbeit über Francisco de Vitoria. Er hat u. a. in der taz, der Süddeutschen Zeitung und im Archiv des Völkerrechts veröffentlicht. Ioannis Touras studierte von 2000 bis 2004 Politikwissenschaften an der Aristoteles Universität Thessaloniki. Seit 2005 promoviert er über Hegel und Stirner bei Volker Gerhardt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Asmus Trautsch studierte Philosophie, deutsche Literatur und Komposition in Berlin und London. Zurzeit promoviert er bei Volker Gerhardt an der Humboldt-Universität zu Berlin über den Begriff tragischen Handelns. Milica Trifunovic studierte Philosophie an der Universität Belgrad. Seit 2006 promoviert sie bei Volker Gerhardt an der Humboldt-Universität zu Berlin über Kants Idee des Völkerbundes in der Interpretation von John Rawls. Sie ist beruflich im Nichtregierungssektor tätig, u. a. bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Ihr Forschungsgebiet ist globale Gerechtigkeit. Rahel Villinger studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin. Derzeit promoviert sie an der Universität Princeton/USA am Institut für Philosophie zum Thema Raumwahrnehmung und Einbildungskraft. Christian Vogel studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Soziologie an der Humboldt-Universität und arbeitete von 2003 bis 2005 als studentische Hilfskraft für Volker Gerhardt. Seit 2008 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Gyburg Uhlmann (geb. Radke) an der Freien Universität Berlin. Verina Wild ist Ärztin und arbeitet als Oberassistentin am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich. Nicole Wloka studiert Geschichte, Philosophie und Recht in Berlin und arbeitete seit 2007 als Studentische Hilfskraft der Arbeitsgruppe „Humanprojekt“ an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2007 ist sie zudem Mitarbeiterin eines Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Shu Yuanzhao studierte Philosophie an der Universität Wuhan, wo er von 1991 bis 1993 auch als Professor für Deutsche Philosophie tätig war. Seit 1993 ist er Professor für Philosophie an der Hunan Normal University. Als Gastprofessor forschte er von Juni 2006 bis Juni 2007 bei Prof. Volker Gerhardt an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Wolf Gorch Zachriat studierte Philosophie, Politik und Geschichte in Oxford und Berlin, wo er bei Volker Gerhardt und Reinhart Maurer mit einer Dissertation über Friedrich Nietzsches Fortschrittsbegriff promovierte. Seit 1998 ist er als Verlagsleiter tätig. Alexander-Maria Zibis studierte Philosophie und Germanistik an der Ruhruniversität Bochum und der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach seinem Magisterabschluss wurde er Mitarbeiter des Lehrstuhls für Ethik der Universität Nimwegen und gehört seitdem der internationalen Nietzsche-Research-Group unter Leitung von Paul van Tongeren an. Im Jahr 2005 promovierte er bei Volker Gerhardt mit einer Dissertation über die Tugend des Mutes. Zurzeit arbeitet er an der Digitalisierung von Nietzschetexten sowie als Deutsch- und Philosophielehrer. Ursula Ziegler studierte als absolvierte Naturwissenschaftlerin in einem Zweitstudium Philosophie, Wissenschaftsforschung und Kulturwissenschaft in Freiburg, Wien und Berlin. Seit 2008 promoviert sie bei Volker Gerhardt an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema der Selbstbildung bei Platon.